Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer...

19
Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 2019) Seite 122 Pro!tiert Schule von der Digitalisierung? Baldur Kozdon Seite 104 Das Bildungs- system in Dnemark Seite 124 Zum 95. Todestag von Franz Kafka in 2019 Rainer Werner Seite 114 MAI / JUNI 2019 Heft 5/6 | 120. Jahrgang K 5295 | ISSN 0343-4605 Katholische Bildung Verbandsorgan des Vereins katholischer deutscher Lehrerinnen e. V. (VkdL)

Transcript of Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer...

Page 1: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

Bildung geht nur mit VertrauenTeil IIKlaus ZiererJonas TögelChristina Lachner Seite 97

Abschied vonSr. Amata NeyerOCD (1922 – 2019) Seite 122

Profi tiert Schulevon der Digitalisierung?Baldur Kozdon Seite 104

Das Bildungs-system in Dänemark Seite 124

Zum 95. Todestag von Franz Kafkain 2019Rainer Werner Seite 114

MAI / JUNI 2019 Heft 5/6 | 120. JahrgangK 5295 | ISSN 0343-4605

Katholische BildungVerbandsorgan des Vereins katholischer deutscher Lehrerinnen e. V. (VkdL)

K 5295PostvertriebsstückEntgelt bezahlt.

Page 2: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

ArtikelKlaus Zierer/ Ordinarius (Klaus Zierer) und zwei Wiss. MitarbeiterJonas Tögel/ am Lehrstuhl für Schulpädagogik (SchwerpunktChristina Lachner Hattie-Studie/Lehrerprofessionalität), Universität Augsburg

Bildung und Vertrauen – Teil II

Bildungstheoretische Reflexionen und evidenzbasierte Handlungsräume 97

Baldur Kozdon Prof. Dr. phil., Professor em. für Schulpädagogikan der Universität Flensburg, Münster

Profitiert die Didaktik von einer weit ausgreifendenDigitalisierung?

Wird sich unsere „Lehrkunst“ grundlegend ändern müssen? 104

Rainer Werner Gymnasiallehrer i.R., freier Autor, Berlin

„Was bist du? Elend bin ich.“

Zum 95. Todestag von Franz Kafka am 3. Juni 2019 114

Information & ServiceBundeshauptversammlung 2019 121

In Memoriam¾ Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922–2019)

Eine Edith-Stein-Kennerin und „kluge Frau“ ist heimgegangen 122

Europäische Bildung im Vergleich¾ Bildungssysteme unserer angrenzenden europäischen Nachbarn

Das Bildungssystem in Dänemark (Red.) 124

Umschau¾ Bildung und Begleitung sind das A und O

Deutsches Abschlussdokument der Jugendsynode zeigt Wegzur missionarischen Kirche – eine Zusammenfassung(Elisabeth Peerenboom-Dartsch) 130

Buchbesprechungen 136

Veranstaltungen: Diözesen / Landesverbände 142

Veranstaltungen: Zweigvereine 143

Veranstaltungskalender / Anschriften & Konten / Impressum 144

Inhaltsverzeichnis

Page 3: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

1. Ein holpriger Start

Im Sommer 2018 erfuhr die Öffentlichkeitunserer Republik von einer Initiative, dievom Bundesbildungsministerium ausgingund darauf abzielte, den rund 40 000 Schu-len in Deutschland zu einer „digitalen Auf-rüstung“ zu verhelfen. Wenig später wurdebekannt, dass die Bundesregierung und derBundestag den Ländern für die Forcierungder Digitalisierung an Schulen eine Zuwen-dung in Höhe von fünf Milliarden Eurozukommen lassen werde – allerdings unterder Bedingung, dass auch die Länder sichzu Investitionen bereit erklären und aus-schließlich sie die Aufrechterhaltung derdigitalen „Binnenstruktur“ gewährleisten.Der Bund schlug den Ländern vor, einen„Pakt“ im Sinne einer gemeinsamen Kraft-anstrengung zu schließen. Da aber die Bil-dungspolitik zu den Hoheitsaufgaben derBundesländer gehört, wurde im Bundestageine Änderung des Grundgesetzes be-schlossen; diese erfolgte am 29. November2018. Die Änderung, mit welcher der Paktlegalisiert werden sollte, wurde jedoch am5. Dezember 2018 von den Länderchefs ab-

gelehnt. Sie monierten eine zu starke Ein-flussnahme des Bundes und sahen die Bil-dungshoheit der Länder angetastet.

