KAS Auslandsinformationen 09/2010

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9|10 AUSLANDSINFORMATIONEN Polen – Nachbar, Partner und Freund im Osten. Die deutsch-polnischen Beziehungen seit 1989 Stephan Georg Raabe Bewährte Partnerschaften mit Potential – Die Bezie- hungen Deutschlands zu Tschechien und der Slowakei Hubert Gehring / Tomislav Delinić / Andrea Zeller Die Beziehungen Deutsch- lands zu den baltischen Ländern seit der Wieder- vereinigung Andreas M. Klein / Gesine Herrmann Über die Befindlichkeiten des deutsch-französischen Paares zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung Jörg Wolff / Laura-Theresa Jaspers Die Beziehungen zwischen Großbritannien und dem wiedervereinigten Deutsch- land Claudia Crawford Union für das Mittelmeer – Realitäten anerkennen und Chancen nutzen! Gerrit F. Schlomach Die Philippinen nach den Wahlen vom 10. Mai 2010 Peter Köppinger Vom Uribismo zur Unidad Nacional – Kolumbien nach den Kongress- und Präsi- dentschaftswahlen Stefan Jost

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In KAS Auslandsinformationen werden internationale Fragen, Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit erörtert. Die monatlich erscheinende Publikation hat das Ziel, einen Teil der im Zusammenhang mit der Auslandsarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung gesammelten Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Buch erscheint auf deutsch und englisch.

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Polen – Nachbar, Partnerund Freund im Osten. Die deutsch-polnischen Beziehungen seit 1989Stephan Georg Raabe

Bewährte Partnerschaftenmit Potential – Die Bezie-hungen Deutschlands zu Tschechien und der SlowakeiHubert Gehring / Tomislav Delinić / Andrea Zeller

Die Beziehungen Deutsch-lands zu den baltischen Ländern seit der Wieder-vereinigungAndreas M. Klein / Gesine Herrmann

Über die Befindlichkeitendes deutsch-französischen Paares zwei Jahrzehnte nach der WiedervereinigungJörg Wolff / Laura-Theresa Jaspers

Die Beziehungen zwischenGroßbritannien und dem wiedervereinigten Deutsch-landClaudia Crawford

Union für das Mittelmeer –Realitäten anerkennen und Chancen nutzen!Gerrit F. Schlomach

Die Philippinen nach denWahlen vom 10. Mai 2010Peter Köppinger

Vom Uribismo zur UnidadNacional – Kolumbien nach den Kongress- und Präsi-dentschaftswahlenStefan Jost

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ISSN 0177-7521Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.26. Jahrgang

Tiergartenstraße 35D-10785 BerlinTelefon (030) 2 69 96-33 83Telefax (030) 2 69 96-35 63Internet: http://www.kas.de http://www.kas.de/auslandsinformationenE-Mail: [email protected]

Bankverbindung:Commerzbank AG Filiale Bonn,Kto.-Nr. 110 63 43, BLZ 380 400 07

Herausgeber:Dr. Gerhard Wahlers

Redaktion:Frank SpenglerHans-Hartwig BlomeierDr. Stefan FriedrichJens PaulusDr. Hardy OstryDr. Helmut Reifeld

Verantwortliche Redakteure:Stefan Burgdörfer

Gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingtdie Meinung der Redaktion wieder.

Bezugsbedingungen:Die KAS-Auslandsinformationen erscheinenzwölfmal im Jahr. Der Bezugspreis für zwölfHefte beträgt 50,– € zzgl. Porto. Einzelheft5,– €. Schüler und Studenten erhalten einenSonderrabatt.

Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils umein Jahr, sofern das Abonnement nicht biszum 15. November eines Jahres schriftlichabbestellt wird.

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Umschlagpapier aus 60 % FSC-zertifizierten Recycling- Fasern, Innenseiten aus 100 % FSC-zertifiziertem Recycling-Papier.

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EDITORIAL

POLEN – NACHBAR, PARTNER UND FREUND IM OSTEN.DIE DEUTSCH-POLNISCHEN BEZIEHUNGEN SEIT 1989Stephan Georg Raabe

BEWÄHRTE PARTNERSCHAFTEN MIT POTENTIAL – DIE BEZIEHUNGEN DEUTSCHLANDS ZU TSCHECHIEN UND DER SLOWAKEIHubert Gehring / Tomislav Delinić / Andrea Zeller

DIE BEZIEHUNGEN DEUTSCHLANDS ZU DENBALTISCHEN LÄNDERN SEIT DER WIEDERVEREINIGUNGAndreas M. Klein / Gesine Herrmann

ÜBER DIE BEFINDLICHKEITEN DES DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN PAARES ZWEI JAHRZEHNTENACH DER WIEDERVEREINIGUNGJörg Wolff / Laura-Theresa Jaspers

DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN GROSSBRITANNIEN UND DEM WIEDERVEREINIGTEN DEUTSCHLANDClaudia Crawford

UNION FÜR DAS MITTELMEER – REALITÄTEN ANERKENNEN UND CHANCEN NUTZEN!Gerrit F. Schlomach

DIE PHILIPPINEN NACH DEN WAHLEN VOM 10. MAI 2010Peter Köppinger

VOM URIBISMO ZUR UNIDAD NACIONAL – KOLUMBIEN NACH DEN KONGRESS- UND PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLENStefan Jost

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EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser,

zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer ist Deutschland umgeben  von  Freunden.  Die  Wiedervereinigung  ist  eine Erfolgsgeschichte  –  nicht  nur  eine  nationale,  sondern eine  europäische.  Die  Beziehungen  des  wiedervereinten Deutschlands zu seinen Nachbarn sind vertrauensvoll, die Rolle  der  Bundesrepublik  als  europäischer  Partner  wird ausgesprochen  positiv  bewertet.  Nach  Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzungen und zwei Weltkriegen hat  das  europäische  Projekt Demokratie, Wohlstand  und Sicherheit gebracht. Die Wiedervereinigung Deutschlands hat diesen Prozess nicht gestört oder aufgehalten, sondern vorangebracht.  Gegenteilige  Befürchtungen  einzelner europäischer Partner, aber auch  im eigenen Land, haben sich nicht bewahrheitet.

In diesem und dem vergangenen Jahr wurden in zahlrei-chen  Veranstaltungen  bundesweit  die  Jubiläen  von  Frei-heit und Einheit begangen: 60  Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Wiedervereinigung.  Dabei  war  der  Blick  vor  allem nach innen gerichtet. Die Deutschen haben eine nationale Erfolgsgeschichte  gefeiert.  Die  Wiedervereinigung  war jedoch ebenso ein  internationales Ereignis. Sie markierte das Ende der bipolaren Weltordnung mit den USA auf der einen und Russland auf der anderen Seite. Im ungarischen Sopron an der österreichischen Grenze öffnete sich erst-mals der Eiserne Vorhang. Die Ausreise einer großen Zahl von  DDR-Bürgern  über  die  Nachbarländer  Polen,  Tsche-chien und Ungarn brachte schließlich das Grenzregime zum Kollabieren.

Mit  der  deutschen  Wiedervereinigung  begann  ein  neues Kapitel in der deutschen Außenpolitik. Die Beziehungen zu den  Nachbarstaaten,  die  vielfach  ebenfalls  inmitten  von Transformationsprozessen waren, haben sich hervorragend entwickelt.  Die  Überwindung  sozialistischer  Strukturen, eine Eingliederung in die Strukturen der NATO, schließlich 

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die Aufnahme in die Europäische Union – diesen Weg der östlichen Nachbarn begleitete Deutschland in den vergan-genen 20 Jahren. Mit ihnen, aber auch mit den bewährten Partnern  in  der  Europäischen Union,  gestaltete Deutsch-land in partnerschaftlicher Weise die Zukunft Europas. Die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon hat diese Erfolgs-geschichte fortgesetzt.

Es  waren  die  Christdemokraten,  die  auf  eine  baldige Wiedervereinigung gedrängt haben. Die Bundesregierung nutzte  entschlossen  die  sich  bietenden  Möglichkeiten. Rückblickend hat sie Recht behalten. Deutschland ist nicht in Nationalismus zurückgefallen. Bei der Fußballweltmeis-terschaft  im  eigenen  Land,  aber  auch  kürzlich  während des  Turniers  in  Südafrika  ist  internationalen  Gästen  und Beobachtern ein neuer deutscher Patriotismus begegnet – sympathisch,  nie  abschätzig  gegenüber  anderen  Nati-onen  und  fähig,  Bevölkerungsgruppen  unterschiedlicher Herkunft zu integrieren.

Zeitungskommentare  und  politische  Statements  zeigen: Die  europäischen  Nachbarn  fürchten  heute  keineswegs, Deutschland könne zu mächtig werden. Stattdessen wird gefordert,  dass  die  Bundesrepublik  ihr  Gewicht  bei  der Lösung  europäischer  Probleme  noch  stärker  einbringt. So  wird  auch  die  positive  wirtschaftliche  Entwicklung Deutschlands  im  europäischen  Ausland  überwiegend begrüßt,  wie  eine  aktuelle  Studie  der  Konrad-Adenauer-Stiftung  zeigt  (Der Blick von außen,  http://www.kas.de/wf/de/33.20195/).  Nachrichten  über  den  deutschen  Auf- schwung  und  die  sinkenden  Arbeitslosenzahlen  wecken Hoffnung auf eine positive Entwicklung  im eigenen Land. Dieser Aufschwung zeigt: Die Soziale Marktwirtschaft hat sich  bewährt.  Politik  und  Sozialpartner  haben  verant-wortlich  gehandelt.  Konjunkturprogramme,  Deutschland-Fonds, Kurzarbeitergeld, Zeitarbeit und Lohnzurückhaltung 

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haben ihre Wirkung gezeigt. Die Europäische Union sollte sich für die Aufgabe, die Märkte und Haushalte wieder ins Gleichgewicht  zu  bringen  und  Grundlagen  für  nachhal-tiges Wachstum zu legen, die Soziale Marktwirtschaft zum Vorbild nehmen. Sie hat zur deutschen Erfolgsgeschichte beigetragen und ebenso zur europäischen. Vor 60 Jahren haben Christdemokraten mit ihr ein Ordnungsmodell etab-liert, das „Wohlstand für alle‟ schafft und soziale Sicherheit gewährleistet.

Dr. Gerhard WahlersStellvertretender Generalsekretär

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Stephan Georg Raabe

Adam  Michnik,  der  ehemalige  Solidarność-Vorkämpfer und  Herausgeber  der  liberalen  Gazeta  Wyborcza,  der größten Tageszeitung Polens, kommentierte den Ausgang der  jüngsten  polnischen  Präsidentenwahlen  vom  4.  Juli 2010 mit den Worten, er  freue  sich, denn Polen  sei nun „das  feindliche Gespenst der  IV. Republik‟  losgeworden.1 In der Tat: Mit dem Wahlsieg von Bronisław Komorowski, dem  Kandidaten  der  liberal-konservativen  „Bürgerplatt-form‟ (Platforma Obywatelska, PO), über seinen national-konservativen  Konkurrenten  Jarosław  Kaczyński,  den Vorsitzenden  der  größten  Oppositionspartei  „Recht  und Gerechtigkeit‟ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS)  ist zunächst einmal das politische Reformprojekt der „IV. Republik‟ ad acta gelegt worden.

1 |  Adam Michnik: Polacy wybrali politykę racjonalną i opartą   na przekonaniu, że Polska jest dla wszystkich (Die Polen   wählten eine rationale Politik auf die Überzeugung gestützt,   dass Polen für alle Polen da ist), in: Gazeta Wyborcza vom   05.07.2010, 5. Die Erste Republik war die Adelsrepublik mit   der ersten modernen Verfassung in Europa überhaupt vom   3. Mai 1791, die nach der dritten polnischen Teilung durch   Preußen, Österreich und Russland aufgelöst wurde. Die   Zweite Polnische Republik bezeichnet die Geschichte Polens   von 1918 bis 1939 in der Zwischenkriegszeit, wobei es seit   dem Putsch Józef Piłsudskis im Mai 1926 eine autoritäre   Herrschaft in Polen gab. Als III. Republik wird die Zeit nach   der friedlichen Revolution 1989/90 betitelt. Vgl. dazu   Stephan Georg Raabe, „Geschichte und ihre Interpretation.  Zum Verfassungstag in Polen‟, Länderbericht der Konrad- Adenauer-Stiftung, Auslandsbüro Polen vom 04.05.2010;   einen guten Überblick gibt Manfred Alexander, Kleine Geschichte Polens, (Bonn: Bundeszentrale für politische   Bildung, 2005).

POLEN – NAcHBAR, PARTNER UND FREUND IM OSTEN.DIE DEUTScH-POLNIScHEN BEzIEHUNGEN SEIT 1989

Stephan Georg Raabe ist Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Warschau.

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DAS GESPENST DER IV. REPUBLIK

Die grundlegende politische Veränderung Polens hatte mit dem doppelten Sieg der Kaczyńskis bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen  im  Herbst  2005  nach  vier  Jahren postkommunistischer  Linksregierung  begonnen.  Damals wurde  zunächst  die  PiS mit  27  Prozent  stärkste  Partei  im polnischen Parlament. Wenig später gewann Lech Kaczyński mit  54  zu  46  Prozent  gegen  den  lange  Zeit  führenden PO-Vorsitzenden  Donald  Tusk  die  Präsidentschaftswahlen. Schließlich  bildete  die  PiS  entgegen  der  weit  verbreiteten Erwartung keine Koalition mit der PO, sondern eine Minder-heitsregierung und später ein formelles Regierungsbündnis mit  der  linkspopulistischen  „Selbstverteidigung‟  und  der rechtspopulistischen „Liga der Polnischen Familien‟.

Zwar  war  schon  bald  nach  1989  sowohl  das  Lager  der Solidarność  wie  auch  die  ehemalige  kommunistische Koalition  in  rivalisierende  Gruppen  zerfallen,  aber  der polnischen  Gesellschaft  blieb  doch  aufs  Ganze  gesehen die Teilung bestehen. Sie  verlief  zwischen denjenigen, die 

eher  zur  Nomenklatura  des  alten  Systems gehört hatten, und  jenen, die  eher mit  der Solidarność gegen dieses System aufbegehrt hatten,  und  zwischen  deren  Nachfahren. Dies  zeigte  sich  in den wechselnden Regie-rungsmehrheiten:  1989  bis  1993  regierten zunächst  die  Solidarność-Kräfte,  dann  bis 

1997  bereits  die  postkommunistischen  Linken,  bis  2001 wieder  das  Wahlbündnis  Solidarność  unter  Premier  Jerzy Buzek, welches erneut von einer  linken Mehrheit  abgelöst wurde, die schließlich 2005 wiederum durch eine Mehrheit der beiden aus der Solidarność-Bewegung hervorgegangen, erst 2001 gegründeten Parteien PO und PiS ersetzt wurde. Einen  zweiten  ähnlichen  politischen  Strang  bildeten  die Präsidentschaften:  Zunächst  sicherte  der  Militärdiktator General  Wojciech  Jaruzelski  1989  die  Macht  der  Kommu-nisten. Erst Ende 1990  folgte der Solidarność-Führer Lech Wałęsa  als  erster  frei  gewählter  Staatspräsident.  Doch bereits  1995 gewann der mit  41  Jahren noch  junge Post-kommunist Aleksander Kwaśniewski, der ähnlich wie Egon Krenz  in  der DDR  in  kommunistischer Zeit  für  die  Jugend zuständig war  und  von  Jaruzelski  gefördert wurde,  gegen  

Die grundlegende politische Verände-rung Polens hatte mit dem doppelten Sieg der Kaczyńskis bei den Parla-ments- und Präsidentschaftswahlen im Herbst 2005 nach vier Jahren postkommunistischer Linksregierung begonnen.

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Die „IV. Republik‟ der Kaczyński-Brüder spaltete ab 2005 das Land. In einem wahren Gerechtigkeitsfuror sollte Polen gereinigt werden von postkommunistischen Hinterlassen-schaften und Korruption.

den Solidarność-Heroen Wałęsa die Präsidentschaftswahl. Erst nach zwei Amtszeiten wurde Kwaśniewski Ende 2005 im  Zuge  der  damaligen  konservativen  Wende  von  Lech Kaczyński abgelöst.

Die „IV. Republik‟ der Kaczyński-Brüder spaltete ab 2005 das Land in neuer Weise. In einem wahren Gerechtigkeitsfuror sollte  Polen  gereinigt  werden  von  postkommunistischen Hinterlassenschaften  und  Korruption.  Mit  den  Kommu-nisten  und  Wendeprofiteuren  wollte  man  jetzt  endlich genauso  abrechnen,  wie mit  den  ehemaligen  Besatzern, den Deutschen und Russen. Mit dem NATO-Beitritt im März 1999 und  dem EU-Beitritt  im Mai  2004  hatte  Polen  sein außenpolitisches Hauptziel, die vollständige Integration in die militärischen und politischen Institutionen des Westens, erreicht.  Nun  galt  es,  die  polnischen  Interessen  unüber-hörbar zur Geltung zu bringen. Nation und nationale Soli-darität,  starker Staat, Recht und Ordnung, Souveränität, Geschichtspolitik,  regionale  Führung  in  Mitteleuropa  und gleiche  Augenhöhe mit  dem westlichen  Nachbarn  waren nun die Leitworte. Längst überholt geglaubte Gedanken  aus  der  Zwischenkriegszeit  von der  national-konservativen  Endecja  Roman Dmowskis,  die  einen  homogenen  katholi-schen  Ein-Volk-Staat  anstrebte,  von  Polen als Führungsmacht in einem „Dritten Europa‟ zwischen  Deutschland  und  Russland  oder von der Politik als Unterscheidung von Freund und Feind in Anlehnung an den katholischen deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt traten wieder hervor. Zwar gab es genügend Anlass  für grundlegende Reformen. Aber diese politische Einstellung  polarisierte  genauso wie  der  rabiate Stil, mit der  die  Sanierung  (sanacja)  und  die  neuen  Ambitionen verwirklicht  werden  sollten.  Die  Kaczyńskis  verstanden Politik als andauernden Kampf und Konfrontation. Innen-politisch wurde die Antikorruptionsbehörde CBA (Centralne Biuro  Antykorupcyjne)  zu  einem  wichtigen  Instrument. Politische  Gegner,  unliebsame  Kritiker  und  selbst  Regie-rungsmitglieder  wurden  bespitzelt  und  öffentlichkeits-wirksam  verhaftet,  so  wie  der  entlassene  Innenminister Janusz Kaczmarek.  Im Fernsehen erschienen  regelmäßig wackelige  Bilder  von  maskierten  Spezialeinheiten,  die die  Opfer  der  „Säuberung‟  abführten.  Nach  kaum mehr  

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Die Kaczyńskis verstanden Politik als andauernden Kampf und Konfronta-tion. Politische Gegner, unliebsame Kritiker und selbst Regierungsmitglie-der wurden bespitzelt und öffentlich-keitswirksam verhaftet.

als  einem  Jahr,  im  Sommer  2007,  brach  schließlich  die rechtspopulistische Regierung in abgrundtiefem Misstrauen  auseinander.2

Europa-  und  außenpolitisch manövrierten  die  Kaczyńskis und die PiS Polen mehr und mehr an den Rand, weil auch 

hier  die  Durchsetzung  eigener  nationaler Interessen  Vorrang  hatte  vor  konstruktiver Kooperation  und  geduldigem  prozessualen Ausgleich. Während der deutschen EU-Rats-präsidentschaft  im  ersten  Halbjahr  2007 erreichte  diese  Art  von  Politik  einen  Höhe-

punkt  in der Auseinandersetzung um die nationale Stim-mengewichtung im Europäischen Rat („Quadratwurzel oder Tod‟). Der Streit konnte nur mit größter Mühe und unter gehörigem  politischem  Druck  in  letzter  Minute  beigelegt werden.  In  der  Frankfurter Allgemeinen Zeitung  hieß  es nachdenklich: Es ist „der Dämon einer anderen, vergangen geglaubten Zeit,  dessen  giftiger  Atem da  plötzlich  durch Europa  streicht‟.3  Die  Kaczyńskis  und  ihre  Gefolgschaft begegneten Deutschland mit blankem Misstrauen, was in Deutschland, das nach 1989 als verlässlicher Fürsprecher für Polen aufgetreten war, Unverständnis hervorrief. Neues Hegemoniestreben, Geschichtsfälschung, Missachtung der polnischen Interessen und anderes mehr wurde jetzt dem deutschen Nachbarn vorgeworfen. Da half  es nur wenig, dass die etwa zeitgleich mit den Kaczyńskis an die Regie-rung gelangte Bundeskanzlerin Angela Merkel eine inten-sive,  gleichwohl  rücksichtsvolle  Kontaktpflege mit  Polens Regierung und Präsidenten betrieb. Verschiedene Faktoren erschwerten  oder  blockierten  sogar  ein  gedeihliches  und partnerschaftliches Miteinander und ließen die politischen Beziehungen  erstarren:  Der  „Steinbach-Komplex‟4,  der Streit  um  das Gedenken  an  die  Vertreibung  in Deutsch-land, oder wie man jetzt in Polen wieder „politisch korrekt‟ sagte, an die „Aussiedlung‟, der häufig wiederholte Vorwurf, „die  Deutschen‟  stilisierten  sich  von  „Tätern  zu Opfern‟, die unsägliche Diskussion um vermeintliche Restitutions- 

2 |  Vgl. Stephan Georg Raabe, Polen – Politische Chronik 2007. Länderbericht (Konrad-Adenauer-Stiftung, Auslandsbüro   Polen vom 28.01.2008).3 |  Vgl. ebd.4 |  Vgl. Stephan Georg Raabe, Im Antlitz der Geschichte. Tiefere Ursachen und Lösungsansätze des Streits um Erika Steinbach, Länderbericht (KAS, Auslandsbüro Polen vom  25.03.2009).

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Neues Hegemoniestreben, Geschichts-fälschung, Missachtung der polnischen Interessen und anderes mehr wurde jetzt dem deutschen Nachbarn vorge-worfen.

ansprüche  einer  so  genannten  „Preußischen  Treuhand‟5 und  um  Entschädigungsforderungen  Polens  als  Reaktion darauf,  das  an  Polen  vorbei  geplante  russisch-deutsche Joint Venture Ostsee-Gaspipeline6, der Streit um den euro-päischen  Verfassungsvertrag  und  den  Einfluss  in  der  EU und  die Diskussion  um die  Stationierung  von  Elementen der US-Raketenabwehr  in  Polen. Die Kommunikation  auf politischer  Ebene  war  gestört,  und  die  Medien  multipli-zierten diese Störung.7 Politisch hatte in Polen von Neuem das  Misstrauen  gegenüber  Deutschland  die  Oberhand gewonnen.8

Der  polnische  Publizist  Adam  Krzemiński bemerkte  2006  zu  Recht,  mit  Jarosław Kaczyński regiere „der erste Zornige der IV. Republik‟.9 Denn diese Republik gewann ihre Motivation gerade aus einer Art  von  „Zorn-Aufladung‟  gegen  die  „III.  Republik‟  und  deren  Krank-heiten wie  Korruption,  Ineffizienz  und  soziale  und  histo-rische  Ungerechtigkeit.10  Sie  manifestierte  sich  alsbald bei den „ehrgeizigen und empörungsstarken Akteuren‟ in einer „Politik der Ungeduld‟11, in der Forderung nach Recht und  Ordnung,  nach  Anerkennung  der  bisher  sozial  und  

5 |  Vgl. Stephan Georg Raabe, „Restitutionsansprüche abgewie-  sen. Ursache und Genese eines politischen Konfliktes‟, in:   Die Politische Meinung, 11 (2008), 65-69; ders.: „Die Klagen   der ‚Preußischen Treuhand‛. Zwischen politischer Hysterie   und rechtlichen Fragen‟, in: Die Politische Meinung, 5 (2007)   69-73.6 |  Vgl. Stephan Georg Raabe, „Der Streit um die Ostsee-Gas-  pipeline. Bedrohung oder notwendiges Versorgungsprojekt?‟,   in: KAS Auslandsinformationen 2/2009, 67-94.7 |  Vgl. Beata Ociepka, Agnieszka Łada, Jarosław Ćwiek-Karpowicz:   „Die Europapolitik Warschaus und Berlins in der deutschen   und polnischen Presse.‟ Forschungsbericht hrsg. vom Institut   für Öffentliche Angelegenheiten Warschau mit Unterstützung   der Konrad-Adenauer-Stiftung, Warschau 2008.8 |  Vgl. Stephan Georg Raabe: „Schwierige Nachbarschaft.   Aktuelle Entwicklungen und Probleme in den deutsch-  polnischen Beziehungen‟, Vortrag vor der Jahrestagung 2007   des Landesverbandes Bayern der Deutschen Vereinigung für   Politische Bildung: http://www.kas.de/proj/home/pub/48/1/  year-2008/dokument_id-12727/index.html; ders.: „Poten-  zielle Stabilität. Polen nach dem Ende der IV. Republik‟,   in: KAS Auslandsinformationen 6/2008, 27-40. 9 |  Adam Krzemiński: „Tiefe Risse in der Demokratie‟, in:   Internationale Politik 5/2006, 23-29, hier 24.10 | Vgl. Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer   Versuch, Frankfurt am Main 2006, 61-73: Die post- kommunistische Situation, hier 66 f.11 | Sloterdijk, a.a.O. 71 f. 

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Die „IV. Republik“ zeigte die Spaltung Polens in den wohlhabenderen Westen und den ärmeren Osten, die Stadt- und die Landbevölkerung, die Gebildeteren und die weniger Gebildeten, die Jün-geren und die Älteren.

 historisch  hinten  Anstehenden,  nach  sozialer  Gerechtig-keit und Durchsetzung der nationalen Interessen. Die „IV. Republik‟, aber auch die jüngste Präsidentenwahl, zeigen die  Spaltung  Polens  geografisch  wie  soziologisch  in  den wohlhabenderen  Westen  und  den  ärmeren  Osten,  die Stadt- und die Landbevölkerung, die Gebildeteren und die weniger Gebildeten, die  Jüngeren und die Älteren. Diese Spaltung  lässt  sich  bei  allen  Wahlen  seit  2005  deutlich beobachten. Während die einen die eher ausgleichenden Liberalen  oder  Linken  wählen,  stimmen  die  anderen  für die Zorn-Fraktionen nationaler oder populistischer Ausprä-gung, wobei rund die Hälfte der Wahlberechtigten gewöhn-lich  sowieso  der  Wahl  fernbleibt.12  Aber  eine  politische Kultur des Zornes schlägt leicht in Hass um und vergiftet die Gesellschaft.

Im  Verhältnis  zu  Deutschland  strebt  Polen  nach  Beach-tung, Rücksichtnahme, Anerkennung, Gleichberechtigung, Wertschätzung, eben nach „gleicher Augenhöhe‟ trotz der selbstverständlich  vorhandenen  und  oftmals  fast  schon 

rituell  angeführten  Asymmetrien,  Ungleich-gewichte,  des  wirtschaftlichen  Niveauun-terschiedes  zwischen  beiden  Ländern  und ihrer  ungleichzeitigen  Entwicklung.  Hier wirkt  sich  sozialpsychologisch  die  Longue durée  (Fernand  Braudel),  die  lange  Dauer 

geschichtlicher Erfahrung eines Landes aus, das sich stolz an die Piastenzeit im Mittelalter und das polnisch-litauische Großreich  in  der  frühen  Neuzeit  erinnert,  Ende  des  18. Jahrhunderts jedoch Objekt der Politik der aufstrebenden Teilungsmächte Russland, Preußen und Österreich wurde, für 123 Jahre von der Landkarte verschwand und kulturell unterdrückt wurde. Bereits 21 Jahre nach dem Wiederer-stehen 1918 wurde Polen erneut Opfer seiner großen Nach-barn Deutschland und Sowjetrussland. Es wurde jetzt aber nicht nur geteilt und besetzt, sondern in seiner physischen Existenz bedroht und ausgebeutet. Die deutschen Besatzer demütigten  die  Polen  als  „slawische  Untermenschen‟.  Obgleich  sie  im  Zweiten  Weltkrieg  aufopferungsvoll  auf 

12 | Vgl. dazu aktuell die Länderberichte des Auslandbüros Polen   der Konrad-Adenauer-Stiftung zu den jüngsten Präsidenten-  wahlen, „Bronisław Komorowski vierter Präsident der III.   Republik Polens‟ (05.07.2010); „Kopf an Kopf‟ (02.07.2010)  und insbesondere „Polen: Nach der Wahl ist vor der Wahl‟   (22.06.2010). 

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Die Geschichte prägt den ambivalen-ten Blick auf den deutschen Nachbarn, in dem sich nicht selten vorsichtige Skepsis mit Bewunderung, manchmal aber auch mit Neid und Missgunst paart.

Seiten der Alliierten und im Untergrund kämpften, erhielten die Polen nach dem Kriege aber nicht ihre Freiheit, sondern fielen unter sowjetrussische Herrschaft. Das Land und mit ihm die Bevölkerungen wurden nun  auf  der  Landkarte  um  150  Kilometer nach Westen verschoben. Erst 1989/90 ging diese  zweifache  Nachkriegszeit  des  Ersten und Zweiten Weltkrieges mit ihren Kämpfen für Polen zu Ende. Erst jetzt konnte sich das Land endlich an den keineswegs leichten Transformations- und  Aufholprozess machen  und  die  Lösung  der  grundle-genden Dilemmata der polnischen Politik angehen.13

Diese Geschichte, die man in Polen bis heute nicht so recht aufarbeiten konnte, prägt die nationale Psyche und ebenso den  ambivalenten  Blick  auf  den  deutschen  Nachbarn,  in dem  sich  nicht  selten  vorsichtige  Skepsis mit  Bewunde-rung, manchmal aber auch mit Neid und Missgunst paart, nationaler Stolz mit Minderwertigkeitskomplexen. Es wäre jedoch  falsch,  die  mit  der  „IV.  Republik‟  verbundenen Krisenphänomene in den deutsch-polnischen Beziehungen allein auf die „Zorn-Aufladung‟ unter den Kaczyńskis und damit  auf  die  national-konservative Wende  in  der  polni-schen Politik im Jahre 2005 zurückzuführen. Diese Wende verschärfte nur die seit geraumer Zeit schon vorhandenen Spannungen und Turbulenzen. 

DIE GENESE DER BEzIEHUNGEN NAcH 1989

Blicken wir noch einmal zurück: In den Zeiten des Kalten Krieges  wurde  die  deutsch-polnische  „Versöhnung‟  zu einem  Schlüssel,  um  die  weltanschaulich  zementierte politische Teilung zu überwinden. Versöhnung bezieht sich auf gemeinsame Werte, die Menschen und Gesellschaften verbinden. Nicht zufällig waren die Kirchen eine wichtige Quelle  dieser  Versöhnungsarbeit.  Von  ihnen  kamen  die ersten Anstöße für den deutsch-polnischen Dialog.14 Mit der 

13 | Vgl. Władysław Bartoszewski, Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herr- schaft (Bonn: Deutscher Bundestag 28.04.1995) 14 | Vgl. Stephan Georg Raabe, „Die Kirchen als Katalysatoren   der Versöhnung‟, in: Elżbieta Opiłowska, Krzysztof Ruchniewicz,   Marek Zybura (Hrsg.), ‚Das Friedenszeichen von Kreisau‛ und ‚Der Händedruck von Verdun‛. Wege zur deutsch-polnischen und deutsch-französischen Versöhnung und ihre Symbole im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaften (i.A. der Stiftung 

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Nicht zufällig waren die Kirchen eine wichtige Quelle der Versöhnungsarbeit. Von ihnen kamen die ersten Anstöße für den deutsch-polnischen Dialog.

politischen Überwindung der europäischen Teilung und der Wiedervereinigung Deutschlands wurde der Versöhnungs-prozess fortgesetzt durch die Beseitigung der Gegensätze und  Konflikte,  die  es  auf  der  politisch-rechtlichen  Ebene gab.15

Der Vertrag zwischen dem wiedervereinigten Deutschland und  der  Republik  Polen  vom 14.  November  1990  bestä-

tigte die zwischen ihnen bestehende Grenze und räumte damit das Hauptproblem in den deutsch-polnischen  Beziehungen  aus.  Der anschließende  Vertrag  „über  gute  Nachbar-schaft  und  freundschaftliche  Zusammen- 

arbeit‟  vom  17.  Juni  1991,  dessen  20.  Jahrestag  2011  ansteht, legte die Grundlage für die strategische Partner- schaft  der  kommenden  Jahre.16  Auf  der Grundlage  eines umfangreichen Maßnahmenkataloges, der in dem Vertrag  beschrieben  wurde,  entwickelten  sich  die  deutsch-polni-schen  Beziehungen  in  den  neunziger  Jahren  positiv  im  Sinne einer „Werte- und Interessengemeinschaft‟. Rechts- staatlichkeit, demokratische Freiheit, soziale Gerechtigkeit  in der Marktwirtschaft, Solidarität für Frieden und Entwick-lung waren wichtige gemeinsame Grundwerte. Die Über-windung  der  Ordnung  von  Jalta,  die  Gestaltung  einer neuen freiheitlichen Friedensordnung und die euro päische Vereinigung waren zentrale gemeinsame Inte ressen.

Allerdings  waren  Fragen  der  Staatsangehörigkeit  und Vermögensfragen  im  Nachbarschaftsvertrag,  worauf  ein Briefwechsel  zum  Vertrag  hinweist,  ausdrücklich  ausge-spart  worden.17  Wie  sich  zeigen  sollte,  blieben  die  sich aus  der  Kriegs-  und  Nachkriegszeit  ergebenden  Themen 

15 | Zum Zusammenhang von Versöhnung und Interessengemein-  schaft vgl. Witold Góralski, „The Polish-German Community   of Interests. Origins – Achievements – Threats‟ in: ders.   (Hrsg.), Poland-Germany 1945-2007. From Confrontation to Cooperation and Partnership in Europe. Studies and Docu- ments. Polish Institute of International Affairs, Warsaw 2007,   309-354, hier 339, 352 f.16 | Auswärtiges Amt und Bundesministerium des Innern in   Zusammenarbeit mit der Botschaft der Republik Polen   (Hrsg.): Die deutsch-polnischen Verträge vom 14.11.1990 und 17.6.1991 (deutsch/polnisch), Bonn, o.J. (Deutsch-  Polnische Verträge). 17 |  Deutsch-Polnische Verträge, a.a.O. 70-74, hier 74. 

  Kreisau, des Willy-Brand-Zentrums der Universität Breslau   und der Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen), Wrocław 2009,   53-86 (liegt ebenso auf polnisch vor).

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Der Ausspruch des ehemaligen polni-schen Außenministers Krzysztof Sku-biszewski, „Polens Weg nach Europa führt über Deutschland‟, wurde erfolg-reich in praktische Politik umgesetzt.

politisch-gesellschaftlich heiße Eisen. Zwar wurden neural-gische Punkte wie die Vertreibung der Deutschen im Laufe der Zeit keineswegs umgangen, sondern offen und diffe-renziert angesprochen.18 Ein erster Höhepunkt war diesbe-züglich das zweijährige polnische Forschungsprojekt „Der Vertreibungskomplex‟,  welches  die  einstigen  Differenzen zwischen deutscher und polnischer Historiographie ad acta zu  legen  half  und  zu  einer  Enttabuisierung und  Entideologisierung  dieses  Themas  in Polen  beitrug.19  Später  legte  eine  Arbeits-gruppe von Historikern, die von der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit  und der Robert Bosch Stiftung gefördert wurde, eine  mehrbändige,  sowohl  in  Deutsch  wie  in  Polnisch publizierte  Dokumentation  aus  polnischen  Archiven  über das Schicksal der Deutschen  im polnischen Machtbereich 1945 bis 1950 vor.20 Inwieweit aber diese Aufarbeitung des Vertreibungskomplexes Eingang in das allgemeine öffent-liche und politische Bewusstsein gefunden hat,  ist  ange-sichts des Streits um dieses Thema in den letzten Jahren fraglich.  Ohne  Zweifel  wurde  jedoch  der  Ausspruch  des ehemaligen  polnischen  Außenministers  Krzysztof  Skubis-zewski, „Polens Weg nach Europa führt über Deutschland‟, erfolgreich in praktische Politik umgesetzt.21 Deutschlands Unterstützung  für  Polens  EU-Beitritt  war  ein  effektiver Katalysator  der  deutsch-polnischen  Interessengemein-schaft in Bezug auf die europäische Integration.22

Exemplarisch  für  diese  Phase  der  deutsch-polnischen Beziehungen  sind  ihr  symbolträchtiger  Beginn  mit  der Versöhnungsmesse  im  niederschlesischen  Kreisau  am  

18 | Vgl. Klaus Bachmann, Jerzy Kranz (Hrsg.), Verlorene Heimat. Die Vertreibungsdebatte in Polen (Bonn, 1998).19 | Vgl. Włodzimierz Borodziej, Artur Hajnicz (Hrsg.), Kompleks wypędzenia (Kraków, 1998).20 | Vgl. Wlodzimierz Borodziej, Hans Lemberg (Hrsg.), Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden… Die Deutschen östlich von Oder und Neiße. Dokumente aus polnischen   Archiven, Herder Institut Marburg, Bd. 1/2000: Einführung, zentralstaatliche Verordnungen, Wojewodschaft Allenstein (südliches Ostpreußen); Bd. 2/2003: Zentralpolen, Woje- wodschaft Schlesien (Oberschlesien); Bd. 3/2004: Woje- wodschaft Posen, Wojewodschaft Stettin (Hinterpommern);   Bd. 4/2004: Wojewodschaft Pomerellen und Danzig (West- preußen), Breslau (Niederschlesien).21 | Vgl. Alexander, Geschichte Polens, a.a.O. 391.22 | Vgl. Góralski, a.a.O. 330 ff., 343.

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Anlässlich des 50. Jahrestages des Warschauer Aufstandes bat Bundes-präsident Roman Herzog die polni-schen Opfer des Krieges um „Verge-bung für das, was ihnen von Deutschen angetan worden ist‟.

12. November 1989 unter Beteiligung der  beiden Regie-rungschefs Tadeusz Mazowiecki und Helmut Kohl, die in einer Umarmung  den  Friedensgruß  austauschten,  sowie  zwei Ansprachen  zu  historischen Gedenktagen.  Anlässlich  des 50. Jahrestages des Warschauer Aufstandes am 1. August 1994 sprach Bundespräsident Roman Herzog in Warschau und bat die polnischen Opfer des Krieges um „Vergebung für das, was ihnen von Deutschen angetan worden ist‟.23 Und er führte zustimmend die Sätze des polnischen Essayisten  Jan Józef Lipski an: „Wir haben uns daran beteiligt, Millionen Menschen ihrer Heimat zu berauben‟. Nationale Gruppie- rungen und Opferverbände kritisierten Präsident Lech Wałęsa  heftig für die Einladung von Herzog, manche Aufstandsvete-ranen blieben der Veranstaltung aus Protest sogar fern.

Etwas später, am 28. April 1995, hielt der polnische Außen-minister Władysław Bartoszewski im Deutschen Bundestag 

zum  50.  Jahrestag  des  Endes  des  Zweiten Weltkrieges  eine  bedeutende  Rede.24  Sie wurde  als  „die  repräsentativste  Interpre-tation  der  polnisch-deutschen  Versöhnung, Partnerschaft  und  Interessengemeinschaft‟ bezeichnet25, vor allem wegen seiner bahn-

brechenden  Worte:  „Als  Volk,  das  vom  Krieg  besonders heimgesucht wurde, haben wir die Tragödie der Zwangs-umsiedlungen kennengelernt sowie die damit verbundenen Gewalttaten und Verbrechen. Wir erinnern uns daran, dass davon auch unzählige Menschen der deutschen Bevölke-rung betroffen waren und dass zu den Tätern auch Polen gehörten. Ich möchte es offen aussprechen: Wir beklagen das individuelle Schicksal und die Leiden von unschuldigen Deutschen,  die  von  den  Kriegsfolgen  betroffen  wurden und ihre Heimat verloren haben.‟ Mit Blick auf den Welt-krieg beharrte Bartoszewski aber auf einer klaren Unter-scheidung  von  Opfern  und  Tätern  und  ihren  Mitläufern. Das  Gedenken  und  die  historische  Reflexion  müssten 

23 | Veröffentlichung des Bundespräsidialamtes, 01.08.1994:  http://bundespraesident.de/Reden-und-Interviews/Reden-  Roman-Herzog-,11072.12003/Ansprache-von-Bundespraesi  dent.htm [05.08.2010]24 | Bartoszewski, Gedenken an das Ende des Zweiten Welt- krieges, a.a.O. 25 | „The most representative interpretation of Polish-German   reconciliation, partnership, and community of interests was   made on 28 April 1995 in Bonn by Poland’s foreign minister,   Władysław Bartoszewski‟: Góralski, a.a.O. 342.

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„Unsere Nachbarschaft wird im hohen Maße darüber entscheiden, ob und wann das geteilte Europa zusammenwachsen wird.‟ (Władysław Bartoszewski)

die  deutsch-polnischen  Beziehungen  stets  begleiten.  Sie sollten aber nicht das Hauptmotiv dieser Beziehungen sein, sondern den Weg bereiten für die gegenwärtigen und in die Zukunft gerichteten Motivationen. „Unsere Nachbarschaft wird  im hohen Maße  darüber  entscheiden,  ob  und wann das geteilte Europa zusammenwachsen wird.‟ (Władysław Bartoszewski)

Bartoszewskis  Rede  war  im  Vorfeld  in  Polen  allerdings ebenfalls alles andere als unumstritten. Zum einen hatte  Staatspräsident Wałęsa eigentlich erwartet, zu den 50-Jahr- Feierlichkeiten  des Kriegsendes  nach Deutschland  einge-laden zu werden. Das dies nicht geschah, rief in Polen das schmerzhafte Gefühl der Zweit-rangigkeit hervor. Während man sich selber ebenso  wie  Frankreich  zu  den  Alliierten Siegern zählte, rechnete die Regierung Kohl Polen nicht dazu. Vor diesem Hintergrund diente die Einla-dung Bartoszewskis auch dazu, einen diplomatischen Eklat zu vermeiden. Zum anderen hatte man in Polen überwie-gend nicht den Eindruck,  sich gegenüber den Deutschen entschuldigen zu müssen. Zwei Drittel der Befragten einer Untersuchung  des  Meinungsforschungsinstitutes  CBOS gaben  im Mai  1996  an,  es  gäbe  nichts, wofür  die  Polen die Deutschen überhaupt um Vergebung bitten müssten. Fast  die  Hälfte  der  Befragten  wusste  überhaupt  nicht, dass es eine Vertreibung der Deutschen gegeben hatte.26 Bartoszewski meisterte die schwierige Situation, indem er zwar nicht um Vergebung bat, aber Empathie auch für die Vertriebenen zeigte und eine Mitverantwortung von Polen an  den  Gewalttaten  und  Verbrechen  im  Zusammenhang der Zwangsumsiedlungen eingestand. 

26 | Vgl. Markus Mildenberger, „Die deutsch-polnischen Beziehun-  gen nach 1990: Eine Werte- und Interessengemeinschaft?‟,   in: Wolf-Dieter Eberwein, Basil Kerski (Hrsg.), Deutsch- polnische Beziehungen zehn Jahre nach der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages: Eine Werte- und Interessen- gemeinschaft?, Berlin 2001, 28-34, hier 30 f., online unter  http://bibliothek.wz-berlin.de/pdf/2001/p01-305.pdf   [26.08.2010]. Zum ganzen Vorgang auch Adam Holesch,   Verpasster Neuanfang? Deutschland, Polen und die EU,   Bonn 2007, 41 f.

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Einige der „heißen Eisen‟ sind noch längst nicht abgekühlt. So lehnte in Polen eine breite Mehrheit eine deut-sche Gedenkstätte vehement ab.

EIN FRüHER WARNRUF: „VERSöHNUNGSKITScH GEHOBENER ART‟

Die Bitte um Vergebung von deutscher Seite für die Kriegs-verbrechen und das Eingeständnis einer Mitverantwortung von  polnischer  Seite  für  den  „Raub  der  Heimat‟  vieler Deutscher  bildeten  zweifellos  eine  wichtige  Grundlage für Verständigung und Versöhnung. Doch bereits wenige Tage  nach  Herzogs  Rede  in  Warschau  warnte  der  deut-sche  Polenkorrespondent  Klaus  Bachmann  nachdrücklich vor  einem  „Versöhnungskitsch‟  zwischen  Deutschen  und Polen.27  Nach  wie  vor  vorhandene  Vorurteile,  Meinungs-verschiedenheiten  und  Probleme  würden  nicht  dadurch gelöst,  dass  man  sie  mit  bloßen  Gesten,  Symbolhand-lungen und Appellen zudecke, sondern dadurch, dass man sie  offen  ausdiskutiere.  Stattdessen  jedoch  überzeugten sich  „germanophile  Polen  und  polenfreundliche Deutsche gegenseitig davon, dass sie einander mögen, meist unter peinlicher Ausklammerung kontroverser Themen. Versöh-nungskitsch gehobener Art.‟ Bachmann befürchtete, dass die Kontroversen,  denen  Politiker  und  Intellektuelle  jetzt aus  dem Weg gingen,  später  umso heftiger  ausbrächen. Die deutsch-polnischen Beziehungen vertrügen auch einen gesunden  Streit,  vorausgesetzt,  er werde  ehrlich  ausge-tragen.

Bachmann hatte mit seiner Warnung nicht ganz unrecht. Denn  wie  der  lang  andauernde  und  intensive  Streit  um 

das geschichtliche Gedenken an die Vertrei-bungen  wenige  Jahre  später  zeigte,  sind einige der  „heißen Eisen‟ noch  längst  nicht abgekühlt.  So  lehnte  in  Polen  keineswegs nur  der  polnische  Staatspräsident  Lech 

Kaczyński,  sondern  eine  breite  Mehrheit  in  Politik  und veröffentlichter  Meinung  eine  deutsche  Gedenkstätte an die Vertreibungen vehement ab, weil dies die histori-schen Rollen von Tätern und Opfern angeblich verkehren würde.  Gleichzeitig  distanzierte  sich  der  Staatspräsident geradewegs von der Sichtweise Lipskis und Bartoszewski und  wies  darauf  hin,  dass  deren  Ansichten  von  vielen 

27 | Klaus Bachmann, „Versöhnungskitsch zwischen Deutschen   und Polen‟ in: Transodra 8/9, S. 41-43, gekürzte Fassung in:   Die Tageszeitung vom 05.08.1994.

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Während man in Deutschland das Gedenken an die Vertreibungen museal historisieren und sich der zukunft zuwenden wollte, begriff man in Polen die Vorgänge als einen Versuch der Geschichtsrevision.

in  Polen  eben  nicht  geteilt  würden.28  Damit  entzog  Lech Kaczyński  den deutsch-polnischen Beziehungen  in  einem sensiblen  Bereich  die  historisch-moralische  Grundlage der Verständigung und Versöhnung,  die  so mühsam seit den  sechziger  Jahren gelegt worden war. Oder waren es vielleicht doch die Deutschen, die mit  ihrem Gedenkpro-jekt den Burgfrieden zwischen den Historien störten? Deutsche und Polen wurden jeden-falls seit Anfang des Jahrzehnts auf eine ganz undiplomatische  Weise  darauf  gestoßen, dass den Erfahrungen des Weltkriegs und der Nachkriegszeit für die gegenseitige  kollektive Wahrnehmung  in  Politik  und  Medien  „eine konstitutive  Bedeutung  zukommt‟.29  Eine  merkwürdige Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen griff Platz: Während man  in Deutschland das Gedenken an die Vertreibungen museal  historisieren,  der  geschichtlichen  Betrachtung übergeben  und  sich  vor  allem  der  Zukunft  zuwenden wollte, begriff man in Polen die Vorgänge in Deutschland als  einen  Versuch  der  Geschichtsrevision,  als  politisch gefährlich, da in subtiler Weise das Potsdamer Abkommen von 1945 in Frage gestellt werde, und erwartete von den Deutschen eine erneute Hinwendung zur Geschichte und deren  kritische  Aufarbeitung.  Nach  Jahrzehnten  inten-siver  Geschichtsbefassung  in  West-Deutschland  und  der Beschäftigung mit der kommunistischen Vergangenheit in Gesamt-Deutschland  nach  1989 war  dies  für  weite  Teile der deutschen Politik und Gesellschaft eine anachronisti-sche Erwartung.

GOLDENE JAHRE UND ERSTE KRISENzEIcHEN

In  den  neunziger  Jahren  entwickelten  sich  die  deutsch-polnischen  Beziehungen  auf  politischer,  wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene dennoch insgesamt erfolgver-sprechend. Manche bezeichnen sie deshalb sogar als „die ‚goldenen‛ neunziger  Jahre‟.30 Aber bereits  im  Juni 2000 heißt  es  in  einem  Strategiepapier  der  Konrad-Adenauer-

28 | Vgl. dazu die beiden Interview-Auszüge mit Präsident Lech   Kaczyński, in: Stefan Troebst (Hrsg.), Vertreibungsdiskurs und europäische Erinnerung (Osnabrück 2006), 245 ff.29 | Dieter Bingen, Krzysztof Ruchniewicz: „Deutschland und   Polen‟, in: dies. (Hrsg.): Länderbericht Polen, (Bonn:   Bundeszentrale Für politische Bildung, 2009), 649-673,   hier 649.30 | Ebd. 654 ff.

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Stiftung, das für einen Neubeginn der deutsch-polnischen Partnerschaft  warb,  die  bilateralen  Beziehungen  hätten sich seit 1998 deutlich verschlechtert und bräuchten neue Impulse.31 Probleme der Tagespolitik wie die Anpassungs-schwierigkeiten  in  Vorbereitung  auf  den  EU-Beitritt  und vergangenheitsbezogene  Streitigkeiten  verstellten  den Blick auf die strategische Bedeutung der Partnerschaft. Von einer  „Entfremdung‟ auf polnischer Seite und „fehlenden gemeinsamen Zukunftsvisionen‟ ist die Rede. Es bestehe dringender Handlungsbedarf, wenn die  bilateralen Bezie-hungen  sich nicht –  zu beiderseitigem Schaden – weiter verschlechtern sollen. Was war geschehen? Als Anlässe für die Entfremdung und Enttäuschung werden in dem Strate-giepapier genannt:

 ▪ Die  Irritationen  im  Kontext  der  Bundestagsresolution vom 28. Mai 1998  zur Brückenfunktion von deutschen Vertriebenen und Minderheiten.32 Darin  bekräftigte  der Deutsche Bundestag den Standpunkt von der Unrecht-mäßigkeit und Völkerrechtswidrigkeit der Vertreibungen und  forderte  die  Bundesregierung  auf,  sich  auch weiterhin  „für  die  legitimen  Interessen der Heimatver-triebenen‟ einzusetzen.33

 ▪ Eine auf polnischer Seite wahrgenommene Abwendung der neuen rot-grünen Bundesregierung von Polen, durch eine neue „Realpolitik‟ und die Betonung deutscher Inte-ressen. ▪ Der  Streit  um  deutsche  Kulturgüter  in  Polen  und  die zähen  Verhandlungen  über  die  Entschädigung  von ehemaligen Zwangsarbeitern. 34

31 | Vgl. Roland Freudenstein und Henning Tewes, In die Zukunft investieren: Strategien für einen Neubeginn in der deutsch- polnischen Partnerschaft, Außenstelle Warschau der Konrad-  Adenauer-Stiftung, 27.06.2000; dies.: „Stimmungstief   zwischen Deutschland und Polen. Für eine Rückkehr zur   Interessengemeinschaft‟, in: Internationale Politik 2, 2000,   49-56. 32 | Vgl. Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache   13/10845: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP:   „Vertriebene, Aussiedler und deutsche Minderheiten sind eine   Brücke zwischen den Deutschen und ihren östlichen   Nachbarn‟.33 | Vgl. Góralski, a.a.O. 351; Markus Mildenberger, Funktioniert die ‚Interessengemeinschaft‛? Bilanz eines Jahrzehnts   (Berlin: Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik,   09.08.2001), 12 f. http://www.dgap.org/publikationen/view/  09f3595eceaf11da89fb8d4e2743af4daf4d.html [05.08.2010]34 | Vgl. Holesch, a.a.O. 64 f., 67-70.

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War es im Frühjahr 2003 zu einer weiteren erheblichen Entfremdung im zuge des Irakkrieges gekommen, so setzte sich nunmehr eine ganze Spirale der Irritationen in Gang.

 ▪ Ängste und Widerstände gegen die EU-Osterweiterung in Polen wie in Deutschland.

Der  eigentliche  Grund  liege  aber  in  einer  „strukturellen Asymmetrie‟:  „In  Polen  existiert  nach  wie  vor  ein  auf historischen  Erfahrungen  beruhendes  latentes  Miss-trauen  gegenüber  Deutschland,  in  Deutschland  ein  oft auf Unwissen beruhender Mangel an Interesse gegenüber Polen‟,  heißt  es  in  dem  Papier  der  Konrad-Adenauer-Stiftung. Beides verstärke sich gegenseitig. Das deutsche Interesse an der Partnerschaft mit Polen müsse klar artiku-liert und durch den politischen wie wirtschaftlichen Nutzen begründet  werden.  Empfohlen  werden  Gesprächskreise zur Europa-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik, bilaterale Sitzungen  der  Parlamentsausschüsse,  eine  Vernetzung der Eliten, die Gründung eines Institutes für Deutschland-studien  in  Polen  sowie  eine  Intensivierung  der  Koopera-tion  in den grenznahen Regionen. Vieles von dem wurde zwischenzeitlich  realisiert.  Die  nachfolgenden  politischen Verwerfungen in den Beziehungen konnten dennoch nicht verhindert werden. 

EINE SPIRALE DER IRRITATIONEN

Das  Titelbild  war  skandalös.  Polens  konservatives  Nach-richtenmagazin Wprost  zeigte Mitte September 2003 auf dem  Titelblatt  in  einer  Fotomontage  die  Vertriebenen-Vorsitzende  Erika  Steinbach  in  schwarzer Nazi-Uniform – auf Gerhard Schröder reitend. Darunter  stand:  „Das  deutsche  trojanische Pferd‟.  Links  daneben  in  großen  Lettern: „Die  Deutschen  sind  den  Polen  eine  Billion Dollar  für  den  Zweiten Weltkrieg  schuldig.‟ Das  Bild  stellte  den  vorläufigen  medialen  Höhepunkt  in einer  emotional  geführten  Debatte  dar,  den  Steinbach mit ihrem Vorschlag ausgelöst hatte, ein „Zentrum gegen Vertreibungen‟ in Berlin einzurichten. War es im Frühjahr 2003 zu einer weiteren erheblichen Entfremdung zwischen Polen und Deutschland wie auch Frankreich  im Zuge des Irakkrieges gekommen, den Polen in Partnerschaft mit den USA im Gegensatz zu seinen westlichen Nachbarn unter-stützte,  so  setzte  sich  nunmehr  eine  ganze  Spirale  der Irritationen in Gang.

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Das  „Zentrum gegen Vertreibungen‟  und  die  gleichzeitig von einer „Preußischen Treuhand‟ vorangetriebenen Resti-tutionsansprüche einzelner Vertriebener führten damals in Polen, wo sich die Konservativen auf die Übernahme der Regierungsverantwortung  vorbereiteten,  zu  stürmischen politischen und medialen Reaktionen. Am 10. September 2004 verabschiedete der Sejm einstimmig eine Resolution zu den  „Rechten Polens  auf  deutsche Kriegsreparationen sowie  zu  den  in  Deutschland  vorgebrachten  unrecht-mäßigen  Forderungen  gegenüber  Polen  und  polnischen Bürgern‟. Der Beschluss mit seiner Forderung finanzieller Kompensation  für  die  Zerstörungen  und  die  materiellen wie  immateriellen Verluste  im Zweiten Weltkrieg war ein spektakulärer  politischer  Akt.  Er  ignorierte  das  Faktum, dass  über  die  Kriegsreparationen  für  Polen  schon  viel früher  entschieden  worden  war  und  dass  Deutschland keinerlei  Besitzansprüche  gegenüber  Polen  stellte.  Ein weiteres  Paradoxon  der  Resolution  war,  dass  kurze  Zeit vorher Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Rede aus Anlass  des  60.  Jahrestages  des  Warschauer  Aufstandes in Warschau ausdrücklich erklärt hatte, dass  für Restitu-tionsansprüche  von  Deutschland  kein  Raum  sei,  Eigen-tumsfragen im Zusammenhang mit dem Krieg kein Thema mehr für die deutsche und polnische Regierung seien und weder die Bundesregierung noch  irgendeine bedeutsame politische Kraft  in Deutschland  individuelle Eigentumsan-sprüche unterstützten. In Reaktion auf die Sejm-Resolution beauftragten beide Regierungen eine Expertengruppe, die Frage von individuellen Restitutionsansprüchen zu klären. Die  beiden  Völkerrechtsexperten  Jan  Barcz  und  Jochen Frowein kamen zu dem Ergebnis, dass solche Ansprüche rechtlich  nicht  existieren.  Dennoch  betrieb  die  „Preußi-sche  Treuhand‟  ihre  Sache  weiter  und  Polens  nationale Rechte nutzte die Gelegenheit, um in den Beziehungen zu Deutschland im Namen der polnischen Nationalinteressen auf Konfrontationskurs zu gehen. Auf diese Weise wurden die  „nicht  existenten‟ Rechtsansprüche aus  zwei Quellen so  lange  genährt,  bis  der  Europäische  Menschenrechts-gerichtshof  endlich  am  7.  Oktober  2008,  gut  fünf  Jahre später,  die  Klagen  der  „Preußischen  Treuhand‟  endgültig zurückwies und damit dieses Thema weitgehend ruhte. Ein später Sieg des Rechts über den Populismus.35

35 | Vgl. Góralski, a.a.O. 344-348; Raabe, Restitutionsansprüche,   a.a.O.

