KAS Auslandsinformationen 02/2011

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2|11 AUSLANDSINFORMATIONEN SAARC – 25 Jahre regionale Integration in Südasien Tomislav Delinić ASEAN und G-20 – Indonesiens außenpolitische Perspektiven Winfried Weck Einwanderungsland Norwe- gen – Demografische Trends und politische Konzepte Norbert Beckmann-Dierkes / Johann C. Fuhrmann Nach den Präsidentschafts- wahlen in der Côte d’Ivoire – Kann die politische Krise noch mit diplomatischen Mitteln gelöst werden? Klaus D. Loetzer / Anja Casper Wer nichts erwartet, ist mit wenig zufrieden – Klimagipfel in Cancún scheitert nicht, aber reicht der Erfolg? Frank Priess Die Republik Moldau am vermeintlichen Ende eines Wahlmarathons Holger Dix

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In KAS Auslandsinformationen werden internationale Fragen, Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbei t erörtert. Die monatlich erscheinende Publikation hat das Ziel, einen Teil der im Zusammenhang mit der Auslandsarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung gesammelten Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Buch erscheint auf deutsch und englisch.KAS Auslandsinformationen 02/2011SAARC – 25 Jahre regionale Integration in SüdasienASEAN und G-20 – Indonesiens außenpolitische PerspektivenEinwanderungsland Norwegen – Demografische Trends und politische KonzepteNach den Präsidentschaftswahlen in der Côte d’Ivoire – Kann die politische Krise noch mit diplomatischen Mitteln gelöst werden?Wer nichts erwartet, ist mit wenig zufrieden – Klimagipfel in Cancún scheitert nicht, aber reicht der Erfolg?Die Republik Moldau am vermeintlichen Ende eines Wahlmarathons

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SAARC – 25 Jahre regionaleIntegration in SüdasienTomislav Delinić

ASEAN und G-20 –Indonesiens außenpolitische PerspektivenWinfried Weck

Einwanderungsland Norwe-gen – Demografische Trends und politische KonzepteNorbert Beckmann-Dierkes / Johann C. Fuhrmann

Nach den Präsidentschafts-wahlen in der Côte d’Ivoire –Kann die politische Krise nochmit diplomatischen Mittelngelöst werden?Klaus D. Loetzer / Anja Casper

Wer nichts erwartet, ist mitwenig zufrieden – Klimagipfel in Cancún scheitert nicht, aber reicht der Erfolg?Frank Priess

Die Republik Moldau am vermeintlichen Ende eines WahlmarathonsHolger Dix

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ISSN 0177-7521Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.27. Jahrgang

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Herausgeber:Dr. Gerhard Wahlers

Redaktion:Frank SpenglerHans-Hartwig BlomeierDr. Stefan FriedrichDr. Hardy OstryJens PaulusDr. Helmut Reifeld

Verantwortlicher Redakteur:Stefan Burgdörfer

Gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingtdie Meinung der Redaktion wieder.

Bezugsbedingungen:Die KAS-Auslandsinformationen erscheinenzwölfmal im Jahr. Der Bezugspreis für zwölfHefte beträgt 50,– € zzgl. Porto. Einzelheft5,– €. Schüler und Studenten erhalten einenSonderrabatt.

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EDITORIAL

SAARC – 25 JAHRE REGIONALE INTEGRATION IN SÜDASIENTomislav Delinić

ASEAN UND G-20 – INDONESIENS AUSSENPOLITISCHE PERSPEKTIVENWinfried Weck

EINWANDERUNGSLAND NORWEGEN – DEMOGRAFISCHE TRENDS UND POLITISCHE KONZEPTENorbert Beckmann-Dierkes / Johann C. Fuhrmann

NACH DEN PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN IN DER CÔTE D’IVOIRE – KANN DIE POLITISCHE KRISE NOCH MIT DIPLOMATISCHEN MITTELN GELÖST WERDEN?Klaus D. Loetzer / Anja Casper

WER NICHTS ERWARTET, IST MIT WENIG ZUFRIEDEN – KLIMAGIPFEL IN CANCÚN SCHEITERT NICHT, ABER REICHT DER ERFOLG?Frank Priess

DIE REPUBLIK MOLDAU AM VERMEINTLICHEN ENDE EINES WAHLMARATHONSHolger Dix

Inhalt

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EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser,

„Das Paradies brennt!‟, so lautete eine der zahlreichen, sicherlich nicht immer treffenden Überschriften von Beiträgen, die man im Zusammenhang mit der Jasmin-Revolution in Tunesien lesen konnte. Dass das Land nicht das Paradies war, wussten viele. Gleichwohl konnte Tune-sien über Jahre, auch Dank seiner nach Europa ausgerich-teten, moderierenden Politik, einige Entwicklungserfolge erzielen. Das Land galt als fester Anker im Maghreb, dem auch die bürgerkriegsartigen Ereignisse im größeren Nachbarland Algerien zu Anfang der neunziger Jahre nichts anhaben konnten. Es wies über Jahre ein gutes Wirt-schaftswachstum auf, die Analphabetenrate ist eine der niedrigsten auf dem ganzen Kontinent, die Gleichstellung von Mann und Frau wurde weiter betrieben und gesetz-lich sichergestellt. Eine im regionalen Vergleich sehr breite Mittelschicht trug diese Entwicklungen.

Doch am Ende war es nicht das allein, was zählte. Die am häufigsten gefallenen Begriffe während der Demons-trationen in Tunesien waren „Würde‟ und „Freiheit‟. Die Lehren, die es aus den Ereignissen in Tunesien – wie ähnlichen in der gesamten Region – zu ziehen gilt, sind offensichtlich: Wirtschaftliche Entwicklung und Wachstum lassen sich auf Dauer nicht trennen von der Sicherstellung und Gewährung von Menschenrechten, insbesondere poli-tischer Rechte.

Wegen fortgesetzter Schikanen der Ordnungskräfte, die er als Einschränkung seiner persönlichen Freiheit empfunden haben muss, setzte sich in Tunesien der Gemüsehändler Mohammed Bouaziz selbst in Brand. Seine Verzweiflungstat stand am Beginn der Aufstände, die sich inzwischen auf weite Teile Nordafrikas und des Nahen Ostens ausgeweitet haben. Immer mehr wirtschaftlich und sozial Unzufriedene schlossen sich nach dem Tod Bouaziz’ einer Bewegung an, die erst allmählich auch eine politische wurde. Bald

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erreichte sie die Hauptstadt Tunis, getragen insbesondere von jungen, akademisch gebildeten Tunesiern. Zur Verbrei-tung ihrer zunächst, und zum Teil bis heute, sehr hetero-genen Ziele, aber auch zur Organisation der Protestkund-gebungen nutzten sie das Internet – Facebook, Twitter und Youtube. Der Druck wurde so groß, dass sich Machthaber Zine el Abidine Ben Ali zum Rückzug gezwungen sah.

Kaum jemand hätte Wochen zuvor geahnt, dass das mit Blick auf seine wirtschaftliche und soziale Struktur weit entwickelte und stabile Tunesien eine solche Revolution erleben würde. Die Ereignisse widerlegten die Über-zeugung, der nicht nur viele Autokraten in der Region anhingen, sondern auch politische Vertreter des Westens: Erst komme wirtschaftliche und soziale Entwicklung, dann persönliche und politische Rechte. Ein Trugschluss, viel-mehr bedingen sich wirtschaftliche und politische Freiheit. Gerade die im Internet vernetzte tunesische Jugend hat gezeigt, dass sie nicht bereit war, die Repressionen des Staates, ausgeführt durch Polizei und Sicherheitsapparate, länger zu akzeptieren, ganz unabhängig von ihrer wirt-schaftlichen Situation.

Was in Tunesien begann, hat inzwischen Auswirkungen auf die gesamte Region. Die Demonstranten in Algerien und Ägypten, in Jordanien und im Jemen möchten sich mit der Ankündigung politischer Reformen nicht mehr zufrieden geben. Bei aller Unterschiedlichkeit der Länder und ihrer Machtstrukturen protestieren die Menschen zunächst und vor allem gegen das herrschende Establishment. „Go away‟ steht auf den Schildern, gleich gegen welchen auto-kratischen Herrscher sie gerichtet sind.

Dieselben Schilder wurden auch in Ägypten hochgehalten, wo der 82-jährige Hosni Mubarak seit drei Jahrzehnten das Land regiert hat und zuletzt an der dynastischen Übernahme

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der Herrschaft durch seinen Sohn Gamal arbeitete. Auch hier zeigte sich, dass wirtschaftlicher Fortschritt keine Demokratiefortschritte ersetzen kann. Trotz ansehnlicher Wachstumszahlen der letzten Jahre ging die soziale Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Auch hier wollte die im Internet vernetzte, im Leben perspektiv-lose Jugend nicht länger auf angekündigte Veränderungen oder politische Placebos warten.

Die Botschaft der Menschen auf den Straßen von Maghreb und Maschrek lautet: Wir wollen in Würde leben. Dazu gehört sicherlich ein gewisses Maß an Wohlstand und sozi-aler Sicherheit, dazu gehören aber eben genauso persön-liche Freiheit und politische Mitbestimmung. Darauf haben die Menschen in der Region lange gewartet. Gewiss ist auch: Es wird ein beschwerlicher Weg. Teilweise erleben Länder durch den Wegfall staats- und gesellschaftsstra-gender Parteien den völligen Umbau, sie müssen sich neu organisieren. Neben den aufzubauenden rechtsstaatlichen Institutionen müssen die ersten demokratischen Gehver-suche unternommen werden, auch der Umgang mit den islamistischen Gruppen muss bedacht werden. Bei aller Euphorie müssen wir uns der Fragilität stellen, die derar-tige Umbruchsituationen mit sich bringt: Die Gefahr des Abgleitens in Chaos und Anarchie besteht nach wie vor.

Die Herausforderungen, die vor den Ländern der Region liegen, sind immens. Gerade die Politischen Stiftungen sind nun aufgerufen, die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche in der Region zu begleiten. Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist sich dieser Aufgabe bewusst und sieht darin eine ihrer Schwerpunktaufgaben der kommenden Jahre.

Dr. Gerhard WahlersStellvertretender Generalsekretär

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Tomislav Delinić

Selbst gut informierte politische Beobachter werden zugeben, dass bei einer Diskussion über Formen regionaler Integration – seien sie politischer oder wirtschaftlicher Natur – kaum jemand SAARC, die Südasiatische Assozia- tion für regionale Kooperation, als Erfolgsmodell regio-naler Zusammenarbeit aufzählen würde. In einem solchen Gespräch fiele der Blick zunächst auf die Europäische Union, in Südostasien auf ASEAN und auf dem amerika-nischen Kontinent auf Mercosur oder auf NAFTA. SAARC dagegen steht im Schatten der genannten Organisationen, könnte den Diskutanten gar unbekannt sein. Dabei ist der Regionalverbund eigentlich altgedient, zumindest älter als Mercosur und NAFTA – aber ist er auch genauso erfolgreich? Den 25 Jahren seit der Gründung im Jahre 1985 stehen in den Augen der Weltöffentlichkeit vergleichsweise wenige faktische Erfolge gegenüber. Dabei liest sich die damals von den SAARC-Gründerstaaten Bangladesch, Bhutan, Indien, Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka unter-zeichnete Charta vielversprechend und in vielerlei Hinsicht nicht anders als die Gründungsdokumente der genannten Regionalbündnisse. Doch selbst regionale Beobachter kritisieren SAARC als zwar begrüßenswert in der Absicht, aber zumeist wirkungslos in der Praxis. Seit der Gründung folgten etliche Treffen – im Unterschied zu anderen Regi-onalbündnissen meist ausschließlich auf höchster Regie-rungsebene – und etliche Abkommen. Doch tatsächliche Erfolge für eine vertieftere Kooperation der Mitgliedsländer blieben aus Sicht der Analysten Mangelware.

Seit 2007 ist Afghanistan, eines der regionalen Sorgen-kinder Südasiens, Teil des SAARC-Verbundes. Die anderen Mitgliedsländer wollen auch am Beispiel der Afghanistan-Frage zeigen, dass die Region Südasien Verantwortung für

SAARC – 25 JAHRE REGIONALE INTEGRATION IN SüDASIEN

Tomislav Delinić ist Leiter des Regional-projekts SAARC der Konrad-Adenauer-Stiftung in Neu-Delhi.

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Die Bewertung von SAARC sollte unter Beachtung der schwierigen Ausgangs-lage, der regionalen Umstände und des komplizierten Entstehungshintergrunds der Organisation erfolgen.

sich selbst übernehmen kann. Die zuletzt abgehaltenen Gipfeltreffen der SAARC-Regierungschefs waren entspre-chend gespickt mit Aufbruchsparolen und Absichtserklä-rungen, die zeigen sollten, dass SAARC sich selbst nicht aufgegeben hat.1 „Den Worten müssen Taten folgen‟, kommentieren Medien die Situation kritisch. Sie sehen die beiden großen Akteure der Region, Indien und Pakistan, in der Pflicht. Denn nicht zuletzt der schwelende Konflikt der beiden südasiatischen Atommächte hängt wie ein Damokles-Schwert über den Bemühungen Südasiens, in der Region Stabilität zu fördern und die einzelnen Akteure näher zueinander zu bringen. Es bedarf verstärkter Koope-ration und Abstimmung, sollen ähnliche Erfolge erzielt werden, wie es andere Regionalverbände weltweit vorge-macht haben.

Es ist allerdings nicht sachgerecht, die Ent- wicklung von SAARC ausschließlich anhand der üblichen Kriterien zu messen. Die Bewer-tung sollte unter Beachtung der schwierigen Ausgangslage, der regionalen Umstände und

des komplizierten Entstehungshintergrunds der Organi-sation erfolgen – dann sind die erzielten Vereinbarungen nicht nur ein symbolisch äußerst wichtiger Erfolg für eine krisengeschüttelte Region, sondern auch ein guter Grund-stein für die kommenden Herausforderungen. Wie also funktioniert SAARC, welche Schwierigkeiten stellten und stellen sich den Mitgliedsländern, hat SAARC eine Zukunft und welche Potentiale bietet eine weitere regionale Inte-gration?

EIN VERBUND DER GEGENSäTzE UND GEMEINSAMKEITEN

Es ist keine einfache Konstellation, die sich dem Betrachter in Südasien offenbart: In Fragen der Bevölkerungszahl, der Wirtschaftskraft, der territorialen Größe, der militärischen Stärke, der technologischen Entwicklung, der Infrastruktur und letztlich der politischen Einflussmöglichkeiten liegen Welten zwischen Indien einerseits, Pakistan andererseits und den weiteren SAARC-Mitgliedstaaten Afghanistan,

1 | Vgl. Dipu Moni, „Saarc now deliberates more on action‟, The Daily Star, 27.05.2010, in: http://thedailystar.net/newDesign/ news-details.php?nid=140263 [14.12.2010].

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Die SAARC-Länder stellen mit fast 1,5 Milliarden Einwohnern einen bemer-kenswerten Teil der Weltbevölkerung und liegen im Mittelpunkt einer pulsie-renden Weltregion.

Bangladesch, Bhutan, Nepal, den Malediven und Sri Lanka. Diese sind teils tatsächliche Kleinstaaten oder von der Welt-öffentlichkeit als solche fehlinterpretiert – so ist Bangladesch mit einer Bevölkerungszahl von 160 Millionen weltweit einer der größten Staaten, und auch Nepals Bevölkerung übertrumpft mit knapp 29 Millionen Einwohnern die meisten Mitglieds-staaten der EU.2 Die SAARC-Länder stellen mit fast 1,5 Milliarden Einwohnern einen bemerkenswerten Teil der Weltbevölkerung und liegen angesichts der direkten Nachbarschaft zu China im Mittel-punkt einer pulsierenden Weltregion.3

Indien ist dabei der dominante Akteur: Die territoriale Größe, die Bevölkerungszahl, die derzeit rasante Wirt-schaftsentwicklung, die Rolle als Atommacht und die kürzlich erreichte Position als nicht-ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sind dafür Belege. Die bemerkenswerte Entwicklung des Landes könnte somit als Anker für die gesamte Region dienen und zu deren Entwicklung positiv beitragen. Und das wäre allemal nötig, denn trotz der beeindruckenden Erfolge Indiens ist Südasien und auch Indien selbst geplagt von Massen-armut, Mega-Urbanisierung, teils extremen Arm-Reich-Disparitäten und tief greifenden Problemen in den Berei-chen Infrastruktur, Energieversorgung und Umwelt. Dazu kommen noch zahlreiche innerstaatliche Konflikte sowie politische Instabilitäten in der Region.

Gemeinsamkeiten zwischen den SAARC-Mitgliedsländern finden sich aber auch abseits dieser Probleme. So hat Südasien eine weit zurückreichende, gemeinsame und eng verflochtene Geschichte. In kultureller, ethnischer und religiöser Sicht stehen sich die Einzelstaaten durchaus näher als es die politischen Entwicklungen in den vergan-genen Jahrzehnten erahnen lassen. Auch zum britischen Kolonialreich gehörte die Region nahezu geschlossen. In Traditionen, Sprachen und Gepflogenheiten finden sich

2 | Vgl. Fischer-Weltalmanach, „Nepal‟, http://www.weltalmanach. de/staat/staat_detail.php?staat=nepal und vgl. Fischer-Welt- almanach, „Bangladesch‟, http://www.weltalmanach.de/ staat/staat_detail.php?fwa_id=banglade [beide 13.12.2010].3 | Vgl. Ebd., „SAARC: 14. Gipfeltreffen in Neu-Delhi‟, http://www.weltalmanach.de/suche/suche.php?search=saarc [13.12.2010].

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Indien befürchtet ein Bündnis der Nachbarn gegen die eigenen Interes-sen, nicht zuletzt mit Blick auf die Rolle Pakistans und das Engagement Chinas in der Region.

oftmals grenzübergreifende Parallelen. Könnte das eine Basis für eine gemeinsame südasiatische Identität sein? Darüber hinaus vereint die Staaten der Region eine weitere Tatsache: Nach vielen Wirren, internen Konflikten, kriege-rischen Auseinandersetzungen und politischen Umbrüchen berufen sich alle SAARC-Staaten heute auf demokratische Grundprinzipien – möglicherweise eine wichtige Etappe auf dem Weg zu mehr Miteinander in der Region.4

INDIEN ALS REGIONALES SCHWERGEWICHT

Die herausragende Position Indiens erweist sich bei genauerer Betrachtung als eine der vielen Hürden in der Frage der Integration Südasiens: Indien gilt aus Sicht der Nachbarn oftmals zugleich als Heilsbringer als auch Teil des Problems, gar in Ansätzen als Bedrohung. Mit Blick auf die geografischen Ausmaße, das demographische und

wirtschaftliche Potential sowie das politische Gewicht überragt das Land die restlichen Akteure der Region bei Weitem. Andere Regi-onalverbände kennen so ein Phänomen nicht oder nur begrenzt. Selbst die herausgeho-

bene Stellung Indonesiens im ASEAN-Verbund vermittelt nur ansatzweise ein ähnliches Gefühl. Indien wiederum befürchtet ein Bündnis der Nachbarn gegen die eigenen Interessen, nicht zuletzt mit Blick auf die Rolle Pakistans und das Engagement Chinas in der Region.

Hinzu kommt ein weiterer Faktor, der Indien umso mehr in den Fokus rückt: Indien hat mit allen SAARC-Staaten eine gemeinsame Grenze. Alle anderen Mitgliedsländer aber grenzen an keinen anderen SAARC-Staat außer an Indien. Die Ausnahmen hierbei sind Afghanistan und Paki-stan, wobei auch diese beiden Staaten entweder an Indien grenzen oder nur über Indien geografischen Zugang zu den anderen SAARC-Mitgliedern erhalten.

Es führt also selbst geografisch kaum ein Weg an Indien vorbei. Das spürten lange Zeit gerade die kleineren Mitgliedsländer wie Nepal, Bhutan und Bangladesch, deren Grenzen nur wenige Kilometer durch einen indischen

4 | In ihren Eröffnungsreden für den 16. SAARC-Gipfel in Thimphu/ Bhutan betonten die Staatschefs der Mitgliedstaaten den demokratischen Wandel in der Region, vgl. http://saarc- sec. org/Sixteenth-SAARC-Summit/75 [17.12.2010].

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Trotz der vielen Hindernisse, trotz starker nationaler Kräfte, die sich aus-drücklich gegen mehr Kooperation auf überstaatlicher Ebene wenden, wurde SAARC ins Leben gerufen.

Korridor voneinander getrennt sind. Ohne Abstimmung der beteiligten Seiten, insbesondere ohne Zustimmung Indiens, war kein Handel, kein Grenzverkehr, keine Energie-Zusam-menarbeit oder sonstige Initiative möglich. Solche Kompli-kationen bedeuteten in der Praxis oftmals den faktischen Stillstand des Austausches innerhalb SAARCs.

Die von allen Akteuren eingebrachte politische Zurückhal-tung gegenüber den Nachbarn ist eine logische Folge dieser Konstellation, aber auch der Jahrhunderte langen Wirren in Südasien, nicht zuletzt der vielen Konflikte seit der 1947 erfolgten Teilung des Subkontinents. Die Nachwirkungen dreier Kriege zwischen Indien und Pakistan, dazu eine Viel-zahl regionaler und innerstaatlicher Konflikte, Bürgerkriege und politischer Wirren in den Einzelstaaten sind nach wie vor spürbar.

In dieser Hinsicht führt die relative Bewertung der Kooperationsbemühungen Südasiens zu einem erfreulicheren Ergebnis als die Aufzäh-lung faktischer Integrationsschritte. Trotz der vielen Hindernisse, trotz starker nationaler Kräfte, die sich ausdrücklich gegen mehr Kooperation auf überstaatlicher Ebene wenden, wurde SAARC ins Leben gerufen, und das Mitte der achtziger Jahre in einer Zeit, die von den Gegensätzen und Antipathien der SAARC-Einzel-staaten geprägt war: Die sowjetische Invasion in Afgha-nistan, das seit dem Freundschaftsabkommen besondere Verhältnis Indiens mit der Sowjetunion und das parallel sich entwickelnde „spezielle‟ Verhältnis zwischen Pakistan und den USA sind nur einige Beispiele für die schwierigen Umstände einer regionalen Annäherung Südasiens kurz vor der Gründung von SAARC.

DIE INSTITUTIONALISIERUNG VON SAARC

Auf Initiative Bangladeschs kam es nach einer Vielzahl vorheriger Koordinationstreffen am 8. Dezember 1985 in Dhaka zur Unterzeichnung der vierseitigen SAARC-Charta. Die angespannte Lage in der Region zeichnete sich deut-lich im verabschiedeten Dokument ab: Bilateral strittige Fragen sind kategorisch aus dem Kompetenzbereich von SAARC ausgeklammert. Auch müssen alle Entscheidungen einstimmig erzielt werden. Beides ist ein klarer Fingerzeig

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Während sich bei anderen Integrati-onsmodellen zumeist die Arbeitsebe-nen konsultieren, versammelt SAARC in meist regelmäßigem Abstand alle Oberhäupter der Mitgliedsländer.

auf die Absicht Indiens und Pakistans, die beiderseits vorhandenen Unstimmigkeiten nicht auf eine supranatio-nale Ebene zu heben. Bis heute sehen Kommentatoren diese Passagen als einen Grund an, warum SAARC in der Praxis oftmals starr und handlungsunfähig den Streitig-keiten zwischen den beiden großen Akteuren der Region gegenüberstand. Die kleineren SAARC-Staaten hätten eine Einbeziehung bilateraler Fragen möglicherweise nutzen können, um als Einheit und Vermittler gegenüber Indien und Pakistan aufzutreten.5 Die Struktur des Regionalver-bundes verhinderte das. Dafür wurde die südasiatische Gemeinschaft zunächst u.a. in den Bereichen Landwirt-schaft, Gesundheit, Armutsbekämpfung und Nahrungs-mittelsicherheit aktiv, und das teils durchaus erfolgreich. Eine Vielzahl von Gremien wurde geschaffen, um die gemeinsam identifizierten Probleme anzugehen.

Die mit der SAARC-Charta geschaffene Struktur stellte den Verbund auf eine zunächst solide und fest instituti-onalisierte Basis. Es wurden vier Ebenen beschlossen, auf denen in Zukunft Entscheidungen getroffen und dann auf den unteren Ebenen umgesetzt werden sollten. Die Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter und Regierungschefs bildeten dabei das wichtigste Organ. Jährlich oder öfter, so besagt es die SAARC-Charta, sollen die obersten Vertreter der Mitgliedsländer über die anstehenden Themen beraten und beschließen. Diese jeweils wechselnd in einem der SAARC-Staaten, zuletzt 2010 in Bhutan, stattfindenden Gipfel werden einerseits von Kommentatoren als großes Schaulaufen mit PR-Effekt kritisiert – und in der Tat hielt

sich die Anzahl der effektiv umgesetzten Maßnahmen der Gipfel bisher in Grenzen. Andererseits stellen gerade diese Treffen aber auch den größten Erfolg von SAARC dar: Während sich bei anderen Integrations-modellen der Welt zumeist die Arbeitsebenen

konsultieren, versammelt SAARC in meist regelmäßigem Abstand alle Oberhäupter der Mitgliedsländer – darunter vor allem auch Indien und Pakistan. Recherchiert man in deutschen und internationalen Medien nach dem Schlag-wort „SAARC‟, tauchen Meldungen nahezu ausschließlich im Zusammenhang mit hochrangigen Treffen der beiden

5 | Vgl. Partha S. Ghosh, SAARC: Institutionalization and Regional Political Processes (Neu-Delhi, 2009), 4 f.

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Nachbarländer auf. So trafen hohe Vertreter Indiens und Pakistans nach den Anschlägen in Mumbai 2008 zum ersten Mal wieder auf einem SAARC-Kongress zusammen: 2009 in Colombo. Es war oftmals im Rahmen der SAARC-Gipfel-treffen, dass sich beide Seiten auf gemeinsame Gespräche zur Klärung umstrittener Fragen verständigten – für den Verbund und die Region ein wichtiger Faktor.

Auch in der weiter zurückliegenden Vergangenheit erwiesen sich die SAARC-Gipfel als Plattform für die Diskussion bila-teraler Probleme – zwar ausschließlich hinter verschlos-senen Türen und unter vier Augen, aber immerhin: Treffen fanden statt. Damit ist ironischerweise gerade die in der Charta so klar ausgegrenzte Diskussion bilateraler Streitig-keiten einer der größten Erfolge von SAARC – zwar wurden die Fragen nicht von SAARC diskutiert, aber die institutio-nalisierten Treffen der politischen Spitzen der Mitglieds-länder innerhalb des Verbundes brachten diesen wichtigen Nebeneffekt mit sich.6

SAARC ALS PLATTFORM FüR DIE WEITER- ENTWICKLUNG SüDASIENS

Diese Stärke zieht sich durch die weiteren Ebenen: Auch wenn Kritiker immer wieder anführen, dass zu wenige greifbare Ergebnisse herauskommen, kann nicht geleugnet werden, dass die enge Verflechtung der Mitgliedsländer in unzähligen Gremien, Ausschüssen und Organen eine der großen Stärken des Regionalverbundes ist. Gerade vor dem geschilderten Hintergrund der so schwierigen Ausgangslage ist es ein wichtiger Schritt, dass alle Akteure der Region an einem Tisch sitzen und Themen diskutieren. Der Ministerrat ist neben den Gipfeln eine weitere Ebene, die politisch agiert. Mehrfach im Jahr treffen sich Minister verschiedener Ressorts, um politische Planungen zu entwerfen, die Wirkung der bisher erfolgten Schritte zu bewerten, neue Bereiche der Kooperation zu identifizieren und gegebenenfalls neue Methoden und Mechanismen zu diskutieren.7 Standen hier zunächst nur die Außenminister der jeweiligen Länder im Gespräch, weiteten sich die Treffen

6 | Es sollte allerdings nicht verschwiegen werden, dass einige SAARC-Gipfel gerade aus dem Grund ausfielen, weil die jeweiligen Akteure eben nicht aufeinander treffen wollten.7 | Vgl. Charter of the South Asian Association for Regional Cooperation (Dhaka, 1985), Article IV, 2.

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zunehmend auf andere Ressorts aus. So diskutierten die SAARC-Innenminister bei einer Sitzung im Sommer 2010 über die Errichtung einer an Interpol orientierten Poli-zeistruktur, die im Hinblick auf terroristische Netzwerke, Menschen- und Drogenhandel sowie Schmuggel in der Region länderübergreifend aktiv werden könnte.8

Die Beschlüsse der Gipfel und der Ministerratstreffen werden von „Ständigen Ausschüssen‟ (zusammenge-setzt aus hohen Vertretern der jeweiligen Ressorts), dem „SAARC-Sekretariat‟, „Technischen Komitees‟ und durch von diesen eingesetzte „Aktionskomitees‟ verwaltet und umgesetzt. Die Treffen finden in regelmäßigen, an der Notwendigkeit der Sache orientierten Abständen statt. Auch innerhalb dieser Gremien gilt als eine der Stärken von SAARC, dass Entscheidungsträger und technische Sachverständige der Einzelstaaten regelmäßig zusammen-kommen und ihre Probleme, Ansichten und Lösungsan-sätze gemeinsam diskutieren können – soweit die Theorie.

Einen Hauptkritikpunkt an SAARC gilt es dabei nicht außer Acht zu lassen: Im Rahmen der beschriebenen Organisationsstruktur ent- wickelten sich innerhalb kürzester Zeit eine

Unmenge an Institutionen, Initiativen, Ausschüssen, Gre- mien – alle überaus aktiv in den unterschiedlichsten Themenbereichen, von Biotechnologie, Forstwirtschaft über Küstenverwaltung bis hin zu meteorologischer Zusammenarbeit. Zwar ist unbestritten, dass eine enge Konsultation der Partnerländer eigentlich nicht schaden kann. Hier wäre aber durchaus auch das Motto „weniger ist mehr‟ anwendbar: Nicht nur für den externen Betrachter, etwa den südasiatischen Bürger, der sich mit SAARC zu identifizieren versucht, sondern auch für den thematisch eigentlich informierten Politiker der Region scheint die Fülle der Aktivitäten des Verbundes kaum mehr erfassbar zu sein.9 Dass dabei jedes Gastland eines SAARC-Gipfels die Themenagenda zu gestalten hat, führt umso mehr zu einer schieren Explosion der aufgegriffenen und größtenteils institutionalisierten Maßnahmen des Regionalverbundes.

8 | Diplomatic Correspondent, „SAARC police proposed‟, The Daily Star, June 27, 2010, in: http://www.thedailystar.net/ newDesign/news-details.php?nid=144341 [15.12.2010]. 9 | Vgl. Nischal Pandey, Regional Cooperation in South Asia: A Nepalese Perspective (Kathmandu, 2005), 4.

Selbst für thematisch eigentlich infor-mierte Politiker der Region scheint die Fülle der Aktivitäten des Verbundes kaum mehr erfassbar zu sein.

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Die Unterstützung der am wenigsten entwickelten Mitgliedsländer wurde als eines der wichtigsten ziele von SAPTA festgelegt.

Dabei wäre eine Konzentration auf die wirtschaftliche Inte-gration der Region ein Feld, das allein schon eine hohe Konzentration der Ressourcen und Kräfte der Akteure erfordert. Diese interne wirtschaftliche Öffnung aber scheuten die SAARC-Staaten lange, während andere regionale Integrationsmodelle sich gerade diesen Bereich auf die Fahnen schrieben und auch innerhalb kürzester Zeit beachtliche Erfolge erzielten.10 Doch die politischen Rahmenbedingungen in der Region ließen ein solches Aufeinanderzugehen vorerst nicht zu.

üBER SAPTA zU SAFTA – AUF DEM WEG zU EINER FREIHANDELSzONE?

Mit dem langsamen Abtasten der Akteure kam auch die Frage des wirtschaftlichen Aufeinanderzugehens auf die Tagesordnung der Gespräche im SAARC-Verbund. Das Südasiatische Präferenzhandelsabkommen (SAPTA) sollte nach der Unterzeichnung 1993 und dem Inkrafttreten 1995 den Weg zu mehr wirtschaftlicher Integration in der Region bahnen, denn der Handel zwischen den Part-nerländern war nach wie vor mit einem nur geringen Anteil am Außenhandel quasi nicht existent. Neben der anvisierten Absprache zu mehr Kooperation im Bereich der Zölle und Abgaben wurde die Unterstützung der am wenigsten entwi-ckelten Mitgliedsländer der südasiatischen Assoziation als eines der wichtigsten Ziele von SAPTA festgelegt.11 Zwar wurden unter SAPTA vier Verhandlungsrunden zu mehr Liberalisierung des Handels abgehalten, eine tatsächliche, faktische Wirkung auf ein höheres Aufkommen des SAARC-internen Handels hatte das Abkommen aber kaum. In einer Hinsicht war SAPTA dennoch erfolgreich: Der Vertrag ebnete den Weg für mehr. SAPTA sorgte für die Einsicht der Verantwortlichen, dass eine verbindlichere Form der Zusammenarbeit in Wirtschaftsfragen gefunden werden musste, um eine tatsächliche ökonomische Integration zu erreichen.

10 | Vgl. Muchkund Dubey, „Looking Ahead‟, in: Dipankar Banerjee und N. Manoharan (Hrsg.), SAARC Towards Greater Connecti- vity (Neu-Delhi: Anshah, 2008), 242.11 | Vgl. Agreement on SAARC Preferential Trading Agreement (SAPTA), (Dhaka, 1993), 5.

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Der Warenaustausch zwischen den meisten SAARC-Mitgliedern liegt im Rahmen vernachlässigbarer zahlen. Nicht-tarifliche Barrieren, Transport-probleme und Visa-Komplikationen bestimmen den Alltag.

Als Folge wurde SAFTA, das Südasiatische Freihandelsab-kommen, beim Treffen der Außenminister 2004 in Isla-mabad unterzeichnet und zum 1. Januar 2006 ins Leben gerufen. Darin verpflichteten sich die Regierungen der Einzelstaaten u.a. zu einem konkreten Fahrplan in Rich-tung Zollerleichterungen (bis 2015 gar Abschaffung der Zölle), zu einer Harmonisierung von Produkttestverfahren (bis heute eine der größten Hürden im Handel zwischen den SAARC-Staaten) und zu einer verstärkten Zusam-menarbeit in Fragen der zwischenstaatlichen Transportin-frastruktur. Die Stützung der am wenigsten entwickelten Mitgliedsländer, die bereits im Rahmen von SAPTA institu-tionalisiert wurde, wurde auch im SAFTA-Abkommen fort-geführt: Bangladesch, Bhutan, die Malediven und Nepal erhielten Sonderkonditionen und Konzessionen bei den zeitlichen Fristen der Umsetzung der Bestimmungen von SAFTA.

Was aber bleibt nach nun bereits vier Jahren des Frei-handelsabkommens? Laut Kritikern ist es zu wenig. Ein strafferer Zeitplan, ein Entwicklungsfond für die weniger entwickelten Mitglieder, ein konkreter Plan für die Abschaf-fung der für den Handel hochproblematischen nicht tariflichen Handelsbarrieren sowie eine klar definierte Kooperation im Bereich des Infrastrukturausbaus hätten

dem Abkommen zu mehr Erfolg verhelfen können.12 So aber halten sich die de facto für den SAARC-internen Handel wirksamen Resultate in Grenzen. Nach wie vor liegt der Warenaustausch zwischen den meisten SAARC-Mitgliedern im Rahmen vernachläs-sigbarer Zahlen,13 nach wie vor bestimmen

nicht-tarifliche Barrieren, Transportprobleme und Visa-Komplikationen den Alltag der südasiatischen Unter-nehmer. Und es ist nicht verwunderlich, dass viele dieser lokalen Händler sich eher für Projekte mit Südostasien, Amerika und Europa entscheiden anstatt Investitionen und Handel in den benachbarten Ländern zu fördern. Auch andersherum haben die genannten Schwierigkeiten Auswirkungen: Schwärmen indische Unternehmer oft von

12 | Vgl. Dubey, Fn. 10, 244 f.13 | Eine Ausnahme bildet erneut Indien, das in der Handelsbilanz der meisten SAARC-Staaten direkt oder indirekt den größten Anteil stellt. Details in: „Making SAFTA more effective‟, (Neu- Delhi, 2010).

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Gerade Europa hat gezeigt, dass der Gedanke der Investition in struktur-schwächere Mitgliedstaaten für alle Seiten letzten Endes Vorteile brachte.

den bemerkenswerten Möglichkeiten des Europäischen Binnenmarktes für Importeure, schrecken ausländische Unternehmer aufgrund der vielen Hürden vor Investitionen in Südasien, selbst in Indien, zurück – zum Leidwesen der gesamten Region.

