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Rainer Karlsch/Zbynek Zeman Urangeheimnisse

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  • Rainer Karlsch/Zbynek Zeman

    UrangeheimnisseDas Erzgebirge im Brennpunktder Weltpolitik 1933–1960

    Ch. Links Verlag, Berlin

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  • Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    4., durchgesehene Auflage, Januar 2010© Christoph Links Verlag GmbH, 2002Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel. (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected]: KahaneDesign, Berlin,unter Verwendung eines Fotos vom ersten Uranerzschacht Europas im böhmischen Jáchymov in den 1930er Jahren (DIAMO Archiv, Příbram)Satz: LVD GmbH/Ch. Links Verlag, BerlinLithos: LVD GmbH, BerlinDruck und Bindung: Bosch-Druck, Landshut

    ISBN 978-3-86153-276-7

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  • Inhalt

    Die Potsdamer Konferenz 1945 7

    Der Wettlauf um die Atombombe 9Hitlers Kernphysiker 9Japanische Bombenvorhaben 20Los Alamos – Das amerikanische Nuklearlabor 21Stalins Atomprojekt 26Der Angriff auf Oranienburg und die Zonenteilung 1945 30Die sowjetische »Uranlücke« und das Erzgebirge 38

    Uranbergbau im Erzgebirge 46Bergbaustädte, Uranfarben und Radiumbäder 46Der Beginn des Atomzeitalters 51Grenzlandtragödien 53

    Ein Industriegigant mit »strahlender Zukunft« – Das tschechoslowakische Nationalunternehmen Jáchymov 70Hoffen auf ein tschechoslowakisch-sowjetisches Bündnis 70Die Uranfrage im Spannungsfeld der internationalen Diplomatie 76Die Anfänge des Nationalunternehmens 92Der Uranfaktor in der tschechoslowakischen Innen- und Außenpolitik 104Ein tschechoslowakischer Archipel Gulag 119

    Ein »Staat im Staate« – Die Wismut AG in Ostdeutschland 141Das größte Reparationsunternehmen des 20. Jahrhunderts 141Kommandeure, Klassenkämpfer und Politaffären 152Völkerwanderung ins Erzgebirge 165Die sowjetische Geheimpolizei und ihre Helfer im Bergbaugebiet 177Vom Zwangssystem zur Freiwilligenwerbung 185Auf dem Weg zum Musterbetrieb 196Sonderjustiz 209Der Kalte Krieg der Worte und Spione 220Bergleute zwischen Aufbegehren und Anpassung 227Unfälle und Strahlenschäden 236Die Sonderstellung der Wismut AG im Ostblock 250

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  • Zusammenfassung 256

    Nachwort zur vierten Auflage 265

    AnhangAnmerkungen 266Abkürzungsverzeichnis 296Statistik 298Quellen- und Literaturverzeichnis 305Abbildungsnachweis 314Personenregister 315Danksagung 319Zu den Autoren 320

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  • Die Potsdamer Konferenz 1945

    Am 24. Juni 1945 sah Stalin von der Terrasse des Leninmausoleums in Mos-kau der großen Siegesparade der Roten Armee zu, mit der das Ende des Zwei-ten Weltkriegs gefeiert wurde. Infanterie-, Kavallerie- und Panzerregimenterwarfen unzählige Fahnen und Standarten der Wehrmacht in den Staub zu Sta-lins Füßen. Der verregnete Tag war voller Symbolik. Zwei Tage darauf erhieltStalin vom Präsidium des Obersten Sowjets die höchste Auszeichnung »Heldder Sowjetunion« und nahm den Titel »Generalissimus« an. Er stand im Zenitseiner Macht. Nun galt es, das Erreichte zu sichern. Doch schon bald schiensich eine neue Bedrohung abzuzeichnen. Genau einen Monat nach der Sieges-parade in Moskau teilte ihm der amerikanische Präsident Harry S. Truman inPotsdam mit, dass die USA über eine Atombombe verfügten.

    Im Residenzschloss Cecilienhof des früheren Kronprinzen der Hohenzol-lern bei Potsdam tagten seit dem 17. Juli zum dritten Mal die drei Großmächte.Auf der Konferenz unter dem Codenamen »Terminal« (Endstation) verhan-delten der sowjetische, der amerikanische und der britische Staatschef über dieNachkriegsordnung. Ursprünglich sollte die Beratung in Berlin stattfinden,wurde aber nach Potsdam verlegt, weil sich in der ehemaligen Reichshaupt-stadt weder ein intaktes Gebäude für die Konferenz noch für die Unterbringungder Teilnehmer fand. So wohnten die drei Delegationen schließlich im Pots -damer Vorort Babelsberg. Auf ihrem täglichen Weg zum Schloss Cecilienhofkonnten sie das ebenfalls stark zerstörte Zentrum von Potsdam umgehen, indemsie den Jungfernsee über eine Pontonbrücke überquerten.

    Auf der Potsdamer Konferenz sah sich Stalin neuen Verhandlungspartnerngegenüber. Nachdem der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt am12. April 1945 gestorben war, hatte sein Vizepräsident, Harry S. Truman, dieRegierungsgeschäfte der USA als neuer Präsident übernommen. In Großbri-tannien sollte es noch während der Konferenz zu einem Machtwechsel kom-men. Die konservative Partei verlor überraschend die Unterhauswahlen am25. Juli. Premierminister Winston Churchill und sein Außenminister AnthonyEden mussten ihren Platz räumen, an ihre Stelle traten am 27. Juli Clement Att-lee und Ernest Bevin.

    Die achte Verhandlungsrunde in Potsdam am 24. Juli war für Churchill zu-gleich die letzte. Er beklagte sich eingangs über das sowjetische Vorgehen in Ost-europa und die Schaffung vollendeter Tatsachen zugunsten der dortigen kom-munistischen Parteien. In dieser Sitzung gebrauchte er zum ersten Mal das Bild

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  • vom »eisernen Vorhang«, der heruntergelassen worden« sei,1 also lange vor sei-ner berühmten Rede in Fulton am 5. März 1946. Als Truman im Anschluss andiesen Konferenztag Stalin über den erfolgreichen Atomtest vom 16. Juli in derWüste von New Mexico informierte, war die Stimmung bereits gespannt. Chur-chill beobachtete, wie der amerikanische Präsident zum sowjetischen Staats-chef ging und die beiden Männer nur in Begleitung ihrer Übersetzer miteinanderredeten. Churchill, der nur wenige Meter entfernt stand, hielt in seinen Memoi -ren dazu fest: »Es war ungemein wichtig, die Wirkung abzuschätzen, die dieseumwälzende Neuigkeit auf ihn ausübte. Ich sehe alles vor mir, als wäre es gesterngewesen. Eine neue Bombe! Von unerhörter Sprengkraft! Vermutlich kriegs-entscheidend gegen Japan! Welcher Glücksfall! Das war mein im Moment ge-wonnener Eindruck, und so war ich überzeugt, dass ihm die Bedeutung dessen,was ihm gesagt wurde, völlig entging. Die Atombombe hatte im Rahmen seinerungeheuren Nöte und Mühen offenbar keine Rolle gespielt. Hätte er die klein-ste Ahnung gehabt, welche Revolutionierung der Weltangelegenheiten inGange war, hätte man das seiner Reaktion bestimmt entnehmen können. Eswäre nichts leichter für ihn gewesen als zu sagen: ›Vielen Dank für diese Mit-teilung über Ihre neue Bombe. Ich bin natürlich kein Techniker. Darf ich mor-gen früh meine Sachverständigen für Kernphysik zu den ihren schicken?‹ AberStalins Züge blieben heiter und unbeschwert, und die Unterhaltung der beidengroßen Staatschefs ging gleich darauf zu Ende. Während wir auf unsere Autoswarteten, fand ich mich neben Truman. ›Wie ist es abgegangen?‹, fragte ich. ›Erstellte keine einzige Frage‹, antwortete er.«2

    Doch Churchill irrte sich, als er annahm, dass Stalin über die amerikanischenFortschritte bei der Entwicklung der Atombombe nicht im Bilde gewesen sei.Er unterschätzte sowohl Stalins Gerissenheit als auch seine Paranoia. Ihm warwährend vieler spätabendlicher Gespräche in Moskau, Teheran und Jalta ent-gangen, dass sich Stalin durchaus lebhaft für neue Technologien der Kriegsfüh-rung interessiert hatte – ein Interesse, das sie miteinander teilten. Zum Erstau-nen Churchills jedenfalls nahm Stalin die Mitteilung Trumans gelassen auf. ImStillen zog der sowjetische Staatschef jedoch seine eigenen Schlüsse. Die Ame-rikaner hatten offensichtlich seit Jahren an der Atombombe gearbeitet, ohne ihndavon in Kenntnis zu setzen, obwohl sie doch Verbündete waren. Das bestärkteihn in seinem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber den westlichen Alliierten.

    Das baldige Auseinanderbrechen der Anti-Hitler-Koalition nach dem Kriegwar auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. Eine wesentliche Rolle spieltedabei die sowjetische Politik in den gerade befreiten Ländern Mittel- und Ost-europas. Mit dem angelsächsischen Verständnis von Demokratie und liberalerWirtschaftsordnung war diese nicht vereinbar. Während sich Briten und Ame-rikaner von der Ausdehnung des sowjetischen Einflussbereichs in Europa be-droht fühlten, sah Stalin im Atombombenmonopol seiner Kriegsverbündeteneine ebenso große Gefahr für sein Imperium. Das genaue Ausmaß war schwerabzuschätzen, denn die Informationen über Produktion, Zahl und Effektivitätder Nuklearwaffen wurden als großes Geheimnis behandelt.

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  • Der Wettlauf um die Atombombe

    Hitlers Kernphysiker

    Kurz vor Weihnachten 1938 kamen die Chemiker Otto Hahn und Fritz Straß-mann im Rahmen einer Versuchsserie am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemiein Berlin zu einem merkwürdigen Ergebnis. Ziel der beiden Wissenschaftlerwar es, durch Neutronenbeschuss von Uran Radium zu gewinnen. Doch stattRadium aus dem Urankern herauszuschlagen, hatten sie ihn in zwei Teile ge-spalten. Erstmals war es offenbar gelungen, so die Schlussfolgerung, eineKernspaltung herbeizuführen. Als Otto Hahn und Fritz Straßmann Anfang 1939ihre Ergebnisse in der Zeitschrift »Die Naturwissenschaften« bekannt gaben,stand der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kurz bevor. So war die weitereAtomforschung bald davon geprägt, eine kriegsentscheidende Waffe zu entwi-ckeln. Doch darauf hatten es die Wissenschaftler, die sich mit dem Thema be-schäftigten, keineswegs angelegt. Gleichwohl beteiligten sie sich in den Jahrennach 1939 an der Entwicklung der Atombombe, was sie nach 1945 erfolgreichzu verschleiern vermochten.