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Da Westerwelle und die FDP mit Rück-sicht auf Polen eine Berufung Stein-bachs blockierten, verzichtete Stein-bach auf den Beiratssitz. Der Kampf um ihren Kopf war entschieden.

Unterdessen  geht  der  Streit  um  das  „Zentrum  gegen Vertreibungen‟ weiter. Zwar hatte die neue liberal-konser-vative Regierung unter Premier Donald Tusk ab November 2007  eine  vorsichtige  Neubewertung  vorgenommen,  die zumindest  eine  skeptische  Duldung  signalisierte.  Aber als es um den Einzug Erika Steinbachs, die dieses Projekt maßgeblich  angestoßen  hatte,  in  den  Stif-tungsbeirat  ging,  eskalierte  der  Streit  im Frühjahr 2009 derart, dass sich Bundestags-präsident  Norbert  Lammert  veranlasst  sah, in einem offenen Brief  in der Süddeutschen Zeitung  und  der  Gazeta Wyborcza  für  die Bundestagsabgeordnete   einzutreten  und  um  Mäßigung in  der  Auseinandersetzung  zu  bitten.36  Als  der  neue Bundesaußenminister Guido Westerwelle am 31. Oktober 2009 seinen ersten Antrittsbesuch in Polen unternahm und von  einem  Journalisten  nach  Steinbach  gefragt  wurde, signalisierte er, dass die FDP diese Frage im Sinne Polens behandeln  werde,  da  es  schließlich  um  einen  „Beitrag zur Versöhnung‟ gehe.37 Da Westerwelle und die FDP mit Rücksicht auf Polen eine Berufung Steinbachs in den Beirat hartnäckig  blockierten,  verzichtete  Steinbach  schließlich am  12.  Februar  2010  endgültig  auf  den  Beiratssitz.  Der Kampf um ihren Kopf war entschieden, die „Mission erfüllt‟, wie  ein  hoher  polnischer  Regierungsvertreter  bemerkte. In  Deutschland  fühlten  sich  am  Ende  die  Gegner  Stein-bachs genauso erpresst wie  ihre Unterstützer. Die  polni-sche Regierung begrüßte dagegen die Lösung als gut für die polnisch-deutschen Beziehungen. Doch der über Jahre andauernde Kampf hat Spuren hinterlassen.

Auch  in  anderen,  ungleich  gewichtigeren  Politikfeldern drehte sich die Spirale der  Irritationen  im deutsch-polni-schen Verhältnis weiter. War  der  Irak-Krieg  eine Bewäh-rungsprobe  für  die  deutsch-polnischen  Beziehungen  in  

36 | Vgl. Raabe, Antlitz der Geschichte, a.a.O.; ders.: Das gefähr- liche Spiel mit Erika Steinbach, Länderbericht der Konrad-  Adenauer-Stiftung, Auslandbüro Polen vom 06.03.2010,   http://www.kas.de/proj/home/pub/48/1/year-2009/  dokument_id-15878/index.html [05.08.2010]; der Brief   Lammerts ist zugänglich unter: http://www.kas.de/proj/  home/pub/48/1/year-2009/dokument_id-15909/index.html.37 | Vgl. Gerhard Gnauck: „Guido Westerwelle. Deutschlands   neuer Außenminister verzückt Polen‟, in: Welt Online,   01.11.2009.

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Ein gutes Beispiel für eine misslun-gene politische wie unternehmerische Kommunikation betrifft die Ostsee-Gaspipeline, die seit April 2010 gebaut wird.

Bezug auf die Sicherheitspolitik und transatlantische Part-nerschaft,  so  gestaltete  sich  der  Streit  um den  Europäi-schen Verfassungs- oder später Reformvertrag als Bewäh-rungsprobe für die bilateralen Beziehungen im Bereich der Europapolitik. Beide Proben misslangen. In beiden Fällen kam es zu teils scharfen Konflikten, die wohl nicht nur etwas 

mit  „einer  fatalen Ungleichzeitigkeit  außen-politischer  Kulturen‟38  in  Deutschland  und Polen zu tun haben, sondern auch mit politi-schen Positionen und der Unfähigkeit, diese in geregelten Prozeduren zu einem Ausgleich 

zu bringen. Ein weiterer, sich seit 2005 hinziehender Streit und  gleichzeitig  ein  gutes  Beispiel  für  eine  misslungene politische  wie  unternehmerische  Kommunikation  betrifft die  Ostsee-Gaspipeline,  die  seit  April  2010  gebaut  wird und Russland mit Deutschland und Westeuropa verbinden soll. Das Projekt, das der polnische Verteidigungsminister Radek Sikorski 2006 mit dem Hitler-Stalin-Pakt verglich39, bleibt in den Augen der polnischen Politik und Medien ein Beispiel  für  die  Missachtung  polnischer  Interessen.  In Nachhutgefechten wird jetzt noch über die Tiefe der Verle-gung vor dem Stettiner Haff gestritten.

PARADIGMENWEcHSEL VON DER INTERESSEN-GEMEINScHAFT zUR KONFLIKTNAcHBARScHAFT

Die  genannten  Konfliktfelder  waren  allesamt  schon  da, als  die  Brüder  Kaczyński  ab  Herbst  2005  die  Politik  in Polen  zu  bestimmen  begannen.  Mit  ihnen  kam  der  Teil des  Solidarność-Lagers,  der  sich  seit  1989  mehr  oder weniger  als  Verlierer  sah,  an  die  politische Macht.  Beim innenpolitischen Kulturkampf, der dem politischen Wechsel vorausgegangen war, „ging es nicht zuletzt um den Stel-lenwert  der Geschichte  und  der Geschichtspolitik  sowohl für die Innenpolitik wie auch für die Außenpolitik‟40. Jetzt kam es über die bisherigen Divergenzen hinaus zu einer grundlegenden Änderung der polnischen Politik gegenüber Deutschland. Waren die Kaczyńskis schon früher als Poli-tiker aufgefallen, „die die deutsch-polnischen Gegensätze hochspielten, um aus ihnen politisch Kapital zu schlagen‟, so distanzierten sie sich jetzt ausdrücklich vom Prozess der 

38 | Bingen, Ruchniewicz, a.a.O. 661.39 | Vgl. Polnischer Minister, „Pipeline-Vertrag wie Hitler-Stalin-  Pakt‟, in: Fokus Online, 30.04.2006.40 | Bingen, Ruchniewicz, a.a.O. 666.

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Die führenden Politiker nutzten bald sämtliche Konfliktfelder, um auf Kon-frontationskurs zu gehen. Da konnte schon eine unsinnige Satire in der taz eine Krise hervorrufen.

Versöhnung und sahen in Deutschland mehr einen Rivalen als einen Partner. Dabei schreckten sie nicht davor zurück, diejenigen,  die  seit  vielen  Jahren  die  Verständigung mit Deutschland  gesucht  hatten,  als  „Vaterlandsverräter‟  zu brandmarken.41 Das gipfelte etwa in dem absurden Vorwurf an  den  hochangesehenen  zweimaligen  Außenminister Polens,  Władysław  Bartoszewski,  eine  „Politik  auf  den Knien gegenüber Deutschland und dem Westen‟ gemacht zu haben. Bartoszeweski konterte diesen Anwurf im Wahl-kampf 2007 mit den Worten, er verbitte sich „kategorisch die heftige  Beleidigung Polens durch unkompetente Regie-rungsmitglieder  und  unkompetente  Diplomatie-Trottel‟ (diplomatołki).42

Jarosław Kaczyński hatte bereits in der Parlamentsdebatte zur erwähnten Sejm-Resolution vom 10. September 2004 den  neuen  Ton  vorgegeben,  indem er  fest-stellte, es gebe eine Phalanx von deutschen Interessen  in  Polen  durch  Leute,  die  als unabhängige Experten oder Kommentatoren aufträten, aber von deutschem Geld lebten. Versöhnung  sei  ein  Ausdruck  großer  Naivi-tät.43 Eine rapide Verschlechterung der deutsch-polnischen Beziehungen ließ folglich nicht lange auf sich warten. Die führenden Politiker der  „IV. Republik‟ und  ihre publizisti-schen Unterstützer  nutzten  bald  sämtliche  Konfliktfelder, um  auf  Konfrontationskurs  zu  gehen.  Da  konnte  schon eine unsinnige Satire  in der  linken Tageszeitung  taz vom 26.  Juni  2006,  in  der  der  polnische  Staatspräsident  als „Polens neue Kartoffel‟  lächerlich gemacht werden sollte, eine  Krise  hervorrufen.44  Die  polnische  Außenministerin verlangte  eine  Entschuldigung  der  deutschen  Regierung und der Präsident sagte das kurz darauf geplante Weimarer Gipfeltreffen „wegen Bauchschmerzen‟ ab, was immerhin acht  ehemalige  Außen minister  Polens  in  einem  offenen 

41 | Ebd. 665.42 | Vgl. Stephan Georg Raabe: Zur politischen Instrumentali- sierung der Stiftung ‚Polnisch-Deutsche Aussöhnung‛. Die polnische Regierung und ihr Deutschlandbeauftragter nutzen die Stiftung zur Verbreitung ihrer Verschwörungstheorien und deutschlandkritischer Ressentiments. Konrad-Adenauer-  Stiftung, Auslandsbüro Polen, 12.10.2007: http://kas.de/  proj/home/pub/48/1/year-2007/dokument_id-12126/  index.html [05.08.2010].43 | Vgl. Góralski, a.a.O. 348 f.44 | Vgl. Stephan Georg Raabe: „Stereotyp na resentymencie   (Stereotype Ressentiments)‟, in: Wprost, 30.07.2006, 36-37.

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Brief kritisierten.45 Das „Weimarer Dreieck‟ als Instrument des  Dialogs  und  der  Vertrauensbildung,  das  bereits  seit 1995 an Dynamik verloren hatte, konnte in der Krise keine vermittelnde Rolle spielen.46

Aber nicht nur das: Eine Reihe von Beschwerden wurden nun zusätzlich nicht nur von den Medien, sondern auch von der Regierung gegenüber Deutschland vorgebracht. Dazu gehörten:

 ▪ der Mangel an gleichen Rechten für die  in Deutschland lebenden Polen im Vergleich mit der deutschen Minder-heit in Polen; ▪ die Vernachlässigung der polnischen Sprache in Deutsch-land;  ▪ eine  vermeintliche  sprachliche  Diskriminierung  von polnischen  Staatsbürgern  und  deren  Kindern  bei  Ehe- scheidungen und Umgangsrechten (laut der polnischen Botschaft in Berlin handelte es sich um etwa 30 schwie-rige und acht sehr schwierige Konfliktfälle, was ungefähr 0,08 Prozent der deutsch-polnischen Ehen betraf)47; ▪ die staatliche Unterstützung für Vertriebenen-Organisa-tionen in Deutschland; ▪ die  Fälschung  der  Geschichte  durch  die  Verwendung des Begriffes „polnische Lager‟ oder „Lager in Polen‟ für deutsche Konzentrationslager48.

Dies alles wurde in der innerpolnischen Diskussion begleitet durch  den  Vorwurf,  die  polnischen  Verhandlungsführer der  Verträge mit  Deutschland  nach  1989  hätten  damals kapituliert  und  die  polnischen  Anliegen  nicht  genügend zur Geltung gebracht, woraus sich die Notwendigkeit einer  

45 | Vgl. Gabriele Lesser, „Kaczynsksi Affäre – Die unendliche   Kartoffel. Polens Staatsanwaltschaft ermittelt noch immer in   Sachen taz-Satire – ohne Rechtshilfe aus Deutschland‟, in:   taz.de, 28.06.2007: http://taz.de/?id=medien&art=1304&  id=497&cHash=5a01a8f4a6 [05.08.2010].46 | Zur Rolle des Weimarer Dreiecks vgl. Holesch, a.a.O.47 | Vgl. Thomas Urban, „Diabeł tkwi w liczbach. Problemy między   Polską a Niemcami mają charakter bardziej emocjonalny,   niż polityczny. (Der Teufel steckt in den Zahlen. Die Probleme   zwischen Polen und Deutschen haben mehr einen emotionalen   Charakter als einen politischen.)‟, in: Polityka.pl, 16.07.2010:  http://www.polityka.pl/swiat/tygodnikforum/1507334,1,  polska-niemcy-nowi-prezydenci-czy-nowy-poczatek.read  [05.08.2010].48 | Vgl. ebd.

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Letztlich scheiterte der Versuch der Kaczyńskis durch ein populistisch ins-trumentalisiertes Misstrauen gegen-über Deutschland innen- wie außen-politisch Kapital zu schlagen.

Neuverhandlung  des  Nachbarschaftsvertrages  und  einer Vereinbarung über eine Null-Option in Bezug auf jegliche Besitzansprüche  ergebe.49  Aus  der  einstmaligen  „Werte- und Interessengemeinschaft‟ war endgültig eine „Konflikt-Nachbarschaft‟ geworden.

Die  Konflikt-Nachbarschaft  ließ  die  öffentliche  Meinung nicht  unbeeinflusst,  was  sich  in  Umfragen  niederschlug. Die Sympathie der Polen  für die Deutschen sank von 44  

Prozent im Jahr 2005 auf 29 Prozent im Jahr 2008 deut-lich.  In  Deutschland  gingen  die  Sympathiewerte  von 31  Prozent  im  Jahr  2000  auf  23  Prozent  2008  ebenfalls zurück. Erstaunlich ist die trotz allen Streits weiter positive Einschätzung  des  deutsch-polnischen  Verhältnisses,  die darauf verweist, dass Politik nicht alles bei der Bewertung ist.

Angesichts der historisch bedingten Streitfälle ist folgendes Ergebnis  ebenfalls  bemerkenswert:  Immer  noch  eine Mehrheit von 51 Prozent (2005: 62 Prozent) äußerte 2008 in Polen, dass der Zweite Weltkrieg nur noch einen geringen oder gar keinen Einfluss mehr auf die bilateralen Beziehungen habe. Gegen-teiliger Auffassung waren 43 Prozent (2005: 34  Prozent).  In  Deutschland  räumte  eben-falls eine Mehrheit von 55 Prozent dem Krieg nur einen geringen oder keinen Einfluss auf die deutsch-polnischen  Verhältnisse  ein  (2006:  51  Prozent).  Anderer Auffassung waren 34 Prozent (2006: 36 Prozent).50 Dazu passt, dass der Versuch der Kaczyńskis, vor dem Hinter-grund der belastenden Geschichte durch ein populistisch instrumentalisiertes  Misstrauen  gegenüber  Deutschland innen- wie außenpolitisch Kapital zu schlagen, letztendlich scheiterte.

49 | Vgl. Góralski, a.a.O. 350 f. Zu den Kaczyńskis und Deutschland insgesamt, Holesch, a.a.O. 114-120.50 | Vgl. Agnieszka Fronczyk, „Deutschland und die europäische  Politik in den Augen der Polen‟ sowie Agnieszka Łada, „Polen   und die europäische Politik in den Augen der Deutschen‟ in:   Lena Kolarska-Bobińska und Agnieszka Łada (Hrsg.), Polen und Deutsche. Ihr gegenseitiges Bild und ihre Vision von Europa (realisiert in Kooperation mit der Konrad-Adenauer-  Stiftung), Warschau 2009, 144-187 sowie 188-217.   Agnieszka Łada, „Wächst mit der Vertrautheit die Abneigung‟,   in: Dialog 88 (2009) 58-61.

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„Die zeit politischer Gesten wie zwi-schen Kohl und Mazowiecki ist zu Ende. Die zeit der Interessenpolitik ist gekommen.‟ (Donald Tusk)

POLITIScHER WEcHSEL 2007: BERUHIGUNG, ENTSPANNUNG, INTERESSENPOLITIK

Als  bei  den  vorgezogenen  Parlamentswahlen  am  21. Oktober  2007  die  „IV.  Republik‟  der  Kaczyńskis  abge-wählt  wurde  und  die  PO  als  Sieger  feststand51,  war  die Erleichterung über den politischen Wechsel in Polen, aber auch  in Berlin groß. Die PO stellte  jetzt mit Donald Tusk den   Premierminister  in  einer  Koalitionsregierung mit  der 

Polnischen  Volkspartei  (PSL)  unter  Führung von Waldemar Pawlak, der Vizepremier und Wirtschaftsminister  wurde.  Beide  Parteien sind Mitglied in der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten), was das Gespräch und 

die  Zusammenarbeit  erleichterte.  Die  Einbindung  in  den Parteiendialog mit  den  Christdemokraten  in  Deutschland hatte zudem bereits früher für gute Kontakte gesorgt. Es war nicht zu erwarten, dass mit dem politischen Umschwung in  Polen  die  Probleme  zwischen  Polen  und  Deutschland, die in den vergangenen Jahren deutlich zu Tage getreten waren, nun vom Tisch verschwinden würden. Doch konnte man nun auf einen konstruktiven Umgang mit den Schwie-rigkeiten und auf eine erneute Annäherung hoffen.

Tatsächlich gelang es der Regierung Tusk schon bald, die Politik  im  Inneren  wie  nach  außen  in  ruhigere  Bahnen zu  lenken.  In  seiner  ersten  Regierungserklärung  am 23. November 2007 versprach der neue Premier die Unter-zeichnung  des  EU-Reformvertrags,  bessere  Beziehungen zu  den  Nachbarn,  die  Wiederbelebung  des  „Weimarer Dreiecks‟,  den  schnellen  Beitritt  zur  Euro-Zone  und  ein „polnisches Wirtschaftswunder‟  durch mehr Wettbewerb. Vor  allem  aber  machte  er  Vertrauen  und  Normalität zum  Motto  seiner  Regierung.  In  der  Gazeta Wyborcza vom  5.  November  2007  erklärte  Tusk  allerdings  auf  die Frage, ob er nun mit Angela Merkel eine neue Etappe der polnisch-deutschen  Versöhnung  beginnen  werde:  „Die Zeit politischer Gesten wie zwischen Kohl und Mazowiecki ist zu Ende. Die Zeit der Interessenpolitik ist gekommen, und wir müssen unsere Interessen verteidigen.‟ In einem  

51 | Die PO schaffte in kurzer Zeit einen rasanten Aufstieg. Kurz   nach ihrer Gründung bei den Wahlen 2001 begann sie mit   12,68 Prozent, 2005 wurde sie zweitstärkste Kraft mit 24,11  Prozent hinter der PiS, 2007 mit 41,51 Prozent stärkste Partei.

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Die Atmosphäre hat sich wesent-lich verbessert. Es bleibt die unter-schiedliche politische Bewertung der „Vertreibung‟ bzw. „Aussiedlung‟.

Essay  für  das  deutsch-polnische  Magazin Dialog,  der  an seine  Rede  vom  29.  März  2007  in  Berlin  während  einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung zum 85. Geburtstag von  Władysław  Bartoszewski  anknüpfte,  führte  er  unter der  Überschrift  „Die  Notwendigkeit  einer  neuen  Sprache zwischen  Polen  und  Deutschland‟  aus:  „Man  kann  den Stil  oder  die  Effizienz  der  Außenpolitik  ändern,  aber  die Probleme in den gegenseitigen Beziehungen verschwinden nicht nur deswegen, weil  sich die Regierungsmannschaft in Warschau oder Berlin ändert. Deshalb werden wir auch Entscheidungen nicht akzeptieren, die eine fundierte histo-rische Bilanz in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg in Zweifel ziehen.  […]  Genauso  wichtig  ist  es,  dass  die  Pläne  zur Realisierung des ‚Zentrums gegen Vertreibungen‛ endgültig aufgegeben werden. In all diesen Fragen werde ich Befür-worter unserer Haltung suchen.‟52 Kritisch sprach er auch die Erdgaspipeline durch die Ostsee an, die „das Monopol Russlands bei der Lieferung von Energierohstoffen‟ stärke.

Neu war diese Sprache keineswegs. Allerdings wurde eine Begriffsverschiebung  weg  vom  „Interessenkampf‟  und hin zur „Interessenpolitik‟ deutlich. Von nun an  tauschte man  sich  eher  vertrauensvoll  und  freundschaftlich  über die alten Kontroversen aus, man führte gute, offene Gespräche,  beschwor  die  Bedeutung guter Beziehungen, die auf Wahrheit aufzu-bauen hätten, was an den unterschiedlichen Standpunkten und historischen Wahrheitsbe-griffen allerdings nichts änderte.53 Von einer tatsächlichen Neubegründung  einer  Partnerschaft  und  einer  konkreten politischen  Zusammenarbeit  in  Bereichen  gemeinsamen Interesses erfuhr man nach außen hin wenig. Aber wenn es auch kaum zu gemeinsamen Lösungen in den Hauptstreit-punkten kam, so wurden diese doch nach und nach durch  

52 | Donald Tusk: „Was für eine Union braucht Polen, was für eine   Gemeinschaft braucht Europa?‟, in: Dialog 80/81 (2007/2008)   10-13, hier 13.53 | Vgl. exemplarisch den Bericht zum Antrittsbesuch von Tusk   in Berlin von Nina Mareen Spranz: „Die neue Vertrautheit   von Deutschland und Polen‟, in: Welt online, 11.12.2007:   http://welt.de/politik/article1451139/Die_neue_Vertrautheit_  von_Deutschland_und_Polen.html [05.08.2010]; und den   Beitrag zum Treffen von Merkel und Tusk in Hamburg:   „Merkel und Tusk schweigen zu Steinbach‟, in: Welt online,   27.02.2009: http://welt.de/politik/article3289352/Merkel-und-  Tusk-schweigen-zu-Streit-um-Steinbach.html [05.08.2010].

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Deutschland ist der wichtigste strate-gische Wirtschaftspartner Polens, und Polen ist für Deutschland der größte Handelspartner im östlichen Europa.

den Gang der Dinge obsolet oder an den Rand gedrängt, so dass sie nicht mehr direkt im Wege standen. Die Regie-rungen Merkel und Tusk haben in den letzten zweieinhalb Jahren einiges dafür getan, dass nach den Zerwürfnissen der  vorangegangen  Jahre  wieder  ein  meist  gutnachbar-schaftlicher  Alltag  eingekehrt  ist.  Die  Atmosphäre  hat sich wesentlich verbessert. Normalität herrscht – wie der Fall  Steinbach  zeigt  –  jedoch  noch  nicht.54  Es  bleibt  die unterschiedliche  politische  Bewertung  der  „Vertreibung‟ (deutsch) bzw. „Aussiedlung‟ (polnisch).

PLÄDOyER FüR EINE PARTNERScHAFTLIcHE zUSAMMENARBEIT

Angesichts der Differenzen klingt es vielleicht noch immer ein  bisschen  wie  ein  Rufen  im Walde,  wenn  nun  allent-

halben  bei  offiziellen  Anlässen  von  beiden Seiten  deklariert  wird,  die  Probleme  seien so gut wie alle ausgeräumt, die Beziehungen so gut wie nie  in der  langen wechselhaften Geschichte  von  Deutschen  und  Polen,  „aus 

der ‚Interessengemeinschaft‛ sei ‚Partnerschaft‛ geworden, aus dem Vertrauensvorschuss gegenseitiges Vertrauen‟.55 Dieses diplomatische Pathos weckt hohe Erwartungen, die dann auch im täglichen politischen Handeln erfüllt werden müssen. Es kann eine ernsthafte Diskussion  in Deutsch-land nicht ersetzen, die die Brüche und Enttäuschungen, die unerfüllten Wünsche und vor allem die Ursachen der 

54 | Vgl. Kazimierz Wóycicki, Waldemar Czachur: „Polen im   Gespräch mit Deutschland. Zur Spezifik des Dialogs und   seinen europäischen Herausforderungen. Mit Vorworten von   Gesine Schwan, Heinrich Oberreuter‟, Wrocław, 2009, 16:   „Man hatte normale Beziehungen gewollt, doch es stellte   sich heraus, dass die Beziehungen normal letztlich nicht sind.‟  In Polnisch ist das Buch ohne deutsche Kommentare unter   dem Titel „Jak rozmawiać z Niemcami. O trudnościach   dialogu polsko-niemieckiego i jego europejskim wyzwaniu‟   (Wie ist mit den Deutschen zu sprechen. Über die Schwierig-  keiten des polnisch-deutschen Dialoges.) erschienen.55 | Rede von Bundesaußenminister Guido Westerwelle beim   14. Deutsch-Polnischen Forum Deutsch-polnische Partner-  schaft für Europa in Warschau, 24.06.2010:   http://auswaertiges-amt.de/diplo/de/Infoservice/Presse/  Reden/2010/100624-BM-Dt-Pol-Forum.html [05.08.2010];   vgl. auch den Bericht von Gerhard Gnauck zum Antritts-  besuch von Guido Westerwelle in Warschau: „Deutschlands   neuer Außenminister verzückt Polen‟, in: Welt online,   01.11.2009.

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Das deutsch-polnische Verhältnis kann heute wieder als ein „Raum der Hoff-nung‟ definiert werden, den es in der politischen Praxis allerdings auszufül-len gilt.

 Probleme  ernst  nimmt.56  Zu  kurz  gegriffen  wäre,  die Ursache für die Spirale der Irritationen der letzten Jahre vor allem oder ausschließlich bei den politischen Provokateuren und  Populisten  und  den  sie  verstärkenden Medien festzumachen, wobei dann einerseits in Polen auf die Nationalkonservativen und in Deutschland auf die Vertriebenenorganisati-onen gezeigt wird57, oder aber einseitig das mangelnde Verständnis der Deutschen,  ihre Missachtung  und  Ignoranz  und  ihren  fehlenden  Respekt gegenüber  Polen  und  das  zu  zurückhaltende  Auftreten Polens für die Misere Verantwortlich zu machen.58

Andererseits  sollen  und  dürfen  die  Schwierigkeiten  und Probleme nicht die Potenziale und Chancen verdecken. Die Ergebnisse  der  politischen  und wirtschaftlichen  Transfor-mation in Polen sind eindeutig positiv und angesichts der Probleme, die zu überwinden waren, ein bemerkenswerter Erfolg.  Deutschland  ist  der  wichtigste  strategische  Wirt-schaftspartner  Polens,  und Polen  ist  für Deutschland der größte Handelspartner im östlichen Europa vor Tschechien und  auch  vor  Russland.  Aus  dem  Blickwinkel  der  Wirt-schaft sehen die Beziehungen folglich viel positiver aus.59 

56 | Wóycicki, Czachur, a.a.O. 60. Die Autoren meinen, solche   Reden von deutschen Politikern seien „nur für den Export   bestimmt‟, wogegen es in Deutschland selber an einer   Diskussion über das Verhältnis zu Polen fehle. In wichtigen   Reden spreche man zwar von Partnerschaft, unternehme   aber nichts Konkretes (66).57 | Diese Tendenz ist im Beitrag von Góralski, a.a.O. zu bemerken.58 | Diese Tendenz findet man im Buch von Wóycicki, Czachur,   a.a.O. 137 f.: Traurig sei, „dass die deutsche Seite oftmals   erst dann bereit ist, sich mit dem auseinanderzusetzen, was   die polnische Seite sagt wenn es zu ernsten Spannungen   kommt. Wesentlich besser wäre es, wenn die deutsche   Seite lernen würde, Polen schon dann zu verstehen, wenn   diese selbstironisch von ihren Schwächen sprechen. Hierauf   muss sich die polnische Seite jedoch früher vorbereiten und   in potenziellen Konfliktsituationen deutlicher werden. […]   Missachten und Ignorieren [eine deutsche Spezialität] bzw.   Ängste [eine polnische Spezialität] und Komplexe [hier hat   jede Seite ihre eigenen] führen nur zu Missverständnissen.‟  Zur „Asymmetrie des Respekts‟ ebd. 52-68, 75-84.59 | Vgl. Jóyef Olsyzński: „Aktueller Stand der deutsch-polnischen   Wirtschaftsbeziehungen‟, in: Witold Małachowski (Red.),   Deutschland – Polen im vereinigten Europa und ihre ökono- mische Verantwortung, Warschau, 2006, 39-43; Statistisches   Bundesamt: Außenhandel. Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland 2009,   Wiesbaden 2010.

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Vielleicht kann aus einer pragmatischen Kooperation später eine strategische Partnerschaft entstehen. Ebenso kann eine Multilateralisierung der zusam-menarbeit nützlich sein.

So kann das deutsch-polnische Verhältnis heute wieder als ein „Raum der Hoffnung‟ definiert werden, den es in der politischen Praxis allerdings auszufüllen gilt etwa durch die Kooperation  im Rahmen des Weimarer Dreiecks  und  der EU, der transatlantischen Sicherheitspolitik, der Russland- und  Ostpolitik,  aber  auch  in  der  wirtschaftlichen,  kultu-rellen und zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit und auf allen Feldern, die schon der Nachbarschafts- und Freund-schaftsvertrag von 1991 angesprochen hat. „Die Europä-ische Union, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Intensivierung  der  zwischenmenschlichen  Kontakte  –  all dies  bildet  einen  stabilen  Rahmen  für  die  deutsch-polni-schen Beziehungen.‟60

Das  bilaterale  Verhältnis  von  Deutschland  und  Polen hat  in  den  letzten  20  Jahren  verschiedene  Wandlungen erlebt:  von  einer  „Werte-  und  Interessengemeinschaft‟ über  verschiedene  Interessenkonflikte  zu einer  „Konflikt-

Nachbarschaft‟  und  schließlich  hin  zu  einer dualen „Interessenpolitik‟. Deutschland und Polen  haben  nichts  desto  trotz  als  unmit-telbare  Nachbarn  und  wegen  ihrer  geogra-fischen  Lage,  Geschichte  und  Größe  eine 

wichtige Bedeutung für die Gestaltung europäischer Politik. Aber die beiden Länder sind nicht der Nabel der Welt, sie sind  eingebettet  in  ein  Netzwerk  internationaler  Bezüge und  Partnerschaften  wie  der  transatlantischen  mit  den USA,  der  Kooperations-Partnerschaft mit  Frankreich,  der Modernisierungspartnerschaft mit Russland, der östlichen Partnerschaft der EU sowie einer von Deutschland ange-strebten  privilegierten  Partnerschaft mit  der  Türkei  oder einer  strategischen  Partnerschaft  mit  China.  Angesichts dessen wird deutlich, dass eine konkrete Zusammenarbeit mit  Blick  auf  gemeinsame  Ziele  und  Schlüsselprobleme zwischen  Deutschland  und  Polen  einem  Konzept  ausein-anderstrebender Interessenpole, die in einem schwierigen Kompromissprozess zum Ausgleich zu bringen sind, allemal vorzuziehen ist.61 Die bewusste Betonung von Interessenun-terschieden und ständige Forderungen führen  unweigerlich 

60 | Wóycicki, Czachur, a.a.O. 132.61 | Bingen, Ruchniewicz, a.a.O. 668 ff. Die Autoren vertreten   unter Bezug auf den polnischen Politikanalytiker Piotr Buras  ein solches Polaritätskonzept, in dem die divergierenden   deutschen und polnischen Pole in der „Interessengemein-  schaft in Europa‟ jeweils zum Ausgleich zu bringen seien.

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zu einer Distanzierung und Entfremdung. Von daher kann das Politikkonzept der Polarität nur ein Notnagel sein, aber kein erstrebenswertes Ziel. Es geht vielmehr um die Über-windung der divergierenden Polaritäten durch Zusammen-arbeit, um die Schaffung von Feldern der Kooperation durch die  konstruktive  Beseitigung  oder  Neutralisierung  von Konflikten. Vielleicht kann aus solch einer pragmatischen Kooperation später eine strategische Partnerschaft wieder entstehen.62  Dafür  können  neue  Formen  und  Methoden des  Krisenmanagements  und  möglichst  breit  gestreute direkte  Kontakte  unter  Einschluss  gerade  auch  der  kriti-schen Akteure hilfreich sein. Es  ist an der Zeit,  „mutiger und  offener  miteinander   zu  reden‟.63  Ebenso  kann  eine Multilateralisierung des Dialoges und der Zusammenarbeit nützlich sein, um die bilaterale Fixierung zu überwinden. In  diesem  Sinne  zitierte  Bundeskanzlerin  Angela  Merkel in  ihrer Rede in der Warschauer Universität am 16. März 2007 Johannes Paul II, der sagte: „Es war Gottes Wille, der Deutsche und Polen zu Nachbarn gemacht hat. Aus diesem Grunde ist es unsere gemeinsame Aufgabe und Verantwor-tung,  in Einigkeit  zu  leben.‟64 Und der polnische Premier Donald Tusk gab dazu bei der Verleihung des Karlspreises in Aachen am 13. Mai 2010 die passende Losung: „Europa als Norm, Gemeinschaft als Regel, Freiheit und Solidarität als Grundsatz. Das sind unsere Wegweiser.‟65

62 | Vgl. Kai-Olaf Lang: „Pragmatische Kooperation statt strategi-  sche Partnerschaft. Zu Stand und Perspektiven der deutsch-  polnischen Beziehungen‟, in: SWP-Aktuell 48, Oktober 2004;   Stephan Georg Raabe: „Eine neue Agenda ist nötig. Die   deutsch-polnischen Beziehungen nach dem politischen   Wechsel in Polen‟, in: Euro Journal. Pro Management 1/2008,   32-34 (polnisch erschienen im Europakalender der Polnischen   Robert Schuman Stiftung 1/2008): http://kas.de/proj/home/  pub/48/1/year-2008/dokument_id-12938/index.html   [05.08.2010]; „Jutta Frasch: Dynamisierung der deutsch-  polnischen Beziehungen. Vorschläge für eine Vertiefung der   bilateralen Zusammenarbeit‟, in: SWP-Aktuell 34, Juli 2009.63 | Wóycicki, Czachur, a.a.O. 16. Die Autoren entwerfen drei   Szenarien für die deutsch-polnischen Beziehungen: einen   „verdeckten Antagonismus‟, eine „Zusammenarbeit auf   Distanz‟ und eine „pragmatische Zusammenarbeit‟.64 | Zitiert nach Góralski, a.a.O. 354.65 | Donald Tusk: Dankesrede nach der Verleihung des Karls-  preises am 13.05.2010, in: Adalbertusforum. Zeitschrift für ostmitteleuropäische Begegnung 6 (2010) 14-17, hier 17.

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Die Beziehungen DeutschlanDs zu tschechien unD Der slowakei

Hubert Gehring / Tomislav Delinić / Andrea Zeller

Die Grenze zur Tschechischen Republik ist mit einer Länge von 811 Kilometern die zweitlängste Außengrenze Deutsch-lands. Sie trennte 40 Jahre lang die Bundesrepublik und das Land, das damals die Tschechoslowakei war, nicht nur räumlich, sondern vor allem politisch, kulturell, wirtschaft-lich und ideologisch. Seitdem sind Tschechien und die Slowakei eigene Wege gegangen. Die Beziehungen beider Länder zu Deutschland haben sich indessen positiv ent- wickelt und besitzen in einigen Bereichen noch Potential.

1. Die Beziehungen zur tschechischen repuBlik

40 Jahre der kommunistischen Herrschaft stellten ledig-lich einen kurzen Abschnitt in den Deutsch-Tschechischen Beziehungen dar, die bereits vor über 1000 Jahren ihren Ursprung fanden. Obwohl Deutschland mit der Tsche-chischen Republik traditionell eng verflochten ist, wurde die gemeinsame Geschichte oftmals getrennt erlebt und getrennt gelebt. Mit der „Samtenen Revolution‟ 1989 ist ein weiteres Kapitel der gemeinsamen Beziehungen aufge-schlagen worden. Nach Jahrzehnten der Trennung hatten Deutschland und Tschechien wieder eines gemeinsam: Demokratie, Freiheit, Marktwirtschaft und vor allem den Drang, Frieden und Wohlstand in Europa zu stabilisieren. Symbolisch dafür soll Prag stehen, im Spätherbst 1989 Hauptstadt der Tschechoslowakei.

Dr. Hubert Gehring ist Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, zuständig für Tschechien und die Slowakei.

Tomislav Delinić ist für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Prag tätig.

Andrea Zeller war von März bis Juli im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Slowakei tätig.

Bewährte partnerschaften Mit potential

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JuBelschreie aM 30. septeMBer 1989 künDigen neue zeitrechnung an

Prag spielt in der Geschichte der deutschen Einigung eine ganz besondere Rolle. Ab August 1989 flohen Tausende DDR-Bürger in die Botschaft der BRD in Prag. Am 30. September wurde den Flüchtlingen die mögliche Ausreise in die BRD angekündigt. Aber auch danach und selbst nach der Schließung der Grenze von der DDR zur Tschechoslowakei sammelten sich weitere DDR-Flüchtlinge an, denen abermals durch Sonderverhand-lungen die Ausreise ermöglicht wurde. Am 3. November 1989, also sechs Tage vor der innerdeutschen Grenzöffnung, wurde eine direkte Ausreise über die tschechoslowakisch-deutsche Grenze von nun an auch ohne Sondergenehmigung möglich. Die Grenze nach Westen war für die Flüchtlinge nun faktisch offen. Diese Öffnung des Eisernen Vorhangs ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit, da sie prak-tisch auch die Grenzöffnung der DDR erzwang. Somit hat die Tschechoslowakei einen nicht unbedeutenden Anteil am weiteren Verlauf der Geschichte und der Wiederverei-nigung Deutschlands. Symbolisch bleibt Prag dabei nicht zuletzt wegen des Ringens des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher und Rudolf Seiters, damals Chef des Bundeskanzleramts, in Erinnerung – und das nicht nur den Deutschen. Viele Prager erinnerten sich anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Ereignisse an die überall stehen und liegen gelassenen „Trabis‟, die das Stadtbild prägten. Und als der Jubel der DDR-Bürger von der Prager Kleinseite hinüber ins Stadtzentrum hallte, wurde vielen klar, dass ein neues Kapitel der deutsch-tschechischen Beziehungen aufgeschlagen wurde.

Verträge Bringen aB 1992 annäherung

Noch aber war Tschechien Teil der nun demokratischen tschechoslowakischen Föderation. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nach- barschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit am 27. Februar 1992 war dann ein erster Schritt der konkreten Verständigung der Nachbarländer nach dem

als der Jubel der DDr-Bürger von der prager kleinseite hinüber ins stadt-zentrum hallte, wurde vielen klar, dass ein neues kapitel der deutsch-tsche-chischen Beziehungen aufgeschlagen wurde.

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Die Deutsch-tschechische erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige entwicklung war danach der erste Versuch der aufar-beitung der Vergangenheit.

Zusammenbruch des Ostblocks. Das Dokument bildet eine Art Grundlagenvertrag, in dem eine breite Palette nach-barschaftlicher Fragen angesprochen wird, allerdings keine konkreten Aussagen zur Vergangenheit gemacht werden. Die territoriale Integrität und Feststellung der Grenzen werden erwähnt und 1994 durch einen Grenzvertrag ergänzt. Zwei Probleme der Vergangenheit, die weiterhin unangetastet bleiben, sind die Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus und die Frage der Vertreibungen. Der Vertrag von 1992 wird deshalb von Kommentatoren als ungenau und ohne greifbare Folgen bewertet, so dass 1997 schließlich noch eine ergänzende Erklärung unter-schrieben wird.

Die Deutsch-Tschechische Erklärung über die gegensei-tigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung war danach der erste Versuch der Aufarbeitung der Vergangen-heit. Gerade weil dieses Mal auch Vergangenheitsthemen angesprochen wurden, ist das Dokument für Tschechien und Deutschland von wichtiger symbolischer Bedeutung. Nach langen beidseitigen Verhandlungen unterzeichneten Vertreter beider Länder am 21. Januar 1997 das wegwei-sende Dokument. Auf tschechischer Seite waren einige Akteure beteiligt, die heute führend in Politik und Gesell-schaft tätig sind, darunter der heutige Staatspräsident Vacláv Klaus, der ehemalige Europaminister Alexandr Vondrá und der heutige Botschafter Tschechiens in Berlin, Rudolf Jindrák.

Die Feststellung, dass beide Länder die „Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden‟, war ein wich-tiger Schritt für eine gegenseitige Annäherung und die Entkrampfung der Beziehungen.

Kritikern ging die Erklärung gerade in den Punkten Aufarbeitung der Vergangenheit nicht weit genug. Gerade einige Vertreter der Sudetendeutschen sehen in der Erklä-

rung nach wie vor eine verpasste Chance. Doch ange-sichts der großen Spannungen in der Vergangenheit und der Wichtigkeit symbolischen Aufeinanderzugehens ist die Deutsch-Tschechische Erklärung nach Auffassung vieler Experten aus heutiger Sicht ein wegweisendes Element der

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Durch die institutionalisierung der nachbarschaftlichen zusammenarbeit in form des Deutsch-tschechischen zukunftsfonds und des Deutsch-tsche-chischen gesprächsforums wurden plattformen für kooperation und Dialog geschaffen.

gegenseitigen Beziehungen. Durch die Institutionalisierung der nachbarschaftlichen Zusammenarbeit in Form des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums wurden in der Erklärung Plattformen für Kooperation und Dialog geschaffen, die eine konstruktive Debatte ermöglichen.

nachBarschaft in Der praxis

Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds wurde Ende 1997 als zwischenstaatliche Institution gegründet und hat die Form eines Stiftungsfonds, der finanziell von der tschechi-schen und deutschen Regierung anteilig unterstützt wird. Er soll auf vielfältige Weise die Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen fördern.

Jährlich erreichen den Zukunftsfonds etwa 600 Projektan-träge, die mit unterschiedlichen Beträgen entweder in Euro oder Kronen gefördert werden. Insgesamt steht ein jährliches Budget von 75 Millionen Kronen (etwa drei Millionen Euro) für die Unterstützung zur Verfügung. Die Projekte stammen aus ganz verschiedenen Bereichen. Beispielsweise ist für 2010 ein Musikfestival „Mitte Europa‟ länderübergreifend in Bayern, Böhmen und Sachsen geplant. Des Weiteren gibt es in Kooperation mit der Organisation Tandem ein Jugendbil-dungsprogramm mit Praktika in Deutschland und Tsche-chien für Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz erhalten haben. Auch Stipendien für Studierende mit Bezug zu deutsch-tschechischen Beziehungen sind vorgesehen. Daneben werden zahlreiche kleine Projekte gefördert.

Seit seiner Entstehung 1998 wurden mehr als 5000 deutsch-tschechische Projekte mit insgesamt über 36 Milli-onen Euro vom Zukunftsfonds gefördert. Tschechien und Deutschland beschlossen im Jahr 2007, den Zukunftsfonds noch weitere zehn Jahre fortzuführen.

Das Deutsch-Tschechische Gesprächsforum ist ebenfalls als Folge der Erklärung über die gegenseitigen Bezie-hungen und deren künftige Entwicklung Ende des Jahres 1997 entstanden. Finanziert wird das Gesprächsforum aus den Mitteln des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds,

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2009 übernahm tschechien erstmals die eu-ratspräsidentschaft. Der zeit-punkt war heikel: Die Verfassungs-krise drohte die eu in einen institutio-nellen konflikt zu stürzen.

die wiederum von den beiden Regierungen zur Verfügung gestellt werden. Es wurde zunächst mit einem 20-köpfigen Beirat, der zu gleichen Teilen von der deutschen und tsche-chischen Regierung ernannt wurde, ausgestattet und hat die Aufgabe, regelmäßige Treffen und eine jährlich statt-findende Konferenz zu organisieren. Seit 2004 hat sich die Form insofern gewandelt, als zudem je ein Vorsitzender von beiden Regierungen benannt wird. Relevante Themen der deutsch-tschechischen Beziehungen, aber auch solche mit Bezug zu den beiden Nachbarländern im Rahmen der Euro-päischen Union sollen hier diskutiert werden.

eu-MitglieDschaft 2004 – chance für enge kooperation

Europa ist eine weitere Dimension für die Intensivierung der nachbarschaftlichen Beziehungen. Tschechien trat 2004 der EU bei und schloss damit einen langen Weg der Asso-ziierung und Anpassung ab, bei dem das Land auch von Deutschland unterstützt wurde. Waren die neunziger Jahre geprägt von Anfangswirren im nun demokratischen und marktwirtschaftlich orientierten Tschechien, entwickelte sich das Land schnell zum Vorreiter von Reformpolitik und wirtschaftlichem Aufschwung innerhalb der Beitrittskandi-daten zur EU in Mittel- und Osteuropa. Wenige Jahre nach

dem Beitritt übernahm Tschechien am 1. Januar 2009 erstmals die EU-Ratspräsident-schaft. Die Bundesregierung, angeführt von Bundeskanzlerin Angela Merkel, sicherte dem Land ihre volle Unterstützung zu. Der Zeit-punkt der Ratspräsidentschaft war heikel:

Die Verfassungskrise drohte die EU in einen institutionellen Konflikt zu stürzen, denn sowohl Irland als auch Tsche-chien zeigten sich sehr skeptisch im Hinblick auf die Ratifi-zierung des Lissabonner Vertrags. Die russisch-ukrainische Gaskrise erzwang Diskussionen um die europäische Ener-giesicherheit. Der neu aufgeflammte Gaza-Konflikt machte eine geschlossene Außenpolitik notwendig. Nicht zuletzt war die globale Finanzkrise eine elementare Bedrohung für die europäischen Staaten. Darüber hinaus war Tschechien mit internen Problemen konfrontiert. Der tschechische Präsident Václav Klaus äußerte sich immer wieder kritisch zur EU und blockierte mit der Verweigerung seiner Unter-schrift die Ratifizierung des Lissabonner Vertrags. Zudem

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„für tschechien ist es besser, die deutsche kanzlerin zu küssen, als den russischen Bären zu umarmen.‟ (Mirek topolánek)

wurde die Regierung von Mirek Topolánek, der den Vorsitz des Rates der Europäischen Union während der tschechi-schen Ratspräsidentschaft innehatte, infolge eines Miss-trauensvotums im März 2009 gestürzt. Topolánek blieb bis Mai interimistisch im Amt, danach übernahm Jan Fischer mit einer Expertenregierung die Regierungsgeschäfte und somit auch die Ratspräsidentschaft.

Trotz der Probleme und turbulenten Ereignisse konnte die Ratspräsidentschaft auf Erfolge verweisen. Die Beratungen der G20 und der Europäischen Finanz- und Regierungschefs zur Finanzkrise wurden weitergeführt. Zudem wurde die Östliche Partnerschaft der EU, ein Assoziierungs-abkommen mit Armenien, Aserbaidschan, Georgien, der Republik Moldau, der Ukraine und Belarus bei einem Gipfeltreffen in Prag ins Leben gerufen. Gerade an diesem Projekt zur Stabilisierung der östlichen euro-päischen Nachbarn sowie der Kaukasus-Region hatte auch Deutschland ein starkes Interesse. Für Tschechien ist es eine erneute Möglichkeit, sich als zugehörig zum Westen und zur EU und unabhängig von Russland zu profilieren. Topolánek provozierte bereits zu Beginn der EU-Ratspräsidentschaft: „Für Tschechien ist es besser, die deutsche Kanzlerin zu küssen, als den russischen Bären zu umarmen‟, und machte somit die Orientierung an Deutsch-land noch einmal deutlich. Reihenweise zeigten sich vorma-lige Europa-skeptische und Deutschland-kritische Politiker in Tschechien zunehmend pragmatischer und lobten die Rückendeckung für ihr Land seitens Angela Merkel – und das gerade in Zeiten, als die eigene Regierung fiel und aus anderen EU-Ländern lautstark Kritik an Tschechien und der tschechischen Ratspräsidentschaft geübt wurde.

Durch solche symbolische Unterstützung, durch die fort-schreitende Integration der Tschechischen Republik in die EU und durch die nachbarschaftliche Kooperation mit Deutschland haben sich gute wechselseitige Beziehungen entwickelt. Die Zusammenarbeit findet inzwischen in diver- sen Themenbereichen, von Umwelt über Lebensmittelver-ordnungen bis zur Energiefrage, statt und knapp fünf Jahre nach Tschechiens EU-Beitritt gibt es auch erste gemeinsame Projekte im Rahmen der EU. Nachdem dafür nun alle for- malen Voraussetzungen geschaffen sind, gilt es, die Koopera- tion auf EU-Ebene weiter zu stärken.

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Die tschechische krone ist zwar gesund, doch mancher investor überlegt, sein geld eher im euroland slowakei anzulegen.

tschechien als wirtschaftspartner für DeutschlanD auf gleicher augenhöhe Mit Japan

Dass hier gemeinsame Interessen vorhanden sind, zeigt die enorme wirtschaftliche Verflechtung der Bundesrepu-blik und Tschechiens. Die Wirtschaftsbeziehungen beider Länder sind in der Tat als exzellent zu bezeichnen. Seit Jahren bewegt sich der Handelsaustausch zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik im Rahmen zwischen 35 bis 50 Milliarden Euro, das ist zum Teil mehr als Deutschland im Handel mit Japan oder Lateinamerika umsetzt. Deutschland gilt als der größte und wichtigste Handelspartner Tschechiens. Die Deutsch-Tschechische Industrie- und Handelskammer (DTIHK) sieht durchaus noch weiteres Potential. Dennoch dürften neue Investoren aus Deutschland aufgrund eines enormen Fachkräfteman-gels in Tschechien schwer zu finden sein.

Die Tschechische Republik zeigt gerade in der aktuellen Wirtschaftskrise, dass sie nicht zu den Wackelkandidaten in Mittel- und Osteuropa gehört, eine stabile Finanzpolitik

führt und längst kein reines Niedriglohnland mehr ist. Nicht zuletzt aufgrund der langen Maschinenbautradition, der Rohstoffe sowie der geografischen Lage im Herzen Europas entwickelte sich das Land zu einem hoch-

technologischen Entwicklungsstandort. Umso wichtiger ist es deshalb für Tschechien, auch weiterhin für ausländische Investoren attraktiv zu bleiben.

Will die Tschechische Republik auch weiterhin mit hervor-ragenden Wirtschaftszahlen glänzen, muss die Regie-rung dringend benötigte Reformen einleiten und auch die Einführung des in der Wirtschaft massiv geforderten Euro ernsthaft diskutieren. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Einheitswährung zunächst auf die lange Bank verschoben.

Obwohl die ehemalige Teilrepublik Slowakei bereits zum 1. Januar 2009 die europäische Einheitswährung eingeführt hat, nannte der scheidende Zentralbankchef Zdeněk Tůma das Jahr 2019 als realistisches Szenario für Tschechien.

Das verärgert vor allem die Wirtschaft. Die tschechische Krone ist im Vergleich zu anderen Währungen in der Region

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unzählige deutsch-tschechische initi-ativen wurden auf den weg gebracht, um die gemeinsame zukunft zu gestal-ten. obwohl derartige Basis-arbeit von enormer Bedeutung ist, findet sie nur selten erwähnung in politik und Medien.

zwar gesund, doch die starken Wechselkursschwankungen machen Tschechien auch für deutsche Investoren immer unattraktiver. In Zeiten, in denen Transportwege effi-zient überwunden werden können, überlegt so mancher Investor, sein Geld lieber im Euroland Slowakei anzulegen anstatt Tschechien als Standort zu wählen. Das bekommt die tschechische Wirtschaft immer deutlicher zu spüren und sollte die neue tschechische Regierung zu einer ernsthaften Diskussion über den Euro motivieren. Für die deutsch-tschechische Wirtschaftskooperation wäre das ein wegweisender Schritt, die bereits sehr intensiven Handels-beziehungen in Zukunft zu festigen und weiter auszubauen.

DeutschlanD unD tschechien – zwei gesellschaften koMMen sich näher

Doch die beeindruckenden Wirtschaftszahlen sind nicht alles, was die Nachbarschaft Deutschlands und der Tsche-chischen Republik ausmacht. Neben den bereits erwähnten Projekten Zukunftsfonds und Gesprächsforum wurden während der letzten 18 Jahre unzählige deutsch-tschechische Initiativen auf den Weg gebracht, um die gemeinsame Zukunft zu gestalten und die Schatten der Vergan-genheit aufzuarbeiten. Neben der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission wurden unzählige Städtepartnerschaften ins Leben gerufen. Zudem entstanden binationale Kooperationen auf Vereinsebene, bei Verbänden und Nicht-Regierungsorgani-sationen (NGO) sowie ein reger Schüler- und Studentenaus-tausch. Sogar an Kindergärten in der Grenzregion werden inzwischen Austauschprogramme durchgeführt, um bereits den Kleinsten die Angst vor dem „fremden‟ Nachbarn zu nehmen. Besonders in den Grenzregionen gibt es dafür Musterprojekte der Zusammenarbeit. Ein Beispiel für eine Schule in Deutschland ist das Friedrich-Schiller-Gymna-sium in Pirna, wo ein binationaler-bilingualer Bildungs-gang angeboten wird. Kooperation von Kindergärten in Tschechien und Deutschland gibt es unter anderem über das Projekt „Von klein auf – Odmalička‟. Auf studenti-scher Ebene bietet die Gemeinschaft für studentischen Austausch in Mittel- und Osteuropa (GFPS) e.V. Stipendia-tenprogramme für Sprachkurse und Studienaufenthalte in beiden Ländern an. Weitere herausragende Beispiele für

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die lebendige zivilgesellschaftliche Kooperation zwischen deutschen und tschechischen Akteuren sind die Brücke/Most-Stiftung, Antikomplex, das Prager Literaturhaus, das deutsch-tschechische Jugendforum, die Ackermann-Gemeinde, das Collegium Bohemicum und Vereinigungen der Sudetendeutschen. All diese Organisationen bemühen sich auf ihre Weise, in den Feldern Kultur, Geschichte und Begegnung gegenseitige Achtung und Völkerverständi-gung zu fördern. Obwohl eine derartige Basis-Arbeit von enormer Bedeutung für die gemeinsame Zukunft ist, findet sie leider nur selten Erwähnung in Politik und Medien. Doch gerade diese Arbeit ist es, welche die Deutsch-Tschechi-schen Beziehungen zu etwas Besonderem macht.

In den letzten Jahren hat sich der Kontakt zwischen tsche-chischen und deutschen Initiativen verstärkt, insbesondere der direkte Kontakt ohne den Umweg über Parlamente oder Regierungen. Die Zusammenarbeit ist dezentrali-siert, entpolitisiert und von den staatlichen Hierarchien unabhängiger geworden. Besonders in den „Euregionen‟, die grenzübergreifend in Tschechien, Sachsen und Bayern liegen, gibt es eine gute Zusammenarbeit. Ein ganz prak-tisches Beispiel für die bayrisch-tschechische Kooperation sind die gemeinsamen Grenzkontrollen tschechischer und bayrischer Beamter, die auch vor der Aufnahme in den Schengenraum schon stattfanden, beispielsweise am Grenzpunkt Furth im Wald / Domažlice.

ist Die Mauer noch in Den köpfen?

Trotz der Vielzahl an beidseitigen Projekten wird das gegenseitige Bild des Nachbarn in den breiten Gesell-schaften aber nach wie vor auch noch von Desinteresse oder Vorurteilen geprägt. In Deutschland mangelt es oft an Neugier, sich mit den östlichen Nachbarn eingehend zu beschäftigen. Für Deutschland erscheint Tschechien als kleines Land ohne ernsthafte Probleme – und ohne ernst-hafte politische Schnittpunkte. Die Tschechen werden so in ihrem Selbstbild, aus einem kleinen Land ohne große europapolitische Bedeutung zu stammen, teilweise bestä-tigt. Dabei ist wenigen bewusst, dass die tschechische Bevölkerung größer ist als z. B. die österreichische und die Landesfläche doppelt so groß wie die niederländische. Aus tschechischer Sicht wiederum wird das Deutschlandbild

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eine politische annäherung hat statt-gefunden, ist aber hinter den Möglich-keiten geblieben, und heute gibt es nur wenige deutsche und tschechische politiker, die sich intensiv mit dem jeweiligen nachbarn beschäftigen.

bisher eng mit der Vergangenheit verknüpft. Die bekannten Stereotype über Deutsche sind natürlich vorhanden, aber seit dem EU-Beitritt wird die Wahrnehmung mehr und mehr von den realen nachbarschaftlichen Kontakten geprägt.

Doch gerade in der Normalisierung liegt auch eine Gefahr. Je weniger aufsehenerregende Nachrichten es aus dem Nachbarland gibt, desto geringer fällt in Prag das Interesse an Deutschland aus. Eine politische Annä-herung hat stattgefunden, ist aber leider hinter den Möglichkeiten geblieben, und heute gibt es nur wenige deutsche und tschechische Politiker, die sich intensiv mit dem jeweiligen Nachbarn beschäftigen. Die heutige Annäherung ist nicht mehr in den Parlamenten zu suchen, sondern im NGO-Sektor und im Kulturbereich, wo Austauschforen, Jugend- und Kulturprojekte den Prozess weiter vorantreiben. Eine normale Nachbarschaftspolitik, die auch in wenig aufregenden Zeiten aufrechterhalten wird, wie beispielsweise die deutsch-polnische oder deutsch-französische, muss erst noch erlernt und erlebt werden.