ÖFFNUNG, KOOPERATION UND BLICK NACH OSTEN

Gerade die inner-südasiatische Kooperation und Öffnung hat viel Potential. Doch dafür müsste bei den Verantwortlichen das Verständnis für die Vorteile eines freien Binnenmarktes gefördert werden. Selbst die kleineren Staaten zeigten sich in der Vergangenheit zurückhaltend bei der Frage der Aufgabe von Zöllen, schließlich stellten Zolleinnahmen einen wichtigen, teils gar beträchtlichen Teil der eigenen Einnahmen dar. Darüber hinaus spiegelt sich auch in dieser Frage die Angst vor einer Überschwemmung des eigenen Marktes mit indischen Gütern und vor dem Aussterben der einheimischen Produktion wider. Dass ein Binnenmarkt solche Phänomene mit sich ziehen kann, aber nicht muss, haben andere regionale Integrationsmodelle bewiesen. Gerade Europa hat gezeigt, dass der Gedanke der Investition in strukturschwächere Mitgliedstaaten für alle Seiten letzten Endes Vorteile brachte.

Der entscheidende Faktor dabei ist allerdings Vertrauen in die Worte und Taten des jeweiligen Handelspartners. Und das scheint zuletzt zumindest zwischen einigen Akteuren Südasiens wieder zu wachsen. So kamen sich in den vergangenen Monaten Indien, Bangladesch, Nepal und Bhutan in Fragen der Transitregelungen für den Transport- und Personenverkehr sowie der Nutzung von Tiefseehäfen näher – ein bemerkenswerter und wichtiger Schritt, der lange verschleppt worden war.14 Müssen derzeit Lastwagen und Container an den jeweiligen Staatsgrenzen komplett aus- und umgeladen werden, ein erheblicher Aufwand und aufgrund der aufzubringenden Zeit auch ein finanzieller Verlust, könnte der Handel und Warenaustausch an den Grenzen in Zukunft wesentlich beschleunigt werden.

14 | Vgl. Dipu Moni, „Transit to benefit four countries‟, The Daily Star, August 9, 2010, in: http://www.thedailystar.net/new Design/news-details.php?nid=150000 [15.12.2010].

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Am Beispiel ASEANs wird deutlich, wie wichtig ein klares politisches Bekennt-nis zu wirtschaftlicher Kooperation für den Erfolg regionaler Integration ist.

Ein wichtiger Katalysator dieses neuen Entgegenkommens ist auch die Politik Indiens und dessen Premier Manmohan Singh, der inzwischen von der indischen „Bereitschaft zu mehr asymetrischer Verantwortung‟ im Zusammenhang mit SAARC spricht.15 Dies ist ein bedeutendes Signal für die Region, nachdem SAARC eine Phase der weiteren Schwä-chung durchlief, in der zahlreiche bilaterale Abkommen zwischen den einzelnen Mitgliedsländern den Regionalver-bund immer obsoleter zu machen schienen.

Auch die „Look East‟-Strategie einiger südasiatischer Staaten könnte eine Konkurrenz für SAARC werden. Gerade ASEAN strahlt mit ihrer wirtschaftlichen Dynamik und globalen Wahrnehmung auf die Akteure in Südasien, allen voran Indien, große Attraktivität aus.16 Aber ein Vergleich zwischen dem Erfolg ASEANs und der Entwicklung SAARCs käme in gewisser Hinsicht einem Äpfel-Birnen-Vergleich gleich. Neben den genannten Problemen, die sich

einer tieferen und schnelleren Integration Südasiens entgegenstellten, unterscheiden sich beide Modelle in einem entscheidenden Punkt: Am Beispiel ASEANs wird deutlich, wie wichtig ein klares politisches Bekenntnis

zu wirtschaftlicher Kooperation und schlussendlich Öffnung sowie ein konsequentes Handeln in dieser Richtung für den Erfolg regionaler Integration ist. SAARC hat das aus genannten Gründen in der Frühphase nicht leisten können und danach sicherlich auch versäumt. So tastet sich Südasien immer mehr in Richtung Osten und sucht den Kontakt zu den Anrainerstaaten.

„Subregionale Integration‟ ist das Stichwort, unter dem sich z.B. BIMST-EC 1997 zusammengefunden hat. Als „Initiative für multisektorale technische und wirtschaft-liche Kooperation in der Bucht von Bengalen‟ setzten sich Bangladesch, Indien, Sri Lanka und Thailand, später dann Myanmar, Nepal und Bhutan, ähnliche Ziele wie sie die SAARC-Charter vorsieht. Neben der wirtschaftlichen Kooperation ist eine politische Zusammenarbeit angedacht.

15 | Vgl. Nihal Rodrigo, „SAARC in Perspective‟, in: Dipankar Banerjee und N. Manoharan (Hrsg.), SAARC Towards Greater Connectivity (Neu-Delhi: Anshah, 2008), 6.16 | Mehr zum Verhältnis Indien-ASEAN im IPCS Special Report, Nr. 72, Institute of Peace and Conflict Studies, May 2009, in: http://ipcs.org/pdf_file/issue/SR72-Final.pdf [10.01.2011].

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Eine Initiative Nepals, den Beobach-terstatus Chinas in eine Vollmitglied-schaft in der SAARC umzuwandeln, scheiterte am Veto Indiens.

Kommentatoren sehen Potential im BIMST-EC-Projekt, und wenn nur aus dem Grund, dass die Organisation quasi SAARC ohne die krisengeschüttelten Akteure Pakistan und Afghanistan unter Zugabe Thailands und Myanmars ist.17

Entwickelt sich also aus den subregionalen Integrations-bemühungen möglicherweise eine ernsthafte Konkurrenz für SAARC? Immer wieder zeigt sich, dass regionale Inte-gration dann an ihre Grenzen stößt, wenn die Frage der gemeinsamen Identität gestellt wird. Haben die BIMST-EC-Staaten tatsächlich eine gemeinsame Verbindung außer dem Interesse an wirtschaftlicher Entwicklung, Profit und Wohlstand? Im Vergleich zu SAARC und dem tief verwur-zelten Geschichtsbewusstsein Südasiens kann diese Frage ganz klar verneint werden.

ExTERNES INTERESSE AN SAARC WäCHST

Der Trend zur Vertiefung bilateraler Absprachen bzw. zur Suche nach Anschluss zu anderen multilateralen Organi-sationen geschieht paradoxerweise zu einer Zeit, in der das Interesse an SAARC in Asien, aber auch weltweit, steigt. Seit 2005 erhielten Australien, China, die Europä-ische Union, Iran, Japan, Südkorea, Mauritius, Myanmar und die USA einen Beobachterstatus.18 Damit verbunden sind die Teilnahme an den Eröffnungs- und Abschlusssitzungen der Gipfeltreffen und die Möglichkeit, Stellung zur Entwicklung von SAARC und den eigenen Sektoren für eine mögliche Kooperation zu beziehen. In der Tat entsandten die Beobachterstaaten zuletzt teils hoch-rangige Vertreter zu den SAARC-Gipfeltreffen, und gerade China zeigt gesteigertes Interesse an einer Mitgliedschaft im südasiatischen Regionalverbund. Eine Initiative Nepals im Frühjahr 2010, den Beobachterstatus Chinas in eine Vollmitgliedschaft umzuwandeln, scheiterte jedoch am Veto Indiens. Dabei sehen gerade Kommentatoren aus den kleineren SAARC-Staaten in der Vollmitgliedschaft Chinas

17 | Vgl. Yogendra Singh, „BIMSTEC: Need to Move beyond the Linkage Syndrome‟, Institute of Peace and Conflict Studies, 15.12.2008, in: http://www.ipcs.org/article/southeast-asia/ bimstec-need-to-move-beyond-the-linkage-syndrome-2753. html [15.12.2010].18 | Vgl. SAARC Secretariat, http://saarc-sec.org/Cooperation- with-Observers/13 [15.12.2010].

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SAARC wird in Südasien mit Gleichgül-tigkeit oder Unkenntnis quittiert, gilt als gescheitert oder als gute Idee mit viel Potential, aber auch vielen Prob-lemen.

die Chance, ein Gegengewicht zu Indien innerhalb SAARCs zu schaffen.19 Auch der enorme Wachstumsdrang Chinas könnte dem wirtschaftlichen Integrationsprozess in den Augen der Nachbarn Schwung geben. Zusätzlich würde die schiere Größe eines solchen Verbundes für Gewicht in der Welt sorgen, behaupten manche Stimmen.

Aber so weit wird es wohl in näherer Zukunft nicht kommen. SAARC wird die anstehenden Herausforderungen und die genannten Probleme des Ungleichgewichts zwischen Indien und den restlichen Mitgliedern, die Unstimmigkeiten Indiens und Pakistans und die stockende Wirtschaftsinteg-ration in der jetzigen Zusammensetzung selbst bewältigen müssen. Das gestiegene externe Interesse an SAARC sollte Südasien aber als ein Fingerzeig dafür dienen, dass in den geschaffenen Strukturen offensichtlich mehr Poten-tial steckt als man selbst wahrnimmt. Oder sehen Europa, USA, China und die anderen Beobachter mehr in SAARC, als es eigentlich ist?

MEHR KONzENTRATION AUF DAS WESENTLICHE NOTWENDIG

Wie also könnte die Zukunft von SAARC aussehen? In Südasien überwiegen gegenwärtig drei Meinungen zu

SAARC: Das Projekt wird mit Gleichgültigkeit oder Unkenntnis quittiert, es gilt als geschei-tert oder es wird als gute Idee mit viel Poten-tial, aber auch vielen Problemen gesehen. Kaum jemand würde frei heraus behaupten,

SAARC funktioniere in allen Belangen prächtig. Und in der Tat halten sich die greifbaren Ergebnisse in Grenzen. Aber immerhin sind Ergebnisse vorhanden: SAARC hat in den zurückliegenden 25 Jahren in einer politisch äußerst schwierigen Konstellation Fakten und Institutionen geschaffen sowie Foren entwickelt, bei denen sich selbst die Staatsoberhäupter regelmäßig die Hand schütteln müssen. SAARC hat für die Region entscheidende Themen wie eine Sozialcharta, Entwicklungsabkommen und selbst so empfindliche Fragen wie Terrorbekämpfung aufge-griffen und teils gute Resultate erzielt. Die Nahrungs- und Entwicklungsbanken sind wichtige Schritte in die richtige

19 | Gespräche des Autors während der Konferenz „Nepal’s Foreign Policy: The Way ahead‟ am 22.11.2010 in Kathmandu.

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Richtung. Der Austausch im Bereich der Zivilgesellschaft und Wissenschaft ist inzwischen einer der Stützpfeiler der südasiatischen Integrationsbemühungen.

Doch für alle diese Punkte gilt: SAARC sollte sich nicht in zu vielen Aktivitäten verlieren. Das politische Signal und der politische Wille für klare Integrationsschritte im Wirt-schaftsbereich sind das entscheidende Zünglein an der Waage für den Erfolg der regionalen Zusammenarbeit in Südasien. Ein Misserfolg bei der Frage der wirtschaftlichen Binnenöffnung kann nicht durch Aktivitäten in Hunderten anderer Bereiche kompensiert werden.

In mancher Hinsicht sind die Aussichten für SAARC demnach besser denn je: Zum ersten Mal in der eigenen Geschichte berufen sich die Regierungen der Mitgliedstaaten auf demo-kratische Prinzipien. Alle SAARC-Länder können eine posi-tive Wirtschaftsentwicklung nachweisen. Auch das globale Interesse an Südasien war nie größer: Das ausländische Investitionspotential ist enorm, und auch politisch gerät die südasiatische Integration ins Blickfeld. Diese Entwicklungen sollten sich die Akteure in Südasien vor Augen führen und sich nicht durch einseitig bilaterale Abma-chungen selbst ein Bein stellen. Ohnehin führt im Sinne der Stabilisierung der Region – angefangen mit Afgha-nistan bis hin zu den innerstaatlichen Konflikten nahezu aller der teils noch sehr jungen Demokratien Südasiens – kein Weg an vertiefter Integration vorbei. Daran sollte vor allem Indien interessiert sein. Will der regionale Riese auch weiter den Wachstumsweg gehen, muss für Stabilität und Ruhe im eigenen „Vorgarten‟ gesorgt werden. Zudem bieten die kleinen Nachbarländer durchaus interessante Möglichkeiten im Bereich der Energie- und Ressourcenge-winnung. Für Indien, das nur einen geringen Teil seines Außenhandels in Südasien abwickelt, steckt noch sehr viel Wachstums potential in der Region. Und es wäre sicherlich keine Neuerfindung des Rades, wenn Indien durch starke Investitionen in den Nachbarländern für die Entwicklung kaufkräftiger Abnehmermärkte sorgen würde – ein solches Konzept hat nicht zuletzt die Europäische Union mit Erfolg vorgemacht.

Im Sinne der Stabilisierung der Region führt kein Weg an vertiefter Integration vorbei. Daran sollte vor allem Indien interessiert sein.

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Das Europäische Projekt wäre aber nie ohne Vertrauen und Verständnis für die Wahrnehmung seitens der (gerade kleineren) Partner erfolgreich gewesen. Indien als größter Akteur Südasiens muss sich also als Motor der Integra-tion beweisen und in Vorleistung für die Entwicklung der gesamten Gruppe treten, will es tatsächlich eine verstärkte Integration erreichen. Das Argument der schwierigen Ausgangslage gilt heute nur noch bedingt: Die Ausgangs-lage Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, selbst in den fünfziger Jahren, war nicht unbedingt eine vertrauensvol-lere als die Südasiens im 21. Jahrhundert. Und dennoch wurde das Europäische Projekt durch viel Überzeugungs-arbeit und Vertrauen fördernde Maßnahmen zu einem Erfolg – für die großen und kleinen Akteure.

SAARC hat in dieser Hinsicht noch einen längeren Weg vor sich. Die offenkundigen Probleme sollten dabei genauso wenig außer Acht gelassen werden wie die erreichten Erfolge. Aber Chancen für eine erfolgreiche, gemeinsame Zukunft sind da – es gilt, sie zu nutzen.

Das Manuskript wurde am 17. Dezember 2010 abgeschlossen.

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Winfried Weck

Mit der Aufnahme in die G-20 haben sich für Indonesien neue Perspektiven der Mitgestaltung von internationalen Prozessen und Entwicklungen eröffnet. Zugleich übernimmt das Land in diesem Jahr den Vorsitz in der ASEAN. Nachdem sich Präsident Susilo Bambang Yudhoyono bei den G-20-Gipfeln 2009 in London und Pittsburgh mit interessanten Initiativen, z.B. zur Reform der internationalen Finanzinsti-tutionen, weltweit Gehör verschaffen konnte, ist Indonesien nun bemüht, sich sowohl als Sprachrohr der ASEAN-Staaten als auch als Vertreter aller Entwicklungsländer in der G-20 zu positionieren. Gerade in jüngster Zeit hat Indonesien als Gastgeber hochrangiger internationaler Großveranstal-tungen wie der Klima-Konferenz zur Fortschreibung des Kyoto-Protokolls 2008 in Bali und der Welt-Meeres-Konfe-renz in Menado/Sulawesi 2009 Schlagzeilen gemacht. Dies wird Indonesien als Ausrichter des APEC-Gipfels 2013 fortsetzen. Aus diesem Grund übernimmt das Land den Vorsitz in der ASEAN bereits 2011 und wird als Gastgeber des turnusmäßigen Gipfels im Herbst 2011 fungieren.1

Wie steht es nun aber um die Prioritätensetzung in der indonesischen Außenpolitik? Soll sich das Land auf die ASEAN konzentrieren, die 2008 ihre Charta2 verabschiedet hat und ab 2015 erstmals einen deutlichen Schritt hin zu einer Staatengemeinschaft macht, die mehr als nur behut-same Konfliktvermeidung im Sinn hat? Oder stellt die deut-liche Konzentration auf die Mitarbeit in der mächtigen G-20 die bessere Alternative zu einer entscheidungsschwachen

1 | Die turnusmäßige Übernahme des ASEAN-Vorsitzes durch Indo- nesien ist eigentlich für 2013 vorgesehen, doch Indonesien bat auf dem Gipfel in Hanoi im April 2010 um den Vorsitz 2011, um so besser den APEC-Gipfel vorbereiten zu können.2 | 2008 ratifizierte Indonesien als letzter der zehn Mitgliedstaaten die Charta.

ASEAN UND G-20 – INDONESIENS AUSSENPOLITISCHE PERSPEKTIVEN

Winfried Weck ist Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung für Indonesien und Ost-Timor.

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Obwohl allzu häufig Vergleiche ange-stellt werden, ist der Gründungsge-danke der ASEAN in keiner Weise mit dem des Europäischen Einigungspro-zesses vergleichbar.

ASEAN dar? Wird die indonesische Außenpolitik von der eigenen Bevölkerung wahrgenommen, und wenn ja, wie? Steht das stark ausgeprägte Nationalbewusstsein nicht nur der Indonesier, sondern auch nahezu aller anderen Völker der unter dem Dach der ASEAN versammelten Staaten einer Integrationspolitik nach europäischem Muster nicht fundamental entgegen? Was hat Indonesien überhaupt von der regionalen Zusammenarbeit in der ASEAN? Dieser Fragenkatalog bestimmt die derzeitige außenpolitische Diskussion in Indonesien, die nicht nur von Experten-kreisen geführt wird, sondern durchaus bei breiteren Bevölkerungsschichten auf Interesse stößt.

ASEAN – DER STEINIGE WEG VOM CLUB DER AUTO-KRATEN zUR EFFIzIENTEN STAATENGEMEINSCHAFT

Um die ASEAN-Politik Indonesiens – wie auch aller anderen Mitgliedstaaten – zu verstehen, bedarf es einer näheren Betrachtung der inneren Befindlichkeiten der ASEAN. Allzu häufig wird im internationalen Kontext die ASEAN mit der

Europäischen Union verglichen. Und nicht selten werden diese Vergleiche entweder in der EU oder der ASEAN selbst angestellt. Dabei ist der Gründungsgedanke der ASEAN in keiner Weise mit dem des Europäischen Eini-

gungsprozesses vergleichbar. Friedens- und Wohlstands- bildung durch Integration und Teilung der nationalen Souveränität standen im Rahmen des ASEAN-Prozesses bis vor Kurzem nie zur Diskussion.

Die ASEAN wurde am 8. August 1967 von Indonesien, Malaysia, Thailand, Singapur und den Philippinen gegrün- det. Das Ziel der jungen Nationalstaaten war es, mit ASEAN über ein loses Netzwerk ohne völkerrechtliche Vertrags-basis zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit, zur Konflikt-vermeidung zwischen den Mitgliedern sowie zur Entwick-lung von Strategien gegenüber möglichen Bedrohungen von außen zu verfügen. Von Beginn an spielte die ASEAN eine zentrale Rolle in der indonesischen Außenpolitik unter dem damals noch jungen Staatschef Suharto, der bestrebt war, sich deutlich von der anti-westlichen Rhetorik und Politik seines Vorgängers Sukarno zu distanzieren. So ist es neben dem Vietnam-Krieg wohl auch dem Einfluss Indonesiens zuzuschreiben, dass die ASEAN von der ersten

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Bei der Ur-ASEAN handelte es sich um einen eher informellen „cozy club of authoritarian regimes‟, dem es höchs-tens um die Vermeidung von Konflik-ten untereinander ging.

Stunde an deutliche anti-kommunistische Züge aufwies und sich als Schutzinstitution ihrer Mitglieder gegen die Volksrepublik China verstand.3 Und dennoch handelte es sich bei der Ur-ASEAN um nichts anderes als um einen eher informellen „cozy club of authoritarian regimes‟4, dem es weniger um Konfliktlösung als höchstens um die Vermei-dung von Konflikten untereinander ging. Dies zeigt sich allein schon an der Tatsache, dass das erste Gipfeltreffen der ASEAN auf Bali im Februar 1976, also neun Jahre nach ihrer Gründung, stattfand5 und in den darauffolgenden 27 Jahren nur acht weitere summits organisiert wurden. Auch die Aufnahme von Brunei 1984, Vietnam 1995, Myanmar und Laos 1997 sowie Kambod-scha 1999 führte zu keinerlei substanziellen Änderungen im Selbstverständnis der ASEAN.

Dabei stellte diese Form der Zusammenarbeit mit unver-bindlichem Charakter nicht etwa einen Kompromiss dar, sondern war von allen beteiligten Regierungen von Anfang an ausdrücklich angestrebt. Jakarta beispielsweise befürchtete stets, im Rahmen der ASEAN-Kooperation Verbindlichkeiten eingehen zu müssen, die die Einrich-tung permanenter Strukturen zum Ziel gehabt hätten oder als Integrationsmaßnahmen hätten gewertet werden können. Besonders wehrte sich Indonesien gegen alle noch so kleinen Ansätze zur Schaffung eines gemeinsamen Marktes. Bis heute bestehen tiefe Ängste, der heimische Markt könne mit billigeren Importartikeln aus den wett-bewerbsstärkeren ASEAN-Mitgliedsländern überschwemmt werden.6

3 | Vgl. Präambel der Bangkok-Erklärung: „die Staaten Südost- asiens teilen eine grundlegende Verantwortung […], ihre Stabilität und Sicherheit gegen äußere Einflüsse jeder Art oder Propaganda zu sichern.‟4 | So die außenpolitische Expertin Dewi Fortuna Anwar vom indonesischen Forschungsinstitut LIPI im Rahmen einer Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bandung im Februar 2010.5 | Im Rahmen des Bali-Gipfels 1976 wurde auch die Errichtung des ASEAN-Generalsekretariats in Jakarta beschlossen.6 | Dies gilt gleichermaßen für die Anfang 2010 geschaffene Frei- handelszone ACFTA (Asean-China Free Trade Agreement). Indonesien versuchte im April 2010, den Abbau der Zölle für insgesamt 228 heimische Produkte nachzuverhandeln (u.a. Schuhe und Textilwaren, aber auch Popcorn), allerdings ver- geblich.

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So hemmend und verlangsamend die Rolle Indonesiens zur besseren Nutzung gemeinsamer Wirtschaftspoten-tiale in der ASEAN stets gewesen ist, so positiv betrachtet Indonesien die ASEAN als Instrument zur Schaffung einer regionalen politischen Identität. Nachdem verschiedene Ansätze der außen- und sicherheitspolitischen Integration in Südostasien gescheitert waren7, gründete die ASEAN bereits 1971, in der heißesten Phase des Vietnam-Krieges, die Southeast Asian Zone for Peace, Freedom, and Neutra-lity (ZOPFAN), mit Indonesien als treibender Kraft. Das starke Interesse Indonesiens an einer Neutralitätszone im regionalen Umfeld hing mit verschiedenen, ineinandergrei-fenden Faktoren zusammen. Die wohl wichtigste Ursache bestand darin, dass Indonesien aus einer holländischen

Kolonie hervorgegangen war und über keine Bindungen an die klassischen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich verfügte – im Gegensatz zum gesamten südostasiatischen Festland mit Ausnahme Thailands. Seit ihrer

Gründung ist die territoriale Integrität als elementares, identitätsstiftendes Merkmal der Nation das höchste staat-liche Ziel der Republik Indonesien. Als wichtigstes Instru-ment zu deren Schutz ist von den indonesischen Macht-habern immer die politische Unabhängigkeit des Landes angesehen worden.8 Insofern bestand auch stets ein hohes Maß an Vorsicht gegenüber der Gefahr, sich von der Sowjet- union oder den USA vereinnahmen zu lassen.9 Hinzu kam die Furcht vor einer allzu mächtigen Volksrepublik China, die sich nach der Kulturrevolution zur regionalen Macht entwickelte.

7 | Die 1954 gegründete Southeast Asia Treaty Organization SEATO, ein von den USA initiiertes und der NATO nachempfundenes Militärbündnis, wurde 1977 wieder aufgelöst. Vier Jahre früher ereilte den 1966 ins Leben gerufenen Asian and Pacific Council ASPAC, einen Zusammenschluss südostasiatischer Länder mit Australien und Neuseeland, das gleiche Schicksal.8 | Nicht von ungefähr fand die Konferenz zur Gründung der Blockfreien Staaten 1955 in Bandung (Insel Java, Indonesien) statt.9 | Als Staatsgründer Sukarno sich zu weit in das sozialistische Lager bewegte, führte dies zum Staatsstreich und der Macht- übernahme durch Suharto. Noch heute sind die Begriffe kommunistisch, sozialistisch und sogar sozial bei weiten Teilen der indonesischen Bevölkerung extrem negativ besetzt.

Seit ihrer Gründung ist die territoriale Integrität als elementares, identitäts-stiftendes Merkmal der Nation das höchste staatliche ziel der Republik Indonesien.

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Die Hoffnungen auf eine neue Weltord-nung zu Beginn der neunziger Jahre brachte einen gewissen Schwung in die Behäbigkeit der ASEAN.

Allerdings fehlte es der ZOPFAN in den ersten 20 Jahren an einer gemeinsamen politischen Strategie. Zu sehr waren einige Mitgliedstaaten, wie die Philippinen oder Singapur, mit den Großmächten verbunden, so dass für sie eine Neutralität nach indonesischer Vorstellung nicht infrage kam. Die Kompromissformulierungen der statuierenden Erklärung von Kuala Lumpur 1971 zeugen daher eher vom Willen, ZOPFAN vor allem zu einer Zone der Neutralität der Region in ihrer Gesamtheit, nicht aber ihrer einzelnen Mitgliedstaaten zu machen.

Erst das Ende der bipolaren Welt und die Hoffnungen auf eine neue Weltordnung zu Beginn der neunziger Jahre brachten einen gewissen Schwung in die bisherige Behä-bigkeit der ASEAN. Allerdings ist die seitdem durchaus feststellbare Dynamik des ASEAN-Prozesses in keiner Weise von pro-aktivem Charakter, sondern rein re-aktiv. Auch die „Frischzellenkur‟ durch die neuen Mitglieder Vietnam, Myanmar, Laos und Kambodscha führte zu keiner wesentlichen Veränderung der traditionell passiven Verhal-tensmuster insbesondere Indonesiens. Es bedurfte auch erst der massiven Wirtschafts- und Finanzkrise von 1997, um überhaupt das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu wecken und die Errichtung der Freihandelszone AFTA zu beschleunigen, wofür ursprünglich 15 Jahre angesetzt worden waren.10

Der wirklich historische und für die künftige Entwick-lung der ASEAN entscheidende Wurf gelang auf dem 13. ASEAN-Gipfel im November 2007 in Singapur. Dort unterzeichneten die Mitgliedstaaten eine zwei Jahre lang vorbereitete Charta, die der ASEAN erstmals einen rechtsverbindlichen Charakter verlieh und sie somit zum eigenständigen Völkerrechtssubjekt machte.11 Die Charta trat am 15. Dezember 2008 in Kraft, nachdem Indone-sien am 21. Oktober 2008 als letztes ASEAN-Mitglied die Ratifizierung vorgenommen hatte. Sie bildet die rechtliche

10 | Auf dem 4. ASEAN-Gipfel in Singapur 1992 wurde die Errich- tung der ASEAN Free Trade Area AFTA mit Zöllen zwischen null und fünf Prozent im Zeitraum von 1993 bis 2008 beschlossen. Die AFTA ist dann allerdings bereits am 1. Januar 2003 in Kraft getreten.11 | Vgl. Art. 1 Charta der ASEAN, http://www.aseansec.org/ 21069.pdf [10.01.2011].

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Das Hauptanliegen ASEANs bestand darin, den Einfluss des Ostblocks und der westlich-transatlantischen Wertegemeinschaft sowie Chinas auf die Region Südostasien möglichst zu unterbinden.

Grundlage einer sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und sozio-kulturellen Staatengemeinschaft12, die bis 2015 geschaffen werden soll. Diese Gemeinschaft bekennt sich zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Guter Regierungsfüh-rung sowie zu den Menschrechten und bürgerlichen Grund-freiheiten, lehnt verfassungswidrige Regierungswechsel ab und plant die Errichtung eines ASEAN-Menschenrechts-gremiums.13 Zweifellos besitzt die Charta einen hohen Symbolgehalt, der das neugewonnene Selbstverständnis der ASEAN wiedergibt. Ob die Charta dann aber wie vorge-sehen umgesetzt wird, ist durchaus zweifelhaft und hängt stark vom Willen der einzelnen Mitgliedstaaten ab. Denn das Instrumentarium der ASEAN zur Durchsetzung ihrer eigenen Ziele ist nicht weiterentwickelt worden und bleibt weiterhin schwach.14 Diese Feststellung führt indirekt zur provokanten Frage, ob die ASEAN nicht doch mit der Euro-päischen Union verglichen werden kann.

ASEAN UND EU IM VERGLEICH: zWEI IDEEN PRALLEN AUFEINANDER

Das Wichtigste vorweg: Augenfällig sind weniger die Gemeinsamkeiten als vielmehr das Trennende. So ist die Europäische Union von Beginn an als eine Wertege-

meinschaft konzipiert worden, während die ASEAN über Jahrzehnte tunlichst vermieden hat, einen gemeinsamen Wertekanon zu diskutieren oder gar zu implementieren. Dies lag auch gar nicht in ihrem Sinn, denn im Gegensatz zur Europäischen Gemein-

schaft mit einem klaren, gegen den Ostblock gerichteten Bekenntnis zur westlich-transatlantischen Wertegemein-schaft bestand das Hauptanliegen ASEANs darin, den Einfluss beider Blöcke und Supermächte sowie Chinas auf die Region Südostasien möglichst zu unterbinden.

12 | ASEAN Security Community (ASC), ASEAN Economic Commu- nity (AEC) und ASEAN Socio-Cultural Community (ASCC).13 | Vgl. Art. 14 Charta, ASEAN Human Rights Body, http://www.aseansec.org/21069.pdf [10.01.2011].14 | Vgl. Art. 20 Charta, http://www.aseansec.org/21069.pdf [10.01.2011]. Entscheidungen sollen auf der Basis von Konsultationen und im Konsens getroffen werden.

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Die ASEAN bestand zu Beginn aus-schließlich aus Staaten mit nicht demo- kratischen Regierungen, und das ist bis heute überwiegend der Fall.

Die (fehlende) Wertebasis resultiert aus den höchst unter-schiedlichen Staatsformen der Mitglieder beider Organisa-tionen: Die Europäische Union ist ein Club der Demokra-tien. Ein pluralistischer, demokratischer Rechtsstaat zu sein ist die Grundbedingung für eine EU-Mitgliedschaft. Nur die faktische Ausgestaltung des demokratischen Systems bleibt jedem Staat selbst überlassen (repräsentative oder direkte, parlamentarische oder präsidiale, föderative oder zentralistische Demokratie, Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht etc.). Die ASEAN wiederum bestand zu Beginn ausschließlich aus Staaten mit nicht demokratischen Regie-rungen, und das ist bis heute überwiegend der Fall. Zu ihr gehören kommunistische Länder wie Vietnam, Laos und Kambodscha, die bekennende Militärdiktatur Myanmar, autoritäre Ein- oder Mehrparteiensysteme wie Singapur und Malaysia, ein von regelmäßigen Regierungskrisen und Militärputschen heimgesuchtes Königreich Thailand und das absolutistische Sultanat Brunei Daressalam. In dieser politischen Kakophonie können sich Indonesien und – mit einigem Abstand – die Philippinen als die am weitest ent- wickelten Demokratien nur aufgrund ihrer Bedeutung und Größe behaupten.

Diese völlig anders gestalteten Mitgliederkonstellationen haben in den beiden Organisationen EG/EU und ASEAN zu grundlegenden Auffassungsunterschieden hinsichtlich des Umgangs untereinander geführt. Während die Euro-päer Problemlösung im häufig durchaus konfrontativen, aber weitestgehend konstruktiven Miteinander und durch den systematischen Aufbau von Interdependenzen in nahezu allen Politikbereichen betreiben, folgen die ASEAN-Mitglieder einem Kodex, den sie gerne als den Asian way15 proklamieren. Er besteht vor allem aus drei Elementen:

▪ eine strikte Nichteinmischungspolitik in die internen Angelegenheiten anderer Mitgliedstaaten;

▪ die gegenseitige Verpflichtung, nationale Souveränität und Identität sowie territoriale Integrität zu respektieren;

▪ der Verzicht auf die Bildung von Sub-Institutionen der ASEAN, die die Teilung nationaler Souveränität auf Gemeinschaftsebene zur Folge hätte.

15 | Festgelegt im Treaty of Amity and Cooperation von 1976.

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Je mehr Integration und Teilung natio-naler Souveränität, desto mehr gegen-seitige Kontrolle und Vertrauen – dies ist die historische Lehre aus dem Ver-tragswerk von Maastricht.

Damit ist die gesamte ASEAN-Kooperation von unver-bindlichem Charakter. Der abschließende Aspekt in dieser Gegenüberstellung kann langfristige Auswirkungen auf die Kooperation in der ASEAN-Region und darüber hinaus zeitigen und erfordert deshalb eine ausführlichere Betrach-tung: Legt man die geografische Lage, die jeweilige Größe der Bevölkerung sowie den politischen und wirtschaftli-chen Einfluss der einzelnen EU-Mitgliedstaaten zugrunde, so stellt sich die Historie der Europäischen Integration als ein permanenter Prozess der Ausbalancierung besonders zwischen den großen Mitgliedstaaten dar. Anfangs bestand die EG aus drei etwa gleich großen Mitgliedstaaten (Italien, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland) und drei kleineren (Belgien, Niederlande und Luxemburg). Mit der Aufnahme Großbritanniens in die EG wurde aus dem Drei-erclub der Großen ein Viererclub, in dem das Gleichgewicht der Kräfte eine elementare Bedeutung für die Entwicklung des Gemeinschaftsprozesses einnahm. Nach der deut-schen Wiedervereinigung geriet dieses Gleichgewicht aus den Fugen. Quasi über Nacht erhielt ein Mitglied aus dem Viererclub (zudem das wirtschaftlich stärkste) einen erheb-lichen territorialen Zuwachs und vor allem einen Bevölke-rungszuwachs um fast 20 Millionen Menschen. Gegenüber Großbritannien, Frankreich und Italien mit je ca. 50 bis 60 Millionen zählte Deutschland nun 80 Millionen Einwohner und war damit zum primus inter pares geworden, ein Umstand, der sogar von Deutschlands engstem EU-Partner

Frankreich nur schwer verkraftet wurde. Eine Wiederherstellung des Gleichgewichts war unabdingbar geworden und führte zwingend zu weiteren Vertiefungsschritten und damit zur Ausweitung des Integrationsprozesses über die Wirtschaftsgemeinschaft hinaus.16

Je mehr Integration und Teilung nationaler Souveränität, desto mehr gegenseitige Kontrolle und Vertrauensbil-dung – dies ist die historische Lehre, die aus dem Vertrags-werk von Maastricht gezogen werden kann.

Betrachtet man die ASEAN unter dem Gesichtspunkt der oben angeführten Größenaspekte, so lässt sich leicht erkennen, dass von den etwa 575 Millionen Einwohnern im ASEAN-Gebiet allein 240 Millionen auf Indonesien

16 | Die Stichworte zweiter und dritter Pfeiler der Europäischen Union seien hier genannt.

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In der Region ist man sich des indone-sischen Nationalbewusstseins durch-aus bewusst. Befürchtungen vor einer hegemonialen Stellung Indonesiens gibt es in den meisten der kleineren ASEAN-Staaten.

entfallen, was etwa zwei Fünfteln der Gesamtbevölkerung entspricht. Mit erheblichem Abstand folgen die Philippinen und Vietnam (je ca. 90 bis 95 Millionen Einwohner) und Thailand (70 Millionen Einwohner). Bisher spielten diese Größenverhältnisse, insbesondere Indonesiens herausra-gender Umfang sowohl hinsichtlich seiner Bevölkerung als auch der Geografie17, keine wesentliche Rolle im ASEAN-Prozess. Unter den Bedingungen der neuen Charta kann sich diese Situation jedoch drastisch wandeln. Sollten die ASEAN-Mitgliedstaaten tatsächlich einen Gemeinschafts-raum nach Vorbild der Europäischen Union schaffen wollen, wird sich schnell zeigen, wer die treibenden Kräfte sind und wer eher zu den zögerlichen Elementen gezählt werden muss. In weiser Voraussicht sieht die Charta für einige Bereiche bereits einen Prozess der zwei Geschwindigkeiten vor, der es den progressiveren Mitgliedern ermöglichen soll, schneller integrative Schritte zu realisieren.