Indes war abzusehen, dass man nach demFehlstart nichts unversucht lassen werde,den Einwänden der auf Wahrung des Bil-dungsföderalismus bedachten LänderchefsRechnung zu tragen. Dass der Pakt sang-und klanglos in der Versenkung verschwin-den werde, konnte man ausschließen. Da-für sorgte insbesondere der Druck aus derWirtschaft, dem sich zu widersetzen nichtratsam erschien. Vertreter von Unterneh-mensverbänden und Handwerkskammernbegrüßen einhellig den ihrer Ansicht nachüberfälligen Pakt. Sie werden nicht müdezu betonen, der Wirtschaft drohe einegravierende Schwächung, wenn man einerflächendeckenden Digitalisierung nichtfreie Bahn schaffe. Dass der Sog der Digita-lisierung auch das Bildungswesen mit vollerBreitseite erfasst, wird nicht nur für unbe-denklich erachtet, sondern ist ausdrücklicherwünscht und gefordert. Hierüber wird inWirtschaftskreisen nicht des Langen undBreiten debattiert; für die Wirtschaft istFortschritt obligatorisch. Der Progress darf

104 KB MAI/JUNI 2019

Profitiert Schule von der Digitalisierung?

Baldur Kozdon

Profitiert die Didaktik von einer weit ausgreifendenDigitalisierung?

Wird sich unsere „Lehrkunst“ grundlegend ändern müssen?

Page 4: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

105KB MAI/JUNI 2019

nicht ins Stottern geraten; ihn in Schwungzu halten, sind keine Kosten und Mühen zuscheuen.

Einem im Dezember 2018 einberufe-nen Vermittlungsausschuss, deren LeitungManuela Schwesig (Ministerpräsidentin vonMecklenburg-Vorpommern) oblag, gelanges relativ rasch, die benannten kontrover-sen Vorstellungen von Bund und Ländernzu entschärfen und zu beseitigen. In eineram 21. Februar 2019 erfolgten Abstimmungim Bundestag er-hielt der „Digital-pakt Schule“ grünesLicht. Der formellenZustimmung durchden Bundesrat imMärz 2019 standdamit nichts mehrim Wege.

Möglich wurde dieEinigung vornehm-lich durch folgendeFestlegungen:

l Die Änderungdes Artikels 104des Grundgeset-zes hebelt denBildungsfödera-lismus nicht aus.Die Bildungsho-heit der Länderbleibt gewahrt.

l Die Bereitstellung von Bundesmitteln fürBildungsinvestitionen in den Ländernund Kommunen bleibt singulär und zeit-lich begrenzt.

l Die Länder stellen zusätzlich zu der Bun-deszuwendung eigene Fördermittel zurVerfügung. Über die Höhe ihrer Investi-tionen bestimmen sie selbst.

l Hinsichtlich der Bereitstellung von Son-dermitteln durch den Bund werden Letz-terem beschränkte Kontrollbefugnisseeingeräumt. (Ein Automatismus ist nichtvorgesehen.)

2. Eine Mega-Investitionan der richtigen Stelle?

Was ist von dem Pakt zu halten? Haben wirals Pädagoginnen und Pädagogen Grund zuungetrübter Freude, wenn der vorderhand

in Wartestellung ge-brachte Pakt end-gültig grünes Lichterhält? Nein, lautetdie Antwort: DieFreude hält sich inGrenzen. Denn ein-mal mehr wird unsmit ungefilterterDeutlichkeit vor Au-gen geführt, werbei folgenschwerenBeschlüssen, wel-che unmittelbar dieSchule und unsereProfession betreffen,am langen Hebel-arm sitzt. Die Politikgibt die Richtungvor, und sie ver-langt, dass wir ih-ren Direktiven Folgeleisten. Wir sehensomit den Raum der

Pädagogik für autonomes Schalten und Wal-ten beträchtlich eingeengt. Die Betonungihrer Wichtigkeit erscheint uns halbherzig;manchem klingt sie wie hohles Lippenbe-kenntnis. (Allerdings darf nicht unterschla-gen werden, dass auch politisches Handelnstark von nichtpolitischen – zuvörderstökonomischen – Gegebenheiten beeinflusstwird.) Die Bürgermeister zahlreicher Kom-munen wären heilfroh, stünden ihnen die

PROFITIERT SCHULE VON DER DIGITALISIERUNG?