    Im Frühjahr 1939 machten mehrere deutsche Wissenschaftler den Reichs-forschungsrat – 1937 beim Reichserziehungsministerium zur Koordinationwehrwissenschaftlicher Aufgaben gegründet – auf die militärischen Anwen-dungsmöglichkeiten der Kernspaltung aufmerksam. Daraufhin wurde Profes-sor Abraham Esau, Direktor der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, zumLeiter der Fachsparte Physik des Reichsforschungsrats ernannt und mit der Bil-dung eines Expertengremiums für Fragen der Kernforschung beauftragt. Die-ses nahm am 29. April 1939 in Berlin unter dem Namen »Uranverein« seine Arbeit auf. Er war ein lockerer Zusammenschluss von Wissenschaftlern ver-schiedener Institutionen. Unter der Leitung des Reichsforschungsrats solltenin diesem Gremium die weiteren Arbeiten zur Erforschung der Kernspaltungkoordiniert werden.

    Parallel zum Reichsforschungsrat wurde auch das Heereswaffenamt auf dieneuen Möglichkeiten aufmerksam. Die entscheidenden Hinweise kamen vomHamburger Physiker Paul Harteck. Er bemerkte in einem Schreiben vom24. April 1939 an den Chef der Wissenschaftsabteilung des Heereswaffenam-tes, Erich Schumann: »Das Land, das als erstes [von der Kernspaltung] Ge-brauch macht, besitzt den anderen gegenüber eine nicht einzuholende Überle-genheit.«3

    Von diesen Ausführungen beeindruckt, beauftragte Schumann im Sommer1939 den Physiker Kurt Diebner mit der Prüfung der eingegangenen Hinweise.

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  • Diebner konsultierte mehrere Spezialisten und kam zu der Auffassung, dass dieAtomforschung forciert werden müsse. Wenig später wurde dann beim Hee-reswaffenamt nicht nur ein kernphysikalisches Referat, sondern auch ein ent-sprechendes Labor auf dem Heeresversuchsgelände Kummersdorf in Gottowsüdlich von Berlin eingerichtet. Die Militärs legten damit den Grundstein fürein eigenes Uranforschungsvorhaben. Zugleich versuchten sie, alle Aktivitätenauf diesem Gebiet an sich zu ziehen. So wurde der gerade erst gegründeteUranverein kurzerhand dem Heereswaffenamt unterstellt. Nach Kriegsbeginnkonnte dieses auch zahlreiche andere Wissenschaftler, die sich der Atomfor-schung widmeten, enger an sich binden, darunter Werner Heisenberg, bis 1941Professor an der Universität Leipzig und anschließend Direktor am Kaiser -Wilhelm-Institut für Physik in Berlin, Otto Hahn, seit 1928 Direktor des Kai-ser- Wilhelm-Instituts für Chemie, Walther Bothe, Leiter des Instituts für Phy-sik des Kaiser-Wilhelm-Instituts für medizinische Forschung in Heidelberg,Paul Harteck, Professor an der Universität Hamburg, und Nikolaus Riehl vonder Auergesellschaft, die seltene Metalle und Uranerz verarbeitete.

    Zentrum der militärisch koordinierten Forschungen sollte das Kaiser-Wil-helm-Institut für Physik in Berlin werden, dem ab 1941 Werner Heisenberg vor-stand. Nach und nach spielte sich aber Diebner mit seiner Forschungsgruppein Gottow in den Vordergrund und stand in offener Konkurrenz zum Heisen-berg-Team. Während Nobelpreisträger Heisenberg unbestritten der fähigstetheoretische Physiker war, verkörperte Diebner den Typus des emsigen Prak-tikers. Im Gegensatz zu Heisenberg war er ein überzeugter Nazi. Gemeinsammit dem Physiker Erich Bagge aus Leipzig bereitete er zwei Geheimkonferen-zen vor, auf denen ausgelotet werden sollte, ob sich die jüngsten kernphysika-lischen Entdeckungen für die Entwicklung neuer Waffen nutzen ließen. Dieb-ner bewertete diese Frage ausgesprochen positiv und drängte in den folgendenJahren stets darauf, die Atomforschung voranzutreiben, zum Teil auch gegenden Widerstand seines Vorgesetzten Schumann, der dem Projekt eher skeptischgegenüberstand.

    Doch zunächst war es Heisenberg, der die entscheidenden Überlegungen an-stellte. Anfang Dezember 1939 verfasste er für das Heereswaffenamt einen Bericht über »die Möglichkeit der technischen Energiegewinnung aus der Uran-spaltung«. Man sei dem Ziel, einen Reaktor zur Energieerzeugung zu konstru-ieren, sehr nahe gekommen. Die entsprechend angereicherten Isotope eignetensich zugleich dafür, »Explosivstoffe herzustellen, die die Explosionskraft derbisher stärksten Explosivstoffe um mehrere Zehnerpotenzen übertreffen«.4 Dietheoretische Hauptfrage in diesem Zusammenhang war die nach der kritischenMasse, d.h. nach der Menge spaltbaren Materials (Uran 235 oder Plutonium),die groß genug ist, um eine Kettenreaktion aufrechtzuerhalten, aber klein genug,um nicht unkontrolliert zu explodieren. Die Abschätzung dieser Masse war ent-scheidend für die Frage, ob sich eine Bombe entwickeln ließ. Für Heisenberglag allerdings lediglich der Bau eines »Uranbrenners«, d.h. eines kleinen Re-aktors, im Bereich des Machbaren.

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  • Noch aber hatte man mit zahlreichen ungelösten Problemen zu kämpfen. ImZentrum stand die Frage nach einem wirksamen Bremsstoff (Moderator), einerSubstanz, die hindurchgehende Neutronen verlangsamte, aber nicht absorbierte.Die theoretischen Überlegungen ergaben, dass neben Kohlenstoff (Graphit)schweres Wasser (Deuteriumoxid, D2O) die beste Lösung wäre. Heisenbergentschied sich, für künftige Experimente schweres Wasser zu nutzen. Doch fürdie Produktion dieses Stoffes waren aufwändige Elektrolyseprozesse nötig. Ent-sprechende Anlagen gab es zu Kriegsbeginn in Deutschland nicht. Erst nachder Besetzung Norwegens 1940 und der Anbindung der norwegischen FirmaNorsk Hydro in Rjukan rund 130 Kilometer westlich von Oslo an die I. G. Far -ben industrie AG stand den deutschen Wissenschaftlern schweres Wasser zurVerfügung. Norsk Hydro wurde nämlich verpflichtet, die Schwerwasserpro-duktion zu steigern und ausschließlich das Deutsche Reich zu beliefern.

    Den deutschen Atomwissenschaftlern fehlte es Ende der dreißiger Jahre zu-nächst auch an ausreichenden Uranressourcen, um im großen Stil forschen zukönnen. Das Erzgebirge, die einzige Region, in der es kleinere Uranerzvor-kommen gab, galt geologisch als gut erkundet, darunter die Gegend um Schnee-berg und Johanngeorgenstadt. Der dortige Uranvorrat wurde von den Fachleu-ten aber nur auf wenige Tonnen geschätzt und man rechnete nicht mit großenneuen Funden. Die im Erzgebirge tätige Sachsenerz-Bergwerks AG konzen-trierte sich daher auf die Förderung seltener Metalle, die von der Rüstungs -industrie nachgefragt wurden. Lediglich im schlesischen Schmiedeberg hatteman ab 1936 die Uranerzförderung durch den Aufschluss neuer Gänge steigernkönnen. Nach der Besetzung des Sudetengebietes und der Zerschlagung derRest-Tschechoslowakei waren im Frühjahr 1939 die ältesten europäischenUranerzminen in den Besitz eines deutschen Firmenkonsortiums, mit der Auer -gesellschaft Berlin und der Firma Buchler aus Braunschweig an der Spitze, gekommen. Eine wesentliche Ausweitung erfuhr der Joachimsthaler Bergbaujedoch auch unter der Regie dieses Radiumsyndikats nicht. Das verfügbareMaterial blieb begrenzt.

    Erst im Laufe des Jahres 1940 bahnte sich in Sachen Uranerzressourcen eineLösung an, nachdem die Wehrmacht im Sommer ihren Blitzkrieg im Westengewonnen hatte. In Belgien stieß man auf große Radium- und Uranoxydvor-räte, die bei der Brüsseler Union Minière lagerten. Zwar hatte deren Direktor,Edgar Sengier, bereits im September 1939 die Verschickung der Bestände nachNew York angeordnet, doch bislang war erst ein Teil auf den Weg gebrachtworden. Bereits ab Juni 1940 kauften die Auergesellschaft und die Degussa beider Union Minière Uranverbindungen. Der größte Posten, insgesamt 1244Tonnen, wurde im Mai 1942 von der Rohstoffgesellschaft mbH (Roges), einerdeutschen Kriegshandelsgesellschaft, erworben. Später kaufte die Roges auchin Frankreich Uranerze und erwarb weitere 200 Tonnen Uranverbindungen vonder Union Minière, die bis zum Sommer 1944 im Auftrag der Auergesellschaftdie Reinigung von Uranoxyd übernahm. Mit dem belgischen Uranoxyd stan-den der deutschen Forschung nun die damals weltweit größten Uranoxydvor-

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  • räte zur Verfügung. Das war eine ausreichend große Menge, um eine Atom-bombe herzustellen.5

    Neben der Gewinnung von schwerem Wasser und der Uranerzbeschaffungstellte die Weiterverarbeitung zu Uranoxyd und Uranmetall mit hohem Rein-heitsgrad das nächstgrößte Problem dar. Im Herbst 1939 erteilte das Heeres-waffenamt der Auergesellschaft den Auftrag zur Herstellung von reinem Uran-oxyd. Die Firma baute daraufhin innerhalb weniger Wochen ein Werk inOranienburg, dessen Produktionskapazität bei ca. einer Tonne Uranoxyd jeMonat lag.6 Die Weiterverarbeitung erfolgte ab 1940 in den Uranschmelzanla-gen der Degussa in Frankfurt/M. und ab Ende 1944 in einer zweiten Schmelz-anlage in Berlin-Grünau.7

    Insgesamt verfügte die deutsche Atomforschung damit über eine ausge-sprochen gute Ausgangsposition. Als Nächstes brauchte man jetzt noch Zy -klotrone zur Messung kernphysikalischer Konstanten. Zugang zu solch einemZyklotron erhielten die deutschen Wissenschaftler nach der Besetzung Frank-reichs im Sommer 1940. Im Pariser Institut von Frédéric Joliot-Curie sollte einim Bau befindliches Zyklotron beschlagnahmt und nach Deutschland gebrachtwerden. Doch dazu kam es nicht. Die Anlage blieb in Paris und wurde mit Hilfedeutscher Firmen innerhalb weni ger Monate fertig gestellt. Im wöchentlichenWechsel arbeiteten sodann französische und deutsche Forschungsgruppen amZyklotron.8 Wahrscheinlich wurden dabei auch bautechnische Unterlagen an-gefertigt und dem Heereswaffenamt sowie der Reichspostforschungsanstalt zurVerfügung gestellt.