Zu welcher Gruppe wird nun Indonesien gehören? Die offizielle Regierungs-Rhetorik geht von einer natürlichen Führungsrolle Indonesiens aus und leitet diesen Anspruch eben aus der hervorgehobenen Größenordnung des Landes im Vergleich zu den anderen Mitgliedstaaten ab. Was aber, wenn die anderen Staaten nicht vom benach-barten Riesenarchipel angeführt werden wollen? Immerhin schwelen innerhalb der ASEAN-Staaten seit Jahrzehnten ungelöste Grenzkonflikte. Besonders mit Singapur und Malaysia führt Indonesien zudem diplomatische Dauerge-fechte hinsichtlich der dortigen Behandlung der indonesischen Gastarbeiter. Und im malayisch-indonesischen Streit darüber, wer nun wem die Sprache gestohlen hat (Indone-sisch und Malayisch sind nahezu identisch), entgleisen die Emotionen auf beiden Seiten immer wieder. In der Region ist man sich des indonesischen Nationalbewusstseins, das gerade in jüngster Zeit wieder xenophobe Züge annimmt, durchaus bewusst. Befürchtungen vor einer hegemonialen Stellung Indonesiens gibt es in den meisten der kleineren ASEAN-Staaten. Es mangelt der ASEAN genau an denjenigen Ele- menten und Mechanismen, die in der Europäischen Union

17 | Indonesien ist mit über 5.100 km fast genauso lang wie die Distanz von New York nach Los Angeles und umfasst drei Zeitzonen.

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ebensolche Ängste und Befürchtungen der kleineren Mitglieder auffangen und das Gleichgewicht der Kräfte austarieren: ein Kreis ähnlich großer, sich gegenseitig kontrollierender Staaten und das Instrumentarium der Integration zur Schaffung von Interdependenzen.

zUKUNFTSOPTIONEN: ASEAN + ?

Da es nach allgemeinen Verlautbarungen aus all ihren Mitgliedstaaten zur ASEAN keine Alternative gibt, müssen Wege gefunden werden, die Gemeinschaft für die heutigen Herausforderungen fit zu machen. Die wohl erfolgverspre-chendste Lösung für diese Problemlage – nicht zuletzt wegen des völligen Fehlens alternativer Ideen – besteht in der Kooperation über die ASEAN-Staaten hinaus. Dieses Konzept „ASEAN+‟ hat in den vergangenen Jahren unter-schiedliche Initiativen hervorgebracht, die sich aus einem verwirrenden Geflecht von Dialog- und Kooperationsplatt-formen zwischen ASEAN und dritten Partnern entwickelt haben. So ist bereits 1997 aus dem Kreis der so genannten ASEAN-Dialogpartner18 der „ASEAN+3‟-Prozess (auch APT: ASEAN Plus Three) hervorgegangen, eine Dialogplattform zwischen ASEAN, China, Süd-Korea und Japan zur Verbes-serung der Kooperation in mittlerweile 20 Bereichen, z.B. Verbrechensbekämpfung, Tourismus, Sicherheit, Gesund-heit. Der bereits 1976 geschaffenen sicherheitspolitischen Plattform im Rahmen des ASEAN Treaty of Amity and Cooperation (TAC) haben sich China und Indien als neue Mitglieder angeschlossen. Die ASEAN versucht nun, auch die beiden anderen APT-Partner Japan und Süd-Korea zu einem Beitritt zum TAC zu überzeugen. Ein Beitritt Russ-lands ist für 2011 vorgesehen. Bereits 2009 bekundete Präsident Obama das Interesse der USA an einer Unter-zeichnung. Schon jetzt etabliert sich für diesen erwei-terten Kreis des TAC der Begriff „ASEAN+8‟.19 Daneben sollen an dieser Stelle das ASEAN Regional Forum ARF, die Asia Pacific Economic Cooperation APEC, das Asia-Europe Meeting ASEM und der ASEAN Cooperation Dialogue ACD zumindest Erwähnung finden.

18 | Die offiziellen ASEAN-Dialogpartner sind: Australien (erster Dialogpartner 1974), China, Indien, USA, Russland, die EU, Kanada, Neuseeland, Japan und Süd-Korea. Das UNDP hat ebenfalls einen Dialogpartnerstatus inne.19 | ASEAN + Australien, China, Indien, Japan, Süd-Korea, Neuseeland, Russland und die USA.

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Es scheint, als wolle die ASEAN ihre systemimmanenten Defizite mit einer verwirrenden Vielfalt von Plattformen, (Pseudo-) Organisationen und Diskus-sionsforen kaschieren.

Bei der Analyse der ASEAN-Außenkontakte drängt sich nachgerade der Eindruck auf, die ASEAN wolle ihre eigenen, systemimmanenten Defizite mit einer verwirrenden Vielfalt von Plattformen, (Pseudo-) Organisationen und Diskussions- foren zwischen ASEAN und weiteren Akteuren beheben oder zumindest kaschieren. Doch wird diese „Vogel-Strauß-Politik‟ auf lange Sicht nicht ausreichen, um die ASEAN für die globalen Herausforderungen fit zu machen. Konsequenterweise muss die ASEAN die Bereitschaft aufbringen, den entscheiden- den Schritt über das „ASEAN+‟-Konzept hinauszugehen und sich für eine Vollmitgliedschaft neuer, wirtschaftlich starker Demokratien aus der Region zu öffnen, beispiels-weise Süd-Korea und Japan, aber auch Australien und Neuseeland. Die Ausnahmestellung Indonesiens könnte somit relativiert und zugleich könnten demokratische Prozesse im gesamten ASEAN-Raum gestärkt werden. Diese bisher noch als politische Utopie im Raum schwe-bende Idee einer behutsam erweiterten ASEAN kann sehr schnell an Brisanz gewinnen, wenn die ASEAN-Mitglieder von 2015 an tatsächlich und ernsthaft den Weg der Inte-gration und Vergemeinschaftung bestimmter Politikbe-reiche einschlagen sollten. Immerhin: Bereits 2005 fand der erste Ostasiengipfel in Kuala Lumpur statt, an dem die ASEAN+3-Staaten sowie Indien, Australien und Neusee-land teilnahmen.

Für die mittelfristige Realisierung der Erweiterungsoption spricht auch der Faktor des politischen und/oder ökono-mischen Zwangs. Schließlich ist es nicht deshalb zum Europäischen Einigungsprozess gekommen, weil sich einige europäische Staaten plötzlich ihrer gegenseitigen Zuneigung bewusst wurden, sondern weil die Tragödie des Zweiten Weltkrieges und die beginnende Blockbildung die Europäer dazu zwangen, neue Wege der Friedenssicherung zu beschreiten. Die Sicherung des Friedens war und ist das Leitmotiv der Europäischen Einigung. In Südostasien gab es bisher keinen derartigen äußeren oder inneren Zwang zur Integration, was möglicherweise die Hauptursache für die relative Schwäche der ASEAN darstellt. Doch benötigt man keine profunden Kenntnisse über die Region, um die

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Die Charta sieht neben den traditio-nellen Entscheidungsverfahren keine Innovationen zur Beilegung von Mei-nungsverschiedenheiten oder gar Streitfällen vor.

Großmacht China als den entscheidenden künftigen Druck-faktor auf die gesamte Großregion Ost- und Südostasien zu erkennen. Ob die einzelnen Nationalstaaten diesem politischen und wirtschaftlichen Druck werden stand-halten können, ist eher fraglich. Mit einer erweiterten und vertieften ASEAN würde hier ein Wirtschafts- und Sicher-heitsraum entstehen, der zum einen dem neuen Giganten China und zum anderen der Europäischen Union durchaus gewachsen wäre.

IM DILEMMA zWISCHEN WOLLEN UND MüSSEN

Auf dem Gipfel in Hanoi im April 2010 haben alle Staats-chefs ihren Willen zur Umsetzung der Charta und insbe-sondere zum Aufbau der Wirtschaftsgemeinschaft bis 2015 signalisiert. „Unter den Staatsoberhäuptern gibt es eine wachsende Erkenntnis, dass es auf die Größe des Marktes ankommt‟, stellt Sanchita Basu Das, eine Analystin des ASEAN Study Centre im Institute of South East Asian Studies, Singapur, hierzu fest.20 Die Frage ist: Bleiben die positiven Signale Lippenbekenntnisse oder haben die politisch Verantwortlichen die Herausforderungen der globalisierten Welt verstanden und akzeptieren, dass es zu Integration, Vergemeinschaftung und der Abgabe

von Teilen der nationalen Souveränität in bestimmten, genau definierten Politikberei-chen keine ernsthaften Alternativen gibt? Nur dann können auch die Schwächen der Charta überwunden werden, die beispiels-

weise neben den traditionellen Entscheidungsverfahren (Einstimmigkeitsprinzip) keine Innovationen zur Beile-gung von Meinungsverschiedenheiten oder gar Streitfällen vorsieht.21 Die ASEAN-Gemeinschaft steht jetzt vor dem Scheideweg. Ihre Mitglieder müssen eine Wahl treffen zwischen einer bequemen ASEAN der institutionalisierten Bedeutungslosigkeit und einer Regionalmacht ASEAN als wichtigem weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Akteur.

20 | Sanchita Basu Das, in: Business Times, 21.04.2010, 19 (Übers. d. Red.).21 | Die ursprüngliche Überlegung, zur Beilegung von Streitfällen einen ASEAN-Gerichtshof einzurichten, wurde nicht weiter- verfolgt. Es bleibt beim Konsensprinzip und einzelfallabhän- gigen Schiedsverfahren als Vergleichsmechanismen. Letzte Entscheidungsinstanz ist der ASEAN-Gipfel.

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Wie sich Indonesien hierbei verhalten wird, ist noch völlig offen. Nimmt man die offiziellen Verlautbarungen auf der Webseite des Außenministeriums ernst, dann will Indone-sien zu den treibenden Kräften sowohl der Implementierung der Charta als auch der Entwicklung erweiterter Kooperati-onen gehören: „Indonesien und ASEAN teilen die Ansicht, dass die Entwicklung regionaler Architekturen nicht nur die Bedeutung von ASEAN als eine treibende Kraft wider-spiegeln muss. Sie muss auch mit Blick auf die Stärkung der Bemühungen um die Gemeinschaftsbildung der ASEAN durchgeführt werden. Zugleich müssen Anstrengungen zur Gemeinschaftsbildung der ASEAN auch im Rahmen der innerstaatlichen Bedingungen der Mitgliedsländer imple-mentiert werden, um die zentrale Bedeutung der ASEAN zu erhöhen.‟22 Auch Außenminister Marty Natalegawa lässt am guten Willen Indonesiens keinen Zweifel aufkommen: „2011 wird Indonesien den Vorsitz der ASEAN innehaben, und das ist eine gute Möglichkeit für uns, Teil der Anstren-gungen um unsere regionale Architektur zu sein. Für uns ist früher besser als später.‟23 Doch die ASEAN wäre eben nicht ASEAN und Indonesien nicht eines ihrer stilbildenden Mitglieder, wenn die Einschränkung nicht auf dem Fuße folgen würde: „Aber zur gleichen Zeit sind wir uns sehr bewusst, dass es hier um angemessene Konditionen geht. Wir müssen voranschreiten, wie man in der ASEAN-Sprache sagt: in einem für alle angemessenen Tempo.‟24 Diese im offiziellen Sprachgebrauch der indonesischen Regierung als „promoting a dynamic equilibrance‟25 bezeichnete Politik lässt viel Raum zur Interpretation.

An dieser Stelle muss auch auf den bezeichnenden Umstand hingewiesen werden, dass der gesamte ASEAN-Prozess von Seiten Indonesiens (wie auch der anderen Mitgliedstaaten) zwar durchaus von Fachministerien begleitet und inhalt-lich weiterentwickelt wird, doch in seiner Federführung bis heute eine exklusive Domäne des Außenministeriums ist. Aus der Sicht Indonesiens ist ASEAN Außenpolitik. Daher

22 | Webseite des Außenministeriums der Republik Indonesien: http://www.deplu.go.id/pages/news.aspx?IDP=3104&1=en [02.12.2010] (Übers. d. Red.).23 | Lilian Budianto, „ASEAN presence a prerequisite in any future Asia Pacific community‟, in: Jakarta Post, 01.05.2010, 3 (Übers. d. Red.).24 | Ebd.25 | „U.S. and China vie to win over Jakarta‟, in: International Herald Tribune, 10.11.2010, 1.

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Als einziges G-20-Land aus dem Kreis der ASEAN versucht Indonesien, sich als Sprachrohr und Verteidiger der Interessen aller Entwicklungsländer zu positionieren.

konnte sich Jakarta bis heute nicht aus dem hausgemachten Dilemma befreien, einerseits den politischen Anspruch zu erheben, die treibende Kraft des ASEAN-Prozesses sein zu wollen, um dann gleichzeitig – aller Rhetorik zum Trotz – eine völlig gegensätzliche, von Nationalismus und Protek-tionismus geleitete Treibanker-Politik zu verfolgen, die alle Bestrebungen zur Weiterentwicklung ASEANs hin zu einer ernst zu nehmenden politischen, wirtschaftlichen und Wertegemeinschaft hemmt und verlangsamt. Der Füh- rungsanspruch Indonesiens im ASEAN-Prozess wird daher auch von vielen einheimischen Experten kritisch beurteilt oder gleich gar nicht ernst genommen.

DIE WELT UND INDONESIEN: INNENANSICHTEN EINES HETEROGENEN INSELREICHES

Indonesien ist sich seiner gewachsenen internationalen Bedeutung durchaus bewusst, und dieses neue Selbst-bewusstsein hat vor allem durch die Zugehörigkeit zum Kreis der G-20 einen Schub erfahren. Dort agiert das Land mit der weltweit viertgrößten Bevölkerung nicht mehr verhalten und beobachtend, sondern nimmt Positi-onen ein und wird auch initiativ tätig. Nicht von ungefähr

betont die Regierung Yudhoyono, sie erachte den Kreis der G-20 als das am meisten Erfolg versprechende internationale Instru- ment zur Gestaltung globaler Wirtschafts-prozesse und zur Prävention kommender

globaler Wirtschafts- und Finanzkrisen. Als einziges G-20-Land aus dem Kreis der ASEAN nutzt Indonesien seine Chance als Vertreter der gesamten Region Südostasien und versucht zudem, sich als Sprachrohr und Verteidiger der Interessen aller Entwicklungsländer zu positionieren. Konkret will sich die indonesische Regierung besonders für eine Einbeziehung der Nicht-G-20-Staaten in die internati-onal koordinierten Aktionen der G-20 einsetzen, vor allem um beggar-thy-neighbor-Situationen vorzubeugen.

Die Teilhabe am Club der Entscheider und die gleichzeitig als statisch empfundene Entwicklung der ASEAN hat in Indonesien eine Diskussion in Fachzirkeln in Gang gesetzt, ob die G-20-Mitgliedschaft wichtiger sei als ASEAN und Indonesiens G-20-Engagement möglicherweise langfristig

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Nicht nur in Fachkreisen setzt sich die überzeugung durch, dass die indone-sische Außen- und ASEAN-Politik den Bürgern besser vermittelt werden muss.

ASEAN ersetzen könne. Erstaunlicherweise lassen in diesem Zusammenhang sogar außenpolitische Experten den Umstand außer Acht, dass die G-20 als weltweites Forum zur Koordination von Wirtschaftspolitiken überhaupt nicht mit einer Staatengemeinschaft wie der ASEAN vergleichbar ist, da beide Organisationen völlig unter-schiedliche Aufgaben wahrnehmen.

Mit einem gewissen Stolz verweisen indonesische Wirt-schaftsexperten darauf, dass in einer Atmosphäre der welt-wirtschaftlichen Stagnation einzig China, Indien und Indo-nesien ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum erzielen. Für Indonesien werden immerhin über sechs Prozent Wachstum im Jahr 2010 erwartet. Zugleich weist die indonesische Wirtschaft einen relativ hohen Selbstver-sorgungsgrad auf und hat sich im Rahmen der jüngsten Finanzkrise als weniger verwundbar erwiesen als die der großen Export- und Importnationen. Viele Indonesier aus der Bildungsschicht sind sich dieser Entwicklung durchaus bewusst, so dass heute insbesondere in Regierungsstellen und im politischen Leben des Landes eine Art neuer Nati-onalstolz spürbar ist. Hier herrscht die Auffassung, Indo-nesien brauche keine ausländische Hilfe – vor allem nicht aus dem Westen.

In der breiten Bevölkerung nimmt man vom G-20-Ge-schehen kaum bis keine Notiz. Die einheimischen Print- und Rundfunkmedien berichten – wenn überhaupt – nur rudimentär über die Treffen der G-20. Nur eine relativ kleine Schicht der Bevölkerung weiß überhaupt mit dem Begriff G-20 etwas anzufangen und ist sich zudem noch der Mitgliedschaft des eigenen Landes im Kreis der größten Wirtschaftsmächte bewusst. Dies gilt im Kern auch für die Wahrnehmung des ASEAN-Prozesses, wenngleich ASEAN allein schon aufgrund ihrer 40-jährigen Existenz einen weitaus höheren Bekanntheitsgrad aufweist.

Doch setzt sich nicht nur in Fachkreisen die Überzeugung durch, dass die indonesische Außen- und ASEAN-Politik den Bürgern besser vermittelt werden muss. Vor allem darf sich das indonesische Engagement in der ASEAN nicht als ein Selbstzweck darstellen, sondern muss die Frage nach dem

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cui bono klar beantworten mit einer Politik zum Nutzen des Volkes.26 Dieses durch politisches Handeln unterfütterte Werben für eine effiziente ASEAN-Gemeinschaft ist auch deshalb besonders notwendig, da Nationalismen sowohl in Indonesien als auch in den Nachbarländern aufgrund der jeweiligen Kolonialgeschichte und der noch – relativ – jungen Eigenstaatlichkeiten durchaus als positiv gewertet werden und insbesondere gegenüber den direkten Nach-barn starke Vorurteile die Meinungsbilder auf allen Seiten beherrschen.

26 | So stellt Evi Fitriani vom Department of International Relations der Universitas Indonesia fest: „Community building is a long process that requires the participation of not only elites but also the common people at the grass-root level. Without the involvement of the people, the ASEAN Economic Community (AEC), ASEAN Political and Security Community (APSC) and ASEAN Social and Cultural Community (ASSC) are likely to remain empty political slogans.‟ Asia Views, Vol. IV, № 6, 10-11/2010, 6.

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Norbert Beckmann-Dierkes / Johann C. Fuhrmann

Pro-Kopf-Einkommen, Bildungsgrad, Lebenserwartung: Seit Jahren ist Norwegen Spitzenreiter bei der Entwick-lungsstudie der Vereinten Nationen.1 Im jüngsten Human Development Report 2010 konnte Norwegen seine Position erneut behaupten. Auch bei der Geschlechtergleichstel-lung nimmt Norwegen der neuesten Studie des Weltwirt-schaftsforums (WEF) zufolge mit dem zweiten Rang eine Vorreiterposition ein.2 Aufgrund dieser attraktiven Vorraus-setzungen scheint es daher wenig verwunderlich, dass die Immigration nach Norwegen seit Jahren stark zunimmt – für viele Migranten ist Norwegen das Land der Träume.

Migration und Integration sind globale Phänomene der Weltgesellschaft: Die Zahl der Migranten wird heute auf etwa 200 Millionen Menschen geschätzt – ein Bruchteil davon, mehr als eine halbe Million, lebt in Norwegen. Die von der Schweizerischen Volkspartei initiierte „Ausschaf-fungskampagne‟, die Debatte um die Abschiebung von Roma und Sinti in Frankreich, der Erfolg von Geert Wilders und der rechts-liberalen Partij voor de Vrijheid in den Niederlanden und die jüngste deutsche Integrationsde-batte belegen, dass das Thema Migration einen festen Platz auf der politischen Agenda in Europa erlangt hat.

1 | Vgl. United Nations 2010, Human Development Index, http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete.pdf [10.01.2011].2 | Vgl. World Economic Forum 2010, The Gender Gap Report, http://www.weforum.org/pdf/gendergap/rankings2010.pdf [10.01.2011].

EINWANDERUNGSLAND NORWEGEN – DEMOGRAFISCHE TRENDS UNDPOLITISCHE KONzEPTE

Norbert Beckmann-Dierkes ist Referent der Konrad-Adenauer-Stiftung für Mittel- und Osteuropa. Er wohnt in Norwegen.

Johann C. Fuhrmann, Team Europa und Nordamerika, hat an der London School of Economics und der Sciences Po in Paris Internationale Politik studiert.

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In unterschiedlichen Ländern variieren Umgang und Erfah-rungen mit Migration. Das norwegische Beispiel scheint hierbei in besonderer Weise bemerkenswert: Die Zahl der Einwanderer in Norwegen ist innerhalb kurzer Zeit stark angestiegen. Seit 1970 hat sich ihre Zahl fast verzehnfacht. Ungewöhnlich ist auch der hohe Anteil an Flüchtlingen. Anfang 2010 verfügten 3,1 Prozent der norwegischen Bevölkerung über einen Flüchtlingshintergrund. Zugleich zeigen die jüngsten Wahlerfolge der Fremskrittpartiet (FrP), dass das Thema Einwanderung nun auch auf der politischen Agenda Norwegens angekommen ist. Welche Trends sind feststellbar? Wie wird man Norweger? Und wie spiegelt sich die verstärkte Immigration in der Politik Norwegens wider?

DIE UMKEHR DER GESCHICHTE: VON EMIGRATION zU IMMIGRATION

Vor hundert Jahren war die Emigration aus Norwegen und nicht Einwanderung das Thema. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten laut Schätzungen bereits eine Million

Norweger ihre skandinavische Heimat in Richtung Vereinigte Staaten von Amerika verlassen. Der Wunsch nach dem Erwerb fruchtbaren Agrarlandes und eine aktive amerikanische Anwerbung von Einwanderern waren entscheidende Migrationsfaktoren.

Aber ähnlich wie bei den Passagieren der Mayflower spielte zumindest anfänglich auch Religionsfreiheit eine Rolle: Cleng Peerson, ein norwegisch-amerikanischer Pionier, sprach wie viele andere Migranten aktiv Landsleute an, um sie von der Umsiedlung nach Amerika zu überzeugen. Peerson war 1821 gemeinsam mit Knud Olsen Eide im Auftrag einer Glaubensgemeinschaft der Quäker aus Stavanger nach Amerika gereist, um die Möglichkeit einer Übersiedlung zu erkunden. Handbücher und Zeitschriften wurden in Umlauf gebracht, um weitere Norweger zur Ausreise zu bewegen. Die wohl berühmteste dieser Schriften ist Ole Rynnings Sandfaerdige Beretning om Amerika (True Account of America), die 1838 in Norwegen erschien und das Leben der Exilnorweger in Amerika auf idealisierte Weise nachzeichnete.

Der Wunsch, fruchtbares Agrarland zu erwerben, und die amerikanische An- werbungspolitik waren entscheidende Migrationsfaktoren. Auch Religions-freiheit spielte eine Rolle.

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Die Anwerbung von Migranten fiel zu dieser Zeit in Norwegen auf fruchtbaren Boden: Die ökonomische Situ-ation verschlechterte sich, Ackerland wurde knapp und die Einführung neuer Technologien in der Landwirtschaft führte zu einem Überangebot an Arbeitskräften. Die politi-schen Gegebenheiten in den USA erhöhten die Attraktivität des Landes für Zuwanderer: Der Homestead Act von 1863 erlaubte es jeder Person, die das 21. Lebensjahr erreicht hatte, sich auf einem Stück Land (bis zu 160 acres) nieder-zulassen und es zu bewirtschaften. Besonders Minnesota und North Dakota waren Ziel norwegischer Einwanderung in die USA. Ihren Höhepunkt erreichte die Auswanderungs-welle in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als zehn bis fünfzehn Prozent der Gesamtbevölkerung Norwegen verließen. Erst nach dem Ende der Great Depression kam die Emigration zum Erliegen.

Ermöglicht durch die Erschließung seiner Gas- und Ölre-serven, hat Norwegen innerhalb kurzer Zeit eine enorme ökonomische Entwicklung vollzogen. Aus einem der ärmeren westeuropäischen Staaten, dessen Volkswirt-schaft primär durch Schifffahrt, Fischfang, Agrar- und Forstwirtschaft geprägt war, ist eines der reichsten Länder der Welt geworden. Heute repräsentiert der private Dienst-leistungssektor 35 Prozent des Festlands-BIP in Norwegen. Für lange Zeit war Norwegen sowohl ethnisch als auch reli-giös gesehen eine relativ homogene Gesell- schaft. Aufgrund einer hohen Geburtenrate und verstärkter Einwanderung hat sich die norwegische Bevölkerung zwischen 1900 und 2010 von 2,21 Millionen auf 4,9 Milli-onen mehr als verdoppelt. Lebten 1970 nur 59.000 Migranten in Norwegen3, hat sich deren Anzahl innerhalb weniger Dekaden auf über 550.000 nahezu verzehnfacht. Somit sind elf Prozent der heutigen Bevölkerung entweder Migranten oder haben einen Migra-tionshintergrund. Fünfunddreißig Prozent der in Norwegen lebenden Migranten haben die norwegische Staatsbürger-schaft.

3 | Vgl. Vebjørn Aalandslid, „A Comparison of the Labour Market Integration of Immigrants and Refugees in Canada and Norway‟, in: Statistics Norway Reports 2009/31, 30.

Die Anzahl der Migranten hat sich innerhalb weniger Dekaden nahezu verzehnfacht. Elf Prozent der heutigen Bevölkerung sind entweder Migranten oder haben einen Migrationshinter-grund.

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Insgesamt stellen polnische Immigran-ten die größte Einwanderungsgruppe. Seit der EU-Osterweiterung ist ihre zahl stark angestiegen.

Einen gewissen Zustrom von Flüchtlingen hatte Norwegen bereits durch Kriege und Vertreibung erfahren: Juden aus Osteuropa kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Flüchtlinge aus Ungarn in den fünfziger Jahren. Der wachsende Migrationszustrom begann jedoch, wie in den meisten anderen europäischen Staaten, in den sechziger und siebziger Jahren. Es waren primär Arbeitseinwanderer aus Asien, besonders aus Pakistan, die nach Norwegen kamen. Die Einwanderungswelle aus Asien hielt bis in die siebziger Jahre an und führte dazu, dass Menschen mit

pakistanischem Migrationshintergrund heute die größte Gruppe der nicht europäischen Migranten stellen. Heute leben über 30.000 Menschen mit pakistanischen Wurzeln in Norwegen. Insgesamt stellen jedoch polni-

sche Immigranten mit knapp 45.000 Personen die größte Einwanderungsgruppe, was einem Bevölkerungsanteil von 0,9 Prozent entspricht. Seit der Osterweiterung der Europäischen Union im Jahre 2004 ist die Zahl polnischer Einwanderer stark angestiegen. Vor allem Handwerker und Facharbeiter zieht es nach Norwegen, wo die Löhne wesentlich höher sind als in der Heimat. Zunehmend entscheiden sich diese Arbeiter für eine Umsiedlung nach Norwegen und für die norwegische Staatsbürgerschaft. Weitere große Migrationsgruppen kommen aus Schweden (ca. 29.000), dem Irak (ca. 25.000), Somalia (ca. 24.000), Deutschland (ca. 21.000) und Vietnam (ca. 20.000).

Vor allem in der Hauptstadt gibt es eine sehr internationale Zusammensetzung der Bevölkerung. Laut des staatlichen Amts für Statistik (Statistisk sentralbyrå – SSB) haben 160.500 Personen in Oslo einen Migrationshintergrund. Bei einer Bevölkerung von 587.000 Einwohnern entspricht dies 27 Prozent. Einen hohen Bevölkerungsanteil mit Migra-tionshintergrund gibt es auch in Drammen (22 Prozent), Lørenskog (19 Prozent) und Skedsmo (18 Prozent). Bei ca. 15 Prozent oder mehr liegt der Anteil in Stavanger, Askim, As, Træna, Rælingen, Moos und Bærum. 2009 erfuhr Oslo die höchste Nettoeinwanderung (6.200) gefolgt von Rogaland und Hordaland (jeweils 4.200) sowie Akershus (3.600). Von den nicht skandinavischen Einwanderern

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Da die Nachfrage nach Arbeitskräften in Folge der Finanzkrise zurückging, wurden weniger Arbeitserlaubnisse für Einwanderer aus dem Europäischen Wirtschaftsraum erteilt.

zwischen 1990 und 2008 kamen 24 Prozent als Flüchtlinge, 24 Prozent als Arbeitsemigranten und elf Prozent mit dem Ziel, einen Bildungsabschluss zu erwerben.4

Norwegen ist Mitglied des Schengenabkommens, das den freien Personenverkehr innerhalb der so genannten Schen-genstaaten vorsieht. Norwegen ist ebenfalls Vertragspartner des Dubliner Übereinkommens, das auf europäischer Ebene die Asylantragstellung in den Unterzeichnerstaaten regelt.

AKTUELLE TRENDS

2009 wurden 65.200 Einwanderer und 26.550 Auswan-derer registriert. Die Nettoimmigration lag mit 38.650 unter der des Vorjahres, war jedoch die dritthöchste, die je registriert wurde.5 Polen bildeten erneut die größte Migran-tengruppe (10.500), obwohl die absolute Zahl im Vergleich zum Vorjahr (13.000) deutlich abnahm, gefolgt von Schweden (6.000) und Einwanderern aus Litauen (3.200). Aus Estland kamen doppelt so viele Einwanderer wie im Vorjahr (1.100). Deutsche wanderten ebenfalls in gerin-gerer Anzahl nach Norwegen. Es waren nur noch 2.800 im Vergleich zu 4.300 im Vorjahr. Die Flüchtlingszahl aus Eritrea (1.700) und Afghanistan (1.400) verdoppelte sich im Vergleich zum Jahr 2008. Die Immigration aus Afrika lag zur Jahrtausendwende bei ca. 3.000 Personen pro Jahr, erhöhte sich auf 4.000, und lag 2009 bei 5.150. Die Zahl der Einwanderer aus Asien schwankte in den letzten Jahren zwischen 6.000 bis 9.000 und erreichte 10.300 im Jahr 2008 und 11.100 im Jahr 2009. Die Einwanderung aus Nord- und Südamerika lag in den letzten zwanzig Jahren zwischen 1.500 und 2.000 und stieg 2008 und 2009 leicht auf 2.400 an.

Da die Nachfrage nach Arbeitskräften im Herbst 2008 und im Frühjahr 2009 in Folge der Finanzkrise zurückging, wurden nach Angaben der Organisation für wirtschaft-liche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) weniger Arbeitserlaubnisse für Einwanderer aus dem Europäischen

4 | Vgl. Statistics Norway 2010, Immigration and immigrant, http://ssb.no/innvandring_en [10.01.2011].5 | Vgl. Statistics Norway 2010, High immigration and emmigra- tion 2009, 06.05.2010, http://ssb.no/english/subjects/02/02/ 20/innvutv_en [10.01.2011].

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Der Trend in Richtung höherer Abwan-derung und niedrigerer Einwanderung polnischer und deutscher Bürger be- gann zu Beginn der Finanzkrise und setzte sich verstärkt im ersten halben Jahr 2009 fort.

Wirtschaftsraum ausgesprochen.6 Die Ausstellung von Arbeitserlaubnissen an ausgebildete Fachkräfte aus Dritt-ländern ging ebenfalls zurück. Im Mai 2009 hob Norwegen die Übergangsregelungen, die es mit den acht Zentral- und Osteuropäischen Staaten, die 2004 der EU beige-treten sind, getroffen hatte, auf. Der Großteil qualifizierter Arbeiter außerhalb des Europäischen Wirtschaftraumes kam aus Indien, gefolgt von Russland, China, den USA und den Philippinen.

Mit den hohen Zahlen an Einwanderern ging 2009 ebenfalls eine hohe Zahl an Auswanderern einher. 26.550 Menschen verließen Norwegen, darunter 18.400 Ausländer. Dies stellt nach Angaben des staatlichen Amts für Statistik die höchste

je gemessene Zahl an ausländischen Immi-granten aus Norwegen dar, es waren 3.200 mehr als im Vorjahr und 6.000 mehr als im Durchschnitt der letzten zwanzig Jahre. Der Trend in Richtung höherer Abwanderung und niedrigerer Einwanderung polnischer und

deutscher Bürger begann Ende 2008 zu Beginn der Finanz-krise und setzte sich verstärkt im ersten halben Jahr 2009 fort. Zum ersten Mal stellten Polen die größte Gruppe der Auswanderer (3.600), gefolgt von Schweden (3.100). Die Finanzkrise und ganz allgemein also ökonomische Einflüsse machten das Gros der Emigrationsfaktoren aus. Unter den Norwegern spielten neben Arbeitsmigration auch andere Faktoren eine Rolle, beispielsweise Auslandsaufenthalte zu Bildungszwecken.

Die Anzahl der Asylbewerber ist im gesamten OECD-Raum seit 2006 wieder gestiegen. 2008 waren die USA mit 39.400 Zuzügen von Asylbewerbern das wichtigste Aufnah-meland, gefolgt von Frankreich, Kanada, dem Vereinigten Königreich und Italien, wo die Zahl der Asylsuchenden überall 30.000 überstieg.7 Umgerechnet auf die Bevölke-rungsgröße waren jedoch Norwegen, Schweden und die Schweiz die wichtigsten Aufnahmeländer. In Norwegen ist die Anzahl der Asylbewerber stark gestiegen und erreichte 2008 fast 14.500. Vorläufige Berechnungen für 2009

6 | Vgl. OECD 2010, „Recent changes in migration movements and policies‟, http://www.oecd.org/dataoecd/6/17/456294 32.pdf [10.01.2011].7 | Vgl. OECD 2010, „International Migration Outlook – SOPEMI 2010‟, 20.

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Norwegen führte 2009 Maßnahmen zur Angleichung des Asylrechts an die Regelungen anderer europäischer Staaten durch. ziel ist die Reduzierung nicht schutzbedürftiger Asylbewerber.

gehen von mehr als 17.200 Anträgen aus, und dies trotz der rückläufigen Bewerberzahl aus dem Irak. Die meisten Asylanträge kamen 2009 aus Afghanistan, Eritrea und Somalia. Im Juli 2009 führte die Regierung Maßnahmen durch, um das norwegische Asylrecht an jenes der anderen europäischen Staaten anzugleichen. Ziel ist es, die Anzahl von Asylbewerbern, die keinen Schutz benötigen, zu reduzieren und gleichzeitig die zur Zeit überproportionale Anzahl an Immi granten derjenigen der EU-Staaten anzugleichen.

WIE WIRD MAN NORWEGER?

Nach Angaben der norwegischen Einwanderungsbehörde (Utlendingsdirektoratet/UDI) müssen zum Erwerb der norwegischen Staatsbürgerschaft grundsätzlich folgende Vorraussetzungen erfüllt werden:

▪ Nachgewiesene oder unzweifelhafte Identität ▪ Mindestalter 12 Jahre (und vor Vollendung des 18. Lebensjahres Zustimmung der Eltern)

▪ Wohnsitz in Norwegen und beabsichtigte Beibehaltung dieses Wohnsitzes

▪ Erfüllung der Vorraussetzungen für die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung (Personen mit einer Arbeits- oder Aufenthaltserlaubnis nach EWR-/EFTA-Bestimmungen sind hiervon ausgenommen)

▪ Insgesamt sieben Jahre Aufenthalt in Norwegen im Laufe der letzten zehn Jahre

▪ Unbescholtener Lebenswandel ▪ Verlust bzw. Aufgabe der alten Staatsbürgerschaft.8

Anders als in den Vereinigten Staaten von Amerika reicht die Geburt in Norwegen nicht aus, um Norweger zu werden. Hierzu muss mindestens ein Elternteil die norwegische Staatsbürgerschaft innehaben. Seit dem 1. September 2006 muss der Vater nicht mehr mit der Mutter des Kindes verheiratet sein. Kinder unter 18 Jahren, die von Norwe-gern adoptiert werden, erhalten seit 2006 automatisch die Staatsbürgerschaft. Seit dem 1. September 2008 müssen

8 | Vgl. Norwegian Directorate of Immigration, „Citizenship‟, 15.04.2010, http://udi.no/Global/upload/Publikasjoner/Fakta Ark/Faktaark_Statsborgerskap_Citizenship_EN.pdf [10.01.2011].

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ausreichende Sprachkenntnisse nachgewiesen werden, die durch einen Sprachkurs im Umfang von dreihundert Stunden abgedeckt werden können.