Die Freude hält sich inGrenzen. Denn einmal mehr

wird uns mit ungefilterterDeutlichkeit vor Augengeführt, wer bei folgen-

schweren Beschlüssen, dieunmittelbar die Schule und

unsere Profession betreffen,am langen Hebelarm sitzt.

Die Politik gibt die Richtungvor, und sie verlangt, dasswir ihren Direktiven Folge

leisten. Wir sehen somitden Raum der Pädagogikfür autonomes Schaltenund Walten beträchtlich

eingeengt.

Page 5: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

106 KB MAI/JUNI 2019

PROFITIERT SCHULE VON DER DIGITALISIERUNG?

für die Sanierung überalterter Schulgebäu-de benötigten Mittel zur Verfügung. Esstimmt sie keineswegs heiter, wenn sieMängelbehebung an Schulhöfen, am Schul-mobiliar, an Schultoiletten und Turnhallenauf die lange Bank schieben müssen. In ih-rem Forderungskatalog stünde jedenfallsflächendeckende „Digitalisierung“ nicht anerster Stelle. Und muss es uns Pädagogennicht zu denken geben, wenn mit der Digi-talisierung dem sprichwörtlichen „Tempo-Virus“ weitere Hürden aus dem Weg ge-räumt werden? Immerhin hatte er sichschon lange vor der Digitalisierungs-Offen-sive Eintritt in die Bildungsstätten ver-schafft. Was bleibt nunmehr von dem übrig,was sich hinter dem Wort „scholé“(= Muße) verbirgt? Und wer wollte uns ein-reden, beim Erziehen spiele die Tugend derGeduld eine untergeordnete Rolle?

Nicht unerwähnt darf bleiben, dass das einedrahtlose Telekommunikation ermöglichen-de Netz etliche Schwachstellen aufweist.Diese restlos zu beheben ist kompliziertund kostspielig. Nicht in allen Landstrichenist eine störungsfreie Indienstnahme desInternets gewährleistet. Die beste Ausstat-tung mit Digitalgeräten nützt wenig, wennmit häufigeren „Aussetzern“ gerechnet

werden muss und wichtige Funktionen aus-fallen. Doch selbst ein in technischer Hin-sicht perfektes, voll funktionsfähiges Netzhat seine Kehr- und Schattenseiten, wiemangelnde Transparenz, hohes Suchtpoten-zial und Möglichkeiten des Missbrauchs inHülle und Fülle. Meldungen über Hacker-Attacken, Datendiebstahl, Verletzung derPrivatsphäre und Cyber-Mobbing machenSchlagzeile.

Gleichwohl wäre es engstirnig und grund-verkehrt, den Schulen eine strikte „digitaleAskese“ anzuraten. Denn dass wir es mitdem Internet mit einer grandiosen Techno-logie zu tun haben, ist unbestreitbar. Sie zudämonisieren und zu schmähen, weil siemissbraucht werden kann, kann der Weis-heit letzter Schluss nicht sein. Diese Tech-nologie zeichnet sich insbesondere durcheine „fachübergreifende“ Reichweite aus,worauf sich auch ihre Relevanz für das Bil-dungs- und Unterrichtswesen begründet.Sie kann, vernünftig gehandhabt, den Wis-senserwerb in vielerlei Hinsicht befördern.Wir stießen allseits auf Unverständnis undmachten eine schlechte Figur, wenn wir diemit dem Internet sich bietenden Chancenungenutzt ließen. Die oben benannten Be-denken und Kritikpunkte, so ernst zu neh-

Page 6: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

107KB MAI/JUNI 2019

PROFITIERT SCHULE VON DER DIGITALISIERUNG?