    Parallel dazu nahm man in Deutschland den Bau von Zyklotronen in Angriff,unter anderem am Siemens-Forschungslabor in Berlin, das von Gustav Hertzgeleitet wurde, an den Instituten von Walther Bothe in Heidelberg und GerhardHoffmann in Leipzig sowie bei der Reichspostforschungsanstalt in Miersdorfbei Zeuthen und Berlin-Lichterfelde. Einer der engagiertesten Fürsprecher warDiebner, während Heisenberg eher bremste. Die Fertigstellung des ersten deut-schen Zyklotrons zog sich dann allerdings noch bis 1943 hin.

    Eine der wichtigsten Forschungsaufgaben war 1940 zunächst die Suche nachden chemischen Elementen 93 und 94, den so genannten Transuranen, heutebekannt unter den Namen Neptunium und Plutonium.9 Diese waren, so die the-oretische Überlegung, leichter zu spalten als Uran 235 und kamen deshalb alspotenzielle Kernsprengstoffe eher infrage. Im Sommer 1940 legte Carl Fried -rich von Weizsäcker das Problem der Transurane dem Heereswaffenamt dar. Inseinem Bericht nannte er zwei wichtige Anwendungsmöglichkeiten der neuenElemente: Reaktoren zur Energiegewinnung und Kernsprengstoffe. Von Weiz-säcker verwies aber einschränkend darauf, dass die Spaltbarkeit der Transuranenoch nicht getestet werden könne. Ein praktischer Versuch sei erst möglich, wennman geringe Mengen in einem Reaktor gewonnen habe.

    Nachdem im Frühjahr 1940 in Hamburg und Berlin erste Modellversuche mitden neu entdeckten Elementen durchgeführt worden waren, sollten diese Ar-beiten bald in Berlin fortgeführt werden. So errichtete man im Sommer des-

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  • selben Jahres unter der Leitung von Werner Heisenberg und Carl Friedrich vonWeizsäcker ein Laborgebäude auf dem Gelände des Instituts für Biologie undVirusforschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Dahlem. Um Neu-gierige fern zu halten, erhielt das Gebäude den Tarnnamen »Virushaus«. Tat-sächlich installierte man dort einen kleinen Versuchsreaktor.

    Nachdem Heisenberg im September 1941 die ersten 150 Liter schweres Was-ser aus Norwegen erhalten hatte, konnte er eine neue Versuchsserie in Angriffnehmen, bei der ihm erstmals eine Steigerung der Neutronenzahl gelang. Dankder grundlegenden Arbeit von Friedrich Houtermans »Zur Frage der Auslösungvon Kern-Kettenreaktionen« wusste Heisenberg inzwischen auch, dass einekonstante Kettenreaktion mit Natururan zur Entstehung des Elements 94 füh-ren musste. Damit schien klar, dass Heisenbergs Uranmaschine in absehbarerZeit funktionieren würde.

    Ende Oktober 1941 kam es zu einem legendenumwobenen Gespräch zwi-schen Heisenberg und dem berühmten dänischen Physiker Niels Bohr in Ko-penhagen. Beide galten als die größten wissenschaftlichen Kapazitäten aufdem Gebiet der theoretischen Physik in ihren Ländern und genossen weltweithohes Ansehen. Heisenberg hatte zuvor an einer Tagung des Deutschen Wis-senschaftlichen Instituts in Kopenhagen teilgenommen. Da Bohr und seineKollegen glaubten, man wolle sie für die deutsche Atomforschung vereinnah-men, blieben sie der Konferenz fern. Anlässlich eines privaten Gesprächs, dasam Rande der Veranstaltung zu Stande kam, deutete Heisenberg gegenüberBohr an, dass eine Atombombe machbar sei. In diesem Zusammenhang dis-kutierten die beiden Physiker die Frage, ob sich Wissenschaftler an der Ent-wicklung von Kernwaffen beteiligen sollten. Die Begegnung endete abrupt undmit einem Zerwürfnis. Bohr war entsetzt und fürchtete, Heisenberg wolle ihnaushorchen und sei gekommen, um ihn zur Kooperation mit deutschen Insti-tuten zu bewegen.

    Nach den Erfolgen der Blitzkriege ließ das Interesse des Heeres an der Atom-forschung nach. Als der Krieg im Herbst 1941 so gut wie gewonnen schien, warder Bedarf an neuen Waffen stark gesunken. Das Heereswaffenamt nutzte Ende1941 die Gelegenheit, um die Verantwortung für das inzwischen ungeliebteAtomprojekt an den Reichsforschungsrat abzugeben. Professor Erich Schu-mann, Leiter der Forschungsabteilung des Heereswaffenamtes, konzentriertesich auf andere waffentechnische Ideen, wie den Bakterien- und Giftgaskrieg,für die er Hitler zu gewinnen suchte. Dem Oberkommando der Wehrmacht wa-ren neuartige Waffen zwar stets willkommen, aber nur, wenn sie sich in abseh-barer Zeit einsetzen ließen.

    Am 26. Februar 1942 veranstaltete der Reichsforschungsrat in Berlin eineTagung zum Stand der deutschen Atomforschung. Die Prominenz aus denSchaltstellen der Rüstungswirtschaft blieb dieser Veranstaltung allerdings fern.Dennoch drang die Kunde von den militärischen Anwendungsmöglichkeitender Kernenergie in die höchsten Kreise des Staates. Reichspropagandaminis-ter Joseph Goebbels notierte am 21. März 1942 in sein Tagebuch: »Die For-

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  • schungen auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung sind so weit gediehen, dassihre Ergebnisse unter Umständen noch für die Führung dieses Krieges in An-spruch genommen werden können. Es ergeben sich hier bei kleinstem Einsatzderart immense Zerstörungswirkungen, dass man mit einigem Grauen demVerlauf des Krieges, wenn er noch länger dauert, und einem späteren Krieg ent-gegenschauen kann.«10

    Rüstungsminister Albert Speer wurde im Frühjahr 1942 von GeneraloberstErich Fromm auf die Arbeiten des Uranvereins hingewiesen. Er wollte Genau-eres wissen und lud am 4. Juni 1942 ins Harnack-Haus in Berlin zu einer Kon-ferenz. Daran nahmen unter anderem der Chef des Heereswaffenamtes, Gene-ral Wilhelm Ritter von Leeb, Generalfeldmarschall Erhard Milch und andereführende Militärs teil. Wieder war es Heisenberg, der das Thema der Uran-bombe anschnitt und andeutete, sie habe eine gewaltige Vernichtungskraft undmüsse nicht größer sein als eine Ananas. Die Offiziere waren von HeisenbergsAusführungen begeistert. Allerdings bremste dieser umgehend die aufkom-mende Euphorie der Militärs und verwies auf den immensen materiellen undfinanziellen Aufwand für den Bau einer Bombe, der, wenn überhaupt, erst in ei-nigen Jahren zu realisieren sei. Speer wollte daraufhin wissen, welche Summedie Wissenschaftler für die Beschleunigung ihres Projektes benötigten. Als vonWeizsäcker dann einen aus Speers Sicht lächerlich kleinen Betrag nannte,schien für ihn und die anwesenden Militärs festzustehen, dass das Projekt nichtmehr kriegsentscheidend sein könne, da sich die Wissenschaftler, so vermuteteSpeer, nur mit Grundlagenforschung beschäftigten.11 Obwohl Speer vom prak-tischen Wert der Uranforschung nicht überzeugt war, unterstützte er die Fort-setzung der Arbeiten. Im Jahr 1943 stellte sein Ministerium 3 Millionen Reichs-mark und 1944 3,6 Millionen Reichsmark zur Verfügung.12

    Adolf Hitler, der eine tiefe Abneigung gegen die »jüdische Physik« hegte undalles, was auch nur entfernt mit Albert Einstein in Verbindung stand, verteufelte,blieb gegenüber dem Atomprojekt zunächst skeptisch. Dabei wusste die Füh-rung des Dritten Reiches offenbar doch mehr über das britisch-amerikanischeAtomprojekt als lange Zeit angenommen. Wie sie mit ihren bruchstückhaf -ten Kenntnissen umging, konnte bislang nicht ausreichend beantwortet wer-den.13

    Die Alliierten erfuhren von dem deutschen Vorhaben durch Agentenberichteund begaben sich in einen dramatischen technologischen Wettlauf mit Nazi-deutschland. Bewusst nahmen sie auch Ziele ins Visier, die mit dem deutschenAtomprogramm im Zusammenhang standen. Angriffe britischer Kommando-trupps und norwegischer Widerstandskämpfer im Februar und amerikanischerBomber im November 1943 führten zur Lahmlegung der Produktion vonschwerem Wasser im Werk der norwegischen Norsk Hydro. Eine Fähre, die dasrestliche schwere Wasser nach Deutschland bringen sollte, wurde im Februar1944 versenkt. Daraufhin wurde die Anlage der Norsk Hydro Mitte desselbenJahres demontiert und nach Deutschland gebracht. Zwischenzeitlich hatte manaber schon in den Werken der I. G. Farbenindustrie in Leuna und Bitterfeld drei

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  • kleine und in der Nähe von Arnstadt eine weitere Schwerwasseranlage instal-liert. Bei der Entwicklung neuer Verfahren zur Herstellung von schwerem Was-ser hatten sich vor allem Paul Harteck und sein Mitarbeiter Hans Suess in Ham-burg sowie Karl-Hermann Geib in Leuna hervorgetan. Wie kaum ein andererverstand es Harteck dabei, allen praktischen Schwierigkeiten zum Trotz neueLösungen zu finden.

    Mitte 1943 organisierte der Direktor der Physikalisch-Technischen Reichs-anstalt, Abraham Esau, eine große kernphysikalische Konferenz in Berlin, aufder 41 Wissenschaftler ihre Forschungsergebnisse vorstellten. Während Hei-senberg nicht auftrat – seine Versuche am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikstagnierten, insofern hätte er nichts Neues berichten können –, gaben DiebnersMitarbeiter Einblicke in ihre Arbeiten in Gottow, die offensichtlich gut voran-kamen. Während Heisenberg noch mit Uranplatten experimentierte, hatte sichDiebner für eine andere Versuchsanordnung entschieden. In einen mit schwe-rem Wasser gefüllten Zylinder hängte er in einer perfekten Gitteranordnung anDrähten befestigte Uranmetallwürfel. Umgeben war das Ganze in den erstenExperimenten von einem Wassermantel, bei späteren Versuchen, die unter demNamen G-III liefen, von einem Kohlenstoffmantel. Trotz der geringen Größeder Gottower Uranmaschine, die ungefähr nur 2 mal 3 Meter maß, ergab dasExperiment eine außerordentlich hohe Neutronenvermehrung.