2009 wurden insgesamt 11.400 neue Staatsbürgerschaften an Ausländer vergeben. Darunter stellten Menschen aus Somalia die größte Gruppe dar (1.700), gefolgt von ehemaligen Bürgern des Irak (1.270) und Afghanistans (860). Ungefähr die Hälfte der Staatsbürgerschaften ging an Asiaten. Die zweitgrößte Gruppe waren Afrikaner, die 25 Prozent ausmachten. Bürger aus anderen europäischen Staaten machten 21 Prozent aus. Seit 1977 wurden ca. 225.000 Personen eingebürgert, mehr als siebzig Prozent davon stammen nicht aus Europa.

Am 1. Januar 2010 trat ein neues Einwanderungsge-setz in Kraft. Die separaten Arbeits- und Aufenthaltsge-nehmigungen wurden durch eine einzige Genehmigung ersetzt, die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis einschließt. Durch das neue Gesetz wurden auch neue Kriterien bei der Immigration von Familien geschaffen. Diese bein-halten strengere Anforderungen an Einkommensnach-weise (finanzielle Unterstützung) und eine Erfordernis von vier Jahren Arbeitserfahrung und/oder Ausbildung in Norwegen. Im Falle der Einwanderung von Familien besteht die wesentliche Regelung darin, dass die Person, die in Norwegen wohnt, für das Jahr vor der Familien- zusammenführung ein ausreichendes Einkommen nach-weisen muss. Darüber hinaus muss belegt werden, dass ein entsprechendes Einkommen auch im folgenden Jahr zur Verfügung steht. Als zusätzliche Regel wurde einge-führt, dass die in Norwegen lebende Person im vorausge-gangenen Jahr keine Sozialhilfe empfangen haben darf. Dennoch gibt es einige Ausnahmen bezüglich der Erfah-rungsanforderungen, besonders für Familienangehörige aus dem Europäischen Wirtschaftsraum und für Arbeitsmi-granten. Personen aus dem europäischen Wirtschaftsraum (mit Ausnahme von Rumänien und Bulgarien) benötigen seit dem 1. Januar 2010 weder Aufenthaltsgenehmigung noch eine Arbeitserlaubnis. Entsprechende Personen müssen sich nach ihrer Ankunft anmelden (beispielsweise bei der Polizei) und erhalten eine unbeschränkte Beschei-nigung ihrer Registrierung in Norwegen.

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Opfer von Menschenhandel, die sich bereit erklären, gerichtlich als zeugen aufzutreten, sollen Aufnahmegeneh-migungen erhalten. ziel ist es, die ille- gale Einwanderung zu stoppen.

MIGRATION UND INTEGRATION ALS POLITISCHE THEMEN

Eine mit der deutschen Integrationsdebatte gleichzuset-zende Bedeutung hat das Thema Immigration in Norwegen bislang noch nicht, dennoch werden Integration und Migra-tion zunehmend in Politik und Medien diskutiert, besonders in Bezug auf die hohe Zahl an Flüchtlingen, die Norwegen in den vergangenen Jahren aufgenommen hat. Dem neuen Einwanderungsgesetz vom 1. Januar 2010 gingen bereits Maßnahmen voraus, die teils dem Schutz der eigenen Arbeitnehmer, teils aber auch dem Schutz der Migranten selbst dienen. Um die Ausbeutung ausländischer Arbeit-nehmer zu verhindern – und um norwegische Arbeitskräfte zu schützen – hat Norwegen 2008 neue Maßnahmen zur Bekämpfung von Sozialdumping eingeführt. Diese beinhalten vermehrte Inspektionen, gepaart mit Sankti-onen im Verweigerungsfall, strengere Einstellungsrege-lungen und die Einführung von Ausweisen für Arbeiter im Bausektor. Simultan wurde ein Aktionsplan ins Leben gerufen, der zum Ziel hat, Armut zu bekämpfen und Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu befördern. Hilfsmaßnahmen für die Opfer von Menschenhandel wurden ebenfalls beschlossen. So sollen Opfer von Menschenhandel, die sich bereit erklären, gerichtlich als Zeugen aufzutreten, Aufnahmegenehmigungen erhalten. Ziel der Maßnahmen ist es, die illegale Einwanderung nach Norwegen zu stoppen. Seit September 2009 können Ausländer, die freiwillig in Entwicklungsländer zurück-kehren, besondere Unterstützung in Anspruch nehmen. Gleichzeitig werden hochqualifizierte Ausländer weiter angeworben. So ist es qualifizierten Ausländern nun möglich, sich für bis zu einem Jahr dauernde Aufenthalte in Norwegen zu bewerben, um die norwegische Sprache zu lernen oder um zusätzliche Qualifikationen/Abschlüsse zu erlangen. Simultan zu den Weiterbildungen können die Teilnehmer Teilzeitarbeit verrichten.

Die Fremskrittpartiet (FrP) hat mit ihren Forderungen nach einer Begrenzung der Immigration und einer Ausweisung krimineller Ausländer bei den Wahlen zum norwegischen Parlament (Storting) am 14. September 2009 beachtliche Erfolge erzielt. Mit 22,9 Prozent der Stimmen wurde die FrP

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Viele Kommunen wehren sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, da keine Verhältnismäßigkeit zwischen der zahl der Ausländer und der einheimischen Bevölkerung mehr gewährleistet sei.

zweitstärkste Fraktion. Dies belegt, dass das Thema Migra-tion in der Öffentlichkeit angekommen ist. Der neueste Migrationsbericht der OECD zitiert mehrere Studien, die zeigen, dass sich 70 Prozent der Bevölkerung in Norwegen für strenger kontrollierte und/oder reduzierte Einwande-rung aussprechen. Norwegen erreicht somit gemeinsam mit Deutschland, dem Vereinigten Königreich und den Niederlangen einen Spitzenwert in dieser Statistik.9 Andere Statistiken gehen von einer knappen Mehrheit für

strengere Einwanderungsregelungen aus.10 Dennoch sahen auch in dieser Umfrage 36 Prozent der Befragten in den Migranten eine Quelle gesellschaftlicher Unsicherheit. Viele Kommunen und kleinere Ortschaften wehren sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, da

keine Verhältnismäßigkeit zwischen der Zahl der Ausländer und der einheimischen Bevölkerung mehr gewährleistet sei. Die FrP hat sich teilweise auf populistische Art in die Debatte eingemischt, beispielsweise mit Forderungen einzelner Abgeordneter, gar keine Asylbewerber mehr in ihren Wahlbezirken aufnehmen zu wollen.

Das im Januar 2010 in Kraft getretene Einwanderungs-gesetz und andere Maßnahmen belegen, dass sich die rot-rote Koalitionsregierung unter dem Sozialdemokraten Jens Stoltenberg des Themas Einwanderungspolitik ange-nommen hat. Es kann sicherlich angenommen werden, dass die Politik der rot-roten Regierung darauf abzielt, den Einfluss der FrP zu reduzieren. So scheint es nahelie-gend, dass die Regierung das Thema Einwanderung nicht der FrP überlassen möchte, die dann künftig womöglich noch größere Wahlerfolge zu verzeichnen hätte. Die bishe-rigen Neuregelungen verfolgen die Ziele, Einwanderung zu begrenzen und Einwanderer ohne Aufenthaltsgeneh-migung abzuschieben. 2010 wurden illegale Einwanderer in großer Zahl abgeschoben. Bereits bis Mitte September sind 4.042 Personen aus Norwegen verwiesen worden. Am 11. September wurde eine Gruppe von 71 Personen mit Begleitung von Polizisten nach Serbien ausgeflogen.11

9 | Vgl. OECD 2010, Fn. 7, 118.10 | Vgl. Statistics Norway 2010, „Appreciate immigrants’ contri- bution to working life‟, http://ssb.no/english/subjects/00/01/ 30/innvhold_en [13.12.2010].11 | Vgl. Rolleiv Solholm, „More illegal immigrants expelled‟, The Norway Post, 12.09.2010, in: http://norwaypost.no/ news/more-illegal-immigrants-expelled.html [13.12.2010].

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Es gibt eine starke Diskrepanz bei der Einkommensverteilung zwischen Nor-wegern und westlichen Migranten auf der einen Seite sowie nicht westlichen Migranten auf der anderen Seite.

Stoltenberg äußerte die Hoffnung, dass die spektakuläre Zwangsausweisung zu mehr freiwilligen Ausreisen ille-galer Migranten führen würde. Als effektiv erwies sich die Einführung einer 48-Stunden-Regelung für Asylanträge aus bestimmten Ländern, hierzu gehören u.a. Serbien, Mazedonien und Montenegro. Personen aus diesen Ländern werden interviewt und von der Polizei außer Landes verwiesen, falls kein Schutzbedarf vorliegt. Mitte September 2010 hatte dies bereits dazu geführt, dass Schweden 4.000 Asylbewerber aus Serbien erhalten hatte, Norwegen 178.

Für die meisten nicht europäischen Ausländer ist der Weg ins norwegische „Paradies‟ insgesamt länger und stei-niger geworden. Die Norweger stehen Immigration aus europäischen Ländern wesentlich positiver gegenüber als der Migration von Menschen aus Drittländern. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass diese Gruppe die Asylbewerber umfasst, die oftmals weniger gebildet sind und häufiger nicht am Arbeits-markt partizipieren. Es gibt eine starke Diskrepanz bei der Einkommensverteilung zwischen Norwegern und westli-chen Migranten auf der einen Seite sowie nicht westlichen Migranten auf der anderen Seite. Fünfzehn Prozent der aus Afrika stammenden Migranten waren im dritten Quartal 2010 arbeitslos, unter den Westeuropäern lag die Quote bei 3,6 Prozent.12 So beschreibt der Migrationsbericht der OECD die Lage vieler ausländischer Arbeiter in Norwegen als vergleichsweise misslich: Im Verhältnis zu den einhei-mischen Norwegern sind sie mehr als doppelt so häufig arbeitslos. Im August waren 7,9 Prozent der Migranten ohne Arbeit, in der übrigen Bevölkerung lag die Arbeits-losenquote bei 2,3 Prozent.13 Diese Diskrepanz offenbart auch, dass Norwegen trotz seines hohen Lebensstandards nicht als Musterbeispiel für gelungene Immigration gelten kann. Die ungleiche Verteilung des Lebensstan-dards ist auch in Norwegen Realität, wie es sich bei- spielsweise in der Wohnsituation vieler nicht westlicher Einwanderer widerspiegelt. 17 Prozent von ihnen lebten

12 | Vgl. Statistics Norway 2010, „Still growth in immigrant unem- ployment‟, 04.11.2010, http://ssb.no/english/subjects/06/03/ innvarbl_en [13.12.2010].13 | Ebd.

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Um Nachteilen bei der Arbeitssuche vorzubeugen, ist angedacht, Stellen-bewerbungen zu anonymisieren – so wären weder Name noch Foto sichtbar.

2008 in Wohnungen unter 50 m² – bei Norwegern liegt die Quote bei vier Prozent. Mehr als die Hälfte der nicht westlichen Einwanderer lebte gleichzeitig in Haushalten mit mehr als zwei Personen, in denen nicht jede Person über ein eigenes Zimmer verfügte. Um Diskriminierung zu vermeiden und die Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, hat Høyre, die norwegische Partnerpartei der

CDU, einige Angebote unterbreitet. Auf dem Parteitag im Mai 2010 fand beispielsweise der Vorschlag Zustimmung, Bewerbungsver-fahren neu zu regulieren. Um einem mögli-chen Bewerbungsnachteil von Menschen,

deren Name auf einen Migrationshintergrund schließen lässt, vorzubeugen, ist angedacht, Stellenbewerbungen zu anonymisieren. Weder Name noch Foto wären dann noch sichtbar.14 Die Debatte über eine Reduzierung der Immigration entzündet sich in letzter Zeit vermehrt an Themen wie der Überrepräsentation von Ausländern in der Kriminalstatistik oder der Tatsache, dass einige Schulen in den großen Städten (besonders in Oslo) über mehrheitlich auslän dische Schüler verfügen.

Konflikte, die man nicht austrägt, werden ernster. In diesem Sinne ist es erfreulich, dass in Norwegen eine Debatte zum Thema Integration entsteht. Es ist wichtig, diese Debatte sachlich zu führen. Warnungen vor einer Islamisierung Norwegens, wie sie von der FrP lanciert werden, entsprechen nicht der Realität. Nur jeder dritte Immigrant kommt aus einem mehrheitlich muslimischen Land, wie Statistiken der Norwegian Christian Intercultural Association und des staatlichen Amts für Statistik belegen. Nicht einmal 100.000 Muslime leben derzeit in Norwe-gen.15 Einwanderungspolitik ist zum festen Bestandteil der politischen Agenda geworden und es ist höchst wahr-scheinlich, dass dieser Themenkomplex bei den Wahlen 2013 eine ernsthafte Rolle spielen wird. In der Migrations-politik nimmt Høyre liberal-konservative Positionen ein.

14 | Vgl. Fiona Weber-Steinhaus und Andreas M. Klein, „Erna Solberg als Vorsitzende von Høyre bestätigt‟, KAS-Länder- bericht, 11.05.2010, in: http://www.kas.de/wf/doc/kas_ 19599-1522-1-30.pdf [22.12.2010].15 | Vgl. Statistics Norway 2009, „Members of religious and life stance communities outside the Church of Norway 2006- 2009‟, http://ssb.no/english/subjects/07/02/10/trosamf_en/ arkiv/tab-2009-12-09-02-en [10.01.2011].

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Die meisten Schengen-Staaten wollen Arbeitsmigration erleichtern und die Gewährung von Asyl und Familienzu-sammenführungen erschweren. Dies ist auch in Norwegen der Fall.

Bisher haben alle konservativen Parteien eine Koopera-tion mit der Fremskrittspartiet ausgeschlossen. Sollte es Høyre nicht gelingen, die FrP von ihren extrem rechten und populistischen Positionen abzubringen, scheint eine direkte Zusammenarbeit auf Regierungsebene auch in Zukunft nicht angezeigt. Im Falle einer Mehrparteienko-alition wäre es dann ohnehin mehr als fraglich, wie ein politischer Konsens zwischen potentiellen Bündnisparteien wie der Christlichen Volkspartei (KrF), den Sozialliberalen (Venstre) und der FrP erzielt werden sollte. Die polemi-sche Debatte in Frankreich hat die Risiken aufgezeigt, die bestehen, wenn Migrationsphänomene zum Spielball der Politik werden. Es bleibt zu hoffen, dass sich der Diskurs in Norwegen zu einer seriösen Auseinandersetzung entwi-ckelt, wozu Høyre und die Christliche Volkspartei weiterhin konstruktive Beiträge liefern können.

Eine umfassende Harmonisierung der Einwanderungspo-litik innerhalb der Europäischen Union bzw. des Schengen-Raumes ist bis heute nicht gelungen: Quoten, gesteuerte Zuwanderungspolitik, Abkommen je nach Berufsgruppe, massive oder diskrete Legalisierung – all das geschieht innerhalb Europas ohne tief grei-fende Abstimmung zwischen den Staaten, je nach den eigenen Bedürfnissen, der poli-tischen Stimmung oder den ökonomischen Erfordernissen. Die Mehrzahl der Schengen-Staaten tendiert momentan dazu, die Arbeitsmigration zu erleichtern und die Gewährung von Asyl und Familienzu-sammenführungen zu erschweren. Dies ist, wie gezeigt, auch in Norwegen der Fall, obwohl gerade hier bisher über-proportional viele Asylbewerber aufgenommen wurden. Selbstverständlich sind Maßnahmen zur Kontrolle von Einwanderung wichtig und notwendig, aber übertriebene Sicherheitspolitik fördert die illegale Zuwanderung. Es gibt in Norwegen keine Invasion von Migranten, sondern eine Kluft zwischen dem bisher oberflächlich geführten Diskurs und der Realität. In Deutschland, wo die Regierung in jüngster Zeit Maßnahmen zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse verabschiedet hat, belief sich der durch den Fachkräftemangel erlittene Schaden der Ökonomie nach Angaben des Wirtschafts ministeriums allein 2009 auf fünf-zehn Milliarden Euro. Ein ernsthafter Diskurs ist von Nöten, im Idealfall sollte es ein europaweiter sein.

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Klaus D. Loetzer / Anja Casper

Auf das Wunder folgte die Realität: Als mit fünfjähriger Verspätung am 31. Oktober 2010 die erste Runde der Präsi-dentschaftswahlen in der Côte d’Ivoire friedlich und ohne technische Probleme abgehalten wurde, glaubten viele, dass sich das Schicksal des Landes auf wundersame Weise endlich zum Guten gewendet hätte. Doch schnell folgte Ernüchterung. Nach der Stichwahl am 28. November haben sich beide Kandidaten als Präsidenten vereidigen lassen und ihre Regierung sowie die dazugehörigen Premier- minister ernannt.

Laurent Gbagbo, 65 Jahre alt, ist Sozialist, Führer der FPI und seit seiner umstrittenen Wahl im Jahr 2000 im Präsi-dentenamt. Er ging als Kandidat des Parteienbündnisses LMP in die Stichwahl. Als amtierender Staatspräsident hat er Zugriff auf die Institutionen und Organe des Landes wie Finanzverwaltung und Staatsfernsehen. Vor allem weiß er auch die ivorischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte wie Militär und Polizei hinter sich. Er regiert vom Präsiden-tenpalast aus, ist aber international isoliert. Der westafri-kanische Wirtschaftsverbund CEDEAO hat die Côte d’Ivoire suspendiert, die westafrikanische Zentralbank BCEAO mit Sitz in Dakar/Senegal hat Gbagbo die Verfügungsgewalt über die Finanzen der ivorischen Zentralbank entzogen.

Nach deN PräsideNtschafts-wahleN iN der côte d’ivoireKaNN die Politische Krise Noch mit diPlomatischeN mittelN gelöst werdeN?

Klaus D. Loetzer ist Leiter des Regional-programms Politischer Dialog Westafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Cotonou, Benin.

Anja Casper, Refe- rentin für Evaluierung der Europäischen und Internationalen Zusammenarbeit, war von 2008 bis 2010 für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Benin tätig.

Abk.: CEI – Commission Électorale Indépendante (Unabhängige Wahlkommission), CC – Conseil Constitutionnel (Verfassungs- rat), RHDP – Rassemblement des Houphouétistes pour la Démocratie et la Paix, LMP – La Majorité Présidentielle, FPI – Front Populaire Ivoirien, RDR – Rassemblement des Républi- cains, PDCI – Parti Démocratique de Côte d’Ivoire

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Ex-Premier minister Ouattara1, 67 Jahre alt, international anerkannter Ökonom und Vorsitzender des RDR, ging als Kandidat des Parteienbündnisses RHDP2 in der zweiten Runde ins Rennen, ein Wahl-Zweck bündnis mehrerer Parteien, die sich als Erben des Staatsgründers und Lebzeit-präsidenten Félix Houphouët-Boigny verstehen.3 Zum Parteienbündnis gehört auch die PDCI des in der ersten Runde Drittplazierten früheren Staatspräsidenten Bédié,4 der für die Stichwahl einen Großteil seiner Anhänger für Ouattara mobilisieren konnte und damit den Wahlsieg Ouattaras ermöglichte. Allerdings reichte der Schulter-schluss der im RHDP vertretenen Parteien nicht aus, um sich bereits in der ersten Runde auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen. Ouattara wird von der gesamten internationalen Staatengemeinschaft als Wahlsieger aner-kannt, einschließlich des UN-Sicherheitsrates. Zusätzlich hat er noch die Unterstützung der westafrikanischen Zent-ralbank BCEAO, dessen Chef er einmal war, und damit bis zu einem gewissen Grad Zugriff auf die Staatsfinanzen des Landes. Er regiert vom Hôtel du Golf aus, das von UN-Blauhelmen5 gesichert wird.

Abb. 1Präsidentschaftswahlen, 1. runde am 31.10.2010

Quelle: CEI (vom CC bestätigt), http://ceici.org/elections/docs/EPR_31102010_RESUL_PROVI_CEI_03112010_A4.pdf [14.12.2010].

1 | Premierminister 1990-1993 unter Félix Houphouët-Boigny.2 | Zusammenschluss der Houphouetionisten für Demokratie und Frieden.3 | Amtszeit 1960 bis 1993 (Tod).4 | Amtszeit 1993 bis 1999 (Putsch).5 | UN-Friedensmission ONUCI (Opération des Nations Unies en Côte d’Ivoire).0

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Abb. 2Präsidentschaftswahlen, stichwahl am 28.11.2010

Quelle: CC, http://news.abidjan.net/h/382101.html [14.12.2010].

Mit zwei proklamierten Präsidenten befindet sich die Côte d’Ivoire nach den Stichwahlen politisch weit hinter das Niveau zurückgeworfen, das man nach Beendigung des Bürgerkrieges 2007 erreicht zu haben glaubte. Vor allem hatte der sich anschließende Prozess, u.a. die Vorbereitung der Wahlen mit der Einigung auf eine Wählerliste und der einvernehmlichen Lösung der damit verbundenen heiklen Staatsbürgerfrage, große Hoffnungen geweckt, jedoch offensichtlich mehr bei der internationalen Gemeinschaft als bei den Ivorern selbst. Sonst hätten sie sich nicht schon vor dem ersten Wahlgang, verstärkt aber vor der Stich-wahl, mit Lebensmittel- und Benzinvorräten eingedeckt. Das Vertrauen in einen friedlichen Wahlausgang war ganz offensichtlich nicht vorhanden. Andererseits konnte sich aber auch kaum jemand vorstellen, dass es so schlimm kommen würde. Der Direktor des GIGA-Instituts für Afrika-Studien, Politikanalyst und Kenner der westafrikanischen Region, Andreas Mehler, schreibt dazu: „In den letzten dreieinhalb Jahren hatte ein Arrangement zum Zweck der Machtteilung zwischen Gbagbo und Ex-Rebellenführer Guillaume Soro relative Ruhe, jedoch nicht die erhoffte große Lösung gebracht. Diese Machtteilung war eindeutig für eine Übergangsperiode angelegt.‟6 Allerdings, so Mehler weiter, hatte wohl kaum jemand die Frage gestellt: „Übergang fein, aber wohin?‟

6 | Andreas Mehler, „Côte d’Ivoire: kein Ausweg durch Macht- teilung‟, GIGA Focus Afrika, Nr. 10/2010, 1, in: http://giga- hamburg.de/giga-focus/afrika [16.12.2010].

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RDR FPI PDCI RDR FPI PDCI

RHDP LMP RHDP LMP

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Ouattara Gbagbo Bédié Ouattara Gbagbo Bédié

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Bald könnte die lage der UN-Blauhelme selbst prekär werden. daran wird eine aufstockung um 500 mann nicht viel ändern.

esKalatioN der gewalt mit BürgerKriegs-ähNlicheN ZUstäNdeN

Angesichts des machtpolitischen Patts ist gegenwärtig die Lage in der Côte d’Ivoire äußerst angespannt. Bisher wurden trotz nächtlicher Ausgangssperre alleine nach offiziellen Angaben über 60 Menschen getötet, mehrere hundert Menschen wurden verletzt.7 Jeden Tag kommen neue Meldungen über Gräueltaten hinzu, nicht nur vom Ouattara-Lager, sondern von seriösen Quellen wie der UN-Menschenrechtskommis sarin Navi Pillay. Sie macht für die nächtlichen Tötungen und Verschleppungen liberiani-sche und angolanische Söldnertruppen verantwortlich, die logistisch durch Gbagbos Elitetruppe Garde Républicaine unterstützt werden. Gbagbo wiederum hat öffentlich und unmissverständ-lich den Abzug der ONUCI-Blauhelme sowie der französischen Unterstützungstruppe ge- fordert, da sie parteiisch seien. Seine Ordnungskräfte haben den provisorischen Amtssitz von Alassane Ouat-tara, das von ONUCI geschützte Hôtel du Golf, blockiert. UN-Patrouillen werden beschossen. Gbagbo-nahe bewaff-nete Studenten, die Jeunes Patriotes, bedrohen nachts ONUCI-Mitarbeiter in ihren Wohnungen. Bald könnte die Lage der UN-Blauhelme selbst prekär werden. Daran wird eine Aufstockung um 500 Mann, wie am 20. Dezember 2010 vom UN-Sicherheitsrat beschlossen, nicht viel ändern.

Die internationale Gemeinschaft unter Führung der UN – die EU, die USA, afrikanische Organisationen wie die Afrikani-sche Union (AU), der westafrikanische Wirtschaftsverbund CEDEAO und die westafrikanische Zentralbank BCEAO – stehen einmütig gegen Gbagbo und unterstützten Ouat-tara als rechtmäßig gewählten Präsident der Côte d’Ivoire.

Vermittlungsversuche der AU durch den südafrikani-schen Ex-Staatspräsidenten Thabo Mbeki und zuletzt den AU-Kommissionspräsidenten Jean Ping sind gescheitert. Die EU und die Vereinigten Staaten haben Sanktionen in Form von Reiseverboten für Gbagbo und seine engere Umgebung ausgesprochen. Es scheint aber, dass jede Maßnahme Gbagbo und sein Lager in dem Willen bestätigt, nicht zu weichen.

7 | Redaktionsschluss: 22. Dezember 2010.

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das gbago-lager weiß selbst, dass es das wahlergebnis durch manipulation herbeigeführt hat, hält diese manipu-lation aber für moralisch gerechtfer-tigt, ja geradezu geboten.

Die Gefahr einer Radikalisierung, auf die Mehler in seinem Beitrag hinweist, hat sich somit bereits zwei Wochen nach der Wahl eingestellt, nämlich dass „sich die bei den Wahlen unterlegene Seite nun erst recht radikalisiert‟.8 Paradox daran ist, dass sich die Majorité Présidentielle (LMP) nicht als Wahlverlierer sieht, obwohl sie es auf den ersten Blick ist. Auf den zweiten Blick wird es aber komplizierter. Bei einer Bevölkerungszahl von ca. 21 Millionen mit nur ca. 5,78 Millionen Wahlberechtigten – fast die Hälfte der Bevölkerung der Côte d’Ivoire ist minderjährig – relativiert

sich die durch einen Urnengang ermittelte Wahlmehrheit sehr schnell. Abgesehen von anderen Faktoren scheint das Gbagbo-Lager besonders auf diesen Umstand abzuheben. Da liegt die große Gefahr: Gbagbo und seine Unterstützer wissen selbst, dass sie das

Wahlergebnis durch Manipulation herbeigeführt haben. Sie halten diese Manipulation aber für moralisch gerechtfertigt, ja geradezu geboten, da sie sich der eigentlichen Mehrheit sicher sind. Und das obwohl viele Menschen, die von der Wahl aufgrund ihrer ungeklärten Herkunft ausgeschlossen worden waren, eher als Sympathisanten von Ouattara gelten. Mit dieser Gewissheit, und natürlich der Armee im Rücken, ist das Gbagbo-Lager bereit, sich gegen die ganze Welt zu stellen.

ParalleleN ZU simBaBwes diKtator mUgaBe?

Hinzu kommen weitere Faktoren. Einer ist die fixe Idee der wirklichen Befreiung von der Ex-Kolonialmacht Frank-reich. In dieser Frage weiß sich Gbagbo mit einem anderen Diktator, der eine Wahl verloren hat und gegen den Willen der internationalen Gemeinschaft an der Macht geblieben ist, einig: Robert Mugabe aus Simbabwe, ebenfalls Sozi-alist. Der arbeitet mit der gleichen Rhetorik und hat damit sein Land wirtschaftlich zugrunde gerichtet. Dieser Prozess hält in Simbabwe nun seit über zehn Jahren an und ist noch nicht zu Ende, obwohl das Volk im wahrsten Sinne des Wortes wirtschaftlich am Ende ist, was unter anderem durch den Rückfall auf Barter Trade-Praktiken (Tauschhandel) auf dem Lande belegt wird. Es gibt weitere Parallelen: Was für Mugabe Ex-Oppositionsführer Morgan

8 | Mehler, Fn. 6, 6.

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in der côte d’ivoire sind die ordnungs- und sicherheitskräfte, allen voran die elitetruppe garde républicaine, garant der machterhaltung gbagbos.

Tsvangirai (Wahlgewinner von 2008) ist, das ist Alassane Ouattara (Wahlgewinner von 2010) für Gbagbo. In beiden Fällen werden die politischen Gegner als Agenten des Westens gesehen, die fremde Interessen vertreten und nicht die wahren Anliegen des eigenen Volkes. Eine weitere Parallele würden Mugabe und Gbagbo nie anführen, sie ist aber offensichtlich. Es geht um handfeste Interessen: In beiden Fällen haben die Führer und ihre Begüns-tigten durch Korruption große Reichtümer angehäuft und Menschenrechtsverletzungen begangen. Nun müssen sie beim Verlust ihrer Macht mit einer Anklage vor dem Inter-nationalen Gerichtshof rechnen.

Man könnte geneigt sein, aus den Entwicklungen in Simbabwe eine Parallele abzuleiten, wie lange die jetzige Situation in der Côte d’Ivoire fortbestehen könnte. In Simbabwe kann man den Beginn der eigentlichen Krise auf etwa die Jahrtausendwende 1999/2000 datieren, also auf eine Zeitspanne von mehr als einem Jahrzehnt, wobei die Krise noch andauert. Allerdings ist ein Rückschluss, dass die jetzige Krise in der Côte d’Ivoire auch so lange anhalten könnte, unzulässig. In Simbabwe bestand eine vollkommen andere historische Ausgangslage, die durch den Befreiungskrieg mit der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1980 charakterisiert ist. In Simbabwe haben die sog. Securocrats, die Generäle der Ordnungs- und Sicher-heitskräfte wie Armee, Polizei und Geheim-dienste, die Lage fest im Griff, und Mugabe kann sich auf sie stützen. Natürlich sind sie in sich auch zerrissen, aber sie würden niemals zu Tsvangirai überlaufen. Davon hält sie ihr Selbstverständnis als Revolutionäre und Ex-Kämpfer des bewaffneten Befreiungskampfes ab. Auch in der Côte d’Ivoire sind die Ordnungs- und Sicherheitskräfte, allen voran die Elitetruppe Garde Républicaine, auch als Gard Présidentielle bekannt, der Garant der Machterhaltung Gbagbos. Aber hier endet der Vergleich schon. Denn mit Ausnahme vielleicht der Garde Républicaine ist diese Treue nicht zwangsläufig auf ewig ausgerichtet und daher nicht vergleichbar mit der Situation in Simbabwe vor einem anderen historischen Hintergrund.

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gbagbo, stolz auf seine bäuerliche her-kunft, nahm 1999 das erste mal an den Präsidentschaftswahlen teil. damals er- hielt er aber weniger als 20 Prozent.

Bis 2002 kamen Mitglieder der ivorischen Armee vorwiegend aus dem Norden. Gbagbo hat das gezielt geändert und die entscheidenden Kommandostrukturen und höheren Offiziersränge mit seinen Leuten besetzt. Das Regional-programm Politischer Dialog Westafrika (PDWA) der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Cotonou hatte Mitte November 2010 ein Regionalkolloquium mit Generalstabs-offizieren aus der Region organisiert, an dem auch zwei Vertreter aus der Côte d’Ivoire teilgenommen haben. Die Teilnehmer sind untereinander weiter in Kontakt mit ihren Kollegen aus Benin. Nach ihrer Einschätzung ist es durchaus möglich, dass es über kurz oder lang zu einem Putsch gegen Gbagbo kommen könnte. Dieser wäre höchstwahrscheinlich blutig, was unter anderem Gbagbo das Leben kosten könne. Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage: Wie konnte es zu dieser Situation kommen?

gBagBo UsUrPiert mit hilfe des verfassUNgs-rates die macht

Der bis zur Wahl amtierende Präsident Laurent Gbagbo ist eng mit dem politischen Schicksal der Côte d’Ivoire verbunden. Unter dem Staatsgründer und ersten Präsiden- ten der Côte d’Ivoire, Félix Houphouët-Boigny, musste der

sozialistische Studentenführer seine Kritik am Einparteienregime mit längeren Gefäng-nisaufenthalten bezahlen. Gbagbo, stolz auf seine bäuerliche Herkunft, nahm 1999 das erste Mal an den Präsidentschaftswahlen

teil, erhielt aber damals weniger als 20 Prozent der Stimmen. Nach seiner umstrittenen Wahl im Jahr 2000, bei der angeblich nur rund 37 Prozent der Bevölkerung ihre Stimme abgegeben hatten,9 war Gbagbo nie gewillt, die Macht wieder abzugeben. Sein Wille zur Macht wird von seiner ambitionierten Ehefrau Simone gestärkt, die auch in der sozialistischen Studentenbewegung aktiv war und der nachgesagt wird, dass sie nicht nur die treibende Kraft hinter ihrem Mann ist, sondern auch in Kriegsverbrechen während des ivorischen Bürgerkriegs

9 | Die Umstände sind umstritten. Es gab gewaltsame Ausschrei- tungen, nachdem sich zunächst General Robert Gueï, dann Laurent Gbagbo als Sieger präsentierten, bevor alle Stimmen ausgezählt waren. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Stimmenauszählung gestoppt wurde, obwohl eine höhere Wahlbeteiligung vorlag.

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gbagbo hatte kurz vor den wahlen explizit erklärt, er werde die macht nie-mals an die erben houphouët-Boignys abgeben.

verwickelt war. Auch wird sie beschuldigt, in den Mord an einem Journalisten verwickelt zu sein, der über Korrup-tion in der Côte d’Ivoire recherchierte.10 Gbagbo hatte die Wahlen seit Auslaufen seines ersten Mandats 2005 nicht nur acht Mal verschoben, sondern nun wenige Wochen vor dem Urnengang explizit erklärt, er werde die Macht niemals an die Erben Houphouët-Boignys abgeben. Um nichts dem Zufall oder dem demokratischen Willen des Volkes zu überlassen, hatte Gbagbo bereits im August 2009 die Ernennung seines Parteifreundes Paul Yao N’Dré zum Präsidenten des ivorischen Verfassungsrates CC veranlasst. Der Verfassungsrat ist nach den Bestim-mungen der Wahlgesetzgebung die letzte Instanz, die über Wahleinsprüche zu befinden und damit das amtliche Endergebnis zu verkünden bzw. zu bestätigen hat.

Durch die Ernennung von Paul Yao N’Dré zum Präsidenten des Verfassungsrates war es Präsident Gbagbo gelungen, den für den Wahlablauf strategischsten Posten mit einem Parteifreund zu besetzen. Damals war dieser Vorgang von allen Oppositionsparteien kritisiert und als starke Beein-trächtigung der Neutralität des Wahlprozesses empfunden worden. Allerdings war der Vorgang verfassungsrechtlich korrekt, da der bisherige Amtsinhaber das Ende seines Mandats erreicht hatte. Immer wieder wurde für die Ernennung von Paul Yao N’Dre das Argument angeführt, es müsse ein politisches Gegengewicht zur Unabhängigen Wahlkommission CEI geschaffen werden, da in dieser Kommission die Opposition die Oberhand habe und deren Vorsitzender, Youssouf Bakayoko, PDCI-Mitglied ist. Der Zusammensetzung der Wahlkommission hatte Gbagbo jedoch zugestimmt.11 Im Frühjahr 2010 hatte er die Wahl-kommission CEI aufgelöst. Erst seitdem ist Bakayoko deren Vorsitzender, und Gbagbo hätte die Kommission erneut auflösen können, wenn ihm Bakayoko zu parteiisch gewesen wäre.

10 | Vgl. z.B.: france24.com, „Affaire Kieffer – Simone Gbagbo entendue par des juges français à Abidjan‟, http://f24.my/ f2kVtl [14.12.2010].11 | So geschehen im Abkommen von Pretoria, das integraler Bestandteil des Abkommens von Ouagadougou 2007 wurde. Vgl. Radio France Internationale (RFI), „L’accord de Pretoria du 6 avril 2005‟, http://rfi.fr/actufr/articles/064/article_ 35315.asp [10.01.2011].

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es wurden in so vielen nördlichen Pro- vinzen die stimmen annulliert, bis gbagbo auf eine mehrheit von über 50 Prozent kam. auch die stimmen der in frankreich lebenden ivorer wurden für ungültig erklärt.

Nachdem Bakayoko den Sieg Ouattaras mit gut 54 Prozent in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag nach den Wahlen verkündet hatte, legte das Gbagbo-Lager Einspruch ein. Damit lag die letzte Entscheidung bei Gbagbos Partei-freund N’Dré.