In der deutschen Bevölkerung gibt es zwei verschiedene Varianten der Wahrnehmung Tschechiens – eine differen-zierte Sicht, wie sie vor allem in den unmittelbar angren-zenden Bundesländern Bayern und Sachsen zu finden ist, und ein undifferenzierteres Klischee der Tschechischen Republik als ehemaliger Ostblockstaat. Während beson-ders bei der älteren Bevölkerung noch eine Mauer in den Köpfen zu sein scheint, die Deutschland und Tschechien trennt, sind es vor allem junge Leute, die die europäischen Grenzen problemlos überwinden. Die Jugendlichen heute sind in die Situation offener Grenzen und Reisefreiheit hineingewachsen. Viele Studierende nutzen Austauschpro-gramme wie Erasmus, um in einem anderen Land zu leben und zu lernen. Im Studienjahr 2008/2009 kamen so 349 deutsche Studenten nach Tschechien und 873 tschechische nach Deutschland. Nur 1,4 Prozent der deutschen, aber ganze 16 Prozent der tschechischen Erasmus-Studenten wählen also das jeweilige Nachbarland.

Die Mobilität wird vermutlich in Zukunft weiter steigen, wenn schnelle, günstige Verbindungen das Reisen über die

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Grenze vereinfachen und eine Generation heranwächst, für die offene Grenzen und internationale Vernetzung eine Selbstverständlichkeit sind. Durch Aufarbeitung der Geschichte und bilaterale Projekte kann Vertrauen wachsen und Vorurteile können abgebaut werden. So kann die Grundlage für ein gesellschaftliches Annähern gelegt werden. Die Mauer in manchen Köpfen wird dann langsam, aber stetig schwinden.

Die europäische union als zukunftschance für Die Deutsch-tschechische kooperation

Europa ist das Stichwort, wenn es um die Zukunft einer engeren, intensiveren Zusammenarbeit Deutschlands und Tschechiens auf politischer Ebene geht. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 wurden für die institutionelle Zusammenarbeit im Europäischen Parlament und im Rat neue, effizientere Abstimmungsverfahren verabschiedet. Das Europäische Parlament soll nun in vielen Entscheidungsprozessen stärker beteiligt werden und daher nach dem so genannten Mitentscheidungsverfahren dem Rat gleichberechtigt abstimmen können. Im Rat werden künftig weitere Poli-

tikbereiche nicht mehr die Einstimmigkeit aller 27 Mitgliedstaaten erfordern, sondern bereits durch eine qualifizierte Mehrheit (ab 2014 nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit von Mitgliedstaaten und Bevölke-rung) zur Beschlussfassung führen. Für die

tschechische Europapolitik bedeutet dies eine zunehmende Bedeutung der parlamentarischen Fraktionsbildung und die wachsende Notwendigkeit von Verbündeten unter den Mitgliedstaaten. Ein einfaches Veto wird in Zukunft nicht ausreichen, um nationale Anliegen auf europäischer Ebene zur Geltung zu bringen. Eine inhaltliche Schärfung des europapolitischen Profils könnte daher neue Formen der Kooperation eröffnen und zudem tatsächliche europäische Interessen der Tschechischen Republik aufzeigen.

Schnittpunkte für eine mögliche Kooperation mit Deutsch-land sind z. B. im Bereich der Energie, Forschung und Inno-vation, Binnenmarkt sowie bei Fragen der Menschenrechte durchaus vorhanden. Eine Verbesserung der Kooperation auf dem Energiesektor ist dringend erforderlich, da diese

eine Verbesserung der kooperation auf dem energiesektor ist dringend erforderlich. Die tschechische repu-blik fühlte sich durch die ostseepipe-line von Deutschland und russland hintergangen.

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Die tschechische regierung betont stets die Bedeutung technologischer neuerungen für das land. gemein-samen forschungsprojekten dürfte nichts im wege stehen.

Thematik bislang, vor allem aufgrund des von Gerhard Schröder und Vladimir Putin geschlossenen Abkommens zum Bau der Ostseepipeline, wohl eher eine Belastung der Deutsch-Tschechischen Beziehungen darstellt. Die Tsche-chische Republik fühlte sich durch die Vereinbarung, Gas über den Meeresgrund in die Bundesrepublik zu beför-dern, von Deutschland und Russland hintergangen. Eine Meinung, die im Übrigen in nahezu allen mittelosteuropä-ischen Ländern vertreten wurde. Deshalb scheint es umso wichtiger, dass die EU unter deutscher Beteiligung mit der Tschechischen Republik einen gemeinsamen Weg zur Ener-giesicherung erarbeitet.

Tschechien gilt gemeinhin als innovativer Standort für tech-nologische Entwicklungen, was nicht zuletzt die Automo-bilindustrie in Tschechien beweist, die welt-weit große Erfolge feiert. Aus diesem Grund könnten beispielsweise deutsch-tschechische Forschungs- und Entwicklungskooperationen auf dem Energiesektor ein möglicher Weg zu neuen Kooperationen sein. Die tschechische Regierung betont stets die große Bedeutung technologi-scher Neuerungen für das Land. Demnach dürfte gemein-samen Forschungsprojekten auf Hightech-Sektoren, z. B. dem Wachstumsmarkt der regenerativen Energien, kaum etwas im Wege stehen. Zwar ist der tschechische Staatsprä-sident Klaus ein vehementer Kritiker der Thesen rund um die Globale Erwärmung, doch dürfte er Maßnahmen nicht abgeneigt sein, welche die energiepolitische Unabhängig-keit des Landes fördern und zugleich steigende Einnahmen im Staatshaushalt versprechen, zumal dies den Ruf des Landes als hochtechnologischer Innovationsstandort weiter stärken dürfte.

Sowohl Tschechien als auch Deutschland verfügen tradi-tionell über hervorragende Wissenschaftler und Forscher-teams, von deren Zusammenarbeit beide Länder nach-haltig profitieren können, nicht nur auf dem Energiesektor. Engere Schulterschlüsse zwischen beiden Ländern könnten auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens erfolgen, um noch effizienter arbeiten zu können. Auf dem Automobilsektor wird diese Symbiose bereits seit einigen Jahren eindrucksvoll umgesetzt und vorgelebt.

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themenbezogen auf partnersuche zu gehen, sollte für die tschechische regierung nach der langwierigen, theo- retischen lissabon-grundsatzdebatte nun die Devise sein.

Die Zusammenarbeit der Nachbarländer Deutschland und Tschechien auf der politischen Bühne Europas könnte in den nächsten Jahren im Bereich der Menschenrechte intensiviert werden. Der Kampf um deren Achtung hat in Tschechien, das lange von totalitären Regimes regiert wurde, eine lange Tradition. Hinzu kommt, dass die EU gerade Themen wie die Einhaltung der Menschenrechte und humanitäre Hilfe oftmals zu wenig behandelt.

Um solche Erfolgsgeschichten auch in anderen Bereichen, und gerade innerhalb der Europäischen Union, realistisch zu machen, sollte die neue tschechische Regierung die eigene Positionierung in Europa strategisch reiflich über-legen. Bisher war Tschechien in europapolitischer Hinsicht nicht sonderlich aktiv und konstruktiv. Inzwischen sind mehr als fünf Jahre seit dem EU-Beitritt vergangen und

eine entsprechende Expertise für eigene europapolitische Initiativen sollte aufgebaut sein. Eigene Vorschläge, klare Stellung-nahmen und das Präsentieren von möglichen Schnittmengen für die europäischen Partner,

insbesondere die Bundesrepublik, sind entscheidende Eckpunkte, damit das „Pakete schnüren‟ auch mit dem bisher zurückhaltenden Partner Tschechien vonstatten gehen kann. Themenbezogen auf Partnersuche zu gehen, sollte für die tschechische Regierung nach der langwie-rigen, theoretischen Lissabon-Grundsatzdebatte nun die Devise sein. Gerade die Kooperation mit den Nachbarn, mit den Partnern in der eigenen Region sollte für Tschechien und Deutschland in der nahen Zukunft Priorität haben. Hier herrschen ähnliche Interessen, hier sind kulturell bedingte Schnittpunkte in Lebens- und Denkweise. In wirtschaftli-cher Hinsicht haben Deutschland und Tschechien bereits Großes erreicht. In den genannten Themenbereichen Umwelt, Forschung und Bildung wären ebenso Möglich-keiten für gemeinsame Positionen in der EU vorhanden.

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Die „normalisierung des Verhältnisses‟, also die gegenseitige wahrnehmung als partner auf gleicher augenhöhe hat auch eine gewisse „De-emotiona-lisierung‟ der Beziehungen mit sich gebracht.

fazit unD ausBlick nach Den parlaMentswahlen VoM Mai 2010

„Noch nie waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien so gut wie heute.‟ Dies ist ein Satz, der sehr häufig im Zusammenhang mit der gegenseitigen Nachbarschaft genannt wird. Und in der Tat ist diese Aussage in jeder Hinsicht korrekt. Die Beziehungen beider Länder waren trotz vieler Schatten aus der Vergangenheit noch nie so gut wie heute: Gemeinsame Verträge haben den Status und die Beziehungen beider Länder auf eine rechtliche Ebene gebracht. Viele Organisationen, Projekte und Akteure tragen tagtäglich einen weiteren Teil zum Zusammenwachsen beider Länder bei, weit weg von Fragen der Vergangenheit oder der Politik. Die Jugend drückt in wegweisenden Gemeinschaftsprojekten in den Grenzregionen gemeinsam die Schulbank und lernt die jeweilige Sprache des Nachbarn – und das kostet ange-sichts der bekannten Schwierigkeit der tschechischen und auch der deutschen Sprache viel Kraft und Konzen-tration. Die wirtschaftliche Verflechtung hat innerhalb von zwanzig Jahren Dimensionen erreicht, die mancher westliche Partner der Bundesrepublik in fünf Jahrzehnten nicht aufbauen konnte. Und dabei geht es nicht nur um bekannte Großprojekte in der Automobilindustrie. Es sind die kleinen und mittelständischen Unternehmer, die beiderseits der Grenze dafür sorgen, dass auch in einer globalen Wirtschafts- und Finanzkrise der gegenseitige Handel auf stabilen Füßen steht. Erfolgsgeschichten gibt es also genug!

Doch könnten die Beziehungen noch besser sein. Denn die „Normalisierung des Verhältnisses‟, also die gegenseitige Wahrnehmung als Partner auf gleicher Augenhöhe anstelle von Stereotypen und Vorurteilen, hat auch eine gewisse „De-Emotionalisierung‟ der Beziehungen mit sich gebracht. Das ist zwar gerade in Fragen der Vergangenheitsbewälti-gung zu begrüßen, doch scheint es in der Politik hier und da an Herz und Entschlossenheit zu mangeln, die Partner-schaft auf eine neue, positiv-emotionale Ebene zu heben. Vielleicht könnte der angekündigte Besuch des bayeri-schen Ministerpräsidenten Horst Seehofer im Herbst 2010 unter Teilnahme sudetendeutscher Vertreter ein weiterer

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auswirkungen, zumal negative, auf die bilaterale Deutsch-tschechische nach-barschaftspolitik dürfte das wahler-gebnis vom Mai 2010 nicht haben.

Schritt sein, die Beziehungen auf eine neue Ebene zu heben. Das wäre immerhin der erste offizielle Besuch eines bayerischen Ministerpräsidenten im Nachbarland. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auf tschechischer Seite eine stabile Regierung, die sich nicht wie in den letzten Jahren auf eine Mehrheit von nur ein oder zwei Abgeordneten stützt und damit immer der Gefahr von Instabilität und Beeinflussbarkeit unterliegt.

Die Ergebnisse der Wahlen zum Abgeordnetenhaus vom Mai 2010 haben zumindest diesbezüglich für Klarheit gesorgt. Nach großer Instabilität der Vorgängerregierung von Premierminister Mirek Topolánek ist nun mit größerer

Stabilität der neu gewählten Mitte-Rechts-Koalition zu rechnen. Auswirkungen, zumal negative, auf die bilaterale Deutsch-Tsche-chische Nachbarschaftspolitik dürfte das Wahlergebnis vom Mai 2010 nicht haben.

So wurde während der tschechischen Ratspräsidentschaft 2009 gerade von den teilweise eher deutschskeptischen konservativen Kreisen sehr positiv die deutsche Rolle und die Unterstützung Tschechiens durch Bundeskanzlerin Merkel registriert. Sollte jedoch die neue tschechische Regierung eines Tages zuhause auch unter Druck geraten, wie zuletzt die ODS-geführte Regierung Topolánek im Frühjahr 2009, könnte die politische Agendasetzung leiden. Und gerade klarer, politischer Signale bedarf es, um die gemeinsamen deutsch-tschechischen Beziehungen auf dem Weg der Entkrampfung und positiven Gestaltung weiterzuführen.

Die bis heute geschaffenen, funktionierenden Mecha-nismen für eine aktive Gestaltung der Zusammenarbeit beiderseits der Grenzen und die vielfältigen Beispiele für eine fruchtbare Kooperation sollten auch in Zukunft Vorbild genug für die Politik sein, mehr Herzlichkeit, Offenheit und Vertrauen einzubringen, um innerhalb Europas neue, gemeinsame Wege zu beschreiten und dabei alte Vorur-teile beiseite zu lassen. Das gelang Deutschland bereits mit anderen Nachbarn, deren Deutschlandbild zu jener Zeit deutlich belasteter war als es heute in Tschechien der Fall ist. Warum also nicht auch etwas mehr Herz für die deutsch-tschechische Freundschaft zeigen?

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Für geführte Gespräche, Informationen und Anregungen zur Erstellung des Textes über die Beziehungen zur Tschechischen Republik danken die Verfasser:

▪ Msgr. Dominik Duka OP, Erzbischof von Prag ▪ Dr. Lucie Černohousová, Institutsleiterin Prager Literaturhaus, Prag

▪ Dr. Vladimír Handl, Institut für Internationale Beziehungen IIR, Prag

▪ Sebastian Holtgrewe, Leiter Unternehmenskommunikation, Deutsch-Tschechische Industrie- und Handelskammer Prag

▪ Ondřej Matějka, Direktor, Antikomplex Prag ▪ Msgr. Anton Otte, Ackermann Gemeinde Prag ▪ Gerald Schubert, Chefredakteur, Radio Prag, Auslandssender des tschechischen Rundfunks

▪ Erik Tabery, Chefredakteur, Wochenmagazin Respekt, Prag ▪ Dr. Volker Weichsel, Redakteur, Zeitschrift Osteuropa, Berlin

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1993 war Deutschland unter den ers-ten staaten, die die unabhängigkeit der slowakei anerkannten. Bereits am ersten tag der selbständigkeit war die Deutsche Botschaft in Bratislava ver-treten.

2. Die Beziehungen zur slowakei

Auch die deutsch-slowakischen Beziehungen sind freund-lich1, auch sie verlaufen jedoch überwiegend unauffällig und geräuschlos. Dies ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass das bilaterale Verhältnis nicht von histori-schen Konflikten überschattet wird. Inwieweit man jedoch, wie der slowakische Historiker und Politologe Pavol Lukáč, vom „Fehlen einer Gemeinschaft‟2 sprechen kann, bleibt zu klären. Seit der Teilung der ehemaligen Tschechischen und

Slowakischen Föderativen Republik (ČSFR) 1993 waren sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Slowakische Repu-blik von Anfang an am Aufbau guter Bezie-hungen interessiert. So hob etwa Bundes-präsident Johannes Rau beim Besuch seines

Amtskollegen Rudolf Schuster im Jahre 1999 hervor, dass er die Slowakei noch immer als Nachbarland Deutschlands sieht. Auch Außenminister Guido Westerwelle und der slowakische Außenminister Miroslav Lajčák betonten im Februar 2010, dass Deutschland und die Slowakei zwar über keine geografische Grenze verfügen, sich jedoch als Nachbarn im Geiste sehen.

politische Beziehungen

Im Februar 1992 schlossen die Bundesrepublik Deutsch-land und die ČSFR einen Vertrag „über gute Nachbarschaft und Freundschaftliche Zusammenarbeit‟. Darin wurden unter anderem gegenseitige Gebietsansprüche ausge-schlossen, der bestehende Grenzverlauf bestätigt, die Rechte der jeweiligen Minderheiten definiert sowie die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in der ČSFR durch die Bundesrepublik Deutschland zugesagt. 3 Dieser Vertrag, der von der Slowakischen Republik als ein Nach-folgestaat der ČSFR anerkannt wurde, bildet bis heute die Grundlage der deutsch-slowakischen Beziehungen.

1 | Vgl. http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laender informationen/Slowakei/Bilateral.html [15.06.2010].2 | Pavol Lukáč, Dejiny a zahraničná politika v strednej Európe (Bratislava: 2004), 106.3 | Vgl. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und Freundschaftliche Zusammen- arbeit, http://www.glasnost.de/db/DokAus/92csfr.html [16.06.2010].

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während der angriff der usa auf den irak im frühjahr 2003 von der deut-schen seite sehr kritisch gesehen wurde, unterstützte die slowakei die amerikanische haltung.

1993 war Deutschland unter den ersten Staaten, die die Unabhängigkeit der Slowakei anerkannten. Bereits am ersten Tag der Selbständigkeit war die Deutsche Botschaft in Bratislava vertreten. Generell kam die deutsche Unter-stützung der politischen, wirtschaftlichen und gesell-schaftlichen Transformation in Mittelosteuropa4 auch der Slowakei zugute. Während der Regierungszeit von Minis-terpräsident Vladimir Mečiar sind die deutsch-slowakischen Beziehungen jedoch bis zu seiner Abwahl 1998 vorübergehend abgekühlt. Bundes-kanzler Helmut Kohl gefiel Vladimir Mečiar und sein mitunter fast autoritärer Regie-rungsstil nicht. Verschiedene Versuche des slowakischen Außenministeriums, ein Treffen zwischen Helmut Kohl und Vladimir Mečiar zu arrangieren, wurden mit Verweis auf den ausgefüllten Terminkalender des Bundeskanzlers abgewiesen. Umgekehrt verzögerte die Slowakische Regierung bis 1995 die Anerkennung der offiziellen Bezeichnung Deutschlands als Bundesrepublik Deutschland (Spolkova republika Nemecko) und griff auf die während des Kalten Krieges verwendete Bezeichnung Deutsche Bundesrepublik (Nemecka spolkova republika) zurück.5 Helmut Kohl stattete der Slowakischen Republik dann erst im Juni 2007 anlässlich der Verleihung des Inter-nationalen Adalbert-Preises an den früheren polnischen Außenminister Władysław Bartoszewski einen Besuch ab.

Mit dem Amtsantritt von Mikuláš Dzurinda 1998 verbes-serten sich die deutsch-slowakischen Beziehungen merk-lich. Gerhard Schröder folgte im Oktober 2000 der Einla-dung des slowakischen Ministerpräsidenten und besuchte als erster deutscher Bundeskanzler die Slowakische Repu-blik. Nach dem Gespräch der beiden Regierungschefs hob Ministerpräsident Dzurinda die guten deutsch-slowakischen Wirtschaftsbeziehungen hervor und bekräftigte seinen Wunsch nach einem baldigen EU-Beitritt der Slowakei. Gerhard Schröder wiederum würdigte die wirtschaftli-chen Reformen der Regierung Dzurinda und betonte, dass Deutschland die Slowakei in ihrem Bestreben nach einem

4 | Vgl. Josefine Wallat, „Alte Lasten, neue Chancen. Deutsch- lands Blick auf Visegrád‟, in: Osteuropa, 10 (2006), 78.5 | Vgl. Stephen D. Collins, German policy-making and eastern enlargement of the EU during the Kohl era. Managing the agenda? (Manchester: Manchester University Press, 2002), 130 f.

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Den freundschaftlichen Beziehungen haben alle politischen Differenzen keinen abbruch getan, betonten beide regierungschefs. Die mutigen slowa-kischen reformen hob Merkel hervor.

raschen Beitritt zur EU unterstützen werde. Insgesamt reiste Bundeskanzler Schröder zwei Mal in die Slowakische Republik, Mikuláš Dzurinda stattete der Bundesrepublik Deutschland in seinen beiden Amtszeiten zehn Besuche ab. 6 Meinungsverschiedenheiten bestanden während dieser Phase hauptsächlich im Hinblick auf den Irak-Konflikt sowie aufgrund der Steuerreform der zweiten Regierung Dzurinda. Bezüglich des Irak-Konfliktes vertraten Deutsch-land und die Slowakei entgegengesetzte Positionen: Während der Angriff der USA auf den Irak im Frühjahr 2003 von der deutschen Seite sehr kritisch gesehen wurde, unterstützte die Slowakei die amerikanische Haltung.7 Der 2004 eingeführte slowakische Einheitssteuersatz von 19 Prozent wurde von Gerhard Schröder als „Steuerdumping‟ betitelt. Dies hätte die Steuerflucht von Unternehmen

sowie den Abbau von Arbeitsplätzen in den westeuropäischen Staaten zur Folge.8 Den guten wirtschaftlichen Kontakten und den sehr freundschaftlichen deutsch-slowaki-schen Beziehungen haben diese Differenzen keinen Abbruch getan, wie Bundeskanzlerin

Angela Merkel und Ministerpräsident Mikuláš Dzurinda im Mai 2006 in Bratislava betonten. Dabei hob die Bundes-kanzlerin ausdrücklich die mutigen Reformen der Regie-rung Dzurinda hervor.9

Robert Fico, slowakischer Ministerpräsident von 2006 bis Juli 2010, traf sich ebenfalls einige Male mit Bundeskanz-lerin Angela Merkel in Deutschland. Hierbei wurden stets die guten Beziehungen betont. Auch nach den slowaki-schen Parlamentswahlen vom 12. Juni, aus denen Iveta Radičová als Siegerin hervorging, ist davon auszugehen, dass das Interesse an der Aufrechterhaltung freundschaft-licher Beziehungen Bestand haben wird.

6 | Gespräch mit Agáta Pešková, Konrad-Adenauer-Stiftung Bratislava, 02.06.2010.7 | Vgl. Josefine Wallat, „Alte Lasten, neue Chancen. Deutsch- lands Blick auf Visegrád‟, in: Osteuropa, 10 (2006), 81.8 | Vgl. Stefan Gehrold und Daniel Wolf, „Wirtschaftswunder Slowakei. Musterknabe oder neuer Bösewicht in der Europä- ischen Union?‟, in: KAS-Auslandsinformationen 11/2005, 63.9 | Vgl. Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Pressburg, „Pressebegegnung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und dem Ministerpräsidenten der Slowakischen Republik Ing. Mikuláš Dzurinda‟ (2006), http://pressburg.diplo.de/ Vertretung/pressburg/de/03/Bilaterale__Beziehungen/seite__ pressekonferenz__bk_27in__dzurinda.html [17.06.2010].

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auch die einzelnen Ministerien und die Bundesländer gestalten die Bezie-hungen mit. im Bundestag ist eine Deutsch-slowakische parlamentarier-gruppe aktiv.

Betrachtet man die gegenseitigen Besuche der Staats-oberhäupter, Regierungschefs und Außenminister seit 1993, fällt auf, dass die Besuche von slowakischer Seite in Deutschland bei Weitem überwiegen. Seit dem EU-Beitritt der Slowakei sind diese Besuche in Deutschland jedoch rückläufig10, was daran liegen könnte, dass es nun im Rahmen der EU zu regelmäßigen Treffen der Regierungs-chefs und Außenminister kommt.

Die politischen Kontakte spielen sich jedoch nicht nur auf der höchsten staatlichen Ebene ab, auch die einzelnen Ministerien, der deutsche Bundestag und die deutschen Bundesländer gestalten die Beziehungen mit: Zahlreiche Mitglieder des Deutschen Bundestages, Regierungsmitglieder wie Franz-Josef Jung, Manfred Stolpe oder Renate Künast sowie einige Ministerpräsidenten, darunter Christian Wulff, Georg Milbradt, Matthias Platzeck und Roland Koch, besuchten die Slowakischen Republik in den vergangenen Jahren während ihrer Amtszeit. Im Bundestag ist zudem eine Deutsch-Slowakische Parlamen-tariergruppe aktiv, die sich um einen intensiven Austausch zwischen den Parlamenten bemüht. Von slowakischer Seite reisten ebenfalls verschiedene Minister zu offiziellen Besuchen nach Deutschland, wie etwa Ivan Mikloš in seiner damaligen Funktion als Finanzminister oder Robert Kaliňak, Innenminister der Slowakischen Republik.11

Die Zusammenarbeit slowakischer und deutscher Behörden wird nachfolgend exemplarisch am Beispiel des slowaki-schen Instituts des Nationalen Gedenkens (Ústav pamäti národa – UPN) nachgezeichnet: Die Behörde der Bundes-beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheits-dienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Repu-blik (BStU) und das UPN unterzeichneten eine Erklärung zur gegenseitigen Unterstützung. Danach fördert die BStU Konferenzen des UPN teilweise durch finanzielle Zuwen-dungen oder Referenten. So erhielt das UPN etwa für

10 | Vgl. Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Pressburg, „Gegenseitige Besuche der Staatsoberhäupter, Regierungs- chefs und Außenminister seit 1999‟, http://pressburg.diplo.de/ Vertretung/pressburg/de/03/Bilaterale__Beziehungen/seite__ gegenseitige__besuche__seit__1999.html [18.06.2010].11 | Gespräch mit Agáta Pešková, Konrad-Adenauer-Stiftung Bratislava, 02.06.2010.

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eine Konferenz zum sowjetischen Geheimdienst KGB im Jahre 2008 eine finanzielle Unterstützung seitens der BStU. Zudem wurde einem leitenden Mitarbeiter des UPN ein mehrmonatiges Praktikum in der deutschen Behörde ermöglicht.12

Ein weiteres Bindeglied zwischen Deutschland und der Slowakei stellen die heute noch etwa 5.000 Karpatendeut-

schen dar, die sich bei der Volkszählung in der Slowakischen Republik im Jahre 2001 zur deutschen Nationalität bekannten. Im Karpa-tendeutschen Verein (KDV), der die deutsche Minderheit auf slowakischem Gebiet reprä-sentiert, geht man jedoch davon aus, dass

etwa doppelt so viele Deutsche in der Slowakei leben. Die Karpatendeutschen wurden von der Slowakischen Republik als eine von insgesamt 13 Minderheiten offiziell anerkannt. Außer mit Ján Slota, dem für seine nationalis-tischen Ansichten bekannten Leiter der Slowakischen Nati-onalpartei (Slovenská národná strana – SNS), hatten die Karpatendeutschen seit der Gründung der Slowakischen Republik bislang keine Probleme mit politischen Vertretern.

Insbesondere mit den slowakischen Staatspräsidenten Rudolf Schuster (1999–2004) und Ivan Gašparovič (2004 bis heute) war und ist die Zusammenarbeit hervorragend. Auch die Beziehungen zu den anderen Minderheiten in der Slowakischen Republik werden als gut bezeichnet. Das Museum der Kultur der Karpatendeutschen in Bratislava ist Bestandteil des Slowakischen Nationalmuseums und wird zu etwa 99 Prozent vom slowakischen Kulturministe-rium finanziert. Von dort werden auch weitere finanzielle Mittel für ausgewählte Projekte des Vereins bereitgestellt. Auch die deutsche Seite beteiligt sich an der Finanzierung der Karpatendeutschen Minderheit: Das Innenministe-rium gewährt Zuschüsse, verschiedene Vereine und Stif-tungen wie etwa die Karpatendeutsche Landsmannschaft Slowakei e.V. mit Sitz in Stuttgart oder die Hermann Niermann-Stiftung aus Düsseldorf fördern die Karpaten-deutschen finanziell und organisatorisch.13

12 | Gespräch mit Marta Košíková, Ústav pamäti národa (UPN), 26.05.2010.13 | Gespräch mit Ondrej Pöss, Karpatendeutscher Verein, 08.06.2010.

ein Bindeglied zwischen Deutschland und der slowakei stellen die 5.000 kar-patendeutschen dar. Die karpatendeut-schen wurden von der slowakischen republik als eine von 13 Minderheiten offiziell anerkannt.

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DeutschlanD unD Die slowakei in Der europäischen union

Im Juni 1995 bewarb sich die Slowakische Republik um eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Der Beschluss seitens der EU zum Beginn direkter Beitritts-gespräche erfolgte jedoch erst auf dem Gipfel des Euro-päischen Rats im Dezember 1999 in Helsinki.14 Während der Regierungszeit Vladimir Mečiars wären direkte Beitrittsverhandlungen kaum vorstellbar gewesen. So hatte sich die EU unter anderem im Oktober 1995 tief besorgt über die politischen und institutionellen Spannungen innerhalb der Slowakischen Republik gezeigt.15 Die 1998 gewählte Regie-rung Dzurinda trat mit verschiedenen Reformen den nega-tiven Entwicklungen entgegen und bemühte sich um die Verankerung des Landes in der westlichen Staatengemein-schaft. Dabei wurde sie auch von Deutschland unterstützt, das sich für den EU- und NATO-Beitritt der Slowakischen Republik einsetzte.16 Im Zuge der Beitrittsverhandlungen drängte die Regierung Schröder jedoch erfolgreich darauf, die Stilllegung des slowakischen Kernkraftwerks V1 in Jaslovské Bohunice als Beitrittsbedingung in die Verträge aufzunehmen.17 Ein weiterer deutsch-slowakischer Konflikt-punkt betraf die Übergangsfristen für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer: Noch bis zum 30. April 2011 ist für slowakische Staatsangehörige der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt eingeschränkt und bedarf einer „Arbeitsge-nehmigung-EU‟ der Bundesagentur für Arbeit.18 Mit dem slowakischen Beitritt zur NATO und zur EU im Jahre 2004 erreichte das Verhältnis zwischen Deutschland und der Slowakei eine neue Qualität: Das Land war vom „Bittsteller‟

14 | Gespräch mit Agáta Pešková, Konrad-Adenauer-Stiftung Bratislava, 02.06.2010.15 | Europäische Kommission, „Agenda 2000 – Commission. Opinion on Slovakia‛s Application for Membership of the European Union‟ (1997), 16 ff.16 | Kai-Olaf Lang, „Anatomie einer Zurückhaltung. Deutschland und die Visegrád-Gruppe.‟, in: Osteuropa, 10 (2006), 5.17 | Vgl. Verordnung (Euratom) Nr. 549/2007 des Rates vom 14.05.2007.18 | Vgl. EURES, „Freizügigkeit: Deutschland‟, http://ec.europa.eu/ eures/main.jsp?acro=free&lang=de&countryId=DE&from CountryId=SK&accessing=0&content=1&restrictions=1& step=2 [24.06.2010].

noch bis zum 30. april 2011 ist für slowakische staatsangehörige der zu- gang zum deutschen arbeitsmarkt ein-geschränkt und bedarf einer „arbeits- genehmigung-eu‟ der Bundesagentur für arbeit.

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zum „Partner‟ Deutschlands aufgestiegen.19 Doch auch innerhalb der EU bleibt Deutschland als eines der bevöl-kerungsreichsten und wirtschaftlich stärksten Länder wichtig für die Slowakei.20 Umgekehrt setzte sich die Bundesrepublik weiterhin für slowakische Belange ein, wie der slowakische Ministerpräsident Mikuláš Dzurinda

beim Besuch Angela Merkels 2006 in Bratis-lava hervorhob. Er dankte Frau Merkel bei dieser Gelegenheit für ihren großen Beitrag zur Verabschiedung der Finanziellen Voraus-schau 2007-2013, die vor allem für die neuen EU-Mitgliedsländer von hoher Bedeutung

gewesen sei.21 Deutsch-slowakische Meinungsverschieden-heiten innerhalb der EU herrschten vor allem hinsichtlich einer möglichen EU-weiten Abstimmung der Steuersätze, der fortdauernden Beschränkung der Freizügigkeit slowa-kischer Arbeitskräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt sowie bezüglich der genauen Einhaltung der Maastricht-Kriterien.22 Mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages am 1. Dezember 2009 muss auch Deutschland nun im Rat in etlichen Politikbereichen Mehrheiten für die eigene Position organisieren und könnte künftig auch auf die slowakische Unterstützung angewiesen sein.

wirtschaftliche Vernetzung

Mit der Selbstständigkeit 1993 übernahm die Slowaki-sche Republik auch die Verantwortung für den Umbau des ehemals zentral gesteuerten Wirtschaftssystems hin zu marktwirtschaftlichen Strukturen. Der Fokus lag hierbei vor allem auf der Privatisierung von Staatsunternehmen, der Liberalisierung der Preise und des Außenhandels sowie der Ermöglichung ausländischer Direktinvestitionen.23 Nach der Überwindung anfänglicher Schwierigkeiten begann die slowakische Wirtschaft rapide zu wachsen. Im Zuge dessen gewann auch der Handel mit Deutschland an Fahrt: Die slowakischen Exporte in die Bundesrepublik stiegen konti-nuierlich von 762 Millionen Euro 1993 auf 8.962 Millionen

19 | Vgl. Josefine Wallat, (2006), 78.20 | Vgl. Vladimir Bilčík und Juraj Buzalka, „Die nicht-existente Gemeinschaft. Die Slowakei und Deutschland in der EU‟, in: Osteuropa, 10 (2006), 65.21 | Vgl. Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Pressburg (2006). 22 | Vgl. Vladimir Bilčík und Juraj Buzalka (2006), 68.23 | Vgl. Stefan Gehrold und Daniel Wolf (2005), 64.

Mit inkrafttreten des lissabon-Vertra-ges muss auch Deutschland Mehrhei-ten für die eigene position organisieren und könnte künftig auf die slowakische unterstützung angewiesen sein.

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Euro 2007. Lediglich in den Jahren 2008 und 2009 war infolge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ein Rückgang zu verzeichnen. Der Handel boomte auch in umgekehrter Richtung: 1993 importierte die Slowakei deutsche Güter im Wert von 717 Millionen Euro, bis 2008 hatten sich die Importe auf insgesamt 8.739 Millionen Euro mehr als verzehnfacht.24 Obwohl hier 2009 ebenfalls ein Rückgang zu vermerken ist, war Deutschland auch in diesem Jahr wieder der größte Handelspartner der Slowa-kischen Republik: Der Anteil deutscher Güter an den slowa-kischen Importen betrug 25 Prozent, umgekehrt bezog die Bundesrepublik insgesamt 23,4 Prozent der slowaki-schen Exporte. Die wichtigsten slowakischen Exportgüter für den deutschen Markt sind Verkehrsmittel, chemische Erzeugnisse, Maschinen und Anlagen.25 Die Bedeutung der Slowakei für den deutschen Außenhandel ist hingegen wesentlich geringer: Im Jahr 2009 wurden 0,83 Prozent der deutschen Exporte in die Slowakei geliefert, damit belegt das Land beim Außenhandel den 23. Platz.26

Abb. 1handel zwischen Deutschland und der slowakei von 1993 bis 2009

▪ Einfuhr nach Deutschland ▪ Ausfuhr aus DeutschlandQuelle: Statistisches Bundesamt, „Aus- und Einfuhr (Außen- handel): Deutschland, Jahre, Länder‟, Fn. 24, eigene Darstellung

24 | Vgl. Statistisches Bundesamt, „Aus- und Einfuhr (Außen- handel): Deutschland, Jahre, Länder‟, https://www-genesis. destatis.de/genesis/online [09.06.2010].25 | Vgl. Auswärtiges Amt, „Slowakei. Wirtschaft‟, http://auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/ Slowakei/Wirtschaft.html [09.06.2010].26 | Vgl. Statistisches Bundesamt, a.a.O.

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Einfuhr in BRD

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Einfuhr nach DeutschlandSK > DE

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Vor allem im Bereich der automobil- zulieferindustrie haben sich viele deut- sche Betriebe auf slowakischem gebiet angesiedelt. zunehmend wurde die slo-wakei auch als absatzmarkt erkannt.

Seit Bestehen der Slowakischen Republik wird die wirt-schaftliche Zusammenarbeit der beiden Länder gefördert: Noch im Jahre 1993 wurde eine Repräsentanz der deut-schen Wirtschaft in Bratislava eröffnet, diese wurde jedoch bis zur Gründung einer eigenständigen Deutsch-Slowaki-schen Industrie- und Handelskammer (DSIHK) im Jahre 2005 von Prag aus geleitet. Die DSIHK sieht sich als Forum für deutsche und slowakische Unternehmen und konzent-riert sich auf den Aufbau von Wirtschafts- und Handelsbe-ziehungen zwischen Deutschland und der Slowakei. Etwa 20 Prozent ihrer Dienstleistungen werden von slowakischen Firmen in Anspruch genommen, die sich den deutschen Markt erschließen möchten. Ungefähr 80 Prozent der Leis-tungen werden von deutschen Unternehmen nachgefragt. Auch die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Wirtschaftsvereinigung hat sich die „umfassende Förde-rung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen deutschen, tschechischen und slowakischen Unternehmen, Instituti-onen und Kommunen‟ zum Ziel gesetzt.27 Zudem werden ausländische Investoren in Deutschland von der Germany Trade & Invest Gesellschaft für Außenwirtschaft und Stand-ortmarketing mbH und in der Slowakei von der Agentur für Investition und Handelsentwicklung (SARIO) unterstützt.

Deutsche Investitionen auf slowakischem Gebiet erfolgten im Wesentlichen in zwei Wellen: Zu Beginn der neunziger

Jahre nutzten viele deutsche Unternehmen die Gelegenheit zur Beteiligung an verschie-denen Privatisierungen und betrachteten die Slowakei als verlängerte Werkbank. Maschi-nelle Vorleistungen wurden in Deutschland belassen und nur arbeitsintensive Tätigkeiten

in die Slowakei verlagert. Nach deren Abschluss wurde das Produkt wieder nach Deutschland reexportiert.

Ab der Jahrtausendwende erfolgten unter anderem Priva-tisierungen in den Bereichen Energiewirtschaft und Tele-kommunikation, bei denen deutsche Energieversorger sowie die Deutsche Telekom massiv investierten. Mittler-weile war die Slowakei zwar als verlängerte Werkbank zu teuer geworden, jedoch hatte sich die industrielle Struktur

27 | Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Wirtschafts- vereinigung, http://www.dtsw.de/deutsch/dtsw_ziele.html [16.06.2010].

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Momentan belegt Deutsch in der rang-folge der erlernten fremdsprachen in der slowakei nach englisch den zwei-ten platz.

durch die Investitionen der neunziger Jahre gefestigt und das Land wurde als vollwertiger Unternehmensstandort wahrgenommen. Vor allem im Bereich der Automobil-zulieferindustrie haben sich viele deutsche Betriebe auf slowakischem Gebiet angesiedelt. Zunehmend wurde die Slowakei auch als Absatzmarkt erkannt, was sich in der Präsenz großer deutscher Handelsketten wie Kaufland, dm oder Hornbach widerspiegelt.

Heute sind über 400 deutsche Unternehmen in der Slowakei tätig, darunter auch große Firmen wie Volkswagen, Bosch, E.ON oder Siemens. Mehrheitlich handelt es sich jedoch um kleine- und mittelständische Betriebe. Insgesamt inves-tierten deutsche Unternehmen bislang etwa 3,5 Milliarden Euro, die Schwerpunkte lagen dabei vor allem in den Berei-chen Automobilbau, Maschinenbau und Elektrotechnik. Die Unternehmen der deutschen Investoren beschäftigen etwa 80.000 Mitarbeiter.28

gesellschaftliche zusaMMenarBeit

Am 28. Mai 1998 trat das im Mai 1997 unterzeichnete deutsch-slowakische Abkommen über kulturelle Zusam-menarbeit in Kraft. Dieses Abkommen zielt darauf, die gegenseitigen Kenntnisse über die deutsche und die slowakische Kultur zu verbessern, und stellt die kulturelle Zusammenarbeit der beiden Länder auf ein rechtliches Fundament. In Bratislava koordiniert das Goethe-Institut als Partner des Auswärtigen Amtes verschiedene Tätigkeiten im Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Zu den wichtigsten Arbeitsgebieten des Institutes zählt dabei die Förderung der deutschen Sprache im Bildungssystem des Gastlandes. Dazu werden unter anderem Unterrichtsma-terialien erstellt sowie Programme für Schüler und Lehrer durchgeführt. Seit dem Jahr 2008 wird im slowakischen Schulsystem das frühe Erlernen von Fremdsprachen besonders gefördert. Um hierfür genügend Deutsch-lehrer bereitzustellen, bietet das Goethe-Institut verstärkt Fortbildungen für Lehrer an. Dabei arbeitet man eng mit der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA)

28 | Vgl. Gespräch mit Markus Halt, Deutsch-Slowakische Indus- trie- und Handelskammer, 19.05.2010.

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60 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 9|2010

zusammen.29 Die ZfA betreut in der Slowakei unter anderem die Deutsch-Slowakische Begegnungsschule in Bratislava, ein Gymnasium in Poprad, das sowohl das deutsche als auch das slowakische Abitur anbietet, sowie 26 Sprach-diplomschulen.30 Momentan belegt Deutsch in der Rang-folge der erlernten Fremdsprachen in der Slowakei nach Englisch den zweiten Platz. Insgesamt lernten im Schul-jahr 2009/2010 knapp 268.000 Schüler und Studenten die deutsche Sprache.31

Das deutsche Interesse an der Slowakei und ihrer Sprache und Kultur ist hingegen weniger stark ausgeprägt. So sind Ost- und Mitteleuropa-Studien im literaturwissen-schaftlichen, ethnologischen und geisteswissenschaftli-chen Bereich beispielsweise wesentlich besser besucht als rein deutsch-slowakische Studiengänge. Dies wird auf die geringe Landesgröße der Slowakei zurückgeführt, aber auch auf das Fehlen von Institutionen, die sich für die deutsch-slowakischen Beziehungen einsetzen. Zudem fällt der Bereich der Slowakistik an deutschen Univer-sitäten mehr und mehr dem Sparzwang zum Opfer. Die Beziehungen zwischen den einzelnen deutschen und slowakischen Instituten für Slowakistik sind jedoch gut. So arbeiten etwa die Comenius-Universität in Bratislava und die Humboldt-Universität zu Berlin gemeinsam an einem Projekt zur Zwischenkriegsliteratur. Am Collegium Carolinum in München befassen sich wissenschaftliche Experten aus aller Welt mit der Geschichte und Gegen-wart der Tschechischen und der Slowakischen Republik. Der wissenschaftliche Austausch zwischen der Slowakei und Deutschland wird zudem durch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und den Deutschen Akademischen Austauschdienst gefördert.32

Sehr gut funktionieren die deutsch-slowakischen Bezie-hungen im Bereich der Städtepartnerschaften. Außer Nitra,

29 | Vgl. Gespräch mit Wolfgang Franz, Goethe-Institut Bratislava, 10.06.2010.30 | Vgl. Zentralstelle für das Auslandsschulwesen, „Das DSD II- Programm in der Slowakei‟, http://auslandsschulwesen.de/ nn_1674788/Auslandsschulwesen/DASAN/Fachberater/ Europa/Bratislava/DSD/node.html?__nnn=true [22.06.2010].31 | Gespräch mit Wolfgang Franz, Goethe-Institut Bratislava, 10.06.2010.32 | Gespräch mit Prof. Dr. Peter Zajac, Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin, 15.06.2010.

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sehr gut funktionieren die deutsch-slowakischen Beziehungen im Bereich der städtepartnerschaften.

Žilina und Trenčín verfügen alle großen slowakischen Städte über eine Partnerschaft mit einer deutschen Stadt. So unterhält die Stadt Bratislava Städtepartnerschaften mit Bremen, Karlsruhe, Ulm und Regensburg. Košice, die zweitgrößte Stadt, hat enge Beziehungen zu Wuppertal und Cottbus, Banská Bystrica ist mit Halberstadt verbunden, Prešov mit Remscheid.

Auch die religiösen Beziehungen sind sehr gut. Seit seinem Bestehen unterstützt das 1993 von der römisch-katholischen Kirche gegründete Hilfswerk Renovabis die Menschen in der Slowakei. Die Unterstützung erfolgt sowohl projektbezogen als auch mittels der Förderung des Austauschs zwischen Ost und West. Der Fokus der Projekte liegt oft im sozialen Bereich. Renovabis förderte etwa den Bau eines Hospizes in Nitra und verschiedene Projekte für betreutes Wohnen. Weitere Tätigkeitsschwerpunkte sind die soziale und pastorale Integration der Minderheit der Roma sowie die Förderung des Laienapostolats.33 Auch das Forum christlicher Institutionen (Fórum kresťanských inštitútcií – FKI), das verschiedene christliche Organisati-onen unter seinem Dach vereint, erhält finanzielle Zuwen-dungen von Renovabis. Das FKI dient als Informations- und Kooperationsplattform für seine Mitglieder, es ist unter anderem zuständig für die Kontakte zur Regierung und zur öffentlichen Verwaltung sowie für die Vertiefung internatio-naler Beziehungen. So war das FKI beispielsweise auch an der Organisation des zweiten ökumenischen Kirchentages im Mai 2010 in München beteiligt. Einen weiteren Bezug zu Deutschland bildet das slowakische Kolpingwerk, das wiederum eng mit dem internationalen Kolpingwerk mit Sitz in Köln verbunden ist und sich ebenfalls zu den Mitglie-dern des FKI zählt. Neben den Beziehungen verschiedener deutscher und slowakischer Verbände gibt es zudem einige deutsch-slowakische Partnerschaften wie etwa zwischen dem Bistum Banská Bystrica und dem Dekanat Ander-nach oder zwischen der Katholischen Jungen Gemeinde des Diözesanverbands Limburg und der slowakischen Bewegung christlicher junger Gemeinden eRko.34

33 | Vgl. Renovabis, „Länderinformationen Slowakei‟, http://renovabis.de/laender-projekte/laenderinformationen/ slowakei [23.06.2010].34 | Gespräch mit Katarína Hulmanová, Fórum kresťanských inštitútcií, 07.06.2010.

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um der gesteigerten Bedeutung der slowakischen republik tribut zu zol-len, sollte sich Deutschland besser um seinen „kleinen‟ partner in der Mitte europas kümmern, beispielsweise durch vermehrte Besuche der obers-ten politischen ebene.

fazit unD ausBlick – üBerraschung Bei Den parlaMentswahlen iM Juni 2010

Die nähere Betrachtung der deutsch-slowakischen Bezie- hungen brachte äußerst vielfältige politische, wirtschaft-liche und gesellschaftliche Verbindungen zu Tage. Die Auffassung von Pavol Lukáč aus dem Jahre 2004 vom Fehlen einer Gemeinschaft kann daher nicht geteilt werden. Auch dass viele Beziehungen abseits der öffentli-chen Wahrnehmung bestehen, sollte nicht als Maßstab für ihre Bewertung herangezogen werden.

Vor allem im politischen und wirtschaftlichen Bereich fällt jedoch auf, dass die Beziehungen eher asymmetrischer Art sind: Während Deutschland für die Slowakei eine hohe Bedeutung hat, misst es der Slowakei eine geringere Bedeutung bei.35 Seit einigen Jahren kann jedoch eine Verringerung dieser Asymmetrie beobachtet werden: Auf der politischen Ebene wurde die Slowakische Republik in der EU, der NATO, im Schengenraum sowie in der Euro-

zone zu einem Partner der Bundesrepu-blik Deutschland. Auch im wirtschaftlichen Bereich wird die Slowakei mehr und mehr als vollwertiger Partner denn als verlängerte Werkbank gesehen. Um der gesteigerten Bedeutung der Slowakischen Republik Tribut zu zollen, sollte sich Deutschland auch

angesichts der künftigen Notwendigkeit zur Sicherung von Mehrheiten innerhalb des EU-Ministerrates besser um seinen „kleinen‟ Partner in der Mitte Europas kümmern. Dies könnte beispielsweise durch vermehrte Besuche der obersten politischen Ebene oder durch die Unterzeichnung eines eigenen deutsch-slowakischen Freundschaftsver-trages erfolgen. Umgekehrt sollte die Slowakische Republik ihre Präsenz in Deutschland erhöhen, um künftig seitens der Deutschen besser wahrgenommen zu werden.

Vielleicht passiert das ja nun nach den Parlamentswahlen vom 12. Juni 2010. Bereits am 8. Juli wurde die 53-jährige Soziologieprofessorin Iveta Radičová als erste Frau in der Geschichte der Slowakei Regierungschefin, nachdem sie und die vier Parteichefs der künftigen Mitte-Rechts-

35 | Vgl. Vladimir Bilčík und Juraj Buzalka (2006), 65.

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63KAS AUSLANDSINFORMATIONEN9|2010

Die premierministerin radičová und ihre partei hatten mit dem argument, die arme slowakei dürfe nicht für das reichere griechenland zur kasse gebe-ten werden, für merkliche Verstim-mung in der eu gesorgt.

Koalition in öffentlicher Zeremonie ihren Koalitionsvertrag unterzeichnet hatten. „Die Slowakei soll wieder ein Ort für ein würdiges Leben werden‟, verkündete die künftige Premierministerin nach der Unterzeichnung des Koaliti-onsvertrages als gemeinsames Ziel der von ihr geführten Regierung. Sie versprach „ein verantwortungsvolles und transparentes Regieren‟, bei dem die Bekämpfung der Korruption neben der Eindämmung des Haushaltsdefizits oberste Priorität haben werde. In Anspielung auf zahlreiche Korruptionsskandale aller bisherigen Regierungen drohte Radičová auch ihren Regierungspartnern mit „Nulltoleranz‟ schon beim ersten begründeten Verdacht von Korruption.

Und wie werden sich nun die Beziehungen der Slowakei zur EU und zu Deutschland weiterentwickeln? Der ehema-lige Premier und neuernannte Außenminister Mikulas Dzurinda wird sich zunächst einmal darum kümmern müssen, irritierte EU-Partner zu besänftigen. „Die Slowakei wird den Euro-Schutzschirm nicht blockieren‟, widersprach Premiermi-nisterin Radičová schon eigenen Wahlkampf-tönen. Etwas Nachverhandeln werde aber doch noch nötig sein. Gerade Radičová und ihre Partei hatten mit dem Argument, die arme Slowakei dürfe nicht für das reichere Griechenland zur Kasse gebeten werden, für merkliche Verstimmung gesorgt, nachdem Fico eine solidarische Beteiligung der Slowakei bereits zugesichert hatte: „Wir dürfen nicht nur die Vorteile der Europäischen Union genießen, aber abseits stehen, wenn unsere Solidarität gefragt ist‟, hatte Fico wiederholt gemahnt. Man wird sehen, ob bei diesen von Radicova gewünschten Nachverhandlungen etwas heraus-kommt oder nicht. Ein Ausscheren der Slowakei aus dem Solidaritätsprinzip würde von den anderen EU-Partnern wohl kaum ohne Folgen akzeptiert werden.

Die Beziehungen zu Deutschland werden nunmehr wahr-scheinlich wieder etwas lebendiger werden. Mikulas Dzurinda und Angela Merkel kennen und schätzen sich bereits seit Jahren, und auch die neue slowakische Regie-rungschefin Iveta Radicova dürfte in Berlin wohl offene Türen vorfinden, wenn es um den weiteren Ausbau der

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deutsch-slowakischen Beziehungen geht. Und wer weiß, vielleicht intensiviert die Slowakei auch etwas ihre Präsenz in Deutschland und wartet nicht nur darauf, dass deutsche Investoren von allein den Weg in die Slowakei finden.

Das Manuskript wurde am 10. Juli 2010 abgeschlossen.

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65KAS AUSLANDSINFORMATIONEN9|2010

Andreas M. Klein / Gesine Herrmann

Die  Beziehungen  Deutschlands  zu  Estland,  Lettland  und Litauen können zweifelsfrei als gut und intensiv bezeichnet werden.  An  der  besonderen  Qualität  der  Beziehungen lässt auch der neue Bundesminister für Auswärtige Bezie-hungen,  Guido  Westerwelle,  keine  Zweifel  aufkommen. Bereits  kurz  nach  seinem  Amtsantritt  im  Herbst  2009 traf  er  seine  Amtskollegen  aus  den  Baltischen  Ländern in Brüssel zu Konsultationen, die  im Juli 2010  im traditi-onellen 3+1-Format  in Tallinn fortgesetzt wurden. Dieses jüngste  Treffen  der  vier  Außenminister  ist  Beleg  für  die engen  Beziehungen,  die  Deutschland  zu  den  Baltischen Staaten insgesamt und zu jedem einzelnen der drei Staaten unterhält,  ebenso  wie  der  Besuch  der  Staatsministerin Cornelia Pieper im Baltikum zu Beginn des Jahres, bei dem es darum ging,  insbesondere den Ausbau der kulturellen Zusammenarbeit mit den Partnern in Estland, Lettland und Litauen zu beraten. Im September steht die aufgrund der Bundespräsidentenwahl  verschobene  Visite  von  Bundes-kanzlerin  Angela  Merkel  nach  Litauen  und  Lettland  an. Bei  dieser  Gelegenheit  wird  sie  sich  bei  der  litau ischen Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite und dem  lettischen Ministerpräsidenten  Valdis  Dombrovskis  auch  über  die Spar- und Reformanstrengungen der beiden von der Wirt-schafts- und Finanzkrise gebeutelten Länder  informieren. 

Der  Dialog  mit  den  Baltischen  Nachbarn  findet  darüber hinaus  zum  einen  in  den  Europäischen  Institutionen in  Brüssel  und  zum  anderen  in  Berlin  statt,  wohin  es sowohl  den  Staatspräsidenten  Lettlands,  Valdis  Zatlers, im  Januar  2008  als  auch  den  lettischen  Ministerpräsi-denten Valdis Dombrovskis Ende April 2009 auf eine ihrer 

Andreas M. Klein ist Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Riga. Er betreut von dort aus die Aktivitäten der Stiftung in den Balti-schen Ländern sowie das Regionalprojekt „Ostseekooperation‟.

Gesine Herrmann studierte bis Sommer 2009 Politikwissen-schaften in Chemnitz, Berlin und Tartu/Estland mit dem Schwerpunkt Trans-formationsstudien. Derzeit arbeitet sie an der HWR Berlin.

DIE BEzIEHUNGEN DEUTScHLANDS zU DEN BALTIScHEN LÄNDERN SEIT DER WIEDERVEREINIGUNG

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66 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 9|2010

zuletzt weilte der Auswärtige Aus-schuss des estnischen Parlaments in Berlin. Darüber hinaus tragen die Bun-desländer sowie Partnerstädte und -kreise zur Vertiefung der Beziehungen bei.

ersten  Auslandsdienstreisen  zu  politischen  Gesprächen führte. Zuletzt weilte der Auswärtige Ausschuss des estni-schen Parlaments  im März 2010 zu Gesprächen mit dem Auswärtigen  Ausschuss  des  Deutschen  Bundestages  und Vertretern der Bundesregierung in Berlin. Darüber hinaus tragen die Bundesländer sowie Partnerstädte und -kreise in Deutschland und den Baltischen Ländern zur Vertiefung der bilateralen Beziehungen bei.

Das  besondere  gegenseitige  Interesse  liegt begründet in der über 800-jährigen gemein-samen  Geschichte  als  Missions-  und  Sied-lungsgebiet  des  Deutschen  Ordens,  in  den Wirtschaftsbeziehungen  zur  Zeit  der  Hanse 

sowie  in  der  zentralen  Lage  Deutschlands  zwischen  den einstigen Blöcken, die die Welt bis 1990 in sowjetische und amerikanische  Einflusssphären  teilte.  Einen  herausgeho-benen Stellenwert als „Schicksalstag‟ in den deutsch-balti-schen Beziehungen nimmt dabei der 23. August 1939 ein, als der deutsche Außenminister der nationalsozialistischen Regierung, Joachim von Ribbentrop, und sein sowjetischer Amtskollege, Wjatscheslaw Molotow, mit  der Unterzeich-nung des geheimen Zusatzprotokolls zum Nichtangriffspakt zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion, dem so  genannten Hitler-Stalin-Pakt,  das  vorläufige Ende der Unabhängigkeit  der  drei  Baltischen  Staaten  besiegelten. Daraus leitet sich bis zum heutigen Tage die Verbundenheit Deutschlands mit  und die Verantwortung gegenüber den drei Baltenrepubliken ab. Dennoch schwankte die deutsche Außenpolitik  gegenüber  den  baltischen  Nachbarn  in  den vergangenen  zwanzig  Jahren  zwischen  dem  „Anwalt  der Balten‟ einerseits und einer Position des advocatus diaboli andererseits, wenn die baltischen Belange die Erreichung deutscher  Ziele  und  insbesondere  das  Verhältnis  der Bundesrepublik zu Russland zu beeinträchtigen drohten.

DIE BUNDESREGIERUNG UND DIE UNABHÄNGIGKEITS-BESTREBUNGEN DER BALTIScHEN LÄNDER

Die Baltikumpolitik Bonns war von 1988 bis zur offiziellen Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen am 28. August 1991 maßgeblich davon geprägt, dass die baltische Frage der Unabhängigkeit eng mit der deutschen Frage der Wiedervereinigung zusammenhing. 

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Als Litauen am 11. März 1990 als erste baltische Republik seine Trennung von der Sowjetunion erklärte, hielt sich die Bundesregierung mit einer Stellung-nahme zunächst zurück.

Mit  den  vom  damaligen  Generalsekretär  der  Kommunis-tischen  Partei  der  Sowjetunion  (KPdSU), Michail  Gorbat-schow, angestrengten Reformen Glasnost und Perestroika kam es auch in den drei baltischen Sowjetrepubliken zum nationalen  Wiedererwachen.  Die  Aktivitäten  der  Bürger-bewegungen  Estlands  (Rahvarinne),  Lettlands  (Tautas Fronte)  und  Litauens  (Sajūdis)  nach  größtmöglicher Autonomie  fanden  ihren vorläufigen Höhepunkt am  fünf-zigsten  Jahrestag  der  Unterzeichnung  des Hitler-Stalin-Paktes  in  einer  über  600  Kilo-meter  langen Menschenkette, die rund eine Millionen  Menschen  von  Vilnius  über  Riga nach  Tallinn  miteinander  verband.  Wenn-gleich dieser als Baltischer Weg bezeichnete Bürgerprotest  zunächst  wirkungslos  blieb,  beförderte  er dennoch  gemeinsam  mit  den  historischen  Vorgängen  in Polen,  Ungarn  und  der  Tschechoslowakei  gleichermaßen Entwicklungen,  die  den  Fall  der  Berliner  Mauer  und  die Wiedervereinigung  der  beiden  deutschen  Staaten  erst möglich machten.