    Diebner wollte diese Versuche schließlich in größerem Maßstab wiederho-len mit dem Ziel, zu einer sich selbst erhaltenden Kettenreaktion zu kommen.Doch zu Beginn des Jahres 1944 stand nicht genügend Bremssubstanz zur Ver-fügung. Der hartnäckige Diebner wollte diesen Engpass durch ein Tieftempe-raturexperiment unter Verwendung von Uran und einer Kohlenwasserstoffver-bindung (C5H10) als Moderator überbrücken.

    14 Die Idee für diesen – angeblichnicht mehr realisierten – Versuch kam von Harteck.

    Angesichts der verstärkten alliierten Luftangriffe wurden die am Atompro-jekt des Reichsforschungsrats beteiligten Einrichtungen ab Herbst 1943 nachSüddeutschland (Freiburg, Hechingen, Heidelberg) und die Diebner-Gruppenach Thüringen (Stadtilm) verlagert. Für die Wissenschaftler um Heisenbergwar die deutsche Niederlage nun absehbar. Sie konzentrierten sich 1944/45 da-her nur noch auf ein Ziel: die Erzeugung einer Kettenreaktion in einer Uran-maschine. Dafür wurde in einem Felsenkeller in Haigerloch bei Tübingen einletztes Experiment unter Vernachlässigung aller Sicherheitsmaßnahmen ge-startet. Anfang März 1945 stand die von Werner Heisenberg geleitete For-schungsgruppe kurz vor einer sich selbst erhaltenden Kettenreaktion.15

    Rückschauend urteilte Heisenberg über den Stand der Forschung: »Wir sahen eigentlich vom September 1941 eine freie Straße zur Atombombe voruns.«16 Warum diese freie Straße von der Heisenberg-Gruppe dann nicht reso-lut beschritten wurde – um im Bild zu bleiben –, darüber streiten Historiker bisheute. War es so, wie Beteiligte an der Atomforschung später argumentierten,dass sich die Wissenschaftler weigerten, Hitler mit der Bombe zu bewaffnen?Hat Heisenberg das Projekt gar »in einer Abstellkammer« untergebracht und

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  • dann »sterben lassen«, wie der Wissenschaftsjournalist Thomas Powers meint?17

    Oder ist Heisenberg eher an fehlerhaften theoretischen Überlegungen und be-grenzten Ressourcen gescheitert? Er hat jedenfalls nichts unternommen, umdie Arbeiten am Atomprojekt zu forcieren, obwohl er die Militärs mehrfach,wie geschildert, auf die Atombombe aufmerksam machte. Während Diebnerund Harteck auf ein schnelleres Vorgehen drängten, hielt sich Heisenberg eherzurück. Es spricht vieles dafür, dass ihn – im Gegensatz zu Diebner – tatsäch-lich Skrupel plagten und er daher nur einen Reaktor, aber keine Bombe bauenwollte.

    Während bislang Heisenberg, Weizsäcker und Harteck als die zentralen Fi-guren galten, lassen sich inzwischen noch andere Forschungsgruppen nach-weisen.18 Sie kamen möglicherweise weiter als die Genannten und wurden vonder zeitgeschichtlichen Forschung lange Zeit nicht wahrgenommen. Dies wa-ren österreichische Wissenschaftler um Professor Georg Stetter in Wien undInnsbruck, Wissenschaftler der Reichspostforschungsanstalt in Berlin-Lich-terfelde mit Manfred von Ardenne an der Spitze und in Miersdorf bei Zeuthenmit Dr. Georg Otterbein als Leiter sowie ein bisher nur schemenhaft zu ver -ortendes Team der SS. Diese Gruppen kooperierten mit dem Diebner-Team und mehreren großen Industrieunternehmen, darunter Siemens, AEG und IGFarben.

    Die Forschungsanstalt der Deutschen Reichspost hatte neben Routineauf-gaben auch eine Reihe von kriegswichtigen Projekten übernommen, u.a. dieSprachverschlüsselung und die Entwicklung von Radargeräten. Diese Arbei-ten wurden vom Reichspostminister Dr. Wilhelm Ohnesorge, einem frühenWeggefährten Hitlers und Mitglied der NSDAP seit 1920, stark gefördert. Mitder Ausweitung der Rüstungsforschung wollte er sein politisches Gewicht er-höhen. Seine Vision von einer wissenschaftlich-technischen Denkfabrik ver-suchte der Minister in Kleinmachnow bei Berlin zu realisieren.19 Im Dezember1939 hatte ihn der Physiker Manfred von Ardenne auf die »ungeheure Bedeu-tung der Hahnschen und Straßmannschen Entdeckung« aufmerksam gemacht.20

    Aus wissenschaftspolitischer Sicht ein kluger Schachzug. Die Reichspost ver-fügte über einen großen Etat für die Grundlagenforschung und einen sachver-ständigen Minister mit Geltungsdrang. Ohnesorge entschloss sich im Januar1940 zur Förderung des Projektes »für die technische Entwicklung von Ver-fahren und Anlagen auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung«.21 Im Institutvon Ardenne in Berlin-Lichterfelde und in Miersdorf wurden daraufhin eine 1-Millionen-Volt-Anlage zur Herstellung radioaktiver Isotope und ein 60-Ton-nen-Zyklotron gebaut. Ohnesorge wollte »seinem Führer« als Erster die »Uran-bombe« liefern. Mehrfach berichtete er Hitler über die Fortschritte des Atom-projektes. Hitler soll sich jedoch im Juni 1942 eher amüsiert darüber gezeigthaben, dass ausgerechnet sein Postminister an neuen Waffen forschte. DochOhnesorge ließ sich von solchen Reaktionen nicht irritieren.

    Nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Hitler im Juli 1944 verschoben sichdie Kräftekonstellationen im Reich erheblich zugunsten der SS. Der Reichs-

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  • führer SS, Heinrich Himmler, drängte immer stärker darauf, die wichtigstenRüstungs- und Forschungsprojekte seiner Organisation zu unterstellen. In die-sem Zusammenhang erlangte SS-General Dr. Hans Kammler, Leiter der GruppeC des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes der SS und Sonderbeauftrag-ter für Raketen und Düsenjäger, einen enormen Machtzuwachs.22 Über die Er-gebnisse der kernphysikalischen Forschungen unter der Regie der SS gibt eswidersprüchliche Angaben. Hat es Anfang März 1945 in Thüringen gar einenkleinen Atomtest gegeben? Der militärische Nachrichtendienst der Roten Ar-mee ging jedenfalls damals davon aus.

    Abgesehen von offenen Fragen über die Dimension und den Stand der vomHeereswaffenamt, der Reichspost und der SS gelenkten Atomforschung deu-tet einiges darauf hin, dass Himmler und andere hohe SS-Führer diese und an-dere Projekte, unabhängig von ihrem Reifegrad, in den letzten Kriegsmonatenals Faustpfand für geheime Separatverhandlungen mit den Alliierten nutzenwollten.23

    Obwohl die Alliierten mit einer deutschen Atombombe rechneten, begannensie erst spät mit einer systematischen Aufklärung. Ende 1943 rief General Leslie Groves, der militärische Leiter des amerikanischen Atomprojektes,eine Einheit mit dem Tarnnamen »Alsos« (griechischer Name für Grove) insLeben. Als Kommandeur der Einheit wurde Oberstleutnant Boris T. Pash ein-gesetzt. Dieser hatte sich durch seine eigenwilligen Methoden bei der Erkun-dung von angeblichen kommunistischen Aktivitäten einiger Angestellter desLabors von Ernest Lawrence in Berkeley, der bereits Anfang der dreißigerJahre ein Zyklotron betrieb, einen Namen gemacht. Wissenschaftlicher Bera-ter von Pash wurde der niederländische Atomphysiker und Kriminalist SamuelA. Goudsmit.24

    Die wichtigste Aufgabe von Alsos bestand darin, herauszufinden, zu welchenResultaten die deutschen Atomphysiker bei ihren Forschungen gekommen wa-ren. Im Jahr 1944 richtete Pash sein Hauptquartier in London ein und konntesich bald ein Bild von der deutschen Uranversorgung machen. Er erfuhr, dassdie Deutschen 1940 beim Einmarsch in Belgien große Mengen Uranerze vor-gefunden hatten und die Auergesellschaft diese verarbeitete.

    Nach dem überraschend schnellen Vormarsch der alliierten Truppen zog dieAlsos-Mission am 25. August 1944 in Paris ein. Doch der sofort befragte Joliot-Curie wusste weit weniger über die deutsche Uranforschung als erwartet. Eineneue Spur führte schließlich ins elsässische Straßburg. Dort stieß Pash MitteNovember 1944 auf ein deutsches Physiklabor und zahlreiche Unterlagen. Fürihn stand fest: »Es gab keinen Zweifel. Das vorliegende Material bewies ein-deutig, dass die Deutschen eine Atombombe weder hatten, noch in irgendeinerpraktikablen Form konstruieren konnten.«25 Rückblickend erklärte Pash mit ei-nigem Stolz: »Die Bestätigung der Tatsache, dass eine deutsche Atombombekeine unmittelbare Bedrohung darstellte, war vermutlich das bedeutendste ein-zelne Spionageaufklärungsergebnis der Kriegszeit. Diese Information alleinrechtfertigte Alsos.«26

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  • Groves war mit den Ergebnissen der Alsos-Mission allerdings noch nichtzufrieden. Er wollte unbedingt den Verbleib des belgischen Uranerzes geklärtwissen. In der Tat konnte der größte Teil des Erzes in der Nähe von Staßfurt beiMagdeburg ausfindig gemacht werden. Obwohl der Ort zur künftigen sowjeti-schen Besatzungszone gehörte, stieß die Alsos-Einheit Mitte April 1945 dort-hin vor und ließ ca. 1 100 Tonnen Uranverbindungen abtransportieren. In derZwischenzeit ging die Jagd nach den deutschen Atomwissenschaftlern weiter.In Heidelberg, Stadtilm, Hechingen und verschiedenen Orten Bayerns wurdensie schließlich aufgegriffen.

    Noch weitgehend unklar ist, was im April 1945 wirklich in Thüringen ge-schah. Bei ihrem schnellen Vorstoß hatten die amerikanischen Truppen auchdie Kleinstadt Stadtilm eingenommen und dort in einem Schulgebäude Fried -rich Berkei, Stellvertreter von Kurt Diebner, und Dokumente zur Atomfor-schung aufgespürt. Von den umgehend herbeigeeilten Alsos-Mitarbeitern mel-dete Goudsmit, dass jene einen umfangreichen Fund gemacht hätten und erdiesen gerade auswerte. Doch dann geschah etwas Ungewöhnliches. Goudsmiterhielt Order aus Washington, die weitere Analyse der Stadtilmer Dokumenteabzubrechen und alle Unterlagen sofort nach Washington zu schicken. Außer-dem sei das gesamte Material über Reaktorexperimente, Uran und schweresWasser von vornherein als »geheim« zu klassifizieren.27

    Inzwischen verdichten sich die Hinweise, dass dies keine Routineanweisungwar. Wurde noch mehr gefunden, als bis heute bekannt ist? Aufgrund ver-schiedener Indizien haben Historiker starke Zweifel an der bisherigen Dar -stellung der Geschichte der deutschen Atomforschung angemeldet.28 Eine Klärung obliegt der weiteren Forschung.