Die gegenwärtige Situation in der Côte d’Ivoire zeigt in aller Klarheit das folgenschwere Defizit vieler afrikanischer Verfassungsdemokratien. Verfassungsorgane wie CEI und Verfassungsrat werden über ihren Vorsitzenden definiert und öffentlich wahrgenommen, nicht aber in ihrer Bedeu-tung als unabhängige Organe eines Rechtsstaates. Diese Schwäche ihrer Institutionen verwandelt viele afrikanische Staaten in reine Fassadendemokratien. Auch wird deutlich, dass es ein Fehler war, die entscheidenden Gremien wie CC und CEI nach parteipolitischen Gesichtspunkten zu besetzen. Die Forderung, CC und CEI mit unabhängigen Experten zu besetzen und somit nicht nur den Wahlprozess zu entpolitisieren, war jedoch von allen Parteien im Vorfeld der Wahlen abgelehnt worden.

wahlBeschwerdeN: arithmetiK vor iNhaltlicher PrüfUNg

Das Gbagbo-Lager hatte schon vor Verkündigung des Wahlergebnisses die Rechtmäßigkeit der Wahlen in vier nördlichen Regionen angezweifelt,12 die unter Kontrolle der

Forces Nouvelles stehen, und dann Donners-tagmorgen eine offizielle Wahlbeschwerde beim Verfassungsrat eingereicht. Daraufhin kassierte Yao N’Dré bereits am Donnerstag um 15 Uhr das Ergebnis der Wahlkommission, annullierte alle Stimmen in sieben nördlichen

Provinzen und erklärte Gbagbo zum Wahlsieger. Das kam insofern überraschend, als keine inhaltliche Überprüfung erfolgt war, was in dieser kurzen Zeit auch gar nicht möglich gewesen wäre. Es wurde also einzig und allein die Arithmetik bemüht, und in so vielen nördlichen Provinzen wurden die Stimmen annulliert, bis Gbagbo rein rechne-risch auf eine Mehrheit von über 50 Prozent kam. Das entspricht ca. 600.000 Wahlstimmen, etwa 13 Prozent der

12 | (1) Vallée du Bandama (Bouaké), (2) Savanes (Korhogo), (3) Worodougou (Séguéla) und (4) Denguelé (Odienné).

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die Bekanntgabe der wahlergebnisse scheiterte vor laufenden Kameras. der sprecher wurde von mitgliedern der wahlkommission aus dem gbagbo-lager mit gewalt daran gehindert.

abgegebenen Stimmen. Wären nur die Stimmen in den zunächst beanstandeten vier Provinzen annulliert worden, hätte Ouattara die Mehrheit behalten. Das hat der eigent-liche Held des ivorischen Wahldramas, der unerschrockene Sonderbeauftragte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen in der Côte d’Ivoire und Leiter der UN-Friedens-mission ONUCI, der Südkoreaner Youn-jin Choi, noch einmal öffentlich vorgerechnet.13 Auch die Stimmen der in Frankreich lebenden Ivorer wurden kurzerhand für ungültig erklärt.

Ein weiteres Argument des Verfassungsrates gegen die Rechtmäßigkeit des von der CEI verkündeten Ergebnisses war, die Wahlkommission habe das Ergebnis nicht in der vom Wahlgesetz vorgesehen Frist verkündet. Gerade dieser Bruch war aber durch das Gbagbo-Lager herbeige-führt worden. Da in der Unabhängigen Wahlkommission alle Parteien vertreten sind, konnten die Parteifreunde Gbagbos die Verkündung des Wahlergebnisses verzögern.

Normalerweise ist es üblich, dass bei strittigen Wahler-gebnissen die CEI im Konsens entscheidet. Das hat nicht zuletzt dafür gesorgt, dass die Bekanntmachung der Wahl-ergebnisse durch die Wahlkommission CEI an Dramaturgie kaum zu überbieten war. Laut Wahlgesetz müssen die Wahlergebnisse spätestens drei Tage nach Schließung der Wahllokale veröf-fentlich werden. Der späteste Termin war demzufolge Mittwochnacht, 24 Uhr. Der erste Versuch scheiterte Dienstagabend im Sitz der Wahlkommission vor laufenden Kameras nationaler (RTI) und internationaler TV-Stationen (RFI, BBC, CNN, Radio24). Als der Sprecher der CEI die ersten Teil-Wahl-ergebnisse verkünden wollte, intervenierten Mitglieder der Wahlkommission, die dem Gbagbo-Lager angehörten, und hinderten ihn mit Gewalt daran, die Ergebnisse zu verlesen. Vor laufenden Kameras entrissen sie ihm die Liste mit den Ergebnissen. Die anwesenden Sicherheitskräfte, Mitglieder der Garde Républicaine, griffen nicht ein. Im Gegenteil, das Gebäude wurde von Beobachtern, Journalisten und Fernsehkameras geräumt. Dieses Ereignis markierte das

13 | Vgl. „YJ Choi (ONUCI): ‚Pourquoi j’ai certifié les résultats du scrutin‛‟, in: Abidjan.net (Le Patriote), http://news.abidjan. net/h/382148.html?n=382148 [11.12.2010].

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Ende der Unabhängigen Wahlkommission, die sich in den letzten Monaten stets erfolgreich gegen die Einflussnahme Gbagbos gewehrt hatte.

Tabelle 1ergebnisse der Präsidentschaftswahlen 2010

1. runde31.10.2010

14

stichwahl28.11.2010

15

Bevölkerung (2008)16 ca. 20 Mio.

regionen 19 17

anzahl wahlbüros 19.854 20.073

wahlberechtigte 5.784.490 5.780.490

stimmen absolut in Prozent

1. runde stichwahl 1. runde stichwahl

abgegebene stimmen 4.843.445 4.689.366 83,73 81,12

Ungültige stimmen 225.624 99.147 4,66 2,11

Quellen: Wahlergebnisse der CEI 14, 151617

Die Unabhängige Wahlkommission konnte nur so lange „unabhängig‟ bleiben, wie sie dem Präsidenten Gbagbo genehme Ergebnisse lieferte, wie in der ersten Runde geschehen. Denn seit spätestens Montagabend kannte das Gbagbo-Lager das Wahlergebnis und wusste, dass ihr Kandidat verloren hatte. Sie versuchten nun mit allen Mitteln, die Veröffentlichung zu verhindern. Allerdings machte der Zwischenfall bei der Bekanntgabe der Ergeb-nisse deutlich, dass die CEI sich nicht vollständig unter die Kontrolle von Gbagbo hatte bringen lassen. Dass es den Gbagbo-Anhängern erst in letzter Minute und vor laufenden Kameras gelang, den Sprecher der CEI an der Verkündung der Ergebnisse zu hindern, schmälerte entsprechend auch nicht die Glaubwürdigkeit der von der CEI errechneten Resultate, auf die sich heute die internationale Gemein-schaft samt UN und AU berufen.

14 | Vgl. Übersicht detaillierter Wahlergebnisse, Commission Electorale Independante, http://ceici.org/elections/docs/ EPR_31102010_RESUL_PROVI_CEI_03112010_A4.pdf [14.12.2010].15 | Vgl. detaillierte Einzelergebnisse, Commission Electorale Independante, http://ceici.org/elections/docs/EPR2010_2T_ RESULTATS_VALEURS_02122010.pdf [14.12.2010].16 | Vgl. zu weiteren Eckdaten: „Die Côte d’Ivoire in Stichpunkten‟, http://kas.de/wf/de/71.6530 [14.12.2010].17 | Plus Metropole Abidjan und Diaspora (hauptsächl. Paris)

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die einmischung des sonderbeauf-tragten des UN-generalsekretärs, und damit die rolle der vereinten Natio-nen im Konflikt, hat für diskussionen gesorgt.

iNterNatioNale wahlBeoBachter erKläreN stichwahleN für demoKratisch

Unter Forcierung des UN-Vertreters machte die internati-onale Gemeinschaft Druck, die Wahlergebnisse zügig zu veröffentlichen. Damit sollte die prekäre Sicherheitslage verbessert und ein schneller Machttransfer an Ouattara ermöglicht werden. Neben den Vereinten Nationen hatten vor allem die 120-köpfige Wahlbeobachtermission der EU unter Leitung des rumänischen EU-Abgeordneten Chris-tian Preda und die Wahlbeobachter der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft CEDEAO unter Leitung von Prof. Théodore Holo, Präsident des beninischen Obersten Gerichtshofs, die Wahlen in der Öffentlichkeit als transpa-rent und fair bewertet. Holo sagte anlässlich einer Pres-sekonferenz: „Einige wenige Unregelmäßigkeiten können die Rechtmäßigkeit der gesamten Wahlen nicht in Frage stellen.‟18 Vor allem angesichts des deutlichen Wahlsiegs Ouattaras, möchte man hinzufügen.

Einige Stunden nach der Veröffentlichungsfrist gab der CEI-Vorsitzende Bakayoko im Hôtel du Golf vor der inter-nationalen Presse die Ergebnisse bekannt. Das ivorische Staatsfernsehen RTI war nicht anwesend. ONUCI-Chef Youn-jin Choi hatte 150 Blauhelme abgeordnet, um Bakayoko sicher ins Hôtel du Golf zu geleiten. Mit seinen fortgesetzten Interventionen zog sich Choi allerdings den Zorn des amtierenden Präsidenten Gbagbo zu. Der drohte, ihn wegen Einmischung in die inneren Angelegenheiten zur persona non grata zu erklären. Die Einmischung des Sonderbeauftragten des UN-General-sekretärs, und damit die Rolle der Vereinten Nationen im Konflikt, hat seitdem immer wieder für Diskussionen gesorgt. War es rechtmäßig, dass Choi sich so deutlich für den Sieg Outtaras aussprach? Chois besondere Rolle basiert auf dem Abkommen von Pretoria aus dem Jahre 2005.19 Laurent Gbagbo als Unterzeichner hat darin der Sonderrolle externer Institutionen zugestimmt und damit auch Souveränität der Côte d’Ivoire abgegeben. Das aber

18 | „Présidentielle/Observation de la mission de la CEDEAO – Pr Holo Théodore (Chef de mission) ‚Deux ou trois incidents ne peuvent pas invalider ces élections‛‟, in: IVOIRTV.net, http://ivoirtv.net/index.php/news/54-politique/545 [10.01.2011].19 | Vgl. Fn. 11.

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es zieht sich wie ein roter faden durch die handlungen von laurent gbagbo, gegebene Zusagen nicht einzuhalten.

war gerade eine conditio sine qua non, ohne die man niemals die Pattsituation hätte überwinden können. Nach Abschluss des Abkommens von Ouagadougou wurde im Juli 2007 vom UN-Sicherheitsrat eine Resolution verabschiedet, die in Artikel 6 als Ergebnis den Sonderbeauftragten des

UN-Generalsekretärs ermächtigt, zu beur-teilen, ob alle Stadien des Wahlverlaufes nach demokratischen Prinzipien verlaufen sind.20 Er erhielt dieses Mandat aus guten Grün- den, wie die Ereignisse im Nachhinein bestä-

tigen. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Hand-lungen von Laurent Gbagbo, gegebene Zusagen nicht einzuhalten.

Trotz aller Drohungen ist Gbagbo gegen Youn-jin Choi bisher nicht tätig geworden. Wohl aber sprach er unmit-telbar nach Verkündung der Ergebnisse ein Sende- und Produktionsverbot für ausländische TV- und Radiostationen in der Côte d’Ivoire aus. Seitdem wird die Bevölkerung in sozialistischer Manier einseitig mit Regierungspropaganda in TV- und Radiosendungen der staatlichen Rundfunkan-stalt RTI irregeführt, die Gbagbo bereits im Wahlkampf gute Dienste geleistet hatte. Eine unabhängige Informa-tion ist fast nur noch für Bewohner mit Internetzugang möglich.

BevölKerUNg des NordeNs voN wahleNtscheidUNg aUsgeschlosseN

Durch die Manöver des Gbagbo-Lagers wurden die Wähler des gesamten Nordens von der Wahlentscheidung ausge-sperrt. Der eigentlich durch diese Wahlen angestrebte Eini-gungsprozess zur Überwindung der Süd-Nord-Trennung wurde damit weit zurückgeworfen. So empfinden es nicht zuletzt auch die Menschen im Norden: „Das Lager Gbagbos hat uns gezeigt, dass die Forces Nouvelles Recht hatten‟, sagte ein Fahrer. „Ich habe nie wirklich verstanden, wofür sie damals gekämpft haben. Uns wurde gesagt, dass wir von außen angegriffen werden. Jetzt sehen wir, dass sie für die Würde des Nordens gekämpft haben.‟21

20 | Vgl. United Nations Security Council, Resolution 1765 (2007), in: http://undemocracy.com/S-RES-1765.pdf [10.01.2011].21 | „Le sentiment d’exclusion se renforce dans le Nord ivoirien‟, Abidjan.net (Reuters), http://news.abidjan.net/h/382913. html?n=382913 [11.12.2010].

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die lage wurde nicht zuletzt durch öffentliche aussagen von Politikern beider lager weiter angeheizt. die bei-den führer riefen jeweils zur ruhe auf.

Die Spannungen zwischen den Anhängern der verfeindeten Lager hatten vor der Stichwahl zugenommen, nachdem die erste Wahlrunde weitgehend friedlich verlaufen war. Sowohl im Norden als auch im Westen des Landes, vor allem aber in den bevölkerungsreichen südlich gelegenen Stadtteilen der Wirtschaftsmetropole Abidjan gab es bereits früh erste Tote und Verletzte. In der Woche danach nahmen dann die Spannungen weiter zu und führten zu erheblicher Gewalt. Am Donnerstag, nach der Deklarierung Gbagbos zum Wahlsieger durch den Verfassungsrat, schien die Situation vollends zu eskalieren, woraufhin das Militär für vier Tage alle Land-, Luft- und Seegrenzen abriegelte. Die Lage wurde nicht zuletzt durch öffentliche Aussagen von Politikern beider Lager weiter angeheizt, wohingegen die beiden Führer ihre Anhänger zur Ruhe aufriefen und sie beschworen, auf Gewalt zu verzichten. Die sich verschlechternde Lage macht auch den Bewoh-nern der Nachbarländer wie z. B. Burkina Faso Angst. Sie erinnern sich noch sehr gut an die Bürgerkriegsjahre 2002 und 2003, als viele tausend ivorische Flüchtlinge in die Grenzgebiete strömten. Gegenwärtig leben über drei Milli-onen Menschen mit burkinischem Immigrationshintergrund in der Côte d’Ivoire, die bei Unruhen in ihr Herkunftsland fliehen könnten. Nach Angaben des UN-Flüchtlingskom-missars (UNHCR) sind inzwischen über 4500 Menschen nach Liberia und Guinea (Conakry) geflüchtet.

Die Ereignisse in der Côte d’Ivoire sind ein weiterer Beleg dafür, dass in afrikanischen multiethnischen Staaten22 mit schwerwiegenden politischen Konflikten (wie beispiels-weise in Simbabwe) Wahlen mit der Philosophie „the winner takes all‟ kurz- bis mittelfristig keine dauerhaften politischen Lösungen herbeiführen können. Im Gegenteil, sie vertiefen oft die Probleme und führen vor und während der Wahlen, teilweise auch nachher, zu vermehrter Gewalt. Einher geht damit auch die (zusätzliche) Beschneidung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit.‟

22 | Im Sinne von Vielvölkerstaaten, was die Mehrzahl der afrika- nischen Staaten charakterisiert.

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als mitte der achtziger Jahre die Preise der rohstoffe auf dem weltmarkt ein-brachen, leitete dies das ende des ivo-rischen wirtschaftswunders ein und löste eine schwere wirtschaftskrise im land aus.

wirtschaftlicher verfall UNdPolitische iNstaBilität

Die politischen Turbulenzen, die das Land seit Verkün-dung der „doppelten‟ Wahlergebnisse vom 28. November durchlebt, sind mehr als das Resultat einer umstrittenen Präsidentschaftswahl. Die Wahlen sollten das Schicksal des Landes endlich zum Guten wenden. Seit 17 Jahren durch-läuft es eine Phase der politischen Instabilität, die nun auf unbestimmte Zeit weiter zu bestehen scheint.

Dabei war die Côte d’Ivoire einst das Zugpferd der west-afrikanischen Wirtschaft und eines der wohlhabendsten und stabilsten Länder Westafrikas. Seit der Unabhängigkeit 1960 prosperierte das Land, und zahlreiche ausländische Firmen, besonders aus Frankreich, sorgten für eine begin-nende Industrialisierung. Die Côte d’Ivoire profitierte von den hohen Preisen seiner Exportgüter Kakao und Kaffee auf

dem Weltmarkt, und schon bald wurden die Einwanderer der benachbarten Sahelländer, vor allem aus Burkina Faso und Guinea, von dem Reichtum angelockt und ließen sich in der Côte d’Ivoire nieder. Staatsgründer und Präsident Félix Houphouët-Boigny vertrat

die Auffassung, dass jeder das Land besitzen solle, das er kultiviert. Als Mitte der achtziger Jahre jedoch die Preise der Rohstoffe auf dem Weltmarkt einbrachen, leitete dies das Ende des ivorischen Wirtschaftswunders ein und löste eine schwere Wirtschaftskrise im Land aus. Trotzdem kamen auch weiterhin immer mehr Einwanderer ins Land, die schon bald für die wirtschaftlichen und sozia- len Probleme verantwortlich gemacht wurden und sich durch die ivorische Gesellschaft ausgegrenzt sahen. Damit einher ging eine Veränderung des Nationalbewusstseins: Zuvor war ein echter Ivorer derjenige gewesen, der sich am Aufbau des Landes beteiligte, nun wurde die Frage der Nationalität mit der Herkunft und Abstammung verbunden und wurde im Sinne der Staatsbürgerschaft zu einem politischen Konzept – obwohl damals wie heute rund ein Viertel der Bevölkerung ausländische Wurzeln hat.

Als Präsident Félix Houphouët-Boigny 88-jährig im Dezem- ber 1993 nach 33-jähriger Amtszeit starb, entstand ein Machtvakuum. Boigny hatte das Land mit autoritärer Hand

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Nach dem tod Boignys 1993 kam zu der wirtschaftlich prekären situation auch eine politische Krise, ausgelöst durch die ungeklärte Präsidentennachfolge.

geführt. Seine Einheitspartei, die PDCI, hatte die adminis-trativen Strukturen des Landes fest im Griff. Zwar waren seit 1990 Oppositionsparteien zugelassen, diese spielten jedoch keine wirkliche Rolle. Nach dem Tod Boignys kam zu der wirtschaft-lich prekären Situation auch eine politische Krise, ausgelöst durch die ungeklärte Präsi-dentennachfolge. Die daraus resultierende Implosion des Einparteiensystems wurde zudem durch die Auflösung der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges begünstigt.

Laut Gesetz wird im Todesfall eines amtierenden Präsi-denten der Präsident der Nationalversammlung für die Übergangszeit bis zu den nächsten Wahlen Chef der Regie-rung. Auf diese Art wurde Henri Konan Bédie Nachfolger des Staatsgründers und zweiter Präsident der Côte d’Ivoire. Viele hätten aber gerne den Ökonomen und Technokraten Ouattara an der Spitze des Staates gesehen. Ouattara war seit 1990 Premierminister der Côte d’Ivoire und genoss das uneingeschränkte Vertrauen Boignys. Dieser hatte das Land dreißig Jahre ohne Premierminister autoritär regiert, war sich aber der wirtschaftlich nunmehr prekären Situa-tion im Land bewusst. Ouattara, der Ökonomie in den USA studiert hatte und lange Zeit beim IWF tätig gewesen war, sollte den angeschlagenen Haushalt des Landes konsoli-dieren. Er wurde deshalb von den Anhängern Boignys als der „verdiente und gewollte‟ Nachfolger gesehen. Ouat-tara selber verneint bis heute, damals eine Absicht auf die Nachfolge Houphouët-Boignys gehabt zu haben.

die ivoirité: voN der wahlKamPf-iNstrUmeNtalisierUNg ZUm staatsstreich

Henrie Konan Bédié, der verfassungsmäßige Nachfolger, war sich des Machtverlustes der PDCI und der enormen Populariät Ouattaras bewusst und versuchte, seinen Macht- erhalt zu sichern, indem er die Frage der Nationalität und Abstammung der Ivorer zum Wahlkampfthema machte – auf Bédié geht maßgeblich die Schaffung des rassistischen Konzepts der Ivoirité zurück. Zum ersten Mal taucht der Begriff offiziell in der Neufassung der Wahlgesetzgebung von 1994 auf. Bédié, Initiator der Neufassung, schrieb vor, dass alle Kandidaten für die im Jahr 1995 stattfin-denden Präsidentschaftswahlen die Ivoirité-Klausel zu

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erfüllen hat ten. Sie besagt, dass nicht nur der Kandidat selber, sondern beide Elternteile Ivorer zu sein haben. Damit schloss Bédié den damaligen Premierminister und stärksten Rivalen Ouattara von den Wahlen aus, von dem gesagt wird, dass ein Elternteil aus Burkina Faso stammt. Ouattara selber hat dies immer bestritten, aller-dings wurde sein Einspruch vom Verfassungsgericht nicht anerkannt. So wurde er von den Wahlen des Jahres 1995 ausgeschlossen. Laurent Gbagbo, der bereits 1982 im Untergrund die FPI, die erste Oppositionspartei zur PDCI, gegründet und einige Jahre im Exil in Frankreich verbracht hatte, kritisierte die Entscheidung Bédiés und entschloss sich, gemeinsam mit anderen Oppositionsparteien nicht an der Wahl teilzunehmen. So war die Wahl Bédiés 1995 nur eine Formsache.

Die 1995 abgehaltenen Präsidentschafts-wahlen machen deutlich, dass die politische Szene in der Côte d’Ivoire seit vielen Jahren von den gleichen Personen dominiert wird:

Zum einen Henri Konan Bédié, der zwar verfassungsrecht-lich Präsident war, sich aber nie wirklich dem Willen des Volkes stellen musste. Dann Laurent Gbagbo, der seit mehr als 30 Jahren als personifizierte Fundamentalopposi-tion zur einstigen Staatspartei PDCI agiert und sich vehe-ment für ein Mehrparteiensystem eingesetzt hatte. Einst nahm er dafür den Wahlboykott in Kauf und beraubte sich selbst damit vielleicht einer reellen Chance, schon 1995 zum Präsidenten gewählt worden zu sein. Aber nach zehn Jahren an der Macht hat auch er alle demokratischen Prin-zipien über Bord geworden. Und schließlich Ouattara, der Technokrat, der von vielen schon 1993 als legitimer Nach-folger Boignys angesehen wurde. Zwar ist er im Jahr 2010 legitimer Wahlsieger mit uneingeschränkter Unterstützung der Internationalen Gemeinschaft. Allerdings ist seine Verstrickung und seine Rolle in den politischen Unruhen Anfang des neuen Jahrtausends nicht geklärt. Seine Gegner werfen ihm vor, er habe sich das Konzept der Ivoi-rité, das ursprünglich gegen ihn gerichtet war, geschickt zu Nutzen gemacht, um die Bevölkerung des Nordens hinter sich zu bringen. Gbagbo hat diesen Vorwurf noch einmal gegenüber seinem Herausforderer während des

die politische szene in der côte d’ivoire wird seit vielen Jahren von den gleichen Personen dominiert: Bédié, gbagbo und ouattara.

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Präsident Bédié entglitt die politische führung des landes. die politische instabilität entlud sich im dezember 1999 in einem staatsstreich.

zweiein halb Stunden dauernden Fernsehduells der beiden Kandidaten am 25. November 2010 wiederholt: „Du bist für alle Katastrophen der Côte d’Ivoire verantwortlich!‟, hielt er Ouattara vor.23

Zweiter Aspekt der Ivoirité war es, dass es Bédié gelang, die ökonomische Krise im Land zu instrumentalisieren, indem er die Immigranten für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten verantwortlich machte. Bédié hatte jedoch die Tragweite des Ivoirité-Konzepts unterschätzt. Die Instrumentali-sierung der Identitätsfrage führte nach den Wahlen von 1995 zu einer steigenden Diskriminierung großer Teile der Bevölkerung, deren Unmut sich immer wieder in Unruhen entlud. Die vorwiegend im Norden lebenden Immigranten wollten ihre Herabsetzung und den Entzug fehlender staatsbürgerlicher Rechte nicht länger hinnehmen – viele von ihnen durften z.B. nicht das Wahlrecht ausüben oder Land kaufen, obwohl sie im Land geboren waren. Präsident Bédié entglitt die politische Führung des Landes mehr und mehr, und die politische Instabilität entlud sich im Dezember 1999 in einem Staatsstreich. Die historische Ironie wollte es, dass Bédié, der das Konzept der Ivoirité nutzte, um Präsident zu werden, durch die von ihm herbei-gerufene Diskriminierung der vorwiegend im Norden leben- den Immigranten aus dem Amt gejagt wurde.

PräsideNtschaftswahleN 2000: gBagBo am Ziel

Etwa Ende 1999 bereitete sich das Land auf die für das Jahr 2000 vorgesehenen Präsidentschaftswahlen vor. Auch Ouattara wollte sich erneut als Kandidat präsentieren und kehrte im Sommer 1999 in die Côte d’Ivoire zurück. Er wurde zum Vorsitzenden des von Djeni Kobina gegrün-deten RDR gewählt und avancierte zur neuen Identifi-kationsfigur der Partei. Erneut beteuerte er, seine Eltern seien Ivorer, und reichte die entsprechenden Unterlagen für seine Kandidatur bei den zuständigen Behörden ein. Da von staatlicher Seite Zweifel an der Authentizität der Unterlagen bestanden, wurde ein Prozess wegen Urkun-denfälschung gegen ihn eröffnet. Er wurde für schuldig

23 | „Présidentielle en Côte d`Ivoire: débat télévisé courtois entre les deux finalistes‟, in: Abidjan.net (RFI), http://news.abidjan. net/h/381174.html [14.12.2010].

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die armee, deren mitglieder vor 2002 vorwiegend aus dem Norden kamen und daher von der jahrelangen diskri-minierung oft direkt betroffen waren, putschte gegen Bédié.

befunden, und während eines Aufenthaltes außer Landes wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen. Dies führte

zu steigenden Unruhen im Land. Wenige Wochen später eskalierte die Situation. Die Armee, deren Mitglieder vor 2002 vorwie-gend aus dem Norden kamen und daher von der jahrelangen Diskriminierung oft direkt

betroffen waren, putschte gegen Bédié. General Gueï, der aus dem Westen stammte und ein enger Vertrauter Boignys gewesen war, übernahm provisorisch die Führung des Landes. Bédié konnte aus dem Land fliehen und Ouat-tara, der sich der Unterstützung Gueïs sicher war, kehrte ins Land zurück. Vor den anstehenden Wahlen sah es nun so aus, als ob Gbagbo und die FPI, die sich jahrelang gegen das Konzept der Ivoirité und der Diskriminierung von Immigranten ausgesprochen hatten, nun Ouattara und der RDR direkt gegenüberstehen würden. Ouattaras jahrelange Abwesenheit hatte seiner Beliebtheit keinen Abbruch getan, das erkannten auch Gbagbo und Gueï, der ebenfalls bei den Wahlen antrat. Der General distanzierte sich zunehmend von Ouattara, dessen Rolle im Putsch vom Dezember 1999 bis heute umstritten ist. Als das Verfas-sungsgericht erneut die RDR und Ouattara der Falschaus-sage bezichtigte, geschah dies auch auf Bestreben Gueïs.

Als Interimspräsident Gueï in einem durch das Volk legi-timierten Referendum die Wahlgesetzgebung änderte, sodass diese erneut vorschrieb, dass beide Eltern eines Präsidentschaftskandidaten Ivorer sein müssten, wieder-holte sich die Geschichte. So wie 1995 wurde Ouattara von der Wahl ausgeschlossen. Diesmal protestierte Gbagbo nicht – zu beliebt war sein politischer Gegner im Volke. Sowohl Gueï als auch Gbagbo sahen in ihm den schärfsten Konkurrenten. Bédié wurde aus fadenscheinigen adminis-trativen Gründen ebenfalls von der Wahl ausgeschlossen. Aus den Präsidentschaftswahlen 2000 ging Gbagbo als Wahlsieger hervor. Die Wahlen waren von gewalttätigen Ausschreitungen geprägt, nachdem sich erst Gueï, dann Gbagbo zum Wahlsieger proklamiert hatten. Besonders die Anhänger der RDR, deren Kandidat Ouattara von den Wahlen ausgeschlossen war, griffen zur Gewalt. Mehr als 300 Tote waren zu beklagen. Schließlich verkündete die CEI Gbagbo als amtlichen Wahlsieger mit fast 60 Prozent. Die Wahlbeteiligung, so die CEI, habe bei 37 Prozent gelegen.

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Die Ergebnisse wurden von vielen Seiten angezweifelt, die Forderung der RDR, die Wahlen zu wiederholen, wurden aber nicht erfüllt.

Abb. 3Zweiteilung der côte d’ivoire

dialog der NatioNaleN versöhNUNg eNdet im BürgerKrieg

Gueï, der das Ergebnis zunächst nicht anerkennen wollte, flüchtete später in den Norden des Landes. Gbagbo war sich der Fragilität seiner Position bewusst und begann mit Gueï, Bédié und Ouattara einen Dialog der Natio-nalen Versöhnung. 2002 bekam Ouattara seine ivorische Staatsbürgerschaft vom Verfassungsgericht bescheinigt, wenige Wochen später eskalierten die seit zwei Jahren andauernden Unruhen. Am 19. September 2002 begann mit einem Putschversuch der Bürgerkrieg, bei dem Gueï getötet wurde und Ouattara aus dem Land floh. Erneut war die Rolle Ouattaras umstritten. Obwohl er Gbagbo beschul-digte, die Stimmung angeheizt zu haben, indem er viele aus dem Norden stammende RDR-Mitglieder verhaftet hatte, ist die Rebellion der vorwiegend aus dem Norden stammenden Militärs nur schwer zu erklären.

Zwar führte der Putschversuch von Teilen der Armee nicht zu der gewaltsamen Amtsenthebung Gbagbos. Wohl aber war er der Beginn des bis 2007 andauernden Bürger-

Zone de Confiance (Pufferzone)

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das abkommen von ouagadougou sah eine regierung der Nationalen einheit vor. rebellenführer soro wurde Pre- mierminister.

krieges, der zur Teilung des Landes in den von Rebellen kontrollierten Norden und den von der Regierung kontrol-lierten Süden führte.

Den Bürgerkrieg in der Côte d’Ivoire vereinfachend als einen Konflikt zwischen dem muslimischen Norden und dem christlich-animistischen Süden zu erklären, wäre jedoch falsch. Vielmehr erklärt sich die Spaltung der Religi-onen dadurch, dass die meisten Zuwanderer, denen unter dem Konzept der Ivoirité der Zugang zu staatsbürgerlichen Rechten verwehrt wurde, aus muslimischen Ländern der Sahelzone stammen. Bei dem Bürgerkrieg handelte es sich daher nicht um eine religiös motivierte Auseinanderset-zung, sondern vor allem um eine ethnische.

Im März 2007 konnte der Bürgerkrieg, der zur Flucht von 1,7 Millionen Menschen geführt und das Land geteilt hatte, durch das Abkommen von Ouagadougou unter der

Vermittlung des Präsidenten von Burkina Faso, Blaise Compaoré, beendet werden.24 Zahlreiche vorherige Versuche zur Schlich-tung des Konfliktes waren gescheitert. Das Abkommen von Ouagadougou sah eine

Regierung der Nationalen Einheit vor, die alle Kräfte des Landes einband. Guillaume Soro, der Rebellenführer aus dem Norden, wurde Premierminister. Er selber konnte bei den Wahlen 2010 nicht antreten, da er das erforderliche Mindestalter von 40 Jahren noch nicht erreicht hatte. Wenige Monate später, im Juni 2007, begann die Entwaff-nung der Milizen. Die Pufferzone zwischen Norden und Süden des Landes wurde aufgelöst.

Seit dem Abkommen von Ouagadougou wurde mit den Vorbereitungen für die seit 2005 überfälligen Präsident-schaftswahlen begonnen. Der ursprünglich für zehn Monate geplante Zeitraum erwies sich schnell als zu kurz, denn zwei sensible Faktoren bestimmten die Vorbereitung der Wahlen: Zum einen musste sichergestellt werden, dass das Wählerverzeichnis korrekt ist, um einem erneuten Konflikt um die Nationalitätsfrage zu entgehen. Dies war daher eine conditio sine qua non für die Abhaltung

24 | Vgl. Hintergrundinformationen: Konrad-Adenauer-Stiftung, „Das Abkommen von Ouagadougou – Dem Frieden ein Stück näher‟, http://kas.de/wf/de/71.6533 [15.12.2010].

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gbagbo hat es durch das verschieben der wahlen nicht nur geschafft, zehn Jahre an der macht zu bleiben, son-dern auch, seine Partei auf dem land zu etablieren.

friedlicher Wahlen, auch weil die Wählerlisten aus dem Jahr 2002 viele Menschen von der Teilnahme an den Wahlen ausgeschlossen hatten und daher sehr umstritten waren. Da jedoch viele Ivorer keine Abstammungsunterlagen besitzen, war die Klärung der Identität vieler Personen keine technische Frage, sondern eine politische. Über 40.000 Eintragungen in das Wählerverzeichnis wurden zurückgewiesen.

Zum anderen waren die Entwaffnung der ehemaligen Rebellentruppen im Norden des Landes und ihre Einglie-derung in die Armee, die sich als langwierig und schwierig erwies, wichtige Faktoren. Komplikationen bei der Wähler-registrierung oder bei der Entwaffnung der Rebellen waren die häufigsten Gründe für die achtmalige Verschiebung des Wahltermins.

Diese Gründe erklären, warum der Vorbereitungsprozess entscheidend für den friedlichen Verlauf der Wahlen war. Allerdings schien es lange Zeit so, als ob die politische Klasse, allen voran Präsident Gbagbo, kein wirkliches Interesse an der Abhaltung von Wahlen gehabt hätte und diese letztendlich nur auf den Druck von außen durchgeführt worden sind. Seit 2007 stand Gbagbo einer Regierung der Nationalen Einheit vor. Er hat es durch die ständige Verschiebung der Wahlen nicht nur geschafft, zehn Jahre an der Macht zu bleiben, sondern auch, seine Partei auf dem Land zu etablieren, nachdem sie anfänglich nur in den urbanen Gebieten stark war. Auch die anderen an der Regierung beteiligten Kräfte haben von dem Zugang zu Macht und Ressourcen profitiert. Daher wirkten die politischen Erklärungen und Begründungen für die Wahlverschiebungen oft halbherzig. Denn eine der beiden Seiten würde nach den Wahlen nicht mehr an den Pfründen teilhaben.

Als klar wurde, dass die Abhaltung von Wahlen nicht aufzuhalten sein würde und Präsident Gbagbo lediglich auf Zeit spielen konnte, löste er im Februar 2010 seine Regierung und die Unabhängige Wahlkommission CEI auf, deren Neubesetzung die Wahl erneut um einige Wochen verzögerte. Die Einflussmöglichkeiten bei der CEI waren für Gbagbo jedoch seit Beginn klein, da dieses Organ, nicht

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gbagbo machte sich bei seinem wahl-kampf nicht nur die staatlichen radio- und tv-sender zunutze, sondern ließ auch mit staatseigenen Busunterneh-men anhänger zu seinen wahlveran-staltungen transportieren.

zuletzt durch die Zusammenarbeit mit der UN und anderen internationalen Organisationen, neutral und unabhängig geblieben war. Zudem ist vorgeschrieben, dass alle Parteien Personal in die CEI entsenden. Daher war auch nicht die Auflösung und Neubesetzung der CEI der stra-tegische Coup von Gbagbo, der ihm seinen Machterhalt sichern sollte, sondern die bereits geschilderte Benennung seines Parteifreundes Yao N’Dré an die Spitze des Verfas-sungsrates.

die erste rUNde der PräsideNtschaftswahleN: das wUNder der côte d’ivoire

Vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte der Côte d’Ivoire kann sowohl die Vorwahlzeit, der Wahlverlauf selbst am 31. Oktober 2010 als auch die unmittelbare Zeit nach der ersten Wahlrunde als das „Wunder der Côte d’Ivoire‟

bezeichnet werden.25 Der Wahlkampf verlief weitestgehend friedlich, sieht man einmal von der Zerstörung von Wahlplakaten oder ein paar unglücklichen Slogans der Kandi-daten Gbagbo über Ouattara („Alassane ist ein Lügner!‟) und Bédié über Ouattara

(„Derjenige, der plötzlich reich geworden ist!‟) ab. Gbagbo machte sich bei seinem Wahlkampf nicht nur die staat-lichen Radio- und TV-Sender zunutze, sondern ließ auch mit staatseigenen Busunternehmen Anhänger zu seinen Wahlveranstaltungen transportieren. Der Wahlkampf ging in Abidjan mit beeindruckenden Großkundgebungen der Kandidaten Gbagbo und Ouattara zu Ende. Hinsichtlich des Inhalts der Kampagnen kann festgestellt werden, dass Alassane Ouattara bei weitem alle anderen Kandidaten in Bezug auf Inhalte und thematische Vielfalt, Gestaltung, Organisation und den Einsatz von audiovisuellen Kommu-nikationsmitteln ausgestochen hat. Hingegen schien der 76-jährige Bédié müde. Seinen Beratern, die ihn antreiben wollten, entgegnete er „On n’a pas fait campagne!‟26 und legte mit dem Argument nach: „Die Bilanz meiner Zeit 1993

25 | Vgl. dazu und auch zur Vertiefung des Folgenden: Klaus D. Loetzer, „Côte d’Ivoire: Seit fünf Jahren überfällige Präsident- schaftswahlen verlaufen friedlich‟, KAS-Länderbericht, 05.11.2010, http://kas.de/westafrika/de/publications/21041 [10.12.2010]; vgl. ebenso eine detaillierte Online-Chronologie unter http://kas.de/westafrika/de/pages/9708 [10.12.2010].26 | „Man führt keinen Wahlkampf!‟

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Neben den politischen schwergewich-ten gbagbo, Bédié und ouattara hatten die restlichen elf Bewerber von anfang an keine wirkliche chance.

bis 1999 ist viel besser als die von Gbagbo seit 2000.‟27 An einer TV-Präsentation aller vierzehn Kandidaten nahm er als einziger Bewerber nicht teil, ebenso verzichtete er auf T-Shirts, die unerlässliche Ingredienz afrikanischer Wahl-kämpfe. Auch ließ er nur kleine Wahlplakate aufhängen, während die Konterfeis und Parolen der anderen Kandi-daten das Straßenbild dominierten.