Als Litauen am 11. März 1990 als erste der drei baltischen Republiken  seine  umgehende  und  vollständige  Trennung von der Sowjetunion erklärte, hielt sich die Bundesregie-rung mit einer Stellungnahme zunächst zurück – sehr zum Unmut  des  ersten  kommissarischen  Staatsoberhauptes der unabhängigen Republik Litauen, Vytautas Landsbergis: „Bisher sahen wir nicht, dass wir große Erwartungen in die Politik Deutschlands setzen konnten.‟1

Um der deutschen Einheit willen war Bonn bestrebt, „dass der  Litauen-Konflikt  nicht  zum  Stolperstein  für  Michail Gorbatschow  und  seine  Reformpolitik  werden  dürfe‟2 und  eine  weitere  Destabilisierung  der  UdSSR  vermieden werden müsse. Bundeskanzler Helmut Kohl plädierte daher für eine Politik der kleinen Schritte. Er war der Meinung, man müsse den Litauern sagen, dass sie mit ihrer Politik des  „Alles  oder  Nichts‟  ihre  Chance,  unabhängig  zu werden, aufs Spiel setzten. Zudem war er überzeugt, dass sie innerhalb der nächsten fünf Jahre mit Klugheit, Geduld 

1 |  Interview mit Vytautas Landsbergis, in: Der Spiegel   (04.02.1991), 175.2 |  Kai Diekmann und Ralf Georg Reuth, Helmut Kohl, Ich wollte Deutschlands Einheit, (Berlin: Propyläen Verlag, 1996), 363.

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Bundeskanzler Kohl befürchtete, dass die Entwicklung im Baltikum negative Auswirkungen auf die zwei-plus-Vier-Gespräche haben könnte. Daher lag ihm daran, die deutsche Frage von der baltischen Frage zu entkoppeln.

und psychologischem Geschick ihr Ziel erreichen könnten.3 Es galt, sowohl eine Machtübernahme durch Militärs oder Hardliner in Moskau als auch die Anwendung von Gewalt in den Warschauer-Pakt-Staaten abzuwenden. Ein öffentlicher 

Einsatz des Westens für die Souveränität der sowjetischen Republiken lag daher zunächst nicht  im  Interesse  der  Bundesregierung. Somit  behandelte  die  Kohl-Administration die baltischen Unabhängigkeitsbestrebungen vorerst als innersowjetische Angelegenheit.

Bundeskanzler Kohl befürchtete, dass die Entwicklung im Baltikum  negative  Auswirkungen  auf  die  für  Mai  termi-nierten Zwei-plus-Vier-Gespräche haben könnte. Daher lag ihm daran, die deutsche Frage von der baltischen Frage zu entkoppeln. Als sich die Lage in Litauen nach dem 1. Juli aufgrund der vorübergehenden Aussetzung der Unabhän-gigkeitserklärung entspannte, machten auch die Verhand-lungen zur Lösung der deutschen Frage bis zur Wiederver-einigung Deutschlands am 3. Oktober zügige Fortschritte.

Die baltischen Länder mussten sich mit der vollständigen Wiederherstellung und Anerkennung ihrer Unabhängigkeit bis  ins  Jahr  1991  gedulden.  Nach  den  blutigen  Zusam-menstößen  der  Unabhängigkeitsbewegung  Litauens  und Lettlands mit der sowjetischen Spezialpolizeieinheit OMON in Vilnius und Riga im Januar 1991 wandte sich der deut-sche Bundeskanzler  an den  sowjetischen Regierungschef Gorbatschow mit der Forderung, „jeder weiteren Gewalt-anwendung Einhalt zu gebieten und zum Weg des Dialogs und der Verständigung zurückzukehren‟4. Als Zeichen der Solidarität  empfing  Bundesaußenminister  Hans-Dietrich Genscher  die  kommissarischen  Außenminister  Estlands und  Lettlands,  Lennart  Meri  und  Janis  Jurkāns,  wenige Wochen später  in Bonn. Damit  signalisierte die deutsche Regierung den Balten den lange erhofften Beistand, wenn-gleich sie deren Eigenstaatlichkeit weiterhin nicht  formell anerkannte. 

Das  deutsche  Engagement  und  die  Zusammenarbeit mit dem Baltikum nahmen nach den Vorfällen in Riga und Vilnius  

3 |  Vgl. ebd., 363-366.4 |  Nach Staatsminister Schäfer am 28.01.1991, in: Bundes- drucksache 12/66, 1.

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zur Wende in der deutschen Baltikum-politik kam es nach dem Moskauer Putschversuch im Sommer 1991. Wenige Tage später formalisierte die Bundesregierung die Beziehungen zu den baltischen Republiken.

merklich zu: Im Februar beantragte die SPD-Bundestags-fraktion die Errichtung eines baltischen Informationsbüros in Deutschland, im April öffnete das deutsche Kulturinstitut in Tallinn, und im Juni gründete der Abgeordnete Wolfgang von Stetten (CDU) die Deutsch-Baltische Parlamentarier-gruppe. Zur  Wende  in  der  deutschen  Baltikumpolitik  kam  es nach  dem  Moskauer  Putschversuch  im  Sommer  1991. Die  OMON-Übergriffe  und  der  Putsch  in  Moskau  hatten deutlich  die  Schwäche  der  kommunistischen Machthaber im  Kreml  einerseits  und  die  Entschlossenheit  der  Unab-hängigkeitsbewegungen  in  den  drei  baltischen  Ländern andererseits  gezeigt.  Spätestens  seit  diesem  Zeitpunkt war  davon  auszugehen,  dass  der  Verbleib Estlands, Lettlands und Litauens in der Union nicht länger mit friedlichen Mitteln, sondern allenfalls noch mit militärischen Maßnahmen zu sichern war. Die Anwendung von Gewalt jedoch  lag  weder  im  sowjetischen  noch  im westlichen Interesse, denn in der damaligen Situation hätte dies den Verlust des politischen Einflusses des  Kremls  bestätigt  und  die  regionale  Instabilität verschärft. Unter Berücksichtigung der vorangegangenen Ereignisse war zudem davon auszugehen, dass der Kollaps der UdSSR kaum noch zu verhindern war. 

Wenige  Tage  nach  dem  Augustputsch  in  Moskau  forma-lisierte  Deutschland  am  28.  August  1991  als  einer  der ersten  westlichen  Staaten  seine  Beziehungen  zu  den baltischen Republiken. Dabei war nicht von einem Neube-ginn,  sondern  von  einer  Fortsetzung  der  diplomatischen Beziehungen die Rede. Schon in der Erklärung, die sich der Unterzeichnung  der  Urkunden  über  die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den baltischen Staaten anschloss, unter-strich  die  Bundesregierung  die Möglichkeit  von  Assoziie-rungsverhandlungen zwischen der Europäischen Gemein-schaft  (EG) und den neuen Demokratien  im Baltikum zu einem späteren Zeitpunkt.5

5 |  Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundes- regierung Nr. 90 (30.08.1991).

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Einem ersten Belastungstest waren die Beziehungen Deutschlands zu den drei Baltenrepubliken einerseits und Russland andererseits während der Verhandlungen über den Truppenab-zug der russischen Armee unterworfen.

Als  erster  hochrangiger westlicher  Politiker  besuchte  der deutsche  Außenminister  Hans-Dietrich  Genscher  am  11. und 12. September Tallinn, Riga und Vilnius und signali-sierte damit, dass Bonn die drei Republiken unterstützte. Um die zukünftigen Inhalte der deutschen Baltikumpolitik zu identifizieren und zu konkretisieren, setzte er eine parla-mentarische  Evaluierungskommission  ein.  Der  damalige Staatssekretär  Berndt  von  Staden,  ein  Baltendeutscher aus Estland,  übernahm die  Leitung und  schlug  vor,  dass sich Deutschland  bei  den westlichen  und  internationalen Institutionen zum „Anwalt der Balten‟ machen sollte.

DEUTScHE BALTIKUMPOLITIK zWIScHEN UNTERSTüTzUNG UND zURücKHALTUNG

Das  Bundeskanzleramt  verhielt  sich  gegenüber  den jungen  Ostseerepubliken  weiterhin  zurückhaltend,  trotz der  Aufnahme  diplomatischer  Beziehungen  und  der unmittelbar  einsetzenden  umfangreichen  und  mannig-

faltigen  bilateralen  Zusammenarbeit  in kultureller,  wirtschaftlicher  und  sicherheits-politischer  Hinsicht.  Die  deutsch-baltischen Beziehungen  standen  und  stehen  bis  zum heutigen  Tage  im  Schatten  der  deutsch-russischen  Beziehungen.  Zunächst  war  die deutsche  Außenpolitik  darauf  bedacht,  die 

deutsche Wiedervereinigung in keiner Weise zu gefährden; dies galt insbesondere für eine dem Kreml möglicherweise missliebige Politik gegenüber den baltischen Staaten. Aber auch nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten achtete die Bundesregierung darauf, dass die Kontakte zu den baltischen Ländern die Beziehungen zu Moskau nicht belasteten. 

Einem  ersten  Belastungstest  waren  die  Beziehungen Deutschlands zu den drei Baltenrepubliken einerseits und Russland  andererseits  während  der  Verhandlungen  über den Truppenabzug der russischen Armee unterworfen, die sich auch noch unmittelbar nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion befand. Aus Sicht der baltischen Staaten war die Anwesenheit der fremden Streitkräfte eine potenzielle Gefahr für die Integrität und die Sicherheit der drei Republiken. Während Estland, Lettland  

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Aus Bonner Sicht war der Abzug der russischen Streitkräfte aus Estland, Lettland und Litauen neben der regi-onalen Kooperation ein wichtiger Schritt zur Entspannung in der Region.

und  Litauen  die  schnelle  Integration  in  die  westlichen Bündnisse  suchten,  trat  Russland  das  Erbe  der  sowjeti-schen Großmacht an und rechnete das Baltikum als „Nahes Ausland‟  zum  Moskauer  Einflussbereich.  Die  gegensätz-lichen  außenpolitischen  Ziele  sowie  die  divergierenden Geschichtsauffassungen der Verhandlungspartner  führten dazu,  dass  der  Kreml  den  geforderten  Abzug  hinauszö-gerte und immer wieder an neue Bedingungen knüpfte. 

Die baltischen Staaten verfügten weder über die finanzi-ellen Mittel noch über die politische Macht, um ihre nati-onalen Sicherheitsinteressen durchzusetzen. Sie  konnten  Russland  nicht  zwingen,  die Truppen  schnellstmöglich  abzuziehen,  und bemühten sich daher um die Unterstützung der  westlichen  Regierungen.  Auch  Bonn unterstützte die drei Länder und engagierte sich international für den baldigen Abzug der Truppen, riet den  baltischen  Staaten  allerdings,  nicht  gegen,  sondern mit Russland nach Sicherheit zu streben.6 Damit Moskau einem baldigen Rückmarsch zustimmen konnte, bewegten Deutschland  und  die westlichen Staaten  die  drei  Repub-liken  zu  Zugeständnissen,  beispielsweise  bei  der  zeitlich begrenzten  Nutzung  von  Militäranlagen  in  Lettland  und Estland. Außerdem  forderte Bonn die beiden Länder auf, zu überprüfen, ob die von Russland kritisierten Einbürge-rungsbestimmungen  für  die  russischsprachige Minderheit den Vorgaben der KSZE entsprachen, und diese gegebe-nenfalls zu korrigieren. Infolge des internationalen Drucks auf  beide  Seiten  verließen  die  russischen  Truppen  das estnische und lettische Staatsgebiet schließlich fristgerecht zum 31. August 1994, genau ein Jahr nach dem Rückzug der  Einheiten  der  ehemaligen  Okkupationsmacht  aus Litauen.  In  der  Frage  des  Truppenrückzugs  unterstützte die deutsche Regierung die baltische Forderung, da diese mit  den  eigenen  Sicherheitsinteressen  übereinstimmte. Aus Bonner Sicht war der Abzug der russischen Streitkräfte aus  Estland,  Lettland  und  Litauen  neben  der  regionalen Kooperation, etwa im Ostseerat, ein wichtiger Schritt, der zur Entspannung in der Region beitrug.

6 |  Vgl. Udo Bergdoll, „Bonn will Anwalt der Balten sein‟,   in: Süddeutsche Zeitung, 10.07.1993.

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Genscher sicherte seinen baltischen Kollegen zu, dass sich Deutschland für die Assoziierung mit der EG einsetzen werde. Deutlich distanzierter positio-nierte sich die Bundesregierung hin-gegen gegenüber einer Erweiterung der NATO.

Seit  der  Anerkennung  ihrer  Unabhängigkeit  strebten  die baltischen Staaten die Einbindung  in das politische, wirt-schaftliche  und  sicherheitspolitische  Gefüge  der  (west-)europäischen Gemeinschaft an. Dabei nahm die Einbindung in  die  transatlantische  Sicherheitsallianz  für  die  Balten einen  ungleich  höheren  Stellenwert  ein  als  die  Integra-

tion  in die aus  ihrer Sicht eher ökonomisch ausgerichtete EG. Nach den Erfahrungen der rund  fünfzigjährigen  Okkupation  durch  die UdSSR war für die baltischen Länder nach der Wiedererlangung  ihrer  Unabhängigkeit  ein neutraler  Status  ebenso  wenig  eine  Option wie die sicherheitspolitische Kooperation mit 

Russland.  Die  gegenseitigen  Sicherheits-  und  Beistands-verpflichtungen  der  NATO-Partner  stellten  in  den  Augen der  Balten  die  einzige  Garantie  dar,  die  ihnen  dauerhaft Freiheit und Eigenstaatlichkeit versprach.7

Bereits  bei  der  Wiederaufnahme  der  diplomatischen Beziehungen  im  August  1991  sicherte  Genscher  seinen baltischen  Kollegen  zu,  dass  sich  Deutschland  für  die Assoziierung der Republiken mit der EG einsetzen werde. Entsprechend  befürwortete  die  deutsche Regierung  etwa die  Aufnahme  der  drei  Länder  in  das  PHARE-Programm zum 1. Januar 1992 und den Abschluss von Kooperations-abkommen mit  der Gemeinschaft wenige Monate  später. Deutlich  distanzierter  positionierte  sich  die  Bundesregie-rung hingegen gegenüber einer Erweiterung der NATO bis an die Grenze Russlands, obwohl sich sowohl Bundesver-teidigungsminister Volker Rühe als auch später Bundesau-ßenminister Klaus Kinkel aktiv an der Erweiterungsdiskus-sion beteiligten, diese teilweise gar initiierten.

Insbesondere  das  bundesdeutsche  Außenamt  hoffte, dass engere politische Konsultationen und wirtschaftliche Kooperation  im  Ostseeraum  die  Sicherheitsbedürfnisse der  Baltenrepubliken  befriedigen  würden.  Außenminister Genscher war davon überzeugt, dass Sicherheit im Ostsee-raum nur durch eine  institutionalisierte Form der Koope-ration möglich sei, die Balten und Russen gleichermaßen einbezog. Im Herbst 1991 regte Genscher daher zusammen  

7 |  Vgl. Gerd Föhrenbach, „Die Sicherheitskonzepte der baltischen   Staaten‟, in: Sicherheitspolitische Analysen, Nr. 1 (Waldbröl:   Amt für Studien und Übungen der Bundeswehr, 1999).

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Der Außenminister interessierte sich stets weit mehr für die baltischen Staaten als der Bundeskanzler. Diese Rollenverteilung galt 1991/92 für Kohl und Genscher ebenso wie 1992 bis 1998 für Kohl und Kinkel.

mit seinem dänischen Amtskollegen Uffe Ellemann-Jensen eine Konferenz aller Anrainerstaaten der Ostsee an. Das Ergebnis  der  deutsch-dänischen  Initiative  war  die  Grün-dung des Ostseerates am 6. März 1992, an dem sich neben Dänemark und Deutschland ebenso Estland, Finnland, Lett-land,  Litauen, Russland und Schweden  sowie  Island und Norwegen  beteiligten.  In  der Ostseeregion,  in  der  Russ-land aufgrund seines geopolitischen Gewichts und seiner historischen  Rolle  die  sicherheitsrelevante  Agenda  stark beeinflusste, sollte der Rat über den politischen Dialog auf Außenministerebene Vertrauen aufbauen.

Der  Ostseerat8  war  und  ist  trotz  seines  unverbindlichen Mandats ein wichtiges regionales Gremium. In den neun-ziger  Jahren bot  er  eine  neue und  angesichts  der  ange-spannten  baltisch-russischen  Beziehungen  geforderte Möglichkeit zum Austausch und zur Zusammenarbeit der Ostseeanrainer  auf  Augenhöhe.  Bonn  unterstützte  die Zusammenarbeit  der  nord-  und  osteuropäischen  Länder, um seinen ureigenen Sicherheitsinteressen in der Ostsee-region  nachzugehen.  Der  multilaterale  Rahmen  des Ostseerates sollte den Dialog  insbesondere zwischen den Ostseeanrainerstaaten Estland, Lettland und Litauen einerseits und Russland andererseits fördern  und  strittige  Punkte  im  Transfor-mationsprozess  im  Rahmen  dieses  Forums ausräumen.  Darüber  hinaus  beinhaltet  der Ostseerat  eine  ganze  Reihe  von  Initiativen im  Bereich  der  Demokratieförderung,  Wirt-schaftsentwicklung,  Technologie-  und  Wissenstransfer, Umweltschutz, Energiesicherheit, Transport und Kommuni-kation, um die Grundlage für nachhaltiges Wachstum und Stabilität in der Region zu schaffen.

Der Ostseerat,  aber auch die Annäherung der drei  balti-schen Staaten an Europarat, EG und NATO förderten den zeitweiligen  Dualismus  zwischen  deutschem  Außenamt und  Bundeskanzleramt  zutage.  Der  Außenminister  inter-essierte sich stets weit mehr für die baltischen Staaten als der  Bundeskanzler.  Sie  verfolgten  unterschiedliche  Prio-ritäten: Der Minister widmete sich den drei Ländern, der Kanzler konzentrierte sich auf die Beziehungen zu Moskau. Diese Rollenverteilung galt 1991/92 für Kohl und Genscher 

8 |  Vgl. www.cbss.com 

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Die Verhandlungen über die Erwei-terung von EG und NATO nach Osten schritten auch nach dem Führungs-wechsel im Auswärtigen Amt zu Klaus Kinkel nur langsam voran.

ebenso wie 1992 bis 1998 für Kohl und Kinkel. Die Politiker verfolgten damit keine strategische Arbeitsteilung, sondern vertraten  unterschiedliche  Ansichten  zur  europäischen Integration  der  baltischen  Staaten.  So  war  das  Auswär-tige Amt überzeugt, dass die baltischen Republiken gleich den  anderen MOE-Ländern  zu  einem  erweiterten  Europa gehörten, und unterstützte daher deren Bemühungen um eine  baldige,  umfassende  Mitgliedschaft  in  den  europäi-schen  Institutionen  und Organisationen.  Das  Kanzleramt hingegen  stand  der  EG/EU-Mitgliedschaft  der  baltischen Länder teilweise gleichgültig bis skeptisch gegenüber und bremste entsprechende Bestrebungen. Ebenso lehnte das Bundeskanzleramt zunächst die Erweiterung der NATO bis 

an die westliche Außengrenze Russlands ab, in erster Linie erneut, um nicht die  für den Wiedervereinigungsprozess wichtigen Partner im Kreml zu brüskieren. Angesichts der Kritik des  Kremls  an  den  Erweiterungsplänen  der NATO  plädierte  Bonn  für  einen  „Mittelweg 

zwischen der Vollmitgliedschaft und der  lockeren Zusam-menarbeit  im Kooperationsrat‟9.  Für die Balten hingegen hatte  die  Aufnahme  in  die militärische  Sicherheitsallianz oberste Priorität, da sie sich dadurch letzten Endes die für sie wichtigen Sicherheitsgarantien gegenüber einer mögli-chen Aggression aus Russland erhofften.

Die Verhandlungen über die Erweiterung von EG und NATO nach  Osten  schritten  auch  nach  dem  Führungswechsel im Auswärtigen Amt zu Klaus Kinkel nur  langsam voran. Angesichts der Schwierigkeiten im Transformationsprozess in  den  postsowjetischen  Ländern  reagierte  Deutschland im  Frühjahr  1993  zurückhaltend  auf  den  Vorschlag  der dänischen  EG-Ratspräsidentschaft,  mit  den  baltischen Ländern zeitnah Freihandelsabkommen zu verabschieden. Den Wunsch  der  Balten,  in  naher  Zukunft mit  Verhand-lungen über die Assoziierung zu beginnen, hielt Bonn zu diesem Zeitpunkt für unrealistisch. Damit signalisierte die deutsche Regierung,  dass  sie  die  drei  Länder noch nicht für beitrittsfähig hielt, da derartige Gespräche in der Regel den  Abschluss  von  Europa-Abkommen  und  die  damit verbundene  Perspektive  der  EG-Vollmitgliedschaft  nach sich zogen.

9 |  Karl Feldmeyer, „Auf der Suche nach einem Mittelweg‟,   in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.10.1993.

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Als ziel der EU-Ratspräsidentschaft 1994 formulierte Deutschland, inner-halb von sechs Monaten EU-Assoziie-rungsabkommen mit allen drei balti-schen Ländern zu unterzeichnen.

Die  Zurückhaltung  der  Bundesregierung  wich  erst,  als  Deutschland im Juli 1994 turnusgemäß selbst den EU-Rats- vorsitz  übernahm.  Es  wurde  als  erklärtes  Ziel  der  Rats-präsidentschaft formuliert, die MOE-Staaten weiter an die  Union heranzuführen sowie  innerhalb von sechs Monaten EU-Assoziierungsabkommen mit allen drei baltischen Län- dern  zu  unterzeichnen.  Entsprechend  beschrieb  Bundes-außenminister Kinkel in einem Namensartikel die Haltung der Bundesregierung im März 1994:

„Deutschland befürwortet mit Nachdruck, die balti-schen Staaten konsequent über eine Assoziation zu einer vollen Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu führen. Wir wollen diesen Staaten rasch und groß-zügig dabei helfen, den ihnen gebührenden Platz in Europa zu finden. Als Fürsprecher und Anwalt der baltischen Staaten setzen wir uns dafür ein, noch in diesem Jahr Europa-Abkommen mit den baltischen Staaten abzuschließen. Die Europäische Union bliebe unvollkommen, wenn nicht eines Tages auch alle drei baltischen Staaten Mitglieder würden.‟10

Während  der  deutschen  Ratspräsidentschaft  appellierte Bonn wiederholt an die europäischen Staats- und Regie-rungschefs,  der  baldigen  Aufnahme  von  Assoziierungs-gesprachen  mit  den  baltischen  Ländern  zuzustimmen. Schlussendlich  entschied  der  Europäische  Rat  auf  dem Essener EU-Gipfel am 9. und 10. Dezember 1994  einstimmig,  die  Verhandlungen  mit Litauen,  Lettland und Estland über  Europa-Abkommen  aufzunehmen.  Damit  hatte  die Bundesregierung die europäische Integration der  baltischen  Staaten  maßgeblich  voran-gebracht. Die  rasche Unterzeichnung der Abkommen mit allen drei baltischen Staaten war ein Erfolg für die deutsche Außenpolitik  und  förderte  das Selbstverständnis  der  drei jungen Demokratien als Teil des westlichen Wertekanons. Die  Beschlüsse  unterstrichen,  deutlich  an  die  Adresse Moskaus gerichtet, die Souveränität und die europäische Perspektive der drei Staaten.

10 | Klaus Kinkel, „Die Zukunft des Baltikums liegt in Europa‟,   in: Die Welt, 05.03.1994.

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76 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 9|2010

Die Balten waren enttäuscht, dass sich Bonn ausweichend verhielt und ihr Anliegen, bereits in der ersten Erweite- rungsrunde aufgenommen zu werden, nicht unterstützte.

Aller  Unterstützung  vor  und  während  der  deutschen EU-Ratspräsidentschaft  zum  Trotz  hielt  sich  die  deut-sche  Bundesregierung  jedoch  auch  weiterhin  mit  einem 

eindeutigen  Fahrplan  für  die  Aufnahme  der baltischen  Länder  in  die  EU  zurück.  Unter Berücksichtigung  der  russischen  Interessen plädierte  der  deutsche  Kanzler  zunächst nur  für  die  uneingeschränkte  Aufnahme 

Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns als neue Mitglieder  in  der  EU  und  NATO.  Der  Beitritt  der  übrigen MOE-Staaten zu auch nur einer der beiden Organisationen wurde zunächst auf die undatierte Zukunft geschoben.

Die  Position  der  Bundesregierung  bezüglich  der  Erweite-rungsperspektive der Länder Mittel- und Osteuropas legte Bundesverteidigungsminister  Rühe  im  November  1996 bei einer Vortragsreise nach London dar:  „Die wichtigste Botschaft an die Länder, die noch nicht Mitglied werden, ist das politische Signal: Wir sind in einem offenen politischen Prozess;  wir  sagen  nicht  ‚nein‛,  sondern  ‚noch  nicht‛.‟11 Dass die baltischen Staaten zu den „Noch-nicht‟-Beitritts-kandidaten  gehören  würden,  galt  zu  diesem  Zeitpunkt bereits  als  wahrscheinlich.  Die  Balten  waren  enttäuscht, dass sich Bonn so ausweichend verhielt und ihr Anliegen, bereits in der ersten Erweiterungsrunde aufgenommen zu werden, nicht wie gehofft unterstützte.12

Kurz nach dem Entschluss der kleinen NATO-Erweiterung im Juli 1997 legte die EU-Kommission ihre Stellungnahmen zur Beitrittsfähigkeit der zehn Kandidaten vor. Sie empfahl, die Gespräche zunächst mit Estland, Polen, Slowenien, der Tschechischen Republik, Ungarn und Zypern zu beginnen. Um  zu  verhindern,  dass  die  Zurückstellung  und  Enttäu-schung Lettlands und Litauens die bereits geleisteten und noch  notwendigen  Reformprozesse  beeinträchtigten,  traf der  deutsche Außenminister  im Oktober  1997  seine  drei baltischen  Amtskollegen  in  Riga.  Dabei  ermutigte  er  die beiden südlichen Baltenrepubliken, das estnische Beispiel anführend,  ihre  Reformbemühungen  weiter  fortzusetzen und an den Kopenhagener Kriterien auszurichten.

11 | Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregie- rung, Nr. 94 (22.11.1996).12 | Jasper von Altenbockum, „Die baltischen Staaten sind von   Bonn enttäuscht‟, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,   19.07.1996.

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Lettland und Litauen setzten in der zweiten Runde den Acquis commu-nitaire erfolgreich um und konnten gemeinsam mit Estland am 1. Mai 2004 der EU beitreten.

Die von 1998 bis 2005 amtierende Koalition aus SPD und Bündnis  90/Die  Grünen  unter  Bundeskanzler  Gerhard Schröder  führte  im  Wesentlichen  die  verbindlich-unver-bindliche  Baltikumpolitik  der  Vorgängerregierung  fort. Dabei  fürchteten  die  MOE-Staaten  vor  allem  zu  Beginn der rot-grünen Regierung, dass Bonn sich in Zukunft noch weniger für die Erweiterung der Union interessieren würde als bisher. Im Vorfeld des Wiener EU-Gipfels im Dezember 1998 betonte Bundeskanzler Schröder, dass der Zeitpunkt der  Erweiterung  noch  nicht  feststünde  und  es  aufgrund weiterhin  offener  Fragen  leichtfertig  sei,  terminliche Zusagen  zu  machen.  Auch  das  Lippenbekenntnis  seines Außenministers  Joschka  Fischer,  Deutschland  verstünde sich  weiterhin  als  „Anwalt  der  Mittel-  und  Osteuropäer in der EU‟13, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass keines  der  Kabinettsmitglieder  der  rot-grünen  Koalition sich besonders für das Baltikum engagierte. Berlin förderte in diesen Jahren weder den Fortgang der Verhandlungen mit Estland noch die Aufholprozesse Lettlands und Litauens nachdrücklich. Dennoch setzten auch Lettland und Litauen in der zweiten Runde den Acquis communitaire erfolgreich um und konnten gemeinsam mit Estland und fünf weiteren Ländern Mittel-  und Osteuropas  sowie Malta und Zypern am 1. Mai 2004 der EU beitreten, nachdem bereits zuvor die Aufnahme in die NATO erfolgt war.

Für Verstimmung  in den baltisch-deutschen Beziehungen sorgte  das  von  einem  russisch-deutschen  Firmenkonsor-tium geführte milliardenschwere Erdgaspro-jekt  Nord  Stream,  das Wyborg  in  Russland mit  seinem  Endpunkt  Lubmin  nahe  Greifs-wald in Deutschland verbinden und ab 2012 bis zu 55 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich in  die  EU  transportieren  soll.  Im  Prozess der  Vorbereitung  des  Projektes,  das  Teil  des  Europäi-schen  Energienetzwerkes  werden  soll,  fühlten  sich  die drei Baltischen Länder von den für das Projekt werbenden Regierungen  Russlands  und  Deutschlands  wenn  nicht gleich  übergangen,  so  zumindest  nicht  hinreichend  über die Pläne informiert. Angesichts des wenig diplomatischen Vorgehens  von  Bundeskanzleramt  und  Kreml  in  dieser Angelegenheit  sowie  der  offen  zur  Schau  getragenen 

13 | Interview mit Joseph Fischer, in: Süddeutsche Zeitung,   27.11.1998.

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Der Georgien-Konflikt im Sommer 2008 hat in den Baltischen Ländern aufgrund vergleichbarer Erfahrungen mit der sow- jetischen Expansionspolitik zu großen emotionalen Reaktionen geführt.

„Männerfreundschaft‟14  zwischen  Gerhard  Schröder  und Russlands  Präsident  Wladimir  Putin  zogen  eine  ganze Reihe von baltischen Politikern in der öffentlichen Diskus-sion Parallelen zum Hitler-Stalin-Pakt, als zwischen Berlin und Moskau über die Zukunft der baltischen Republiken als Teil der sowjetischen Einflusszone entschieden worden war. Obwohl  der  Vergleich  an  sich  jeder  Grundlage  entbehrt, ist  er  dennoch  ein  Beleg  für  die  tiefe  Verunsicherung und  das  mangelnde  Selbstbewusstsein  der  Balten  nach der  fünfzigjährigen  Besatzungszeit.  Dass  eine  gewisse Skepsis  gegenüber  einem  ehemaligen  Besatzungsregime vorherrscht, das die Auflösung der Sowjetunion als „größte 

geopolitische Katastrophe des (zwanzigsten) Jahrhunderts‟15  bezeichnet,  sowie  gegen-über  dessen  politischem  Partner,  der  den Urheber dieses Statements als „lupenreinen Demokraten‟  charakterisiert16,  ist  nachvoll-ziehbar.  Nicht  zuletzt  der  Georgien-Konflikt 

im Sommer 2008 hat in den Baltischen Ländern aufgrund vergleichbarer Erfahrungen mit der sowjetischen Expansi-onspolitik im zwanzigsten Jahrhundert zu großen emotio-nalen Reaktionen geführt.17

FAzIT

Das Verhältnis Deutschlands zu den baltischen Nachbarn wurde in den zurückliegenden zwanzig Jahren im Wesent-lichen sowohl vom Bemühen der jeweiligen Bundesregie-rung um gute Beziehungen zu Russland als auch von der historisch-politischen  Verbundenheit  Deutschlands  zum Baltikum geleitet.

14 | Vgl. Michael Thumann, „Anatomie einer Männerfreund-  schaft‟, in: Die Zeit, 09.09.2004, abrufbar unter:   http://zeit.de/2004/38/Putin_2fSchr_9ader [05.08.2010].15 | Rede des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin zur   Lage der Nation vor der Duma am 25.04.2005, zitiert nach:   Russland Analysen, Nr. 63 vom 29.04.2005, 13.16 | So der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder auf die   Frage von Reinhold Beckmann, ob er den russischen Staats-  präsidenten Wladimir Putin als lupenreinen Demokraten   betrachte. Beckmann, ARD, 22.11.2004.17 | Vgl. zur Einschätzung des außenpolitischen Anspruchs   Russlands unter Putin u.a. Erich G. Fritz, „Gute Worte –   Falsche Taten‟, in: Die Politische Meinung Nr. 440, Juli 2006,   53-56.

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Bis  zum  Jahr  1990  war  es  das  Primat  der  deutschen Außenpolitik,  die  Wiedervereinigung  Deutschlands  in Frieden und Freiheit unter Beibehaltung der europäischen und transatlantischen Partnerschaften zu erreichen. Nach der Wahl Michail Gorbatschows  zum Generalsekretär der KPdSU  und  seiner  anschließenden Reformpolitik  bot  sich der  Bundesregierung  unter  der  Führung  Helmut  Kohls dieses möglicherweise einmalige „window of opportunity‟ zur  Vereinigung  beider  deutscher  Staaten.  Die  Einheit Deutschlands war allerdings auch zu diesem Zeitpunkt nur mit  dem  Wohlwollen  und  der  Zustimmung  Moskaus  auf friedlichem Wege zu erreichen und konnte nur mit entspre-chenden Sicherheitsgarantien an den Kreml einhergehen. Wenn die deutsche Politik eine zurückhaltende Position zu den baltischen Wünschen einnahm, wie bei den baltischen Forderungen  nach  Unabhängigkeit  und  Aufnahme  in  die NATO, geschah dies um der deutschen Interessen willen. 

Deutschland  setzte  sich  immer  dann  aktiv  auch  für  die baltischen  Belange  ein,  wenn  derartiges  Verhalten  die Erreichung der eigenen nationalen Ziele nicht gefährdete. Keine deutsche Regierung konnte die Position des Kremls zum  Baltikum  ignorieren,  wenn  sie  das  Wohlwollen  der Moskauer  Führung  und  damit  die  von  ihr  angestrebten Ziele  nicht  aufs  Spiel  setzen  wollte.  Die  konfliktreichen Beziehungen zwischen Moskau und den baltischen Staaten, beispielsweise  in Hinblick  auf  den Truppenabzug und die russischsprachige  Minderheit,  verkomplizierten  die  Lage zusätzlich.  Unter  diesen  Bedingungen  entschieden  sich die  deutschen  Regierungen  für  eine  Baltikumpolitik,  die Deutschland wiederholt den Vorwurf zu großer Rücksicht-nahme auf Moskau eintrug.

Der  zweite  bedeutende  Faktor,  der  auf  die  Politik  der Bundesregierungen  einwirkte,  war  die  wechselvolle deutsch-baltische  Geschichte.  Das  heutzutage  in  der Summe positiv  bewertete Wirken  des Deutschen Ordens und der Deutschbalten seit dem 13. Jahrhundert einerseits und  die  negativen  Auswirkungen  des  Hitler-Stalin-Pakts vom August 1939 andererseits begründeten Deutschlands Verbundenheit mit und Verantwortung gegenüber den drei Republiken. Vor allem in den ersten Transformationsjahren verwies die Bundesregierung häufig auf diese historischen  

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Während sich die Balten eine eindeu-tigere Positionierung zu ihren Gunsten wünschen würden, erwartet Deutsch-land im Umkehrschluss eine größere Gelassenheit im Umgang mit dem rus-sischen Nachbarn.

Determinanten. Die daraus resultierende Verpflichtung war und ist eine wichtige Antriebskraft der deutschen Baltikum-politik.

Ob Deutschland der  selbst  zugeführten Rolle als  „Anwalt der Balten‟ immer gerecht wurde, ist vielerorts diskutiert worden.18 Insgesamt lässt sich konstatieren, dass sich alle deutschen  Regierungen  von  Helmut  Kohl  über  Gerhard Schröder bis  zu Angela Merkel  sowohl  in  den  internatio-nalen  Organisationen  als  auch  über  bilaterale  Vereinba-rungen für die baltischen Staaten engagierten, wenn auch mit wechselnder Intensität. Sowohl die Aufnahme Estlands, Lettlands und Litauens in die Europäische Union als auch in die NATO wäre ohne das Zutun der deutschen Außen-politik so rasch nicht möglich gewesen. Bis zum heutigen 

Tage  bieten  sowohl  Kanzleramt  als  auch Außenamt  ihre  unterstützende  und  vermit-telnde Rolle auf europäischer Ebene an, um für  die  Balten  zentrale  Fragen  der  inneren und  äußeren  Sicherheit  zu  befördern.  Dass der Ton die Musik auch auf dem außenpoliti-

schen Parkett bestimmt, ist spätestens seit der Diskussion um die Verlegung der Ostseepipeline Nord Stream im Jahr 2005 offenbar geworden.

Immer wenn es darauf ankam, wie beispielsweise während der Zwischenfälle in Vilnius und Riga zu Beginn des Jahres 1991  oder  während  der  heißen  Phase  des  Georgien-Konfliktes  im  August  2008,  die  auf  einen  Besuch  der Bundeskanzlerin  Angela  Merkel  in  Tallinn  fiel,  stand  die deutsche  Bundesregierung  solidarisch  hinter  den  balti-schen  Freunden  und  Partnern.  Während  sich  die  Balten von den deutschen Partnern jedoch auch in konfliktfreien Phasen eine eindeutigere Positionierung zu ihren Gunsten wünschen  würden,  erwartet  Deutschland  im  Umkehr-schluss  eine  größere  Gelassenheit  im  Umgang  mit  dem russischen  Nachbarn  insbesondere  vor  dem  Hintergrund der unumkehrbaren Verankerung der baltischen Länder in der Europäischen Union und der Transatlantischen Sicher-heitsallianz.

18 | Vgl. Helge Danchert, ‚Anwalt der Balten‛ oder Anwalt in eigener Sache?: Die deutsche Baltikumpolitik 1991-2004,   (Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2008).

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Jörg Wolff / Laura-Theresa Jaspers

Deutschland und Frankreich sind in vielfältiger Weise und mit engmaschigen Netzwerken verbunden. Dies gilt für den politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Bereich wie für die kulturellen und zivilgesellschaftlichen Ebenen. Dabei kommt der politischen Zusammenarbeit mit ihren umfassenden Abstimmungs- und Kooperationsmecha-nismen im internationalen Vergleich eine einzigartige Stel-lung zu. Die gegenseitige Verflechtung zwischen beiden Nachbarländern ist tiefer als mit irgendeinem anderen Staat. Sie ist langfristig-strategisch angelegt und prägte in der Vergangenheit entscheidend den europäischen Integrationsprozess. Insoweit ist es nachvollziehbar, wenn die bilateralen Beziehungen als „deutsch-französisches Tandem‟, als „europäischer Motor‟ oder als „Schwungrad für Europa‟ bezeichnet werden. Die deutsch-französische Aussöhnung war am Ende des Zweiten Weltkrieges alles andere als selbstverständlich. Sie stellt in ihrem Ergebnis eine herausragende politische Leistung von geschicht-lichem Format dar. An ihre Grundlagen ist besonders in Zeiten gelegentlicher Irritationen und Missverständnisse zwischen beiden Ländern immer wieder zu erinnern.

EntwicklungsphasEn dEr dEutsch-französischEn BEziEhungEn

Die deutsch-französischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg werden in der Regel in drei Phasen eingeteilt. Die erste Periode war von der Versöhnung beider Länder und ihrem Ausgleich geprägt und mit dem europäi-schen Neubeginn verbunden. Dafür steht die historische

Jörg Wolff ist Aus-landsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Paris.

ÜBEr diE BEfindlichkEitEn dEs dEutsch-französischEn paarEs zwEi JahrzEhntE nach dEr wiEdErvErEinigung

Laura-Theresa Jaspers studiert Romanistik in Dresden und war von April bis Juli 2010 im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer- Stiftung in Paris tätig.

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die sicht der krisenreichen vierten republik (1948 bis 1956) auf den deut- schen nachbarn war von vorsichtigem Misstrauen, sicherheitserwägungen und kontrollabsichten geprägt.

Unterzeichnung des Élysée-Vertrages 1962. Es folgten Jahrzehnte der Institutionalisierung und Dynamisierung der bilateralen Zusammenarbeit und des weiteren Aufbaus der Europäischen Gemeinschaft. Diese zweite Phase dauerte bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990. Die darauf

aufbauende europäische Osterweiterung, die Jahre von Maastricht bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion mit ihrem Stabilitäts- und Wachstumspakt und die Europäische Sicherheits- und Verteidi-

gungspolitik charakterisieren bis heute die dritte Phase der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Eine vierte Phase, an deren Beginn wir gegenwärtig stehen, wird sich vermehrt mit der Weiterentwicklung einer gemeinsamen Politikgestaltung auf bilateraler Ebene befassen müssen. Daneben gilt es, eine tragfähige Übereinstimmung für die Umsetzung des Vertragswerkes von Lissabon zu erzielen, europäische Handlungsoptionen für die Gestaltung einer internationalen Ordnung zu finden und insgesamt die Frage der Rolle Europas in einer neuen multipolaren Welt überzeugend zu beantworten.

dEr BEginn: Europa als gEBurtshElfEr

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war nach den beiden Weltkriegen ein starker Antagonismus fest im kollektiven Bewusstsein der beiden Völker verankert, der sich auch in dem Begriff „Erbfeindschaft‟ äußerte.1 So war die Sicht der krisenreichen Vierten Republik (1948 bis 1956) auf den deutschen Nachbarn von vorsichtigem Misstrauen, Sicherheitserwägungen und Kontrollabsichten geprägt. Man fürchtete ein Erstarken des Nachbarn und damit eines neuen Nationalismus. Daher war Paris zunächst bestrebt, Deutschland durch eine verstärkte Föderalisie-rung zu kontrollieren. Die westlichen Siegermächte, insbe-sondere die USA, forderten wegen des Koreakrieges und des Beginns des Kalten Krieges jedoch eine rasche Inte-gration Deutschlands in die westliche Gemeinschaft. Auf dieser Grundlage strebte Frankreich in seiner Europapolitik

1 | Vgl. Wolfram Vogel, „Die deutsch-französischen Beziehungen‟, in: Adolf Kimmel und Henrik Uterwedde (Hrsg.), Länder- bericht Frankreich. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesell- schaft (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005), 419.

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trotz des scheiterns einer Europäischen verteidigungsgemeinschaft wurde das ziel eines vereinten Europas und der deutsch-französischen annäherung in deutschland vor allem durch konrad adenauer weiterverfolgt.

Sicherheit gegenüber Deutschland durch Einbindung und Kontrolle an und versuchte gleichzeitig, seine eigene Führungsrolle in Westeuropa auszubauen. Jedoch konnte nur die Lösung der für Frankreich essenziellen Themen wie die Kontrolle des Ruhrgebietes, die Saarfrage und die Sorge vor einer deutschen Wieder-bewaffnung den Weg für eine deutsch-fran-zösische Versöhnung ebnen.2 Dem kam auch die Bildung einer Förderation europäischer Staaten entgegen, die 1949 in Form des Europarats gelang.

Ein weiterer Impuls erfolgte durch den Vorschlag Robert Schumans vom 9. Mai 1950, durch eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) die gesamte deutsche und französische Montanindustrie zusammenzu-fassen und einer gemeinsamen Aufsichtsbehörde zu unter-stellen. Er wurde 1951 als Montanunion unter Einbezug der Benelux-Staaten und Italiens verwirklicht. Dadurch konnten Frankreich und Deutschland „ihre Länderbeziehung auf den gemeinsamen Bezugspunkt einer neu zu schaffenden Europäischen Gemeinschaft ausrichten‟3. Frankreich suchte durch dieses Projekt maßgeblich sicherheitspoliti-sche Interessen umzusetzen, während Deutschland darin eine Möglichkeit sah, auf europäischer Ebene schrittweise seine Souveränität zurückzuerlangen und einen wich-tigen Schritt der Westbindung zu vollziehen. Trotz des Scheiterns einer Europäischen Verteidi gungsgemeinschaft wurde das Ziel eines vereinten Europas und der deutsch-französischen Annäherung in Deutschland vor allem durch Konrad Adenauer weiterverfolgt.

Mit der Wiederangliederung des Saarlandes an die Bundes-republik nach einer Volksabstimmung 1955 war der Weg für eine volle Aussöhnung beider Staaten frei. Trotz der krisenreichen letzten Jahre der Vierten Republik konnten nach der Bildung der Euratombehörde die Römischen Verträge unterzeichnet werden, welche die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) als Kern der heutigen Europäischen Union (EU) errichteten. Die deutsch-fran-zösischen Beziehungen wurden in diesem Zeitraum auf beiden Seiten des Rheins primär als nötiges Werkzeug für

2 | Vgl. Vogel (2005), 420.3 | Ebd., 420.

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die enge annährung beider länder fand ihren abschluss im „Élysée-vertrag‟. Er symbolisierte die versöh-nung beider völker als geschichtliches Ereignis.

die Ausgestaltung der europäischen Einigung verstanden.Die Fünfte Republik (seit 1958) wurde in den ersten elf Jahren von der Persönlichkeit Charles de Gaulles domi-niert. Seine Außenpolitik war durch die Aufrechterhaltung einer weitgehenden Unabhängigkeit Frankreichs gekenn-

zeichnet. Er sprach sich gegen die Abgabe von Souveränitätsrechten an die EWG aus und verfolgte das Ziel eines „Europas der Vaterländer‟. Folgerichtig zog er Frankreich aus den Strukturen der NATO zurück und

baute eine eigene Atomstreitmacht auf. Bereits 1958 lud er Konrad Adenauer nach Colombey-les-Deux-Églises ein, wo beide die Grundlagen für eine stärkere bilaterale Zusam-menarbeit und Aussöhnung legten.4 Es war der Ausgangs-punkt einer engen Annäherung beider Länder.

Sie fand ihren Abschluss im „Vertrag zwischen der Bundes-republik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit‟, der seither nach dem Dienstsitz des französischen Präsidenten „Élysée-Vertrag‟ genannt wird. Er markierte „sowohl das Ende als auch den Anfang einer Entwicklung‟5 und symbo-lisierte die Versöhnung beider Völker als geschichtliches Ereignis. Er setzte die Erkenntnis beider Staatsmänner um, dass beide Völker solidarisch miteinander verbunden sein müssen und eine enge Zusammenarbeit ein unerlässlicher Teil des Weges zu einem vereinten Europa sei. Wie Konrad Adenauer selbst in seinen Erinnerungen ausführt, werde dieser Vertrag von der Geschichtsschreibung als eines der wichtigsten und wertvollsten Vertragswerke der Nach-kriegszeit bezeichnet.

dEr ElysÉE-vErtrag: fundaMEnt fÜr vErsöhnung und zukunft

Ob der Élysée-Vertrag im Sinne Charles de Gaulles als Gegengewicht gegen die beiden Supermächte gedacht war oder nicht bzw. ob er mit ihm ein vereinigtes Europa unter französischer Führung anstrebte, ist unerheblich. Denn

4 | Vgl. Ernst Weisenfeld, „Deutsch-Französische Beziehungen 1945-2007‟, in: Ingo Kolboom, Thomas Kotschi und Edward Reichel (Hrsg.), Handbuch Französisch. Sprache, Literatur, Kultur, Gesellschaft. Für Studium, Lehre, Praxis (Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2008), 680.5 | Vogel (2005), 422.

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von zentraler Bedeutung haben sich die bilateralen treffen zwischen staats- und regierungschefs erwiesen, die mindestens zweimal jährlich stattfin-den und einen strukturbildenden cha-rakter für das deutsch-französische verhältnis angenommen haben.

der Vertrag gestaltet bis heute grundlegend das Verhältnis beider Länder zueinander und er legte das organisatori-sche und programmatische Fundament für eine enge bila-terale Zusammenarbeit und Abstimmung. Seine Forderung nach regelmäßigen Konsultationen und Koordinationen zur Behandlung von Fragen „von gemeinsamem Inter-esse‟ soll „soweit wie möglich zu einer gleichgerichteten Haltung‟ führen. Rückblickend liegt die Bedeutung des Vertrags heute vor allem in der Erkenntnis, dass unter-schiedliche Positionen und Interessen beider Länder ein gemeinsames Handeln nicht verhindern, sondern tragbare Konsense und damit sinnvolle Politikoptionen ermöglichen. In diesem Sinne drückte und drückt er den gemeinsamen Willen beider Länder aus, das gegenseitige Verständnis zu vertiefen, die Kooperation zu institutionalisieren und auszubauen. Dies hat sich in der Folge als Stabilisie-rungs- und Vertrauensfaktor für die deutsch-französische Partnerschaft erwiesen und wurde von allen Regierungen, unabhängig von parteipolitischen Richtungen, auch als Verpflichtung betrachtet.

Der Vertrag legte die Zusammenarbeit in Bereichen der auswärtigen Angelegenheiten, der Verteidigung sowie in Erziehungs- und Jugendfragen fest. Von zentraler Bedeu-tung haben sich die bilateralen Treffen zwischen Staats- und Regierungschefs erwiesen, die mindes-tens zweimal jährlich stattfinden und einen strukturbildenden Charakter für das deutsch-französische Verhältnis angenommen haben. Sie haben ferner zu vielen Gemeinschaftspro-jekten geführt. Darüber hinaus hat sich auf der Grundlage des Vertrags, wie zu Recht in einer im Mai erschienen KAS/Ifri-Studie zu den deutsch-französischen Beziehungen festgestellt wurde, „von Gipfel zu Gipfel und Jahrestag zu Jahrestag eine Viel-falt an Kooperationsstrukturen zwischen den Regierungen, den Behörden, den Ministerien und den Zivilgesellschaften entwickelt, die in der Welt einzigartig ist‟.6

6 | Hans Stark, „Rück- und Ausblick: Frankreich – Deutschland, eine komplexe Beziehung‟ in: Konrad-Adenauer-Stiftung Frankreich (Hrsg.), Deutschland – Frankreich: Fünf Visionen für Europa / France – Allemagne: Cinq visions pour l’Europe (Paris: Konrad-Adenauer-Stiftung, 2010), 25.

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als günstiger faktor kamen mit valéry giscard d’Estaing und helmut schmidt nahezu gleichzeitig zwei politiker an die Macht, die sich kannten – und schätzten.

diE zusaMMEnarBEit iM wandEl dEr zEitEn

Der Ausbau des Vertrags stand in der Folge zunächst im Mittelpunkt der Beziehungen, wenngleich von Frankreich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre „gemeinsame Aktionen‟ angemahnt wurden. Unter der Präsidentschaft von Georges Pompidou verzeichnete der deutsch-franzö-sische Bilateralismus kaum Aufwind. Die Ostpolitik von

Willy Brandt weckte Befürchtungen, dass die Bundesrepublik sich nach Osten orientieren könnte und Frankreich nicht in diese neue Phase der europäischen Politik einbezogen sei. In der Zwischenzeit hatte sich auch

die wirtschaftliche Bedeutung zugunsten Deutschlands verschoben und damit das in französischen Augen wich-tige „relative Gleichgewicht‟7 verändert. Die Währungs-politik sowie die Zukunft des Gemeinsamen Agrarmarktes ergaben weitere Unstimmigkeiten. Dennoch konnten bemerkenswerte Vereinbarungen abgeschlossen werden, so die gemeinsame Produktion des Airbus (1969), die Errichtung deutsch-französischer Gymnasien und 1972 die Einführung des deutsch-französischen Abiturs.

Die zweite bedeutende Phase der deutsch-französischen Zusammenarbeit begann in den siebziger Jahren vor dem Hintergrund der ersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit und der Neuordnung des internationalen Währungssys-tems. Als günstiger Faktor für das deutsch-französische Verhältnis kamen mit Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt nahezu gleichzeitig zwei Politiker an die Macht, die sich bereits aus ihren vorigen Funktionen als Finanzminister kannten – und schätzten. Die Zugkraft dieses „Tandems‟ konzentrierte sich auf bemerkenswerte wirtschaftliche, europäische und internationale Initiativen mit bleibender Substanz: Abstimmung der ökonomischen Entwicklung beider Länder mit Blick auf eine künftige europäische Wirt-schafts- und Währungsunion (WWU), Schaffung des euro-päischen Rates der Staats- und Regierungschefs, Errich-tung eines Weltwirtschaftsgipfels (G7) und Einführung des Europäischen Währungssystems (EWS).8

7 | Vgl. Vogel (2005), 424 ff.8 | Ebd., 425.

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frankreichs reaktionen auf die wie-dervereinigung blieben verhalten. die französische regierung übte sich in einer „verzögerungstaktik‟.

Das deutsch-französische Verhältnis war zu Beginn der achtziger Jahre von der internationalen sicherheitspoliti-schen Lage bestimmt, die von dem Doppelbeschluss der NATO (1979) dominiert war und zu einer Verschlechte-rung der Ost-West-Beziehungen führte. Der Nachrüs-tungsbeschluss komplizierte zunächst die Beziehungen, da beide Länder unterschiedliche sicherheitspolitische Konzeptionen vertraten. 1982 fanden die 40. deutsch-französischen Konsultationen erstmals zwischen François Mitterrand und Helmut Kohl statt. Sie beschlossen eine aktive bilaterale Zusammenarbeit im Bereich der Sicher-heits- und Verteidigungspolitik. Beide Seiten betonten das Festhalten an beiden Teilen des NATO-Doppelbeschlusses, keine Einbeziehung der französischen Nuklearstreitkräfte in die Rüstungskontroll-Verhandlungen und die Fortset-zung des KSZE-Prozesses. Anlässlich der Feier des 20. Jahrestages des Élysee-Vertrags sicherte der französi-sche Präsident in einer Aufsehen erregenden Rede im Bundestag der Bundesregierung seine Unterstützung bei der Durchsetzung des Doppelbeschlusses zu. Dies entspannte das deutsch-französische Verhältnis. In einer bewegenden Zeremonie bei einem Besuch der Schlachtfelder von Verdun 1984 erklärten François Mitterrand und Helmut Kohl, dass „beide Völker unwiderruflich den Weg des Friedens, der Vernunft und der freundschaftlichen Zusammenarbeit eingeschlagen haben‟. 1986 verein-barten beide Regierungen den Ausbau der außen-, sicher-heits- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit, der 1987 durch eine Deutsch-Französische Brigade und 1988 durch die Einrichtung des „Deutsch-Französischen Vertei-digungs- und Sicherheitsrats‟ ergänzt wurde.

diE auswirkungEn dEr wiEdErvErEinigung

Die Umwälzungen in Europa kündigten auch für das deutsch-französische Verhältnis eine weitere Verschie-bung der Machtbalance an. Frankreichs Reaktionen auf die Wiedervereinigung blieben zunächst auf offizieller Seite verhalten. Die französische Regierung übte sich in einer „Verzögerungstaktik‟9. Von deutscher Seite hätte man eine klare, spontane Unterstützung sicherlich begrüßt,

9 | Weisenfeld (2008), 684.

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nach deutsch-französischen unstim-migkeiten im zuge der nominierung des ersten präsidenten der EzB ging das projekt einer Europäischen sicherheits- und verteidigungspolitik auf eine britisch-französische und keine deutsch-französische initiative zurück.

aber das Zögern Mitterrands hinterließ in Deutschland, im Gegensatz zu auch heute noch in Frankreich anzutref-fenden Befürchtungen, keine tieferen Spuren – zumal Paris letztendlich die deutsche Einheit voll unterstützte.10

Negativer wirkten sich indes Mitterrands Europapolitik und die damit verbundene Absicht aus, Deutschland zu kont-rollieren. Während die Nachbarländer zuvor noch als der Motor Europas anerkannt wurden, schienen sie sich nun

von der europäischen Baustelle zu entfernen. Im September 1992 scheiterte in Frank-reich nahezu das Referendum zum Vertrag von Maastricht und auch in Deutschland mehrten sich kritische Stimmen gegenüber der Gemeinschaftswährung.11 Letztendlich wurde die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion dann vor allem durch andere

EU-Staaten vorangetrieben. Der bittere Streit um die deut-sche Forderung eines Stabilitätspaktes 1996/1997 zeugte zudem von mangelnder deutsch-französischer Partner-schaft.

Nach der Gründung des Weimarer Dreiecks 1991 und der Ratifizierung des Vertrages von Maastricht 1993 wurzelten die deutsch-französischen Unstimmigkeiten in den unter-schiedlichen Haltungen gegenüber der Osterweiterung. Während auf deutscher Seite der Zehn-Punkte-Plan die Offenheit der Europäischen Gemeinschaft vor allem für ehemalige Ostblockstaaten, aber auch für Südeuropa forderte, zeigte sich Paris in punkto Osterweiterung eher reserviert. Divergierende Auffassungen zwischen beiden Regierungen machten eine Klärung der Frage nach EU-Institutionen bei den Beratungen, die dem Vertrag von Amsterdam 1997 vorausgingen, nicht möglich. Nach erneuten deutsch-französischen Unstimmigkeiten im Zuge der Nominierung des ersten Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) 1998 ging schließlich das Projekt einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) auf eine britisch-französische und keine deutsch-französi-sche Initiative zurück.

10 | Vgl. Stark (2010), 18.11 | Ebd., 18.

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das gescheiterte Eu-referendum in frankreich im Mai 2005, die statische Endzeit chiracs, die vorgezogenen Bundestagswahlen im september 2005 sowie die darauf folgende große koa- lition kultivierten vorerst keinen güns-tigen nährboden für den deutsch-fran-zösischen dialog.