    Nach Kriegsende wurden zehn prominente deutsche Physiker, darunter Wer-ner Heisenberg und Otto Hahn, für sechs Monate auf einem alten englischenLandsitz in Farm Hall interniert.29 In der Hoffnung, die Wissenschaftler wür-den sich über den Stand der deutschen Atomforschung austauschen, wurdenalle ihre Gespräche vom britischen Geheimdienst abgehört. Die größte Sorgeder Briten war, dass in Deutschland noch nukleares Material lagerte und For-schungsberichte versteckt waren und dass der ein oder andere für die Sowjet-union arbeitete. Viel bekam der britische Geheimdienst jedoch nicht zu hören,vor allem Diebner gab sich auffällig schweigsam. Vielleicht ahnten die deut-schen Physiker, dass sie belauscht wurden.

    Die Nachricht vom Abwurf der ersten amerikanischen Atombombe auf Hi-roshima im August 1945 wollten die internierten Wissenschaftler erst gar nichtglauben. Doch dann erfuhren sie von der riesigen Dimension des amerikanisch-britischen Projektes. Otto Hahn sagte zu Heisenberg: »Wenn die Amerikanereine Uranbombe haben, dann sind sie [gemeint waren Heisenberg und seineMitarbeiter – die Autoren] alle zweitklassig. Armer Heisenberg.«30

    Als Antwort auf den ersten Atombombenabwurf und als Versuch, die Ge-schichte des deutschen Atomprojektes darzustellen, entwarfen die deutschenWissenschaftler eine Presseerklärung. Sie betonten ausdrücklich, dass die deut-

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  • sche Atomforschung nicht die Entwicklung eines Kernsprengstoffs zum Zielgehabt habe. Später entstand daraus die Legende von den anständigen Wissen-schaftlern. Sie hätten ihre Forschungsarbeiten bewusst verzögert, damit Hitlernicht in den Besitz der Atombombe gelangen konnte. Wenn man schon dasWettrennen um die Uranbombe verloren hatte, so wollte man wenigstens aufmoralischem Gebiet der Bessere gewesen sein. Diese Sichtweise fand danndurch das 1956 publizierte Buch »Heller als tausend Sonnen« von RobertJungk weite Verbreitung.

    Japanische Bombenvorhaben

    In den siebziger Jahren berichtete die amerikanische Presse erstmals darüber,dass auch die Japaner während des Zweiten Weltkrieges an Atomprojekten ar-beiteten.31 Der führende Kopf des vom Heer seit Juli 1941, also fünf Monatevor dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, finanzierten Projektes unter demCodenamen Ni war Professor Dr. Yoshio Nishina. Er hatte vor dem Krieg achtJahre in Europa studiert und bei Rutherford in Cambridge sowie Bohr in Ko-penhagen Vorlesungen gehört. Zurück in Japan, erhielt er 1931 ein eigeneskernphysikalisches Labor an der Universität von Tokio.

    In Konkurrenz zum Heer begann die japanische Marine spätestens seit Som-mer 1942 ein eigenständiges Atomprojekt unter dem Codenamen F-Projekt.Wissenschaftlicher Leiter dieses Projekts war Dr. Bunsaku Arakatsu.32 Auch erhatte einige Jahre im Ausland studiert, darunter am berühmten Cavendish Labor bei Ernest Rutherford in Cambridge und 1926 an der Berliner Uni -versität (heute Humboldt-Universität) bei Albert Einstein, in dessen Freundes-kreis er Aufnahme fand. Arakatsu, der an der Universität von Kyoto Physiklehrte, war neben Nishina der führende Experte auf dem Gebiet der Kern -physik in Japan.

    Die Atomprojekte von Heer und Marine hatten vor allem mit materiellenSchwierigkeiten zu kämpfen. Diese wurden noch drückender, als sich die japa-nische Rüstungsindustrie ab 1943 zunehmenden amerikanischen Bombenan-griffen ausgesetzt sah. Das größte Problem war jedoch der Mangel an Uranerz.An alle Kommandeure des Kaiserreichs erging daher Mitte 1943 der Befehl,dieses aufzutreiben.33 Außerdem bemühte sich die japanische Botschaft in Ber-lin um den Ankauf von zwei Tonnen Uranerz aus den Minen von Joachimsthal,freilich ohne den Deutschen den Verwendungszweck mitzuteilen. Nach einigemHin und Her wurde Ende 1943 ein erstes U-Boot mit der wertvollen Ressourcebeladen und vom Flottenstützpunkt Kiel aus nach Japan entsandt. Ob dieserund spätere Transporte ihr Ziel erreichten, ist unklar. Darüber hinaus kaufte dieMarine für die immense Summe von 100 Millionen Yen – das waren 1945 ca.25 Millionen Dollar – Uranoxyd auf dem Schwarzmarkt in Shanghai.

    Auf diese Lieferungen waren die Japaner angewiesen, weil die Uranquellen

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  • in den japanisch besetzten Gebieten in Korea, China und der Inneren Mongo-lei insgesamt nicht sehr ergiebig ausfielen. Die wichtigsten befanden sich aufder koreanischen Halbinsel. Auch deshalb wurde der teilweise unterirdisch angelegte industrielle Komplex für das F-Projekt der Marine, für das rund300 japanische Wissenschaftler gearbeitet haben sollen, nicht auf den japani-schen Inseln, sondern in Hungnam (Konan) im Norden Koreas errichtet. DieRegion um die nordkoreanische Stadt war nach der Besetzung durch japani-sche Truppen ab 1910 industrialisiert worden. Unter anderem standen dort eineder größten Düngemittelfabriken der Welt, leistungsfähige Wasserkraftwerke,Treibstofffabriken und eine Schwerwasseranlage. Möglicherweise installierteman in Hungnam auch ein Zyklotron.

    Wie weit die Japaner mit dem Bau der Atombombe kamen, konnte bislangnicht ermittelt werden. Einziger Anhaltspunkt ist die Aussage eines aus sow -jetischer Gefangenschaft geflüchteten japanischen Atomphysikers gegen überdem amerikanischen Geheimdienst kurz nach Kriegsende. Der Mann war biszuletzt im Forschungszentrum Hungnam tätig gewesen und berichtete, dass ja-panische Wissenschaftler am 12. August 1945, also nur sechs Tage nach derExplosion der amerikanischen Atombombe über Hiroshima, in der Nähe vonHungnam einen Atomversuch durchgeführt hätten. Die im Auftrag der Marineentwickelte Bombe sollte von Kamikazefliegern zur Verteidigung Japans ein-gesetzt werden. Die Mitteilung ließ sich nicht überprüfen, da Hungnam nur we-nige Tage später von sowjetischen Truppen besetzt und die meisten Unterlagenüber das Atomprojekt von japanischen Wissenschaftlern vernichtet wurden.34

    Was auch immer in Hungnam geschehen ist, fest steht, dass das japanischeF-Atomprojekt bis 1945 weiter vorangeschritten war als bisher angenommen.Nach den beiden amerikanischen Atombombenabwürfen über Japan und derbedingungslosen Kapitulation haben die Japaner die Geschichte des eigenenAtomprogramms völlig verdrängt. Das Land sah sich ausschließlich als Opferder Katastrophen von Hiroshima und Nagasaki. Die am eigenen Atompro-gramm beteiligten Wissenschaftler schwiegen oder behaupteten, lediglich ander friedlichen Nutzung der Kernenergie gearbeitet zu haben. Auch in denUSA bestand wenig Interesse daran, Details über die konkurrierenden Atom-projekte an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Kurz nach Kriegsende wur-den die japanischen Zyklotrone von amerikanischen Besatzungstruppen zer-stört und die wenigen noch verfügbaren Dokumente beschlagnahmt.

    Los Alamos – Das amerikanische Nuklearlabor

    Die Tatsache, dass die Entdeckung der Kernspaltung in Deutschland gemachtworden war, bestärkte berühmte Physiker wie Albert Einstein, Leo Szilard undEnrico Fermi – sie alle waren vor den deutschen bzw. italienischen Faschistengeflohen – in der Angst, Hitler könne eines Tages in den Besitz einer »ulti -

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  • mativen Waffe« gelangen. Auf Drängen von Szilard schrieb Einstein am 2. Au-gust 1939 seinen berühmten Brief an den Präsidenten der USA, Franklin D.Roosevelt, und warnte ihn vor dem Zerstörungspotential der Kernspaltung. InReaktion auf Einsteins Brief berief der amerikanische Präsident im Oktober1939 ein Urankomitee ein, das die tatsächlichen Möglichkeiten für den Baueiner Atombombe prüfen sollte. Weitere Anstöße dafür kamen aus Großbritan-nien.

    Der Österreicher Rudolf Peierls und der Deutsche Otto R. Frisch, zwei nachEngland geflüchtete Wissenschaftler, hatten bereits vor dem Krieg Wesentli-ches in der Atomphysik geleistet. Anfang 1940 diskutierten sie darüber, ob sichUran 235 mit schnellen Neutronen spalten ließ. Zu ihrer eigenen Verblüffungergaben ihre theoretischen Berechungen, dass man dafür nicht mehrere Ton-nen Uran 235, sondern nur wenige Kilogramm benötigte. Ihre Erkenntnissefassten sie im April 1940 in einem kurzem Memorandum unter der Überschrift»Über die Konstruktion einer ›Superbombe‹ auf der Basis einer nuklearen Ket-tenreaktion in Uran« zusammen. Sie gingen davon aus, dass ein kleines Stückreinen Urans 235 die für eine Bombe nötige Kettenreaktion auslösen könne.Sie setzten sich auch mit den Schrecken einer solchen Bombe auseinander underläuterten deren strategische und moralische Konsequenzen. »Als Waffe wäreder Superbombe so gut wie nichts entgegenzusetzen. Es gibt kein Material undkein Bauwerk, die der Wucht der Explosion standhalten könnten …« Des Wei-teren schrieben sie: »Geht man davon aus, dass Deutschland diese Waffe be-sitzt oder besitzen wird, dann ist die Einsicht unumgänglich, dass es keineSchutzräume gibt, die effektiven und weiträumigen Schutz garantieren könn-ten. Die wirkungsvollste Antwort auf eine solche Waffe wäre wohl die Dro-hung, mit einer ähnlichen Waffe zurückzuschlagen.«35

    Daraufhin wurde ein kleines Gremium von Physikern zusammengerufen, indem diskutiert werden sollte, ob der Bau einer Atombombe wirklich machbar sei.Ende Juni 1940 gab G. P. Thomson, Physikprofessor am Londoner Imperial Col-lege, dem von ihm geleiteten Komitee den Namen MAUD.36 Nach einjährigerArbeit berichtete das Komitee im Sommer 1941 der britischen Regierung. Dieim Gremium vertretenen Wissenschaftler waren zu der Einschätzung gekommen,dass es durchaus möglich sei, eine Atombombe herzustellen. Unschlüssig warman sich nur in der Frage, ob man ein solches Projekt in Großbritannien, das sichinzwischen im Krieg mit Deutschland befand, realisieren solle.

