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Karlheinz Stierle Montaigne und die Moralisten

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Karlheinz Stierle

Montaigne und die Moralisten

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Karlheinz Stierle

Montaigne und die Moralisten

Klassische Moralistik – Moralistische Klassik

Wilhelm Fink

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© 2016 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

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Lektorat und Satz: Margret Westerwinter, Düsseldorf,

www.lektorat-westerwinter.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München

Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-6113-1

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INHALT

EINLEITUNG ................................................................................ 7

I. MONTAIGNE

1. Montaigne: Klassiker jenseits des Kanons ..................................... 13

2. Montaigne und die Erfahrung der Vielheit ................................... 27

3. Vom Gehen, Reiten und Fahren. Der Reflexionszusammenhang in Montaignes »Des coches« (III, 6) .................................................. 57

4. Cura sui? Montaigne und die Autobiographie .............................. 73

5. Der Leser als Freund. Montaignes Essai »De lʼamitié« (I, 28) ......................................... 85

6. Gespräch und Diskurs im Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal .................................................. 93

II. KLASSIK UND MORALISTIK IN FRANKREICH 1. Pascals Reflexionen über den ›ordre‹ der Pensées .......................... 125

2. Sprache und menschliche Natur in der klassischen Moralistik Frankreichs ........................................ 153

3. Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil ............................ 169

4. Poesie des Unpoetischen. Über La Fontaines Umgang mit der Fabel .................................. 207

5. Une morale du Grand Siècle? Morale et esthétique dans les Fables de La Fontaine .................... 233

6. Der Astrolog im Brunnen. Formgeschichte und Problemgeschichte ..................................... 241

7. Mode et temps urbain chez La Bruyère et Montesquieu .............. 253

8. Lʼhomme et lʼœuvre. Sainte-Beuves Literaturkritik ...................................................... 263

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INHALT

III. WAS HEIßT MORALISTIK? 1. Der Moralist als Bogenschütze:

Nietzsche und La Rochefoucauld ............................................... 277

2. Moralistik: Geschichte eines Begriffs und einer Anschauung ........................ 285

3. Was heißt »Moralistik«? ............................................................. 295

NACHWEIS DER ERSTDRUCKE ................................................. 299

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EINLEITUNG

»Meister der Seelenprüfung« nennt Friedrich Nietzsche die französischen Gedan-ken- und Sprachkünstler, denen er sich selbst zugehörig weiß. Eher beiläufig fand er für sie den Begriff der Moralistik, der in der deutschen Romanistik Fortune machen sollte. In der Tat sind es die deutschen Romanisten Gerhard Hess, Fritz Schalk und Hugo Friedrich, die in der Zeit des Dritten Reichs, in verdecktem Widerspruch gegen die Ideologie des Nationalsozialismus, erstmals die Moralistik zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht haben.

Die neuzeitliche Moralistik hat ihren Ursprung im Werk Michel de Montai-gnes. Seine Essais sind die Spuren einer die Grenzen der Moralphilosophie hinter sich lassenden Gedankenbewegung, die immer neu das Rätsel der condition hu-maine und die Unerschöpflichkeit des eigenen Ich umkreist.

Seit ihrem Erscheinen haben die Essais in jener idealen Bibliothek, die in Frankreich »bibliothèque de lʼhonnête homme« heißt, einen Ehrenplatz. Wenn die moralische Welt für Montaigne in eine unabsehbare Vielheit zerfällt, so hat sie doch ihre unumstößliche Mitte in jener kommunikativen »honnêteté«, die dem Zauber seines Denkens ebenso innewohnt wie seiner Schreibart.

Der Grunderfahrung der Renaissance von der unendlichen Vielfalt der Welt und des Menschen, die bei Montaigne zu ihrem höchsten Bewusstsein kommt, gilt die folgende Betrachtung. In den drei Studien zu Montaignes Essai über die Freundschaft, über die grundlegenden, kulturell kodierten Weisen der mensch-lichen Fortbewegung und über Montaignes Kunst der skeptisch gebrochenen Selbstdarstellung wird darauf Montaignes erfahrungsgesättigte Betrachtung der Grundbefindlichkeiten der condition humaine exemplarisch vor Augen geführt.

Gespräch und Diskurs treten in der Renaissance in spannungsreiche Ver-hältnisse. Montaignes neuer Form des Essai als einer offenen fragenden und hin-terfragenden, vielfältig gebrochenen und prinzipiell vorläufigen Annäherung an Grundbefindlichkeiten der condition humaine setzt René Descartes auf der Grundlage von Montaignes skeptischer Subjektivität die Notwendigkeit einer prinzipiellen Neubegründung des philosophischen Diskurses entgegen. Auf Des-cartesʼ Vertrauen in das fundamentum inconcussum des Selbstbewusstseins ant-wortet Blaise Pascal mit der prinzipiellen Infragestellung der Möglichkeit eines Diskurses der absoluten Gewissheit jenseits der reinen Mathematik.

An Pascals Pensées lässt sich verfolgen, wie eine ›Apologie‹ des christlichen Glaubens auf der Grundlage einer Anthropologie nicht nur zu einer negativen Theologie führt, sondern selbst die Gestalt einer negativen Anthropologie ge-winnt. In einer eingehenden Analyse von Pascals Bemerkungen zur Ordnung sei-nes Werks erweist sich die Schreibart seiner Gedankenbruchstücke als Konse-quenz der Einsicht, dass für die Erfassung der »condition de lʼhomme« Montai-gnes Prinzip der freien Bewegung »de sujet en sujet« ebenso unzulänglich bleibt

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MONTAIGNE UND DIE MORALISTEN 8

wie Descartes diskursiver Rigorismus. Dass die moralistische Reflexion in der französischen Klassik immer auch Sprachreflexion ist, die den Aufbruch in die terra incognita einer neuen Menschenkunde begleitet, ist Gegenstand einer vorbe-reitenden Betrachtung über »Sprache und menschliche Natur in der klassischen Moralistik Frankreichs«. Aus ihr geht die zentrale Betrachtung des Zusammen-hangs zwischen »negativer Anthropologie« und einem neuen, der rhetorischen Sprache des Barock entgegengesetzten Sprache des funktionalen Stils hervor. Pas-cal, Racine, La Rochefoucauld und Madame de Lafayette, die alle im Umkreis der jansenistischen Erweckungsbewegung von Port Royal stehen, sind die maß-geblichen Autoren, die dem Konzept einer negativen Anthropologie Gestalt ge-ben.

Mit den Fabeln Jean de La Fontaines und den Charactères Jean de La Bruyères treten zwei Klassiker einer moralistischen Schreibart in den Blick, die beide antike moralistische Darstellungsformen, Fabel und ›Charakter‹ aufgenommen und im Sinne moderner Komplexitätssteigerung aktualisiert haben, ohne doch dem enge-ren Kreis der negativen Anthropologie zuzugehören.

Die drei Studien zu La Fontaine zeigen in unterschiedlicher Weise, wie sehr La Fontaines Marginalität die Bedingung seiner Klassizität geworden ist.. Die erste Studie über La Fontaines »Poesie des Unpoetischen« stellt La Fontaine in den Horizont seiner fortdauernden Wirkungsgeschichte und erweist seine Kunst der poetischen Verlebendigung als eine genuin moralistische Kunst der Komplexitäts-steigerung, die das moralistische Urteilsvermögen auf den Plan ruft. Die zweite Annäherung an La Fontaine geht aus von einer maßgeblichen Studie der Moral-konzeptionen des »siècle classique«, Paul Bénichous Morales du grand siècle, in der eine Bezugnahme auf La Fontaine fehlt. Dies ist ein Anlass, um La Fontaines Fa-belkunst in ihrem Verhältnis von moralistischer Reflexion und poetischer Reprä-sentation insbesondere im Blick auf jene dem Duc de La Rochefoucauld gewid-mete Fabel zu vertiefen, in der er seine Poetik der Fabel in der Fabel selbst zur Anschauung bringt.

Am Beispiel der äsopischen Fabel vom Sturz des sternkundigen Naturforschers in den Brunnen vor ihm wird in Auseinandersetzung mit Hans Blumenberg La Fontaines subtile neuzeitliche Umsetzung und ihre Formsprache ebenso verfolgt, wie ihre erneute Transposition in die lyrische Formsprache Baudelaires. Dabei zeigt sich beide Male, dass die Ablösung der moralistischen ›Botschaft‹ von ihrer Form in die Irre führen muss.

Die von Jean de La Bruyère übersetzten Charakteres des Aristoteles-Schülers Theophrast beschreiben in einfacher, aufzählender Darstellung negative Charak-terprägungen. Dagegen sind La Bruyères eigene Caractères Beschreibungen der »mœurs de ce siècle« und das heißt vor allem Charakterbilder des gegenwärtigen Paris, die ihren Fokus haben in den flüchtigen Erscheinungen der zeitverfallenen Mode. Während für La Bruyère das antike Athen die ideale Stadt einfacher menschlicher Verhältnisse repräsentiert, wird Paris zum Inbegriff der modernen Komplexität aller Lebensverhältnisse, die der Moralist in einer Sprache von be-weglicher Komplexität zu durchdringen sucht. Die mille choses der modernen

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EINLEITUNG 9

Welt, Supplemente einer dahingegangen Tugend, erfahren in Montesquieus Lett-res persanes eine Positivierung aus dem Geist moderner Fortschrittsbejahung, während bei Rousseau das Supplement zum Symptom der tiefen Ambiguität der kulturellen Welt zwischen Niedergang und Aufbruch wird.