Vor dem Hintergrund der Verbesserung des bilateralen Verhältnisses zwischen Jacques Chirac und Gerhard Schröder wurde ein gemeinsamer Konsultationsmechanismus etabliert, der informelle Abstimmungen als „Blaesheim-Treffen‟ in regelmäßigen zeitli-chen Intervallen von sechs bis acht Wochen vorsieht. Diese Neubelebung der bilateralen Beziehungen brachte gemeinsame Initiativen innerhalb des Europäischen Konvents zu Fragen der Sicherheits- und Verteidigungs-politik, zur Wirtschafts- und Ordnungspolitik, den Bereichen Inneres und Justiz sowie zur institutionellen Ordnung der EU hervor. 2003 wurde das Verfassungspro-jekt verabschiedet. Somit gaben Deutschland und Frank-reich wiederum gemeinsam wichtige Impulse im Rahmen der Debatte um die EU-Verfassung.

Die von Frankreich sorgenvoll erwartete EU-Osterwei-terung lief 2004 reibungslos. Die Zugkraft des deutsch-französischen Tandems konstituierte sich aber vor allem in dem gemeinsamen Widerstand gegen die amerikanische Intervention im Irak. In Europa standen Deutschland und Frankreich isoliert da – Alfred Grosser bezeichnete beide Länder damals als „Lokomotive ohne Anhänger‟.

Vor diesem Hintergrund bemühte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel um einen Balanceausgleich, um die „traditi-onelle Äquidistanz zwischen Berlin, Paris und Washington‟12 wiederherzustellen. Das gescheiterte EU-Referendum in Frankreich im Mai 2005, die statische Endzeit Chiracs, die vorgezogenen Bundestagswahlen im September 2005 sowie die darauf folgende Große Koalition kultivierten vorerst keinen günstigen Nährboden für den deutsch-französischen Dialog. Bis 2007 wurde zwischen den beiden Staaten kaum eine nennenswerte EU-Vereinbarung voran-getrieben.

12 | Stark (2010), 21.

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unter dem Eindruck der finanz- und wirtschaftskrise ist im Jahr 2009 die stärkung der deutsch-französischen zusammenarbeit ein vordringliches anliegen geworden.

diE gEgEnwart: notwEndigkEit EinEr nEuEn vision?

Die Wahl Nicolas Sarkozys als Staatspräsident im Mai 2007 brachte eine Stabilisierung der innenpolitischen Lage Frankreichs und den französischen Vorschlag eines verein-fachten, aber die Substanz wahrenden EU-Vertrages, welcher der beginnenden EU-Krise eine Lösung bot,13 und rettete somit den Vertrag von Lissabon.

Eine neue Dynamik entstand hieraus für das deutsch-französische Tandem allerdings nicht – zu viele Steine lagen noch auf seinem Weg. Verschiedene Regierungs-

stile im Élysée-Palast und im Kanzleramt erschwerten oft den Dialog, das französische Projekt einer von der EU-27 finanzierten Mittelmeerunion, die aber nur Mittelmee-ranrainern offen stehen sollte, wurde von

Deutschland im Frühjahr 2008 abgelehnt. Während Frank-reich sich von deutsch-russischen Annäherungsprozessen wie der Siemens-Rosatom-Kooperation oder dem Einstieg Gerhard Schröders bei Gazprom beunruhigt zeigte, schien auch Frankreich über einen eventuellen Partnerwechsel nachzudenken, indem mit Großbritannien ein gemein-samer Fahrplan gegen die Krise angestrebt wurde.

Der 20. Jahrestag des Mauerfalls wurde jedoch auf der Pariser Place de la Concorde mit aufrichtiger Freude und beeindruckender Atmosphäre gefeiert, was in Deutschland aufmerksam registriert wurde. Genau so aufmerksam registriert wurde in Frankreich demgegenüber auch die Anwesenheit der Bundeskanzlerin bei den Feierlichkeiten zum 11. November 2009, dem Tag des armistice, in Paris.

Unter dem Eindruck der Finanz- und Wirtschaftskrise ist im Jahr 2009 die Stärkung der deutsch-französischen Zusam-menarbeit ein vordringliches Anliegen geworden. Sie hat in beiden Ländern wohl die Überzeugung gefestigt, dass nati-onale Alleingänge ein Irrtum wären. Sie hat jedoch einmal mehr deutsch-französische Unterschiede in Diagnose und Therapie verdeutlicht, die zu einer sehr kritischen Bericht-erstattung in Frankreich führten. Trotz unterschiedlicher wirtschaftlicher Strukturen hängen beide Länder in ihrem

13 | Ebd., 21.

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franzosen neigen zur vorsicht. die wurzeln ihres sicherheitsbedürfnis- ses gehen zurück in die frühe ge- schichte frankreichs, als das land um die festigung seiner Mittellage be- müht war.

Wachstum von einer freien, aber geregelten Marktwirt-schaft ab, die sozialen Zusammenhalt ermöglicht und auf einem geordneten internationalen System beruht.

Innerhalb der letzten Monate haben beide Regierungen bedeutende Sparpakete vorgestellt und ihren Willen bekräftigt, bis 2013 die Konvergenzkriterien des euro-päischen Stabilitäts- und Wachstumspakts wieder einzu-halten. Auch zu dem von Deutschland zunächst skeptisch betrachteten französischen Projekt einer europäischen Wirtschaftsregierung fanden Merkel und Sarkozy Mitte Juni 2010 einen Kompromiss. Nur wenig verstanden wird indes, dass Deutschland eine eher marktwirtschaftlich-ordnungs-politische und Frankreich eine mehr interventionistisch orientierte Wirtschaftspolitik verfolgen.

Die deutsch-französische Agenda 2020, die im Rahmen des 12. Deutsch-Französischen Ministerrats am 4. Februar 2010 in Paris vorgestellt wurde, signalisiert, dass dies ein neuer Anfang einer sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Kooperation ist. Mit 80 konkreten Vorhaben in sechs wich-tigen Bereichen der bilateralen Zusammenarbeit sollen deutsch-französische, vor allem aber auch europäische Projekte vorangebracht werden.

rÜckkEhr zur norMalität: Exkurs zuM französischEn dEutschlandBild

Bei dem Rückblick auf die deutsch-französi-schen Beziehungen wird deutlich, dass das bilaterale Verhältnis teilweise starken Turbu-lenzen ausgesetzt war. Dies beeinflusste verständlicherweise auch die gegenseitige Wahrnehmung.

Um das aktuelle französische Deutschlandbild nachvoll-ziehen zu können, ist ein Blick in die Geschichte unerläss-lich. So spielte historisch der Sicherheitsgedanke im fran-zösischen Volksbewusstsein eine wichtige Rolle. Franzosen neigen zur Vorsicht. Die Wurzeln ihres Sicherheitsbedürf-nisses gehen zurück in die frühe Geschichte Frankreichs, als das Land, umklammert von den beiden Habsburgischen Mächten, um die Festigung seiner Mittellage bemüht war. Von Richelieu über Turenne, Danton bis zu Clemenceau

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nach dem zweiten weltkrieg entstand in beiden ländern eine eher integrierende als ablehnende wahrnehmung. dazu trug besonders der ost-west-konflikt bei, der deutschland und frankreich in das westliche lager führte.

und Poincaré wurde versucht, durch vorgeschobene terri-toriale Sicherheitsgrenzen das Kernland vor Angriffen zu schützen. Diesem Ziel dienten auch die politischen Bünd-nisse des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Beides war das Ergebnis der historischen individuellen und politischen Sicherheitshaltung, die vor allem auch aus einer Angst vor Deutschland entstanden war.

Nach dem Ersten Weltkrieg basierte das französische Deutschlandbild auf diesem Sicherheitsmotiv. Dabei trafen zwei innerfranzösische Konzepte aufeinander: Die politische Rechte strebte einen Ausbau der aus Zeiten des Versailler Vertrages stammenden französischen Vormachtstellung an und wollte den ehemaligen deut-schen Kriegsgegner in seiner Entwicklung begrenzen. Sie gründeten ihr Konzept auf ein angeblich pan-germanistisch ausgerichtetes Deutschland, das unwandelbar von einem aggressiven Eroberungswillen und vor allem durch einen „Militär- und Herdengeist‟14 geprägt sei. Auf der anderen Seite vertrat die politische Linke ein Konzept der deux Alle-magne. Danach stand das militärisch-autoritär geprägte

Deutschland des Krieges dem Vorkriegs-deutschland mit seinen historischen Wurzeln in der europäischen Aufklärung und der deutschen Klassik gegenüber. Insofern strebte diese Gruppe einen politischen und wirtschaftlichen Interessenausgleich an, um

Deutschland eine Rückkehr zu den Werten der deutschen Vorkriegszeit zu ermöglichen. Bis 1945 diente die jewei-lige Nachbarnation aufgrund der häufigen Kriege als eine Art „Kontrastfolie‟15 für die Eigenschaften, die man für die jeweils eigene Nation beanspruchen wollte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand in beiden Ländern eine eher integrierende als ablehnende Wahrnehmung. Dazu trug besonders der Ost-West-Konflikt bei, der Deutschland und Frankreich in das westliche Lager führte. Das französische Deutschlandbild war jedoch in den fünf-ziger Jahren von Ambivalenz geprägt. Sie äußerte sich sowohl in dem Willen, den danger allemand, also den unberechenbaren deutschen Nachbarn, zu kontrollieren, ihn aber auch in die europäische Integration einzubinden.

14 | Bock (2008), 726.15 | Ebd., 725.

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vor allem die geografische dimension der wiedervereinigung sorgte für mancherlei verzerrungen und schien historische Erinnerungen an das Bis-marck-reich zu wecken.

Letzteres entsprach dem damaligen deutschlandpolitischen Leitsatz Frankreichs, „Kontrolle durch Integration‟.16 Die Sorge vor der Unberechenbarkeit des Nachbarn gründete auf dem so genannten Rapallo-Komplex und sicherlich überbewerteten neonazistischen Tendenzen. Die skep-tische Haltung der Bevölkerung konnte jedoch durch die zunehmenden zivilgesellschaftlichen Begegnungen und den Dialog in den siebziger Jahren abgebaut werden.

In den achtziger Jahren wandelte sich die Befürchtung der Medien vor einem zu starken Deutschland zur Sorge um einen zu schwachen deutschen Nachbarn. Ein in französischen Augen latenter Pazifismus und der Geburtenschwund wurden auf französischer Seite mit Befremden zur Kenntnis genommen: „Das ‚romantische‛ Deutschlandbild war also wieder angesagt, diesmal aber weniger als Objekt der Sehnsucht oder puren Faszination, sondern als Stein des Anstoßes oder als Quell der Sorge.‟17

Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, reagierte die französische Bevölkerung mit aufrichtiger Anteilnahme, was nicht der eher ambivalenten Reaktion der französi-schen Medien entsprach. Nach einer anfänglichen Phase der Sympathie verwiesen besorgte Kommentare auf eine Verschiebung des europäischen Gleichgewichts und das mögliche Entstehen eines „Groß-Deutschlands‟, eines „Wirtschaftsimperiums‟ und eines „politischen Riesen‟.18 Vor allem die geografische Dimension der Wiedervereini-gung sorgte für mancherlei Verzerrungen und schien histo-rische Erinnerungen an das Bismarck-Reich zu wecken. Frankreich wünschte einen „kontrollierten, langfristigen Übergang‟19, um bei der damals noch nicht einschätzbaren europäischen Neuordnung nicht an den Rand gedrängt zu werden.

16 | Vgl. Bock (2008), 727.17 | Ingo Kolboom, Vom geteilten zum vereinten Deutschland. Deutschland-Bilder in Frankreich (Bonn: Europa Union Verlag, 1991), 39.18 | Vgl. Kolboom (1991), 44.19 | Ebd., 45.

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Erfreulicherweise nimmt die franzö- sische Bevölkerung deutschland nicht mehr als Bedrohung oder als undemo-kratischen staat wahr.

Andererseits sah Paris realistisch die enormen finanzi-ellen Schwierigkeiten und Herausforderungen, die für Deutschland mit der Wiedervereinigung verbunden waren. Die beachtliche Verbesserung der französischen Außen-handelsbilanz nach der Wiedervereinigung dank hoher Exporte in die ehemalige DDR gab dem Wunsch nach einer wirtschaftlich stabilen Bundesrepublik erneut Aufwind.20 Gleichzeitig bestand kein Zweifel mehr an der deutschen Westbindung. All dies trug zu einem weitgehend normali-sierten Deutschlandbild bei, das von freundlicher Zustim-mung, verstärkter Neugier und dem Bewusstsein geprägt war, Gemeinsamkeiten zu haben.21

Es wird von deutscher Seite allerdings in Frage gestellt, ob dieses positive Bild tatsächlich zu einem tieferen Verständnis des deutschen Nachbarn und seiner Kultur geführt habe.22 Dennoch bleibt die Einschätzung positiv: „Dass sich die meisten Befürchtungen, die gerade auch die französische Presse während der Wiedervereinigung und in deren Folgejahren artikulierte, nicht bestätigt haben, veränderte das Bild und wird langfristige Wirkungen hervorbringen.‟23

Wie sehr sich jedoch bereits vor der Wiedervereinigung das Deutschlandbild der französischen Bevölkerung geändert

hatte, zeigte eine Umfrage des Institut fran-çais d’opinion publique (Ifop) vom Februar 1989. Danach gaben nur 25 Prozent der Franzosen an, mindestens einmal vier aufein-ander folgende Tage in Deutschland verbracht

zu haben. Von den Befragten, die zuvor noch nicht in der Bundesrepublik waren, bewerteten nur 37 Prozent einen Besuch als interessant, 56 Prozent als überhaupt nicht. Bei Fragen zu gebräuchlichen Assoziationen zu Deutschland standen Feindbilder von einst bereits weit unten in der Rangliste und ein Vergleich der französischen und deutschen Kultur förderte ein relativ ausgewogenes Meinungsbild zutage, was nach Kolboom sowohl einer fortschreitenden

20 | Vgl. Cary von Buttlar, Das vereinigte Deutschland in der überregionalen Presse Frankreichs 1989 bis 1994. Kontinuität und Wandel französischer Deutschlandbilder (Berlin: Duncker & Humblot, 2006), 211 f.21 | Vgl. Kolboom (1991), 62.22 | Ebd., 63.23 | von Buttlar (2006), 344.

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Banalisierung der Deutschlandwahrnehmung als auch einer Europäisierung französischer Mentalitäten Rechnung trägt.24

Erfreulicherweise nimmt die französische Bevölkerung Deutschland nicht mehr als Bedrohung oder als undemo-kratischen Staat wahr: „Heute scheint das eher negative Alt-Bild vom Nachbarn in der breiten Öffentlichkeit so sehr ein Relikt der Vergangenheit zu sein, dass neue Generati-onen Mühe haben zu begreifen, warum da eigentlich in der Vergangenheit eine Gegnerschaft bestanden hatte.‟25

auswEitungsMöglichkEitEn dEr zusaMMEnarBEit

„In einer Welt, in der neue globale Akteure zunehmend selbstbewusst agieren, sind wir überzeugt, dass eine möglichst enge deutsch-französische Partnerschaft für unsere beiden Länder und für Europa von höchster Bedeutung ist.‟26 Dies ist der Leitgedanke der deutsch-französischen Agenda 2020, die im Februar 2010 vom 12. Deutsch-Französischen Ministerrat in Paris vorgestellt wurde. Beide Länder haben dabei ein besonderes Augen-merk auf die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise und die Wiederherstellung eines nachhaltigen Wirtschafts-wachstums gelegt. Die Agenda beschreibt zum Teil detail-liert künftige Maßnahmen in den Bereichen

▪ Wirtschaft, Finanzen, Beschäftigung; ▪ Energie, Klima, biologische Vielfalt; ▪ Wachstum, Innovation, Forschung, Bildung; ▪ Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik; ▪ engere Kontakte zwischen den Bürgern und ▪ institutioneller Rahmen.

24 | Genauer zu den Umfrageergebnissen vgl. Ingo Kolboom, „,Ist der Teufel deutsch?‛ – Sorgen und skeptischer Konsens in Frankreich. Deutschlandbilder der Franzosen: Der Tod des ,Dauerdeutschen‛‟, in: Günter Trautmann (Hrsg.), Die häss- lichen Deutschen? Deutschland im Spiegel der westlichen und östlichen Nachbarn (Darmstadt: Wissenschaftliche Buch- gesellschaft, 1991), 223 ff.25 | Kolboom (Darmstadt, 1991), 219.26 | O.A., Deutsch-Französische Agenda 2020, http://bundesregierung.de/nn_774/Content/DE/Artikel/2010/ 02/2010-02-04-deutsch-franzoesische-agenda-2020.html [17.06.2010]

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Hervorzuheben ist der Wille einer Intensivierung der deutsch-französische Zusammenarbeit auf EU-Ebene. Auf den ersten Blick mögen die benannten sechs Aktionsfelder recht breit gefächert scheinen, aber sie benennen doch alle Bereiche, in denen Deutschland und Frankreich Kommuni-kations- bzw. Kooperationsdefizite aufweisen.

Als weitere wichtige Zukunftsbereiche deutsch-franzö-sischer Initiativen sehen die Autoren der KAS/Ifri-Studie Deutschland – Frankreich: Fünf Visionen für Europa die Wirtschafts- und Finanzpolitik, die Industrielle Zusam-menarbeit, die Energiepolitik, eine Interparlamentarische Zusammenarbeit im Rahmen des Vertrags von Lissabon sowie die Außen- und Sicherheitspolitik an27. Bei der Wirt-

schafts- und Finanzpolitik, so die Autoren Jacques Mistral und Henrik Uterwede, drängt sich vor dem Hintergrund der Wirt-schafts- und Finanzkrise eine verstärkte deutsch-französische Zusammenarbeit als Krisenlösung auf. So sei eine haushaltspoli-

tische Abstimmung zwischen Frankreich und Deutschland unerlässlich. Sie heben hervor, dass eine Synchronisierung der Zeitpläne der Haushaltsverfahren in beiden Ländern durch gemeinsame Treffen der Ministerien und der Parla-mente sowie eine pragmatische Rückkehr zur Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nötig seien. Es gelte ebenfalls, geeignete Verfahren und Instrumente zu entwickeln, die es erlauben, die für die Sanierung eines Mitgliedslandes notwendigen Anpassungsmaßnahmen zu erarbeiten und umzusetzen. Im Rahmen der G20 sollten sich Deutschland und Frankreich für eine bessere Behand-lung globaler Ungleichgewichte und eine intensivere Steu-erung der Wechselkursentwicklung einsetzen. Schließlich ist es wünschenswert, dass sich Paris und Berlin mit der Frage einer finanziellen Infrastruktur, die für Europa erfor-derlich ist, auseinandersetzen.

Eine bessere Zusammenarbeit im Bereich der Indus-trie- und Technologiepolitik könnte die europäische Wirtschaftsposition optimieren. Dafür ist jedoch auch eine Harmonisierung von nationalen Rechtsvorschriften, auch für außereuropäische Investitionen, notwendig. Der

27 | Die folgende Darstellung lehnt sich an Stark (2010), 10-16 an.

im rahmen der g20 sollten sich deutschland und frankreich für eine bessere Behandlung globaler ungleich-gewichte und eine intensivere steu-erung der wechselkursentwicklung einsetzen.

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Autor, Louis-Marie Clouet, schlägt im Zusammenhang mit einem notwendigen deutsch-französischen Industrie- und Technologiedialog die Einrichtung eines entsprechenden Beraterstabes in Kanzleramt und Élysée vor. Parallel dazu wäre zu empfehlen, dass Deutschland und Frankreich in enger Zusam-menarbeit neue Rüstungsprogramme entwi-ckelt, die einen strukturierenden Nebenef-fekt für die europäische Industrie und die nationalen Streitkräfte haben könnten. Dabei sei es wichtig, das Prinzip des juste retour hinter sich zu lassen und eine Spezialisierung jenseits von nationalen Proporzüberlegungen voranzutreiben. Nicht zuletzt brauchen Deutschland und Frankreich eine gemein-same Technologiepolitik.

Im Bereich der Energiepolitik schlägt die Autorin Susanne Nies ein bilaterales Pionierprojekt ‚Erneuerbare Energien‛ vor. Ebenso bedarf es einer Harmonisierung der Energie-steuern, um die Transparenz der Preise zu verbessern und die Konkurrenz zwischen den europäischen Anbietern zu stärken. Hinsichtlich der vitalen Frage der Versorgungssi-cherheit sollten beide Länder die Verbesserung der ukra-inischen Transit-Strecke als Priorität ansehen. Außerdem müssten beide Länder auf eine Revision der Energiecharta hinwirken, die sowohl die Positionen der Produzenten als auch die der Konsumenten berücksichtige. Bei der Energie-Effizienz sollten grenzüberschreitende Initiativen erfolgen.

Die europäische Gesetzgebung bedarf einer engeren Zusammenarbeit der Parlamente Frankreichs und Deutschlands. Die Autorinnen Anne-Lise Barrière und Céline Caro schlagen die Schaffung eines Mechanismus zur gegenseitigen Information und Koordination zwischen den Ausschüssen vor. Dies entspreche auch den Kontrollanfor-derungen des Subsidiaritätsprinzips durch die nationalen Parlamente, wie sie im Vertrag von Lissabon vorgesehen sind. Diese Maßnahme würde es ermöglichen, gemeinsame parlamentarische Berichte zu verfassen. Darüber hinaus sollten bilaterale Gesetzesinitiativen ausgearbeitet werden, die mit der Anwendung der EU-Richtlinien verbunden sind. Ein abgestimmtes Handeln auf der Gesetzgebungsebene zwischen beiden Parlamenten im Bereich der Haushalts- und Finanzpolitik wäre ebenfalls ein positives Signal im

hinsichtlich der frage der versor-gungssicherheit sollten beide länder die verbesserung der ukrainischen transit-strecke als priorität anse-hen. außerdem müssten beide länder auf eine revision der Energiecharta hinwirken.

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Hinblick auf die Notwendigkeit einer größeren Abstim-mung innerhalb der EU. Ebenfalls wünschenswert wäre ein Austausch zwischen deutschen und französischen Abge-ordneten über die Fragen der Information der Bürger zur EU, um die Transparenz und demokratische Legitimität der europäischen Institutionen zu stärken.

Nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon müssen Deutschland und Frankreich Pfeiler einer verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik werden. Daher sollte auch die Deutsch-Französische Brigade als Teil der ESVP wahrge-nommen werden. Es empfehle sich, so der Autor Stephan Martens, eine ständige deutsch-französische parlamen-tarische Arbeitsgruppe zur Außen- und Sicherheitspolitik einzurichten. Deutschland und Frankreich müssten eine gemeinsame Sprache gegenüber Drittländern entwickeln. Foren wie das Weimarer Dreieck oder der Dialog mit Russ-land müssten neu belebt und weiterentwickelt werden. Die außenpolitischen Interessen beider Länder seien, sofern sie die Außenpolitik der EU betreffen, identisch. Umso mehr müssten die Prioritäten für die deutsch-französische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Außenpolitik definiert werden.

ausBlick: diE dEutsch-französischE zusaMMEn-arBEit und Europa

Seit dem Beginn des europäischen Projektes konnten Deutschland und Frankreich trotz allem immer eine

Motorfunktion für Europa einnehmen. Dies war möglich, weil die trotz manchmal unterschiedlicher Konzeptionen gefundenen Kompromisse für die übrigen EU-Mitglieder meist akzeptabel waren. So wurden beide Länder ein zentraler Ideen- und Impuls-

geber der europäischen Integration. Ihre Fähigkeit, selbst bei Konflikten gemeinsame Lösungen zu finden, war für Europas Entwicklung wegweisend: „Nicht die Diver-genzen als solche sind wichtig, sondern der produktive

ganz im sinne der Begründer der ver-söhnung charles de gaulle und konrad adenauer ist die deutsch-französische partnerschaft von gemeinsamen wer-ten und einer gemeinsamen verant-wortung getragen.

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Bilaterale projekte und initiativen tru-gen zur dynamik der zusammenarbeit bei, während gemeinsame impulse entscheidend die europäische integra-tion bestimmten. am 22. Januar 2013, begeht der deutsch-französische „Ehe-vertrag‟ seinen fünfzigsten Jahrestag.

Umgang mit ihnen, d.h. die Fähigkeit, gegensätzliche Posi-tionen durch geduldige, zähe Arbeit zusammenzuführen.‟28

So zeigt die Bilanz der bilateralen Beziehungen, dass die deutsch-französische Partnerschaft zwar Turbulenzen und Irritationen, aber auch zahlreiche bemerkenswerte Erfolge erlebte. Was nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst zaghaft seinen Anfang nahm und durch den Elysée-Vertrag weit-sichtig formalisiert wurde, ist heute zu einer außerordentlich engen und vertrauensvollen Partnerschaft geworden. Ganz im Sinne der großen Staatsmänner und Begründer der Versöhnung Charles de Gaulle und Konrad Adenauer ist sie von gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Verant-wortung getragen. Die deutsch-französischen Beziehungen sind daher weder vom europapolitischen Parkett, noch aus der zivilgesellschaftlichen Verflechtung wegzudenken. Bilaterale Projekte und Initiativen trugen zur Dynamik der Zusammenarbeit bei, während gemeinsame Impulse und Interessen entscheidend die europäische Integration bestimmten. In zwei Jahren, am 22. Januar 2013, begeht der deutsch-französische „Ehevertrag‟ seinen fünfzigsten Jahrestag. Er gibt Anlass, Bilanz zu ziehen, die Ausgestal-tung der weiteren Zusammenarbeit der beiden größten Länder Europas zu überprüfen und die ursprüngliche Vision des Vertrags in die Bedingungen einer veränderten europa- und geopolitischen Welt einzuordnen, vielleicht auch neu zu formulieren.

Wie in diesem Beitrag dargestellt wurde, sind viele bilaterale deutsch-französische und vor allem europäische Politikbe-reiche in ihrer Substanz voranzubringen. Vor allen Dingen muss Europa jedoch mit einer Stimme sprechen, wenn es vor dem Hintergrund des dramatischen weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Paradigmenwandels bestehen, seine Interessen wahren und seine Werte aufrechterhalten will. Dies ist in Form der europäischen Nationalstaaten nicht mehr möglich. Das Entstehen der neuen multipolaren

28 | Henrik Uterwedde, „Deutsch-französische Wirtschaftsbezie- hungen seit 1945‟, in: Ingo Kolboom, Thomas Kotschi und Edward Reichel (Hrsg.), Handbuch Französisch. Sprache, Literatur, Kultur, Gesellschaft. Für Studium, Lehre, Praxis (Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2008), 695.

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Ordnung stellt immer mehr die Frage nach der Rolle Europas in der Welt. Darauf hat EU-Kommissar Günther Oettinger im Juni 2010 bei einer gemeinsamen Veran-staltung der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Robert Schuman Stiftung in Paris in beeindruckender Weise hinge-wiesen. Gerade in Zeiten des Umbruchs ist dazu innere Geschlossenheit, das Hinauswachsen über nationale Inte-ressen und die Akzeptanz eines Gemeinschaftsinteresses notwendig.

Dem deutsch-französischen Tandem kommt dabei eine Führungsrolle zu. Diese wird von Europa akzeptiert und auch erwartet. Beide Länder haben in der Vergangenheit bewiesen, dass sie diese Verantwortung als historische Aufgabe wahrnehmen. In diesem Sinne haben, wie der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hans-Gert Pöttering, kürzlich bei einem hochrangigen Forum im französischen Parlament ausführte, die verantwortlichen Politiker beider Länder in voller Überzeugung ihr Handeln danach ausgerichtet, dass „nur ein gemeinsamer Weg in die Zukunft führt‟.

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Claudia Crawford

Die  Ergebnisse  der  Vorrunde  bei  den  Fußballweltmeis-terschaften  2010  ergaben  für  die  Achtelfinalspiele  eine Klassiker-Begegnung: Deutschland  gegen England. Ohne auf die Details einzugehen: am Ende gewannen die Deut-schen mit 4:1. Nach allem, was man aus früheren Zeiten kannte, konnte eine hitzige Debatte mit reichlich deutsch-feindlichen Tönen  in England, vor allem  in den einschlä-gigen Zeitungen, erwartet werden. Doch diese blieben bis auf wenige Ausnahmen in der Boulevardpresse aus. Nicht nur die Schlagzeilen, auch die Leserkommentare waren an die eigene Mannschaft gerichtet. Sie machten die Enttäu-schung deutlich – aber keinerlei Ressentiments gegenüber Deutschen,  keine  wütenden  Autofahrer  oder  Ausbrüche auf den Straßen Londons und selbst  in den Pubs konnte man sich ungestraft als Deutscher zu erkennen geben. Es hat den Anschein, dass sich die Beziehungen zwischen den beiden Nationen atmosphärisch entspannt haben. Vielleicht hat der Fußball durchaus mit dazu beigetragen, genauer die Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland, die von vielen jungen Briten besucht wurde. Vor Ort konnten sie sich ein eigenes Bild vom heutigen Deutschland machen. So manch einer mag überrascht gewesen sein, dass die alten Stereo-type, die viele Jahre in den britischen Medien wach gehalten wurden, nichts mit der Realität zu tun haben, dass dieses Land modern und offen ist. Mit Sicherheit tragen aber auch die vielen deutschen Studenten an britischen Universitäten zu einem veränderten Deutschlandbild bei. 

Claudia Crawford, Bundesministerin a.D., ist Auslandsmitarbei-terin der Konrad-Adenauer-Stiftung in London.

DIE BEzIEHUNGEN zWIScHEN GROSSBRITANNIEN UND DEM WIEDERVEREINIGTEN DEUTScHLAND

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Die Deutsche Einheit wurde in Groß-britannien mit Skepsis begleitet, vor allem von den Medien. Die alten Bil-der der kriegshetzerischen Deutschen tauchten wieder auf.

Lange  Zeit  war  das  Bild  in  den  britischen  Printmedien reichlich  mit  Rückgriffen  auf  das  Dritte  Reich  bestückt. Die  Deutschen,  so  die  Botschaft,  sind  unverbesserliche Militaristen,  denen  der  Sinn  nach  Dominanz  steht.  Die Entwicklungen  in  Deutschland,  die  aktive  und  kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, wurden kaum transportiert.

Natürlich war der Einfluss dieser Art der Berichterstattung nicht so groß, dass dadurch die politische, wirtschaftliche oder  auch  kulturelle  Zusammenarbeit  zwischen  beiden Staaten  gefährdet  war.  Diese  entwickelte  sich  bei  allem Auf und Ab gut, wobei hier die Beziehung zwischen Groß-britannien und Westdeutschland gemeint ist. Deutschland wurde  ein  wichtiger  Handelspartner  für  Großbritannien und umgekehrt, viele Unternehmen investierten und auch auf politischer Ebene wurde im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft  vieles  in  gemeinsamen  Anstrengungen vorangebracht.  Dabei  reichte  die  Partnerschaft  nicht  an etwas Vergleichbares wie die deutsch-französische heran, die innerhalb Europas nicht zuletzt wegen des bedeutenden Aussöhnungsprozesses  eine  Sonderstellung  einnimmt. Aber es waren tragfähige Beziehungen. 

1990 wurde für Deutschland und Europa ein neues Kapitel aufgeschlagen.  Die  Deutsche  Einheit,  für  die  Deutschen eins der glücklichsten Ereignisse, wurde in Großbritannien 

mit  Skepsis  begleitet,  zumindest  von  der Politik, aber vor allem von den Medien. Die alten  Bilder  der  kriegshetzerischen  Deut-schen  und  ihrer  Großmannssucht  tauchten wieder  verstärkt  auf.  Filme  über  das Dritte 

Reich  im  klaren  Schwarz-Weiß-Schema  wurden  populär. Und  so  nimmt  es  nicht  Wunder,  dass  britische  Jugend-liche selbst  im beginnenden neuen Jahrtausend solch ein Deutschlandbild  mangels  Alternativen  adaptierten.  Noch 2004 sagte der damalige deutsche Außenminister Fischer in einem Spiegel-Interview: „Wenn man den traditionellen preußischen Stechschritt lernen will, dann muss man sich das  britische  Fernsehen  ansehen,  denn  in  Deutschland weiß in der jüngeren Generation – sogar in meiner Gene-ration – niemand mehr, wie das geht.‟1

1 |  http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,324047,00.html  [13.07.2010].

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Premierministerin Thatcher bemühte sich um Verbündete, um den Wieder-vereinigungsprozess wenigstens zu verlangsamen. Grund für Ihre Skepsis war auch ihr Deutschlandbild.

Man mag dem entgegenhalten, dass die britischen Medien generell  etwas  rauer  sind.  Aber  es  hätte  auch  andere Stereotype  über  die  Deutschen  gegeben,  derer  sie  sich hätten bedienen können. Der in Cambridge lehrende Zeit-historiker  Richard  J.  Evans  ist  der  Frage  nachgegangen, weswegen das Bild der Naziherrschaft zur Zeit der Wieder-vereinigung  in  den  britischen  Medien  dominierte.  Unter anderem  führt  er  aus:  „Eben  deshalb,  weil  namhafte britische Politiker nun ganz offen Parallelen zwischen der Bundesrepublik und der Europäischen Union auf der einen Seite und dem Dritten Reich auf der anderen Seite ziehen, ist es für die Massenmedien akzeptabel geworden, auch in ihrer eigenen Art und Weise ähnliche Parallelen zu ziehen.‟2

DIE POLITIScHEN BEzIEHUNGEN

Seit  1990 unterlag  das Verhältnis  zwischen Großbritannien  und  Deutschland  immer wieder Schwankungen. Sie waren begründet in  den  unterschiedlichen  Regierungen  mit ihren  jeweiligen  sehr  charakteristischen Persönlichkeiten an der Spitze, beeinflusst von der Selbst- und Fremdwahrnehmung der beiden Länder, aber vor allem in der Sicht auf das europäische Projekt einer politischen Union.

THATcHER UND DER DEUTScHE EINIGUNGSPROzESS

Es ist kein Geheimnis, dass die damalige Premierministerin Thatcher  große  Ressentiments  gegenüber  der  Aussicht auf  ein  wiedervereinigtes  Deutschland  hatte.  Das  war durchaus  nicht  einfach  dem  Umstand  geschuldet,  dass ihr Verhältnis zum damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl nicht gerade das herzlichste war. Sie war ernsthaft darum besorgt, wie sich ein Deutschland, dann mit über 80 Milli-onen  Einwohnern  das  größte  und  wirtschaftlich  schon lange  das  stärkste  Land  Europas,  in  die  Gemeinschaft einfügen würde. Ihr war klar, dass das Land umso mäch-tiger sein würde, wenn einmal die Belastungen, die mit der Wiedervereinigung zweifellos auf Deutschland zukommen würden,  ausgestanden  sind.  Sie  äußerte  ihren  Zweifel 

2 |  Richard. J. Evans, Mythen in den deutsch-britischen Beziehungen seit 1945 (Stuttgart, 1999). Vortragsreihe der   Robert Bosch Stiftung „Umbrüche und Aufbrüche. Europa   vor neuen Aufgaben‟, Stuttgart, März 2000, 28-34. 

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Bundeskanzler Kohl betonte den Wil-len Deutschlands zur weiteren Inte-gration der europäischen Staaten. Für ihn waren die Deutsche Einheit und die Europäische Einigung die zwei Seiten einer Medaille.

deutlich und bemühte sich um Verbündete, um den Wieder-vereinigungsprozess, wenn schon nicht aufzuhalten, dann doch wenigstens zu verlangsamen. Grund für Ihre Skepsis war  neben  anderem  sicherlich  auch  ihr  Deutschlandbild. Lord Douglas Hurd, der damalige britische Außenminister, beschrieb  dies  so:  „Aus  ihren  Memoiren  wird  deutlich, dass  Margaret  Thatcher  eine  genaue  Vorstellung  von Deutschland  hatte,  die  allerdings  nicht  auf  einer  beson-ders fundierten Kenntnis des Wesens des neuen deutschen politischen Systems beruhte.‟3 Berühmt geworden ist das Seminar  in  ihrem  Landhaus  in  Chequers  im März  1990, wo  sie  mit  Historikern  mögliche  Folgen  einer  deutschen Wiedervereinigung  diskutierte.  Das  Protokoll,  das  an  die Presse lanciert wurde, warf ein bezeichnendes Licht auf ihr Deutschlandbild.  Es  ist  nicht  unvermessen  zu  sagen,  sie kannte das Westdeutschland aus dem Jahr 1990 nicht sehr gut und konnte sich den Wandel, den die Deutschen seit 1949 vollzogen hatten, nicht wirklich vorstellen. 

Für die Deutschen waren Thatchers Ängste schwer nach-vollziehbar. Der Wille zur Westintegration und zur Vertie-fung der europäischen Einigung war schon tief in der Bevöl-kerung verankert. Die Vorstellung, dass Deutschland sich jemals wieder militärisch engagieren würde, lag außerhalb 

jeglicher  Betrachtung.  In  dieser  Zeit  waren die Fragen um die wirtschaftlichen Herausfor-derungen  der  Deutschen  Einheit  dominant. Angesichts  der  vermuteten  Friedensdivi-dende durch den Fall des Eisernen Vorhangs wurde die Zusammenführung der Natio nalen 

Volksarmee der ehemaligen DDR mit der Bundeswehr vor allem auch für die Verkleinerung und Abrüstung der Armee genutzt. 

Bundeskanzler Helmut Kohl war die Skepsis der Briten – und  auch  der  Franzosen  –  sehr  bewusst.  Umso  mehr betonte  er  den Willen  Deutschlands  zur  weiteren  Integ-ration der europäischen Staaten. Für ihn waren die Deut-sche Einheit und die Europäische Einigung die zwei Seiten einer Medaille. Es war eine Hilfe, dass nicht alle innerhalb der Regierung Thatchers  ihre  negative Sicht  teilten. Das  

3 |  Hartmut Meyer und Thomas Bernd Stehling (Hrsg.) Deutsch- Britische Beziehungen und ‚der Mythos Cadenabbia‛, Konrad-  Adenauer-Stiftung 2005, 159.

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Im zuge der Wiedervereinigung betrie-ben vor allem Frankreich und Deutsch-land eine Beschleunigung des EU-Inte-grationsprozesses, die schließlich in die Vertragsverhandlungen von Maastricht mündete.

Foreign Office in London sah den Wiedervereinigungspro-zess weitaus positiver.  Lord Hurd beschrieb  seine eigene Haltung  in  folgender  Weise:  „Ich  selbst  teilte  Margaret Thatchers Bedenken nicht. Anders als  sie hatte  ich  viele Jahre  Gelegenheit  gehabt,  positive  Erfahrungen  mit  der Offenheit und Großzügigkeit der deutschen Demokratie zu sammeln, vor allem bei den Königswinter-Konferenzen und bei  zahlreichen  von  der  CDU/CSU  organi-sierten Anlässen. Zwar überraschten die sich überstürzenden  Ereignisse  auch mich,  aber ich brachte es nicht über mich, Kanzler Kohl dafür  zu  kritisieren,  dass  er  eine  Gelegen-heit beim Schopf ergriff, die sonst vielleicht verloren  gewesen wäre.  Ich  empfand  seine Überzeugung  und  die  seiner  Kollegen  als  echt,  dass  die allmähliche Integration eines vereinigten Deutschlands in einem sich vereinigenden Europa am besten geeignet wäre, die Geister der deutschen Vergangenheit zu bannen.‟4 So war  es  ihm möglich,  gemeinsam mit  seinem  Arbeitskol-legen auf der deutschen Seite, Hans-Dietrich Genscher, die Verhandlungen konstruktiv zu führen.

Im  Zuge  der  Wiedervereinigung  betrieben  vor  allem Frankreich  und  Deutschland  eine  Beschleunigung  des EU-Integrationsprozesses, die  schließlich  in die Vertrags-verhandlungen von Maastricht und in die Verabschiedung am 7. Februar 1992 mündete. Mit ihm wurde die Europäi-sche Union als Dach für die Europäischen Gemeinschaften, die  gemeinsame  Außen-  und  Sicherheitspolitik  und  die Zusammenarbeit im Bereich Inneres und Justiz begründet. Ein  großer  Teil  der  Konservativen  Partei  Großbritanniens geriet demgegenüber in eine immer stärkere europaskep-tische  Position.  Dies  korrespondierte  mit  einem  stärker werdenden  englischen  Patriotismus,  der  sich  parallel  zu den  stärkeren  schottischen und walisischen Unabhängig-keitsbemühungen entwickelte und bereits unter Margaret Thatcher begann. Dies machte dem pro-europäischen John Major das Premierministeramt schwer.

4 |  Ebd. 162.

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Der Jugoslawienkonflikt brachte eine zusätzliche Spannung in die deutsch-britischen Beziehungen. Die schwerste Belastung allerdings entstand durch die schlechte wirtschaftliche Situation Großbritanniens.

JOHN MAJOR UND HELMUT KOHL

Als  im  November  1990  John  Major  die  Nachfolge  von Margaret  Thatcher  antrat,  wurde  dies  in  der  deutschen Politik  mit  der  Hoffnung  begleitet,  dass  dadurch  der europäische  Integrationsprozess  seitens  der  britischen Regierung  eine  größere  Unterstützung  erfahren  würde. Bereits bei seinem Besuch als Premierminister in Bonn im März 1991  sprach er davon, dass er Großbritannien  „ins Herz  Europas‟  führen  möchte,  „wohin  es  gehöre‟.  Die neue Regierung werde eine aktive und konstruktive Rolle spielen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Vertrag von Maastricht.5 Deutschland war aus der Sicht Majors der entscheidende  Partner  für  dieses  Vorhaben.  Von  Vorteil war zudem, dass sich Helmut Kohl anders als mit Thatcher persönlich  sehr  gut mit  Major  verstand  und  ein  europa-freundliches Großbritannien wünschte.

Dem  Aufbruch  folgte  allerdings  schon  bald  die  Enttäu-schung.  Die  Unterhauswahlen  1992  erbrachten  für  die Konservativen  nur  eine  knappe  Mehrheit.  Damit  stiegen die  Blockademöglichkeiten  einzelner  Abgeordneten  bzw. Abgeordnetengruppen,  die  vor  allem  die  europaskep-tischen  Vertreter  nutzten.  Der  Handlungsspielraum  für Major  beim  Maastrichter  Ratifizierungsprozess  wurde dadurch sehr klein. Es gelang ihm, einige Zugeständnisse für  Großbritannien  zu  erwirken.  Ihm wurde  die Möglich-keit  eines  opt-out  bei  der  Sozialcharta  und  der  europäi-schen Währungsgemeinschaft  geschaffen.  Hilfe  für  diese 

Verhandlungsergebnisse  bekam  Major  vor allem  von Deutschland.  Allerdings machten diese  Schwierigkeiten  deutlich,  dass  Groß-britannien  nicht  zu  den  Partnern  in  der  EU gehören  würde,  die  Motor  im  Integrations-prozess sind.

Der Jugoslawienkonflikt brachte eine zusätzliche Spannung in  die  deutsch-britischen  Beziehungen.  Die  Sichtweise Deutschlands  einer  notwendigen  schnellen  Anerkennung der Unabhängigkeit von Slowenien und Kroatien wurde nicht geteilt. Die schwerste Belastung allerdings entstand durch die  schlechte  wirtschaftliche  Situation  Großbritanniens.  

5 |  Vgl. Sabine Lee, Victory in Europe. Britain and Germany since 1945, London 2001, 216.

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Blair und Schröder standen für einen Generationswechsel – nicht nur was deren Alter anbelangte, sondern ihren Stil und ihre Resolutheit, ihre Parteien zu verändern.

Das Pfund verlor 1992 erheblich an Wert, so dass es am 16. September, dem „schwarzen Mittwoch‟ für die Briten, den  Wechselkursmechanismus  verlassen  musste.  Die britischen Medien machten dafür  vor  allem die  deutsche Bundesbank  verantwortlich,  die,  so  die  Kommentare, durch ihre Hochzinspolitik die Nachbarn Deutschlands für die Wiedervereinigung bezahlen ließen6.

Noch manch andere Querelen Großbritanniens mit der EU, bei denen Deutschland involviert war, führten schließlich zu einer Art „Nicht-Kooperationspolitik‟ der Regierung Major. Erinnert sei an die strittige Besetzung des Präsidentenamts der EU-Kommission 1994 und an den Ausbruch der BSE-Krise  mit  der  Folge  eines  Ausfuhrverbots  für  britisches Rindfleisch durch die EU.

REGIERUNGSWEcHSEL IN LONDON UND BONN

Das  Ende  der  neunziger  Jahre  brachte  für  beide  Länder tiefe Einschnitte. Während sich 1997 der Wechsel von der konservativen  zur  Labour-geführten  Regierung  vollzog, übernahm im Herbst 1998 erstmals eine rot-grüne Regie-rung  in  Deutschland  Verantwortung.  Die  beiden  Regie-rungschefs, Blair und Schröder, standen  für einen  Generationswechsel  –  nicht  nur  was deren  Alter  anbelangte,  sondern  ihren  Stil und ihre Resolutheit, ihre Parteien zu verän-dern.  Tony Blair  steht wie  kein  anderer  für New Labour. Er entwarf ein neues, modernes Programm  einer  Mitte-links-Partei  mit  dem  Anspruch, einen Sozialstaat zu schaffen, der sich aus den Früchten der neoliberalen Marktwirtschaft finanziert. Damit schuf er aber  auch  eine  Blaupause  für  die  Sozialdemokratie  weit über Großbritannien hinaus. Nicht zuletzt Gerhard Schröder fühlte  sich  stark  inspiriert  und  führte  seinen Wahlkampf mit dem Begriff der „Neuen Mitte‟, der ein bisschen Blair-feeling vermittelte. 

Von daher war auch mit diesem Regierungswechsel wieder die Hoffnung verbunden, die deutsch-britischen Beziehungen könnten  einen  Neuanfang  erleben.  Zusätzliche  Nahrung  

6 |  Vgl. Anthony Glees, „The diplomacy of Anglo-German   relations: A study of the ERM crisis of September 1992‟,  in: German Politics, Nr. 3, April 1994 , 75-90

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Die Vorlage des Schröder-Blair-Papiers kurz vor den Europawahlen 1999 unter-strich die engen Beziehungen. Aber letztendlich ergab es nichts Greifbares.

bekamen die positiven Erwartungen dadurch, dass sich die Labourpartei in den harten Jahren der Opposition eine neue Europapolitik zu eigen machte. Nicht nur um als Alternative zur Regierung wahrgenommen zu werden,  sondern auch aus der Sorge, an den Rand Europas gedrängt zu werden, hatte  sich  Labour  pro-europäisch  gegeben.  Sein  Ziel  sei es,  „dass Großbritannien  in  den nächsten  Jahren  ein  für allemal seine Ambivalenz gegenüber Europa ablegt‟, sagte Premierminister Blair 1999 bei der Verleihung des  Inter-nationalen Karlspreises  in Aachen. „Ich will ein Ende der Unsicherheit, des Mangels an Vertrauen, der Europhobie.‟7 

Somit  schien  viel  Potenzial  für  gemeinsame  Projekte  im bilateralen  und  europa-politischen Kontext  vorhanden  zu sein.  Nicht  nur  das  persönliche  Verhältnis  von  Blair  und Schröder  war  freundschaftlich,  sondern  auch  das  von Peter Mandelson und Bodo Hombach, den Männern hinter 

den  Regierungschefs.  Da  Bundeskanzler Schröder, sicherlich nicht zuletzt im Bemühen um  eine  deutliche  Abgrenzung  zu  seinem Vorgänger,  mit  einer  relativen  Unterküh-lung die Beziehungen zu Frankreich begann, 

schien  sogar  eine  Verschiebung  der  Gewichte möglich  – statt der Achse Bonn-Paris eine Achse Bonn-London. Die Vorlage des Schröder-Blair-Papiers kurz vor den Europa-wahlen  1999  unterstrich  die  engen  Beziehungen.  Aber letztendlich ergab es nichts Greifbares. Vielmehr machte das  Papier  deutlich,  dass  Labour und die  deutsche Sozi-aldemokratie  jeweils  etwas  Anderes  unter  dem  „dritten Weg‟ verstanden. Innerhalb der SPD gab es viel Kritik, die damals schon deutlich werden ließ, dass Schröder nicht im Herzen seiner Partei stand. Am 10. Mai 2000 schrieb der Tagesspiegel zu dem Schröder-Blair-Papier: „Heute spricht keiner mehr über dieses Papier, auch im Kanzleramt nicht. Das stille Abrücken gilt dabei weniger den Inhalten als der Methode. Das Schröder-Blair-Papier, im Kanzleramt ausge-arbeitet vom damaligen Kanzleramtschef Bodo Hombach, ist  der  Versuch,  Schröders  Schlagworte  von  der  „Neuen Mitte‟  theoretisch  zu  fundieren.  Vor  allem  aber  ist  es Schröders letzter Versuch, die SPD von außen zu umgehen und zu bewegen.‟8

7 |  Philip Stephens, Tony Blair. The Price of Leadership, London   2004, 163 f.8 |  Tissy Bruns, „Schröder-Blair-Papier‟, in: Der Tagesspiegel,   10.05.2000. 

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Vollkommen zum Erliegen kamen die deutsch-britischen Beziehungen im zuge des Irak-Konflikts. Die Spal-tung in ein „altes‟ und in ein „neues‟ Europa bleibt ein bitteres Ergebnis einer erfolglosen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Auf  der  europäischen Bühne war  die  Reaktion  gemischt. Großbritannien  wirkte  aktiv  am  Amsterdamer  Vertrag (unterzeichnet  im  Oktober  1997)  und  dem  Vertrag  von Nizza (unterzeichnet im Februar 2001) mit. Beide Verträge dienten der Anpassung der EU an die erwartete Erweite-rung der Union,  die 2004 erfolgen  sollte. Das Parlament erhielt  mehr  Mitbestimmungsrechte,  die  Mehrheitsent-scheide  wurden  auf  weitere  Bereiche  ausgeweitet  und die  Stimmgewichte  der  Mitgliedstaaten  verändert.  Blair stimmte vielen Vertragsänderungen zu und unterzeichnete sogar die Europäische Sozialcharta. Damit  schien er den pro-europäischen  Kurs  seiner  Partei  einzulösen.  Proble-matisch war, dass die britische Wählerschaft  längst nicht folgte und eher euroskeptisch blieb. Mit  ihrem offensiven Kurs geriet die Regierung ziemlich schnell in einen unlös-baren Konflikt mit der Bevölkerung. So vermied die Blair-Regierung  Bemühungen,  Großbritanniens Beteiligung an einer gemeinsamen Währung vorzubereiten.  Auch  wenn  Blair  dem  Euro positiv zugewandt war, so war er doch nicht in  der  Lage,  seinen  Finanzminister  Brown, seine Partei, geschweige denn die Bevölke-rung für dieses Projekt zu gewinnen. 

Die  britische  Regierung  war  stark  auf  das  eigene  Land konzentriert, wobei sie den wirtschaftspolitischen Kurs der konservativen  Vorgängerregierung  keineswegs  änderte. Vielmehr sah sie die Freizügigkeit für Dienstleistungen, vor allem  im  Finanzsektor,  als  Quelle  für  neue  Arbeitsplätze und  Wirtschaftswachstum.  London  entwickelte  sich  zum größten Finanzplatz Europas. Die Politik  in  London, allen voran der damalige  Finanzminister und  spätere Premier-minister  Gordon  Brown,  sah  Deutschland  als  veraltetes Wirtschaftsmodell,  dass  den  neuen  Herausforderungen nicht gewachsen sei. 

Vollkommen zum Erliegen kamen schließlich die deutsch-britischen Beziehungen im Zuge des Irakkonflikts. Bundes-kanzler Schröder stellte sich strikt gegen einen Angriff auf Irak,  er  suchte  und  fand  dabei  engsten  Schulterschluss mit  Frankreich. Wie  viel  der Rhetorik  in  dieser Zeit  dem Wahlkampf  und  wie  viel  den  wirklichen  Überzeugungen geschuldet war, ist hier nicht Gegenstand der Betrachtung. Dass  allerdings  im  September  2002  Bundestagswahlen 

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waren,  könnte  durchaus  dazu  beigetragen  haben,  dass nicht  alle  Möglichkeiten  europäischer  Diplomatie  genutzt wurden, um zumindest den Versuch zu unternehmen, eine gemeinsame  europäische  Haltung  zu  erzielen.  Die  Spal-tung in ein „altes‟ und in ein „neues‟ Europa, wie sie durch den  damaligen  US-amerikanischen  Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vorgenommen wurde, bleibt ein bitteres Ergebnis  einer  erfolglosen  gemeinsamen  Außen-  und Sicherheitspolitik, wie man sie sich zehn Jahre vorher bei der  Verabschiedung  des  Maastrichter  Vertrages  sicher-lich  nicht  gedacht  hat.  Nicht  nur  die  Tatsache,  dass  der Ausdruck „das alte Europa‟ in 2003 zum Wort des Jahres in Deutschland wurde, macht die Tiefe des Risses in Europa deutlich. Noch lange Zeit wirkten das Zerwürfnis und der Vertrauensverlust innerhalb der EU nach. 

Mit ihrer Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten erhielt die EU 2004 ein neues Gesicht. Die Verträge der Vorjahre konnten  nicht  alle  Erwartungen  an  die  Effizienz  der EU-Strukturen erfüllen, besonders die Stimmengewichtung blieb  umstritten.  Da  schon  während  der  Verhandlungen zum Vertrag von Nizza die Defizite gesehen wurden, beauf-tragten  im  Dezember  2001  die  Regierungschefs  einen großen Konvent mit der Ausarbeitung eines Verfassungs-vertrages. Damit begann ein Vorhaben, das in Deutschland vor allem auf politischer Ebene große Unterstützung fand, in Großbritannien dagegen mehrheitlich abgelehnt wurde. Der Umstand,  dass  der  im Oktober  2004 unterzeichnete Vertrag  in  den  Referenden  in  Frankreich  (im  Mai  2005) und  den  Niederlanden  (im  Juni  2005)  abgelehnt  wurde, bewahrte  die  Regierung  Blair  vor  einem  eigenen,  schon angekündigten  Referendum  und  somit  vor  einer  schwie-rigen  innenpolitischen  Debatte.  Während  damit  auf  der EU-Ebene eine Phase des Nachdenkens eintrat, blieben die Beziehungen  zwischen  Deutschland  und  Großbritannien auf dem Null-Punkt. 

DIE NEUE REGIERUNG IN BERLIN UNTER ANGELA MERKEL IM JAHR 2005

Die  Beziehungen  konnten  erst  wieder  neu  aufgebaut werden  durch  den  Führungswechsel  in  Berlin.  Angela Merkel  übernahm  als  Bundeskanzlerin  die  Regierung einer  großen  Koalition  aus  CDU  und  SPD.  Sie  hatte  als 

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Die Beziehung zwischen Tony Blair und Angela Merkel war nicht durch den Irakkonflikt belastet. Trotz der zugehö-rigkeit zu unterschiedlichen Parteifami-lien stimmte die Atmosphäre zwischen beiden.

eine  ihrer  ersten  Aufgaben  die  schwierigen  Haushalts-verhandlungen über den EU-Haushalt gemeistert und mit viel Geschick eine Konfrontation verhindert, die  nicht  zuletzt  mit  Großbritannien  über den  Agrarhaushalt  und  den  Britenrabatt  zu befürchten war. Das half sicherlich schon zu Beginn  ihrer Amtszeit, die Spannungen aus der Zeit der Vorgängerregierung abzubauen. Zudem war die Beziehung Blair-Merkel nicht durch  den  Irakkonflikt  belastet.  Trotz  der  Zugehörigkeit zu  unterschiedlichen  Parteifamilien  stimmte  die  Atmos- phäre zwischen beiden.

Beide  arbeiteten  vor  diesem  Hintergrund  konstruktiv zusammen, vor allem auf europäischer Ebene. Ein Beispiel ist die Schaffung der neuen Regelungen für das Asylrecht. Ebenso wurde in dieser Zeit ein Ausweg für die verfahrene Situation um den Verfassungsvertrag gefunden. Während des  EU-Rates  in  Brüssel  unter  deutscher  Ratspräsident-schaft  im  Juni 2007 wurden die Grundzüge des Vertrags von  Lissabon  beschlossen.  Es  war  der  letzte  Gipfel,  auf dem Tony Blair als britischer Regierungschef vertreten war.

DER WEcHSEL VON TONy BLAIR zU GORDON BROWN

Sein  Nachfolger,  Gordon  Brown,  war  Merkel  aufgrund früherer  Begegnungen  nicht  unbekannt.  Beide  waren als  Kinder  protestantischer  Pfarrer  aufgewachsen.  Dass sie  sich  gut  verstanden,  hing  wohl  aber  mehr  mit  dem Umstand zusammen, dass sie eine Reihe von politischen Ansichten  teilten.  Beide  unterstützten  die  stärkere  Libe-ralisierung des Handels und beiden war die Umweltpolitik wichtig. Nicht zuletzt spielten sicherlich auch persönliche Eigenschaften, wie zum Beispiel  ihr beiderseitiges großes Interesse am Detail, eine Rolle.9

Deutlich  stärker  als  Blair  richtete  Gordon  Brown  seine EU-Politik  an  britischen  Interessen  aus. Das mag  seinen eigenen  Überzeugungen  entsprochen  haben,  war  aber sicherlich auch an die britische Wählerschaft gerichtet. Er stellte  sicher,  dass Großbritannien  im  Lissaboner Vertrag  

9 |  Vgl. Simon Green und William Paterson, After Tony – British-German Relations Under Gordon Brown, AICGS   Advisor, 25.05.2007.