    Der britische MAUD-Report wurde auch der amerikanischen Regierung inWashington zur Kenntnis gebracht und führte in den USA zu einem gestei -gerten Interesse am Bau einer Atombombe. Dies ging so weit, dass PräsidentRoosevelt die Aufsicht über die weiteren Arbeiten im Herbst desselben Jahresselbst in die Hand nahm. Mit der Koordination beauftragte er Vannevar Bush,der das Mitte 1941 gegründete Amt für wissenschaftliche Forschung und Ent-wicklung und damit alle kriegswichtigen Projekte leitete. Daraufhin wurden dieForschungen zur Kernspaltung an den Universitäten in Columbia, Princeton,Chicago und Berkeley forciert.

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  • Während man sich in Deutschland auf schweres Wasser als Moderator fest-gelegt hatte, favorisierte man in den USA hoch reines Graphit. Im Sommer1941 wurde die erste Versuchsanordnung aus Graphit und Uran an der Colum-bia-Universität in New York errichtet, und Enrico Fermi begann seine Experi-mente in einem Versuchsreaktor, der auf einem Squash-Platz der ChicagoerUniversität stand.

    Am 6. November 1941 wurde im Ausschuss der National Academy ein Me-morandum über den Stand der Kernenergieforschung diskutiert. Man kam zudem Schluss, dass unter Aufbietung aller Kräfte im Laufe der kommenden dreibis vier Jahre eine Atombombe entwickelt werden könnte.37 Einen weiterenSchub erfuhr das amerikanische Vorhaben nach dem japanischen Angriff aufPearl Harbor am 7. Dezember 1941 und der Kriegserklärung durch Deutschlandvier Tage später. Nach diesen beiden Ereignissen war Präsident Roosevelt festentschlossen, gemeinsam mit den Briten die Atomforschung auf Hochtourenvoranzutreiben. Ende 1941 wandte er sich daher an Premier Churchill, um ihnfür eine amerikanisch-britische Zusammenarbeit zu gewinnen. Noch konnteman sich dazu in Großbritannien allerdings nicht entschließen. Immerhin ver-einbarte man einen intensiveren Austausch über die jeweiligen Forschungser-gebnisse.

    Ein halbes Jahr später, im August 1942, gingen die USA zur großtechnischenUmsetzung ihrer bisher im Labormaßstab durchgeführten Forschungen über.Jetzt wurde auch die Armee in das Atomprojekt, das man nach dem New Yor-ker Stadtteil Manhattan benannte, einbezogen. Zum militärischen Chef stiegGeneral Leslie R. Groves, Absolvent der Eliteakademie Westpoint und Leiteraller Bauvorhaben der Armee, auf. Er hatte sich als energisch zupackenderPragmatiker bewährt.

    Die wissenschaftliche Leitung des Manhattan-Projektes sollte Robert Op-penheimer übernehmen. Obwohl 1942 erst 38 Jahre alt, genoss Oppenheimer,der an der Universität in Berkeley theoretische Physik lehrte, weltweit Aner-kennung. Er zeichnete sich durch ein phänomenales Gedächtnis aus und waran höchst unterschiedlichen wissenschaftlichen Problemen interessiert. Den-noch war es nicht nahe liegend, gerade ihm die Projektleitung zu übertragen.Er hatte bisher auf theoretischem Gebiet gearbeitet und sollte sich nun anwen-dungsorientierten Fragen widmen. Zudem galt er als Sicherheitsrisiko, weil erzeitweise in linksgerichteten Kreisen verkehrte und seine Frau Mitglied derKommunistischen Partei war. Es gab Stimmen, die Oppenheimer vom Atom-bombenprojekt am liebsten fern gehalten hätten.38 Doch General Groves konntesich schließlich mit seinem Vorschlag durchsetzen. Umgehend begann Op-penheimer, aus dem ganzen Land die besten Physiker zusammenzuholen. An-fangs rechnete er damit, dass er die vor ihm liegenden Arbeiten mit 150 Wis-senschaftlern bewältigen könne. Bis Mitte 1945 wuchs jedoch allein sein Staban wissenschaftlichen Mitarbeitern auf 2 500 an.39

    Als die wichtigsten Personalfragen geklärt waren, musste eine Entscheidungüber den Standort für das zentrale Atomlaboratorium getroffen werden, in dem

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  • die Bombe entwickelt, konstruiert und schließlich gebaut werden sollte. Op-penheimer plädierte für ein Gelände in New Mexico, etwa 60 Kilometer vonSanta Fe entfernt. Einem in der Nähe gelegenen Canyon verdankte das Gebietseinen Namen – Los Alamos, während des Zweiten Weltkriegs das am bestengesicherte und überwachte Objekt in den USA. Selbst der amerikanische Vize-präsident, Harry S. Truman, wusste vom Manhattan-Projekt bis zum Tod vonPräsident Roosevelt nichts.

    Das Labor in Los Alamos lag auf einem Hochplateau, gesichert durch hoheZäune, elektronische Alarmmelder und Wachposten. Der Zugang war nur mitSonderausweisen möglich. Die wichtigsten Mitarbeiter, die nach strengstenKriterien ausgewählt worden waren, wohnten auf dem Gelände und unterlageneiner Vielzahl von Restriktionen. Ihre Post wurde zensiert, die Telefone abge-hört. Zahlreiche Wörter, darunter »Uran« und »Kernspaltung«, durften nichtverwandt werden. Selbst in ihren Führerscheinen war kein Name eingetragen.Die Bodyguards, die die Wissenschaftler bewachten, wenn sie sich einmalaußerhalb von Los Alamos bewegten, hatten zugleich die Aufgabe, sie zu über-wachen.

    Obwohl sich das FBI und General Groves die größte Mühe gaben, Los Ala-mos abzuschirmen, blieb das Sicherheitssystem lückenhaft. Da man unter ho-hem Zeitdruck stand, war eine gründliche Sicherheitsüberprüfung des Perso-nals gar nicht möglich. Zudem hing der Fortschritt des Projekts vom schnellenInformationsfluss in der wissenschaftlichen Gemeinschaft ab. Dies wiederumwar nur durch einen relativ einfachen Zugang zu den neuesten Informationenzu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund wurden schon bald die Reisebe-stimmungen für die Mitarbeiter gelockert. Ein erstaunlicher Umstand, wennman bedenkt, dass der amerikanische Geheimdienst plante, den führenden Kopfder deutschen Atomforschung, Werner Heisenberg, auf einer Reise in die neu-trale Schweiz umbringen zu lassen.40 Den Umkehrfall zog man anscheinendnicht in Betracht.

    Nachdem die Weichen für das Projekt gestellt waren, erreichte es in kürzes-ter Zeit eine gigantische Dimension, vergleichbar nur mit der amerikanischenAutoindustrie. Insgesamt gehörten zum Manhattan-Projekt 37 Werke und For-schungseinrichtungen in 19 Bundesstaaten der USA.41 Zu den wichtigsten An-lagen zählten neben der in Los Alamos die in Oak Ridge, wo Uran 235 vonUran 239 separiert wurde, und die in Hanford, wo das größte Plutoniumwerkentstand. Die Kosten wurden auf ca. 2 Milliarden Dollar veranschlagt.42

    Das alles entscheidende Experiment startete Enrico Fermi in seinem Chica-goer Experimentalreaktor am 2. Dezember 1942. Der Meiler funktionierte undverdoppelte alle zwei Minuten seine Neutronenintensität. Erstmals konnteAtomenergie kontrolliert freigesetzt werden. Während sich alle anderen an die-sem Versuch teilnehmenden Wissenschaftler freuten, war Leo Szilard bedrückt.Sein Traum von der friedlichen Nutzung der Kernenergie würde nicht in Er-füllung gehen. Fermi gegenüber sprach er von einem schwarzen Tag in der Ge-schichte der Menschheit.43

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  • Mit Fermis »Erfolg« war das amerikanische Projekt dem britischen deutlichvoraus. Jetzt waren es die Briten, die versuchten, am Atombombenprojekt derUSA teilzunehmen. Den Amerikanern widerstrebte es jedoch, auf dieses An-sinnen einzugehen. Nunmehr wollten sie sich nicht weiter in die Kartenschauen lassen. Der bislang intensive Austausch von Informationen wurdekurzerhand gestoppt. Am 27. Februar 1943 telegrafierte Churchill an Roose-velt: »Nach meinem Verständnis sollte alles auf der Basis der vollen Teilungder Ergebnisse und einer gleichberechtigten Partnerschaft beruhen. Ich habekeine Aufzeichnungen [über unsere einstige Abmachung], aber ich wäre sehrüberrascht, wenn die Sammlung des Präsidenten nichts darüber enthielte.«44

    Während des so genannten Trident-Treffens 1943 in Washington, an dem dieOberkommandierenden beider Länder teilnahmen und die weitere Kriegsstra-tegie auf der Tagungsordnung stand, griffen Churchill und Roosevelt ihre frü-here mündliche Absprache wieder auf. Dennoch ging das Tauziehen um denInformationsaustausch weiter. Briten und Amerikaner wurden schließlich durchdie Furcht vor einem schnelleren Vorankommen der Deutschen beim Bau derAtombombe zur Fortsetzung gemeinsamer Anstrengungen gezwungen. Soschrieben die am Manhattan-Projekt maßgeblich beteiligten Physiker Hans Be-the und Edward Teller am 21. August 1943 an Robert Oppenheimer: »Es istmöglich, dass die Deutschen bis Ende des Jahres genug Material angesammelthaben werden, um eine große Zahl von Bomben herzustellen, die sie gleich-zeitig auf England, Russland und unser Land hier abwerfen werden. In diesemFall gäbe es nur wenig Hoffnung auf irgendeine Gegenmaßnahme.«45

    Nach Churchills Überzeugung war die gemeinsame Entwicklung der Atom-bombe auch der Schlüssel für die nationale Stärke nach Ende des Krieges. Erdrängte daher Roosevelt im August 1943 mit großer Hartnäckigkeit zur Unter-zeichung des Vertrages von Quebec. Dieser sollte die engen militärischen, wirt-schaftlichen und politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern auch überdie Kriegszeit hinaus festschreiben. Außerdem eröffnete er den Briten die ak-tive Teilnahme am Manhattan-Projekt. Die Vertragspartner verpflichteten sichauch, die Bombe niemals ohne wechselseitige Zustimmung gegen Dritte ein-zusetzen und ohne gegenseitiges Einvernehmen keine Informationen an Dritteweiterzugeben.