Mit Sainte-Beuves moralistisch-literaturkritischen Erkundungen der verborge-nen Präsenz einer negativen Anthropologie in den maßgeblichen Werken der französischen Klassik bereitet sich Friedrich Nietzsches bahnbrechende Einsicht in das Projekt jener „Meister der französischen Seelenprüfung“ vor, denen er die grundlegende Einsicht in die Natur des Menschen als des »noch nicht festge-stellten Tiers« verdankt.

Nietzsche als Vollender Sainte-Beuves hat die Modernität der französischen Klassik mit seinem Begriff der Moralistik erst eigentlich ›semiotisch zusammen-gefasst‹. Er gibt er französischen Klassik eine neue Mitte oder vielmehr, er legt ih-re verborgene Mitte als negative Anthropologie frei. Nietzsche, der La Roche-foucauld in einer Formulierung von weitreichender Prägnanz als Bogenschützen erfasst, ist selbst der Bogenschütze, der ins Schwarze der französischen Klassik trifft. Er eröffnet damit eine Perspektive, die erstmals in dunkler Zeit von den »tre corone« der deutschen Moralistikforschung, den Romanisten Gerhard Hess, Fritz Schalk und Hugo Friedrich ergriffen wurde.

Was ist Moralistik? Den Gang dieser Versuche, das moralistische Denken in actu zu erfassen, beschließt ein Vorschlag, Nietzsches Begriff der Moralistik als Form des riskanten Denkens im Sinnbezirk einer negativen Anthropologie zu be-greifen, wo Sprachkunst und Gedankenkunst sich unauflöslich vereinen.

Die Prägnanz der moralistischen Schreibart, die Pointiertheit und Kühnheit ihrer Gedanken, haben sich tief dem literarischen Gedächtnis eingeprägt und so im Fortgang des moralistischen Schreibens ein ganzes Gewebe intertextueller Re-ferenzen hervorgebracht. Die einzelnen Darstellungen werden hierauf immer wieder ihre besondere Aufmerksamkeit richten.

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I. MONTAIGNE

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1. MONTAIGNE: KLASSIKER JENSEITS DES KANONS

Gäbe es eine europäische Leitkultur, dann müsste man sie ins Zeichen Montai-gnes stellen, und das hieße als erstes, diesem Wort den Laufpass zu geben, weil es nach Zwang, Überheblichkeit und Dümmlichkeit schmeckt, die alle drei Mon-taigne ein Greuel waren. Was das Wort aber, das zu seinen guten Absichten so unglücklich quersteht, im Besten meinen könnte, das findet sich bei Montaigne über alle Maßen in verschwenderischer Freigiebigkeit. Allen, die Europa, den Geist, den guten Geschmack, die Freiheit lieben, hat er mit seinen Essais ein Ge-schenk gemacht, das, solange es in Europa Leser geben wird, es ihnen wohl ums Herz sein lässt. So sagt Nietzsche, der selbst so sehr an seiner Zeit, an sich selbst und am Denken litt:

Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben, vermehrt worden. Mir wenigstens geht es seit dem Bekanntwerden mit dieser freiesten und kräftigsten Seele so, daß ich sagen muß, was er von Plutarch sagt: ›Kaum habe ich einen Blick auf ihn geworfen, so ist mir ein Bein oder ein Flü-gel gewachsen.‹ Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen.1

Gehört Montaigne zum Kanon der großen europäischen Klassiker, ist er gar durch die Bildungsinstitutionen unserer Gesellschaft vermittelt? Das ist nicht si-cher. Ja, ich möchte behaupten, dass Montaigne seine Präsenz mehr als vierhun-dert Jahre nach seinem Tod in Frankreich und in Europa vor allem sich selbst verdankt. Montaigne ist kein Schulautor, und was die Auslegung seines großen Werks, der Essais, betrifft, in denen er ein ganzes Leben der freien Nachdenk-lichkeit, aber auch der unermüdlichen Lektüren, zusammenfasst, hat er diese nicht in die Hände zukünftiger Kommentatoren gelegt, sondern sich selbst be-reits so bündig kommentiert, dass seine Ausleger es schwer haben, ihn zu über-treffen. Die Vorstellung des Kanons richtet sich gegen Unverbindlichkeit und Be-liebigkeit eines bloß privatistischen Geschmacks nach der Devise Chacun à son goût. Sie hat ihr gutes Recht und ihre Notwendigkeit in der Auffassung, dass es eines Minimums an allgemein geteilten Wertschätzungen bedarf, um so etwas wie kulturelle Kohärenz einer Gesellschaft sicherzustellen. Das Problem des Kanons ist, dass er sich leicht normativ verfestigt und zum abstrakten Postulat wird, das sich zwar unter Umständen institutionell, vor allem also in Schule und Univer-sität, durchsetzen lässt, dadurch aber noch immer nicht zur gesellschaftlichen Wirklichkeit wird. Nur zu leicht verbindet sich mit der Vorstellung des Kanons

1 »Unzeitgemäße Betrachtungen, drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher«, in: Friedrich Nietz-

sche, Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta (1954), München, Wien, 1994, S. 296.

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I. MONTAIGNE 14

die Vorstellung seiner normativen Verbindlichkeit und mit dieser Schulmeisterei, Pflichtlektüre und eine eher erkältende Vorstellung von Kulturbesitz. Insbeson-dere in Deutschland liegt bei der Rede vom Kanon die Erinnerung an den preu-ßisch-wilhelminischen Bildungsbegriff nicht fern, der den gehobenen Untertanen zierte. Es wäre freilich blauäugig, wollte man nicht zugestehen, dass durch den Kanon geleitete Pflichtlektüre in jedem Fall besser als gar keine Lektüre ist, zumal ja in der Tat jene Werke, die der Kanon zusammenfasst, immer auch jenseits der Pflichtlektüre die Chance des eigenen freien Blicks eröffnen. Ein europäischer Bil-dungskanon und konkreter, ein Kanon der europäischen Klassiker setzt nicht nur voraus, dass in ihm sich eine Anzahl herausragender Werke der unterschiedlichen europäischen Kulturen und Sprachen vereinigt, sondern auch, dass in ihm ganz un-terschiedliche Vorstellungen von Klassizität und Kanonbildung zusammenkom-men. Von Montaigne im Rahmen eines europäischen Literaturkanons zu sprechen heißt auch, eine spezifisch französische Erfahrung literarischer Kanonbildung ins Spiel zu bringen, die sich selbst ganz wesentlich Montaigne verdankt und von der man wohl behaupten kann, dass sie bis heute in Frankreich Geltung hat.

Wer im Grand Robert, dem Wörterbuch der französischen Sprache, das die si-cherste Auskunft über den gegenwärtigen französischen Sprachgebrauch gibt, un-ter dem Stichwort canon nachschlägt, findet dort als erste Bedeutung die militä-rische, da im Französischen Kanon und Kanone in dem einen Wort canon zusam-menfallen. Aber auch die zweite Bedeutung ist noch keinesfalls jene, die wir heute in erster Linie mit dem Kanon als einer Auswahl vorbildlicher, maßgeblicher, verbindlicher, dauerhafter Kulturzeugnisse aus Dichtung, Malerei, Musik oder Architektur verbinden. Canon im nicht-militärischen Sprachgebrauch heißt zu-nächst einmal das Konzilsdekret und sodann das kanonische Recht, also das Kir-chenrecht der katholischen Kirche. Es heißt weiterhin die Gesamtheit der als göttlich inspiriert angesehenen Schriften des Alten und Neuen Testaments, ferner der Katalog der durch die römische Kirche anerkannten Heiligen, dann auch eine mehrjährige Übersicht über die beweglichen kirchlichen Feste und erst an letzter Stelle, ausdrücklich als didaktisch gekennzeichnet und auf die Antike einge-schränkt, die »Liste der als vorbildlich angesehenen Autoren«. Hinzu kommt dann noch in der Buchdruckerfachsprache canon in der Bedeutung von Kaliber der Druckbuchstaben, mehrstimmiger Gesang und schließlich auch noch die Be-zeichnung für ein Weinmaß und seinen Inhalt: »Venez donc boire un canon.«2

Schon dieser flüchtige Blick auf einen Lexikoneintrag zeigt, dass offensichtlich die Vorstellung eines literarischen oder sonstigen kulturellen Kanons im französi-schen Sprachgebrauch bis heute wenig verankert ist. Die französische Vorstellung von der Klassizität eines Werks ist nicht so sehr bezogen auf die normative, di-daktisch instrumentalisierte Vorstellung eines Kanons als vielmehr auf den wie absichtslos sich einspielenden gesellschaftlichen Konsens. Es ist die Gesellschaft der honnêtes gens, nicht die Schulbildung, die den Autoren ihren klassischen Rang 2 Art. »canon« in: Le Grand Robert de la langue française, deuxième édition entièrement revue et en-

richie par Alain Rey, Bd. 2, Paris, 1990, S. 319 f.