Vom Wahltag selbst wurden keine größeren Zwischenfälle gemeldet. Die internationalen Wahlbeobachtermissionen, allen voran die EU-Mission, die bereits seit vier Wochen im Lande war, bestätigten der Wahl einen demokratischen Verlauf, also Transparenz und Fairness.

Insgesamt waren vierzehn Präsidentschafts-kandidaten zur ersten Runde angetreten, darunter eine Frau.28 Neben den politi-schen Schwergewichten Gbagbo, Bédié und Ouattara hatten die restlichen elf Bewerber von Anfang an keine wirkliche Chance. Sie bekamen dann auch alle anderen Kandidaten zusammen nur etwa vier Prozent der abgegebenen Stimmen, ebensoviel wie der Prozent-anteil der ungültigen Stimmen, der mit 4,66 Prozent als sehr hoch einzustufen ist. Als Gründe dafür werden nicht ausreichende Wahltrainingsprogramme für die Bevölke-rung angeführt. Dem ist entgegenzuhalten, dass die UN und andere internationale Akteure unter Einbeziehung der ivorischen Zivilgesellschaft in den Monaten vor der Wahl ein umfangreiches Wählertraining durchgeführt hatten. Auch reduzierte sich der Anteil der ungültigen Stimmen in der Stichwahl um die Hälfte auf 2,11 Prozent.

Die auffällig hohe Wahlbeteiligung von 83,7 Prozent kann als sensationell bezeichnet werden. Unter anderem wird die erzwungene lange Wahlabstinenz als Grund herange-zogen. Beispielsweise hatte ein heute 29-Jähriger bisher keine Chance, an einer Wahl teilzunehmen. Da die Bevöl-kerung in der Côte d’Ivoire extrem jung ist, gab es bei den Wahlen sehr viele Erstwähler. Gleichermaßen zeigt sich darin aber auch die große Hoffnung der Menschen, vor allen der jüngeren, mit den Wahlen die Teilung des Landes

27 | Jeune Afrique, 13. bis 17.11.2010, 26.28 | Eine Übersicht findet sich unter http://kas.de/wf/de/71.6539 [10.12.2010].

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Präsident gbagbo wurde als hauptver-antwortlicher für die wahlverschiebun-gen kritisiert. der vorwurf war, dass er durch die herauszögerung seine wie-derwahl sichern wollte.

zu überwinden und damit einer besseren wirtschaftlichen Zukunft entgegen sehen zu können. Wege und Strategien zur Überwindung der Jugendarbeitslosigkeit waren daher neben der erwarteten Friedensdividende die wichtigsten Wahlkampfthemen der Kandidaten.

Da in der ersten Runde keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erreichte, waren die Ivorer aufgerufen, innerhalb von vier Wochen ein zweites Mal an die Wahlurnen zu gehen, nachdem ihnen dieses demokratische Grundrecht in den letzten fünf Jahren acht Mal verwehrt worden war. Die Gründe für den Aufschub der Wahlen lagen zum einen in dem sensiblen und langwierigen Prozess der Wähler-identifizierung und zum anderen in dem mangelnden

Fortschritt bei der Entmilitarisierung der Ex-Milizen und Soldaten der Forces Nouvelles. In letzter Zeit wurde jedoch vermehrt die Schuld an den geplatzten Wahlterminen auf die politische Klasse geschoben. Denn seit dem Abkommen von Ouagagdougou 2007

waren alle politisch wichtigen Akteure in der Regierung von Premierminister Soro vertreten, einschließlich der Ex-Rebellen. Wahlen führen bei einer Allparteienregie-rung zwangsläufig dazu, dass mindestens eine Seite ihrer politischen Pfründe verliert. Unabhängig davon wurde aber Präsident Gbagbo als Hauptverantwortlicher für die Wahlverschiebungen kritisiert. Der Vorwurf lautete, dass er durch die Herauszögerung der Wahlen seine Wiederwahl sichern wollte.

oPPositioN KaNN sich Nicht aUfeiNeN KaNdidateN eiNigeN

Als Drittplatzierter avancierte Henri Konan Bédié von der PDCI bei der Stichwahl zum Königsmacher.29 Es hing weitestgehend von seiner Wahlempfehlung ab, für wen seine Anhänger im zweiten Wahlgang stimmten. Das war aber faktisch vorgegeben, da sich PDCI und RDR

29 | Die PDCI hatte noch vor Verkündigung des vorläufigen Wahl- ergebnisses durch die CEI in ihren Hochburgen eine Neuaus- zählung der Stimmen wegen Unregelmäßigkeiten verlangt. Da sie diese Beschwerde nicht nach der offiziellen Bekanntma- chung der Ergebnisse noch einmal förmlich beim Verfassungs- rat CC eingereicht habe, so die Begründung des CC, wurde der Einspruch aus formalen Gründen nicht berücksichtigt.

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Bédié und ouattara hatten anfang okto-ber 2010 einen wahlpakt geschlossen, wonach der Besserplatzierte in einem zweiten wahlgang von den stimmen des schlechter Platzierten profitieren sollte.

gemeinsam mit zwei weiteren kleineren Parteien im Jahr 2007 zum Parteienverbund RHDP zusammengeschlossen hatten. Trotzdem hatte es das Bündnis nicht geschafft, sich auf einen Spitzenkandidaten zu einigen. Es schickte nicht nur Bédié und Ouattara ins Rennen, sondern auch Albert T. Mabri von der RHDP-Bündnispartei UDPCI30. Der 48-Jährige landete aber mit 2,57 Pro- zent abgeschlagen auf dem vierten Platz. Vor diesem Hintergrund hatten Bédié und Ouattara Anfang Oktober 2010 in Yamous-soukro am Grabe Houphouët Boignys einen zusätzlichen Wahlpakt geschlossen, wonach der Besserplatzierte von den beiden in einem zweiten Wahlgang von den Stimmen des schlechter Platzierten profitieren sollte. Nach Kenntnis des Wahlergebnisses der Stichwahl kann man davon ausgehen, dass ein Großteil der Wahlempfehlung Bédiés gefolgt ist. Die etwas geringere Wahlbeteiligung von ca. 81,13 gegenüber 83,7 Prozent in der ersten Runde deutet allerdings darauf hin, dass es gerade PDCI-Anhänger waren, die sich in der zweiten Runde der Wahl enthalten haben. Und zwar diejenigen, die die Wahl Ouattaras nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten, denn Bédié und Ouattara waren nach dem Tod Félix Houphouët Boignys erbitterte Feinde bei der Frage der Präsidentschaftsnachfolge. In diesem Zusammenhang hatte Bédié das Konzept der Ivoirité ersonnen, dessen Eigendynamik sich zum eigentlichen Grund des Bürger-kriegs entwickelte.

Von den insgesamt 19 Regionen der Côte d’Ivoire hat Ouattara die fünf nördlichen, Gbagbo die elf zentralen und Bédié lediglich zwei auf dem Zentralplateau und eine im Südwesten gewonnen.31 Ein Drittel der Wähler lebt in der Metropole Abidjan (ca. 3,6 Millionen Einwohner in 2008), die in zehn Kommunen (Quartiers) aufgeteilt ist. Davon hat Gbabgo sieben und Ouattara immerhin drei (Treichville, Adjamé und Abobo) erobern können. Der große Verlierer war auch hier Bédié, der keine Kommune in Abidjan gewinnen konnte und vor allem Stimmen an Gbagbo verloren hat.32 Hier zeigt sich auch, dass die Behauptung

30 | Union pour la Démocratie et la Paix en Côte d’Ivoire.31 | Vgl. Kartendarstellung bei RFI unter: http://rfi.my/hqpLxw [10.12.2010].32 | Vgl. Jeune Afrique, 13. bis 17.11.2010, 24.

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gbagbo könnte es auf eine dauerhafte teilung des landes ankommen lassen. sämtliche relevanten industrien sowie die öl- und gasvorkommen liegen im süden.

des Gbagbo-Lagers, Ouattara könne nur Stimmen im Norden gewinnen, nicht stimmt. Allerdings muss hinzu-gefügt werden, dass die Mehrzahl der Bewohner in den drei von ihm gewonnen Kommunen, insbesondere in Treichville, aus dem Norden zugezogen ist. Da beide Lager eine große Anhängerschaft in Abidjan haben, ist die Stadt auch zum Brennpunkt für Konfrontationen zwischen den beiden verfeindeten Lagern geworden. Die Gbagbo loyalen Sicherheitskräfte sind vornehmlich in den drei genannten Kommunen präsent.

gegeNwärtige lage UNd aUssichteN

Für die weitere Entwicklung der Machtfrage wird die Haltung der ivorischen Verteidigungs- und Sicherheitsor-gane (FDS) von entscheidender Bedeutung sein, vor allem der Armee und der Garde Républicaine. Gbagbo hat nach einem Putschversuch in 2002, ausgelöst durch meuternde Armeemitglieder, die Sicherheitskräfte mit Hilfe Angolas neu aufgebaut und mit seinen Leuten besetzt, nachdem die Armee vorher stark von Offizieren, vor allem Unterof-fizieren, aus dem Norden geprägt war. 2004 hat er seinen Vertrauten General Philippe Mangou zum Generalstabschef ernannt und damit einen zentralen Posten mit einem seiner Leute besetzt. Gbagbo hat seine Offiziere eingeschworen: „Wenn ich falle, fallen Sie mit!‟ Dennoch kann man davon ausgehen, und entsprechende Gerüchte kursieren bereits, dass die Armee, ebenso wie die Politik, nicht monolithisch zu Gbagbo steht.

Die regulären Streitkräfte kontrollieren indes nur den Süden des Landes, der Norden wird nach wie vor vom militärischen Arm der Ex-Rebellen Forces Nouvelles, Forces Armées

des Forces Nouvelles (FAFN), beherrscht. Gbagbo könnte es aber auch auf eine dauerhafte Teilung des Landes ankommen lassen. Sämtliche wirtschaftlich relevanten Industrien, die Güter, Arbeitsplätze und Steuern generieren, liegen im Süden: landwirtschaftliche Produkte wie Natur-Kautschuk, Palmöl, Kakao, Kaffee und Holz, außerdem die Häfen, Industriebetriebe sowie wichtige Unternehmen aus dem Handels- und Dienstleistungssektor. Auch Öl- und Gasvorkommen, die zukünftig gefördert werden könnten, liegen vor der Küste. Im Norden finden sich lediglich etwas

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eine lösung könnte die form einer militärischen intervention der afrika-nischen Union haben. das müsste nicht notwendigerweise fremde soldaten auf ivorischem territorium bedeuten.

Gold, Diamanten und landwirtschaftliche Produkte wie Ananas, aber keine devisen-relevanten Rohstoffe wie Holz, Kakao oder Kaffee.

Eine dauerhafte politische Lösung kann nur landesintern herbeigeführt werden. Afrikanische Unterstützung könnte dabei hilfreich, wenn nicht gar unerlässlich sein. Es geht also darum, dass zur Umsetzung der ausländischen, insbesondere der westlichen „Forderungen nach Guter Regierungsführung, Demokratie und Rechts-staat ein internationaler Mechanismus unter afrikanischer Führung‟ gefunden wird, der diesen Forderungen „den notwendigen Nach-druck verleihen kann‟.33 Dieses könnte die Form einer militärischen Intervention der AU haben, die aber nicht notwendigerweise fremde Soldaten auf ivorischem Territorium bedeuten müsste. Denkbar ist beispielsweise die Beeinflussung durch Militärkameraden der benachbarten Länder.34

Fremde Truppen wie UN-Blauhelme und ihr französisches Unterstützungskontingent müssen ihre Unparteilichkeit bewahren, sonst werden sie schnell als Besatzungstruppen angesehen, mit den sich daraus ergebenden Sicherheits-problemen für ihre Soldaten und Mitarbeiter.

vier mögliche sZeNarieN

Abschließend sollen kurz vier Szenarien erörtert werden, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt diskutiert werden.35 Die beiden ersten Szenarien erfordern jeweils nur das Handeln eines der beiden Protagonisten, bei den Szenarien drei und vier müssten sich hingegen beide zusammenraufen. Ange-sichts der bisherigen Entwicklung ist das kaum denkbar.

33 | Simon Tisdall: „Ivory Coast crisis exposes hollowness of west’s fine words‟, guardian.co.uk, 19.12.2010, in: http://guardian. co.uk/world/2010/dec/19/ivory-coast-united-nations-france [21.12.2010].34 | Hierzu bietet das von Regionalprogramm Politischer Dialog Westafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung geschaffene Netz- werk der Generalstaboffiziere westafrikanischer frankophoner Staaten eine gute Grundlage.35 | Vgl. „Pour mettre fin au bras de fer autour du fauteuil présidentiel: Voici les 4 schémas qui s’imposent à Gbagbo et Ouattara‟, in: Abidjan.net (L’Inter), http://news.abidjan.net/ h/384222.html [22.12.2010].

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die „regelung von simbabwe‟ bedeu-tet eine teilung der macht zwischen den beiden, indem der eine das Präsi-dentenamt und der andere das amt des Premierministers innehat.

1. gbagbo verzichtet auf die macht

Das erste Szenario beinhaltet, dass Gbagbo den Wahlsieg Ouattaras nachträglich anerkennt und dem internatio-nalen Druck nachgibt. Grundlage wäre die Anerkennung des Wahlergebnisses der Unabhängigen Wahl kommission CEI. Der Vorteil wäre, dass dieser unerwartete Abgang die Côte d’Ivoire aus der politisch-diplomatischen Isolierung befreien würde, in die das Land seit dem 2. Dezember gestürzt wurde. In diesem Zusammenhang ist besonders an Verfahren und Maßnahmen zu denken, die von inter-nationalen Organisationen und Institutionen abhängen. Beispielsweise die von der Weltbank abhängige Budget-hilfe für 2011, einschließlich des Erreichens des berühmten Completion Points für die HIPC-Initiative. Der sollte Ende März 2011 erlangt sein. Hält der gegenwärtige Zustand an, stehen diese wichtigen internationalen Unterstützungs-maßnahmen auf der Kippe.

2. ouattara verzichtet auf die macht

Beim zweiten Szenario wäre Ouattara der Handelnde und verzichtet auf die durch den Souverän, die Wähler, verliehene Macht. Vor dem Hintergrund seines Wahlsiegs liefe das auf eine Art „Denial-of-Power‟-Aktion hinaus. Die internationale Staatengemeinschaft stünde ziemlich düpiert da, müsste nämlich zwangsläufig einen nicht vor- handenen Wahlsieg Gbagbos anerkennen, mit den Folge-maßnahmen der Aufhebung der Isolierung und Sankti-onen. Der Schaden für die Bedeutung und Sinnhaftigkeit demokratischer Verfahren wie Wahlen wäre immens.

3. eine regelung wie in simbabwe

Das dritte Szenario setzt voraus, dass sich beide Männer die Hände reichen. Die Anwen-dung der „Regelung von Simbabwe‟ besagt, dass eine Teilung der Macht zwischen den beiden erfolgt, indem der eine das Präsi-

dentenamt und der andere das Amt des Premierministers innehat. Dieses Powersharing funktioniert aber schon in Simbabwe nicht und hat den strukturellen Nachteil, dass der Präsident laut Verfassung mehr Befugnisse hat als

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ein Premierminister. In Simbabwe wurden zwar durch das „Global Power Agreement‟ (GPA) einige Verfassungsbe-stimmungen außer Kraft gesetzt, aber Mugabe setzt sich darüber einfach hinweg. Es kommt dann zu unergiebigen Auslegungsstreitigkeiten. Entscheidend sind aber die Zuständigkeiten für die Ordnungs- und Sicherheitskräfte. Sie liegen in der Regel beim Präsidenten. Schon das Ego der beiden ivorischen Protagonisten würde das Funktio-nieren dieses Szenarios unmöglich machen.

4. die kongolesische regelung

Das vierte Szenario sieht vor, dass eine Art Machtteilung auf der Grundlage Präsident/Vizepräsident erfolgt. Es liegt auf der Hand, dass schon die Frage, wer das Präsiden-tenamt einnehmen darf, und wer „nur‟ Vizepräsident sein darf, ein derartiges Szenario von vornherein zum Scheitern verurteilt. Hinzu kommt, dass die ivorische Verfassung vom 1. August 2000 geändert werden müsste. Wie das Beispiel Simbabwe zeigt, funktionieren Absprachen hierzu, auch schriftlicher Art, nicht. Ganz abgesehen davon, dass für Verfassungsänderungen ein Referendum notwenig wäre.

Gegenwärtig ist völlig unklar, wie sich die Situation in der Côte d’Ivoire entwickeln wird, allerdings schwinden mit der Zeit auch die Möglichkeiten auf einen Ausweg, bei dem keiner der beiden Prota-gonisten sein Ansehen verliert – ein Faktor, der im westafrikanischen Kontext von sehr großer Wichtigkeit ist. Die Chance, eine friedliche und diplomatische Lösung herbeizuführen, sinkt somit von Tag zu Tag. Würde die Côte d’Ivoire erneut in einen Bürgerkrieg stürzen, so wäre nicht nur die seit 2002 mühsam erarbeitete politische Konsolidierung auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte zurückgeworfen. Dies hätte auch verheerende Folgen für die benachbarten Länder. Zum einen würde die Côte d’Ivoire nicht, wie von vielen erhofft, zurück zu ihrem Platz als wirtschaftliche Lokomo-tive für die Region finden. Viele Flüchtlinge würden in ihre Heimatländer in der Sahelzone zurückkehren. Aber auch in vielen anderen afrikanischen Ländern, in denen die poli-tische Konsolidation gerade erst begonnen hat, könnten sich unrecht mäßige Regierungen und Präsidenten auf ein

die chance für eine friedliche lösung sinkt. ein erneuter Bürgerkrieg hätte auch verheerende folgen für die Nach-barländer.

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weiteres Beispiel berufen, in dem demokratische Prozesse zu undemokratischen Regierungen geführt haben. Dann gäbe es nur noch wenige demokratische Leuchttürme in Westafrika.

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Frank Priess

Es ist bekanntlich immer ein Problem, wenn Ergebnisse nur an Erwartungen gemessen werden, deren Entstehung unklar ist. Das weiß man von den internationalen Börsen und den Einschätzungen der Analysten, das gilt auch für internationale Konferenzen: So ist es denn wohlfeil, wenn es jetzt überall heißt, die UNO-Klimakonferenz COP-16 im mexikanischen Cancún habe die Erwartungen über-troffen. Systematisch hatten fast alle Akteure inklusive des Gastgebers Mexikos in den zurückliegenden Monaten jede Gelegenheit wahrgenommen, die Erwartungen immer weiter nach unten zu schrauben. Am deutlichsten wurde Brasiliens Präsident Ignacio Lula da Silva, der noch Anfang Dezember erklärte: „Cancún wird zu nichts führen. Da geht doch kein großer Führer hin, nur Umweltminister.‟

Von der Hoffnung, ein verbindliches Klimaabkommen an der Karibikküste in trockene Tücher bringen zu können, hatte man sich als erstes verabschiedet. Die Vorausset-zungen dafür, schon in Cancún eine solche Vereinbarung als Nachfolger des Kyoto-Protokolls zu erreichen, seien nicht gegeben, so etwa Mexikos Außenministerin Patricia Espinosa schon Mitte Oktober. Dies sei allerdings auch noch nicht unbedingt erforderlich, da das Protokoll noch bis 2012 laufe. Ihr gehe es nun um ein Paket von Maßnahmen in den Bereichen „mitigación, adaptación, financiación y tecnología‟.

Diese Strategie war durchaus klug gewählt. Allen Teilneh-mern des Klimaprozesses steckte noch der Schock des weitgehenden Scheiterns in Kopenhagen in den Knochen.

WER NICHTS ERWARTET, IST MIT WENIG zUFRIEDENKLIMAGIPFEL IN CANCúN SCHEITERT NICHT, ABER REICHT DER ERFOLG?

Frank Priess ist Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Mexiko.

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„Wir sind glücklich, dass der UNO-Pro-zess gerettet wurde.‟ (Connie Hede- gaard, EU-Kommissarin für Klima-schutz)

Die UNO schien vor einem Scherbenhaufen zu stehen, die Europäische Union sah sich zum Dasein am Rande verurteilt, neue „Supermächte‟ ließen eher als Verhin-derer die Muskeln spielen, die USA und China standen gerade bei Umweltaktivisten als Buhmänner am Pranger. Für niemanden also ein befriedigendes Ergebnis. Entspre-chend verbreitet war die Motivation, Cancún nicht völlig mit leeren Händen zu verlassen.

Dies zumindest wurde erreicht. „Cancún‟, so etwa Green-peace-Sprecher Wendel Trio, „hat den Verhandlungspro-zess gerettet, nicht aber das Klima.‟ Die Aufgabe der Klimakonferenz COP-16 sei es vor allem gewesen, das in Kopenhagen verloren gegangene Vertrauen wieder-herzustellen – dies sei gelungen. Gar einen „Leuchtturm der Hoffnung‟ und eine „historische Einigung‟ wollte die Exekutivsekretärin des UNO-Klimasekretariats CMNUCC (Convención Marco de las Naciones Unidas sobre el Cambio Climático, im Englischen UNFCCC, United Nations Frame-work Convention on Climate Change), Christiana Figueres,

in den Konferenzergebnissen sehen. „Wider allen Erwartungen hat die Vernunft gesiegt‟, ließ sich Regine Günther, Klimaexpertin des World Wide Fund For Nature (WWF), im Spiegel vernehmen. „Wir sind glücklich, dass

der UNO-Prozess gerettet wurde‟, sagte EU-Klimakom-missarin Connie Hedegaard. Und Bundesumweltminister Norbert Röttgen resümierte: „Ich glaube, dass das ein wirklich großer Erfolg ist.‟ Die Staatengemeinschaft habe sich als handlungsfähig erwiesen.

Andere sahen die Ergebnisse kritischer. Eine Leserum-frage des internationalen Meinungsführers The Economist ergab etwa, dass 57 Prozent der Leser den Klimagipfel für einen Misserfolg hielten. „Das Ergebnis von Cancún hält die Erderwärmung nicht unter zwei Grad‟, sagte der Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Hubert Weiger. Daran änderten auch alle Lippenbekenntnisse der Regierung nichts. Und der Bürgermeister der mexikanischen Haupstadt, Marcelo Ebrard, meinte zu den Konferenzergebnissen: „Ich glaube, das die Ankündigungen von Cancún eine Neuauflage von Kopenhagen darstellen. Ich sage nicht, dass es keine Fort-schritte gegeben hat, es gibt interessante Aspekte. Aber

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Es fehlen konkrete langfristige Ein-sparziele oder Vorgaben für bestimmte energieintensive Branchen wie Land-wirtschaft, See- und Luftfahrt. Neuer Hoffnungsträger ist die COP-17 in Dur-ban.

generell ist nicht das passiert, was wir uns erhofft hatten.‟ Seine Stadt werde aber auch allein voranschreiten – so habe er es mit anderen Bürgermeistern bei einer großen Städtekonferenz im Vorfeld verabredet.

DAS PROBLEM IST DIE VERBINDLICHKEIT

Immerhin erkennt die Vereinbarung von Cancún, in der Tradition der Übereinkunft von Kopenhagen (Copenhagen Accord), erstmals in einem UNO-Dokument ausdrücklich die Notwendigkeit des so genannten Zwei Grad-Ziels an, mit den Unterschriften von China und den USA. Ein Fort-schritt gerade in den Vereinigten Staaten, wo es noch immer zahlreiche und politisch nicht einflusslose Stimmen gibt, die ganz generell am menschlichen Einfluss auf den Klimawandel zweifeln. Den am stärksten betroffenen Inselstaaten wie die Fiji- und die Cook-Inseln, die Malediven und Tuvalu, die ein Ansteigen des Meeresspiegels am meisten fürchten, wäre allerdings eine noch ehrgeizi-gere Vorgabe lieber gewesen. Sie hatten sich für eine maximale Steigerung von 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter eingesetzt. Verbindliche Konsequenzen daraus allerdings werden nicht gezogen, auch fehlen konkrete langfristige Einsparziele oder gar Vorgaben für bestimmte energiein-tensive Branchen wie Landwirtschaft, See- und Luftfahrt. Verhandlungen darüber wurden in die Zukunft verlegt. Die COP-17 im südafrikanischen Durban Ende 2011 spielt die Rolle des neuen Hoffnungsträgers.

Die Aufforderung an die Industrieländer, bis 2020 ihre Emissionen um 25 bis 40 Prozent gegenüber 1990 zu verringern, bleibt genau dies: eine unverbindliche Auffor-derung mindestens für alle, die das Kyoto-Protokoll nicht unterzeichnet haben. Schwellenländer wie Brasilien, China und Indien werden nicht zu einer Reduktion aufgefordert. Von ihnen wird lediglich erwartet, „den Rhythmus der Stei-gerungen zu begrenzen‟. Immerhin ist China mittlerweile Spitzenreiter bei der Verschmutzung, Indien und Russland liegen auf den Plätzen drei und vier, noch vor Japan und Deutschland. 2014 wird der Weltklimarat (IPCC) eine Aktualisierung darüber abliefern, wie stark die Emissionen sinken müssen, um das Zwei Grad-Ziel einzuhalten. Dann

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Laut Weltbank wurden 2009 zertifikate im Gegenwert von 8,7 Milliarden Ton-nen CO² gehandelt. Vom Gesamtvolu-men von 103 Milliarden Euro entfielen 89 Milliarden Euro auf die EU.

auch wird man den Wert der Cancún-Beschlüsse ermessen können. Unverbindlich bleiben auch die künftigen Fort-schritt-Reports, die alle zwei Jahre seitens der Länder bei der UNO einzureichen sind. Maßnahmen, die mit den inter-nationalen Klimamitteln realisiert wurden, sollen geprüft werden – alle anderen Maßnahmen unterliegen lediglich nationaler Supervision.

Die Zukunft des Kyoto-Protokolls, das im Dezember 2012 ausläuft, bleibt damit in der Schwebe. Cancún war ein Zeit-gewinn, bis zur Konferenz in Südafrika zu Ergebnissen für eine Verlängerung zu kommen. In Mexiko gaben Japan, Russland und Australien zu Protokoll, einer Verlängerung nicht zuzustimmen. Sie sei sinnlos, solange die beiden größten „Verschmutzer‟ USA und China, zusammen verantwortlich für 42,2 Prozent der CO²-Emissionen, nicht eingebunden seien.

Am Kyoto-Protokoll hängt ganz wesentlich auch der Handel mit Emissionsrechten – eine wichtige Einnahmequelle für die Finanzierung von Maßnahmen gegen den Klimawandel gerade in den Entwicklungsländern. Die Weltbank hält in einer Studie einen jährlichen Transfer von zwischen 70 und 100 Milliarden Dollar bis zum Jahr 2050 für Adaptations-maßnahmen an die Klimaveränderungen für nötig. Allein in den ärmsten Entwicklungsländern würden mindestens 26 Milliarden Dollar jährlich gebraucht, die Projektion geht bis 2050. Das Protokoll sieht dafür einen entsprechenden

Adaptationsfonds vor, der aus dem Emis-sionshandel (Clean Development Mecha-nism – CDM) gespeist werden soll. Seine Nicht-Verlängerung hätte entsprechend auch unmittelbare finanzielle Auswirkungen. Allein 2009, so rechnete die Weltbank vor, wurden

Zertifikate im Gegenwert von 8,7 Milliarden Tonnen CO² gehandelt. Vom Gesamtvolumen des Kohlendioxidmarktes von 103 Milliarden Euro entfielen allein auf die Europäische Union 89 Milliarden Euro.

Zwar geht der Adaptationsfonds bereits auf den Klimagipfel in Maraskesh im Jahre 2001 zurück, seine konkrete Arbeit allerdings hat erst nach dem Bali-Gipfel 2007 begonnen. Sein Volumen soll bis 2012 rund 360 Millionen Dollar betragen. Spanien, Deutschland und Schweden haben

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Sollte in Durban ein rechtlich verbind-liches Folgeabkommen des Kyoto-Pro- tokolls beschlossen werden, könnte der Ratifizierungsprozess abermals Jahre in Anspruch nehmen.

zusätzliche zweckgebundene Mittel zur Verfügung gestellt. Mittlerweile sind Projekte im Senegal, in Pakistan und auf den Solomonen für eine Finanzierung aus diesem Fonds zertifiziert. 22 Millionen Dollar sollen dafür fließen – ein bescheidener Anfang. Gerade in den Entwicklungsländern müssen noch Institutionen aufgebaut werden, die ihren Part beim Emissionshandel effizient gestalten können.

Vor allem braucht die beteiligte Privatwirtschaft Planungs-sicherheit, die sie nach augenblicklichem Stand der Dinge nur begrenzt hat – dies gilt allerdings auch für andere Teile nationaler und internatio-naler Energiepolitik. Sollte nach der Unver-bindlichkeit von Cancún tatsächlich in Durban ein rechtlich verbindliches Folgeabkommen des Kyoto-Protokolls beschlossen werden, könnte der Ratifizierungsprozess in den Unterzeichner-staaten abermals Jahre in Anspruch nehmen. Die Folge könnte ein internationaler Flickenteppich rechtlicher Rege-lungen sein, vor dem es den Unternehmenslenkern nach einer im Spiegel veröffentlichten Umfrage der Beratungs-gesellschaft Accenture besonders graut. Eine Alternative wäre dann möglicherweise ein System von Einfuhrzöllen, das nationale und regionale Wettbewerbsverzerrungen auszugleichen versuchte.

UNTERSCHIEDLICHE INTERESSEN

Was die USA anbetrifft, scheinen sich die Hoffnungen darauf zerschlagen zu haben, Barack Obama könnte in der Umweltpolitik größere Anstrengungen unternehmen als sein Vorgänger und sich vor allem offener für international verbindliche Vereinbarungen zeigen. Der innenpolitische Handlungsspielraum des US-Präsidenten ist dazu – selbst guten Willen vorausgesetzt – augenscheinlich zu gering. Sein Gesetzentwurf zur Energie- und Klimapolitik ist im Sommer im Senat gescheitert, die neuen Mehrheiten versprechen keine Änderung. Cancún-Verhandlungsführer Todd Stern bekräftigte allerdings Obamas Versprechen von der Kopenhagen-Konferenz, den Ausstoß von Treib-hausgasen bis 2020 im Vergleich zu 2005 um 17 Prozent zu senken. Zur zentralen Streitfrage Kyoto-Protokoll ließ er verlauten, sein Land sei nicht Teil des Protokolls und werde daher auch keine Position dazu beziehen, ob eine

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Chinas Emissionen sind doppelt so hoch wie sein Beitrag zur Weltwirtschaft. Allerdings hat Peking im laufenden Fünfjahresplan angepeilt, die Umwelt-ausgaben zu verdoppeln.

Fortführung sinnvoll sei. „Das‟, so Stern, „überlasse ich den Kyoto-Parteien.‟ Immerhin scheint es im Vorfeld der COP-16 diskrete Verhandlungen nicht zuletzt mit China gegeben zu haben, die auf eine Annäherung der Stand-punkte hinarbeiteten. Analysten wie Daniel Weiss vom Center for American Progress bezweifeln, dass es über-haupt noch vor den Präsidentschaftswahlen 2012 zu einem neuen Anlauf kommt.

Die Positionen der Entwicklungs- und Schwellenländer sind eindeutig: Sie wollen sich nicht in ihren zukünftigen Wachstumsperspektiven behindern lassen und berufen sich darauf, dass es ja die Industrieländer waren, die die Welt an den Rand der Klimakatastrophe geführt hätten. So sagt etwa Hu Tao vom Policy Research Center for Environ-ment and Economy am 7. Dezember der Frankfurter Allge-meinen Zeitung: „Warum habe ich nur das Recht, rund vier Tonnen CO² im Jahr zu verursachen? Und Sie als Europäer über zwölf Tonnen? Und ein US-Amerikaner 22 Tonnen? Warum haben Sie dieses Recht und ich nicht?‟ Die Euro-päer täten mehr als die Nordamerikaner, aber noch lange nicht genug. „Amerika sollte das Kyoto-Protokoll unter-zeichnen.‟ Besonders beim Technologietransfer müssten sie sich flexibler zeigen.

Diese Argumentation verkennt allerdings, dass China nach Berechnungen der Internationalen Energieagentur bei

seinem CO²-Ausstoß schon jetzt über dem Weltdurchschnitt liegt und vermutlich bis 2020 europäisches Niveau erreicht. Chinas Emissionen sind derzeit doppelt so hoch wie sein Beitrag zur Weltwirtschaft. Hoffnung

macht allerdings, dass China in seinem bis 2015 laufenden Fünfjahresplan anpeilt, die Umweltausgaben zu verdop-peln. Zentrale Probleme bleiben jedoch die geringe Energie- effizienz und die starke Abhängigkeit vom Energieträger Kohle.

Die Europäer haben ihre Position seit Kopenhagen kaum verändert. Ihr Angebot: eine Reduzierung der Treibhaus-gase bis zum Jahr 2020 um 20 Prozent im Vergleich zu 1990. Sollten andere wichtige Länder und Ländergruppen mitziehen, hatte die EU-Kommission das Mandat, auf ehrgeizigere 30 Prozent aufzustocken – dazu kam es nicht.

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Auch Deutschland werde, so Energie- ökonomen, seinen Weg nur dann durch- halten können, wenn bis 2020 ein weltweit verbindliches Klimaabkom-men erarbeitet wird.

Noch ehrgeiziger war die Bundesrepublik: Sie strebt – so steht es auch im Koalitionsvertrag – bis 2020 eine vierzig-prozentige Reduzierung an, ein ehrgeiziges Energiekonzept soll dabei helfen. Bis Ende 2009 habe man, so Umweltmi-nister Norbert Röttgen, immerhin schon nahezu 29 Prozent erreicht. Die Vorgabe für 2020 sei also realistisch.

Die EU und ihre Mitglieder machten aber auch klar, dass es zu weiteren einseitigen Vorleistungen nicht kommen werde. Schon jetzt stöhnt vor allem die Industrie unter hohen Lasten durch hohe Energiepreise, die sich durch das Setzen auf die erneuerbaren Ressourcen und entsprechende natio nale Gesetzesan passungen noch erhöhen werden. Auch Deutschland werde, so Energieöko-nomen, seinen Weg nur dann durchhalten können, wenn bis 2020 ein weltweit verbindliches Klimaabkommen erar-beitet wird. Sollten nämlich nur Deutschland oder vielleicht die EU kohlendioxidarme Techniken auf Kosten der Wirt-schaft subventionieren, könnten energieintensive Bran-chen ins Ausland abwandern. „Die EU kann dann ihr Treib-hausgas-Reduktionsziel auf 30 Prozent aufstocken, wenn sich auch alle anderen Industrie- und Schwellenländer auf ehrgeizige Reduktionsziele und Emissionsobergrenzen verpflichten. Sonst verlieren wir in Europa und vor allem in Deutschland moderne Produktionsanlagen und Jobs‟, sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Werner Schnappauf, zu den Konferenzergebnissen. Ein weiteres Problem: Durch einseitige Vorleistungen könnten andere Länder ermuntert werden, in ihren Reduktionsanstrengungen nachzulassen.