    Der Vertrag von Quebec begründete das amerikanisch-britische Atombom-benprojekt. Alle britischen Wissenschaftler, die sich mit der Atomforschungbeschäftigten, traten dem amerikanischen Projekt bei und verlegten ihrenWohnsitz in die USA. Die meisten von ihnen arbeiteten in den Laboratorien vonLos Alamos. Der Zugang zu den Plutoniumfabriken blieb ihnen allerdings ver-sperrt. Sie wurden der Juniorpartner.

    Durch das nunmehr gebündelte Know-how machte das Manhattan-Projektrasante Fortschritte. Im November 1944 wurde das erste angereicherte Roh-metall aus dem Produktionsreaktor in Hanford gewonnen. Neben dem von derFirma Du Pont gebauten Produktionsreaktor gab es noch sechs weitere Expe-rimentalreaktoren, die Kernsprengstoffe produzierten. Die alles entscheidende

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  • Frage war die nach der so genannten kritischen Masse, die nur durch weitereExperimente geklärt werden konnte. Diese Arbeiten unter Leitung von Otto R.Frisch gehörten zu den gefahrvollsten in Los Alamos.

    Frisch und sein Team hantierten in einem eigens eingerichteten Versuchs -labor, in dem sie eine unterkritische Menge spaltbaren Materials aufstapelten.Das Experiment bestand nun darin, diesem Stapel das fehlende »letzte« Uran-stück, dessen Größe unbekannt war, für einen Moment hinzuzufügen. Dazulies man das Uranstück wie bei einem Fallbeil blitzschnell durch ein ausge-spartes Loch in der subkritischen Anordnung sausen. Wenn es das Zentrumpassierte, setzte die Kettenreaktion für Sekundenbruchteile ein – der Drachenwurde am Schwanz gekitzelt, so witzelte Oppenheimer über das lebensgefähr-liche Experiment. Zwei Physiker bezahlten diese Versuche jedoch mit ihremLeben. Sie waren einer zu hohen Strahlendosis ausgesetzt. Am 12. April 1945gelang es Frisch schließlich, die Versuchsreihe erfolgreich abzuschließen. DasManhattan-Projekt konnte in seine letzte Phase gehen. Seit Anfang Mai wurdein der Wüste von New Mexico der Trinity-Test, wie der bevorstehende Atom-test genannt wurde, vorbereitet.

    Auch nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands wurden die Arbeiten intensiv fortgesetzt. Oppenheimer spornte sein Team zu erhöhten Anstrengungen an. Der Trinity-Test sollte unbedingt noch vor Beginn der Pots-damer Konferenz erfolgen. Tatsächlich wurde »Fat Man«, die erste Pluto -niumbombe, am 16. Juli 1945 um 5.30 Uhr morgens (Ortszeit) getestet. DieSprengkraft schätzte man auf ca. 20 000 Tonnen des herkömmlichen TNT-Sprengstoffs. Nur einen Tag später begannen in Potsdam die Verhandlungender Siegermächte.

    Intern hatten die amerikanischen Militärs bereits eine Vorentscheidung zumEinsatz der Atombombe gegen Japan gefällt. Sie wollten zum einen die eige-nen Verluste minimieren, zum anderen die Wirksamkeit der Bombe demons -trieren. Trotzdem sollte ein wissenschaftlicher Beirat, dem Oppenheimer,Fermi und Lawrence sowie zahlreiche Militärs und Politiker angehörten, Stra-tegien für den Atombombeneinsatz ausarbeiten. Die entscheidende Sitzung desGremiums fand am 31. Mai und 1. Juni 1945 in Washington statt. Die Beirats-mitglieder gaben dem Präsidenten eine verhängnisvolle Empfehlung: DieAtombombe sollte ohne Vorwarnung gegen zwei japanische Städte eingesetztwerden. Darüber hinaus riet man dem Präsidenten, in den Potsdamer Verhand-lungen Stalin über den geplanten Einsatz zu unterrichten.

    Am Morgen des 6. August 1945 warf der Bomber »Enola Gay«, kurz nach8.15 Uhr Ortszeit, eine Plutoniumbombe über Hiroshima ab. Mehr als 150 000Menschen fanden den Tod.

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  • Stalins Atomprojekt

    Die Entdeckung der Kernspaltung durch Hahn und Straßmann Ende 1938 ver-anlasste auch sowjetische Wissenschaftler, über die militärische Nutzung derKernforschung nachzudenken. Einer der angesehensten Physiker, Juli B. Cha-riton, zog bereits im Sommer 1939 den Bau einer Atombombe in Erwägung.46

    Die der Atomforschung gegenüber bislang skeptische Akademie der Wis-senschaften entschloss sich jedoch erst im Frühjahr 1940, Nikolai Bulganin,den Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates und Verantwortlichen fürChemie und Metallurgie, auf die Möglichkeiten der Kernspaltung hinzu weisen.Offenbar war Bulganin von den neuen Aussichten angetan, denn am 30. Juli1940 wurde beim Präsidium der Akademie der Wissenschaften eine Uran-kommission unter der Leitung von Witali G. Chlopin gebildet. Das war sogarder Nachrichtenagentur TASS eine Meldung wert.47 Aufgabe der Kommissionwar es, die Erforschung des Urans und seiner Eigenschaften zu beschleunigensowie die entsprechenden Arbeiten zu koordinieren. Oberste Priorität hattendie Entwicklung von Verfahren zur Trennung von Uranisotopen, der Bau einesleistungsfähigen Zyklotrons und die Einrichtung eines staatlichen Uranfonds.48

    Die weitere Entwicklung der sowjetischen Atomforschung wurde entschei-dend durch Spionageberichte über das britische bzw. britisch-amerikanischeAtomprojekt vorangetrieben. Die ersten Nachrichten über die britischen Plänezum Bau einer Atombombe lagen Stalin bereits im Herbst 1941 vor. Sie wur-den von Pawel M. Fitin, einem erst 31-jährigen leitenden Mitarbeiter der sow -jetischen Auslandsaufklärung, übermittelt. Dieser hatte einen Bericht von Ana-toli V. Gorski erhalten, der als Agent des NKWD in London lebte. Gorskiwiederum stützte sich auf Informationen von John Cairncross, dem Privatse-kretär von Lord Hankey, der für die Überwachung des Geheimdienstes verant-wortlich zeichnete.49 Ein halbes Jahr später, im März 1942, erhielt der sowje-tische Staatschef einen zweiten Bericht, in dem Gorski weitere Einzelheitenüber das britische Atomprojekt mitteilte.50 Ein dritter Bericht aus London be-fasste sich mit der Atomforschung von Otto Hahn und Werner Heisenberg inDeutschland. Er enthielt auch Hinweise auf die Anlagen der Norsk Hydro inNorwegen zur Herstellung von schwerem Wasser.

    Doch Stalin wollte all diesen Informationen keinen rechten Glauben schen-ken. Auch die konservative Mehrheit der Akademie-Mitglieder zeigte sich eherzurückhaltend. Sie glaubten, die Schwierigkeiten bei der Nutzung der Kern-energie seien auf unabsehbare Zeit schier unüberwindlich. Etwas optimisti-scher beurteilten Igor Kurtschatow und Juli B. Chariton die Möglichkeit einerKettenreaktion. Sie konnten sich bei der Regierung zunächst jedoch kein Ge-hör verschaffen. Selbst Abram Joffe, Nestor der sowjetischen Atomforschungund Förderer Kurtschatows, hielt sich mit Empfehlungen zurück.

    Erst ein vom jungen Physiker Georgi N. Flerow, Schüler von Kurtschatow,im April 1942 an Stalin gerichteter Brief belebte die Diskussion. Flerow hattezuvor mehrfach vergeblich an die Akademie der Wissenschaften appelliert,

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  • sich der Atomforschung mit ganzer Kraft zuzuwenden. Geradezu tollkühnhatte er gefordert, »unverzüglich mit der Herstellung der Uranbombe zu begin-nen«.51 Der Brief an Stalin enthielt auch eine harsche Kritik an den Physikern,die die Nutzung der Atomenergie für militärische Zwecke ausschlossen.

    Vor diesem Hintergrund sah sich die sowjetische Führung zum Handeln ver -an lasst. Im August 1942 lud das Staatliche Verteidigungskomitee die bestensow jetischen Physiker nach Moskau ein, um die Perspektiven eines Uranpro-jekts zu beraten. Stalin war empört, dass ein junger Laborant, der besagte Fle-row, und nicht die Mitglieder der Akademie die Gefahr erkannt hatte, die vonden ausländischen Nuklearforschungen ausging.

    Welches Atomprojekt die sowjetische Führung mehr beunruhigte, das deut-sche oder das britisch-amerikanische, ist noch immer nicht ganz klar. Feststeht, dass sich der sowjetische Geheimdienst frühzeitig darauf konzentrierte,in das Manhattan-Projekt einzudringen, hatte man doch handfeste Informatio-nen darüber, dass Briten und Amerikaner künftig enger kooperieren wolltenund der Hauptteil der Arbeiten in die USA verlegt werden sollte.

    Nun ging man auch daran, ein eigenes Atomprojekt aufzuziehen, das aufStalins Weisung direkt dem Politbüro unterstellt wurde. Zum organisatorischenVerantwortlichen ernannte Stalin im September 1942 Außenminister Molotow.Die wissenschaftliche Leitung übernahm schließlich der 39-jährige Igor W.Kurtschatow, der über herausragende wissenschaftsorganisatorische Fähigkeitenverfügte. Die Ernennung dieses jungen Professors, der auf dem Gebiet der the-oretischen Physik noch keine besonderen Leistungen aufzuweisen hatte, zumProjektleiter stieß bei der Akademie auf wenig Gegenliebe. Vor allem Chlopin,Leiter der Urankommission, war alles andere als begeistert. Doch auf den per-sönlichen Wunsch Stalins wurde Kurtschatow im Februar 1943 in sein neuesAmt eingesetzt.52 Im selben Monat, am 11. Februar 1943, also nach der kriegs-entscheidenden Schlacht um Stalingrad, verabschiedete das Staatliche Komi-tee für Verteidigung ein Forschungsprogramm zur Nutzung der Atomenergie.In einem Laboratorium der Akademie der Wissenschaften in Moskau, späterbekannt geworden unter dem Namen Laboratorium Nr. 2, wurde die Atom-wissenschaft konzentriert. Kurtschatow scharte eine kleine Gruppe überwie-gend junger Wissenschaftler um sich und begann mit der Ausarbeitung einesForschungsplans, der in seinen wesentlichen Punkten durch die Spionage -erkenntnisse angeregt worden war.