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KLASSIKER JENSEITS DES KANONS 15

verleiht und sie in die ideale Gemeinschaft dessen aufnimmt, was in Frankreich bis heute Bibliothèque de lʼhonnête homme genannt wird. Die Tatsache, dass Montaigne als einer der wenigen Autoren des 16. Jahrhunderts Eingang in den Schulunterricht gefunden hat, besagt über seine Präsenz in der literarischen und intellektuellen Gegenwart Frankreichs wenig. Montaigne ist kein Schulautor, er ist bis heute ein Autor, ja, ich möchte sagen der Autor des honnête homme, und das schließt selbstverständlich die Leserin mit ein. Denn in der Tat war es eine Leserin, die gelehrte Mlle de Gournay, Montaignes »fille dʼalliance«, der wir nach dem Tod Montaignes die erste Ausgabe verdanken, die Montaignes handschrift-liche Bearbeitungen und Erweiterungen aufnahm, die in die geplante Neuausgabe der Essais eingehen sollten (1595). Es ist Montaigne, der dem Begriff der honnê-teté eine spezifische Bedeutung gegeben hat als eine eminent gesellschaftliche Qualität, die doch auf der unverwechselbaren Besonderheit des Einzelnen, seiner Freimütigkeit und Sicherheit im Urteil, seinem Geschmack und Takt und nicht zuletzt seiner moralischen Integrität beruht. Honnêteté heißt jene besondere Befä-higung zur Geselligkeit, die frei ist von institutionellem Zwang und sich ebenso maßvoll wie mutig zur Geltung bringt. Aber die Befähigung zur Geselligkeit setzt auch die Teilhabe an jenem System kultureller Relais, und das heißt vor allem li-terarischer Werke, voraus, die allererst der Geselligkeit und Gesellschaft die Ko-härenz eines gemeinsamen Werte- und Erfahrungshorizonts geben kann. Für Montaigne ist honnêteté der höchste gesellschaftliche Wert, den zu finden freilich immer einen seltenen und kostbaren Glücksfall bedeutet: »Les hommes de la societé et familiarité desquels je suis en queste, sont ceux qu’on appelle honnestes et habiles hommes: l’image de ceux cy me degouste des autres.“3 Honnêteté ist für Montaigne eine natürliche Qualität, die zwar entwickelt, aber nicht anerzogen werden kann: »C’est, à le bien prendre, de nos formes la plus rare, et forme qui se doit principallement à la nature.“4 Montaigne, in Gesellschaft gewöhnlich schweigsam, wenn sie ihm nicht behagt, wird redselig, wenn ein glücklicher Zu-fall ihn in die Gesellschaft von honnêtes hommes und honnêtes femmes bringt: »En nos propos, tous subjets me sont égaux; il ne me chaut qu’il n’y ait ny poix ny profondeur; la grace et la pertinence y sont tousjours; tout y est teinct d’un juge-ment meur et constant, et meslé de bonté, de franchise, de gayeté et d’amitié.“5 So außerordentlich das Glück einer solchen Begegnung ist, es ereignet sich nur äußerst selten. Umso mehr findet Montaigne das, was ihm die Wirklichkeit sei-ner Welt zumeist vorenthält, in der Lektüre, wo er eine imaginäre Gesellschaft von honnêtes gens um sich versammeln kann. Nach dem Tod seines Freundes La Boëtie, der für ihn der vollkommene Inbegriff des honnête homme war, findet Montaigne keinen Freund mehr, bei dem er das ungetrübte Glück des geselligen Austauschs finden könnte. Umso mehr wird das Buch zum beständigen Begleiter,

3 Montaigne, Essais, texte établi et annoté par Albert Thibaudet, Paris, 1950, III, 3: »Des trois

commerces«, S. 921. 4 Ebd. 5 Ebd.

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I. MONTAIGNE 16

mit dem Montaigne am liebsten Zwiesprache hält, sei es auf Reisen, wo er nie ohne Buch ist, sei es zu Hause in seiner librairie. In dem Essay »Des trois com-merces«, in dem er sein Ideal der honnêteté entwirft, entwirft er zugleich seine Idealbibliothek als eine ideale Gemeinschaft um ihn versammelter honnêtes hommes. Honnêteté, Buch und Bibliothek treten zu einer essentiellen Verbindung zusammen. Vom Umgang mit jedem seiner Lieblingsbücher kann er sagen:

Il me console en la vieillesse et en la solitude. Il me descharge du pois d’une oisivité ennuyeuse;et me deffaict à toute heure des compaignies qui me faschent. Il emousse les pointures de la douleur, si elle n’est du tout extreme et maitresse. Pour me distraire d’une imagination importune, il n’est que de recourir aux livres; ils me destournent facilement à eux et me la desrobent. Et si ne mutinent point pour voir que je ne les recherche qu’au deffaut de ces autres commoditez, plus reelles, vives et naturelles: ils me reçoivent tousjours de mesme visage.6

Liebevoll beschreibt Montaigne die librairie seines Bücherturms, in die er sich am liebsten zur geselligen Einsamkeit zurückzieht:

Chez moy, je me destourne un peu plus souvent à ma librairie, d’où tout d’une main je commande à mon mesnage. Je suis sur l'entrée et vois soubs moy mon jar-din, ma basse court, ma court, et dans a pluspart des membres de ma maison. Là, je feuillette à cette heure un livre, à cette heure un autre, sans ordre et sans dessein, à pieces descousues; tantost je resve, tantost j’enregistre et dicte, en me promenant, mes songes que voicy. Elle est au troisiesme estage d’une tour. Le premier, c’est ma chapelle, le second une chambre et sa suite, où je me couche souvent, pour estre seul. Au dessus, elle a une grande garderobe. C’estoit au temps passé le lieu plus inutile de ma maison. Je passe là et la plus part des jours de ma vie, et la plus part des heures du jour. Je n’y suis jamais la nuict. A sa suite est un cabinet assez poli, capable à recevoir du feu pour l’hyver, tres-plaisamment percé.7

In Balthasar Castigliones 1528 erschienenem Cortegiano, dem Idealbild des voll-kommenen Hofmanns, spielt die Erziehung zur Kunstsinnigkeit eine wesentliche Rolle, vor allem aber breite Belesenheit und Kenntnis auch der lateinischen und griechischen Literatur sowie die Fähigkeit, sich in der eigenen Sprache in Vers und Prosa auszudrücken. Wenn der Conte Ludovico da Canossa vor allem die Bedeutung der Literatur für die vollkommene Ausbildung des cortegiano hervor-hebt, so setzt er hier eigens das moderne italienische Idealbild des Hofmanns gegen das französische aristokratische Selbstverständnis ab, dem die Beschäfti-gung mit Literatur verächtlich ist:

Aber außer der moralischen Vortrefflichkeit glaube ich, daß der wahre und erste Schmuck der Seele in einem jeden die literarische Bildung ist, obwohl die Franzosen nur den Adel der Waffen kennen und alles übrige für Nichts ansehen, so daß sie die Literatur nicht nur nicht schätzen, sondern sie verabscheuen und alle Freunde der

6 Ebd., S. 924 f. 7 Ebd., S. 925 f.

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KLASSIKER JENSEITS DES KANONS 17

Literatur für nichtswürdig erachtenn, und es scheint ihnen eine schwere Beleidi-gung, wenn sie jemanden einen Studierten nennen.8

Doch fügt er sogleich hinzu, dass jetzt unter der neuen Regierung von François Ier die Hoffnung bestehe, dass auch die Franzosen lernten, die literarische Bildung in ihrem wahren Wert anzuerkennen. Montaigne, dem, wie wir aus dem Essay »Des destriers« (I, 48) wissen, der Cortegiano bekannt war, greift auf Castigliones Ideal der Vereinigung von arme e lettere zurück und gibt ihm in seinem eigenen Begriff der honnêteté eine ganz neue Richtung. Montaigne macht die honnêteté zur Form-gesinnung seines Essays. Der Essay ist gleichsam das Supplement jenes endlosen Gesprächs im Zeichen der honnêteté, das nach dem Tod des Freundes La Boëtie nicht mehr zustandekommen kann. Anders als bei Pascal, der die honnêteté als Selbstauslöschung des sich selbst hassenden Ich versteht, ist bei Montaigne die Mitte der honnêteté das freie, der Souveränität der eigenen Selbst entspringende Urteil, die unermüdliche Differenzierungslust, aber auch die Unverstelltheit und Vertraulichkeit der Mitteilung an einen Leser, der sich in eine privilegierte, freundschaftliche Nähe gezogen sieht, die dennoch ohne Zutraulichkeit ist, sondern das Geheimnis jenes genauen Verhältnisses zwischen Nähe und Distanz wahrt, die Montaignes honnêteté auszeichnet. Wenn in der Adresse an den Leser, mit der die Essais beginnen, der Leser ironisch davor gewarnt wird, seine Zeit mit einem Buch zu verschwenden, das allein subjektive und private Absichten ver-folgt, so bedeutet dies andererseits, dass der Leser in eine ihm ganz unvertraute Situation kommunikativer Vertrautheit gebracht wird, die im privaten Bereich gleichsam die Utopie eines gesellschaftlichen Naturzustands eröffnet. Montaigne verspricht dem Leser ein »livre de bonne foy«, ein treuherziges Buch. Dies scheint nicht ohne Ironie gesagt, denn der Treuherzige, der auf seiner Treuherzigkeit beharrt, ist sich ihrer allzu sehr bewusst, als dass sie noch glaubhaft wäre. »Bonne foy« ist aber hier nichts anderes als eine Umschreibung von honnêté. Die Gedan-ken, die Montaigne seinem Leser unterbreitet, folgen keinem vorgängigen Dis-kurs, keiner professionellen und institutionellen Übereinkunft, keiner etablierten Rhetorik. An die Stelle der »marche estudiée«, der einstudierten Gangart, setzt er ein Denken, das nicht resultathaft ist, sondern immer in Bewegung, immer auf dem Sprung, über sich selbst hinauszugehen. Der Essay ist nicht so sehr das Resultat eines Gedankens als vielmehr der Vollzug eines Denkens, das in seiner unabschließbaren Vorläufigkeit dennoch um eine äußerste sprachliche Genauig-keit und Differenziertheit bemüht ist. Honnêteté des Denkens heißt bei Montai-gne, des Denkens selbst in der Spontaneität seiner unvorgreiflichen Bewegung innezusein und doch zugleich ganz jenem idealen Adressaten zugewandt zu sein,