WER zAHLT BIS WANN WIE VIEL AN WEN?

Mit dem Vorschlag eines „grünen Fonds‟, zusätzlich zu den Mitteln aus dem Adaptationsfonds des Kyoto-Protokolls, war Mexiko noch in Kopenhagen gescheitert. In Cancún gehörte der „grüne Fonds‟ nun zu den konkretesten Ergeb-nissen. 30 Milliarden Dollar sollen im Zeitraum 2010 bis 2012 in den Klimaschutz der Entwicklungsländer fließen, bis 2020 sind anschließend jährlich 100 Milliarden Dollar Investitionen geplant. Die moralische Komponente bei all dem: Gerade die am stärksten betroffenen Länder haben zum Klimawandel bekanntlich am wenigsten beigetragen.

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Umweltgruppen fürchten, neue zusa-gen könnten mit „alten‟ Fonds verrech-net werden. zum Teil könnten schlicht Umwidmungen innerhalb der Entwick-lungsetats erfolgen.

Um „historische Gerechtigkeit‟ geht es daher vielen, eine nicht eben einfach zu handhabende Kategorie. Unklar bleibt allerdings, von wem dieses Geld wie aufgebracht werden soll und wie die Verwaltung der Mittel konkret aussieht. Die Weltbank soll dabei zumindest vorübergehend in den ersten drei Jahren die Schatzmeisterrolle spielen – kontrol liert werden soll ihre Zuwendungspolitik von einem Gremium, in dem Industrie- und Entwicklungsländer mit gleicher Stimmenzahl vertreten sind.

Schon jetzt allerdings beginnt das Rechnen und Verrechnen. Der europäische Verhandlungsführer Artur Runge-Metzger erwähnte in Cancún in seiner Zwischenbilanz, die Europä-ische Union habe inzwischen 2,2 Milliarden Euro von den sieben Milliarden ausgezahlt, die für den Zeitraum 2010 bis

2012 für Klimaschutz zugesagt worden waren. Rund eine Milliarde sei dabei in Maßnahmen zur Reduktion von Treibhausgasen geflossen, 735 Millionen wurden für Adaptationsmaß-nahmen aufgewendet, 562 Millionen wurden

unter anderem in Aufforstungsprogramme investiert. Umweltgruppen fürchten gleichwohl überall, neue Zusagen könnten mit „alten‟ Fonds verrechnet werden. Zum Teil könnten schlicht Umwidmungen innerhalb der Entwick-lungsetats erfolgen, von kreativer Buchführung bei der Einbeziehung privater Investitionen ganz zu schweigen.

FORTSCHRITTE BEIM WALDSCHUTz

Waldschutz war ein weiteres Feld, auf dem man in Cancún ackerte und zumindest zu Teilergebnissen gelangte. Entwaldung ist nach UNO-Studien immerhin für 18 Prozent des Ausstoßes von Treibhausgasen verantwortlich. Das Zauberwort dabei heißt REDD (reducing emissions from deforestation and forest degradation). Dahinter verbirgt sich letztlich die Absicht, dass diejenigen Länder, die ihre Tropenwälder schützen und die Waldzerstörung gegenüber heute nachweisbar vermindern, künftig einen finanziellen Ausgleich erhalten sollen. Waldschutz als ökologische Dienstleistung soll sich damit auch ökonomisch lohnen.

Schwierig bleiben aber auch hier manche Fragen zu beant-worten, zum Beispiel die, wer genau in welcher Form profitieren soll und welche Formen des Monitoring adäquat

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Die Verhandlungsdynamik will es offen- bar, dass zweiwöchige Verhandlungen eher das Vorspiel für einen dramati-schen Showdown bilden. So auch in Cancún.

sind. Auch ist zu verhindern, dass lediglich artenreiche Primärwälder durch monokulturelle Plantagenwälder er- setzt werden. Viele der besonders gefährdeten Gebiete liegen zudem in Zonen, in denen in zahlreichen Ländern die Regierungskontrolle begrenzt ist. Einige Länder wie zum Beispiel Brasilien und Mexiko machen allerdings bereits gute Erfahrungen mit diesen Programmen und versuchen, die Mechanismen zu verbessern. Ein wichtiges Ziel dabei: für ausländische Geber die Garantie zu bieten, dass die Mittel auch zweckdienlich investiert werden. Auch könnten durch praktische Beispiele hier Standards gesetzt werden, die sich anschließend in den verbindlichen Regeln der UNO-Mechanismen wiederfinden. Nicht umsonst führt Brasilien den Klimaschutzindex von Germanwatch an – vor allem wegen jüngster Erfolge gegen die Zerstörung des tropischen Regenwaldes.

Manchen Umweltschützern – dies war in Cancún zum Beispiel Teil der bolivianischen Argumentation – geht der ganze Mechanismus gegen den Strich. Sie befürchten, dass damit einer Privatisierung der Waldgebiete Vorschub geleistet werde und eine ungerechtfertigte Aneignung stattfinden könnte. Die Leidtragenden aus ihrer Sicht wären ganz besonders indigene Bevölkerungsgruppen, die in und von diesen Wäldern leben. Ihre Beteiligung an Entscheidungen auf dem Gebiet des Waldschutzes und ein hoher Grad an Transparenz ist generell eine Mindestanfor-derung an REDD-Politik.

ES BLIEB NUR EIN „ABWEICHLER‟

Bis zuletzt hatten die Vertreter von 194 Staaten um die Worte der Schlusserklärungen gerungen – ein für internationale Mega-Konferenzen übliches Procedere. Die jewei- lige Verhandlungsdynamik will es offenbar, dass zweiwöchige Verhandlungen eher das Vorspiel für einen dramatischen Showdown bilden, für den immer wieder drohend das Schreckgespenst eines völligen Schei-terns an die Wand gemalt wird. So auch in Cancún, wo eine Annäherung der wesentlichen Akteure erst in den letzten Stunden erfolgte.

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Die bolivianische Maximalposition der Ablehnung blieb am Schluss allein. Selbst die ALBA-Verbündeten aus Kuba, Venezuela und Ecuador stimmten zu.

Einzig Bolivien kämpfte bis zuletzt gegen die schließlich erreichten Lösungen – zu wenig sei erreicht worden, befand sein Delegierter Pablo Solón Romo, der die Geduld aller anderen Teilnehmer stark strapazierte. Gar als „Völker- mord‟ hatte er zudem die Klimapolitik der Industrieländer bezeichnet. Bolivien sah sich dabei vor allem auch als Sprecher der Initiative Vía Campesina, die sich 1993 als Vertreter kleiner und mittlerer Agrarproduzenten formierte und mittlerweile 148 Organisationen in 69 Ländern koor-diniert. Sie hatten sich in der so genannten Vereinbarung der Völker im bolivianischen Cochabamba im April auf die Forderung verständigt, von den entwickelten Ländern eine verbindliche Reduzierung ihrer CO²-Emissionen bis 2017 um fünfzig Prozent zu fordern. Ein deutlich großzügiger ausgestatteter „Adaptationsfonds‟ sollte danach unter COP-Verwaltung stehen, mit wesentlicher Beteiligung der Entwicklungsländer. Die Waldpolitik, wie sie REDD vorsieht, wird von der Vía Campesina abgelehnt.

Zur Überraschung vieler Beobachter blieb diese bolivianische Maximalposition der Ablehnung am Schluss aber allein. Selbst die ALBA-Verbündeten (Allianza Bolivariana para

los Pueblos de América) aus Kuba, Venezuela und Ecuador schlossen sich dem Rest der Staatengemeinschaft an, deren Mitglieder, eines nach dem anderen, ihre Zustim-mung zu Protokoll gegeben hatten. Die Konferenzpräsi-dentschaft setzte sich schließlich über die Einsprüche Boli-viens hinweg: „Konsens bedeutet nicht Einstimmigkeit‟, beschied Patricia Espinosa unter Applaus aller anderen den Versuch Boliviens, ein Konferenzergebnis zu verhindern und ein Quasi-Veto auszuüben. Da hatte man in La Paz augenscheinlich zu hoch gepokert. Um 3 Uhr 30 morgens wurde am 11. Dezember das Konferenzergebnis schließlich offiziell. Die Bolivianer allerdings kündigten unmittelbar danach an, vor der UNO-Gerichtsbarkeit die Gültigkeit der Beschlüsse anzufechten – der Ausgang erscheint mehr als zweifelhaft.

Ganz grundsätzlich aber hört man vielerorts Zweifel, ob internationale Mega-Ereignisse mit Zehntausenden von Teilnehmern wirklich das ideale Format für echte Fort-schritte sind, zumal dann, wenn es am Ende auf wenige, echte „Verhandler‟ ankommt. 6300 nationale und UNO-

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Eine geschickte Steuerung der Kon-ferenz mit einem Gastgeber, der sich stets konstruktiv verhielt, habe zum Erfolg beigetragen, so Teilnehmer.

Delegierte kamen in Cancún zusammen, weitere 15.000 Vertreter von rund 300 nationalen und internationalen Nicht-Regierungsorganisationen komplettierten das Pano-rama. Zwar tragen Bilder und Konferenzdynamik nicht zuletzt dazu bei, ein Thema medial zu positionieren, an der Komplexität der Fragen scheitern allerdings viele Berichterstatter und Formate. Konsequenz: die übliche Zuspitzung und Schwarz-Weiss-Perspektive mit der Suche nach den Schuldigen, wenn die politischen Entscheidungen mal wieder hinter den auch von interessierter NGO-Seite dramatisierten Lösungsbedürfnissen zurückbleiben.

VIEL LOB FüR DEN GASTGEBER

Viel Lob erhielt hingegen Mexiko als Gastgeber und Außen-ministerin Patricia Espinosa als Präsidentin des Events. Nicht zuletzt eine geschickte Steuerung der Konferenz mit einem Gastgeber, der sich stets konstruktiv und vertrauensbildend verhielt und sich bewusst nicht in den Vordergrund drängte, habe zum Erfolg wesentlich beige-tragen, so Teilnehmer. UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon schloss sich diesem Lob ausdrücklich an. Mexiko und seiner eher leisen Außenpolitik tut diese Anerkennung gut, wird sie doch immer mit dem eher lautstarken Brasilien vergli-chen. Auch kommt das von Rauschgifthandel und Gewalt gebeutelte Land endlich einmal mit positiven Nachrichten in die internationalen Schlagzeilen.

Schon bei der Eröffnung der COP-16 am 29. November hatte sich Präsident Felipe Calderón gegen das „falsche Dilemma‟ ausgesprochen, Wachstum und Klimaschutz als Gegensätze zu sehen. Es sei absolut möglich, die Emis-sion klimaschädlicher Gase zu reduzieren und gleichzeitig nicht nur ökonomisches Wachstum aufrecht zu erhalten, sondern vielmehr neue Formen der Produktivität, des Wachstums und der Schaffung von Arbeitsplätzen zu generieren. Der Armutsbekämpfung, so Calderón vor den Vertretern der 194 Teilnehmerstaaten, komme dabei höchste Bedeutung zu. In der Zeitschrift Die Politische Meinung der Konrad-Adenauer-Stiftung hatte Calderón schon zuvor geschrieben, dass die Kosten für ein Nicht-Handeln höher seien als die für gezielte Aktionen: Im Fall Mexiko seien ohne Klimaschutz bis Mitte des Jahrhunderts

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Mit einer intensiven Reisediplomatie hatte die mexikanische Außenministe-rin Espinosa versucht, zumindest die Lateinamerikaner für eine gemeinsame Linie zu gewinnen.

Umweltschäden in Höhe von sechs Prozent des Bruttoin-landsprodukts zu erwarten, die kontinuierlichen Kosten für Mitigationsmaß nahmen lägen lediglich bei 0,56 Prozent.

Klimaschutz ist für den Präsidenten eine erklärte Priorität. Immer wieder nahm er internationale Treffen zum Anlass, die Gemeinschaft der Staaten an ihre gemeinsame Verant-wortung zu erinnern, zuletzt beim G-20-Gipfel im kanadi-schen Toronto, dem Treffen der afrikanischen Staatschefs in Ugandas Hauptstadt Kampala oder der Eröffnung der Bonner Cancún-Vorbereitungskonferenz Mitte des Jahres – hier gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Die aktuellen wirtschaftlichen Schwierig-keiten, so der Präsident damals, dürften die Aufmerksamkeit nicht von einer Problema- tik abziehen, für die die Welt keine zweite Chance erhalten werde. Mit einer intensiven

Reisediplomatie hatte Außenministerin Espinosa versucht, zumindest die Lateinamerikaner für eine gemeinsame Linie zu gewinnen. Im Juli hatte sie zudem asiatische Schlüssel-länder besucht. Auch hier stand die Frage der Unterstüt-zung für Cancún im Mittelpunkt.

DAS BEISPIEL DES SCHWELLENLANDES MExIKO

Mexiko hat immer wieder eine gewisse Mittelposition einge-nommen, indem es einerseits zusätzliche Anstrengungen der Industrieländer zur Reduktion der Treibhausgase anmahnte, gleichzeitig aber auch für konkrete Verpflich-tungen der Schwellen- und Entwicklungsländer plädierte. Hier ging das Land mit der Selbstverpflichtung, die eigenen Treibhausgasemissionen bis 2020 um 30 Prozent zu redu-zieren, voran. Auch plädiert Mexiko nachhaltig für den internationalen Emissionshandel und eine zweite Phase des Kyoto-Protokolls. Das Land ist allerdings nur für 1,6 Prozent des internationalen CO²-Ausstoßes verantwortlich. Selbst ein ambitioniertes Programm, das auf erneuerbare Ener-gien setzt, entlastet das Weltklima so nur unwesentlich.

Für den Zeitraum von 2009 bis 2012 hat die mexikani-sche Regierung ein „Spezialprogramm gegen den Klima-wandel‟ (PECC) aufgelegt, in dessen Analyseteil die beson-dere Verwundbarkeit des Landes deutlich gemacht wird: Danach sind 15 Prozent des nationalen Territoriums und

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Im Sinne einer nachhaltigen Entwick-lung geht es darum, die Energieeffizi-enz und die Effizienz beim Ressourcen-verbrauch erheblich zu steigern.

68,2 Prozent der Bevölkerung erhöhten Risiken ausge-setzt, über 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts könnten betroffen sein. Mehr als 20 Millionen Mexikaner leben allein in Gebieten, die von den Auswirkungen von Tropenstürmen betroffen sind. Die geografische Lage des Landes zwischen den Ozeanen, seine Klimabedingungen und hydrologischen Gegebenheiten machen den Klimaschutz zu einer zent-ralen Aufgabe, die lange vernachlässigt wurde. In spezi-ellen „Risiko-Atlanten‟ will man nun bis 2012 Grade der Verwundbarkeit spezifizieren, die Verantwortlichkeiten der Bundesstaaten einbeziehen und ein „Programm der ökolo-gischen Neuordnung‟ auf den Weg bringen.

Was getan werden müsste, zeigt ein Gesetzentwurf von PAN-Senator Alberto Cárdenas Jiménez: Zentral sei ein stabiler juristischer Rahmen für Innovationen bei erneuer-baren Energien, für das Energiesparen und die Reduktion des Treibhausgases CO². Dafür formuliert er die Reduk-tion von 51 Millionen Tonnen CO² bis 2012 als klares Ziel. Zur Implementierung wird eine Klimakommission mit ausgedehnten Kompetenzen vorgeschlagen. Über die nationale Variante eines „Grünen Fonds‟ könnten die materiellen Ressourcen gebündelt werden – auch internationale Zuwendungen könnten hier einfließen. Ferner solle ein nationales Emissionsregister geschaffen werden. Ein Emissionsmarkt müsse entstehen, Verstöße müssten mit klaren Sanktionen geahndet werden können. Auch gehe es im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung darum, die Energieeffizienz und die Effizienz beim Ressour-cenverbrauch erheblich zu steigern. Parallel aber braucht Mexiko erhebliche Unterstützungen, um überhaupt ein eigenes Monitoring zu verbessern.

NATURKATASTROPHEN STäRKEN PROBLEMBEWUSSTSEIN

Klimatische Extremsituationen der jüngsten Zeit haben die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung immer wieder auf den Klimawandel gelenkt. Das Problembewusstsein in Sachen Umwelt steigt. Jedes Jahr kommen in Mexiko mehr als 500 Menschen bei Naturkatastrophen ums Leben, über eine Million Menschen verlieren regelmäßig ihr Hab und Gut, Schäden an der Infrastruktur gehen in die Milliarden.

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überschwemmungen und große Dürren wechseln sich ab, mit verheerenden Konsequenzen. Studien sprechen von erheblichen Auswirkungen auf die Bio-diversität Mexikos.

Im Frühjahr 2010 erst hat der Hurrican Alex den Norden des Landes und die Industriemetropole Monterrey verwüstet.

Eine deutliche Zunahme solcher Ereignisse verzeichnet der nationale Katastrophen-schutz in den zurückliegenden zehn Jahren. Regenzeiten gebe es heute in sehr viel unre-

gelmäßigerer Form als früher. Überschwemmungen und große Dürren wechselten sich ab, mit verheerenden Konse-quenzen auch für die Landwirtschaft. Wissenschaftliche Studien zeigen eine zusätzliche Dramatik: Sie sprechen bei einem nachhaltigen Temperaturanstieg von erheblichen Auswirkungen auf die Biodiversität Mexikos und sehen nicht zuletzt Konsequenzen für die Tropenwälder des Landes. Die Studie Die Ökonomie des Klimawandels in Latein-amerika und der Karibik, die von der UNO-Wirtschafts-kommission für Lateinamerika (CEPAL) Ende 2009 vorge- legt wurde, beziffert den jährlichen Schaden durch Natur-katastrophen in der Region schon jetzt auf jährlich 8,6 Milliarden US-Dollar, Tendenz stark steigend.

Noch immer ist das Umweltbewusstsein im Lande sehr unterentwickelt. Mexikanische Autoverkäufer wissen zwar ganz genau zu erklären, wie stark die Maschine eines Fahrzeugs ist – bei gleichem Modell erheblich stärker als zum Beispiel in Deutschland. Über Umweltstandards können sie dagegen kaum Aussagen machen. Subventi-oniertes, billiges Benzin tut ein Übriges, dass gerade die besitzenden Schichten des Landes gern zu prestigeträch-tigen Autos greifen, deren Durchschnittsverbrauch jenseits der 15 Liter liegt. In den Supermärkten wird der Einkauf kostenfrei in Bergen von Plastiktüten untergebracht, und selbst kürzeste Wege zu Fuß zu erledigen, erwägen viele Mexikaner höchstens in Notfällen.

Legendär ist die Wasserverschwendung: In der gerade in Trockenzeiten immer wieder von Kürzungen der Wasser-zufuhr betroffenen Metropolregion der Bundeshauptstadt etwa erreichen rund 40 Prozent der inzwischen von weither gepumpten Mengen die 22 Millionen Einwohner gar nicht erst – sie gehen unterwegs verloren. Investitionen in die marode Infrastruktur gelten Entscheidungsträgern als politisch unrentabel. Nur ein Bruchteil des verbrauchten Wassers wird geklärt. Die massiven Subventionen des

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Die oberflächennahen mexikanischen Ölvorkommen, die mit geringen Kosten zum Beispiel im wichtigsten Ölfeld Cantarell gefördert werden, gehen zur Neige.

Wasserpreises sind zudem wenig geeignet, die Menschen zum sparsamen Umgang mit diesem knappen Gut anzu-halten – ähnliches gilt für Elektrizität. Nach wie vor gehört die tägliche morgendliche Autowäsche durch dienstbare Hausangestellte in Mexikos „besseren‟ Wohnvierteln zum Standard – ebenso wie das Abspritzen der Bürgersteige.

EIN EHER STILLER PROTAGONIST

Gleichzeitig ist Mexiko mit seinen nach wie vor vorhan-denen, aber stark zurückgehenden Reserven an nicht erneuerbaren Energien, speziell Erdöl, an der Entwicklung und Nutzung erneuerbarer Energien besonders interessier. Die Dringlichkeit der Debatte lässt sich auch daran fest-machen, dass Mexiko nach wie vor rund 40 Prozent seiner Haushaltseinnahmen aus dem Verkauf von Rohöl deckt. Hier liegt auch die wichtigste Devisenquelle des Landes – deutlich vor den Überweisungen der Auslandsmexikaner in ihre Heimat und den Einnahmen aus dem Tourismus.

Eine erste Energiereform der Regierung Calderón gleich zu Beginn seiner sechsjährigen Amtszeit blieb – auch aufgrund zahlreicher Tabus im Zusammenhang mit der staatlichen Energiefirma PEMEX – weit hinter den Notwendigkeiten zurück und verlangt nach einer Reform der Reform. Hohe Aktualität hat diese Debatte jetzt allerdings durch den Ölunfall von BP im Golf von Mexiko und den Untergang der Platt-form Deepwater Horizon erhalten. Die ober-flächennahen mexikanischen Ölvorkommen, die mit geringen Kosten zum Beispiel im wichtigsten Ölfeld Cantarell gefördert werden, gehen drastisch zur Neige. Für die Erschließung neuer Felder sind just die jetzt in die Kritik geratenen Tiefseebohrungen erforderlich.

Überaus vielversprechend sind in Mexiko die Möglich-keiten für Wasser- und Windkraft sowie Bioenergie, wie Experten feststellen. Vor allem der Süden des Landes und der Bundesstaat Oaxaca mit seinen thermischen Gege-benheiten an der Engstelle zwischen Pazifik und Karibik garantieren exzellente Ergebnisse. Der Norden des Landes mit seinen ausgedehnten Wüsten- und Halbwüstenge-bieten bietet zudem ein enormes Potential für die Sonnen-energie, wofür sich mexikanische Politiker bereits in den

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Mexiko muss nicht immer in der ersten Reihe stehen. Der Klimaschutz ist ein gutes Beispiel dafür, dass man auch als „stiller Protagonist‟ Erfolge erzie-len kann.

USA und Europa informieren. Windkraft- und Solaranlagen haben zudem den Vorteil, kleine, nicht an das allgemeine Stromnetz des Landes angeschlossene Gemeinden dezen-tral zu versorgen – und davon gibt es noch viele. Auch will Mexiko auf der Suche nach einem intelligenten Energiemix nicht auf die Nuklearenergie verzichten, die mit dem Kraftwerk Laguna Verde erheblich zur Energiesicherheit des Landes beiträgt. Interessante Uranvorkommen, deren Erschließung allerdings größere Investitionen benötigte, runden das Bild ab.

Zurückhaltender ist man demgegenüber bei der Produktion von Biotreibstoffen: Hier ist die Befürchtung groß, dass sie die traditionelle Nahrungsmittelproduktion, speziell Mais, verdrängen könnte – mit erheblichen Auswirkungen gerade auf die einkommensschwächsten Teile der Bevölkerung. Die Landwirtschaft trägt in Mexiko zwar nur vier Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, steht aber für 15 Prozent der Arbeitsplätze. Der klimasensible Mais wird dabei auf der Hälfte der mexikanischen Ackerfläche angebaut. Ein neuer Bericht der Weltbank kommt zu dem Schluss: „Die Klimaerwartungen für Mexiko im Jahr 2020 gehen von einer moderaten Reduktion der Fläche aus, auf der Mais angebaut werden kann, der Anteil der Flächen, wo dies nicht möglich ist, steigt.‟

Mexiko ist mit vielen seiner Problemen und vielen seiner Antworten nicht untypisch für die Lage in den Schwellen-ländern. Die Bereitschaft des Landes, international eine konstruktive Rolle zu spielen, die eigene Verantwortung

zu sehen und wahrzunehmen und vor allem an der Schnittstelle zwischen entwickelter und sich entwickelnder Welt auch Vermittler-dienste anzubieten, hat sich in Cancún eindrücklich bestätigt. Das mexikanische Be-

kenntnis zum Multilateralismus und zur UNO steht über Jahrzehnte. Dass man trotz der eigenen Größe – 112 Milli-onen Einwohner und ein Bruttoinlandsprodukt, dass es fast unter die ersten zehn der Weltwirtschaft schafft – nicht immer in der ersten Reihe stehen muss, empfinden viele als wohltuend, gerade im internationalen Vergleich. Der Klimaschutz ist ein gutes Beispiel dafür, dass man auch als „stiller Protagonist‟ Erfolge erzielen kann.

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Holger Dix

Die in der Allianz für die Europäische Integration AIE vereinten Parteien konnten die vorgezogenen Parlaments-wahlen vom 28. November 2010 für sich entscheiden und damit eine Rückkehr der Kommunistischen Partei an die Regierung verhindern. Die Untiefen der politischen Krise und der Verfassungskrise des Landes konnten durch die Wahlen aber noch nicht verlassen werden. Erneut brachte das Wahlergebnis keine für die Wahl des Staatspräsidenten im Parlament notwendige Mehrheit. Wie schon im Juli 2009 und November 2010 drohen vorgezogene Neuwahlen.

ANHALTENDE IDENTITäTSSUCHE

Seit ihrer Gründung im Jahr 1991 befindet sich die Republik Moldau auf einer politischen und geopolitischen Identi-tätssuche1 mit wechselnden Orientierungen und anhal-tenden politischen Krisen: eine Phase von politischer Instabilität (bis 2000), eine Phase der politischen Stabi-lität und Wiederannäherung an Russland in den ersten vier Jahren nach Rückkehr der Kommunistischen Partei in die Regierung (bis 2005), eine Phase der Annäherung an die Europäische Union unter kommunistischer Regie-rung bei gleichzeitig zunehmender staatlicher Repression sowie seit 2009 eine Phase der Ablösung der Kommunisten durch eine Koalition für die Europäische Integration mit

1 | Siehe dazu ausführlich: Dan Dungaciu, Moldova ante portas (Bukarest, 2005).

Dr. Holger Dix ist Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bukarest und leitet die Büros in Rumänien und der Republik Moldau.

DIE REPUBLIK MOLDAU AM VERMEINTLICHEN ENDE EINES WAHLMARATHONSNEUAUFLAGE DER ALLIANz FüR DIE EUROPäISCHE INTEGRATION UND WEITERHIN UNSICHERE PERSPEKTIVE

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Die staatliche Einheit der Republik Mol-dau ist prekär. Schon unmittelbar nach der Staatsgründung spaltete sich der Landesteil Transnistrien ab.

einer entsprechenden europafreundlichen Politik, begleitet von einer fortgesetzten politischen Krise mit mehrfachen Neuwahlen ohne klärende Wahlergebnisse.

Auch die Identität der politischen Akteure bleibt in hohem Maße schleierhaft. So gebiert sich die Kommunistische Partei bei der Bedienung der eigenen Klientel als höchst kapitalistisch, demokratische Kräfte unterliegen dem Verdacht oligarchischer Interessen und vehemente Anti-

kommunisten wurden zu Steigbügelhaltern der Kommunistischen Partei PCRM. Zudem ist die staatliche Einheit prekär. Schon unmittelbar nach der Staatsgründung der Republik Moldau spaltete sich ein Teil des

Landes, der stärker industrialisierte und russischsprachig dominierte Landesteil Transnistrien, nach einem kurzen, bewaffneten Konflikt ab und bildete ein international nicht anerkanntes, separatistisches Regime. Der fortdauernde Transnistrien-Konflikt hat der moldauischen Regierung die Kontrolle über einen Teil ihres Territoriums entzogen und stellt eine Belastung sowohl für die Handlungsfähigkeit der Regierung als auch für die europäische Integration Moldaus dar. Ein weiterer Teil der Republik Moldau, die Autonome Territoriale Einheit Gagausien, hat sich seit 1990 zunächst als nicht anerkannte, eigenständige Gagausische Sozia-listische Republik abgespalten und ist seit 1994 eine von der Republik Moldau anerkannte, autonome Region mit eigenem Parlament und eigener Regierung.

Kennzeichnend für das Land ist auch eine wechselnde Orientierung hinsichtlich der Anbindung an die Europäische Union und Russland, die in der Rückbetrachtung insge-samt eher durch Pragmatismus als durch Prinzipientreue geprägt zu sein scheint. Eine Annäherung an die EU findet derzeit in der Bevölkerung und parteiübergreifend eine breite Zustimmung. Die jetzige Regierung unter Feder-führung von Ministerpräsident Vlad Filat und Außenmi-nister Iurie Leancă hat seit der Regierungsübernahme die Beziehungen zur EU intensiviert. Verhandlungen über ein Assoziationsabkommen, das ein umfassendes Freihandels-abkommen einschließen soll, konnten aufgenommen und

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Russland begreift die Republik Moldau als zugehörig zu einer exklusiven Ein-flusszone, in der sich auch die anderen Länder der Ex-Sowjetunion befinden.

erfolgreich vorangetrieben werden.2 Unmittelbar nach dem Regierungsantritt wurden Einreisebeschränkungen gegen-über Rumänien aufgehoben, die von der PCRM-Regierung im Zeichen der Unruhen vom April 2009 eingeführt worden waren. Noch kurz vor der Parlamentswahl im November 2010 konnte Ministerpräsident Filat ein Grenzmanagemen-tabkommen mit Rumänien unterzeichnen.

Auf der anderen Seite übt Russland auch beinahe 20 Jahre nach der Erklärung der Unabhängigkeit der Republik Moldau einen wesentlichen Einfluss auf das Land aus, der je nach Verhalten der moldauischen Regierung die Form einer partnerschaftlichen Kooperation oder einer entschiedenen Intervention annehmen kann. Grundsätzlich begreift Russland die Republik Moldau als zugehörig zu einer exklusiven Einflusszone, in der sich auch die anderen Länder der Ex-Sowjetunion befinden. Die Hebel für diese Einflussnahme reichen vom Transnistrien-Konflikt über die Wirtschaftsbeziehungen und die Energieversor-gung, den russischen Einfluss auf die Meinungsbildung über die Medien, die Russisch-Orthodoxe Kirche und die russische Minderheit im Land.3 Russland kooperiert eng mit der Regierung in Tiraspol und unterstützt diese politisch, finanziell, wirtschaftlich und militärisch. Gegen Transnist-rien gerichtete Maßnahmen der moldauischen Seite führen zu Reaktionen Russlands wie etwa im März 2006, als die moldauische Regierung die Exporte von nicht in Chișinău registrierten transnistrischen Unternehmen blockierte und Russland daraufhin einen Importstopp für moldauischen Wein verhängte. Russland belässt seine Truppen und mili-tärische Ausrüstung in Transnistrien, obwohl Moskau schon anlässlich des OSZE-Gipfels von Istanbul im Jahr 1999 deren Abzug zugesagt hatte. Überdies nutzt Russland seine Bedeutung als Absatzmarkt, um die Regierung der

2 | Vgl. dazu die Erklärungen der amtierenden Außenministerin Natalia German und des EU-Botschafters Dirk Schübel anläss- lich der Konferenz „Republik Moldaus Zukunft in der Europä- ischen Union. Stand und Perspektiven der Annäherung‟ der Konrad-Adenauer-Stiftung vom 16.11.2010 in Chișinău. Audiodatei unter: http://kas.de/moldawien/de/publications/ 21313 [21.12.2010].3 | Vgl. Radu Vrabie, „Relationship of the Republic of Moldova with the Russian Federation‟, in: Foreign Policy Association und Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), The Foreign Policy of the Republic of Moldova (1998-2008) (Chișinău 2010), 99-112.

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Die PDM beschreibt sich als sozial-demokratisch und sozialliberal. Sie ist Mitglied in der Sozialistischen Interna-tionalen und hat mit der Partei Einiges Russland ein Abkommen zur zusam-menarbeit geschlossen.

Republik Moldau bei Bedarf unter Druck zu setzen, zuletzt erneut durch ein Importverbot von moldauischem Wein als Reaktion auf die Ankündigung des Interims-Präsidenten Mihai Ghimpu, den 28. Juni zum Gedenktag an die Sowje-tische Besatzung zu machen.

zERKLüFTETE PARTEIENLANDSCHAFT,INSTABILE BüNDNISSE

Die Parteienlandschaft der Republik Moldau zeichnet sich durch eine hohe Zahl von Parteien aus, die teilweise sehr kurzer Lebensdauer sind.4 Seit der Unabhängigkeit wurden insgesamt 104 Parteien registriert. Rechnet man jene Parteien heraus, die nur ihren Namen geändert haben, bleiben noch immer 77 unterschiedliche Gruppierungen, die in den vergangenen 20 Jahren um die Wählergunst von zuletzt ca. 2,9 Millionen Wahlberechtigten warben. Zu den Parteien mit realistischen Aussichten auf den Einzug ins Parlament zählten zuletzt die Demokratische Partei Moldaus, die Liberale Partei, die Allianz Unsere Moldau, die Liberaldemokratische Partei sowie die Kommunistische Partei der Republik Moldau PCRM.

Der Vorläufer der Demokratischen Partei Moldau, die „Sozial politische Bewegung für ein Demokratisches und

Prosperierendes Moldau (MpMDP), entstand 1997 und wurde im April 2000 in Demokra-tische Partei Moldaus (PDM) umbenannt. Die Partei beschreibt sich als sozialdemokratisch und sozialliberal, ist Mitglied in der Sozialisti-schen Internationalen und hat mit der Partei

Einiges Russland ein Abkommen zur Zusammenarbeit geschlossen. In einem Wahlblock gelang der PDM bereits 1998 der Einzug ins Parlament, bei den vorgezogenen Neuwahlen von 2001 scheiterte die Partei mit einem Wahler-gebnis von fünf Prozent an der Wahlhürde, deren Erhöhung von vier auf sechs Prozent sie vorher unterstützt hatte.5 Bei den Parlamentswahlen 2005 gelangte die PDM nach der Bildung eines Wahlblocks erneut mit insgesamt acht Abge-ordneten ins Parlament. Als dann eigenständige Fraktion wählte die Partei gemeinsam mit den Christdemokraten

4 | Vgl. Igor Volnitchi, Istoria Partidelor din Republica Moldova (Chișinău: 2010).5 | Ebd., 88 ff.

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Bei den Parlamentswahlen vom April 2009 wurde die liberale PL stärkste Oppositionskraft. Sie hat sich bei den Wählern rumänisch-nationaler Orien-tierung angesiedelt.

(PPCD) und der Sozialliberalen Partei den kommunistischen Kandidaten Vladimir Voronin im Parlament zum Staatsprä-sidenten, um eine politische Blockade aufzuheben. Im Jahr 2007 kam es zu einem innerparteilichen Konflikt zwischen dem Parteivorsitzenden Dumitru Diacov und Vlad Filat, der daraufhin die PDM verließ und die Liberaldemokratische Partei Moldaus PLDM gründete. Bei den Parlamentswahlen vom April 2009 erreichte die PDM nur zwei Prozent der Stimmen und schaffte den Einzug ins Parlament nicht.

Mit dem Übertritt des ehemaligen Parlamentspräsidenten Marian Lupu von der Kommunistischen Partei zur PDM vor den Parlamentswahlen vom Juli 2009 gewann die Partei deutlich an Unterstützung. Allerdings waren die politischen Kosten für den Übertritt Lupus für die alte Garde der PDM hoch. Lupu forderte erfolgreich seine Wahl zum Parteivor-sitzenden sowie die ersten fünf Listenplätze für „seine‟ Kandidaten. Die Parlamentswahlen vom Juli 2009 brachten die PDM mit 13 Mandaten zurück ins Parlament, Marian Lupu wurde der Präsidentschaftskandidat der Allianz für die Europäische Integration (AIE). Die Liberale Partei (PL) wurde 1993 unter dem Namen Reformpartei gegründet. Bis zum Jahr 2005 blieb sie bei Wahlen erfolglos, profitierte dann aber von der Entscheidung der Christdemokraten und der Sozialliberalen Partei, nach den Parlamentswahlen im Jahr 2005 den kommunistischen Präsidentschaftskandidaten Voronin in den Sattel zu heben, was bei diesen Parteien zur Abwan-derung von Wählern führte. Die Partei stellte dann für die Wahl des Bürgermeisters der Hauptstadt Chișinău den erst 27 Jahre alten Juristen Dorin Chirtoacă auf, der insbesondere die junge, reformorientierte Bevölkerung ansprach. Chirtoacă konnte dann in der Tat im Jahr 2007 die Bürgermeisterwahl deutlich für sich entschieden. Bei den Parlamentswahlen vom April 2009 wurde die PL auf einen Schlag die stärkste Oppositionskraft und gewann 15 Mandate. Bei den Wahlen im Juli konnte die Partei nochmals in der Stimmenzahl zulegen, blieb aber bei 15 Mandaten. Die Liberale Partei hat sich insbesondere bei den Wählern rumänisch-nationaler Orientierung angesiedelt und vertritt eine ausgeprägt liberale Programmatik. Auf europäischer Ebene orientiert sie sich an den Europäischen Liberalen.