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In der Finanzkrise 2008 offenbarte sich die Anfälligkeit der britischen Wirt-schaft, die stark auf den Finanzsektor konzentriert war. Währenddessen hatte die Wirtschaft in Deutschland an Wett-bewerbsfähigkeit gewonnen.

die opt-out-Klausel bezüglich der Grundrechtecharta einge-räumt bekam, was aber auch für Polen und Tschechien gilt. Um die Ratifizierung des Vertrages sicherzustellen, hatte Brown die Überlegungen  für  ein  Referendum, wie  es  für 

den Verfassungsvertrag angedacht war, nicht aufgegriffen. Stattdessen stimmte das House of Commons nach einer hitzigen Debatte über den  Vertrag  ab.  Zur  Popularitätssteigerung seiner  Amtsführung  hat  dieses  Verfahren sicherlich nicht beigetragen.

Vor  größere  Herausforderungen  gestellt  sah  sich  Brown allerdings bei der im Herbst 2008 hereinbrechenden Finanz-krise.  Nun  offenbarte  sich  die  Anfälligkeit  der  britischen Wirtschaft, die so stark auf den Finanzsektor konzentriert war.  Fast  alle  Regierungen  Europas  waren  gezwungen, den Banken massive Unterstützungen zu gewähren. Groß-britannien  war  allerdings  im  Vergleich  zu  Deutschland stärker betroffen, da sich die Krise direkt auf die dortige Realwirtschaft niederschlug und zu einer spürbaren Erhö-hung  der  Arbeitslosigkeit  führte.  Währenddessen  hatte die  Wirtschaft  in  Deutschland  aufgrund  strikter  Haus-haltspolitik  und  moderater  Tarifvereinbarungen  zwischen Gewerkschaften  und  Arbeitgebern  in  den  Jahren  zuvor stark an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen. Brown musste sein Urteil über die deutsche Wirtschaft revidieren, denn es zeigte sich, dass die auf einen breiten Mittelstand gestützte produzierende Wirtschaft Deutschlands der Krise robuster stand  hielt.  Die  notwendigen  Maßnahmen  fanden  auf europäischer  Ebene  unter  enger  Abstimmung  statt.  Das gute Verhältnis zwischen Großbritannien und Deutschland zahlte sich gerade in den kritischen Monaten in 2008 und 2009 aus.

Sowohl die Bundestagswahlen im Herbst 2009 in Deutsch-land als auch die Unterhauswahlen im Mai 2010 im Verei-nigten  Königreich  ergaben  Regierungswechsel:  Bundes-kanzlerin  Merkel  konnte  ihr  Amt  verteidigen,  regierte nun  aber  mit  der  FDP  zusammen.  Das  Wahlergebnis  in  Großbritannien  war  deutlich  spannender.  Es  brachte  die erste  Koalitionsregierung  seit  dem  zweiten  Weltkrieg. Labour  musste  eine  herbe  Niederlage  hinnehmen,  die Konservative Partei konnte aber die Wahl nicht mit einer eigenen  absoluten  Mehrheit  für  sich  entscheiden.  So 

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Im Bereich der Europapolitik könnten die Koalitionsparteien unterschiedlicher nicht sein. Die Liberaldemokraten sind die pro-europäischen Politiker in Groß-britannien schlechthin. Die Konservati-ven haben sich in eine immer euroskep-tischere Richtung bewegt.

brauchte  sie  einen  Koalitionspartner  zum  Regieren  und fand ihn in den Liberaldemokraten. Eine programmatische Schnittmenge  beider  Parteien  ist  zwar  vorhanden,  die Differenzen  sind  aber  doch  sehr  beträchtlich.  Vor  allem im Bereich der Europapolitik könnten die Parteien unter-schiedlicher nicht  sein. Die Liberaldemokraten, vor allem ihr  Vorsitzender  Nick  Clegg,  sind  die  pro-europäischen Politiker in Großbritannien schlechthin. Die Konservativen haben sich demgegenüber in den langen Jahren der Oppo-sition  in eine  immer euroskeptischere Rich-tung bewegt.  Im Wahlkampf  in Großbritan-nien stand die Europapolitik allerdings nicht im Mittelpunkt, sondern vielmehr die bange Frage nach der Bewältigung der anhaltenden Wirtschafts-  und  Finanzkrise  –  wie  schon in  den  Monaten  vorher  im  Wahlkampf  in Deutschland.  Trotzdem  mag  so  manch  einer  außerhalb Großbritanniens gehofft haben, dass es für die Konserva-tiven vielleicht doch nicht reicht, auch wenn die Umfragen schon seit Monaten etwas anderes sagten.

DIE KONSERVATIV-LIBERALE REGIERUNG cAMERON – ERWARTUNGEN AN DEN REGIERUNGSWEcHSEL

David Cameron, der neue Premierminister,  ist mit Amts-antritt  noch  jünger  als  es  Tony  Blair  damals  bei  seinem Amtsantritt war. Und auch er hat seiner Partei eine neue Ausrichtung  gegeben,  seit  er  2005  deren  Führung  über-nahm.  Als  Lehre  aus  den  Thatcher-Jahren  machte  er soziale  Fragen,  die  Unterstützung  der  Familien  und  der Zivilgesellschaft  zu  programmatischen  Schwerpunkt-themen.  Um  als  Parteivorsitzender  gewählt  zu  werden, suchte  er  nach  Möglichkeiten,  den  rechten  Parteiflügel einzubinden,  und  gab  das  Versprechen,  aus  der  EVP-Fraktion  im Europäischen Parlament auszutreten,  falls es für  eine  eigene  Gruppierung  nach  der  Europawahl  2009 reicht. Den Europaskeptikern der Tories war die EVP schon immer zu europa freundlich und zu sehr an einer Vertiefung der Integration  interessiert. Des Weiteren sagte Cameron zu, bei einem Wahlsieg für ein Referendum zum Lissabon-Vertrag  im  Vereinigten  Königreich  zu  sorgen.  Nachdem Tschechien als  letzter Mitgliedstaat den Vertrag ratifiziert und ihn damit in Kraft gesetzt hatte, musste Cameron sein Versprechen zurückziehen, da ein Referendum nun sinnlos 

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cameron hat für seine ersten Aus-landsreisen Paris, Berlin und Brüssel ausgewählt. Seine Vorgänger traten üblicherweise den ersten Weg nach Washington an.

geworden  war.  Allerdings  hatte  er  zu  diesem  Zeitpunkt bereits das andere Versprechen eingelöst und die Konser-vative  Partei  nach  der  Europawahl  aus  der  EVP-Fraktion zurückgezogen. Vor allem die CDU innerhalb der EVP und nicht  zuletzt  Frau  Merkel  persönlich  unternahmen  große Anstrengungen, diesen Schritt zu verhindern. Umso größer war die Enttäuschung – nicht gerade die beste Ausgangs-lage  für  ein  gemeinsames  Zusammenspiel,  nachdem Cameron nun Premier wurde.

Die neue britische Regierung machte allerdings von Beginn an deutlich, dass sie einen aktiven Part in Europa spielen werde. Und es gibt Gründe, dies zu glauben. Zum einen hat sich sehr häufig gezeigt, dass die Briten  im Regelfall 

pragmatisch und nicht ideologisch handeln – unabhängig,  welche  Partei  regierte.  Zum anderen  ist die Ernennung des als pragma-tisch bekannten David  Lidington  zum Euro-paminister  anstelle  des  für  diese  Position 

vorgesehenen, ausgesprochen euroskeptischen Schatten-ministers Mark Francois ein deutliches Zeichen. Vor allem aber dürften die Liberalen ein ausgleichender Faktor in der Regierung sein, der Cameron hilft, die Rechten  in  seiner Partei  in Schranken zu halten. In den Koalitionsvereinba-rungen ist zu finden, dass es zu keinem Beitritt zur Euro-zone in der laufenden Legislaturperiode kommen wird und für  jeglichen  Machttransfer  von  den  Mitgliedstaaten  auf Brüssel zwingend ein Referendum stattzufinden hat. Ange-sichts der derzeitigen Verfasstheit der EU sind dies beides keine Punkte, die in nächster Zeit anstehen würden – auch ohne  diese  Festlegungen.  Cameron  hat  für  seine  ersten Auslandsreisen Paris, Berlin und Brüssel ausgewählt. Seine Vorgänger  traten  üblicherweise  den  ersten  Weg  nach Washington an. Die Auftritte des Premierministers bei den bisherigen  europäischen  Zusammenkünften  waren  von einem  sicheren  Auftreten  geprägt.  Sehr  wohl  wusste  er die britischen Anliegen zu vertreten, aber ohne deswegen andere vor den Kopf zu stoßen – was selbst  in den briti-schen Medien mit einigem Staunen verfolgt wird. Und auch die Begegnung mit Bundeskanzlerin Merkel in Berlin verlief in freundlicher und konstruktiver Atmosphäre, was ange-sichts der Vorgeschichte positiv zu bewerten ist.

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Mit großer Aufmerksamkeit wurde wahrgenommen, dass Deutschland nicht mehr in jedem Fall bedingungslos bereit ist, notfalls zu bezahlen. Manchmal wird schon behauptet, die Deutschen werden britischer.

Am  1.  Juli  2010  zeigte  der  neue  Außenminister  William Hague in einer Grundsatzrede die Linien für seine zukünftige Politik auf. Diesen ist vor allem zu entnehmen, dass Groß-britannien  britisch  bleibt,  was  bedeutet,  dass  Hague  die britischen Interessen für seine Außenpolitik vorne anstellt: „Diese  Regierung  ist  der  Auffassung,  dass  Außenpolitik und das Foreign and Commonwealth Office vorrangig dafür existieren, den Interessen und Bedürfnissen der britischen Bürger  im weitesten Sinn zu dienen und sie zu schützen […].‟10  Er  betonte  dabei,  die  Welt  habe  sich  verändert und wenn sich das Land nicht mit verändere, bedeute das einen Bedeutungsverlust Großbritanniens mit den Folgen für seinen Einfluss in der Welt, seine Sicherheit und seine Wirtschaft.  Hague  will  vor  allem  auf  bilaterale  Bezie-hungen setzen und hat dabei nicht zuletzt die Länder  im Blick, die zunehmend auf der Weltbühne eine Rolle spielen werden: China, Indien und Brasilien. Natürlich bleibt auch für ihn das Verhältnis zu den USA ein besonderes, wobei nicht diese Unbedingtheit mitschwingt, wie sie unter Blair zu  spüren war.  Hague misst  der  EU,  aber  auch  anderen regionalen Bündnissen, Gewicht bei. Er macht aber auch hier deutlich, dass es sich  lohnt, gezielt bilaterale Bezie-hungen, zum Beispiel zu Polen, zu pflegen. Zwei Aspekte in der Europapolitik sind ihm dabei besonders wichtig: die Fortführung  des  Erweiterungsprozesses mit  Blick  auf  die Balkanländer und die Türkei und die Erhöhung des Anteils britischer Vertreter in den EU-Institutionen.

Mit dieser Ausgangsposition ist zu erwarten, dass in vielen Bereichen Deutschland und Großbritannien in den nächsten Jahren  konstruktiv  zusammenarbeiten werden. Nach der Verabschiedung des Lissa-bonner Vertrages treten Grundsatzfragen erst einmal in den Hintergrund. Viel mehr stehen für  die  Europabürger  sehr  entscheidende praktische  Fragen  auf  der  Tagesordnung: die  Bewältigung   der  Wirtschaftskrise  und des Klimawandels  sowie Sicherheitspolitik,  vor  allem der Einsatz in Afghanistan. Mit großer Aufmerksamkeit wurde in Großbritannien wahrgenommen, dass Deutschland nicht  

10 | William Hague Britain‛s Foreign Policy in a Networked   World, Rede im Foreign and Commonwealth Office,   01.07.2010, zu finden unter: http://fco.gov.uk/en/news/  latest-news/?view=Speech&id=22462590 [14.07.2010].

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Setzt Deutschland seine traditionelle Europapolitik fort, so sind Konfronta-tionen und Enttäuschungen nicht aus-zuschließen. Solange die Europapolitik beider Länder nicht stärker kongruent zu bringen ist, wird es immer wieder Konflikte geben.

mehr in jedem Fall bedingungslos bereit ist, einzuspringen und notfalls zu bezahlen. Manchmal wird schon behauptet, die  Deutschen  werden  britischer.  Die  Griechenlandkrise machte  sehr  deutlich,  dass  die  Deutschen  ihrerseits Erwartungen an die anderen Mitgliedsstaaten haben. Die Forderung  nach  größerer  Haushaltsdisziplin  wird  dabei von der britischen Regierung geteilt, obwohl sie sich sonst wohlweislich aus der Suche nach einer Problemlösung für die  Eurozone heraushält.  Anbetracht  eines  eigenen Defi-zits von guten elf Prozent im laufenden Haushaltsjahr und einem in den letzten Jahren deutlich geschwächten Pfund ist die Regierung in London ihrerseits sehr um Haushalts-disziplin bemüht. 

Würden die Deutschen wirklich britischer, was  in  diesem Kontext  bedeutet,  dass  sie  Europapolitik  vor  allem  aus ihrem nationalen Interesse heraus wahrnähmen und Inte-grationsbemühungen,  die  Souveränitätsverzicht  mit  sich bringen,  zurücknähmen,  könnte  das  durchaus  engeren Beziehungen  zu  Großbritannien  zugutekommen.  Das 

würde  allerdings  einen  klaren  Bruch  mit der  bisherigen  Europapolitik  Deutschlands bedeuten. Setzt Deutschland demgegenüber auch künftig seine traditionelle Europapolitik fort, dann sind Konfrontationen und Enttäu-schungen  wohl  nicht  auszuschließen.  Denn solange die Europapolitik beider Länder nicht 

stärker  kongruent  zu  bringen  ist,  wird  es  immer  wieder Konflikte  geben.  Umso mehr  sollten  die  nächsten  Jahre, in  denen  weniger  grundsätzliche  Entscheidungen  in  der EU  anstehen,  genutzt  werden,  durch  eine  enge  Zusam-menarbeit auf konkreten Feldern die Beziehungen beider Länder  so  stark  wie  möglich  werden  zu  lassen.  Durch konkrete Politiken wie Reformen des Binnenmarktes etwa im Bereich der Finanzmarktaufsicht, aber auch der Marktli-beralisierung und durch Fortschritte im Klimaschutz und in der Umsetzung des Lissabonner Vertrages im Bereich der Strukturreformen  können  letztlich  Entwicklungen  ermög-licht werden, die im Ergebnis die EU stark machen – ohne dass  im Vorfeld viel darüber gestritten werden muss, ob man das eigentlich will oder nicht.

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Gerrit F. Schlomach

Durch die Gründung der Union  für  das Mittelmeer  (UfM) vor zwei Jahren,  im Juli 2008, haben sich neue Chancen für eine konstruktive Gestaltung der multilateralen Euro-Mittelmeerbeziehungen ergeben. Die UfM wurde auf einem Gipfeltreffen von 44 Staats- und Regierungschefs in Paris als eine „Union der Projekte‟ aus der Taufe gehoben und umfasst aktuell 43 Staaten mit 756 Millionen Einwohnern. Entwickelte  sich  diese  Union  aus  der  seit  1995  beste-henden  Euro-Mittelmeer-Partnerschaft  (EMP),  so  traten der  Partnerschaft  sechs  neue  Staaten  bei,  Albanien, Bosnien-Herzegowina,  Montenegro,  Kroatien,  Monaco und Mauretanien. Der Arabischen Liga und Libyen wurde jeweils ein Beobachterstatus eingeräumt. Obgleich die UfM inzwischen  über  einen  Hauptsitz  mit  einem  Generalse-kretär und Sekretariat in Barcelona verfügt, ist sie weder eine internationale Organisation noch verfügt sie über eine eigenständige  Rechtspersönlichkeit.  Vielmehr  ist  die  UfM ein internationaler Zusammenschluss auf Basis der beiden politischen  und  rechtsunverbindlichen  Erklärungen  von Barcelona aus dem Jahr 1995 und von Paris aus dem Jahr 2008.

Am zweiten Jahrestag der UfM stellen sich die  folgenden Fragen: Welche Effekte konnte die Union entfalten? Welchen zukünftigen Weg gilt es einzuschlagen? Zur Beantwortung der Fragen werden in einem ersten Schritt die regionalen Rahmenbedingungen  und  bisherigen  Beziehungsmuster dargelegt, bevor in einem zweiten Schritt Maßnahmen und Aktionen, die sich aus der Gründung der Union ergaben, betrachtet  werden.  Vor  dem  Hintergrund  dieser  Ausfüh-rungen wird  in einem dritten Schritt eine Bewertung der 

Gerrit F. Schlomach ist Parlamentarischer Assistent von MdEP Michael Gahler und Doktorand an der Universität der Bun-deswehr München.

UNION FüR DAS MITTELMEER – REALITÄTEN ANERKENNEN UND cHANcEN NUTzEN!

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Nach wie vor schreiten die meisten südlichen Mittelmeeranrainerstaaten im regionalen Vergleich in demokrati-schen Transformationsprozessen nur langsam voran.

UfM  im Rahmen  einer  Analyse  des  politischen  Prozesses und einer Kritik der institutionellen Struktur vorgenommen, 

die  in  Handlungsempfehlungen  und  einen Ausblick  auf  die  weiteren  Beziehungen münden.  Diese  Vorschläge  lassen  sich  mit den folgenden Stichworten umreißen: politi-schen  und  finanziellen  Realitäten Rechnung 

tragen, Alternativlosigkeit regionaler und trans-regionaler Zusammenarbeit anerkennen. 

RAHMENBEDINGUNGEN IM MITTELMEERRAUM

Wird  die  aktuelle  Lage  im  Mittelmeerraum  entlang demokratischer,  sozioökonomischer  und  sicherheitspoli-tischer  Rahmenbedingungen  betrachtet,  so  zeichnet  sich folgendes  Bild  ab:  Nach  wie  vor  schreiten  die  südlichen Mittelmeeranrainerstaaten  im  regionalen  Vergleich  in demokratischen Transformationsprozessen langsam voran, mit  Ausnahme  Israels,  des  Libanon  und  der  Türkei.  Mit Blick auf den Bertelsmann Transformations Index belegen arabische  Mittelmeerländer  gemessen  am  Demokratisie-rungsgrad  hintere  Platzierungen.1  Ursachen  der  „Stabi-lität‟  autoritärer  Herrschaftsweisen  und  des  Ausbleibens von Demokratie werden in folgenden Umständen erkannt:2 rentierstaatliche  Wirtschaftsstrukturen;  neopatrimoniale politische  Systeme,  die  in  patriarchalen  Gesellschafts-strukturen eingebettet sind; und schließlich ein internatio-nales System, das aus sicherheitspolitischen Erwägungen ein Interesse an Regimestabilität hat.

Ein Vergleich  der  Platzierungen der  südlichen Mittelmee-ranrainer  unter  Zuhilfenahme  des  Indexes  menschlicher Entwicklung,  der  von  den  Vereinten  Nationen  erhoben wird,  offenbart  das mittelmäßige Abschneiden der arabi-schen  Staaten,  wobei  wiederum  Israel  und  die  Türkei 

1 |  Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Transformation Index BTI 2010. (Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2009), abrufbar   unter http://www.bertelsmann-transformation-index.de/  [06.08.2010]2 |  Nadine Kreitmeyr, Oliver Schlumberger. „Autoritäre   Herrschaft in der arabischen Welt‟, in: Aus Politik und Zeit- geschichte 24 (2010): 16-22, 19. Vgl. grundlegend: Martin   Beck et al. (Hrsg.) Der Nahe Osten im Umbruch – Zwischen Transformation und Autoritarismus. (Wiesbaden: VS Verlag   für Sozialwissenschaften, 2009).

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Den Staaten gelingt es nicht, sich voll in die globalen Wirtschaftsstrukturen zu integrieren. Vielmehr wirken sich die Effekte der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise verstärkt auf die bereits angespannten Märkte aus.

Ausnahmen  darstellen.3  Im  wirtschaftlichen  Bereich gelingt es den Staaten nicht in vollem Umfang, bis auf die genannten Ausnahmen,  sich  in  die  globalen Wirtschafts-strukturen zu integrieren. Vielmehr wirken sich die Effekte der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise verstärkt auf die bereits angespannten Arbeits- und Finanzmärkte aus. Im Ergebnis kommen die Reformprozesse, um die Abhän-gigkeit von ausländischen Finanzhilfen zurückzuführen und der stark heranwachsenden  jüngeren Generation Jobper-spektiven und Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, langsam voran.  Verstärkend  kommt  hinzu,  dass  die meisten  arabischen  Länder  hinsichtlich  der sozialen,  gesellschaftlichen  und  politischen Möglichkeiten  im  Vergleich  zu  anderen Ländern  auf  demselben  Entwicklungsniveau hinterherhinken.4

Mit Blick auf die sicherheitspolitische Lage ist in der Region des südlichen Mittelmeerraums ein gewaltsamer Konfliktso-ckel  erkennbar,  der  sich  um  zwei  hoch  explosive  Ausei-nandersetzungen  bildet:5  zum  einen  der  Nahostkonflikt und zum anderen die gewaltsamen Spannungen zwischen der  türkischen  Regierung  und  kurdischen  Separatisten. Darüber  hinaus  sind  der  Westsahara-Konflikt  sowie  der Umgang mit algerischen und ägyptischen Terroristen von gewaltsamen Konfrontationen geprägt.

UNTERScHIEDLIcHE ERFOLGE IN DEN EURO-MITTELMEER-BEzIEHUNGEN

Die  Beziehungen  zwischen  der  EU  und  den  südlichen Mittelmeeranrainerstaaten erfolgen sowohl über bilaterale als auch über multilaterale Kontakte.6 Auf bilateraler Ebene 

3 |  United Nations Development Programme, Summary Human Development Report 2009 (New York, 2009), abrufbar unter http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2009_EN_Summary.pdf   [10.07.2010].4 |  Markus Loewe, „Die Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher und   menschlicher Entwicklung in der arabischen Welt‟, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 24 (2010): 10-22, 10.5 |  Heidelberg Institute for International Conflict Research,   Conflict Barometer 2009 (2009), 71-73.6 |  Vgl. Gerrit F. Schlomach, „Der Fisch stinkt vom Kopf:   Europäische Kopflosigkeit gegenüber der arabischen Welt.‟   in: Ingo Wetter (Hrsg.). Die Europäische Union und die Türkei. Band II: Expansion in den islamischen Raum?   (Hamburg: Kovac, 2006), 133-158.

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Die Erwartungen ruhten auf der Euro-Mittelmeer-Partnerschaft, die auch als Barcelona-Prozess bezeichnet wird. Das Gründungsdokument zielte dar-auf ab, den Mittelmeerraum in eine gemeinsame Friedens-, Wohlstands- und Stabilitätszone zu überführen.

wurden  mit  den  Partnerländern  Assoziierungsabkommen geschlossen,  um  die  südlichen  Staaten  in  ihren  Reform-anstrengungen  bei  der  Umsetzung  von  demokratischen, 

rechtsstaatlichen  und  marktwirtschaftlichen Prinzipien zu unterstützen. Bis heute wurden alle  angestrebten  Assoziierungsabkommen in  Kraft  gesetzt,  wobei  dieser  Schritt  mit Syrien  noch  nicht  vollzogen  wurde  und Libyen  sich  der  Aushandlung  eines  solchen Abkommens widersetzt. Tripolis strebt in den 

Beziehungen zur EU an, ein Rahmenabkommen zu unter-zeichnen, das jedoch inhaltlich die gleichen Schwerpunkte wie die Assoziierungsabkommen abdecken soll.

Im  multilateralen  Kontext  ruhten  die  Erwartungen  auf eine Verbesserung der regionalen Lage und eine Stärkung der  trans-regionalen  Verbindungen  auf  der  1995  gestar-teten  Euro-Mittelmeer-Partnerschaft  (EMP),  die  auch  als Barcelona-Prozess  bezeichnet  wird.  Das  grundlegende, rechtsunverbindliche  Gründungsdokument  zielte  darauf ab,  den  Mittelmeerraum  in  eine  gemeinsame  Friedens-, Wohlstands- und Stabilitätszone zu überführen. Dies sollte durch eine verstärkte Zusammenarbeit  in drei Bereichen erfolgen:  politischer  und  sicherheitspolitischer  Dialog, partnerschaftliche  Zusammenarbeit  im  Wirtschafts-  und Finanzbereich sowie auf sozialer, kultureller und mensch-licher  Ebene.  Seit  Beginn  der  EMP  hat  die  Europäische Kommission bis heute eine Gesamtsumme von 1,66 Milli-arden Euro für regionale Projekte zur Verfügung gestellt.7

Gegenüber  den  ambitionierten  Zielen  der  Barcelona-Erklärung  stellte  sich  schnell  Realismus  ein,  da  sich  die Erkenntnis  durchsetzte,  den  ursprünglichen  Erwartungen nicht im vollen Umfang gerecht zu werden. Der begrenzte sicherheitspolitische,  demokratische  und  wirtschaftliche Erfolg lässt sich auf vielerlei Faktoren zurückführen.8

Zwar ist es richtig, dass in manchen Phasen des Nahost-Konflikts der einzige funktionierende Rahmen innerhalb der 

7 |  Stefan Füle, „Adress to the ‚For’UM‛ meeting‟,   Speech/10/269. European Comission, (2010), 3.8 |  Vgl. Andreas Jacobs und Hanspeter Mattes (Hrsg.),   Un-politische Partnerschaft. Eine Bilanz politischer Reformen in Nordafrika/Nahost nach zehn Jahren Barcelonaprozess,   (Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung, 2005).

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2004 etablierte die EU einen neuen politischen Ansatz im Rahmen der Euro-päischen Nachbarschaftspolitik (ENP). Nach Ausweitung auf die südlichen Mittelmeeranrainerstaaten wurden die bilateralen Beziehungen zur EU durch Aktionspläne neu ausgerichtet.

EMP bestand, wo sich Araber und Israelis gemeinsam an einen Tisch setzten. Doch folgte meist auf eine Verschlech-terung der israelisch-arabischen Beziehungen eine Störung im  Euro-Mittelmeergefüge,  obgleich  der  Austausch  über das Mittelmeer hinweg nie vollständig zum Erliegen kam. Mittelfristig  konnte  die  europäische  Politik  das  Dilemma zwischen dem Interesse an innerstaatlichen Reformen und Wandel auf der einen Seite sowie dem Interesse an Europas Sicherheit auf der anderen Seite nicht konstruktiv auflösen. Aus europäischer Sicht  ist es  legitim, eigene Sicherheits-interessen und den Wunsch nach Wandel und politischer Reform zu  formulieren. Doch  ist  auch die Zurückhaltung der  südlichen  Verantwortungsträger  zu  verstehen,  die  in diesem Fall das auszuwechselnde Objekt sind. Schließlich war es verschiedenen Reform- oder Revita-lisierungsinitiativen  von  europäischer  Seite im  Kontext  der  EMP  nicht  vergönnt,  einen signifikanten  innerstaatlichen Reformwandel bei  den  südlichen  Partnerländern  und  eine Verbesserung  der  regionalen  Beziehungen herbeizuführen. Hinzu kam, dass der perma-nente  Streit  um  den  strategischen  Einsatz finanzieller  Ressourcen  innerhalb  der  EU  zwischen  südli-chen  sowie  zentral-  und  mitteleuropäischen  Mitglied-staaten nicht langfristig eingehegt wurde.

Im Schlepptau der Erweiterungsrunde 2004 etablierte die EU einen neuen politischen Ansatz  im Rahmen der Euro-päischen  Nachbarschaftspolitik  (ENP).9  Nach  Ausweitung dieses politischen Instruments auf die südlichen Mittelmee-ranrainerstaaten wurden die bilateralen Beziehungen zur EU durch Aktionspläne neu ausgerichtet. Besonderes Augen-merk wurde darauf gerichtet, unterstützende Maßnahmen in die jeweiligen Reformagenden der Partnerländer zu inte-grieren. Neben strukturellen Mängeln in der Ausgestaltung der ENP bestehen spezifische Reformwiderstände bei den südlichen politischen Verantwortungsträgern. Die jüngsten Fortschrittsberichte  der  Europäischen  Kommission  zur Umsetzung der Aktionspläne weisen jedoch insgesamt eine positive Entwicklungsrichtung auf. In ausgewählten Fällen wurde von der EU ins Auge gefasst, die bestehenden guten  

9 |  Vgl. Steffen Erdle, „Die europäische Nachbarschaftspolitik.   Ein Motor für Reformen im Mittelmeerraum?‟, in: KAS Auslandsinformationen 4/2007, (2007): 4-40.

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Nicolas Sarkozy forderte im Wahlkampf die Gründung einer Mittelmeer-Union. Handelte es sich zunächst um sehr ungenaue Vorstellungen, so wurden im Vorfeld und während der französischen EU-Ratspräsidentschaft 2008 Fakten geschaffen.

Beziehungen  im  Rahmen  eines  fortgeschrittenen  Status weiter  zu  vertiefen.  Marokko  erhielt  als  erster  südlicher Partnerstaat diesen privilegierten Status im Oktober 2008.

Vor dem Hintergrund dieser wechselhaften Entwicklungen verstärkten  sich  ab  2005,  zum  zehnjährigen  Geburtstag der EMP, die Stimmen, die EMP und die ENP im südlichen Kontext zu reformieren.10 Diese kritische Stimmung wurde 2007  vom  damaligen  französischen  Präsidentschaftskan-didaten Nicolas  Sarkozy  aufgegriffen,  der  im Wahlkampf die  Gründung  einer  Mittelmeer-Union  forderte.  Handelte es sich zunächst um sehr ungenaue und zum Teil wider-sprüchliche  Vorstellungen,  so  wurden  im  Vorfeld  und während  der  französischen  EU-Ratspräsidentschaft  in der zweiten Jahreshälfte 2008 Fakten geschaffen, um im Rahmen einer Union für das Mittelmeer einen Neustart in den gemeinsamen Beziehungen zu wagen.11

AMBITIONIERTER START DER UNION FüR DAS MITTELMEER

Auf  dem  Frühjahrsgipfel  am  14.  März  2008  in  Brüssel einigten  sich  die  europäischen  Staats-  und  Regierungs-chefs darauf, der Europäischen Kommission den Auftrag zu erteilen, die Modalitäten des neuen europäischen Ansatzes 

für den Mittelmeerraum „Barcelona-Prozess: Union für das Mittelmeer‟ zu definieren und festzulegen.12 Mit diesem Schritt gelang es, die ursprünglichen Ideen von Sarkozy auf die Ebene der Europäischen Union zu überführen und  in  den  bestehenden  Barcelona-Prozess zu  integrieren.  Die  Eckpfeiler  der  deutsch-

französischen Überlegungen, die die Grundlage der euro-päischen Einigung bildeten, beruhten zunächst darauf, die EU-27 und zehn südliche Mittelmeeranrainerstaaten sowie 

10 | Vgl. EuroMeSCo Secretariat, Barcelona Plus / Towards a Euro-Mediterranean Community of Democratic States,   (Lissabon, 2005).11 | Gerrit F. Schlomach, „Deutsche Erfahrungen in der Nahost-  Mittelmeer-Region verstärkt für die europäische Außen- und   Sicherheitspolitik nutzen‟, in: KAS Auslandsinformationen    3/2008, (2008): 55-59.12 | Vgl. Council of the European Union. Presidency Conclusions. Brussels European Council 13/14 March 2008, Annex 1,   7652/08, (Brüssel, 2008), 19.

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123KAS AUSLANDSINFORMATIONEN9|2010

Auf Ebene der Staats- und Regierungs-chefs werden in zukunft alle zwei Jahre Gipfeltreffen abgehalten. Man einigte sich ferner auf einen Ko-Vorsitz für zwei Jahre und die Einrichtung eines gemeinsamen Sekretariats unter Lei-tung eines Generalsekretärs.

Jordanien  und  Mauretanien  einzubinden.13  Institutionell einigte man sich darauf, ein Sekretariat und einen zwei-jährigen  ständigen  Ko-Vorsitz  einzurichten,  den  sich  ein EU-Mitgliedsstaat und ein südlicher Partner teilen.

Am  13.  Juli  2008  traten  unter  französisch-ägyptischem Ko-Vorsitz 44 Staats- und Regierungschefs der EU und der südlichen  Mittelmeeranrainerstaaten  in  Paris  zusammen und  unterzeichneten  eine  gemeinsame  Erklärung.14  Der damaligen  französischen  EU-Ratspräsidentschaft  gelang es,  die  Schmach  der  zehnjährigen  Geburtstagsfeier  der EMP und eine mögliche erneute Abwesenheit der  meisten  südlichen  politischen  Führer abzuwenden.  Der  Kreis  der  anwesenden südlichen  Repräsentanten  umfasste  unter anderem  sowohl  den  israelischen  Premi-erminister  Ehud  Olmert,  den  palästinensi-schen Präsidenten Mahmoud Abbas als auch den  syrischen  Staatspräsidenten  Bashar al-Assad.  Fern  geblieben waren  lediglich  der  jordanische König Abdallah II., der marokkanische König Mohammed VI. und der libysche Staatschef Mouammar Gadhafi.

Thematisch  wurden  die  Schwerpunkte  der  UfM  auf folgende  sechs  Projekte  gelegt:  Säuberung  des  Mittel-meers,  Meeresautobahnen  und  Autobahnen  an  Land, Zivilschutzinitiativen,  mediterranes  Solarenergiepro-gramm, Euro-Mittelmeer-Universität in Slowenien und eine Mittelmeer-Wirtschaftsentwicklungsinitiative mit  dem Ziel der Stärkung von kleinsten, kleinen und mittleren Unter-nehmen.

Auf  Ebene  der  Staats-  und  Regierungschefs  werden  in Zukunft alle zwei Jahre Gipfeltreffen abgehalten. Entspre-chend  der  Funktion  des  Europäischen  Rates  obliegt  es den hochrangigen Staatsvertretern,  politische Richtungs-entscheidungen zu treffen und die Arbeitsprogramme der  

13 | Gerrit F. Schlomach, „‚Overview‛ Regional Dialogue and   Cooperation in 2008 – Any Opportunities?‟, in: Konrad-  Adenauer-Stiftung, Regional Centre on Conflict Prevention   (Hrsg.), EAG Policy Paper number 3, July 2008, (Amman:   Konrad-Adenauer-Stiftung, 2008): 1-2.14 | President of the French Republic and the President of the   Arab Republic of Egypt. 2008. Joint Declaration of the Paris   Summit for the Mediterranean, 13.07.2008, Paris.

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UfM zu verabschieden. Man einigte  sich  ferner auf einen Ko-Vorsitz für zwei Jahre und die Einrichtung eines gemein-samen Sekretariats unter Leitung eines Generalsekretärs. Ein gemeinsamer ständiger Ausschuss bereitet die Treffen der  Hohen  Beamten  vor  und wird  dem Ko-Vorsitz  assis-tieren,  um  die  regelmäßigen  Treffen  der  Außenminister auszurichten.

In der Erklärung von Paris wurde die bisherige Liste der Teilnehmerstaaten  im  Vergleich  zur  EMP  erweitert.  So traten der Partnerschaft sechs neue Staaten bei Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Kroatien, Monaco und Mauretanien. Der Arabischen Liga wurde ein Beobachter-status eingeräumt. Libyen entschloss sich, als Beobachter den regelmäßigen Sitzungen beizuwohnen. 

UMSETzUNG DER BEScHLüSSE NAcH DEM GIPFEL

Die bereits auf dem Pariser Gipfel zur Gründung der Union für  das  Mittelmeer  angelegte  Folgekonferenz  auf  Ebene der Außenminister erfolgte vom 3. bis 4. November 2008. Der  ursprüngliche  Termin  im Oktober  2008  konnte  nicht gehalten werden, da die arabischen Staaten ihre Teilnahme an dem geplanten Außenministertreffen mit dem Hinweis in Frage stellten, nicht mit dem israelischen Außenminister Avigdo Lieberman an einem Tisch sitzen zu wollen.

Ziel  dieses  erstens  Treffens  unter  der  Leitung  des  fran-zösischen  Außenministers  Bernard  Kouchner  und  seines ägyptischen  Kollegen  Ahmed  Aboul  Gheit  war,  die  neue Union zu festigen und offene Fragen zu bearbeiten. In der Abschlusserklärung15 festigten die Außenminister die insti-tutionelle  Struktur,  legten  das  Arbeitsprogramm  und  die Kooperationsfelder  für  das  Jahr  2009  fest  und  vollzogen eine  Überprüfung  der  letzten  Aktivitäten.  Die  Außenmi-nister beschlossen als neuen offiziellen Namen „Union für das  Mittelmeer‟.  Dabei  wurde  der  bisherige  Bezug  zum Barcelona-Prozess, den erst die deutsche Kanzlerin Merkel in der Projektfindungsphase einfügen ließ, fallengelassen.

15 | Council of the European Union, Union for the Mediterranean   ministerial conference, Marseille, 03./04.11.2008, 15187/08   (Presse 314), (Barcelona Press 2008), 6-10.

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Das gemeinsame Sekretariat verfügt über keinerlei politischen Auftrag. Es beschränkt sich darauf, dem Prozess neue Impulse zu geben und Projekte vorzubereiten, durchzuführen sowie nachzubereiten.

Die Frage, wer von Seiten der Europäischen Union bzw. der europäischen  Mitgliederstaaten  dem  Gremium  vorsitzen wird,  wurde  ebenfalls  auf  der  Außenministerkonferenz diksutiert, um eine kohärente Politikgestaltung zu garan-tieren.  Die  gemeinsame  Erklärung  präzisierte,  dass  von europäischer  Seite  die  Besetzung  der  Ko-Präsidentschaft im Rahmen der in Kraft gesetzten Verträge stehen müsse. Dies wurde mit der Interpretation verbunden, wonach die Präsidentschaft und die Europäische Kommission die EU in den auswärtigen Beziehungen  repräsentiert. Unklar blieb jedoch, welcher europäische Staat nach der zweijährigen französischen Ko-Präsidentschaft den Sitz für die EU-Präsi-dentschaft  übernehmen würde  und  wie  die  Abstimmung zwischen EU-Präsidentschaft und Kommission zu erfolgen hat.

Darüber hinaus wurde die Position eines Generalsekretärs geschaffen,  die  zunächst  jedoch  nicht  besetzt  werden konnte,  da  sie  im  Zusammenhang  mit  der Standortfrage  des  Sekretariats  gesehen wurde.  Aufgrund  der  politischen  Einfluss-nahme Syriens wurde Tunesien als Standort des Sekretariats verworfen.16 Die tunesische Regierung  widersetzte  sich  daraufhin  dem Kompromissangebot,  statt  des  Standorts den ersten Generalsekretär stellen zu dürfen, und verwei-gerte sich, einen Vorschlag zur Besetzung dieses herausra-genden Postens zu unterbreiten. Lediglich Jordanien hielt an  einem  eigenen  Kandidaten  fest,  der  jedoch  aufgrund der überwölbenden Spannungen  im Nahost-Konflikt nicht zügig gewählt werden konnte.

Das  gemeinsame  Sekretariat  hat  eine  rein  technische Aufgabe zugesprochen bekommen und verfügt somit über keinerlei  politischen  Auftrag.  Es  beschränkt  sich  darauf, dem Prozess neue Impulse zu geben und Projekte vorzu-bereiten,  durchzuführen  sowie  nachzubereiten.  Finan-ziert  wird  das  Sekretariat  (Unterstützungspersonal  und Ausstattung)  aus einem gemischten Haushalt. Dabei trägt die EU einen Anteil und die weiteren Anteile werden von den  südlichen  Partnerstaaten  übernommen,  die  jedoch freiwillig ihre Beiträge zur Verfügung stellen können.

16 | Vgl. Florence Beaugé, „La France arrache un accord global   sur l’Union pour la Méditerranée‟, in: Le Monde, 05.11.2008.

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Nach den kriegerischen Auseinander- setzungen im Gaza-Streifen zum Jah-reswechsel 2008/2009 und den Wahlen in Israel setzte ein Stillstand in den Mit-telmeer-Beziehungen ein. Das führte zur totalen Einstellung der diploma- tischen Treffen im Rahmen der UfM.

Obgleich  sich  die  Konferenzteilnehmer  in  Paris  darauf einigten, die Arabische Liga in die Union für das Mittelmeer als  Beobachter  einzubinden,  widersetzte  sich  fortgesetzt die  israelische  Regierung,  diese  Vereinbarung  umzu-setzen.  Diese  Ablehnung  führte  zur  Verschiebung  eines Treffens der Umweltminister, die für Ende Oktober 2008 in Jordanien vorgesehen war. Ein Scheitern des Außenminis-tertreffens  im November 2008 stand wegen des Nahost-Konflikts und der Frage nach der Beteiligung Israels und der Arabischen Liga an der UfM im Raum, konnte jedoch verhindert  werden.17  Die  fortgesetzte  Anwesenheit  der 

Arabischen  Liga wirft  die  Frage  auf, welche Begründung  geliefert  wird,  indirekt  allen arabischen  Staaten,  auch  denen,  die  nicht mittelbar-  oder  unmittelbar  an  das  Mittel-meer grenzen, einen Zugang zu einer euro-mediterranen  Organisation  zu  gewähren. Die kritische Haltung Israel wurde zum Preis 

einer  Ausweitung  der  stellvertretenden  Generalsekretäre überwunden.  Jeweils  ein  Posten wurden  einem Vertreter aus den südlichen Hauptstädten Tel Aviv, Ramallah, Athen, Rom und Valletta zugesprochen.

ERSTE WIEDERBELEBUNGSVERSUcHE ERWEISEN SIcH ALS BEGRENzT

Während und kurz nach den kriegerischen Auseinanderset-zungen  im  Gaza-Streifen  zum  Jahreswechsel  2008/2009 und  nach  den  Wahlen  in  Israel  setzte  ein  Stillstand  in den Mittelmeer-Beziehungen  ein.  Dies  führte  zur  totalen Einstellung der technischen und diplomatischen Treffen im Rahmen der UfM. Im Ergebnis musste selbst die Europäi-sche Kommission die Aufschiebung der geplanten Treffen öffentlich zugeben.18

Im  Juni  2009  startete  der  französische  Energieminister Jean-Louis Borloo eine Initiative, um nach einer weiteren Verschiebung eines Treffens aufgrund des Nahost-Konflikts, welches  für  Anfang  Juni  in Monaco  vorgesehen war, mit  

17 | Ebd.18 | „The crisis in Gaza at the end of 2008 resulted in a suspension   of the UpM meetings during some months.‟ in: European   Commission, Union for the Mediterranean, Brüssel,   10.07.2009, MEMO/09/333 (2009).

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127KAS AUSLANDSINFORMATIONEN9|2010

Der Prozess der Entscheidungsfin-dung wird sich vor der Grundsatzent-scheidung abspielen, außenpolitische Fragen cathrin Ashton und dem neuen Europäischen Auswärtigen Dienst zu überlassen.

seinen Kollegen am 25. Juni 2009  in Paris zusammenzu-treffen. Ziel dieses Treffens war es, weitere Schritte nach-haltiger Entwicklung in der Region zu diskutieren.

Die Frage des wechselnden Ko-Vorsitzes auf Seiten der EU wurde im Juli 2009 erneut aufgeworfen, da der damalige belgische  Außenminister  Karel  de  Gucht  es  nicht  akzep-tierte,  dass  europäische  Mittelmeeranrainer  automatisch an der Ko-Präsidentschaft nach Beendigung der EU-Rats-präsidentschaft  festhalten.  Dieses  informelle  Verfahren entstand unter dem französischen Ko-Vorsitz, der von Juli 2008 bis Ende Dezember 2009 für die EU der UfM vorsaß. Der  französischen  Regierung  war  es  gelungen,  mit  den folgenden  EU-Ratspräsidentschaften  Tschechiens  und Schwedens erfolgreich zu verhandeln, um den Ko-Vorsitz zu  behalten.  Doch  führte  dies  zu  Unklarheiten,  als  zu Jahresbeginn 2009 zwei Delegationen – eine unter tsche-chischer  Führung  als  damalige  EU-Ratspräsidentschaft und  eine  unter  französischer  Führung  im  Rahmen  des Ko-Vorsitzes – versuchten, im Gaza-Israel-Konflikt vor Ort zu vermitteln. Belgien fürchtete damals, dass Madrid auch nach  dem  Ende  der  spanischen  EU-Ratspräsidentschaft Ende Juni 2010 einen Anspruch auf den Ko-Vorsitz erheben könnte.  Diese  Befürchtung  führte  zu  einem  Briefverkehr zwischen den belgischen und spanischen Außenministern.

Zweierlei  Aspekte  kommen  in  Bezug  auf  die  Frage  nach der europäischen Besetzung des Ko-Vorsitzes zum Tragen: Erstens wurde bis  zum Beginn der belgischen Ratspräsi-dentschaft  im Juli 2010 keine Entscheidung über  dieses  Thema  getroffen.  Vielmehr  ist es  absehbar,  dass  in  Brüssel  erst  noch  ein Verfahren gefunden werden muss, wie eine französische  Nachfolge  erfolgen  soll.  Zwei-tens  wird  sich  der  Prozess  der  Entschei-dungsfindung vor der belgischen Grundsatz-entscheidung abspielen, außenpolitische Fragen der Hohen Beauftragten Cathrin Ashton und dem neuen Europäischen Auswärtigen  Dienst  zu  überlassen.  Mit  Blick  auf  diese beiden Faktoren  ist davon auszugehen, dass die europä-ische Besetzung des Ko-Vorsitzes den Rat noch im Herbst 2010 beschäftigen wird.

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128 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 9|2010

Das vierte ministerielle Treffen zum Thema Wasser blieb im April 2010 ohne Ergebnis. Hintergrund war die israeli-sche Ablehnung des Begriffs „besetzte Gebiete‟ im Schlussdokument.

Darüber  hinaus  bewirkten  die  politischen  Effekte  des Nahost-Konflikts  Verzögerungen  bei  der  Benennung  des ersten Generalsekretärs.  Als  Ergebnis  eines  intergouver-nementalen Verfahrens wurde im März 2010 der jordani-sche Diplomat und ehemalige EU- und NATO-Botschafter 

Ahmad Masadeh zum ersten Generalsekretär der UfM erklärt. Mit  Blick  auf  die  gestärkte Rolle des Europäischen Parlaments in außen-politischen Fragen und Entscheidungen muss bemängelt  werden,  dass  die  Einbindung der  parlamentarischen  Euro-Med-Ebene  bei 

der Besetzung dieses Postens nicht erfolgt ist. Hätten die Staats- und Regierungschefs an ihren eigenen Absichtser-klärungen  festgehalten,  die  Euro-Mittelmeer-Parlamenta-rier-Versammlung (EMPA) voll in die UfM zu integrieren, so wäre eine parlamentarische Anhörung des Kandidaten für den Posten des Generalsekretärs wünschenswert gewesen.

Ungeachtet  der  Wiederbelegungsversuche  verlief  das vierte  ministerielle  Treffen  zum  Thema Wasser  vom  13. bis  14.  April  2010  ohne  Ergebnis.  Hintergrund  war  die israelische Ablehnung des Begriffs  „besetzte Gebiete‟  im Schlussdokument. Israel widersetzte sich der international anerkannten Bezeichnung der besetzten palästinensischen Gebiete  und  verhinderte  so  die  Verabschiedung  einer gemeinsamen Wasserstrategie.19

Vor dem Hintergrund der Drohung Syriens und Ägyptens, dem für den 7. bis 8. Juni 2010 vorgesehenen Gipfel der Staats- und Regierungschefs fernzubleiben, wurde er Ende Mai  auf  November  2010  verschoben.20  Vorausgegangen war die Erklärung des israelischen Außenministers Avigdo Liebermann, selbst am Gipfeltreffen teilnehmen zu wollen, was arabische Boykottdrohungen nach sich zog, da Lieber-mann  von  syrisch-ägyptischen  Vertretern  als  anti-arabi-scher Vertreter wahrgenommen wird. Zwar versuchte der spanische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero, damaliger  Vertreter  der  rotierenden  EU-Ratspräsident-schaft, Liebermann zum Fernbleiben zu bewegen,  jedoch 

19 | Eberhard Rhein, „Union for the Mediterranean has to get   serious‟, in: Blogactiv (23.04.2010), http://www.euractiv.com/  en/east-mediterranean/union-med-has-get-serious-analysis-  473553 [10.07.2010].20 | Vgl. „Mittelmeer-Gipfel wegen Nahost-Streit verschoben‟,   in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (22.05.2010).

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lehnte  dies  Israel  ab.  Es  ist  geplant,  das  verschobene Treffen in der dritten Novemberwoche zum 15. Jahrestag der EMP nachzuholen.

ANALySE DES POLITIScHEN PROzESSES UND KRITIK DER INSTITUTIONELLEN STRUKTUR

Startete  das  französische  Projekt  einer  Mittelmeerunion mit  dem  Ziel,  die  Defizite  und  Mängel  des  Barcelona-Prozesses und der ENP anzugehen und zu beseitigen, so fällt ein erstes Urteil der Implementierung der Ideen eher pessimistisch  aus.  Demnach  wäre  es  schwierig,  bei  der UfM  Erfolge  zu  sehen,  wo  bereits  der  Barcelona-Prozess versagt  hätte.21  Wird  auf  die  politischen  Ereignisse  und Verzögerungen  im  Umgang  der  UfM  zurückgeblickt,  so bieten sich erstens eine Analyse des politischen Prozesses und zweitens eine Kritik der institutionellen Struktur an.22

Zwar kann es aus prozessualer Sicht als Erfolg gewertet werden, dass sich die Staatschefs in Paris trafen und sich gegenseitig versicherten, wie wichtig die Mittelmeerdimen-sion auf beiden Seiten des Meeres sei,23 doch als hinreichend kann dies nicht betrachtet werden. Auch die Folgetreffen sind  nicht  von  Kritik  frei  geblieben:  Die  Meinungen  zur Beurteilung der Fortschritte der Außenminister-Konferenz in Marseille gingen auseinander: Es wurde einerseits als ein Erfolg  betrachtet,  dass  sich  die  Konferenzteilnehmer  auf ein Arbeitsprogramm  für 2009 einigen konnten. Darüber hinaus  wurde  einiger  Fortschritt24  auf  den  Gebieten  der 

21 | Roberto Alliboni, und Fouad M. Ammor, „Under the Shadow   of Barcelona: From the EMP to the Union for the Mediterra-  nean‟, in: EuroMeCSo Paper 77 (2009).22 | Im Rahmen einer sicherheitspolitischen Analyse multilateraler   Ansätze im Mittelmeerraum wurde jüngst eine gewisse Müdig-  keit festgestellt: „[W]e observe a kind of Mediterranean   fatigue when it comes to multilateral initiatives.‟, Carlo   Masala und Sarah Anne Rennick, „‚Overview‛ Mediterranean   Fatigue? The State of Multilateral Frameworks in the Middle   East.‟, EAG Policy Paper 9, (Kairo: Konrad-Adenauer-Stiftung,   2010), 1-2, 1.23 | Vgl. Hardy Ostry, Hochglanzbilder und Gipfelstimmung. Die Union für das Mittelmeer und der Nahost-Konflikt, (Berlin:   Konrad-Adenauer-Stiftung, 2008).24 | Michael Reiterer, „From the (French) Mediterranean Union   to the (European) Barcelona Process: The ‚Union for the   Mediterranean‛ as Part of the European Neighbourhood   Policy.‟ in: European Foreign Affairs Review 14 (2009):   313-336, hier: 327.

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Allgemein stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, den Geist der EMP in neue Initiativen zu übersetzen und dar-über hinaus institutionelle und projekt-bezogene Fortschritte zu erlangen.

Säuberung des Mittelmeeres, neuer See- und Landwege, Zivilschutzprojekte,  alternative  Energie,  Mittelmeersolar-

plan und höhere Bildung sowie eines Mittel-meerentwicklungsplans  für  Geschäftsleute erkannt.  Andererseits  wurde  die  Meinung vertreten, dass in den sechs grundlegenden Projekten  der  Union  keine  weiteren  Fort-schritte  erzielt  worden  seien,  da  sich  die 

Außenminister weder auf Durchführungsmodalitäten noch auf weitergehende konkrete Schritte einigten.25

Allgemein  stellt  sich  die  Frage,  inwieweit  es  mit  dem nun  gewählten  Weg  der  UfM  gelingen  kann,  den  Geist der  EMP  in  neue  Initiativen  zu  übersetzen  und  darüber hinaus  institutionelle  und  projektbezogene  Fortschritte zu erlangen.26 Mit Blick auf die Projekte wurde die Kritik laut, dass substanziell keine neuen Projekte angeschoben wurden, mit denen auch nur „partiell auf die strukturellen Probleme und Entwicklungen im Mittelmeerraum‟27 einge-gangen  worden  wäre  und  die  den  südlichen  Interessen entsprochen hätten. Die als neue Projekte angekündigten Maßnahmen wurden zum Teil bereits in der Vergangenheit von  den  bestehenden  Euro-Mittelmeerbeziehungen  und -institutionen bearbeitet. Unter Leitung der Europäischen Kommission  wurde  bereits  seit  2005  mit  der  Initiative „Horizon 2020‟ grenzüberschreitend daran gearbeitet, die Wasserqualität  des  Mittelmeeres  zu  erhöhen.  Ähnliches kann auch im Bildungsbereich beobachtet werden, wo sich die Bildungsminister bereits  im Juni 2007 in Kairo darauf geeinigt  hatten,  einen  gemeinsamen  Forschungsraum  zu gründen und den Austausch von Wissenschaftlern stärker zu fördern.

Im  Vergleich  zum  Barcelona-Prozess  wurde  der  UfM  ein schlechtes  Zeugnis  im  Umgang mit  dem Nahost-Konflikt ausgestellt.  Einer  Ansicht  nach  konnte  der  Barcelona- 

25 | Didier Billion, „L’Union pour la Méditerrannée, nouvel acteur   des relations internationales? L’Union pour la Méditerrannée   un an après.‟ http://affaires-strategiques.info [10.06.2010].26 | Vgl. Ahmed Driss, „North-African Perspectives‟, in: Roberto   Aliboni (Hrsg.), Putting the Mediterranean Union in Perspec- tive (EuroMeSCo Paper 68), 19-24, hier: 23.27 | Vgl. Daniela Schwarzer, und Isabelle Werenfels, „Formel-  kompromiss ums Mittelmeer‟ in: SWP-Aktuell (Berlin, 2008/  A24), 4-5.

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Konnte sich die EU bislang über die wechselseitigen Proteste und Verwei-gerungen von Arabern und Israelis hinwegsetzen, so geht dies nun nicht mehr.

Prozess  trotz  aller  Rückschläge  im  Friedensprozess  in Bewegung bleiben. Die neue institutionelle Situation würde es den arabischen Staaten erlauben, die gesamte UfM für eigene Interessen zu „kidnappen‟.28 Ein Grund wurde darin erkannt,  dass  innerhalb  der  EMP  die  arabischen Staaten und Israel lediglich Gäste eines von der EU angetriebenen Prozesses waren.29 Mit Beginn der UfM, dem Ko-Vorsitz und dem Generalsekretariat hätten die südlichen Mittelmeeran-rainerstaaten Miteigentümerschaft übernommen, was eben auch bedeuten kann, sich zu verweigern. Konnte sich die EU bislang über die wechselseitigen Proteste und Verwei-gerungen von Arabern und Israelis hinwegsetzen, so geht dies nun nicht mehr. Vor dem Hintergrund dieser gewollten Entwicklung muss die europäische Grundposition, wonach EMP und UfM keine direkten Instrumente zur Behandlung des Nahost-Konflikts seien, in Frage gestellt werden.

Ungeachtet  dieser  pessimistischen  Bewertungen  gelang es  im  institutionellen  Bereich,  die  EMP  im  Rahmen  der UfM  weiterzuentwickeln  und  konkrete  Projekt ideen  zu schaffen. Ein Sekretariat wurde  in Barcelona eingerichtet und die Ko-Präsidentschaft nahm ihre Arbeit auf.  Vor  dem Hintergrund  der  bestehenden europäischen  finanziellen  Vorausschau  bis 2013  führte  der  europäische  Erweiterungs- und  Nachbarschaftskommissar  Füle  aus, dass  die  Kommission  die  bereitstehenden Mittel entlang der Prioritätenliste von Paris und Marseille umorientierte:30 2009 wurden 92 Millionen Euro für regio-nale Projekte ausgegeben. Gemäß den Schwerpunkten von Paris entfielen auf den Wassersektor 22 Millionen Euro, den Transportsektor  zehn  Millionen  Euro  und  den  Zivilschutz 4,4  Millionen  Euro.  Die  EU  finanzierte mit  fünf  Millionen Euro  die  vorbereitenden  Maßnahmen  des  Mittelmeer-Solarprogramms und unterstützte Wirtschaftsmaßnahmen im Umfang von neun Millionen Euro.

28 | Tobias Schumacher, „A fading Mediterranen dream‟   in: European Voice, 16.07.2010.29 | Roberto Aliboni, „The Union for the Mediterranean. Evolution   and Prospects‟, Documentati IAI 09, 39e-December 2009, 3.30 | Stefan Füle, „Adress to the ‚For’UM‛ meeting‟,   Speech/10/269. European Comission, (2010), 3.

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„Gute‟ Institutionen, im Sinne der strukturellen Fähigkeit zur Generie-rung von gewünschten Ergebnissen, können keinen gemeinsamen politi-schen Handlungswillen ersetzen.