8 Baldassare Castiglione, Il libro del Cortegiano, in: Opere di Baldassare Castiglione, Giovanni della

Casa, Benvenuto Cellini, a cura di Carlo Cordié, Milano, Napoli, 1960, S. 71: »Ma, oltre alla bontà, il vero e principal ornamento dellʼanimo in ciascuno penso io che siano le lettere: benché i Franzesi solamente conoscano la nobiltà delle arme e tutto il resto nulla estimino; di modo che, non solamente non apprezzano le lettere, ma le aborriscono; e tutti e letterati tengon per vilissimi omini; e pare lor dir gran villania a chi si sia, quando lo chiamano clero.«

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I. MONTAIGNE 18

dessen Abwesenheit jene Leerstelle ist, die der Leser einnimmt, der sich der un-vorhersehbaren Gedankenbewegung des Essays überlässt.

Honnêteté als Formgesinnung des Essays bedeutet, dass der Schreibakt keinem professionellen Interesse, keiner institutionellen Festlegung, keinem Diskurs ver-pflichtet ist. In seiner Antrittsvorlesung am College de France »Lʼordre du discours«9 hat Michel Foucault der Ordnung des Diskurses mit seinen ihn stabilisierenden Ex-klusionssystemen die Vorstellung einer der epistemologischen Indienstnahme sich verweigernden Form der Rede entgegengesetzt: »Rêve lyrique dʼun discours qui renaît en chacun de ses points absolument nouveau et innocent, et qui reparaît sans cesse, en toute fraîcheur, à partir des choses, des sentiments ou des pensées.«10 Es ist frappant, wie sehr dieser Traum einer Definition des Montaigneschen Essay nahekommt. Die honnêteté seiner Schreibart liegt in der radikalen Freisetzung von vorgegebenen Bahnen des Denkens, um so dem Denken selbst in seiner Spontaneität und Unverfügbarkeit einen Ort zu geben. Jeder Essay Montaignes ist die Szene eines Interdiskurses, eines freien Schweifens zwischen den Diskursen und zugleich ein Hinlenken der Aufmerksamkeit auf dieses Schweifen selbst. Montaigne bewegt sich in der Bibliothèque de lʼhonnête homme als einer Kopräsenz unendlich vieler virtueller Zitate, zugleich einem unerschöpflichen Vorrat an Beispielgeschichten für die unerschöpfliche Vielfalt der condition hu-maine. Montaigne verbindet das Zitat aus einem antiken Text mit gegenwärtiger Erfahrung, er führt aus der Welt der Dichtung und Philosophie in die Welt all-täglicher Unmittelbarkeit und von dieser erneut in die Welt der Philosophie. Er bedenkt das Nächste, den eigenen Körper, zumal auch mit seinen Anfälligkeiten und Hinfälligkeiten, er deckt auf, was die Ordnung der offiziellen Diskurse ver-schweigt, von seinem Bücherturm blickt er nicht nur auf das Naheliegendste, die alltäglichen Verrichtungen seines Hauswesens und seines Anwesens, sondern wei-ter in die fernsten Vergangenheiten und entferntesten Länder und Zivilisationen. In solchem Blick zerfällt die Welt in unabsehbare Vielheit und spricht doch zu-gleich die eine Sprache der condition humaine, deren wahre Mitte, deren hu-maner, Zeit und Raum übergreifender Kern eben das ist, was Montaigne in un-endlichen Variationen wiedererkennt als honnêteté. Honnêteté wird so gleichsam zum Zentralbegriff eines neuen anthropologischen Fragens, das in keiner Antwort zur Ruhe kommt. Subjekt und Objekt fallen zusammen. Es ist das Fragen der honnêteté, das sich auf jene condition humaine richtet, in deren Mitte selbst wiede-rum die Erfahrung der honnêteté, der unverstellten Menschlichkeit und Kommu-nikativität steht.

Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen. Der Essay »D’un enfant monstrueux« (II, 30) hat eine Erfahrung zum Gegenstand, die sich der Betrachtungsweise der honnêteté ganz und gar zu entziehen scheint. Montaigne berichtet von einem monströsen Kind, das für Geld zur Schau gestellt wurde und das auch er zwei

9 Michel Foucault, Lʼordre du discours. Leçon inaugurale au Collège de France prononcée le 2 dé-

cembre 1970, Paris, 1971. 10 Ebd., S. 25.

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Tage zuvor betrachtete. Die Beschreibung lässt ein abenteuerlich verwachsenes siamesisches Zwillingspaar erkennen, das aus zwei Körpern, aber nur einem Kopf besteht. Montaignes Beschreibung ist genau und von einer erstaunten Sachlich-keit, die kein Detail des unglücklichen Wesens auslässt, aber so, als sei mit dem Anblick keinerlei Grauen verbunden. Vielmehr dient das unglückliche Geschöpf sogleich als politische Metapher für das gegenwärtig im Religionsstreit entzweite Frankreich, das noch immer einen Kopf, den König, besitzt. Wie das merkwürdig missgestaltete Geschöpf aus einem größeren und einem kleineren Wesen besteht, so folgt jetzt auf die ausführlichere Darstellung die knappe Darstellung eines zweiten Monstrums, das Montaigne gleichfalls erst vor kurzem erblickte, eines Hirten ohne Geschlechtsteile, der an drei Stellen zugleich unaufhörlich Wasser lässt, sonst aber sich wie jeder andere Mann verhält, ja sogar die Nähe der Frauen sucht. Daran schließt sich eine kurze Betrachtung an über die Kurzsichtigkeit unseres Blicks auf die Monstren, bei denen wir nicht erkennen können, dass auch sie ein vernünftiges Werk der Natur sind, die beständig ihre Formen wandelt und im Ganzen ihrer Produktion Pläne verfolgt, die sich dem beschränkten mensch-lichen Geist entziehen: »Ce que nous appellons monstres, ne le sont pas à Dieu, qui voit en l’immensite de son ouvrage l’infinité des formes qu’il y a comprinses; et est à croire que cette figure qui nous estonne, se rapporte et tient à quelque autre figure de mesme genre inconnu à l’homme.«11 Was uns als Monstrum erscheint, ist in Wirklichkeit nur das Erzeugnis unserer Kurzsichtigkeit, die uns alles, was unsere Gewohnheit durchbricht, als ungeheuerlich vorstellt: »Nous appellons contre nature ce qui advient contre la coustume: rien n’est que selon elle, quel qu’il soit. Que cette raison universelle et naturelle chasse de nous l’erreur et l’estonnement que la nouvelleté nous apporte.“12 Das Monstrum ist nur der Ausdruck der arbeitenden, zu Neuem fortschreitenden Natur. Darin aber ist es zugleich eine Allegorie des monströsen Textes, der Montaignes Essay ist. Auch er ist im Reich des Gedankens ein Monstrum, das Unvereinbares zusammen-schließt und dennoch nichts anderes ist als der Ausdruck der nach Neuem su-chenden Produktivität des Geistes. Honnêteté bedeutet hier die Freiheit des un-voreingenommenen Blicks, der sich nicht blenden lässt, sondern im Partikularen das allgemeine Gesetz erkennt, aber zugleich diesem in einer Art mimetischer Adäquation die aus der Bewegung des Denkens hervorgegangene Textform unterstellt.

In dem Essay »Des coches« (III, 6)13 sinnt Montaigne der Ursache einer eige-nen Körpererfahrung nach, dass er nämlich auf dem Schiff, in der Sänfte und in der Kutsche von Brechreiz befallen wird, während er zu Pferd nie eine solche Erfahrung gemacht hat. Die Frage nach der Ursache erfährt keine Antwort, wohl aber wird sie zum Ausgangspunkt einer langen Betrachtung über die Kulturge-schichte der Kutschen, die sich ausweitet zu einer Geschichte der europäischen

11 Montaigne, Essais, II, 30, S. 798. 12 Ebd., S. 799. 13 Vgl. I, 3.

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Kultur selbst als einer unwiderruflichen Geschichte der Entfremdung von Kultur und Natur. In der Durcharbeitung der Geschichte der Kutschen wird über den Umweg der Geschichte so erst erkennbar, was zunächst nur eine private und unerklärliche Erfahrung Montaignes selbst schien. In der künstlichen Bewegung von Kutsche, Boot und Sänfte macht das Ich jene elementare somatische Erfah-rung, die bei Freud »das Unbehagen in der Kultur« heißen wird. Doch ist damit der Gedankenweg des Essays noch nicht an sein Ende gekommen. Der eurozen-trische Blick auf einen kleinen Ausschnitt europäischer Kulturgeschichte endet in der Einsicht, wie unendlich vieles in unserer eigenen Geschichte uns unbekannt ist, wie radikal ungesichert das Weltbild ist, das uns so selbstverständlich vor Au-gen steht.