    Diese studierte er ab März 1943 in einem eigens im Kreml eingerichtetenArbeitszimmer. Er war der einzige Wissenschaftler, der in diese MaterialienEinblick nehmen konnte. Gegenüber seinen Kollegen durfte er die Herkunftseines exklusiven Wissens allerdings nicht offen legen.53

    In zwei am 7. und 22. März 1943 an Perwuchin, Volkskommissar für che-mische Industrie und Verantwortlicher für die Uranbeschaffung, gerichtetenSchreiben verglich Kurtschatow die Forschungsarbeiten der sowjetischen Phy-siker mit den aus dem Westen stammenden Informationen. Bei der Bewertungder Spionageberichte war er auffallend zurückhaltend. Offensichtlich zweifelte

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  • er daran, dass sie wirklich den im Westen erreichten Forschungsstand reflek-tierten.

    Trotz aller Bedenken war Kurtschatow auch künftig auf die Spionagebe-richte angewiesen, wollte er den Briten und Amerikanern in Sachen Atomfor-schung auf den Fersen bleiben. Über den Stand der britisch-amerikanischenAtomkooperation berichtete aus Washington Donald MacLean, ein vielver-sprechender junger Diplomat an der britischen Botschaft.54 Für die Gewinnungvon wissenschaftlichen und technischen Informationen erwies sich KlausFuchs von größtem Wert.55 Geboren und aufgewachsen in Deutschland, tratFuchs als Student in Kiel der KPD bei und flüchtete 1933 nach England. Wieeinige andere Emigranten auch, fand er 1940 in einer englischen Atomfor-schungseinrichtung Anstellung. Seit er sich Ende 1941 in den Dienst der GRU,der Nachrichtendienstlichen Hauptverwaltung des Generalstabs der sowjeti-schen Streitkräfte, gestellt hatte, lieferte er wertvolle Informationen, die an densowjetischen Geheimdienst durchgereicht wurden. Im August 1944 wurde ermit 22 anderen britischen Wissenschaftlern nach Los Alamos gesandt und un-ter anderem mit der Herausgabe der 25-bändigen geheimen »Los Alamos En-zyklopädie« beauftragt, in der alle Forschungsergebnisse zusammengefasstwerden sollten. Fuchs nutzte die inzwischen gelockerten Reisebestimmungenfür die Los-Alamos-Mitarbeiter und traf sich mehrfach mit dem NKWD-Mit-arbeiter Harry Gold in Cambridge und Santa Fe.

    Ende 1945 kehrte Fuchs nach Großbritannien zurück und arbeitete in Har-well. Sein neuer Verbindungsoffizier, Alexander S. Feklisow (Fomin), betontespäter einmal ausdrücklich die einmalige Bedeutung von Fuchs für das sowje-tische Atomprogramm. »Das Material von Fuchs war von außergewöhnlichemWert für unsere Wissenschaftler.«56 Die Dokumente hätten dazu beigetragen,200 bis 250 Millionen Rubel einzusparen. Die von Fuchs übergebenen Infor-mationen beschleunigten das sowjetische Atomprogramm nach unterschied-lichen Schätzungen mindestens um ein bis zwei Jahre.

    Doch die Quelle Fuchs versiegte bald. Der Topspion wurde verhaftet undwegen Weitergabe von Atomgeheimnissen an die Sowjets am 3. März 1950 zu14 Jahren Gefängnis verurteilt. (Er verbrachte siebeneinhalb Jahre in britischerHaft und ging nach seiner Entlassung in die DDR, wo er als StellvertretenderDirektor des Zentralinstituts für Kernforschung in Rossendorf arbeitete. Er starbim Januar 1988.)

    Churchill reagierte im Unterhaus auf die Verurteilung von Fuchs mit folgen-der Mitteilung: »Unsere gesamte Position in der atomaren Sphäre hat sich seitdem Krieg durch den Umstand verschlechtert, das die Russen … das Geheim-nis der Atombombe gelüftet und mit ihrer Produktion begonnen haben.«57

    Neben Fuchs verfügte der sowjetische Geheimdienst noch über eine weitereaußerordentlich ergiebige Quelle, wie aus einem Bericht vom 28. Februar 1945hervorgeht. Dieser enthielt nämlich auch Details über die Konstruktion derBombe. Er stammte von dem hervorragenden 19-jährigen Harvard-PhysikerTheodore A. Hall, von seinen Freunden nur Ted genannt und vom sowjetischen

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  • Geheimdienst als »der Junge« (Mlad) geführt. Hall, der sich schon als Studentfür den Marxismus begeistert hatte, war zutiefst über das sich abzeichnendeamerikanische Atombombenmonopol beunruhigt und sah darin eine neue Be-drohung für die Welt. Nach seiner Anstellung in Los Alamos erhielt er Zugangzu allen Bereichen des Labors und durfte auch an den wöchentlichen Kollo-quien, auf denen über den Stand des Projekts berichtet wurde, teilnehmen.Über die Konstruktion der Plutoniumbombe »Fat Man« wusste er praktisch ge-nauso viel wie Robert Oppenheimer.58

    Bereits im Frühjahr 1943 schrieb Kurtschatow an Berija: »Nach Sichtungdes [Nachrichtendienst-]Materials bin ich zu dem Schluss gekommen, dass esfür unseren Staat und unsere Wissenschaft von unschätzbarem Wert ist.«59 Diesowjetischen Wissenschaftler selbst haben dies bestätigt. Der AtomphysikerAbram Joffe schrieb: »Die Informationen, die wir erhielten, waren immer prä-zise und meistens vollständig … Sie haben unsere Arbeiten um viele Monateverkürzt.«60

    Aufgrund ihrer Erkenntnisse rechnete die sowjetische AuslandsspionageEnde Februar 1945 damit, dass die Amerikaner bis zum ersten experimentel-len Atomtest nur noch zwei bis drei Monate benötigen würden. Doch Stalinließ sich wieder nicht aus der Ruhe bringen. Er misstraute seinen Wissenschaft-lern und schloss die Möglichkeit einer alliierten Desinformation nicht aus.61

    Erst nach dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki imAugust 1945 wurde sich der sowjetische Diktator vollends der verändertengeopolitischen Lage bewusst. Er fürchtete, dass die Amerikaner von den Jal-taer Absprachen über die Aufteilung Deutschlands zurücktreten könnten undsah sich um die Früchte des schwer erkämpften Sieges gebracht. Um die neuegeopolitische Lage zu erörtern, lud Stalin Munitionsminister Wannikow undProfessor Kurtschatow in den Kreml ein und erklärte ihnen: »Hiroshima hat dieWelt verändert. Das Gleichgewicht ist gestört. Baut die Bombe – dies wird einegroße Gefahr von uns abwenden.«62 Das atomare Wettrüsten ging damit in eineneue Runde, die Atmosphäre zwischen den Alliierten wurde immer frostiger.

    Igor Golowin, einer der führenden sowjetischen Atomphysiker, erinnerte sich:»Nach den Atombombenabwürfen vom 6. und 9. August auf Hiroshima und Na-gasaki endete unsere ruhige Arbeit. Die Regierung und die Generalität waren vonPanik ergriffen. Kurtschatow, Chariton, Kikoin und andere wurden täglich zu Sit-zungen in den Kreml oder vom Geheimdienst in die Lubjanka beordert. Die Be-sprechungen dauerten stundenlang bis zur völligen Erschöpfung der Teilnehmer.Die Wissenschaftler mussten erklären, was die Bombe eigentlich ist und wie siegemacht worden sein konnte. In den Zeitungen wurden Massen von Artikeln ge-schrieben und viele Reden waren im Rundfunk zu hören. Sie hatten immer denTenor: ›Das Vernichten der japanischen Städte ist gegen uns gerichtet.‹ DiesePropaganda wirkte auf uns und überzeugte uns davon, dass wir uns beeilen mus-sten. Ein paar Tage später war die Panik überwunden und Stalin und Berija zeig-ten ihr organisatorisches Talent. Stalin ließ den Generalstab zu diesem Projektnicht zu und übergab Berija alle Machtbefugnisse.«63

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  • Nachdem Stalin den Bau der Atombombe befohlen hatte, ordnete er am20. August 1945 die Bildung eines Sonderstabes beim Staatlichen Verteidi-gungskomitee an.64 Zum Leiter des Gremiums wurde Berija ernannt. Alleindas NKDW war in der Lage, die Priorität der Ressourcenbeschaffung für dasBombenprojekt auf allen Ebenen durchzusetzen.

    Der Angriff auf Oranienburg und die Zonenteilung 1945

    Bis zum Frühjahr 1945 hatten sich die Alliierten immer wieder zusammenge-rauft, geeint durch das gemeinsame Ziel, den Zweiten Weltkrieg so rasch wiemöglich zu beenden. Über die Strategie, um das zu erreichen, verhandelten sieseit 1941. In diesem Zusammenhang war die Sicherung der jeweiligen Ein-flusszonen in Europa eine Kernfrage. Eine Schlüsselrolle dabei spielte die inLondon ansässige European Advisory Commission (EAC), die 1943 auf An-regung des britischen Außenministers Eden ins Leben gerufen worden war.

    Die Kommission nahm ihre Arbeit auf, als die Alliierten über die Eröffnungeiner zweiten Front in Europa verhandelten. Man ging davon aus, dass dieAmerikaner, deren Basen sich im Westen Großbritanniens befanden, durchFrankreich und Belgien nach Süddeutschland, einschließlich Bayern, vorsto-ßen. Die Briten wollten Holland befreien und über die Ruhr nach Nordwest-deutschland marschieren. Die Sowjets sollten die östlichen Territorien beset-zen. Die deutsche Hauptstadt Berlin würde unter die gemeinsame Kontrolle derAlliierten gestellt werden. Eine von Clement Attlee geleitete Kommission desbritischen Kabinetts bestätigte im Spätsommer 1943 diese Pläne und erarbei-tete einen Vorschlag zur Festlegung der Westgrenze der sowjetischen Besat-zungszone.65

    Auf dem ersten offiziellen Treffen der EAC am 15. Januar 1944 legte derBrite Sir William Strang den Vertretern der USA und der Sowjetunion einenVorschlag zur Zonenteilung vor, der auf dem britischen Plan beruhte. Die Re-aktionen darauf fielen in Washington und Moskau höchst unterschiedlich aus.Roosevelt lehnte die britische Offerte zunächst ab, da er fürchtete, dass dieUSA durch ihre Präsenz im Südwesten in lokale Konflikte auf dem Balkan ver-wickelt werden könnten. Auf die Moskauer Instanzen wirkte der britische Planhingegen elektrisierend.

    Bereits seit dem Herbst 1943 befasste sich eine hochrangige Kommissionunter Leitung von Kliment Woroschilow, einem engen Vertrauten Stalins, mitden Bedingungen für die deutsche Kapitulation. Am 12. Januar 1944, also nur drei Tage bevor die Briten in der EAC ihren Vorschlag einreichten, legte dieWoroschilow-Kommission erstmals in einem Dokument die Idee der Ein-flusssphären dar. Es ging dabei noch nicht um die Abgrenzung der drei Besat-zungszonen, sondern um die Demarkationslinie bei Kriegsende. Dafür wurdenzwei Varianten formuliert.66 Die erste zielte auf die Sicherung eines Nordsee-

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