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2003 fusionierte die Sozial-Demokrati-sche Allianz Moldaus mit der Liberalen Partei und der Allianz der Unabhängi-gen zur neuen Allianz Unser Moldau.

Die Liberaldemokratische Partei Moldaus (PLDM) wurde erst im Dezember 2007 gegründet. Vorsitzender wurde der heutige Premierminister Filat, der die Partei von Beginn an straff organisierte, mit Finanzmitteln ausstattete und erfolgreich in die Parlamentswahlen vom April 2009 führte, bei denen die PLDM aus dem Stand mit 15 Mandaten gemeinsam mit der PL stärkste Oppositionskraft wurde. Bei den Wahlen im Juli 2009 konnte die Sitzzahl bereits auf 18 vergrößert werden. Die PLDM strebte gleich nach ihrer Gründung eine Annäherung an die Europäische Volkspartei an und stellte einen Aufnahmeantrag, der zur Aufnahme der Partei als Beobachter führen wird.

Die Partei Allianz Unser Moldova (AMN) wurde im Jahr 1997 unter dem Namen Bürgerallianz für Reformen gegründet. Sie nahm 2001 unter dem Namen Demokratisch-Soziale Partei in einem Wahlbündnis an den Parlamentswahlen teil und zog mit 19 Mandaten ins Parlament ein. Nach

den Wahlen löste sich das Bündnis auf und die Demokratisch-Soziale Partei nannte sich in Sozial-Demokratische Allianz Moldaus (ASDM) um. 2003 fusionierte die ASDM mit der Liberalen Partei und der Allianz der

Unabhängigen zur neuen Allianz Unser Moldau (AMN). Bei den Parlamentswahlen 2005 trat die Partei in einem Wahlbündnis mit der PDM und der Sozialliberalen Partei als Wahlblock Demokratische Moldau (BMD) an und wurde mit 34 Mandaten stärkste Kraft nach den Kommunisten. Bei den Kommunalwahlen 2007 trat die Partei dann alleine an und stieg, trotz zwischenzeitlicher interner Probleme, zur zweitstärksten politischen Kraft des Landes auf. Diese Posi-tion konnte sie jedoch bei den Parlamentswahlen vom April 2009 mit elf erlangten Mandaten nicht halten, was mit dem Aufkommen zweier neuer Parteien im Mitte-Rechts-Spek-trum, der Liberalen Partei und der Liberaldemokratischen Partei Moldaus, zu erklären ist. Bei den Parlamentswahlen vom Juli 2009 erhielt die Partei nur noch sieben Sitze. Die AMN ist Beobachter in der Liberalen Internationalen.

Die Kommunistische Partei der Republik Moldau (PCRM) wurde im Jahr 1994 gegründet und deklariert sich als Nachfolgepartei der in Zeiten der Sowjetunion in der Repu-blik Moldau aktiven Kommunistischen Partei. Die erste Teilnahme der PCRM an Wahlen – den Kommunalwahlen

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zweifel an dem überraschend guten Wahlergebnis der Kommunisten führ-ten zu Protesten und einer repressiven Reaktion des Staatsapparates.

1995 – deutete mit Ergebnissen zwischen fünf und 15 Prozent das weiterhin für eine kommunistische Partei bestehende Wählerpotential an. Bei den noch als Direkt-wahl durchgeführten Präsidentschaftswahlen des Jahres 1996 erreichte der PCRM-Kandidat Vladimir Voronin mit zehn Prozent der Stimmen immerhin das drittstärkste Ergebnis. Bei den Parlamentswahlen des Jahres 1998 konnte die PCRM bereits 30 Prozent der Stimmen und 40 der 101 Mandate erreichen.

Der politische Durchbruch gelang den Kommunisten dann bei den vorgezogenen Parlamentswahlen 2001, die nach den gescheiteren Versuchen des Parlaments im Jahr 2000 folgten, im Parlament einen Präsidenten zu wählen. Die PCRM erreichte diesen Wahlen 50,07 Prozent der Stimmen und 71 Mandate und hatte damit auch die für die Wahl des Staatspräsidenten notwendige Mehrheit. Im April 2001 wurde Vladimir Voronin im Parlament zum Staats-präsidenten gewählt. Die Verstimmungen zwischen der moldauischen Staatsführung und Russland in Folge eines von Voronin im letzten Augenblick abgelehnten russischen Vorschlags zur Lösung des Transnistrien-Konflikts (Memo-randum-Kozak) kosteten die PCRM dann aber bei den Wahlen 2005 Stimmen der pro-russischen Wahlbevölke-rung. Voronin hatte nach dem gescheiteren Vermittlungs-versuch der Russen eine stärkere Annäherung Moldaus an die EU proklamiert. Bei den Parlamentswahlen 2005 wurde die PCRM dennoch mit 56 Mandaten erneut stärkste Kraft, verlor aber die für die Wahl des Staatspräsidenten notwen-dige Mehrheit von 61 Mandaten. Die Wieder-wahl Voronins zum Staatspräsidenten konnte nur durch die Stimmen der christdemokra-tischen Partei (PPCD), der Demokratischen Partei und der Sozialliberalen Partei erfolgen. Bei den Parlamentswahlen vom April 2009 konnten die Kommunisten ihr Ergebnis auf 49 Prozent und 60 Mandate verbessern, mussten sich aber Vorwürfe einer zunehmend autoritären Regierungsführung und Repression der Oppo-sition gefallen lassen. Zweifel an dem überraschend guten Wahlergebnis der PCRM führten zu gewalttätigen Protesten und deren Niederschlagung sowie einer repressiven Reak-tion des Staatsapparates, welche zu einer Verringerung der gesellschaftlichen Unterstützung für die Partei und zu einem Zusammenrücken der Opposition führte.

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Die Unzufriedenheit mit der Wieder-wahl der Kommunisten und der Ent-wicklung des Landes entlud sich in Pro-testen mehrheitlich junger Moldawier.

UMSTRITTENE PARLAMENTSWAHL 2009

Im Jahr 2009 fanden gleich zwei Mal Parlamentswahlen statt. Mit den Wahlen vom 5. April 2009 verbanden die politische Opposition und ein großer Teil der jüngeren Bevölkerung des Landes die Hoffnung auf ein Ende der kommunistischen Regierungsführung. In den vergangenen Jahren hatten die Kommunisten einen Abwärtstrend zu verzeichnen, auf den die moldauische Opposition jetzt baute. Die Hoffnung der Oppositionskräfte zerplatzte dann aber mit der Verkündigung der ersten Wahlergebnisse. Nach Auszählung von 98 Prozent der Stimmen deuteten sich Sitzverhältnisse im Parlament an, die eine Alleinre-gierung der Kommunistischen Partei in den kommenden vier Jahren ermöglicht hätten. Die Kommunisten errangen demnach fast 50 Prozent der Stimmen, gefolgt von der Liberalen Partei um den Chișinăuer Bürgermeister Chirtoacă mit 13 Prozent, der Liberaldemokratischen Partei mit zwölf Prozent und die Allianz Unsere Moldau mit zehn Prozent. Damit wären die Kommunisten mit 61 von 101 Sitzen in der Lage gewesen, einen Nachfolger für den amtierenden kommunistischen Staatspräsidenten Voronin zu wählen, der aufgrund der Verfassung kein weiteres Mandat bekommen konnte.

Im Anschluss an die Wahl kam es am 7. April in Chișinău zu einer Demonstration mehr-heitlich junger Menschen, die so ihrer Unzu-friedenheit mit der Wiederwahl der Kommu-

nisten und mit der Entwicklung ihres Landes Ausdruck verliehen. Die Demonstration verlief zunächst friedlich, führte dann aber zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und einer für die moldauische Gesellschaft schockierenden Erfahrung. Der moldauische Staat und die Politiker schienen mit der Situation überfordert und reagierten zunächst verunsichert, die politischen Spannungen nahmen zu. Die anfangs ausbleibende Reaktion der staatlichen Auto-ritäten, eine fehlende Protestkultur, das unklare Ziel der Demonstrationen sowie eine wahrscheinliche Manipulation von Demonstranten führten dann sogar zur Besetzung und teilweisen Zerstörung des Parlamentsgebäudes und des Präsidialamtes. Für die Gewalttaten machte die Regierung die Opposition und das Ausland (Rumänien) verantwort-lich. Die Opposition beschuldigte wiederum die Regierung,

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Der moldauische Präsident bezichtigte Rumänien der Beteiligung an einem angeblich beabsichtigten Staatsstreich. Unter Bruch von EU-Vereinbarungen wurde ein Visumszwang eingeführt.

die Demonstrationen durch eingeschleuste Agenten in gewalttätige Ausschreitungen verwandelt zu haben. Die Staatsgewalt reagierte nach erstem Zögern repressiv.6 Noch in der Nacht wurden Demonstranten festgenommen, in den folgenden Tagen gab es eine Welle von Verhaf-tungen, unter anderem auch von Journalisten. Insgesamt starben vier Menschen im Zusammenhang mit den gewaltsamen Ausschreitungen und der darauf folgenden staatlichen Repres-sion. Gegen Rumänien, das der moldauische Präsident der Beteiligung an einem angeb-lich beabsichtigten Staatsstreich bezichtigte, wurde unter Bruch von Vereinbarungen mit der EU ein Visumszwang eingeführt. Der rumänische Botschafter in Chișinău wurde ausgewiesen. Staatspräsident Voronin nannte anschließend die Bemühungen Rumäniens, die Moldau an die EU heranzuführen, degradierend.

Das tatsächliche Ergebnis der Wahlen vom 5. April reichte für die PCRM, um die neue Regierung zu bilden. Die für die Wahl des Staatspräsidenten im Parlament benötigte Sitzzahl von 61 Mandaten wurde aber um ein Mandat verfehlt. Es gelang der PCRM dann anschließend nicht, die ihr fehlende Stimme aus den Reihen der Opposition zu erhalten. Die damals drei Oppositionsparteien – die Liberaldemokratische Partei Vlad Filats (PLDM), die Allianz Unsere Moldau (AMN) und die Liberale Partei (PL) – bildeten eine geschlossene Front gegen die neuerliche Wahl eines Staatsoberhauptes aus den Reihen der PCRM. Nach dem Scheitern der Präsidentschaftswahlen mussten Neuwahlen angesetzt werden, die für den 27. Juli 2009 festgelegt wurden.

MODUS DER PRäSIDENTENWAHL FüHRT zU POLITISCHER UND KONSTITUTIONELLER KRISE

Ursächlich für die politische Krise ist – neben den in der Tat komplizierten Wahlergebnissen und der mangelnden Fähigkeit der Abgeordneten, damit zu arbeiten – der Wahlmodus der Staatspräsidenten im Parlament. Seit einer Verfassungsänderung vom Juli 2000 ist das Regie-rungssystem der Republik Moldau eine parlamentarische

6 | Vgl. Mihnea Berindei und Arielle Thedrel: „Moldavie, La fin de l’ère Voronine‟, in: politique international 125 (2009), 249-261.

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Teile der Opposition stimmten 2005 für den Präsidentschaftskandidaten der Kommunisten und begaben sich dadurch ins politische Abseits. Die Christdemo- kraten verpassten seither dreimal den Einzug ins Parlament.

Demokratie, die das vorherige semipräsidiale System ablöste. Diese Verfassungsänderung stärkte das Parlament und schwächte den Präsidenten, der nicht mehr direkt, sondern im Parlament gewählt wird. Der Staatspräsident behielt zwar eine deutlich über repräsentative Aufgaben hinausreichende Funktion, es wurden aber einige seiner Prärogativen abgeschafft, darunter die Möglichkeit, an den Kabinettssitzungen teilzunehmen und diese zu leiten. Die weiterhin bestehenden Zuständigkeiten wie die Benen-nung des Regierungschef (der dann im Parlament bestätigt wird), das Recht zur Gesetzesinitiative sowie die Funktion des obersten Befehlshabers der Streitkräfte verleihen dem Amt aber ein Gewicht, dem durch die hohe Wahlhürde im Parlament Rechnung getragen wird. Demnach wird der Staatspräsident mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit (61 Mandate) der Gesamtzahl der Abgeordneten des Parla-ments (101 Mandate) gewählt. Scheitert die Wahl im ersten Durchgang, erfolgt ein zweiter Wahlgang mit den ersten beiden Kandidaten des ersten Wahlgangs. Ergibt sich auch dabei keine ausreichende Mehrheit, müssen das Parlament aufgelöst und Neuwahlen durchgeführt werden.

Bereits der erste Versuch im Dezember 2000, den Staats-präsidenten im Parlament zu wählen, misslang.7 Bei den dann notwendig gewordenen Neuwahlen vom 25. Februar 2001 gelangten die Kommunisten mit 71 Mandaten zurück

an die Macht. Bei den Parlamentswahlen vom 6. März 2005 erreichte die Kommunistische Partei dann schon keine für die Wahl des Staatspräsidenten am 4. April 2005 ausrei-chende Mandatszahl mehr. Um die Blockade zu lösen, stimmten Teile der Opposition

für den Kandidaten der Kommunisten und begaben sich dadurch nicht nur für viele westliche Beobachter, sondern auch für die moldauische Wählerschaft ins politische Abseits. Fatal war diese Entscheidung für die Christdemo-kraten unter Iurie Roșca, die das damals verlorene gegan-gene Vertrauen der Bevölkerung nicht wieder gewinnen konnten und seither dreimal den Einzug ins Parlament verpassten.

7 | Vgl. Ghenadie Vaculovschi und Norbert Neuhaus, „Dezideratul reformei constitutionale in republica Moldova‟, in: IDRAD (Hrsg.), Aspecte prioritare (Chișinău: 2010).

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Die Oppositionsparteien erhielten 2009 deutlichen Auftrieb, erzielten die Mehr-heit und konnten, in der Allianz für die Europäische Integration, die Regierung bilden.

ABLÖSUNG DER KOMMUNISTEN BEI DER NEUWAHL VOM JULI 2009

Die erforderlichen Neuwahlen am 29. Juli 2009 führten zur Ablösung der Kommunistischen Partei von der Regierung.8 Der Wahlkampf war extrem hart geführt worden, mit Anschuldigungen der beiden Lager (KP und Opposition) hinsichtlich der gewalttätigen Ausschreitungen im April 2009. Die Massen-medien wurden stark von der Kommunisti-schen Partei kontrolliert. Insgesamt erhielten die Oppositionsparteien (PLDM, PL, PD und AMN) durch diese Ereignisse jedoch deutlichen Auftrieb, erzielten mit 53 Mandaten die Mehrheit und konnten, zusammengeschlossen in der Allianz für die Europäische Integration AIE, die Regierung bilden.

Die PCRM erhielt nur noch 48 Mandate. Von den vorher im Parlament sitzenden Parteien gelangten die Liberalde-mokraten mit 18 Sitzen, die Liberalen mit 15 Sitzen und die Allianz unser Moldova mit 7 Sitzen ins Parlament. Die sozialdemokratisch orientierte Demokratische Partei Moldau, die 13 Mandate erhielt, zog wieder ins Parlament ein. Premierminister der neuen Regierung wurde Vlad Filat, Vorsitzender der PLDM, Parlamentspräsident Mihai Gimpu, Vorsitzender der PL, und Kandidat für die Wahl des Staatspräsidenten Marian Lupu, Vorsitzender der DPM. Die wesentlichen Ziele der Allianz wurden die Wiederherstel-lung des Rechtsstaates, die Überwindung der sozialen und wirtschaftlichen Krise, die Förderung von Dezentralisierung und lokaler Autonomie, die Lösung des Transnistrien-Kon- fliktes und die Europäische Integration.

Das Wahlergebnis löste das Dilemma der notwendigen Mehrheit für die Präsidentenwahl jedoch erneut nicht. Für die Wahl benötigte die Allianz acht Stimmen von der PCRM, die sie bei keinem der Wahlgänge erreichte.

8 | Vgl. dazu insbes. Hans Martin Sieg, „Machtwechsel in der Krise‟, KAS-Länderbericht, 07.10.2009, http://kas.de/ rumaenien/de/publications/17774 [21.12.2010].

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Innerhalb der Allianz für die Europä-ische Integration war es besonders die Demokratische Partei, die eine Direkt-wahl des Präsidenten befürwortete.

VERFASSUNGSDISKUSSION UND GESCHEITERTES REFERENDUM

Im Anschluss an diese Wahl begann eine Diskussion um eine notwendige Verfassungsänderung mit Lösungsvor-schlägen, die von der Änderung des Modus zur Wahl des Staatspräsidenten im Parlament über die Einführung einer Direktwahl des Präsidenten bis hin zu einer umfas-senden Verfassungsreform reichten.9 Die PCRM reichte im März einen Antrag auf Verfassungsänderung ein, der an der Parlamentswahl des Präsidenten festhält, aber das Quorum in einem dritten Wahlgang auf die absolute

Mehrheit senken würde. Die PCRM hatte sich damit geschickt den einfachsten und zugleich naheliegendsten Reformvorschlag zu eigen gemacht. Die Regierungskoalition tat sich aber schwer, den Vorschlag des politischen

Gegners aufzugreifen, zumal die Zuverlässigkeit der Kommunisten bei der Abstimmung im Parlament bezwei-felt wurde.

Innerhalb der AIE war es besonders die sozialdemokra-tisch orientierte Demokratische Partei (PDM), die eine Direktwahl des Präsidenten befürwortete. Ihr Vorsitzender Marian Lupu, der bereits im Dezember Präsidentschafts-kandidat der Koalition war, hätte aufgrund seiner Popu-larität keine schlechte Ausgangsposition bei einer unmit-telbaren Wahl des Staatsoberhauptes gehabt. Bereits die Aussicht auf eine Direktwahl des Präsidenten und ein damit politisch aufgewertetes Amt weckte das Interesse der Koalitionspartner, selbst zu kandidieren – auch das des Premierministers. Das in der Regierungskoalition ohnehin angespannte Arbeitsklima verschlechterte sich aufgrund dieses sich anbahnenden Konkurrenzkampfes weiter.

Die Koalition entschied sich letztendlich trotz dieser Risiken für die Durchführung eines Referendums mit dem Ziel, die Direktwahl des Staatspräsidenten einzuführen. Im auf den 5. September 2010 datierten Referendum sprachen sich tatsächlich über 90 Prozent der Wähler für die Änderung der Verfassung aus. Dennoch scheiterte das Referendum,

9 | Vgl. dazu Hans Martin Sieg, „Die Republik Moldau in der Verfassungskrise‟, KAS-Länderbericht, 23.04.2010, http://kas.de/moldawien/de/publications/19419 [21.12.2010].

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Im Anschluss an das gescheiterte Referendum löste der Staatspräsident das Parlament auf und legte Neuwah-len für November 2010 fest – die drit-ten Parlamentswahlen seit April 2009.

weil das Quorum von einem Drittel der Wahlberechtigten knapp nicht erreicht wurde. Die Kommunistische Partei hatte im Vorfeld des Referendums zum Boykott aufgerufen und konnte ihre Wähler damit offensichtlich überzeugen: Exit-Polls in Chișinău wiesen darauf hin, dass vor allem Anhänger der Kommunisten dem Referen dum fernblieben. Aufgrund des Scheiterns löste der amtierende Staatspräsident das Parlament auf und legte Neuwahlen für den 28. November 2010 fest – die dritten Parlamentswahlen seit April 2009.

RICHTUNGSWAHL 2010

Die Ausgangsbedingungen der Regierungskoalition für die Parlamentswahlen waren durchwachsen. In einer vom Institut für Öffentliche Politik in Auftrag gegebenen, im Oktober und November 2010 durchgeführten Meinungs-umfrage gaben über 60 Prozent der Befragten an, dass sie glauben, das Land befinde sich auf einem schlechten Weg. Nur 24 Prozent fanden den Weg gut.10 Der Grad der Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Arbeit der politi-schen Führung des Landes ergab alarmierend schlechte Ergebnisse. So waren fast 74 Prozent der Befragten mit der Gesundheitsversorgung nicht zufrieden, 85 Prozent nicht mit der Entwicklung der Arbeitsangebote, 78 Prozent nicht mit der Rentenentwicklung, 80 Prozent nicht mit der Korruptionsbekämpfung und 85 Prozent nicht mit den Gehältern.11 Die Arbeit der Regierung unter Premiermi-nister Vlad Filat bezeichneten drei Prozent der Befragten als sehr gut, 20 Prozent als ziemlich gut, 35 Prozent als weder gut noch schlecht, 20 Prozent als schlecht und zehn Prozent als sehr schlecht.

In der Tat war die Regierungsbilanz der AIE durchwachsen. Allerdings waren die Ausgangsbedingungen für eine erfolg-reiche Regierungsführung sehr ungünstig. Premier Filat hatte von den Kommunisten eine im freien Fall befindliche Wirtschaft mit einem negativen Wachstum von -6,5 Prozent

10 | Vgl. Institutul Politici Publice (Hrsg.), Barometrul Opinie Publice (Chișinău: November 2010).11 | Angaben für ‚überhaupt nicht zufrieden‛ und ‚nicht sehr zufrieden‛ wurden zusammengefasst. Weitere Antwortmög- lichkeiten waren ‚ziemlich zufrieden‛ und ‚sehr zufrieden‛.

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Die Regierungskoalition zeigte von Beginn an züge eines zweckbündnisses mit wenig gemeinsamen politischen zielen und unzureichenden Instrumen-ten der koalitionsinternen Abstimmung.

geerbt. Die staatlichen Institutionen waren personell aufgebläht und von mäßig ausgebildeten, schlecht bezahl- ten und teilweise reformresistenten Mitarbeitern besetzt.12 Der internationale Kontext der Regierungsübernahme war von der Wirtschaftskrise der EU-Staaten und ein um stär-keren Einfluss in der Region bemühtes Russland geprägt. Die nach den gescheiterten Versuchen der Wahl des Staatspräsidenten im Parlament drohenden Neuwahlen erschwerten zudem eine auf mittel- und langfristige Wir- kungen ausgerichtete Regierungsarbeit. Dennoch konnte die Regierung einige beachtliche Erfolge erzielen, zu denen die Wiederaufnahme der Gespräche mit dem Internatio-nalen Währungsfonds sowie intensive und erfolgreiche Verhandlungen mit der EU hinsichtlich der weiteren Heran-führung des Landes an Europa und finanzielle Unterstüt-zung zählten. Die Wirtschaft konnte stabilisiert werden, dass Haushaltsdefizit wurde von 6,8 Prozent im Jahr 2009

auf voraussichtlich vier bis 4,5 Prozent im Jahr 2010 zurückgeführt. Keine oder nicht ausreichende Fortschritte wurden jedoch bei den notwendigen Reformvorhaben im Justiz-wesen, der Öffentlichen Verwaltung und bei der Sicherung des wirtschaftlichen Wettbe-

werbs erzielt.13 Zudem zeigte die Regierungskoalition von Beginn an Züge eines Zweckbündnisses mit einem über-schaubaren Maß an gemeinsamen politischen Zielen und nicht ausreichenden Instrumenten der koalitionsinternen Abstimmung.

Vielleicht auch angesichts der unsicheren Aussichten für einen Wahlerfolg entschloss sich die Regierungskoa-lition im Juni zu Änderungen des Wahlrechts, die einige Vorteile für kleinere Parteien brachten und somit grund-sätzlich im Verdacht standen, gegen die PCRM gerichtet zu sein. Dazu zählte die Reduzierung der Wahlhürde für Parteien von sechs auf vier Prozent und die Veränderung der Aufteilung der Stimmen für Parteien und Bündnisse, die die Wahlhürde nicht überspringen konnten. Diese Verteilung wurde vorher proportional durchgeführt, was

12 | Vgl. Expert Grup, Moldova Economic Growth Analysis (Analiza Creșterii Economice in Moldova), Dezember 2010, http://expert-grup.org/?en [21.12.2010].13 | Vgl. dazu Igor Boţan: „Anul politic 2010‟ (Political year 2010), 31.12.2010, in: http://http://e-democracy.md/en/monitoring/ politics/comments/political-year-2010 [03.01.2011].

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113KAS AUSLANDSINFORMATIONEN2|2011

Enttäuschend war das Ergebnis der Christdemokratischen Volkspartei, die mit 0,5 Prozent einen weiteren Tief-punkt in der Wählergunst hinnehmen musste.

die stärkeren Parteien begünstigte, und erfolgte bei den Wahlen vom Juli erstmals als gleiche Verteilung unter den ins Parlament einziehenden Parteien. Die Formierung von Wahlbündnissen wurde wieder zugelassen und das Verbot der Kandidatur von Personen mit mehrfacher Staatsange-hörigkeit aufgehoben.

Zu den Wahlen im November 2010 traten 20 Parteien und 20 unabhängige Kandidaten an. Am Wahlabend deuteten die Prognosen zunächst auf einen großen Erfolg der Allianz für die Europäische Integration hin. Zwei Umfrageinstitute hatten sie als deutlichen Wahlsieger vorhergesagt. Eines der beiden Institute (IRES) sah die Liberaldemokratische Partei von Premierminister Filat sogar mit einem Vorsprung von fast neun Prozent als stärkste Partei vor den Kommu-nisten. Wie sich dann schon bei den Hochrechnungen andeutete, wichen diese Prognosen allerdings um bis zu 16 Prozent von Zahlen ab, die die Wahlbehörde als amtliche Ergebnisse am nächsten Tag veröffentlichte.

Nach dem amtlichen Endergebnis wurde die Kommunis-tische Partei (PCRM) mit 39,3 Prozent der Stimmen und 42 Mandaten erneut stärkste Kraft. Die Liberaldemokraten verbesserten ihr Ergebnis mit 29,4 Prozent der Stimmen und 32 Mandaten deutlich und wurden zweitstärkste Frak-tion, die Demokratische Partei (Sozialdemokraten) erhielt 12,7 Prozent und 15 Mandate und die Libe-rale Partei zehn Prozent und zwölf Mandate. Die Allianz Unsere Moldau, bisher Mitglied in der Allianz für die Europäische Integration, schaffte mit nur zwei Prozent der Stimmen nicht mehr den Einzug ins Parlament. Enttäu-schend war das Ergebnis der Christdemokratischen Volks-partei PPCD, die mit nur 9.054 Stimmen und 0,5 Prozent einen weiteren Tiefpunkt in der Wählergunst hinnehmen musste.

Die AIE, deren Fortbestehen allerdings fraglich war, verfehlte mit 59 Sitzen nur knapp die für die Wahl des Staatspräsidenten notwendigen 61 Sitze.

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Abb. 1Entwicklung der Mandatszahlen

Quelle: Alegeri parlamentare în Republica Moldovaen, Asociaţia pentru Democraţie Participativă (ADEPT), http://e-democracy.md/elections/parliamentary [03.01.2011].

Der Vergleich mit den beiden Wahlergebnisse des Jahres 2009 zeigt den stetigen Abwärtstrend der Kommunisti-schen Partei (PCRM) von 60 Mandaten im April 2009 auf 42 bei den jetzigen Wahlen. Auffällig ist ebenso die stetige Zunahme von Mandaten der Liberaldemokraten (PLDM), die inzwischen von der Europäischen Volkspartei unter-stützt wird. Von 15 Mandaten im April 2009 verbesserte sie sich auf nunmehr 32.

SCHWIERIGE KOALITIONSBILDUNG UND WEITERHIN UNSICHERE REGIERUNGSPERSPEKTIVE

Die Koalitionsbildung war nach den Wahlen zunächst offen. Möglich war eine Fortsetzung der AIE mit einer Regierungs-bildung aus PLDM, PDM und PL. Allerdings war fraglich, ob es für eine solche Koalition eine ausreichende Vertrauens-basis insbesondere zwischen dem PLDM-Vorsitzenden Filat und dem PDM-Vorsitzenden Lupu gab.

Möglich wäre auch eine Koalition von Demokratischer Partei und Kommunistischer Partei gewesen, die gemeinsam eine für die Regierungsbildung ausreichende Mehrheit gehabt hätten. Für die Bildung einer solchen Koalition sprach, dass

11/2010 4/20097/2009

PCRM

PLDM PL

PDM

AMN

PCRM

PLDM PL

PDM

AMN

PCRM

PLDM PL

PDM

AMN

42 32 12 15 0 48 18 15 13 7 60 15 15 0 1160

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Der Besuch von Werner Hoyer, Staats- minister im Auswärtigen Amt, inmitten der Koalitionsgespräche wurde als Aus- druck großen Interesses an einer pro-europäischen Koalitionsbildung verstan-den.

Lupu bis zum Jahr 2009 Mitglied der PCRM war, also keine Berührungsängste mit den Kommunisten hatte. Die PCRM hatte Lupu überdies in Verhandlungen die Position des Staatspräsidenten und seiner Partei die Position des Minis-terpräsidenten angeboten. Eine Koalition zwischen PDM und PCRM hätte zudem sehr im Interesse Russlands gelegen. Als Ausdruck dieses Interesses entsandte Russland den Leiter des Präsidialamts, Serghei Nariskin, und bot als Anreiz für eine PDM-PCMR-Koalition unter anderem reduzierte Gaspreise, den ungehinderten Export moldauischer Weine und Agrarprodukte nach Russland und sogar Lösungs- vorschläge für den Transnistrien-Konflikt an.14

Auch die Europäische Union zeigte während der Koaliti-onsverhandlungen Präsenz. EU-Parlamentspräsident Jerzy Buzek reiste eigens nach Chișinău und machte damit auch das Interesse der EU an der Koalitionsbil-dung und an guten Beziehungen zwischen der EU und der Republik Moldau deutlich. Auch die deutsche Bundesregierung wurde, wie schon mehrfach im Jahr 2010, aktiv und entsandte Werner Hoyer, den Staatsminister im Auswärtigen Amt, inmitten der Koalitionsgespräche nach Chișinău, was dort als deutlicher Ausdruck eines deutschen Interesses an einer proeuropäischen Koalitions-bildung verstanden wurde.15

Beide Koalitionen hätten aber nicht die für die Wahl des Staatspräsidenten notwendige Stimmenzahl im Parlament. Diese Mehrheit wäre nur durch eine Koalition von Kommu-nisten mit den Liberaldemokraten entstanden, die aber wenig wahrscheinlich war und von Premier Filat schnell ausgeschlossen wurde. Theoretisch möglich, aber demo-kratisch zweifelhaft wäre zudem eine Allparteienkoalition gewesen, die dann ohne Opposition regiert hätte.

14 | Vgl. „Republica Moldova: Moscova promite ieftinirea gazelor, daca PD face alianta cu PCRM‟, HotNews.ro, 11.12.2010, in: http://hotnews.ro/stiri-international-8119587-republica- moldova-moscova-promite-ieftinirea-gazelor-daca-face- alianta-pcrm [23.12.2010].15 | Vgl. u.a. „Germania manifestă un interes real pentru Repu- blica Moldova‟, 22.12.2010, Mediafax, in: http:// arena.md/ ?go=news&n=2294 [23.12.2010].

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Die zusammensetzung des Kabinetts zeigt die dominierende Stellung der Liberaldemokratischen Partei, die den Premierminister und sieben weitere Minister stellt.

Nach einem Monat mühsamer Koalitionsverhandlungen einigten sich PLDM, PDM und PL schließlich doch noch auf eine Fortsetzung der Allianz für die Europäische Integra-tion. Die Demokratische Partei hatte bis zum Abschluss des Koalitionsabkommens auch mit den Kommunisten verhan-delt und ihre zur Mehrheitsbildung wesentliche Verhand-lungsposition leidlich ausgenutzt.

Am 30. Dezember 2010 wurde Marian Lupu mit den Stimmen der Allianz zum Parlamentspräsidenten gewählt und übernahm damit auch vorübergehend die Funktion des Staatspräsidenten. Nach Interims-Präsident Ghimpu (bis 28. Dezember 2010) und Interimspräsident Vlat Filat, der als Premierminister das höchste Staatsamt übernahm, nachdem das Mandat von Ghimpu am 28. Dezember abge-laufen war, wurde Lupu der dritte Übergangspräsident

innerhalb von drei Tagen. In dieser Funktion beauftragte er Vlad Filat mit der Bildung eines Kabinetts und der Erarbeitung eines Regie-rungsprogramms, über das am 14. Januar 2011 im Parlament abgestimmt wurde.

Die Zusammensetzung des Kabinetts zeigt die domi-nierende Stellung der Liberaldemokratischen Partei, die neben dem Premierminister sieben weitere Minister stellt, darunter die Minister für Inneres, den Außenminister, den Finanzminister, den Justizminister sowie den Bildungsmi-nister. Jeweils fünf Ministerposten (einschließlich Vizepre-mier) gehen an die Koalitionspartner. Gemäß der getrof-fenen Absprache zwischen den Koalitionspartnern soll der Vorsitzende der Demokratischen Partei, Marian Lupu, zum Staatspräsidenten gewählt werden. Er soll dann in seinem Amt als Parlamentspräsident durch den Vorsitzenden der Liberalen Partei, Mihai Ghimpu, ersetzt werden.

Ob diese Koalition wetterfest ist und damit eine Aussicht auf ein Ende der politischen Krise des Landes erreicht wurde, ist ungewiss. Das Gelingen der Neuauflage der AIE wird nur dann möglich sein, wenn dieses – anders als bisher – von allen Koalitionspartnern mit politischem Willen und Geschick als prioritäres Ziel verfolgt wird. Im geopoli-tischen, politischen und wirtschaftlichen Kontext des Landes mangelt es jedenfalls nicht an Herausforderungen, die ein schnelles Ende der Koalition bewirken könnten.

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Für die Wahl des Staatspräsidenten im Parlament, deren Scheitern zu erneuten Parlamentswahlen führen würde, fehlt der Koalition die Mehrheit. Für eine erfolgreiche Wahl des Präsidenten bieten sich drei Szenarien an:

1. Es gelingt der AIE, zwei Abgeordnete der Kommunisti-schen Partei zu überzeugen, für Marian Lupu zu stimmen, den Kandidaten der AIE.

2. Die AIE einigt sich mit der PCRM auf die Wahl Lupus als Staatspräsident, macht dazu Zugeständnisse an die Kommunisten oder baut auf der begründeten Sorge der PCRM auf, bei vorgezogenen Wahlen eher noch mehr Abgeordnete zu verlieren.

3. Die Koalition umgeht die Wahl des Staatspräsidenten im Parlament durch einen erneuten Vorstoß zur Änderung des Wahlmodus.

Nach den bisherigen Erfahrungen mit den Wahlversuchen in den vergangenen Jahren ist von Prognosen hinsichtlich des weiteren Verlaufs der Präsidentenwahl abzuraten.

Einen weiteren Risikofaktor bilden die im Sommer anstehenden Kommunalwahlen, die ohne Zweifel ein Stressfaktor für den Zusam-menhalt der Koalition sein werden. Die vor den Parlamentswahlen vom November 2010 erkennbare, deutliche Verschlechterung des Arbeitsklimas in der Koalition – es ging neben der Parlamentswahl auch um die Positionierung für eine mögliche Direktwahl des Staatspräsidenten nach dem Referendum – lässt auch für die Kommunalwahl und hier insbesondere für den Wahlkampf um die wichtige Position des Bürgermeisters der Hauptstadt Chișinău nichts Gutes erwarten. Schon jetzt haben alle drei Koalitionspartner angekündigt, einen eigenen Kandidaten aufstellen zu wollen.

Nicht zuletzt könnten auch wirtschaftliche Interessen poli-tischer Akteure einen Stressfaktor für die Koalition bilden. Im neuen Parlament sitzt eine auffällig große Zahl von Unternehmern, die ihre beruflichen Erfahrungen hoffentlich einsetzen werden, um auf eine Verbesserung der Rahmen-bedingungen für unternehmerisches Handeln hinzuwirken.

Die vor den Parlamentswahlen vom November erkennbare Verschlechte-rung des Arbeitsklimas in der Koali-tion lässt auch für die Kommunalwahl nichts Gutes erwarten.

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Allerdings gibt es auch Befürchtungen, dass einige Unter-nehmer aus handfesten persönlichen Wirtschaftsinteressen in die Politik eingestiegen sind und es damit auch zu privat-wirtschaftlichen Interessenkonflikten innerhalb der Koali-tion kommen könnte.

Alle diese Risiken lassen befürchten, dass die politische Krise des Landes noch nicht überwunden ist. Die westli-chen Partner des Landes wären daher gut beraten, die poli-tische Entwicklung weiter genau zu beobachten und weiter im Sinne der Förderung von Demokratie und einer guten Regierungsführung darauf hinzuwirken, dass die jetzige Regierung für ein volles Mandat von vier Jahren im Amt sein wird.

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