Quand tout ce qui est venu par rapport du passé jusques à nous seroit vray et seroit sçeu par quelqu’un, ce seroit moins que rien au pris de ce qui est ignoré. Et de cette mesme image du monde qui coule pendant que nous y sommes, combien chetive et racourcie est la cognoissance des plus curieux! (S. 1017)

Nun aber wendet sich der Blick von ›unserer Welt‹ auf die andere, neu entdeckte Welt Amerikas und damit zugleich auf die grundsätzlich immer vorhandene Möglichkeit einer Pluralität von Welten, die sich verborgen hielt und plötzlich hervortritt. Die alte Welt macht die Entdeckung einer noch jungen Welt, aber nicht, um sich von ihr über sich selbst belehren zu lassen, sondern, sie zu verwüs-ten. Es ist die Stimme einer trauernden honnêteté, die diese geschichtliche Katas-trophe beklagt. Aber zugleich erweist sich die honnêteté als eine letzte kostbare Frucht eben jener alten Welt selbst, in der Distanznahme zu ihr und in der Fä-higkeit des genauen Blicks und der Kunst, diesem eine vollkommen angemessene Sprache zu finden, die ganz der Sache selbst entspringt. In einer genialen typolo-gischen Konfrontation stellt Montaigne die wesentlichen Differenzen zweier Kul-turtypen heraus. Beschleunigung ist das Gesetz des modernen Europa, Langsam-keit das Kulturgesetz des neuen Kontinents. Die indianische Kultur kennt das Rad nicht und damit das Mittel der mechanischen und beschleunigten Fortbewe-gung. Das Gold hat in der Kultur der Azteken hieratische Funktion, es dient der Götterverehrung und wird aufbewahrt am heiligen, unbeweglichen Ort. Dagegen ist es in der modernen europäischen Welt als Zahlungsmittel in einer beständi-gen, von unersättlicher Begierde angetriebenen Bewegung. Die schnelle Kultur der technischen Überlegenheit kann die neuentdeckte andere Kultur nicht sein lassen, sie muss sie sich in grenzenloser und blinder Begierde aneignen:

Tant de villes rasées, tant de nations exterminées, tant de millions de peuples passéz au fil de l’espée, et la plus riche et belle partie du monde bouleversée pour la négo-tiation des perles et du poivre: méchaniques victoires. Jamais l’ambition, jamais les inimitiés publiques ne pousserent les hommes les uns contre les autres à si horribles hostilitez et calamitez si miserables.14

14 Ebd., S. 1020.

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Das junge Amerika hätte von dem alten Europa ebenso lernen können wie das alte Europa von einer Kultur, die noch im Einklang mit der Natur steht, statt sich ihrer gewalttätig zu bemächtigen. In einem jener genialen Durchblicke, die das Geheimnis Montaignes sind, fragt er sich, welchen wechselseitigen Gewinn es bedeutet haben könnte, hätte bereits das junge Europa der Antike die junge Welt Amerikas entdeckt. Vielleicht wäre damals noch eine »fraternele societé et intelli-gence« der beiden Kulturen möglich gewesen:

Que n’est tombée soubs Alexandre ou soubs ces anciens Grecs et Romanis une si noble conqueste, et une si grande mutation et alteration de tant d’empires et de peuples soubs des mains qui eussent doucement poly et defriché ce qu’il y avoit de sauvage, et eussent conforté et promeu les bonnes semences que nature y avoit produit, meslant non seulement à la culture des terres et ornement des villes les arts de decà, en tant qu’elles y eussent esté necessaires, mais aussi meslant les vertus Grecques et Romaines aux originelles du pays!15

Montaignes weltgeschichtliche Betrachtung, die ihren Ausgang nahm von der Be-obachtung einer psychosomatischen Disposition des eigenen Körpers, endet mit der kommentarlos erzählten Geschichte vom Ende des Königs von Peru, der bei der Schlacht gegen die Conquistadoren reglos in seinem goldenen Stuhl sitzt und von immer neuen, gnadenlos niedergemetzelten Getreuen verteidigt wird, bis endlich ein berittener Soldat ihn zu Boden wirft. Es bleibt der honnêteté des Les-ers überlassen, sich diesen Akt elender Ermangelung an honnêteté eines Reiters ohne Ritterlichkeit zu kommentieren.16

Dagegen sind für Montaigne selbst Reiter, Ritterlichkeit und honnêteté un-trennbar eins. Montaigne ist ein leidenschaftlicher Reiter, ja das Reiten ist, wie er zu Beginn von »Des coches« sagt, die einzig ihm gemäße Form der schnellen Fortbewegung. Er würde, bekennt er in seinem großen Essay über die Eitelkeit (»De la vanité«, III, 9), am liebsten zu Pferd sterben: »Si toutesfois j’avois à choi-sir, ce seroit, ce croy-je, plustost à cheval que dans un lict, hors de ma maison et esloigné des miens.«17 Für Montaigne ist das Reiten die Art der Fortbewegung, die seiner Auffassung von honnêteté am meisten entspricht. Der Reiter muss Rücksicht nehmen auf sein Tier, er muss mit feinem Takt führen und sich führen lassen, im Einswerden mit dem Bewegungsrhythmus des Pferdes erfährt der Rei-ter in unvergleichlicher Weise eine Nähe zu jener Natur, der die Kultur entwach-sen ist und auf der sie gleichwohl noch immer aufruht. Der Rhythmus des Rei-tens löst den inneren Rhythmus, die innere Bewegung der Gedanken. Daher auch bleiben seine schönsten Essays ungeschrieben, und die geschriebenen sind nur eine blasse Erinnerung an die Erfahrung des Denkens in seiner Fülle, die er zumeist beim Reiten macht:

Mais mon ame me desplait de ce qu’elle produict ordinairement ses plus profondes resveries, plus folles et qui me plaisent le mieux, à l’improveu et lors que je les

15 Ebd., S. 1019 f. 16 Vgl. ebd., I, 3. 17 Ebd., S. 1095.

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cherche moins; lesquelles s’esvanouissent soudain, n’ayant sur le champ où les attacher: à cheval, à table, au lit, mais plus à cheval, où sont mes plus larges entretiens. J’ay le parler un peu delicatment jaloux d’attention et de silence, si je parle de force: qui m’interrompt m’arreste. En voiage, la necessité mesme des chemins couppe les propos; outre ce, que je voyage plus souvent sans compagnie propre à ces entretiens de suite, par où je prens tout loisir de m’entretenir moy-mesme.18

Der Schriftsteller Montaigne ist in die Schule des Reiters Montaigne gegangen, aber beide, der Reiter und der Schriftsteller, sind nur zwei Masken des einen hon-nête homme. Es ist daher auch kein Wunder, dass Montaigne seine Erfahrung im Umgang mit der Sprache am liebsten an der Erfahrung des Reiters erläutert. Nicht die Schulrhetorik, das Reiten ist die Schule seines Stils. Wie der Reiter beim Reiten die unentzweite Erfahrung macht, zugleich Subjekt und Objekt des Reitens zu sein, vom Pferd getragen zu werden und es doch zu lenken, so bewegt der Sprechende und mehr noch der Schreibende als Subjekt der Rede die Sprache und wird zugleich von ihr getragen. Nur wer bereit ist, rückhaltlos auf die Spra-che zu hören, ist in der Lage, sie sich gefügig zu machen. In »De la vanité« (III, 9) vergleicht Montaigne die freie, zwanglose, poetische Gangart seines Essays der freien Gangart eines jungen Pferdes, dem der Reiter die Freiheit lässt, seine Kräfte zu erproben:

J’ayme l’alleure poetique, à sauts et à gambades. C’est un art, comme dict Platon, legere, volage, demoniacle. Il est des ouvrages en Plutarque où il oublie son theme, où le propos de son argument ne se trouve que par incident, tout estouffé en matiere estrangere: voyez ses alleures au Dæmon de Socrates. O Dieu, que ces gaillardes escapades, que cette variation a de beauté, et plus lors que plus elle retire au nonchalant et fortuite. Cèst l’indiligent lecteur qui pert mon sujet, non pas moy; il s’en trouvera tousjours en un coing quelque mot qui ne laisse pas d’estre bastant, quoy qu’il soit serré.19