Gerade  die  Kooperation  im  Bereich  der  regenerativen Energie  erweist  sich  als  zukunftsgerichtete  Maßnahme.  Der Mittelmeer-Solarplan zielt darauf ab, Strom im Umfang von 20 Gigawatt aus erneuerbaren Energien zu generieren und  bis  im  Jahr  2020  energiesparende  Programme  im 

Mittelmeerraum  umzusetzen.  Im  Januar 2010 legte die Europäische Kommission eine Machbarkeitsstudie vor, die im Februar 2010 um ein Strategiepapier einer Expertenarbeits-gruppe  erweitert  wurde.  Im  Rahmen  einer privatwirtschaftlichen  Initiative  gründeten 

zwölf  Unternehmen  am  30.  Oktober  2009  die  Desertec-Stiftung, um eine klimafreundliche Energieversorgung aus dem Nahen Osten und Nordafrika sicherzustellen. Ziel des Konzepts  ist es, aus Solar- und Windenergie mittelfristig den lokalen Strommarkt Nordafrikas und langfristig Europa zu versorgen.

ScHLUSSBETRAcHTUNG

Das auf die dritte Novemberwoche verschobene Treffen der Staats- und Regierungschefs zum 15. Jahrestag der EMP wird  die  Chance  bieten,  sich  den  gemeinsamen  Heraus-forderungen  im  Mittelmeerraum  zu  stellen.  Mittelfristig wird  es  gelingen,  erstens  innerhalb  der  EU  und  bei  den südlichen Partnerstaaten im Rahmen der neuen institutio-nellen Architektur ausreichenden gemeinsamen Willen zu entwickeln, um die neuen Möglichkeiten auch  tatsächlich zu nutzen. Eins ist klar, „gute‟ Institutionen, im Sinne der strukturellen Fähigkeit zur Generierung von gewünschten Ergebnissen,  können  keinen  gemeinsamen  politischen Handlungswillen  ersetzen.  Zweitens  sollte  die  Schwer-punktsetzung  der  UfM  mit  ihrer  starken  Projektorientie-rung als Mehrwert verstanden werden, um in quasi unpo-litischen  bzw.  technischen Bereichen  die  Vertrauensbasis der südlichen Staaten untereinander und im Verhältnis zur EU auszuweiten.

Damit  dieser  Zielhorizont  erreicht werden  kann, müssen die  EU,  ihre  Mitgliedstaaten  und  die  südlichen  Partner-staaten  die  Realitäten  anerkennen.  Im  Zusammenhang zwischen  der  Projektbetonung  und  der  Auslagerung  von politischen,  sicherheitspolitischen  und  menschenrechtli-chen Fragen gibt es zwei Denkrichtungen, die beide an den 

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Die EU und ihre Mitgliedstaaten müs-sen lernen, unangenehme Themen aktiv anzugehen und den politischen Dialog auszuweiten anstatt die Augen vor den regionalen Realitäten zu ver-schließen.

begrenzten Erfolgen der EMP ansetzen: Die eine empfiehlt, an  unpolitischen  Projekten  mittelfristig  festzuhalten,  bis sich die regionale Lage so weit entspannt hat und gegen-seitiges  Vertrauen  existiert,  um  dann  die kritischen Fragen im gemeinsamen Rahmen zu  behandeln.  Argumentativ  beziehen  sich Vertreter  dieser  Sichtweise  auf  den  erfolg-reichen  Verlauf  der  europäischen  Integrati-onsgeschichte  nach  dem  Zweiten Weltkrieg und  der  supranationalen  Aufsicht  über  die kriegswichtigen  Industrien  für  Kohle  und  Stahl,  die  die EGKS begründete. Kritisch gilt es hier anzumerken, dass die weltpolitischen Gesamtzusammenhänge nach 1945 in Europa  und  in  den  neunziger  Jahren  im Mittelmeerraum kaum historische Parallelen aufweisen.

Die  andere  Denkrichtung  erachtet  es  als  einen  Nach-teil,  dass  die  EMP  und  die  darauf  aufbauende UfM  nicht direkt  als  Instrument  zum Einwirken auf  die  Parteien  im Nahost-Konflikt  eingesetzt  werden.  Israel  und  die  arabi-schen Parteien hingegen nutzen die gemeinsamen Treffen als  Foren,  ihre  jeweiligen  Sichtweisen  im  Konflikt  zu vertreten. Sie scheuten sich nicht, dem  jeweiligen  Inter-esse folgend an bestimmten Sitzungen teilzunehmen oder die  Teilnahme  abzusagen.  Insofern  müssen  die  EU  und ihre Mitgliedstaaten endlich lernen, unangenehme Themen aktiv anzugehen und den politischen Dialog auszuweiten anstatt,  einer  Vogelstraußpolitik  folgend,  die  Augen  vor den regionalen Realitäten zu verschließen.

Mit  Blick  auf  die  UfM  bedeutet  dies,  aktiv  die  externen Herausforderungen anzugehen, die an die Union herange-tragen werden. Aus arabischer Sicht ist dies an erster Stelle der Nahost-Konflikt, wobei ein stärkeres Engagement der EU gefordert wird.  Es  ist Aufgabe der EU,  vor  allem der Hohen  Beauftragten  Ashton, mit  der  Stärkung  der  part-nerschaftlichen Komponente im Rahmen des Ko-Vorsitzes und dem gemeinsamen Sekretariat konstruktiv zu wirken. Genauso  wenig  wie  die  israelische  Regierung  regionale Gegebenheiten missachten kann, kann die arabische Seite langfristig eine Politik der Isolierung Israels betreiben. An alle  drei  Seiten  richtet  sich der Auftrag,  politische Reali-täten und regionale Gegebenheiten anzuerkennen.

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Darüber  hinaus  gilt  es,  gemeinsame  Schlussfolgerungen und  Handlungsempfehlungen  aus  den  Auswirkungen  der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise, des Klimawandels und  der  wechselseitigen  Energiebeziehungen  zu  ziehen. Alle drei Themen verweisen auf den hohen Grad der poli-tisch  gewollten wechselseitigen  Verflechtung  und  gegen-seitigen  Abhängigkeit.  Vor  diesem Hintergrund muss  die Alternativlosigkeit  regionaler und  transregionaler Zusam-menarbeit festgestellt werden. In diesem Zusammenhang weisen  die  ausgewählten  Kooperationsprojekte  der  UfM in  die  richtige  Richtung,  um  das  gegenseitige  Vertrauen weiter zu stärken.

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Peter Köppinger

Am 10. Mai 2010 fanden in den Philippinen Wahlen statt. Gewählt wurden der Präsident, der Vizepräsident, die erste Parlamentskammer  (Kongress),  die  Hälfte  der  24  Sena-toren  (zweite  Parlamentskammer),  die  Gouverneure  der 80  Provinzen  sowie  Bürgermeister  und  Ratsmitglieder  in den Städten und Gemeinden (Municipalities) des Landes. In dem weitgehend der ehemaligen amerikanischen Kolo-nialmacht nachgebildeten politischen System des  Landes stellen die alle sechs Jahre stattfindenden Präsidentschafts-wahlen einen bedeutenden Einschnitt im politischen Leben dar, da der mit außerordentlicher Machtfülle ausgestattete Präsident – anders als in den Vereinigten Staaten – nicht erneut kandidieren darf, und da in dem vollständig perso-nalisierten  Wahlsystem  des  Landes  politische  Parteien keine wesentliche Rolle spielen. 

AUSGANGSLAGE VOR DEN WAHLEN

Durch einen von den mittelständischen Schichten des Groß-raums  Manila  und  der  Kirche  getragenen  Volksaufstand gegen den korrupten Präsidenten Josep Estrada, ein in der armen  Bevölkerung  populärer  Schauspieler,  war  im  Jahr 2001 die Vizepräsidentin Gloria Macapagal Arroyo (GMA) in  das  Präsidentenamt  gelangt.  Die  Ökonomin  aus  einer der reichsten Familien des Landes genoss hohes Ansehen. Ihr wurde allgemein zugetraut, an die erfolgreiche Präsi-dentschaft  von  Fidel  V.  Ramos  anknüpfen  zu  können, der  die  erst  1986  nach  dem  Ende  der  Marcos-Diktatur wiedererrichtete  Demokratie  in  den  sechs  Jahren  seiner Amtsperiode von 1992 bis 1998 stabilisiert und dem Land mit mutigen Reformen einen wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht hatte. Im Parlament stützte GMA sich auf eine 

Dr. Peter Köppinger ist Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung auf den Philippinen.

DIE PHILIPPINEN NAcH DEN WAHLEN VOM 10. MAI 2010

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Die derzeitige philippinische Präsidial-Verfassung lässt eine Wiederwahl des Präsidenten nach Ende der sechsjähri-gen Amtszeit nicht zu.

Koalition  ihrer eigenen, relativ kleinen, ursprünglich  libe-ralen Partei Kampi mit dem christdemokratischen Partei-enverbund Lakas-CMD.

Schon nach kurzer Zeit im Amt begannen ihre Popularitäts-werte  dramatisch  zu  sinken.  Bei  der  nächsten  regulären Präsidentenwahl  2004  konnte  sie  sich  nur mit  knappem 

Vorsprung  gegen  ihren wichtigsten Konkur-renten, einen Schauspieler und Verbündeten von  Estrada,  durchsetzen.  Ein  Jahr  später wurden  Telefongespräche  veröffentlicht, aus denen hervorging, dass sie offenbar mit 

Hilfe  der  staatlichen  Wahlkommission  das  Wahlergebnis gefälscht  hatte. Dies  sowie  ein  selbst  für  die  Philippinen außergewöhnliches Maß an Korruption, Bereicherung und Paktieren  mit  machtbesessenen  und  menschenverach-tenden Clans in zahlreichen Provinzen des Landes machten sie im Laufe der folgenden Jahre zur unbeliebtesten Poli-tikerin  in der  jüngeren Geschichte des Landes. Sie über-stand neun Putschversuche aus den Reihen  reformorien-tierter jüngerer Militärs und kandidierte in den Wahlen im Mai  2010  für  ihren  Heimatwahlkreis  im  Kongress  (erste Kammer  des  philippinischen  Parlaments)  –  nach  allge-meiner  Einschätzung  mit  dem  Ziel,  anschließend  über eine  Verfassungsreform  ein  parlamentarisches  System herbeizuführen,  in dem sie als Ministerpräsidentin weiter an der Macht bleiben könnte. Die derzeitige philippinische Präsidial-Verfassung lässt eine Wiederwahl des Präsidenten nach Ende der sechsjährigen Amtszeit nicht zu. 

ABLAUF UND ERGEBNISSE DER WAHLEN1

Zur Präsidentenwahl, die am 10. Mai 2010 gleichzeitig mit den Wahlen zum Kongress und Senat und den Kommunal-wahlen  stattfand,  wurden  von  der  staatlichen Wahlkom-mission  insgesamt  acht  Bewerber  zugelassen,  darunter auch  der  ehemalige  Präsident  Estrada,  der  nach  seiner 

1 |  Die in diesem Artikel genannten Zahlen im Zusammenhang   mit den Wahlen vom 10. Mai 2010 sind den vorläufigen   Wahlergebnissen aus der offiziellen Website der Nationalen   Philippinischen Wahlkommission entnommen. Endgültige   Ergebnisse liegen in vielen Fällen noch nicht vor. Die Bewer-  tungen und Einschätzungen in diesem Artikel gründen sich   vor allem auf persönliche Gespräche, die der Autor im Verlauf   der letzten neun Monate mit vielen einflussreichen Akteuren   im politischen Leben der Philippinen auf nationaler Ebene 

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Erstmals wurden in den rund 80.000 Wahllokalen Maschinen eingesetzt, wel-che die Ergebnisse per Funk weiterleiten sollten. Rund 75 Prozent der 51 Millio-nen Wahlberechtigten beteiligten sich an der Wahl.

Amtsenthebung 2001 wegen Diebstahls von Staatsgeldern in  großem  Umfang  und  Korruption  zu  lebenslanger  Haft verurteilt,  dann  aber  von  GMA  begnadigt worden war.  In  regelmäßigen Meinungsum-fragen  lag  vom  Herbst  2009  an  „Noynoy‟ Aquino vorn,  ein bis  dato wenig bekannter, politisch  vergleichsweise  passiver  Senator, der  nach  dem Tod  seiner  von  der  Bevölke-rung  verehrten  Mutter  Cory  Aquino  (Präsi-dentin in den Jahren der Wiedererrichtung der Demokratie nach dem Sturz des Diktators Marcos) im August 2009 von der liberalen Partei als Kandidat aufgestellt worden war.

Im  Vorfeld  der  Wahlen  und  auch  am  Wahltag  kam  es an  manchen  Orten  zu  politisch  motivierten  Gewalttaten und Morden,  die meist  auf  das  Konto  von  herrschenden Clans  in  einzelnen  Provinzen  und  Städten  gingen.  Sieht man  von  dem  Massaker  in  Maguindanao  im  November 2009 ab, bei dem Vertreter des dort herrschenden Clans 57  Menschen  –  Angehörige  einer  rivalisierenden  Familie sowie  fast  30  begleitende  Journalisten  –  ermordet hatten, lag die Zahl der Toten mit rund 60 deutlich unter den  Opferzahlen  bei  früheren  Wahlen.  Nachdem  es  in früheren  Wahlen  regelmäßig  zu  massiven  Unregelmä-ßigkeiten  gekommen  war  –  Stimmenkauf,  Einschüch- terungen  von Wählern,  Betrug  und  Fälschungen  bei  der Auszählung  und  Übermittlung  der  ausgezählten  Ergeb-nisse  –  wurden  bei  dieser  Wahl  erstmals  in  den  rund 80.000  Wahllokalen  Maschinen  eingesetzt,  welche  die manuell  ausgefüllten  Stimmzettel  elektronisch  einlesen und die Ergebnisse per Funk weiterleiten sollten. Rund 75 Prozent der 51 Millionen Wahlberechtigten beteiligten sich an  der Wahl.  Aufgrund  unzureichender  Vorbereitung  der Wahlhelfer und unzulänglicher Verfahrensvorgaben kam es an vielen Orten zu stundenlangen Wartezeiten. Viele Wahl-lokale wurden wegen der langen Schlangen von Wartenden erst eine Stunde nach der vorgegebenen Zeit geschlossen.  

  führen konnte (darunter Präsident a.D. F. V. Ramos, General   Jose Almonte, Vizepräsident Binay, Gilberto Teodoro, Francis   Manglapus sowie Berater und enge Mitarbeiter von Präsident   Benigno Aquino und Senator Manny Villar). Daneben wurden   Berichterstattung und Kommentare in den wichtigsten großen   Tageszeitungen des Landes sowie Analysen in verschiedenen   angesehenen Internetmedien (unter anderem Newsbreak,   Malaya) ausgewertet.

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Es gibt Informationen, dass der ehe-malige Präsident Fidel Ramos und sein früherer Sicherheitsberater Militär und Polizei davon abgebracht haben, die Wahlen zu verhindern.

Eine nicht näher quantifizierbare Zahl von Wählern konnte von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen, weil sie bei Schließung des  jeweiligen Wahllokals noch  in der Warte-schlange standen.

Vor  der  Wahl  waren  von  Medien  und  politischen  Beob-achtern  massive  Zweifel  geäußert  worden,  ob  die  Wahl 

überhaupt  stattfinden  oder  zu  einem Ergebnis führen würde. Es gab zahlreiche Anzeichen  dafür,  dass  GMA  nach  Wegen suchte,  um  trotz  des  Verfassungsverbots einer  erneuten  Kandidatur  an  der  Macht zu bleiben oder zumindest sicherzustellen, 

anschließend nicht wegen Korruption vor Gericht gestellt zu werden. Spekuliert wurde über ein Versagen der Hard- oder Software bei der elektronischen Stimmenauszählung, über  landesweite  Unterbrechungen  der  Stromversorgung und über gewalttätige Auseinandersetzungen, die zu einer Ausrufung  des  Ausnahmezustandes  oder  Kriegsrechts mit  der  Folge  der  teilweisen  oder  vollständigen  Absage der Wahlen hätten führen können. Nichts von alledem ist eingetreten. Allerdings gibt es glaubwürdige Informationen darüber,  dass  wenige  Tage  vor  der  Wahl  der  ehemalige Präsident Fidel Ramos und sein früherer Sicherheitsberater General Almonte gemeinsam die Führung von Militär und Polizei davon abgebracht haben, zu intervenieren und die Wahlen zu verhindern, da sie offenbar massive Probleme und  einen  neuen Volksaufstand  (People’s Power)  seitens der Aquino-Anhänger bei einer manipulierten Wahlnieder-lage fürchteten. Und noch in der Nacht vor der Wahl hätte die  staatliche  Wahlkommission  die  Wahl  möglicherweise abgesagt,  wenn  nicht  ein  ehemaliger  General,  der  eine wichtige Funktion in der Kommission übernommen hatte, die Dinge  in die Hand genommen und  für die endgültige Durchführung  der  Wahl  in  den  zahlreichen  Wahllokalen grünes  Licht  gegeben  hätte.  Hintergrund  waren  Speku-lationen  über  Vorbereitungen  eines  Putschs  seitens  des kurz zuvor von GMA eingesetzten Armeechefs Bangit und dadurch  ausgelöste  hektische  Aktivitäten  verfassungs-treuer Generäle für einen präventiven Gegenputsch.

Schon wenige Stunden nach der Schließung der Wahllokale lagen  Ergebnisse  aus  rund  zwei  Dritteln  der  Wahllokale vor – bei früheren Wahlen mit Handauszählung hatte das 

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Aquino erzielte mit 42,08 Prozent das beste Ergebnis, das ein Präsident unter der Verfassung von 1987 jemals er- reichte. Die Wahl zum Vizepräsidenten gewann überraschend Jejomar Binay.

regelmäßig mehrere Wochen gedauert. Danach lag Aquino bereits  fast  uneinholbar  vorn.  Am  Ende  erzielte  er  mit 42,08 Prozent das beste Ergebnis, das ein Präsident unter der Verfassung von 1987 jemals erreichte.

Bei  der  unabhängig  von  der  Stimmabgabe  für den Präsidenten erfolgten Wahl des Vize-präsidenten  gewann  überraschend  Jejomar  Binay, langjähriger Bürgermeister der reichsten  Stadt des Landes, „Makati‟, in Metro Manila. Er  hatte  –  nachdem  eine  von  ihm  erhoffte  Präsident-schaftskandidatur  durch  seine  Partei  Lakas-Kampi  nicht zustande  gekommen war  –  im  Tandem mit  Estrada  den Wahlkampf  bestritten.  Der  Vizepräsidentschaftskandidat und  Parteivorsitzende  der  Liberalen,  Mar  Roxas,  der  bis zuletzt in den Umfragen geführt hatte, kam mit rund zwei Prozent Rückstand nur als zweiter ins Ziel.

Bei den Wahlen zum Kongress waren mehr als 110 Abge-ordnete erfolgreich, die ihren Wahlkampf als Mitglieder der bisherigen  Regierungspartei  Lakas-Kampi-CMD  geführt hatten  (die  Gesamtzahl  der  in  Wahlkreisen  gewählten Abgeordneten beträgt 229). Inzwischen zeigt es sich aber, dass – ebenso wie nach früheren Wahlen – viele von ihnen der Partei  des neuen Präsidenten beitreten oder  sich als Unabhängige erklären und mit den Liberalen koalieren, um in den Genuss lukrativer Positionen in den Parlamentsaus-schüssen sowie der massiven Geldzahlungen zu kommen, die  vom Präsidenten an die Abgeordneten  für  von  ihnen vorgeschlagene Projekte in ihren Wahlbezirken jährlich aus dem nationalen Haushalt angewiesen werden. Neben den Wahlkreisabgeordneten wurden mehr als 40 weitere Abge-ordnete  von  Parteienlisten  so  genannter marginalisierter Bevölkerungsgruppen nach Proportionalverfahren gewählt. Insgesamt waren seitens der staatlichen Wahlkommission mehr als 160 solcher Parteilisten „marginalisierter‟ Bevöl-kerungsgruppen zur Wahl zugelassen worden, jede konnte maximal  zwei  Vertreter  im Kontingent  der  Parteilisten  in den Kongress entsenden. Diese Parteilisten wurden vielfach von Politikern der Oligarchie als Sprungbrett ins Parlament genutzt, die aus irgendwelchen Gründen in ihren eigenen Parteiorganisationen  nicht  aufgestellt  werden  konnten, darunter der Sohn von Präsidentin GMA als Vertreter der „Wachmänner-Partei‟.

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Aquino konnte sich dauerhaft bei 40 Prozent halten, weil er die Rückkehr zu einer ehrlichen und sauberen Regie-rungspolitik zum Kernpunkt seiner Kampagne machte.

ANALySE DER WAHLERGEBNISSE

Der  alles  dominierende  Faktor  in  den  Wahlen  war  der Wunsch  in  der  Bevölkerungsmehrheit,  die  Ära  GMA definitiv  zu  beenden.  Aquino,  der  zunächst  nach  dem Tod  seiner Mutter  auf  einer Welle  der Nostalgie  und  der 

Sehnsucht  nach  einer  sauberen  politischen Führung mehr als 60 Prozent Zustimmungs-werte  in  den Umfragen erhielt,  konnte  sich auch  nach  dem  Abflauen  dieser  Stimmung dauerhaft bei 40 Prozent halten, weil er die 

Rückkehr  zu  einer  ehrlichen  und  sauberen  Regierungs-politik zum Kernpunkt seiner Kampagne machte und sich am deutlichsten von allen aussichtsreichen Kandidaten für eine  Untersuchung  der  Korruptionsfälle  in  der  Amtszeit von GMA aussprach. Sein lange Zeit stärkster Mitbewerber um das Präsidentenamt, Senator Villar, ein aus einfachen Verhältnissen  stammender  Self-Made-Multi-Millionär, verlor drastisch an Boden und fiel am Ende sogar auf den dritten  Platz  zurück,  nachdem  gut  zwei  Monate  vor  der Wahl das – offensichtlich begründete – Gerücht die Runde machte, die Präsidentin finanziere seinen Wahlkampf mit und habe mit ihm einen Deal verabredet, wonach sie nach der Wahl Sprecherin  im Kongress und  später  nach  einer entsprechenden  Verfassungsreform  Ministerpräsidentin werden könne. Der Kandidat der Regierungspartei Lakas-Kampi-CMD,  der  ehemalige  Verteidigungsminister  und angesehene Anwalt Gilberto Teodoro, hatte von vornherein als Kandidat der GMA-Partei  keine Chance: Seine Unter-stützung  durch GMA wurde  in  den Medien  allgemein  als „kiss  of  death‟  bezeichnet.  Und  auch  seine  persönliche Integrität,  hohe  Kompetenz  und  Beliebtheit  unter  gebil-deten jüngeren Wählern konnte das zu keinem Zeitpunkt kompensieren.

Dass  der  in  der  armen  Bevölkerung  weiterhin  populäre ehemalige Präsident Estrada  trotz seiner  früheren Verur-teilung  mit  mehr  als  25  Prozent  der  Stimmen  eine  Art politisches Comeback feiern konnte, zeigt darüber hinaus, dass  sich  große  Teile  der  armen  Bevölkerungsschichten durch die von den  reichen Familien dominierte politische Kaste ausgebeutet fühlen und einen Wechsel wollen – ein Faktor,  der  zunächst  auch  Villar  zugute  kam.  Wie  stark die  Unzufriedenheit  mit  der  derzeitigen  politischen  und 

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Sowohl der Präsident und der Vizeprä-sident wie auch eine sehr große zahl von Senatoren, Provinzgouverneuren, Kongressabgeordneten und Bürger-meistern stammen aus den reichsten Familien des Landes oder aus Familien, die seit Jahrzehnten das politische und gesellschaftliche Leben dominieren.

wirtschaftlichen Situation  ist, zeigt sich auch daran, dass der Sohn des Diktators Marcos,  der  seinen Vater  öffent-lich glorifiziert, in der landesweiten Wahl von zwölf  Senatoren  ganz  vorne  lag,  und  dass Imelda  Marcos,  die  80-jährige  Witwe  des Diktators, die zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur 1986 wieder für ein politisches Amt kandidierte, mühelos in ihrem Heimatort den Kongresswahlkreis gewann.

Ein  weiteres  herausragendes  Merkmal  der  Wahlen  war die gegenüber den vorhergehenden Wahlen sogar wieder verstärkte Dominanz der so genannten politischen Dynas-tien. Sowohl der Präsident und der Vizepräsident wie auch die  Mehrzahl  der  gewählten  Senatoren  und  Provinzgou-verneure und eine sehr große Zahl von Kongressabgeord-neten  und  Bürgermeistern  stammen  entweder  aus  den reichsten  Familien  des  Landes  oder  aus  Familien,  die  in ihren Heimatprovinzen seit Jahrzehnten das politische und gesellschaftliche Leben dominieren und in der Regel auch wirtschaftliche Machtpositionen einnehmen.

Bei den national gewählten Positionen (Präsident, Vizeprä-sident und Senatoren) ist ohnehin klar, dass aufgrund des landesweit  erforderlichen  Wahlkampfes  in  dem  95-Milli-onen-Volk mit mehr als 7000 Inseln und der Nichtexistenz von  staatlicher  Wahlkampfkostenerstattung  wie  auch organisatorisch  und  finanziell  schlagkräftiger  politischer Parteien  nur  Bewerber  eine  Chance  haben,  die  selbst prominent  und  reich  genug  sind,  um  zweistellige Dollar-Millionen-Beträge  aufzubringen,  oder  die  von  reichen Familien entsprechend gefördert werden.

Bei  den  bedeutsamen  regional  oder  örtlich  gewählten Positionen  stellen  die  in  den  jeweiligen  Provinzen  wirt-schaftlich  und  politisch  herrschenden  Dynastien  in  der Mehrzahl  der  Fälle  sowohl  den  Gouverneursposten  wie auch  die  Wahlkreisabgeordneten  für  den  Kongress  und die  wichtigsten  Bürgermeisterpositionen  in  der  jewei-ligen  Provinz.  Die  Sicherung  dieser  Positionen  erfolgt meist  durch  die  Fortführung  des  alten,  aus  der  spani-schen  Kolonialzeit  übernommenen  Patronagesystems, in  dem  finanzielle  Begünstigungen,  die  Vergabe  wich-tiger Positionen und auch soziale Fürsorge zur Sicherung  

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von  Mehrheiten  eingesetzt  werden,  daneben  aber  auch Einschüchterung  und  in  manchen  Fällen  auch  brutale Gewalt,  wenn  die  Besetzung  dieser  Positionen  durch  die eigene Dynastie von konkurrierenden Familien oder auch charismatischen  Außenseitern  oder  Aktivisten  in  Medien und Nichtregierungsorganisationen in Frage gestellt wird. 

DIE POLITIScHE LAGE NAcH DEN WAHLEN

Der neue Präsident Benigno „Noynoy‟ Aquino, der am 30. Juni sein Amt angetreten hat, steht vor großen Herausfor-derungen:

 ▪ In  seinem  politischen  Lager  bekämpfen  sich  öffentlich vier verschiedene Flügel: 1. die führenden Vertreter der liberalen Partei, die nach der Niederlage ihres Parteivorsitzenden Mar Roxas bei der Vizepräsidentenwahl besonders sensibel reagieren und den Verdacht haben, dass sie von anderen Teilen des Aquino-Lagers bewusst betrogen worden sind;

2. die  Mitglieder  und  Einflusspersonen  der  reichen Aquino-Familie;

3. die  zahlreichen  ehemaligen  Kabinettsmitglieder  und einflussreichen  Mitarbeiter  GMAs,  die  im  Laufe  der Jahre  und  insbesondere  angesichts  der  absehbaren Lakas-Kampi-CMD-Niederlage in den letzten Monaten ins Aquino-Camp übergelaufen sind;

4. die  große  Gruppe  der meist  jungen  und  enthusias-tischen  Noynoy-Anhänger  aus  Zivilgesellschaft  und Nichtregierungsorganisationen,  die  die  anderen  drei Gruppen mit großem Misstrauen als Trapos (traditio-nelle Politiker) ansehen.

Ihre  Vorstellungen  zur  zukünftigen  Regierungspolitik gehen weit auseinander und sind vielfach sogar gegen-sätzlich.

 ▪ Es  wird  für  Aquino  trotz  der  nach  den  Wahlen  übli-chen großen Zahl von Parteiwechslern und Überläufern aus  allen  anderen  Lagern  sehr  schwer  sein,  sich  eine Mehrheit  im  Kongress  für  seine  zukünftigen Gesetzes-vorhaben zu sichern, nachdem seine  liberale Partei bei den Wahlen weniger als 50 der 229 Wahlkreismandate gewinnen  konnte. Will  er  nicht  als  handlungsunfähiger und passiver Präsident in die Geschichte eingehen, muss 

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Sollte Aquino versuchen, die dringend notwendigen Reformen zur öffnung der Märkte anzugehen, wird er auf den massiven Widerstand seiner eigenen Familie und der philippinischen Oligar-chie stoßen.

er wahrscheinlich Koalitionen mit  anderen Gruppen  im Kongress eingehen, die die ohnehin zu überbrückenden Meinungsverschiedenheiten  in  seinem  Regierungslager weiter verschärfen werden.

 ▪ Sein wichtigstes Wahlversprechen, eine saubere Regie-rung, der Abbau von Korruption, Vetternwirtschaft und Begünstigungen, wird nur schwer erfolgreich einzulösen sein,  weil  er  die  erforderlichen Mehrheiten  für  gesetz-liche  Regelungen  in  Kongress  und  Senat sowie  die  Unterstützung  in  der  staatli-chen  Bürokratie  und  in  einflussreichen gesellschaftlichen  Kreisen  wahrscheinlich nur  sichern  kann,  wenn  er  hierzu  die  in den  vergangenen  Jahren üblichen  Instru-mente einsetzt, nämlich: Begünstigungen, Zuwendungen aus dem Staatshaushalt, Korruption. Die Gefahr ist groß, dass er im Dilemma zwischen Wirkungs-losigkeit  und  Verlust  seiner  Glaubwürdigkeit  zerrieben wird.

 ▪ Sollte er versuchen, die größeren, dringend notwendigen Reformen zur Öffnung der Märkte nach außen und inner-halb des Landes, zur Verbesserung des repräsentativen und  partizipativen  Charakters  und  der  Effektivität  des politischen Systems anzugehen – was  im Wesentlichen nur  über  Verfassungsänderungen  möglich  ist  –,  wird er nicht nur mit der aus seinem eigenen Lager vor den Wahlen  geschürten  Dämonisierung  von  Verfassungs-änderungen zu kämpfen haben,  sondern auch auf den massiven  Widerstand  seiner  eigenen  Familie  und  mit ihr  verbundener  Familien  aus  der  philippinischen  Olig-archie  stoßen,  die  in  der  Nach-Marcos-Ära  die  Verfas-sung  erfolgreich  so  beeinflusst  haben,  dass  Staat  und Wirtschaft fest in ihrem Griff bleiben. Selbst die schlichte Umsetzung von wichtigen, längst beschlossenen Reform-vorhaben  kann  ihn  in  große  Schwierigkeiten  bringen. So bleibt zum Beispiel abzuwarten, ob er die Blockade der  Landreformvorschriften  auf  dem  Stammsitz  seiner Familie, die mit juristischen Mitteln in den vergangenen Jahrzehnten durch seine Familie betrieben worden ist, in absehbarer Zeit aufgeben wird.

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Die ersten Reden der Präsidentin Gloria Macapagal Arroyo waren 2001 stark von christdemokratischem Gedanken-gut geprägt. Die Partei selbst aber kümmerte vor sich hin.

Im Übrigen bleibt nur zu hoffen, dass es ihm gelingt, neben reformbereiten  Kräften  in  seinem  eigenen  Lager  auch reformorientierte Gruppen aus anderen politischen Lagern in seine Politik einzubinden, und dass er sich als entschei-dungsstarker  und  geschickter  Führer  des  Landes  profi-lieren kann – wofür es bislang nicht allzu viele Hinweise gab. Positiv ist zu vermerken, dass bei den im Juni publik gewordenen Kandidaten  für die wichtigsten Ämter  in der neuen  Administration  (Justizminister,  Finanzminister  und andere) Persönlichkeiten überwiegen, die als  sauber und kompetent gelten. 

DIE LAGE DER cHRISTDEMOKRATEN

Die Parteien im traditionellen System nach der Unabhängig-keit – Nationalistische Partei und Liberale Partei – haben sich in der Vergangenheit zu keinem Zeitpunkt als Mitglieder- und  Programmparteien  wirklich  landesweit  etabliert.  Die Christdemokraten, die sich seit Ende der sechziger Jahre aus  verschiedenen  christlich-sozialen  Bewegungen  als Programmpartei  gebildet  hatten – geführt  vor  allem von Raul Manglapus – konnten  sich nicht  zu einer wirklichen Mitgliederpartei  entwickeln,  nachdem Marcos  Anfang  der siebziger Jahre die demokratische Verfassung außer Kraft setzte  und  Manglapus  sowie  viele  seiner  Mitstreiter  ins Exil oder in den zunehmend von den Kommunisten domi-nierten  Untergrund  gingen.  Nach  dem  Fall  der  Marcos-Diktatur schlossen sich die seit Anfang der achtziger Jahre wieder aktiven christdemokratischen Gruppen der breiten demokratischen  Koalition  unter  Präsidentin  Cory  Aquino 

an.  Ihre  Führungspersönlichkeiten  wurden in  die  Regierung  eingebunden,  ohne  dass eine  systematische  Parteiarbeit  zur  Schaf-fung  einer  Mitgliederbasis  stattfand.  Nach dem  Ende  der  Regierungszeit  von  Cory 

Aquino wurde unter ihrem von dem christdemokratischen Parteienbündnis „Lakas-CMD‟ getragenen Nachfolger Fidel V.  Ramos  zwar  die  Programmarbeit  verstärkt,  insbeson-dere durch seinen Sicherheitsberater, den als „denkender General‟  titulierten  christdemokratischen  Vordenker  Jose T. Almonte. Sie kam aber fast ausschließlich der Regierung zugute, die Partei fand kaum mehr statt, zumal auch die verschiedenen  in die Koalition einbezogenen christdemo-kratischen Mini-Parteien nie wirklich fusioniert hatten.

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Nach der massiven Niederlage des wenig charismatischen Parteiführers  Jose  de  Venecia  im  Präsidentenwahlkampf 1998  gegen  den  Schauspieler  Josep  Estrada  ruhten  die Hoffnungen der Christdemokraten auf politischen Einfluss verstärkt auf der gewählten Vizepräsidentin Gloria Maca-pagal Arroyo, die mit ihrer kleinen ehemals liberalen Partei Kampi  eine  Koalition  mit  den  Lakas-Christdemokraten unter  Jose  de  Venecia  eingegangen war. Mit  dem Volks-aufstand gegen Estrada und der Übernahme des Präsiden-tenamtes  durch  GMA  2001  wurde  Lakas-Parteiführer  de Venecia erneut Sprecher des Kongresses und sicherte für GMA  die Mehrheit  im  Parlament.  Auch  die  ersten  Reden und die Regierungserklärung von GMA waren stark geprägt von christdemokratischem Gedankengut. Die Partei selbst aber kümmerte vor sich hin, ohne dass der Versuch unter-nommen  wurde,  sie  systematisch  als  Programm-  und Mitgliederpartei aufzubauen und zu etablieren.

Mit dem vor allem durch Wahlfälschungen und Korruption bedingten  Ansehensverlust  von  GMA  in  den  Jahren  ab 2003 kamen auch die Christdemokraten in der Regierungs-koalition in eine schwierige Lage. Als zentrale Verbündete der  Präsidentin  waren  sie  von  dem  Popularitätsschwund mit betroffen. Fidel Ramos, der 2005/2006 mit massivem persönlichem Einsatz die angeschlagene Präsidentin noch einmal vor dem Sturz bewahrt hatte, sah sich anschließend von  ihr  getäuscht  und  begann,  sich  zu  distanzieren.  Im Jahr 2008 wurde Jose de Venecia von GMA aus dem Amt des Sprechers des Kongresses verdrängt, nachdem er sich mit seinem Sohn solidarisiert hatte, der einen der zahlrei-chen Korruptionsskandale der Präsidentenfamilie öffentlich gemacht hatte. Gleichzeitig ließ GMA Beschlüsse über eine formelle Fusion von Lakas-Kampi-CMD von satzungsmäßig hierzu  nicht  legitimierten  Führungsgremien  fassen  und schloss  de  Venecia  aus  der  Partei  aus.  Da  Lakas-CMD als  Mitglieder-  und  Programmpartei  unter  de  Venecia nie entwickelt worden war, konnte er  sich dagegen auch innerparteilich nicht wehren. Sein Versuch, die Fusion vor staatlicher Wahlkommission und oberstem Gerichtshof für ungültig erklären zu lassen, war nicht erfolgreich.

Ende Oktober 2009 beschloss der Nationalrat von Lakas-Kampi-CMD,  die  Spitzenkandidatur  für  die  Präsident-schaftswahlen 2010 Verteidigungsminister Gilberto Teodoro 

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Ende Oktober 2009 beschloss der Nationalrat von Lakas-Kampi-cMD, die Spitzenkandidatur für die Präsident-schaftswahlen 2010 Verteidigungsmi-nister Gilberto Teodoro anzutragen.

(„Gibo‟)  anzutragen,  der  sich  als Harvard-Absolvent  und angesehener Anwalt sowie als hochkompetenter, sauberer und  entscheidungsstarker  Politiker  einen  sehr  guten  Ruf 

erworben  hatte.  Die  Lage  der  Christdemo-kraten insgesamt blieb konfus. Die christde-mokratischen  Lakas-CMD-Persönlichkeiten waren teilweise mit de Venecia aus der Partei ausgestiegen  und  unterstützten  im  Wahl-kampf Noynoy Aquino, Villar, Senator Gordon 

oder sogar Estrada. Ein Teil verblieb weiterhin in der Lakas und unterstützte Gibo. Es war aber bereits abzusehen,

 ▪ dass Lakas-Kampi-CMD nach der kaum zu gewinnenden Wahl auseinanderfallen würde,  ▪ dass  Jose  de  Venecia,  der  im  Land  nicht  populär  ist, keine Chance mehr haben würde, eine relevante Partei der „Lakas-Originals‟ wieder aufzubauen, ▪ und  dass  andererseits  christdemokratische  Persön-lichkeiten,  die  sich  im  Wahlkampf  ins  liberale  Lager von Noynoy oder  ins Lager von Senator Villar begeben hatten,  nach  der Wahl  daran  interessiert  sein würden, wieder  einer  eigenständigen,  zentristisch  (christlich/muslimischen) demokratischen Bewegung anzugehören.

Bereits  im  März  2010  trat  Gibo  vom  Amt  des  „Party-Chairman‟ der Lakas-Kampi-CMD zurück, das er mit seiner Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Partei über-nommen  hatte.  Grund  war  vor  allem,  dass  GMA  damit begonnen  hatte,  Mittel,  die  für  die  Unterstützung  des Wahlkampfs  kommunaler  Kandidaten  der  Lakas  vorge-sehen waren, statt dessen direkt oder über ihren Ehemann in den Wahlkampf von Senator Villar umzuleiten, dem zu diesem Zeitpunkt noch gute Chancen eingeräumt wurden, die  Präsidentenwahl  zu  gewinnen.  Francis  Manglapus, Sohn  des  ehemaligen  christdemokratischen  Führers  und Außenministers Raul Manglapus und enger Vertrauter von Gibo, verblieb weiterhin als hauptamtlicher Parteipräsident in  der  Lakas-Führung,  trat  von  seinem Amt  aber  unmit-telbar  nach  den Wahlen  zurück,  nachdem GMA  das  Amt des  ehrenamtlichen  „Party-Chairman‟  wieder   übernahm. Ob  die  Christdemokraten  –  im  Verbund  mit  wertorien-tierten  Muslim-Gruppen  –  in  absehbarer  Zeit  wieder wesentlichen  Einfluss  in  der  philippinischen  politischen Landschaft  gewinnen  können,  wird  maßgeblich  davon 

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Ob die christdemokraten wieder we- sentlichen Einfluss gewinnen können, wird maßgeblich davon abhängen, ob es gelingt, jüngere, wertorientierte Multi-plikatoren aus akademischen Kreisen, Privatwirtschaft und zivilgesellschaft für einen unbelasteten politischen Neu-beginn zu mobilisieren.

abhängen, ob es gelingt, unter jüngeren, wertorientierten Multiplikatoren aus akademischen Kreisen, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft Anhänger für einen unbelasteten poli-tischen Neubeginn  zu mobilisieren  und  eine  solche  neue „zentristische‟  demokratische  Bewegung  auch mit  klarer Programmatik und straffer Organisation aufzubauen. 

PERSPEKTIVEN

In  den  vergangenen  20  Jahren  ist  deutlich  geworden, dass  das  politische  System  der  Philippinen,  wesentlich geprägt durch die Verfassung von 1987, echte demokra-tische Repräsentation und Partizipation massiv behindert und  die  Geiselnahme  des  philippinischen  Staates  sowie die Beherrschung der philippinischen Wirtschaft durch die herrschenden  Familien  des  Landes  festschreibt.  Zu  den wesentlichen  institutionellen  Schwächen  des  philippini-schen Systems gehören vor allem folgende Faktoren:

1.  Zum einen sind da die  lange Amtsperiode und enor- men  finanziellen  und  personellen  Entscheidungs-spielräume  des  Präsidenten,  die  kaum  vorhandene parlamentarische  und  juristische  Kontrolle  seines Handelns  und  das  Verbot  einer  erneuten  Kandidatur für eine zweite Amtszeit. Einerseits sind politische und auch  personelle  Korrekturnotwendigkeiten  in  einem solchen  System  stark  erschwert,  des  Weiteren  fehlt ein wesentlicher Anreiz für eine am Volk orientierte  Politik  (das  Bemühen  um Wiederwahl),  und  schließlich  sind  auch durch  die  insgesamt  kurze  Einfluss-periode  des  jeweiligen  Präsidenten  die Möglichkeiten  einer  mittelfristigen  und somit nachhaltigen Reformpolitik massiv eingeschränkt.

2.  Nachteilig  ist  auch  das  Wahlrecht,  das  die  Abge-ordneten  der  ersten  Kammer  des  Parlaments  (mit Ausnahme  der  Parteilistenkandidaten)  ausschließlich über Persönlichkeitswahl in den Wahlkreisen bestimmt. Hiermit haben – vor dem Hintergrund der vielfach noch  intakten alten Patronagestrukturen – politische Parteien  keine Einflussmöglichkeiten auf die Auswahl der Volks-vertreter, keine Anreize für programmatische Ansätze 

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Durch das Wahlrecht haben politische Parteien keine Einflussmöglichkeiten auf die Auswahl der Volksvertreter, keine Anreize für programmatische Ansätze und wenig Existenzberech-tigung neben der Durchführung des Wahlkampfs.

auf nationaler Ebene und im Grunde wenig Existenzbe-rechtigung neben der Durchführung des Wahlkampfs im Auftrag  und mit  dem Geld  ihrer  jeweils  selbster-nannten Führer und Sponsoren.

3.  Nach  Proportionalwahlrecht  werden  20  Prozent  der Kongressabgeordneten aus so genannten Parteilisten „marginalisierter  Bevölkerungsgruppen‟  gewählt.  Da es an rechtlich belastbaren Kriterien für die Definition „marginalisierter Bevölkerungsgruppen‟ fehlt, hat die nationale  Wahlkommission  inzwischen  mehr  als  180 solcher Parteilisten zugelassen, von denen sich mehr als  160  an  den Wahlen  am  10. Mai  beteiligt  haben. Jede  von  ihnen  darf  maximal  zwei  Abgeordnete  in den Kongress entsenden, auch wenn ihr prozentualer Anteil nach dem Proportionalsystem eine größere Zahl begründen  würde.  Folge  sind  die  weitere  Fragmen-tierung  des  Parlaments,  die  Nichtberücksichtigung der  Interessen echter marginalisierter Bevölkerungs-gruppen in den so genannten regulären Parteien und die  Instrumentalisierung  dieser  Parteilisten  durch 

Mitglieder der Familien-Dynastien, die sich als Preis  für  die  Finanzierung  des  aufwendigen landesweiten  Wahlkampfs  einzelner  Partei-listen  für  die  Spitzenposition  nominieren lassen.  Insgesamt  hat  dieses  Proportional-Element  im philippinischen Wahlrecht  somit gegenteilige  Auswirkungen  als  ein  echtes 

Proportional-Element,  das  neben  der  Direktwahl  in Wahlkreisen auch die Wahl einer relevanten Zahl von Vertretern aller zur Wahl zugelassenen Parteien über regionale  oder  nationale  Parteilisten  vorsehen  und somit  zur  Integration  von  Minderheiteninteressen  in die Programme der großen Parteien und zur Stärkung der politischen Stellung der Parteien auch in der Parla-mentsarbeit beitragen kann.

4.  Der  aufwendige  landesweite  Wahlkampf  für  die  24 Senatorenposten  in  der  zweiten  Parlamentskammer kann angesichts des Fehlens von Parteien- und öffent- licher Wahlkampfkostenfinanzierung fast nur von Vertre-tern der Dynastien oder von durch sie unterstützten öffentlich bekannten Personen (Schauspieler, Medien-persönlichkeiten  usw.)  erfolgreich  bestritten werden.  

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Der aufwendige landesweite Wahl-kampf für die 24 Senatorenposten kann fast nur von Vertretern der Dynastien oder von durch sie unterstützten öffent-lich bekannten Personen erfolgreich bestritten werden.

Die  weitreichenden  Blockaderechte  des  Senats  bei allen nationalen Gesetzgebungsvorhaben geben damit den dominierenden Familien des Landes ein wirkungs-volles Instrument an die Hand, mit dem sie alle unlieb-samen  Reformen  abblocken  können,  auch  wenn  sie durch  einen  reformorientierten  Präsidenten  und  eine Mehrheit im Kongress getragen werden.

5.  Die  Direktwahl  des  Vizepräsidenten  durch  das  Volk unabhängig  von  der  Wahl  des  Präsidenten  kann im  günstigsten  Fall  dazu  beitragen,  dass  sich  eine Regierung auf eine breitere Mehrheit in den ebenfalls unabhängig vom Präsidenten gewählten beiden Kammern des Parlaments stützen kann. In der Regel  führt sie aber dazu, dass  der  Präsident  von  Beginn  seiner Amtszeit  an  einen  Konkurrenten  neben sich  hat,  dessen  Hauptinteresse  die Verbesserung  seiner  politischen  Aus- gangsposition  für  die  kommenden  Präsidentschafts-wahlen oder gar das Hinarbeiten auf das Scheitern der Politik des Präsidenten und seine vorzeitige Ablösung durch ein Absetzungsverfahren ist.

6.  Problematisch  sind  die  so  genannten  Pork barrels, jährliche Mittelzuweisungen aus dem nationalen Haus-halt direkt an die Mitglieder des Abgeordnetenhauses (Kongress) für von ihnen persönlich ausgesuchte und vorgeschlagene  „Projekte‟  in  ihrem  jeweiligen Wahl-kreis. Diese Projekte sind weder notwendigerweise mit den staatlichen Entwicklungsplänen noch mit den  im Local Government Code  vorgesehenen  partizipativen Entwicklungsmechanismen auf  örtlicher  Ebene  abge-stimmt. Angesichts der beträchtlichen Gesamtsumme von  umgerechnet  zwischen  200  und  300  Millionen Euro,  der  Möglichkeit,  die  einzelnen  Kongressmit-glieder mit unterschiedlichen Summen zu berücksich-tigen und des direkten Einflusses des Präsidenten auf diese  Zuteilung  sind  sie  ein  ideales  Instrument  zur Kontrolle  der  ersten  Parlamentskammer  durch  den Präsidenten  und  zur  Schwächung  von  deren  Kont-rollfunktion  gegenüber  der  Exekutive.  Die  Frage  der Akquisition nationaler Haushaltsmittel für Projekte im jeweiligen Wahlkreis ist ja ein wichtiges Kriterium für 

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Das Fehlen einer staatlich regulierten Parteienfinanzierung und Wahlkampffi-nanzierung zementiert den Einfluss der Dynastien und fördert die Korruption der einmal gewählten Mandatsträger.

die Wiederwahlchancen des jeweiligen Abgeordneten – neben seiner Zugehörigkeit oder Unterstützung durch die örtlich dominierenden Familien oder Dynastien.

7.  Das Fehlen eines Parteiengesetzes und  insbesondere einer  staatlich  regulierten  und  unterstützten  Partei-enfinanzierung  und  Wahlkampffinanzierung  führt  zu einer  totalen  Abhängigkeit  aller  Kandidaten  von  der Finanzierung  durch  reiche  Sponsoren.  Es  zementiert den  Einfluss  der  Dynastien  und  reichen  Familien 

auf  regionaler  wie  nationaler  Ebene  und fördert die Korruption der einmal gewählten Mandatsträger, die  ja nach der Wahl versu-chen,  mindestens  das  in  den  Wahlkampf investierte Geld wieder zurückzuerhalten.

8.  Ein Schwachpunkt  ist das Fehlen ordnungspolitischer Rahmengesetzgebung im Hinblick auf die Offenhaltung des  Zugangs  zu  nationalen  und  regionalen/lokalen Märkten,  den  Schutz  gegen  unlauteren Wettbewerb, die Vermeidung oder Kontrolle von Kartellen und Mono-polen.  Hintergrund  ist  die  Beherrschung  lukrativer nationaler  und  lokaler  Märkte  und  Teilmärkte  durch die  reichen  Familien,  die  kein  Interesse  an  offenem Wettbewerb haben – der aber zu mehr Wachstum und Arbeitsplätzen  und  zu  besseren Voraussetzungen  für wirksame Armutsbekämpfung führen würde.

9.  Weiterhin  völlig  unzureichend  verläuft  die  Dezentra-lisierung  der  politischen  Entscheidungskompetenzen auf  die  Regionen,  Provinzen,  Städte  und  Gemeinde-verbände,  inklusive  der  entsprechenden  fiskalischen Dezentralisierung. Nach dem ersten großen Schritt mit der Erarbeitung und Inkraftsetzung des Local Govern-ment Codes im Jahr 1991 sind keine weiteren Schritte mehr  erfolgt.  Die  Umsetzung  der  Vorschriften  des Codes  erfolgt  nur  punktuell  an Orten mit  besonders engagierten  politischen  Führungspersönlichkeiten. Auch  die  dringend  notwendige  Regionalisierung  von Entscheidungskompetenzen,  Verwaltungsstrukturen und Finanzmitteln kommt  trotz  intensiver Diskussion seit vielen Jahren nicht vom Fleck. Schließlich können auch die Minderheitenprobleme des Landes im Grunde  

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Erfahrene philippinische christdemo- kraten bezeichnen es inzwischen als ihren größten Fehler, den Aufbau einer programmorientierten, Mitglie-der-basierten Partei nicht ernsthaft betrieben zu haben. Es führt kein Weg daran vorbei, damit jetzt syste-matisch und ernsthaft zu beginnen.

nur über die Schaffung verfassungsrechtlicher Voraus-setzungen für echte Autonomie-Regelungen oder den Aufbau föderalistischer Strukturen gelöst werden.

Es hat sich gezeigt, dass viele sehr konkrete und  in  der  philippinischen  Öffentlichkeit durchaus wahrgenommene Initiativen inlän-discher wie auch ausländischer Akteure zur Reform dieser Systemschwächen leer laufen, weil  es  keine  organisierte  philippinische politische Kraft gibt, die diese Reformen mit Nachdruck im politischen Tagesgeschäft verfolgt. Dies wäre naturgemäß  Aufgabe  zentristischer  politischer  Parteien, die angesichts des weiterhin sehr  lebendigen christlichen Wertefundaments in der philippinischen Gesellschaft sehr gute Existenzbedingungen hätten.

Erfahrene philippinische Christdemokraten,  die  bereits  in den sechziger Jahren mit Bruno Heck und Raul Manglapus zusammen  den  Aufbau  einer  solchen  Partei  begonnen haben, bezeichnen es inzwischen als ihren größten Fehler, dass  sie  dies,  den  Aufbau  einer  programmorientierten, Mitglieder-basierten  Partei,  nicht  ernsthaft  betrieben haben.  Zwar  wird  ein  solches  Vorhaben  wegen  der  im philippinischen  Wahlrecht  fehlenden  Anreize  für  aktive politische  Parteien  nicht  einfach  sein,  andererseits  führt aber  kein  Weg  daran  vorbei,  damit  jetzt  systematisch und ernsthaft zu beginnen, wenn man die politischen und ökonomischen  Probleme  der  Philippinen  wirklich  mittel- und langfristig lösen will.

Eine  solche  neue  zentristisch-demokratische  Bewegung könnte  auch die  immer  noch  zahlreichen  christdemokra-tischen  und  muslim-demokratischen  Kongressabgeord-neten,  Provinzgouverneure,  Bürgermeister  und  örtlichen Ratsmitglieder ansprechen und einbinden, die sich weder unter die Fittiche der liberalen Präsidentenpartei begeben noch in der erneut von der politisch völlig diskreditierten ehemaligen Präsidentin GMA geführten Lakas-Kampi-CMD verbleiben wollen. Hierbei könnte durchaus auch Gilberto Teodoro wieder  ins Spiel  kommen, der  als  Persönlichkeit trotz  seines  enttäuschenden  Wahlergebnisses  aufgrund seiner hohen Kompetenz und seines sauberen Wahlkampfes  

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Ein zusammengehen liberaler, sozial-demokratischer und christdemokra- tisch-muslimischer Bewegungen zur Formulierung und schrittweisen Durch- setzung einer nachhaltigen Reform- politik erscheint nicht ausgeschlossen.

vor allem bei jungen gebildeten Philippinos hohe Zustim-mungsraten  hat.  Abzuwarten  bleibt  allerdings,  inwieweit der neu gewählte Vizepräsident Binay mit seinem Versuch Erfolg haben wird, die PDP – eine der christdemokratischen Gruppen bei der Wiedererrichtung der Demokratie in den achtziger Jahren – von oben her, mit massivem Mittelein-satz wiederzubeleben und als Instrument für seinen Wahl-kampf um die  Position des Präsidenten  im  Jahr 2016  zu nutzen.

Auch im liberalen Spektrum –  insbesondere in der liberalen Partei um ihren bei den Vize-präsidentschaftswahlen  unterlegenen  Präsi-denten Mar Roxas – und im Bereich sozialde-mokratisch orientierter Gruppen, die sich im Rahmen von „Parteilisten‟ organisiert haben, 

gibt es inzwischen Tendenzen, sich gezielt um den Aufbau seriöser,  Programm-orientierter  und  Mitglieder-basierter Parteien zu bemühen, um damit Instrumente zur Stabili-sierung von Demokratie, Rechtsstaat und sowohl gerechter wie  funktionsfähiger  Wirtschafts-  und  Sozialordnung  zu schaffen. Ein Zusammengehen solcher liberaler, sozialde-mokratischer und christdemokratisch-muslimischer Bewe-gungen zur Formulierung und schrittweisen Durchsetzung einer  nachhaltigen  Reformpolitik  erscheint  somit  nicht ausgeschlossen.

Von  besonderer  Bedeutung  für  die  nähere  Zukunft  ist natürlich der Erfolg der neuen „Aquino-Administration‟ im Hinblick  auf  die  Korrektur  institutioneller  Schwächen  der philippinischen Demokratie. Vor allem 

 ▪ die Korrektur des geltenden Wahlrechts für den Kongress und  die  Umwandlung  des  Parteilistensystems  in  ein echtes proportionales Element,  ▪ eine rechtliche Regelung von Parteien- und Wahlkampf-finanzierung, die eine gewisse Unabhängigkeit von Spon- soren  aus  den  herrschenden  Familien  und  Dynastien ermöglicht, sowie  ▪ die  Schaffung  von Rechtsvorschriften  und Aufsichtsbe-hörden, die Märkte öffnen und Vermachtungen verhin-dern, 

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müssen als Prüfsteine für die Reform- und Zukunftsorien-tierung der neuen Administration angesehen werden.

Daneben  muss  ein  massiver  Mitteleinsatz  zur  Verbesse-rung  der  Infrastruktur  im  Bildungs-,  Gesundheits-  und Forschungsbereich  Priorität  haben,  wenn  Aquino  seinem Anspruch gerecht werden will, ein Präsident aller Philippinos zu sein, nicht nur der oberen und mittleren Schichten. Der unzweifelhaft vorhandene gute Wille, sauber und gerecht zu  regieren,  kann  in  seiner Bedeutung  für  das  Land  gar nicht überschätzt werden. Aber alleine wird er nicht ausrei-chen,  eine  Wende  zu  demokratischer  Stabilisierung  und erfolgreicher Armutsbekämpfung herbeizuführen.

Das Manuskript wurde am 30. Juni 2010 abgeschlossen.

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Stefan Jost

Mit einem Referendum im Frühjahr hatte sich Staatsprä-sident  Alvaro  Uribe  eine  zweite Wiederwahl  ermöglichen wollen. Die  Auseinandersetzung  darum prägte  die  politi-sche Entwicklung in Kolumbien seit Ende 2008, eine sach-politische Diskussion fand so gut wie nicht mehr statt. Eine erneute Kandidatur des seit 2002 amtierenden Uribe, an dessen Wiederwahl mit breiter Mehrheit bereits im ersten Wahlgang nach  allgemeiner  Einschätzung  auch  nicht  der geringste  Zweifel  bestanden  hätte,  schwebte  wie  ein Damoklesschwert über den personalpolitischen Strategie-überlegungen  aller  Parteien.  Ende  Februar  2010  erteilte das  Verfassungsgericht  dem Wiederwahlreferendum  auf- grund einfachgesetzlicher wie verfassungsrechtlicher Ver- stöße eine Absage. Damit war knapp zwei Wochen vor den Kongresswahlen zur Abgeordnetenkammer und zum Senat am 14. März, aber vor allem natürlich  für die Präsident-schaftswahlen am 30. Mai eine neue und klare Ausgangs-lage geschaffen. Die Post-Uribe-Phase war eingeleitet.