Die freie Gangart der »alleure poetique«, die Montaignes Denkbewegung ihre un-vergleichliche Prägnanz gibt, heißt nicht Willkür und Beliebigkeit. Es ist eine kontrollierte Freiheit, die nie orientierungslos wird, auch wenn es dem unauf-merksamen Leser so scheinen mag. Der aufmerksame Leser erkennt die Zusam-menhänge, auch wenn sie versteckt sind und sich nicht dem ersten Besten anbie-ten. Der Reiter als honnête homme versteht es, sein Pferd ebenso zwanglos zu len-ken, wie der Autor als honnête homme die Sprache lenkt, die ihn trägt und so auch den Leser, in dem die »alleure poetique« des Essays, der er sich anvertraut, eigene Gedanken und Erfahrungen in Gang setzt. Es ist die hohe Kunst des Reiters, sei-nem Pferd Freiheit zu gewähren und es doch zur genauen Gangart zu nötigen. Dabei zeigt sich seine ganze Kraft, wenn es in vollem Lauf zum Stillstand gebracht wird: »Et n’est rien où la force d’un cheval se cognoisse plus qu’à faire

18 Ebd., »Sur des vers de Virgile«, III, 5, S. 981. 19 Ebd., S. 1115.

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un arrest rond et net.«20 Eben darin aber erweist sich auch die große Kunst des Schriftstellers, dass er den Sätzen ebenso wie den Texten ein kraftvolles, knappes Ende geben kann:

Et c’est chose difficile de fermer un propos et de le coupper despuis qu’on est ar-routté. [...] Entre les pertinens mesmes jʼen voy qui veulent et ne se peuvent deffaire de leur course. Ce pendant qu’ils cherchent le point de clorre le pas, ils s’en vont balivernant et trainant comme des hommes qui deffaillent de foiblesse.21

Am Ende seines letzten Essays »De l’experience« (III, 13), in dem Montaigne die Summe seiner Selbst- und Menschenbetrachtung zieht, findet sich ein denkwür-diger Satz, in dem er die Summe seines letzten Essays und die Summe seines lite-rarischen Selbstverständnisses zusammenfasst: »Cʼest une absolue perfection, et comme divine, de sçavoyr jouyr loiallement de son estre.«22 »Savoir jouir loyale-ment de son être« heißt zugleich: savoir jouir honnêtement de son être. Es heißt, dankbar der von Natur, Schicksal oder einer höheren Macht verliehenen eigenen Möglichkeiten innezusein und sich in der Verwirklichung ihrer würdig zu erweisen. Für Montaigne bedeutet dies auch, den Genuss des Selbstseins als eine Verpflichtung zu betrachten, der Aussicht auf die condition humaine, die dieses eröffnet, eine sprachliche Gestalt zu geben und vermittels ihrer in ein endloses honettes Gespräch mit all jenen einzutreten, die als Leser eingeladen sind, die Rolle des abwesenden Freundes zu übernehmen. Die Essais sind ein Buch der bonne foi, der Loyalität zu sich selbst und zu den anderen und eben darin ein Buch, das Buch der honnêteté.

Montaignes Essais sind zum Vademekum des honnête homme geworden, sie sind seither zum unveräußerlichen Teil jener Bibliothèque de lʼhonnête homme ge-worden, an der in Frankreich seit Montaigne Generation über Generation weiter-geschrieben hat. Es bedurfte nicht der Schule und nicht der Institutionen, um Montaigne diesen Platz zu sichern, sondern allein jener Gesellschaft der honnêtes hommes und honnêtes femmes, der er selbst zum ersten Mal zur Sprache verholfen hat. Schon im 17. Jahrhundert kommt die Rede vom Vademecum des honnête homme für Montaignes Essais auf. Sie sind seither ein Vademecum für den franzö-sischen Leser geblieben und haben sich zugleich auch schon früh als eines in der kleinen Zahl jener Bücher erwiesen, ohne die ein europäisches Bewusstsein, ja ein kosmopolitisches Bewusstsein nicht möglich scheint. Die Form des Essays ist zu einer europäischen Form der honnêteté geworden, die nie ganz das Bewusstsein ihrer Herkunft verloren hat. Die europäische Wirkungsgeschichte von Montai-gnes Essais bedürfte einer eigenen Darstellung. In Frankreich ist Pascal ohne Montaigne ebenso wenig zu denken wie Madame de Sévigné. Das 18. Jahrhun-dert hat die maßgebliche Ausgabe auf der Grundlage von Montaignes eigenen handschriftlichen Ergänzungen des Exemplars von Bordeaux hervorgebracht, die

20 Ebd., »Des menteurs«, I, 9, S. 54. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 1257.

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fruchtbarsten Denker der Aufklärung, Diderot und Rousseau, stehen auf seinem Boden und verdanken ihm die entscheidenden Fragen.

In der Zeitung Le Constitutionnel, in der Charles-Augustin Sainte-Beuve über Jahrzehnte regelmäßig seine Causeries du lundi veröffentlichte, erschien am 21. Oktober 1850 der klassisch gewordene Essay, der die Frage stellt: »Quʼest-ce quʼun classique?« Sainte-Beuve macht sich die Antwort nicht leicht, er fragt nach dem Wortgebrauch von classique, geht seiner Geschichte nach, er entwirft seine eigene bibliothèque de lʼhonnête homme in Gestalt eines allegorischen Parnass, auf dem, nahe bei Horaz, auch Montaigne seinen Ort hätte, »ce vrai poète [qui] achèverait dʼôter à ce coin charmant tout air dʼécole littéraire«. »Voila nos clas-siques«, beschließt er dieses Tableau, aber dann folgt noch die confession de foi des großen Literaturkritikers, der an der Schwelle des Alters die Frage nach jenen Klassikern stellt, die ihm gleichsam zu Klassikern des Herzens geworden sind:

Il vient un âge, peut-être, où lʼon nʼécrit plus. Heureux ceux qui lisent, qui relisent, ceux qui peuvent obéir à leur libre inclination dans leurs lectures! Il vient une saison dans la vie, où tous les voyages étant faits, toutes les expériences achevées, on nʼa pas de plus vives jouissances que dʼétudier et dʼapprofondir les choses quʼon sait, de savourer ce quʼon sent, comme de voir et de revoir les gens quʼon aime: pures dé-lices du cœur et du goût dans la maturité. Cʼest alors que ce mot de classique prend son vrai sens, et quʼil se définit pour tout homme de goût par un choix de prédilec-tion et irrésistible. Le goût est fait alors, il est formé et définitif; le bon sens chez nous, sʼil doit venir, est consommé. On nʼa plus le temps dʼessayer ni lʼenvie de sortir à la découverte. On sʼen tient à ses amis, à ceux quʼun long commerce a éprouvés. Vieux vin, vieux livres, vieux amis.23

Was, jenseits aller Schulen und Institutionen, den Klassiker ausmacht, ist dies: »une amitié qui ne trompe pas, qui ne saurait nous manquer, et cette impression habituelle de sérénité et dʼaménité qui nous réconcilie, nous en avons souvent besoin, avec les hommes et avec nous-mêmes.«24 Wer entspräche diesem Bild des Klassikers mehr als Montaigne?

Zweifellos ist im Bewusstsein Frankreichs wie im Bewusstsein Europas Mon-taigne, der honnête homme unter den Schriftstellern, ein Klassiker im Sinne Sainte-Beuves geworden. Auch das 20. Jahrhundert hat ihn, wie vielleicht kein anderes Jahrhundert zuvor, sich zu eigen gemacht. In der Mitte des Jahrhunderts, genauer: 1947, erschien nach den Jahren des Kriegs und des Verbrechens das schönste Buch, das je über Montaigne geschrieben wurde: Hugo Friedrichs Mon-taigne, dem seither noch viele große Untersuchungen wie Jean Starobinskis Mon-taigne en mouvement25 und Gisèle Mathieu-Castellanis Montaigne. Lʼécriture de lʼessai26 gefolgt sind. Einige Jahre später, 1956, veranstaltete Raymond Queneau eine große Umfrage unter den zeitgenössischen französischen Schriftstellern nach 23 Charles-Augustin Sainte-Beuve, »Quʼest-ce quʼun classique?«, in ders., Causeries du Lundi, Bd. 3,

Paris, 1927, S. 54. 24 Ebd., S. 55. 25 Jean Starobinski, Montaigne en mouvement, Paris, 1982. 26 Gisèle Mathieu-Castellani, Montaigne. Lʼécriture de lʼessai, Paris, 1988.

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ihrer Idealbibliothek, das heißt nach einer Liste von 100 Werken, die jeder hon-nête homme gelesen haben sollte.27 Die Auswertung der sechzig eingegangenen Zuschriften ergab für Montaigne den vierten Rang, bei dem ihm unter den franzö-sischen Schriftstellern nur Marcel Proust an dritter Stelle mit À la recherche du temps perdu vorausging, während Shakespeare und die Bibel die ersten beiden Ränge belegten.

Dass auch das französische 20. Jahrhundert seine große maßgebliche Biblio-thèque de lʼhonnête homme, die Editions de la Pléiade, besitzt und dass in ihr Montaigne gleichsam als Gründergestalt von Anbeginn figuriert, verdankt Frank-reich und alle, die in der Welt der französischen Literatur zu Hause sind, einem Juden aus Russland, Jacques Schiffrin, der in den zwanziger Jahren nach Paris kam und dort 1923 den Verlag Les Editions de la Pléiade gründete, aus dem 1931 die Bibliothèque de la Pléiade hervorging. Jacques Schiffrin verkaufte 1933 seinen Verlag an Gallimard und leitete bei Gallimard die Bibliothèque de la Pléi-ade, bis er 1940, nach der deutschen Besetzung Frankreichs, entlassen wurde und nach Amerika emigrierte, wo er zusammen mit dem aus Deutschland vertriebe-nen Verlegerehepaar Kurt und Helen Wolf den Pantheon-Verlag leitete. 1933, in dem Jahr, in dem die Editions de la Pléiade an Gallimard übergingen, erschien dort die von Albert Thibaudet herausgegebene Ausgabe der Essais auf der Grund-lage des »exemplaire de Bordeaux«28, die Montaigne entzückt hätte, denn erstmals sind hier alle Essays von Montaigne in einem einzigen ledergebundenen Dünn-druckband versammelt, so dass der Band nun auch wirklich zum Vademecum des honnête homme werden konnte, der in jeder Jacken- oder Manteltasche Platz fand – sehr im Unterschied übrigens zur neuen Pléiade-Ausgabe, die durch die Hinzu-nahme des Journals von Montaignes italienischer Reise und einen gewichtigen Anmerkungsapparat sich so aufgeplustert hat, dass sie als Vademecum nicht mehr taugt.

Nicht nur Bücher, auch Verleger und Verlage haben ihre Schicksale. Vor we-nigen Jahren erschien im Verlag Klaus Wagenbach das Buch Verlage ohne Verleger von André Schiffrin29, der wie sein Vater Jacques Schiffrin Verleger wurde und aus nächster Nähe die gewaltigen Umwälzungen beobachten konnte, die die Ra-tionalisierung des Verlagswesens und seine Einverleibung in große, gesichtslose Mischkonzerne in Amerika, und nicht nur dort, mit sich brachte. Schiffrins Zu-kunftsprognose für das Buch ist düster und hoffnungsvoll zugleich. Irgendwann wird der internationale Markt erkennen müssen, dass Bücher keine besonders rentable Ware sind, und den seriösen Buchhandel wieder jenen überlassen, deren Hauptinteresse nicht die Profitmaximierung ist. Doch wie sehr auch immer die Globalisierung des Buchmarkts voranschreiten mag, es wird bei denen, die über-haupt Zugang zur Literatur haben, immer so etwas wie eine Bibliothèque de lʼhon-

27 Raymond Queneau, Pour une bibliothèque ideéale, Paris, 1956. 28 Ein Exemplar der letzten zu Lebzeiten Montaignes in Bordeaux 1584 erschienenen Ausgabe, das

dieser mit handschriftlichen Zusätzen versehen hatte und das allen nach Montaignes Tod erschie-nenen Ausgaben als Grundlage dient.

29 André Schiffrin, Verlage ohne Verleger.Über die Zukunft der Bücher, Berlin, 2000.

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nête homme geben, und in ihr wird Montaigne, der Klassiker der honnêteté, auch zukünftig seinen Ort haben, zumindest in Europa, zumindest in Frankreich, ohne dessen Stimme Europa, der Kanon europäischer Mehrstimmigkeit, nicht denkbar ist.

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2. MONTAIGNE UND DIE ERFAHRUNG DER VIELHEIT

I.

Montaigne steht am Ende einer Epoche, die wie keine zuvor die Erfahrung der Vielheit gemacht hat. Keine andere Erfahrung prägt so sehr das Gesicht des euro-päischen Spätmittelalters und der daraus hervorgehenden italienischen Renais-sance. Erst vor dem Hintergrund dieser epochalen Signatur lässt sich die Bedeu-tung ganz erfassen, die der Reflexion der Vielheit bei Montaigne zukommt.

Es ist, als erschöpfe sich im europäischen Spätmittelalter die Kraft, die in den vorausgehenden Jahrhunderten des christlichen Mittelalters in allen Lebensberei-chen das Vielfältige zur Figur einer einheitlichen, hierarchisch aufgebauten Welt zusammengeführt hatte und die den Bau solcher in die Einheit eingefügter Viel-falt gegen das von außen kommende bloß Vielfältige behauptete.1 Der Prozess der Freisetzung der Vielheit, die Vervielfältigung der Zentren, auf die hin das frei-gesetzte Vielfältige sich neu zur Einheit zusammenschließen sollte, gewinnen eine Dynamik, die seither nicht mehr zum Stillstand gekommen ist. Die Freisetzung der Vielheit kennt mannigfaltige Erscheinungsweisen und vollzieht sich in unter-schiedlichen Zusammenhängen, die dennoch miteinander in schwer durchschau-barer Weise korrespondieren. Die via moderna der nominalistischen Philosophie an den europäischen Universitäten verleiht dem Besonderen, der Vielheit des Einzelnen, eine neue Dignität. Wenn das Wort nicht mehr das Wesen der Sache ausspricht, wenn dem Wesen kein Seinsvorrang vor der Vielheit des Seienden mehr zugesprochen wird, gewinnt das Konkrete ein neues, substantielles Ge-wicht. Dann fasst das Wort auch nicht mehr das, was an jedem Einzelnen seine Teilhabe am Wesen ausmacht. Es ist nur noch ein Schema, unter dem das Viel-fältige, praktischen Zwecken gehorchend, zusammengefasst wird. Für die philo-sophische Freigabe der Vielheit aus ihren mittelalterlich-metaphysischen Bindun-gen ist die Sprachphilosophie des Nominalismus und ihre Verbreitung an den europäischen Universitäten des Spätmittelalters sicher von kaum zu überschätzen-der Bedeutung.2 Wird die Vielheit aus dem Status des bloß Akzidentiellen befreit,

1 Zur besonderen Affinität zwischen der ›Logik‹ der gotischen Architektur und jener der scholasti-

schen Theologie vgl. E. Panofsky, Architecture gothique et pensée scolastique, trad. par P. Bourdieu, Paris 1967, bes. Kap. 4: »Le principe de clarification dans les arts«, wo das »principe de divisibi-lité« als Strukturprinzip der Summa Theologiae des Aquinaten zu den Strukturprinzipien gotischer Baukunst ins Verhältnis gesetzt wird.

2 Die Bedeutung des Nominalismus für die Vorbereitung der Neuzeit ist vor allem von H. Blu-menberg hervorgehoben worden. Blumenberg zeigt, wie die antike Idee der Pluralität der Welten hier eine neue, vorausweisende Bedeutung gewinnt. Vgl. H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 1966, S. 113: »Dieser Gedanke sollte in der Vorbereitung der Neuzeit ei-

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so kann die Differenz, das, was die Vielheit zur Vielheit macht, zum Thema wis-senschaftlicher und philosophischer Aufmerksamkeit werden. Es dürfte nahelie-gen, die Rehabilitierung der seit Augustin geächteten curiositas auch in diesem Zusammenhang zu sehen.3 Die curiositas richtet sich auf das je Besondere, auf das, was jenseits des Horizonts einer durch Autorität verbürgten Lehre liegt und holt es herein in den Kreislauf des Wissens. Gerade weil sie auf das Vielfältige, nicht auf das Wesen gerichtet ist, ist die curiositas für Augustin eine geistige Lei-denschaft, die, statt der Sammlung zu dienen, sich der Zerstreuung dienstbar macht und damit zugleich die Orientierung des Menschen auf das Wesentliche hin gefährdet.

Die Arbeit des Wissens, das die Vielheit als einen Zusammenhang von Diffe-renzen erfasst, entzieht der mittelalterlichen Hierarchie der Differenzen gleichsam den Boden. Stand jede Differenz im mittelalterlichen Weltsystem in hierarchi-schen Relationen, so kann jetzt die Differenz zum Feld unabsehbarer Koexisten-zen werden.

Das Bewusstsein einer intellektuellen und kulturellen Elite in Italien, dass der Weg aus der Befreiung von einer politischen wie kulturellen Fremdherrschaft in der Rückbesinnung auf die antiken Quellen des gegenwärtigen Lebens liege, ist der Ursprung eines italienischen spätmittelalterlichen Sonderwegs, der schließlich zum europäischen Weg über das Mittelalter hinaus werden sollte. Der Weg zu-rück zu den Quellen, aus einer Welt, die beherrscht ist von den immer undurch-dringlicheren theologisch-intellektuellen Systemen der Scholastik und einer ihr korrespondierenden ›gotischen‹ Architektur führte im wörtlichen wie im übertra-genen Sinne zu Ausgrabungen antiker Kunst und der einfachen und harmoni-schen Formsprache antiker Architektur, die nun, unter unvergleichlich gesteiger-ten technischen Möglichkeiten wiedererweckt wird, und nicht zuletzt zur Wie-derentdeckung der antiken Autoren in ihrer Eigenständigkeit, das heißt auch in der ursprünglichen Gestalt ihrer Texte. Ist es zunächst noch die römische Litera-tur, die, gleichsam aus ihrer Rezeptionsgeschichte befreit, neu in die Zirkulation eines gelehrten Wissens kommt, so mehr und mehr auch die griechische Dich-tung, die dem Mittelalter nur noch schattenhaft gegenwärtig geblieben war. Doch war das Ergebnis solcher Rückbesinnung gerade nicht eine Rückkehr zur Einfachheit des Ursprungs, sondern die Koexistenz des Wiederentdeckten mit dem Gegenwärtigen und noch immer Gültigen. Es werden so aber differente his-torische Welten, die das christliche Mittelalter in die Einheit einer kohärenten

ner der wesentlichen Faktoren der Zersetzung der metaphysischen Kosmosidee werden.« Zum Zusammenhang von philosophischem Nominalismus und Ästhetik des Spätmittelalters vgl. die Bemerkungen bei R. Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1963, S. 117 ff. Zur Vielfältigkeit der spätgotischen Architektur merkt Assunto an: »Was in der spätgotischen Archi-tektur als schön verstanden wird, ist bereits nicht mehr die Vielfältigkeit, die sich zu einer Einheit ordnet, sondern die Vielfältigkeit als solche, bei der jedes einzelne Glied sich der Anschauung als selbständige Individualität zeigt und die Schönheit des Ganzen in der Fülle dieser Individuali-täten besteht und nicht in ihrer Einordnung in einen Gesamtorganismus.« (Ebd.)