DIE KONGRESSWAHLEN – AUFTAKT zUR KONTINUITÄT

Die Kongresswahlen am 14. März wurden zum ersten poli-tischen Kräftemessen in einem Kontext, in dem Uribe noch immer präsent war, zwar nicht mehr als künftiger Präsident-schaftskandidat, jedoch als nicht zu unterschätzender, aber auch nicht genau einzuschätzender politischer Faktor. Die entscheidende Frage lautete, ob ein „Uribismo ohne Uribe‟ mehrheitsfähig  ist oder das bevorstehende Ende der Ära Uribe der Opposition einen unerwarteten Aufwind verschafft. 

Prof. Dr. Stefan Jost  ist Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kolumbien.

VOM URIBISMO zUR UNIDAD NAcIONALKOLUMBIEN NAcH DEN KONGRESS- UND PRÄSIDENTScHAFTSWAHLEN

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Das Ergebnis war eindeutig. Die beiden größten Parteien der  bisherigen  Uribe-Koalition,  die  Uribe-Partei  Partido Social de Unidad Nacional, kurz „la U‟ genannt, sowie die Konservative Partei  (PCC) erreichten 50 der 102 Senats-sitze und 81 der 166 Abgeordnetensitze. Aufgrund eines chaotischen  Auszählverfahrens  am Wahlabend  und  zahl-reicher Anfechtungen  ist die amtliche Auszählung  jedoch noch  nicht  abgeschlossen,  so  dass  die  nachfolgenden Tabellen noch nicht das amtliche Endergebnis darstellen.1 

Tabelle 1Das Wahlergebnis für den Senat: Die Kongresswahlen 2010 und 2006 im Vergleich2

Kongresswahlen 20103 Kongresswahlen 2006

Partei Stimmen in % Sitze4 Stimmen in % Sitze

Partido Social de Unidad Nacional

2.804.123 25,17 28 1.642.256 17,4920 

(29)

Partido Conservador

2.298.748 20,63 22 1.514.960 16,1318 

(22)

Partido Liberal  1.763.908 15,83 17 1.457.322 15,52 17

Cambio Radical  888.851 7,98 8 1.254.294 13,3615 

(12)

Polo Democrático Alternativo

848.905  7,62 8 914.964 9,74 11

Partido de Inte- gración Nacional

907.468 8,14 9 — — —

Partido Verde 531.293 4,77 5 — — —

34

1 |  Der Beitrag wurde am 04.07.2010 fertiggestellt.2 |  Die Ergebnisse basieren auf den Angaben der Registraduría   Nacional vom 16. März 2010 (Zusammenstellung und   Vergleich mit 2006, sofern aufgrund der offiziellen Daten   möglich, durch den Verfasser). Aufgeführt sind die stärksten   Parteien.3 |  Angaben beruhen auf der Auszählung von 93,27 Prozent   der Stimmen.4 |  Die restlichen fünf Sitze gehen an MIRA (zwei), Compromiso  Ciudadano (einer) und zwei noch zuzuordnende für die   indigene Vertretung.

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Tabelle 2Das Wahlergebnis für die Abgeordnetenkammer: Die Kongresswahlen 2010 und 2006 im Vergleich

  Kongresswahlen 20105 Kongresswahlen 2006

Partei Stimmen in % Sitze Stimmen in % Sitze

Partido Social de Unidad Nacional

2.230.914 25,42 45 1.244.835 o.A.29 

(40)

Partido Conservador

1.886.965 21,50  36 1.297.787 o.A.29 

(33)

Partido Liberal  1.616.208 18,41 35 1.505.950 o.A. 35 

Cambio Radical   669.830 7,63  12  824.073 o.A.21 

(17)

Polo Democrático Alternativo

 482.685 5,49 4 442.607 o.A. 7

Partido de Inte- gración Nacional

506.139 5,76 12 — — —

Partido Verde 265.593 3,02  3 — — —

5

Diese  Wahlen  wurden  nicht  als  vorgezogene  Präsident-schaftswahlen  interpretiert,  dafür  sind  die  bei  diesen Kongresswahlen  vorherrschenden  lokalen,  regionalen und  personellen  Einflüsse  der  Kandidaten  zu  stark.  Viel-mehr wurde das Ergebnis in erster Linie als ein Votum für Uribe und seine Politik verstanden, nicht als unmittelbares Votum für Santos, den ehemaligen Verteidigungsminister und Präsidentschaftskandidaten der  „la U‟. Dennoch war damit  klar,  dass  ein  „Uribismo  ohne  Uribe‟  mehrheits-fähig  ist. Dieses Wahlergebnis bedeutete  für Santos eine Stärkung seiner Position  in den Reihen der „la U‟ und  in der Wählerschaft einen breiten Auftrieb. Jetzt wurde  ihm ein Sieg zugetraut.6 Noch wenige Tage vor den Kongress-wahlen  hatte  er  sich  aus  den  eigenen  Reihen  öffentlich abstruse  Vorschläge  zur  Steigerung  seiner  Wahlchancen geben lassen müssen.

5 |  Die Angaben beruhen auf der Auszählung von 88,71 Prozent   der Stimmen.6 |  Zu einer detaillierten Analyse der Kongresswahlen siehe den   Länderbericht vom 17. März („Kolumbien hat gewählt‟):   http://kas.de/wf/doc/kas_19085-544-1-30.pdf [04.07.2010].

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Anfang April kam es zu dem Phänomen der „grünen Welle‟. Der Kandidat des Partido Verde, Antanas Mockus, legte rasant in den Umfragen zu.

DER ERSTE WAHLGANG – AN DEN URNEN WIRD GEWONNEN

Nachdem  in  consultas populares,  einer  Art  offener  Vor-wahlen,  auch  die  Konservative  Partei  und  der  Partido Verde  (Grüne  Partei)  ihre  Spitzenkandidaten  gewählt hatten, stand das Kandidatentableau für den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 30. Mai  fest.7 Neben Santos  für  die  „la U‟  gab  es  insgesamt  fünf  weitere  ernst  zu nehmende Kandidaten: Rafael Pardo für die Liberalen (PL), Gustavo Petro für das  linke Bündnis Polo, Germán Vargas Lleras für den Cambio Radical (CR) sowie Noemi Sanín für die Konservative Partei (PCC) und Antanas Mockus für den Partido Verde (PV).

Seit Wochen belegten Santos und Sanín in den Umfragen die  beiden  vorderen  Plätze. Dies  schien,  nachdem Sanín in einer erbitterten Auseinandersetzung knapp die  inner-parteilichen  Vorwahlen  der  Konservativen  Partei  für  sich entschieden hatte, für den PCC die Chance zu bieten, erst-mals  seit  der  Präsidentschaft  Pastranas  (1998  bis  2002) wieder  ernsthaft  in  den  Kampf  um  die  Präsidentschaft eingreifen zu können. Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Santos und Sanín währte jedoch nur bis Anfang April. 

Dann kam es zu dem Phänomen der „grünen Welle‟. Der Kandidat des Partido Verde, Antanas Mockus, legte rasant in  den  Umfragen  zu.  Mockus,  ehemaliger  Bürgermeister von  Bogotá,  hatte  sich  mit  früheren  Amtskollegen  sehr unterschiedlicher politischer Provenienz verbündet und den PV als politische Plattform für seine Kandidatur genutzt. 

Mockus  profitierte  von  mehreren  Faktoren.  Zentrale Themen  seiner  Kampagne  –  Korruptionsbekämpfung, Haushaltsseriosität,  Achtung  der  Institutionen,  delibera-tiver Politikstil – legten zu Recht den Finger in so manche Wunde kolumbianischen Politikverständnisses und traditi-oneller Politikpraktiken. Die Botschaft eines Stil- und Poli-tikwechsels verfing, vor allem dank der in dieser Massivität in  Kolumbien  erstmals  feststellbaren Nutzung  der  neuen  

7 |  Die liberale Partei und der Polo hatten, ebenfalls in consultas populares, bereits im September 2009 ihre Kandidaten   nominiert.

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Mockus gilt als autoritär und zeigt keinerlei Berührungsängste mit dem Thema der „demokratischen Sicher-heit‟. Gleichzeitig werden ihm von der Linken positive Attribute zugerechnet.

sozialen  Netzwerke  via  Facebook  und  Twitter  vor  allem durch  die  als  „primivotos‟  bezeichneten  Erst-  und  Jung-wähler,  nicht  zuletzt  aber  auch  dank  einer  signifikanten Unterstützung  durch  Leitartikelschreiber  und  politische Kommentatoren.

Die  Stärke  des  Kandidaten  Mockus  lag geraume Zeit  in seiner Fähigkeit, Unverein-bares zusammenzuführen und Schwächen in Stärken zu verwandeln. So wird Mockus eher verbunden mit einer „rechten Agenda‟. Er hat 

sowohl die Universidad Nacional als Präsident wie Bogotá  als  Bürgermeister  mit  harter  Hand  regiert.  Der  Partido Verde hat als erste Partei das Thema „urbane Sicherheit‟ auf  die  Tagesordnung  gesetzt.  Mockus  gilt  als  autoritär und zeigt keinerlei Berührungsängste mit dem Thema der „demokratischen  Sicherheit‟:  „Wenn  ich  die  FARC  wäre, würde  ich  zu  Uribe  rennen  und  verhandeln,  denn  was nach Uribe kommt, ist noch schlimmer für sie‟, so Mockus. Gleichzeitig werden ihm von der Linken bestimmte positive Attribute zugerechnet. So gilt Mockus  trotz seiner bishe-rigen politischen Laufbahn noch immer als „Outsider‟ oder „Unabhängiger‟.  Er  sammelte  alle  „Antis‟  und  eröffnete sich Zugänge zu traditionellen Enthaltungswählern.

Über  eine  beachtliche  Strecke  des  Wahlkampfes  erwies sich Mockus zunächst als „Teflon‟-Kandidat. Widersprüche, Uninformiertheiten,  unverständliche,  da  philosophisch verschachtelte  Aussagen:  alles  schien  ihm  verziehen  zu werden.  Das  Bekenntnis,  an  Parkinson  zu  leiden,  nutzte ihm.  Erst  gegen  Ende  der  Kampagne  gewannen  zuneh-mend Zweifel  Raum,  ob die Wahlbevölkerung angesichts der  offensichtlichen  Schwächen  des  Kandidaten  die  mit seiner Wahl verbundenen Unwägbarkeiten nicht letztend-lich doch scheuen würde.

Der Wahlkampf war von einem deutlich geringeren Pola-risierungsgrad  geprägt  als  erwartet.  Interessanterweise kam es eher zwischen affinen politischen Kräften zu Pola-risierungen.  So  entwickelte  sich  beispielsweise  zwischen dem  Partido Verde  und  dem  Polo  ein  Schlagabtausch aufgrund des durch Mockus im Polo ausgemachten Gewalt-potenzials  und  einer  nicht  hinreichenden  Abgrenzung  zu der  Guerrillaorganisation FARC durch einige Teile des Polo. 

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Santos entpersonalisierte den bis dahin allein auf ihn abgestellten Wahlkampf, stellte die Partei in den Mittelpunkt und akzentuierte stärker den Kontinuitäts-gedanken zur Uribe-Regierung.

Sanín wiederum schien streckenweise eher in Santos den bevorzugten politischen Gegner zu sehen.

Insgesamt  entwickelte  sich  der  Wahlkampf  zunehmend themenorientiert,  was  nicht  zuletzt  durch  eine  Fülle  von Fernsehduellen  der  Kandidaten  befördert worden sein dürfte. Ein dominierendes Thema war jedoch nicht feststellbar. Dies schloss die „Politik der demokratischen Sicherheit‟, das Markenzeichen der acht Uribe-Jahre, mit ein.

Hervorzuheben  in  dieser  Phase  des Wahlkampfes  ist  der Strategiewechsel durch Santos. Er entpersonalisierte den bis  dahin  allein  auf  ihn  abgestellten  Wahlkampf,  stellte die Partei „la U‟ stärker in den Mittelpunkt, forcierte eine Regionalisierung  seiner  Wahlkampagne  und  akzentuierte stärker den Kontinuitätsgedanken zur Uribe-Regierung.

Allerdings  beließ  er  es  nicht  dabei,  sondern  setzte,  teils behutsam,  eigene  Akzente.  Überraschend  rief  Santos  zu einer  Regierung  der Unidad Nacional  (Nationale  Einheit) auf, die alle Parteien mit einschließen sollte, um die zent-ralen  Problemfelder  der  kolumbianischen  Politik  anzu-gehen.

Das  Programm  der  Unidad Nacional  umfasst  folgende inhaltliche Politikfelder:

1.  Arbeit: Angemessene Arbeitsplätze und Löhne. Zumin-dest ein Mitglied jeder Familie soll in einem formalen Beschäftigungsverhältnis  stehen.  Sozialer  Dialog zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern und der Regie-rung.  Verringerung  der  Armuts-  und  Arbeitslosen-quote.

2.  Demokratischer  Wohlstand  für  alle:  Gesundheit  und qualitativ  hochwertige  Bildung  im  privaten  Leben sowie am Arbeitsplatz, würdige Wohnbedingungen und Einkommensmöglichkeiten. 

3.  Politik der demokratischen Sicherheit: Konsolidierung dieser Politik und Stärkung der städtischen Sicherheit auf der Grundlage der Verfassung und der Achtung der Menschenrechte. Kampf gegen den Terrorismus. 

4.  Transparenz und keine Korruption: Geltung ethischer Prinzipien in öffentlichen Angelegenheiten; Kultur der 

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Legalität und Intoleranz gegenüber Korruption, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor.

5.  Gute  Regierungsführung:  exzellente,  sachorientierte, effiziente,  dezentralisierte,  partizipative  und  verant-wortungsvolle öffentliche Verwaltung auf allen Ebenen. Zusammenarbeit  mit  der  lokalen  Führung,  um  die Entwicklung der Regionen zu fördern. 

6.  Demokratische  Institutionalität: Stärkung des demo-kratischen Staates mit Unabhängigkeit, Gleichgewicht und harmonischer Zusammenarbeit der Gewalten. 

7.  Gerechtigkeit  und  keine  Straffreiheit:  Stärkung  des Rechtsstaats  durch  striktes  Vorgehen  gegen  Straf-freiheit  und  eine  unmittelbare  und  effiziente  Justiz. Garantie  des  Rechtszugangs  der  Gesellschaft  und der  Individuen.  Verteidigung  der  Rechte  der  Opfer durch die Prinzipien der Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung. 

8.  Urbane  und  ländliche  Agenda:  Verbesserungen  der Lebensbedingungen  in  den  Städten  durch  Mobilität, Wohnraum,  öffentliche  Räume  und  Dienstleistungen für  alle.  Prosperierende  und  sichere  ländliche  Regi-onen  zur  Sicherstellung  der  umfassenden,  legalen und  nachhaltigen  Bewirtschaftung  des  kultivierbaren Bodens (Land als Vorratskammer der Welt).

9.  Umwelt:  Nachhaltige  Nutzung  des  Umweltpoten-zials.  Verteidigung  des  Wassers  als  lebenswichtige Ressource. Kolumbien auf globaler Ebene als  „Macht der Biodiversität‟ positionieren.

10.  Internationale  Beziehungen:  Die  Eingliederung  des Landes in die Weltordnung verstärken und die Bezie-hungen zu den Nachbarstaaten auf der Grundlage des Respekts  und  der  Zusammenarbeit  enger  gestalten. Die politische Führung Kolumbiens soll auf der  inter-nationalen Bühne anerkannt sein.

Mit  diesem  Programm  und  der  Ankündigung  der Unidad Nacional konnte Santos glaubhaft vermitteln, dass er trotz aller Kontinuität zur Regierung Uribe über mehr Gespür für soziale und über die „Politik der demokratischen Sicherheit‟ hinausgehende Probleme hat, als ihm zugeschrieben wurde. Diesem Ziel diente auch die  in den eigenen Reihen nicht unumstrittene Ernennung des ursprünglich aus der Kommu-nistischen  Partei  kommenden  Gewerkschafters  Angelino Garzón zum Kandidaten für das Amt des Vize-Präsidenten. 

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Das  Rennen  um  die  Präsidentschaft  spitzte  sich  zuneh-mend zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Santos und Mockus zu. Während Mockus in manchen Umfragen Santos vom  ersten  Platz  verdrängte,  landete  Sanín  seit  Anfang April  abgeschlagen  auf  dem  dritten  Platz,  allen  anderen Kandidaten  wurden  ebenfalls  kein  ernsthaftes  Eingreifen mehr zugetraut. Das Ergebnis des ersten Wahlganges am 30. Mai war schließlich in vielfacher Hinsicht überraschend.

Tabelle 3Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs und der Kongresswahlen im Vergleich

Präsident-schaftswahlen

am 30.05.20108

Kongresswahlenam 14.03.20109

Kandidat (Partei) Stimmen in % Stimmen in %

Santos (Partido de la U)

6.758.539  46,56  2.804.123  25,17 

Mockus (Partido Verde)

3.120.716  21,49  531.293  8,14 

Vargas Lleras (Cambio Radical)

1.471.377  10,13  888.851  7,98 

Petro (Polo Democrático)

1.329.512  9,15  848.905  7,62 

Sanín(Partido Conservador)

892.323  6,14  2.298.748  20,63 

Pardo (Partido Liberal)

636.624  4,38  1.763.908  15,83 

Calderon (Apertura Liberal)

33.924  0,23  95.157  o.A.

Devia (La Voz de la Consciencia)

32.080 0,22  — —

Araujo (Alianza Social Afrocolombiana)

15.701 0,10 11.767 o.A.

89

Wieder einmal bestätigte sich ein Gesetz der kolumbiani-schen  politischen  Kultur:  Kongresswahlergebnisse  lassen sich  nicht  auf  Präsidentschaftswahlen  übertragen.  Die Wähler  fühlen  sich  bei  Präsidentschaftswahlen  sehr  viel freier als bei Kongress- oder gar Regional- und Kommu-nalwahlen,  wo  lokale  und  personale  Strukturen  deutlich stärker zum Tragen kommen.

8 |  Auf der Basis von 99,7 Prozent der Wahllokale.9 |  Das amtliche Endergebnis steht noch nicht fest.

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Santos wurde zu einem Kandidaten einer gewünschten Kontinuität. Dies zeigt auch, dass sich die häufig beschworene unversöhnliche Spaltung der kolumbia-nischen Gesellschaft in „pro und contra Uribe‟ prioritär auf die politische Klasse bezieht.

Santos erzielte ein in dieser Höhe nicht erwartetes Ergebnis. Dies  zeigte  noch  deutlicher  als  die  Kongresswahlen, dass der „Uribismo nach Uribe‟ signifikant stärker  ist als erwartet. Santos gelang es besser als nach den Umfragen 

zu  erwarten war,  das  positive  Potenzial  der Regierung Uribe und das hohe Ansehen von Uribe selbst für seine „Kandidatur der Konti-nuität‟ zu nutzen, und weniger als erwartet für die ebenfalls existente Negativ-Bilanz der Regierung Uribe abgestraft zu werden.

Santos wurde von einem Kandidaten mit begrenzter, wenn nicht  sogar  potenziell  gefährlicher  Erbschaft  zu  einem Kandidaten einer gewünschten Kontinuität. Dies zeigt auch, dass sich die häufig beschworene unversöhnliche Spaltung der kolumbianischen Gesellschaft in „pro und contra Uribe‟ prioritär auf die politische Klasse bezieht, während in der breiten  Bevölkerung  Uribe  und  sein  Regierungslegat  in hohem Ansehen stehen.

Auch  wenn  eine  schlichte  Addition  der  Ergebnisse  poli-tisch nur begrenzt aussagefähig ist, sind auch die Ergeb-nisse  von  Vargas  Lleras  und Noemi  Sanín  dem uribismo zuzurechnen. Dies bedeutet rund 9,1 von 14, 3 Millio nen Stimmen.  Beide  Parteien,  Cambio Radical  (CR)  und Partido Conservador Colombiano  (PCC),  waren  zuverläs-sige Verbündete der Regierung Uribe. Es war daher nicht verwunderlich, dass Santos am Wahlabend PCC und CR an erster Stelle einlud, Partner seiner Regierung zu werden. 

Mockus  erzielte  ein  beachtliches,  wenn  auch  deutlich hinter den Umfragen zurückbleibendes Ergebnis und kam damit in die Stichwahl. Aus der „grünen Welle‟ wurde kein „grüner Tsunami‟, wie noch in den letzten Tagen vor der Wahl  spekuliert  wurde.  Es  ist  „sein‟  Ergebnis  und  sollte nicht  als  Ergebnis  des  Partido  Verde  gedeutet  werden. Diese Partei diente Mockus lediglich als politisches Vehikel einer  Kandidatur.  Er,  nicht  die  Partei,  war  die  zentrale „Botschaft‟,  auf  die  viele  ihre  sehr  heterogenen Vorstel-lungen und Erwartungshaltungen projizierten. Die Gründe für  das  gegenüber  den  Umfragen  deutlich  schlechtere Abschneiden  sind  vielfältig.  An  Hinweisen  darauf  hat es  jedoch  nicht  gefehlt.  Erkennbar  wurde,  dass  Mockus und  der  Anstieg  der  „grünen  Welle‟  noch  deutlicher  als 

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Vargas Lleras wie Petro haben ihren politischen Gestaltungsanspruch unter-mauert und einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg zur angestrebten Präsidentschaft zurückgelegt.

erwartet ein Ergebnis des „voto de opinión‟ waren, eines „Meinungsphänomens‟, dem auf der Zielgeraden die Luft ausging.  Im Zuge  einer  stärkeren  thematischen Debatte traten  die  Schwachstellen  des  Projekts  Mockus  kontu-rierter hervor. Dies führte offensichtlich zu einer „Rationa-lisierung des Stimmverhaltens‟, das in einem Sieg Mockus‛ einen  „Sprung  ins Leere und Ungewisse‟  (salto al vacío) sah und in letzter Konsequenz davor zurückschrecken ließ. 

Die Überraschungen des  ersten Wahlgangs waren neben Santos  vor  allem  Vargas  Lleras  und  Gustavo  Petro,  die beide  deutlich  besser  als  in  den Umfragen und auch bei den Kongresswahlen  abgeschnitten haben. Vargas  Lleras konnte  sich  zunehmend  als  programmatischer  Kandidat profilieren  und  landete  knapp  vor  Petro  auf  dem  dritten Platz.  Petro  wiederum  kann  sich  in  seinem Modernisierungskonzept  einer  Mitte-links-Option  mit  Koalitionsbereitschaft  bestärkt sehen.  Ob  daraus  eine  Spaltung  des  Polo entstehen  kann,  die  fundamentalistischen Sektoren eigene Wege gehen und sich daraus eine Option für eine Neuformierung der parteiorganisatori-schen moderaten Linken ergibt, bleibt abzuwarten. Vargas Lleras wie Petro haben mit diesem Wahlergebnis jedenfalls ihren  politischen  Gestaltungsanspruch  untermauert  und einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg zur ange-strebten Präsidentschaft zurückgelegt.

Für  eine  in  diesem  Ausmaß  nicht  erwartete  negative Überraschung  sorgte  der  liberale  Kandidat  Rafael  Pardo. Er landete abgeschlagen auf dem sechsten Platz, mit 4,38 Prozent  knapp  über  der  Grenze,  die  die  Partei  noch  für die  Wahlkampfkostenerstattung  legitimiert.  Auch  wenn man  nicht  viel  erwartet  hatte,  dieses  Wahlergebnis  ist nach den erfolgreichen Kongresswahlen ein dramatischer Rückschritt. Der Partido Liberal (PL) sah sich damit vor die Situation  gestellt,  auf  weitere  vier  und  damit  insgesamt 16 Jahre von der Beteiligung an der Macht ausgeschlossen zu  sein  oder  den  Sprung  ins  Santos-Lager  zu  wagen. Vor diesem Hintergrund  ist die Betonung von Santos am Wahlabend, dass er aus dem  liberalen Lager komme, zu verstehen.

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Die Sanín-Strategie konnte weder eine pro- noch eine contra-uribistische Linie entwickeln. Dies führte dazu, dass uri-bistische Pcc-Wähler direkt zu Santos gingen.

Die  Konservative  Partei  (PCC)  steht  vor  einem  Scher-benhaufen:  Knapp  sechs  Prozent  der  Stimmen  für  die Kandidatin Sanín und der  fünfte Platz unter sechs ernst-haften Kandidaten. Mit  der  Kandidatur  Saníns  hoffte  der PCC, seinen Anspruch auf politische Führung durchsetzen, zumindest aber seinen eigenständigen „Willen zur Macht‟ manifestieren zu können. In der letzten Phase des Wahl-kampfes  hoffte  der  PCC  zumindest  auf  eine  votación decente,  also  ein  „akzeptables  Abstimmungsergebnis‟, das  auf  etwa  zwei  Millionen  Stimmen  angesetzt  wurde. Beide  Ziele  wurden  verfehlt.  Nun  steht  der  PCC  vor einem Wahlergebnis, das die schlimmsten Befürchtungen noch  übertrifft.  Im  Vergleich  zur  Kongresswahl  verlor  er 

rund  1,3  Millionen  Stimmen,  im  Verhältnis zur  consulta popular zur  Bestimmung  des Präsidentschaftskandidaten  sogar  rund  1,6 Milionen  Stimmen.  Die  Kandidatin  Sanín war nicht einmal  in der Lage,  ihre rund 1,1 

Millionen Stimmen bei der Urwahl zu erreichen. Selbst  in Hochburgen des PCC wie beispielsweise Antioquia kam sie nur auf knapp über neun Prozent.

Die  Gründe  für  dieses  Wahlergebnis  sind  vielfältig. Zum  einen  konnte  Sanín  nicht  vermitteln,  dass  der  PCC geschlossen hinter  ihr stand. Die erbitterte Auseinander-setzung  um  die  Spitzenkandidatur  der  Partei  hatte  tiefe Wunden  geschlagen.  Teile  der  Parteimaschinerie  dürften dem  spät  geschlossenen  Burgfrieden  zwar  zugestimmt, sich aber nicht mit voller Konsequenz im Wahlkampf betei-ligt  haben.  Die  Sanín-Strategie  konnte  auf  Dauer  weder eine pro- noch eine contra-uribistische Linie entwickeln, die als authentisch empfunden worden wäre. Dies führte dazu, dass  uribistische  PCC-Wähler,  nicht  zuletzt  aufgrund  der Angriffe von Sanín gegen Santos, direkt zu Santos gingen, während die unabhängigen Wähler zu Mockus wechselten.  Gerade sie waren für Saníns Sieg in der consulta popular entscheidend.

Die absoluten Verlierer des Wahlabends waren die Umfrage-institute. Bis heute gibt es keine plausible Erklärung dafür, wie alle  Institute mit  ihren Prognosen derart neben dem tatsächlichen Wahlergebnis liegen konnten.

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Nach dem fulminanten Wahlergebnis von Santos im ersten Wahlgang und sei-nem erkennbar ernst gemeinten Aufruf zur Unidad Nacional entstand nun eine Konstellation des „Todos con Santos‟ – „Alle mit Santos‟.

„TOcOSAN‟ – AUF DEM WEG zUM zWEITEN WAHLGANG

Die drei Wochen bis zum zweiten Wahlgang am 20.  Juni 2010 waren  nicht mehr  als  eine  Pflichtübung.  An  einem Wahlsieg  Santos‛  zweifelte  keiner  mehr,  Wetten  wurden nur  noch  über  die  Höhe  des  Sieges  abge-schlossen.  Sollte Mockus  je  eine  ernsthafte Chance  gehabt  haben,  Santos  im  zweiten Wahlgang  gefährlich  zu  werden,  verspielte er  diese  auch  nach  Ansicht  wohlmeinender Beobachter noch am Wahlabend des 30. Mai. In einer Manier, die an einen Urlaubsanima-teur  erinnerte,  verknüpfte  er  Gesänge  mit  fundamenta-listischen  Botschaften.  Dieser  erratische  Auftritt  war  für viele der Schlusspunkt einer nicht mehr zu gewinnenden Kampagne.

Der  Wahlkampf  selbst  brachte  keine  besonderen  Höhe-punkte  mehr.  Santos  konnte  sich  noch  stärker  als  ein souveräner  Kandidat  profilieren,  während  die  bereits  in den  vorangegangenen  Wochen  erkennbaren  Schwächen des  Gegenkandidaten  Mockus  einen  deutlichen  Kontrast markierten. 

Dass  es  am  Wahlausgang  keinerlei  Zweifel  gab,  war vor  allem  auf  den  Bedeutungswandel  der  über  Wochen beschworenen  Formel  „tocosan‟  zurückzuführen.  Diese hatte  ihren Ursprung  in der Phase,  in der  laut Umfragen Santos  und  Sanín  in  den  zweiten  Wahlgang  einziehen würden und sich  in dieser Konstellation alle Oppositions-kräfte  um Sanín  scharen würden,  um Santos  zu  verhin-dern:  Todos contra Santos  –  „Alle  gegen  Santos‟.  Nach dem  fulminanten  Wahlergebnis  von  Santos  im  ersten Wahlgang und seinem erkennbar ernst gemeinten Aufruf zur Unidad Nacional  entstand nun eine Konstellation des „Todos con Santos‟ – „Alle mit Santos‟.

Die Konservative Partei sowie die große Mehrheit der libe-ralen Partei und deren Kongressmitglieder schlossen sich Santos an. Der Cambio Radical folgte wenig später. Mockus dagegen lehnte ein Koalitionsangebot des Polo ab und ging ohne  zusätzliche  formalisierte  Unterstützung  alleine  in  

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Im Wahlkampf begann Santos eher verhalten, war aber rasch zu einem Strategiewechsel in der Lage, gewann sichtbar an Statur und wurde nicht als Strohmann von Uribe wahrgenommen.

den  zweiten Wahlgang. Vor  diesem Hintergrund war das Wahlergebnis vom 30. Mai keine Überraschung. Selbst die Umfrageinstitute lagen mit ihren Prognosen gut.

Tabelle 4Ergebnisse des ersten und zweiten Wahlganges der Präsidentschaftswahlen

zweiter Wahlgang am 20.06.2010

Erster Wahlgang am 30.05.2010

Kandidat(Partei)

Ergebnis (absolut)

Ergebnis (in %)

Ergebnis (absolut)

Ergebnis (in %)

Santos(Partido de la U)

9.004.221 69,05 6.758.539 46,56

Mockus(Partido Verde)

3.588.819 27,52 3.120.716 21,49

BEWERTUNG DES WAHLERGEBNISSES

Wenige  Wochen  nach  der  Wahl  ist  es  selbstverständlich verfrüht, angesichts des neuen und in vielfacher Hinsicht im  Fluss  befindlichen  politischen  Kontextes  gesicherte Erkenntnisse formulieren zu wollen.

Dennoch sollen einige erste Schlussfolgerungen und Über-legungen mit Blick auf denkbare künftige Entwicklungsli-nien formuliert werden.

1.  Santos  wurde  in  mehrfacher  Hinsicht  falsch  einge-schätzt. Dies betrifft seine eigenen Fähigkeiten als Wahl-kämpfer.  Im Wahlkampf begann Santos eher verhal- ten, war aber rasch zu einem Strategiewechsel in der 

Lage, gewann sichtbar an Statur und wurde trotz  seiner  Anknüpfung  an  die  Regierung Uribe nicht als von Uribe aus dem Präsiden-tenpalast  ferngesteuerter  Strohmann wahr-genommen.

Santos ist es gelungen, sich als Kandidat der Kontinu-ität der Ära Uribe zu präsentieren und deren positives Erbe für sich politisch zu kapitalisieren ohne, wie lange befürchtet oder erhofft, für die Negativperzeption der Regierung  Uribe  verantwortlich  gemacht  zu  werden. Eigene Ansätze konnte er glaubhaft vermitteln. Seine 

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Santos hat einen großen strategischen Vorteil aufgrund der Breite des Bünd-nisses der Unidad Nacional, die jeden einzelnen Partner für sich gesehen verzichtbar macht.

thematische Bandbreite und Sensibilität verhinderten es,  dass  er  als  auf  die  „Politik  der  demokratischen Sicherheit‟  reduzierter  Kandidat  wahrgenommen wurde.  Der  Aufruf  zu  einer  Regierung  der  Unidad Nacional und das Zehn-Punkte-Programm, wenngleich sehr allgemein gehalten, haben dabei eine gewichtige Rolle gespielt.

2.  Nach dem klaren Ergebnis des ersten Wahlgangs gab es auch Überlegungen, dass alle anderen Kandidaten ihre Kandidatur zurückziehen sollten, um Santos ohne zweiten Wahlgang die Präsidentschaft zu ermöglichen. Santos  ist  mit  dem  jetzigen  Ergebnis  jedoch  mehr gedient als mit dem Ergebnis des ersten Wahlganges. Der  Plebiszitcharakter  des  zweiten  Wahlganges eröffnet ihm einen äußert breiten Handlungsspielraum und eine Unabhängigkeit, die er in seiner Rede in der Wahlnacht des 20. Juni auch zum Ausdruck brachte.

3.  Die Regierung Santos verfügt im neuen Kongress über rund 85 Prozent der Sitze. Allein die Partei „la U‟ und die  Konservative  Partei  nähern  sich  in  der  Abgeord-netenkammer  und  dem  Senat  der  absoluten  Mehr-heit.  Das  Problem  der  „Regierbarkeit‟ (gobernabilidad) dürfte sich vor diesem Hintergrund  zunächst  für  Santos  nicht stellen.  Allerdings  ist  die  Heterogenität dieser Koalition nicht zu unterschätzen. Hinzu kommt, dass die jeweiligen Koali-tionspartner  keinen  übergreifenden  gemeinsamen Koalitionsvertrag  geschlossen  haben,  sondern  der Anschluss  an  Santos  auf  jeweils  bilateraler  Ebene erfolgte. Dies erleichterte zunächst den Abschluss des jeweiligen Abkommens, beinhaltet jedoch auf längere Sicht  eine  ganze  Reihe  von  Sollbruchstellen.  Diese betreffen die Machtaufteilung zwischen den Parteien, die  so  genannte  „bürokratische  Quote‟,  aber  auch inhaltliche  Fragen  und  unvermeidbare  Kompromisse. Wie es ein konservativer Politiker ausdrückte: „Wo wir stehen, stehen wir gut, aber mit zu vielen.‟

Santos  hat  in  dieser Gemengelage  für  geraume Zeit einen großen strategischen Vorteil. Zum einen in Form seines Wahlergebnisses.  Zum  anderen  aufgrund  der 

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Unmittelbar nach seiner Wahl traf sich Santos mit allen Präsidenten der Obers-ten Gerichte. Dies scheint den Weg freizumachen für eine konfliktfreiere Beziehung zwischen der Justiz und dem Staatspräsidenten.

Breite des Bündnisses der Unidad Nacional, die jeden einzelnen Partner für sich gesehen verzichtbar macht. Das  Drohpotenzial  einer  Aufkündigung  der  Koalition ist damit auf absehbare Zeit denkbar gering. Gelingt es  Santos,  in  den  ersten  Monaten  durch  bestimmte Entscheidungen, Verhaltensweisen und  einen  stärker konsensorientierten  Politikstil  eine  post-elektorale Akzeptanz bei der Bevölkerung zu gewinnen, wird er auf  absehbare  Zeit  die Unidad Nacional zusammen-halten können. Die Zeichen dafür stehen gut.

4.  In  diesem  Kontext  kommt  es  entscheidend  darauf an,  wie  Santos  sein  Institutionenverständnis  in  die Praxis umsetzt. Sein Bekenntnis zur Gewaltenteilung 

und  insbesondere  zu  einer  unabhängigen Justiz hat einen sehr konkreten Hintergrund. Das  gespannte  bis  konfliktive  Verhältnis zwischen  Staatspräsident  Uribe  und  Teilen der  Gerichtsbarkeit  hat  zu  einem  choque de trenes,  zu  einem  „Aufeinanderprallen 

der Züge‟ mit problematischen Begleiterscheinungen geführt. So harrt  die Wahl  des Generalstaatsanwalts seit über einem Jahr der Durchführung. 

Unmittelbar nach seiner Wahl traf sich Santos mit allen Präsidenten der verschiedenen Obersten Gerichte des Landes. Dies scheint den Weg  freizumachen  für eine signifikant  konfliktfreiere  Beziehung  zwischen  der Justiz und dem Staatspräsidenten.

5.  Das Projekt Unidad Nacional sollte nicht allein als kurz-fristiger Wahlkampfschlager missinterpretiert werden. Dieser Aufruf ist als ein Signal an die Gesellschaft wie die politischen Eliten zu verstehen. Santos hat Taten folgen lassen. Dies betrifft die Abkommen mit verschie-denen Parteien, die Offenheit selbst einer Zusammen-arbeit mit dem Polo und dem Partido Verde gegenüber. 

Dies ist aber auch in seinen Ankündigungen über die Struktur seiner Regierung zu entnehmen. So wird die unter  Uribe  vorgenommene  Zusammenlegung  einer Reihe von Ministerien rückgängig gemacht. Santos hat unter  anderem  die  Schaffung  eines  eigenständigen Justiz-  und  Umweltministeriums  angekündigt.  Auch 

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Es ist nicht auszuschließen, dass sich die eigentliche Opposition aus dem Kontext der Unidad Nacional selbst entwickelt. Vor allem ist nicht zu erwarten, dass Parteiführer wie Vargas Lleras ihren Präsidentschaftsambitionen abschwö-ren werden.

der Sozialbereich soll durch verschiedene Ministerien abgedeckt werden.

Abgesehen  davon,  dass  ihm  diese  Schaffung  neuer Ministerien natürlich auch personellen Handlungsspiel-raum verschafft, macht es doch deutlich, dass Santos den im Wahlkampf und in den Abkommen eingegan-genen Verpflichtungen nachkommen und thematische Schwerpunkte verfolgen will.

Ob sich die Unidad Nacional zu einer Regierung ohne Opposition entwickelt, bleibt abzuwarten. Parteiorga-nisatorisch  besteht  die  Opposition  im  Wesentlichen aus  dem  Polo  und  dem  Partido Verde. Hinsichtlich des Polo muss sich erweisen, ob und inwieweit er zu einem geschlos-senen  parlamentarischen  Handeln  in der  Lage  sein  wird,  der  Partido Verde wiederum  verfügt  über  keine  größere parlamentarische  Erfahrung.  Zudem kommt Mockus der Begriff  „Opposition‟  schwer über die  Lippen. Er  schließt nicht  aus, die Regierung dort zu unterstützen, wo sie die richtigen Ansätze verfolgt.

Das Zehn-Punkte-Programm der Unidad Nacional ist in seiner  Allgemeinheit  unterschriftstauglich,  hier muss sich jedoch erst noch erweisen, welche konkrete Linie der  künftige  Staatspräsident  im  Einzelnen  verfolgt, und wie  es  ihm  gelingt,  die  unterschiedlichen  Inter-essen der verschiedenen Bündnispartner kompromiss-fähig zu gestalten.

Es ist mittelfristig nicht auszuschließen, dass sich die eigentliche  Opposition  aus  dem  Kontext  der  Unidad Nacional  selbst  entwickelt.  Vor  allem  ist  nicht  zu erwarten, dass Parteiführer wie beispielsweise Vargas Lleras nur wegen ihrer Beteiligung in der Unidad Nacio nal für die nächsten acht Jahre, Santos Ehrgeiz zur Wieder- wahl unterstellt, ihren Präsidentschaftsambitionen ab- schwören werden.

6.  Santos hat bereits in der Wahlnacht deutlich gemacht, dass er die Parteien als Institutionen sehr ernst nimmt, dies  jedoch nicht  bedeutet,  dass  er  an  traditionellen 

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Santos wird ein Politikstil bescheinigt, der weniger caudillohaft ist als der Stil Uribes, stattdessen institutionenorien-tierter, stärker delegierend und stärker am Konsens orientiert.

Vergabekriterien  politischer  Macht  festhalten  will. Stattdessen  müssten  sich  Parteien  ihres  dienenden Charakters bewusst werden. Angesichts der politisch-kulturellen Traditionen Kolumbiens eine große Ankün-digung.

Die  ersten  bekannt  gewordenen  Personalentschei-dungen des künftigen Präsidenten geben jedoch einen Vorgeschmack  darauf,  dass  es  Santos,  anstatt  sich auf  eine  Quotendiskussion  einzulassen,  eher  darauf ankommt,  sich mit  fachlich ausgewiesenen Personen zu  umgeben.  Diese  können  im  Einzelfall  durchaus einen  parteipolitischen  Hintergrund  haben,  müssen jedoch  nicht  zu  den  einflussreichen  Politikern  der jeweiligen Parteien zählen.

7.  Auch  wenn  die  „grüne  Welle‟  Mockus  nicht  bis  in den Präsidentenpalast gespült hat,  sollten weder die anderen  Parteien  noch  Santos  die  Botschaft  unter-schätzen, die mit diesem noch vor wenigen Monaten 

unerwarteten  Erfolg  einer  Splitterpartei verbunden  ist.  Vielmehr  sollten  sie  ihn  in ihrer mehrfacettigen Bedeutung für die Politik und  Demokratie  des  Landes  sehr  intensiv analysieren. So heterogen bis diffus die auf 

Mockus projizierten Erwartungen auch waren, kommt darin  ein  partizipa tionsbereites  Protestpotential  zum Ausdruck,  dessen  Inhalte  ernst  genommen  werden sollten,  und  dessen Unterstützer  für  die  kolumbiani-sche Demokratie nicht verloren gehen sollten.

8.  Nicht  erst  seit  dem  Triumph  von  Santos  ist  die Frage, wie uribistisch Santos ist und ob er es bleiben wird,  oder  ob  sich  eine Konstellation  „Santismus  vs. Uribismus‟  herauskristallisieren  wird,  ein  beliebtes Spekulationsthema.

Der Kern dieser Spekulation birgt die Überzeugung, dass Santos mehr ist oder werden kann als eine Uribe-Verlän-gerung.  Ihm wird  ein  Politikstil  bescheinigt,  der weniger caudillohaft ist als der Stil Uribes, stattdessen institutionen-orientierter,  stärker delegierend und stärker am Konsens orientiert.  Vieles  spricht  für  die  These,  dass  Santos, aufbauend auf den Errungenschaften der  Uribe-Ära, einen 

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Die „la U‟ muss sich als Präsidenten-partei neu ausrichten und nachhaltige und tragfähige Parteistrukturen auf-bauen.

continuismo básico verfolgt,  darüber  hinaus  aber  seine eigenen Schwerpunkte setzt.

Abschließend  soll  auf  die  Frage  eingegangen  werden, welche Auswirkungen und Herausforderungen diese Präsi-dentschaftswahlen und die Bildung der Unidad Nacional auf die jeweiligen Parteien und das Parteiensystem insgesamt zeitigen werden. 

AUSWIRKUNGEN AUF DIE PARTEIEN

In einer Phase,  in der ein Sieg von Manuel Santos nicht als gesichert gelten konnte, wurden bereits Überlegungen darüber  angestellt,  ob  die  Uribe-Partei  „la  U‟  als  Oppo-sitionspartei  eine Überlebenschance hätte. Die  „la U‟ als stärkste  Regierungs-  und  Präsidentenpartei steht  vor  einer  doppelten Herausforderung. Zum  einen  muss  sie  sich  als  Präsidenten-partei  neu  ausrichten,  zum  anderen  geht es  auf  einer  viel  niedrigeren,  aber  umso anspruchvolleren Ebene darum, nachhaltige und tragfähige Parteistrukturen aufzubauen. Auch nach Aussagen eigener Kongressmitglieder ist die „la U‟ parteiorganisatorisch eher eine Walkampfmaschine denn eine strukturierte Partei.

Die Konservative Partei  steht vor sehr viel  schwierigeren Zeiten.  Die  innerparteiliche  Aufarbeitung  der  letzten Monate,  beginnend mit  der  die  Partei  spaltenden  Ausei-nandersetzung um die Präsidentschaftskandidatur bis hin zum  desaströsen  Wahlergebnis  von  Sanín,  wurde  durch den zweiten Wahlgang und die Koalition mit Santos überla-gert, dürfte aber nicht mehr lange auf sich warten lassen. Welche Kräfte und Strömungen sich hier wie gruppieren, ist aktuell nicht einschätzbar.

Die Partei muss sich neu aufstellen. Erleichtert wird ihr dies durch eine starke Präsenz im Kongress und in den Regionen. Erschwert wird  ihr dies durch ein geringeres Gewicht  im Gefüge der Unidad Nacional. Auch der PCC ist verzichtbar geworden. Darüber  darf  die Beschwörung der  tragenden Rolle in der Uribe-Koalition nicht darüber hinwegtäuschen. In den nächsten Jahren muss der PCC über eine Stärkung seines  programmatischen  Eigenprofils  sowohl  der  Partei wie der Fraktionen in der  Abgeordnetenkammer und dem 

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Santos betont häufig seine Herkunft aus dem liberalen Lager. Fraglich ist, ob die Wiederannäherung der drei liberalen Gruppierungen in der Unidad Nacional die Keimzelle einer neuen liberalen Formation darstellen kann.

Senat, aber auch durch eine parteiorganisatorische Moder-nisierung bis in die Regionen hinein die Grundlage für einen glaubhaften nationalen Führungsanspruch legen.

In  keiner  einfachen  Situation  befindet  sich  der  Cambio Radical. Diese Partei  ist  überaus  stark personenkonzent-riert und verfügt ebenfalls über wenige Parteistrukturen. Als  der  kleinste  der  Koalitionspartner  dürfte  ihm  eine personelle Profilierung in der Koalition erschwert werden. Bleibt  die  Frage,  inwieweit  er  sich  inhaltlich  konturieren kann. Hinzu kommt aber vor allem, dass Vargas Lleras im Reigen  der  führenden  Koalitionspolitiker,  Santos  ausge-nommen, ohne Frage einer der profiliertesten Persönlich-keiten  ist  und  seine  Ambitionen  auf  das  Präsidentenamt kaum aufgeben wird. Ob und wie lange eine solche Kons-tellation in die Unidad Nacional eingebunden werden kann, bleibt abzuwarten.

Die  Liberale  Partei  (PL)  konnte  ihren  Beitritt  zur Unidad Nacional nicht geschlossen vollziehen. Einige Abgeordnete und Senatoren verweigerten sich diesem Schritt. Inwieweit dies zu einem offiziellen Übertritt zum PV oder zum Polo führt,  kann  noch  nicht  abgeschätzt  werden.  Für  den  PL bietet die Unidad Nacional nach langen Jahren der Opposi-

tion die Möglichkeit, an der Regierungsmacht beteiligt  zu  sein,  wenngleich  in  begrenzter Form.  Zunächst  ungeklärt  bleibt,  inwie-weit  die  heterogenen  parteiinternen  Strö-mungen,  überwiegend  repräsentiert  durch zwei  ehemalige  liberale  Staatspräsidenten, Gaviria und Samper, ihre Interessen verwirk-

licht sehen, wenn nach dem Honeymoon mit Santos erste Kompromisse anstehen.

In diesem Zusammenhang ist auf eine andere, in Kolum-bien noch nicht  debattierte denkbare Entwicklung hinzu-weisen. Santos betont im Gegensatz zu Uribe häufig seine Herkunft  aus  dem  liberalen  Lager.  Santos  denkt weitaus langfristiger und strategischer als ihm das politische Beob-achter zugetraut haben. In einem ersten Schritt ist es ihm gelungen, alle drei liberalen oder aus dem liberalen Lager entstandenen Parteien, „la U‟, PL und CR, unter dem Dach  der Unidad Nacional zusammenzubringen. Fraglich ist, ob diese Wiederannäherung der drei liberalen Gruppierungen 

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Ganz offensichtlich hat sich das Links-bündnis gespalten: Hier die linksfun-damentalistischen Kader und dort eine gemäßigte, auf Kooperation und Koali-tion setzende Strömung.

in der Unidad Nacional die Keimzelle einer neuen liberalen Formation darstellen kann.

Eine  solche  Strategie  könnte  für  Santos  realistischer sein  als  darauf  zu  hoffen,  dass  es  zu  einer  über Koaliti-onsabsprachen  hinausgehenden  Kooperationsform  mit der  Konservativen  Partei  kommen  könnte.  Zwar  ist  eine programmatische Nähe zur Konservativen Partei gegeben, was nach konservativer Lesart nur das historische Bonmot bestätigt, dass ein Liberaler nichts anderes sei als ein intel-ligenter  Konservativer.  Doch  auch  wenn  es  im  PCC  eine gewisse Strömung gibt, die durchaus bereit wäre, in eine andere Form der Kooperation mit „la U‟ einzutreten, dürfte die Partei  insgesamt kaum bereit sein, 160 Jahre eigene Parteigeschichte über Bord zu werfen.

Das beachtliche Ergebnis für den Polo hat nicht zu einem unumstrittenen Führungsanspruch von Petro geführt. Vielmehr hat dessen nach der Wahl bekundete Bereitschaft, Santos  in den  für  den  Polo  zen tralen  Politikbereichen wie zum Beispiel der Landfrage zu unterstützen, zu einer offiziellen  Desautorisierung  und  zu  Spekulationen  über einen Parteiausschluss oder einen Austritt geführt.

Ganz  offensichtlich  hat  sich  das  Linksbündnis  gespalten: Hier die alten, traditionellen und linksfundamentalistischen Kader, deren Verhältnis zur Gewalt in der Tat nicht durch-gängig zweifelsfrei ist und die mit ihrem absoluten Wahr-heitsanspruch  die  Oppositionsrolle  bevorzugen,  und  dort eine  gemäßigte,  auf  Kooperation  und  Koalition  setzende Strömung.  Das  Kräfteverhältnis  dieser  Strömungen  ist allerdings schwer abschätzbar.

Ob aus der innerparteilichen Spaltung auch kleinere Abspal-tungen oder eine gesamtorganisatorische Spaltung hervor-gehen, bleibt abzuwarten. Dies könnte zu einer Wiederfor-mierung der radikalen Linken auf der einen Seite führen und auf der anderen zu einer Art  sozialdemokratischer Partei zusammen mit denjenigen Teilen der  liberalen Partei, die den  Santos-Anschluss  ablehnen.  Dies  wiederum  könnte, eine Stabilisierung des Partido Verde vorausgesetzt, zu einer weiteren Option der Zusammenarbeit oder Fusion führen. Der  Partido Verde  hat  trotz  seines  Namens mit  „grüner 

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Der Partido Verde steht vor der men-talen Hürde, von Alleinvertretungsan-sprüchen Abstand nehmen und sich koalitionsbereit zu zeigen. Das gilt vor allem für Mockus selbst.

Bewegung‟  recht wenig  zu  tun. Es handelt  sich um eine Splitterpartei, die mittels der Kandidatur von Mockus, der eine  rechtlich  gesicherte  Plattform  für  seine  Präsident-schaftskandidatur benötigte,  in eine Sphäre geschleudert wurde,  in der die Voraussetzungen aktuell nicht gegeben sind, die für das politische Überleben erforderlich sind.

Mockus hat in einer ausgesprochen guten Rede am Wahl-abend des 30. Mai klar gemacht, dass nun der Ausbau des Partido Verde prioritäre Aufgabe ist, vor allem mit Blick auf die im nächsten Jahr anstehenden Kommunal- und Regio-nalwahlen,  zu  denen  man  breit  mit  eigenen  Kandidaten antreten  wolle.  Der  Umstand,  dass  Mockus  mit  seinem Stimmenanteil nicht wie befürchtet abgefallen ist, sondern, wenngleich in begrenztem Umfang, zulegen konnte, bietet 

eine durchaus gute Ausgangslage für dieses Unterfangen. Einer der wichtigsten Mitstreiter Mockus‛, Peñalosa, kündigte bereits an, dass man diese  Partei  als  „Partei  des Zentrums‟ aufstellen wolle. Hier wird abzuwarten sein, wie  sich  die  ideologisch  durchaus  hetero-

genen  Kräfte  dieser  Bewegung  bei  dieser  Aufgabe  posi-tionieren und ob eine solche Aussage mehrheitsfähig  ist. Interne Sollbruchstellen personeller wie programmatischer Natur sind hinreichend vorhanden.

Die  Aussage,  man  sei  nach  den  Präsidentschaftswahlen die  zweite  politische  Kraft  im  Land,  ist  allzu  simplifizie-rend.  Die  kolumbianische  Geschichte  kennt  einige  in Präsidentschaftswahlen  erfolgreiche  Wahlbewegungen, die eine Konsolidierung oder gar einen weiteren parteior-ganisatorischen  Ausbau  und  entsprechende  Wahlerfolge nicht erreichten. Der Weg von einer aktuell nicht mehr als konjunkturellen Oppositionsbewegung zu strukturierteren Organisationsformen  ist  schwierig.  Die  parlamentarische Basis  hierfür  ist  äußerst  gering.  Auch  steht  der  Partido Verde  vor  der mentalen Hürde,  von Alleinvertretungsan-sprüchen Abstand nehmen und sich koalitionsbereit zeigen zu  müssen.  Das  gilt  vor  allem  für  Mockus  selbst,  sollte er  eine  führende  Rolle  bei  dieser  Herkulesaufgabe  über-nehmen.

 

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Diese Präsidentenwahl hat latente Soll-bruchstellen in den Parteien aufgedeckt und vergrößert, und auch neue geschaf-fen. Eine teilweise Umgestaltung des Parteiensystems wird diese Entwick-lung fortsetzen.

AUSWIRKUNGEN AUF DAS PARTEIENSySTEM

Für eine fundierte Einschätzung der Auswirkungen dieser Präsidentschaftswahlen  und  der  Bildung  der  Unidad Nacional  ist  es  deutlich  zu  früh.  Das  Wahlergebnis  und die  anschließende  Entwicklung  haben  Sollbruchstellen  in einigen  Parteien  offengelegt.  Deren  Aufarbeitung  wird noch  geraume  Zeit  in  Anspruch  nehmen.  Ergebnisse dieser  internen Prozesse sind schwer abschätzbar. Neben diesen innerparteilichen Entwicklungen in den betroffenen Parteien und dem Funktionieren der Unidad Nacional hängt auch  viel  vom  Ausgang  der  Kommunal-  und  Regional-wahlen in der zweiten Jahreshälfte 2011 ab. 

Vielfach  wird  die  Auffassung  vertreten,  mit  der  Unidad Nacional trete Kolumbien in eine mit der Frente Nacional zwischen 1958 und 1974 vergleichbare Phase ein. Diese „Nationale  Front‟  bestand  aus  der  liberalen  und  konser-vativen  Partei,  die  sich  turnusgemäß  in der  Staatsführung  abwechselten  und  alle anderen politischen Machtebenen unter sich aufteilten.  Verbunden  wird  diese  Sicht  mit der Einschätzung, dass mit dieser Präsiden-tenwahl und der Unidad Nacional das Mehr-parteiensystem  in  der  Substanz  beschädigt und eine Rückkehr zum traditionellen Zwei-Parteiensystem vorhersehbar  sei.  Erfahrungswerte  aus  der  kolumbia-nischen  Geschichte  prägen  diese  Analyse.  Es  erscheint jedoch problematisch, diese Erfahrungen auf einen  Jahr-zehnte später relevanten Kontext zu übertragen.

Wie  oben  ausgeführt,  hat  diese  Präsidentenwahl  latente Sollbruchstellen  in  den  bestehenden  Parteien  aufgedeckt und konfliktiver gemacht, und auch neue Sollbruchstellen geschaffen. Darin liegt fraglos das Potential einer partiellen Umgestaltung des aktuellen kolumbianischen Parteiensys-tems. Die Ausdifferenzierung der kolumbianischen Gesell-schaft  und  Politik  ist  jedoch  zu  sehr  fortgeschritten,  als dass  die  These  einer  durch  die Unidad Nacional  nahezu zwangsläufigen  Rückkehr  zu  einem  Zweiparteiensystem überzeugen könnte. Das Funktionieren der Unidad Nacional muss sich im Alltag der kolumbianischen Politik erst noch erweisen.

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Polen – Nachbar, Partnerund Freund im Osten. Die deutsch-polnischen Beziehungen seit 1989Stephan Georg Raabe

Neue Partner, bewährtePartnerschaft – Die Bezie-hungen Deutschlands zu Tschechien und der SlowakeiHubert Gehring / Tomislav Delinić / Andrea Zeller

Die Beziehungen Deutsch-lands zu den baltischen Ländern seit der Wieder-vereinigungAndreas M. Klein / Gesine Herrmann

Über die Befindlichkeitendes deutsch-französischen Paares zwei Jahrzehnte nach der WiedervereinigungJörg Wolff / Laura-Theresa Jaspers

Die Beziehungen zwischenGroßbritannien und dem wiedervereinigten Deutsch-landClaudia Crawford

Union für das Mittelmeer –Realitäten anerkennen und Chancen nutzen!Gerrit F. Schlomach

Die Philippinen nach denWahlen vom 10. Mai 2010Peter Köppinger

Vom Uribismo zur UnidadNacional – Kolumbien nach den Kongress- und Präsi-dentschaftswahlenStefan Jost