3 Zur Geschichte der Rehabilitierung der curiositas vgl. H. Blumenberg, Legitimität, 3. Teil: »Der Prozeß der theoretischen Neugierde«, S. 201 ff.

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DIE ERFAHRUNG DER VIELHEIT 29

Weltsicht eingeschmolzen hatte, zu einer Vielheit aktualisiert, die das Problem ihrer Synthetisierbarkeit, ihrer alternativen oder komplementären Geltung erst aufwarf.

Setzt die Vielfalt sich aus der sie umgreifenden Ordnung frei und wird zur Vielheit, stellt sich damit sogleich die Frage nach einer neuen Ordnung, die die Kraft hätte, das Gegebene zu umspannen. Vielheit und Einheit werden zum Pro-blem, provisorische Einheiten bilden sich und zerfallen, Alternativen treten auf den Plan. Im Hinblick auf das zum Problem gewordene Verhältnis von Vielheit und Einheit aber findet sich in Italien zuerst eine Lösung von radikaler Moderni-tät. In Italien wird zuerst das im Spätmittelalter aufgebrochene Problem des Ver-hältnisses von Vielheit und Einheit als ein ästhetisches Problem verstanden und ästhetisch gelöst. Das seine eigene Einheit konstituierende Kunstwerk ist die Ant-wort, die die italienische Renaissance auf die Erfahrung der offenen, enthierarchi-sierten Vielheit gefunden hat. Im Werk treten Vielheit und Einheit zu einer ästhetischen Evidenz zusammen, die von keiner Doktrin mehr garantiert ist. Die ästhetische Evidenz erhält dadurch eine über sich selbst hinausweisende Dignität, die der europäischen Kunst seit ihren griechischen Anfängen so wohl zum ersten Mal wieder zukommt. Allein noch in der Kunst kommen Vielheit und Einheit, vermittelt durch die Evidenz des Werks, zu einer jeweils neuen, versuchsweisen und in sich selbst doch endgültigen Entsprechung zusammen. So wird die ästhe-tische Lösung eines Problems zur Grundlage der Lösung eines ästhetischen Pro-blems.

M. Imdahl hat am Werk Giottos die neue, in ihrer Tendenz schon nachmittel-alterliche Werkstruktur aufgewiesen und ihre Bedeutung als ein durch kein ande-res Medium überbietbares Instrument der Erkenntnis vor Augen geführt. Imdahl zeigt, wie die »kühnen Äquivalenzen« des Bildes4, die man auch ›imaginäre Syn-thesen‹ nennen könnte5, die Inständigkeit des Werks bedingen, durch die die Vielheit vielfältig gebunden wird.6 Es wäre reizvoll, die sich ausdifferenzierenden

4 M. Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München 1980, S. 103: »Was

sich dagegen der Ikonik als Totalität darstellt, ist nicht bestimmt durch einen vorgegebenen en-dothymen Grund, aus welchem alles weitere Verstehen deduziert werden könnte. Vielmehr arti-kuliert sich Totalität in der Anschauungseinheit von gerade widerstrebigen, dialektischen Sinnbil-dungen oder kühnen Äquivalenzen«.

5 Verf., »Die Absolutheit des Ästhetischen und seine Geschichtlichkeit«, in ders., Ästhetische Ratio-nalität. Kunstwerk und Werkbegriff, München 1997, S. 51 f.

6 In diesem Sinne versteht M. Dvořak die Malerei Giottos als »dritte geistige Weltmacht des späten Mittelalters, die des autonomen Kunstwerks« (zitiert bei Imdahl, S. 27). Es gibt von Giotto eine Darstellung, die als eine der Inkunabeln der ästhetisch gebundenen Vielheit betrachtet werden kann. In der Vogelpredigt des Hl. Franziskus am Fuß des im Louvre befindlichen Bildes »Der heilige Franziskus empfängt die Wundmale« ist, im Gegensatz zur streng geometrischen Ord-nung der lauschenden Vögel in dem Franziskus-Bild Berlinghieris in S. Croce in Florenz, die Schar der Vögel über das funktional Notwendige hinaus differenziert. In Giottos Bild sind es Vö-gel verschiedener Arten, die alle dem Heiligen mit gleicher Intensität, aber unterschiedlichem Körperausdruck zuhören. Zum Thema der Darstellung ist der Augenblick gemacht, wo die Gruppe noch nicht ganz zusammengekommen ist. Ein Vogel mit erhobenen Flügeln bereitet sich eben vor, auf die Erde aufzukommen, während ein letzter noch in vollem Flug sich herabstürzt.

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I. MONTAIGNE 30

Darstellungssysteme zu verfolgen, mit denen in erster Linie die Malerei zum Ort der Entlastung von Vielheit durch die Evidenz ihrer sie umgreifenden ästheti-schen Einheit wird. Dabei wäre das Eindringen der Landschaft in die religiöse Malerei höchst aufschlussreich. Die Weltlandschaften in den frühchristlichen Kirchen von Ravenna und Rom sind dargestellte Symbollandschaften, die ganz von dem hierarchischen Weltaufbau bestimmt sind, den sie zum Ausdruck brin-gen. Dagegen konstituiert sich die neue Landschaft, die mehr und mehr gleich-sam zum Sehzwang der Renaissancemalerei in Italien wird, durch die Perspektive eines Betrachters. Die Einheit der Landschaft ist die prekäre Einheit eines auf sie fallenden Blicks. Wird aber die Weltlandschaft zur perspektivisch offenen Land-schaft der innerweltlichen, auf die Perspektive eines Betrachters zulaufenden Er-schlossenheit, so löst sich die symbolische Ordnung in eine Vielheit auf, die nur noch ästhetisch als Einheit erfahrbar ist. Werden die Themen christlich-religiöser Bildlichkeit aus der Tradition mittelalterlicher Kirchenmalerei in einen Zusam-menhang innerweltlicher Vielheit und perspektivischer Subjektivität des Blicks versetzt, so werden sie selbst Momente der Vielheit, die aus einer hierarchischen Ordnung entgleiten, werden Episoden in einer offenen Welt.7 An die Stelle einer symbolischen Ordnung, unter deren Bedingungen die religiöse Malerei des Mittelalters stand, tritt nun die Gesehenheit der Welt als neues Thema der Male-rei, die sich in der ästhetischen Evidenz des Bildes objektiviert und zur imaginä-ren Einheit abschließt.

Auch in der Literatur entsteht zuerst in Italien eine neue Konzeption des Werks, die durch die neu aufgeworfene Problematik von Vielheit und Einheit be-stimmt ist.

Wenn Dantes poetische Summe seiner Welt noch an einen mittelalterlichen, funktional-symbolischen Werkbegriff gebunden zu sein scheint, so wird dieser durch die in ihm zum Austrag kommende Spannung von hierarchischer Ord-nung der Weltarchitektur und behaupteter, unverfügbarer Identität des Einzelnen wie durch das Eindringen des Privatmythos in den symbolischen Weltzusammen-hang doch bereits erschüttert. So wird hier schon der Übergang zu einer neuen ästhetischen Ordnung fassbar, die die Vielheit der Erfahrung allein noch zu um-greifen vermag. Der Übergang von Dantes Commedia zu Boccaccios Decameron

Die Szene steht noch vor dem Goldgrund byzantinischer Ikone, doch hat sie sich in ihrer Be-wegtheit und Vielfalt von der strengen Stilisation byzantinischer religiöser Malerei schon weit entfernt. Dagegen steht die Vogelpredigt in der Chiesa Superiore von Assisi schon unter einem blauen ›wirklichen‹ Himmel.

7 Vgl. etwa Ghirlandaios »San Francesco riceve le stigmate« aus der Sassetti-Kapelle der Chiesa di S. Trinità in Florenz. Diese zentrale Begebenheit der Franziskus-Legende wird von Ghirlandaio in eine offene Weltlandschaft versetzt, in der die Horizontale über die Vertikale dominiert. Die Vision des Heiligen wird sinnfällig als Erscheinung am Himmel, die durch den Goldgrund in ih-rer Übernatürlichkeit herausgehoben ist. Zugleich kehrt hier der Goldgrund gleichsam nur noch als Zitat einer vergangenen religiösen Malerei wieder. Ein anderes, besonders illustratives Beispiel dieser Dezentrierung des religiösen Gehalts ist Mantegnas Kreuzigungsbild im Louvre. Der Blick des Betrachters wird hier in auffälliger Weise vom Zentrum abgelenkt, die Aufmerksamkeit in ei-ne Vielfalt der Aufmerksamkeitsrichtungen verzweigt.