mend sie auch sind, rechtfertigen wedereine pauschale Ablehnung innovativer Her-vorbringungen noch dumpfes Desinteresseihnen gegenüber. Hingegen ist es geboten,sich zu überlegen und nach Möglichkeit zuprüfen, ob sie sinnfällig in die Dienste pro-fessionellen Handelns genommen werdenkönnen. Es wächst uns kein Verdienst zu,wenn wir uns vor jeglicher Konfrontationmit sperrigen Problemen in Abwehrstellungpositionieren und Untätigkeit zur Tugendmachen. Wollen wir uns unsere Handlungs-fähigkeit ungeschmälert erhalten, dürfenwir uns nicht scheuen, aus der Defensiveherauszutreten.

3. Verfahrensfragen

Mit der die Schulen einschließenden Digita-liserungs-Offensive stellt sich zwingend dieFrage nach den didaktischen Implikationen.Zuvor aber muss geklärt werden, wie genaunach erfolgter Freigabe von fünf MilliardenEuro zu verfahren wäre. Welche Vorkehrun-gen sind zu treffen, wie soll die Summe auf-geteilt werden, für welche Maßnahmen sol-len Gelder unverzüglich fließen? – Ich sehefolgende Prioritäten und Erfordernisse:

1. Sofern noch nicht geschehen, wird anjeder Schule das drahtlose Netzwerk WLANinstalliert.

2. Jede Schülerin, jeder Schüler – ab derdritten Jahrgangsstufe – wird mit einemLaptop ausgestattet. (Tablet und Notebooksind ebenso geeignet; jedoch sollte inner-halb einer Schule ein „Mix“ aus verschiede-nen Gerätearten vermieden werden.) In derRegel steht das Gerät der Nutzerin bzw.dem Nutzer bis zum Schulwechsel oderSchulabschluss zur Verfügung.

3. Ausgewiesene Fachdidaktiker entwickelneinschlägige didaktisch-methodische Kon-zepte. Jede Lehrerin, jeder Lehrer erhält

eine Broschüre mit Orientierungshilfenfachunspezifischer und fachspezifischer Art.Diese sind sinnfällig auf internet-gestütztenUnterricht abgestellt. Jedes Lehrfach undjede Schulform (Primar- und Sekundarstufe)sind angemessen berücksichtigt.

4. Ein nicht unerheblicher Teil der Summefließt in die Lehrerausbildung und -fortbil-dung. Das Lehrfach „Medienwissenschaft“wird hoch gewichtet; seine Belegungim Lehramtsstudium mit mindestens vierSemesterwochenstunden ist obligatorisch.

Hierbei ist es wichtig, sich zu vergegenwär-tigen, dass im Schuljahr 2017/2018 anDeutschlands allgemeinbildenden Schulenund Berufsschulen 10,8 Millionen Schüle-rinnen und Schüler eingeschrieben waren.Sie wurden von rund 763.000 voll- oder teil-zeitbeschäftigten Lehrpersonen unterrich-tet.1)

Insofern nimmt der Digitalpakt eine sehrgroße Personengruppe ins Visier, und die-ser Umstand lässt die fünf-Milliarden-Zuwendung des Bundes nicht allzu üppigerscheinen. Rein rechnerisch entfällt aufjede der rund 40 000 deutschen Schulen imSchnitt ein Betrag von 125 000 Euro. Selbst-verständlich kommt eine schematischeZuweisung nicht in Betracht, und ebensoverbietet sich eine Aufteilung nach dem„Gießkannenprinzip“, da bekanntlich dieAusgangsvoraussetzungen von Schule zuSchule zum Teil extrem unterschiedlich sind.

4. Moderate Herangehensweiseoder Kopfsprung ins kalte Wasser?

Die Initiatoren der das Bildungswesen ein-beziehenden Digitalisierungs-Offensive ge-

1) Die Daten stammen vom Statistischen Bundesamt(Wiesbaden) und können mühelos online abgeru-fen werden.

Page 7: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

108 KB MAI/JUNI 2019

PROFITIERT SCHULE VON DER DIGITALISIERUNG?

hen davon aus, dass die Didaktik dem Inter-net ungehinderten Zutritt in ihr Terrain ge-währt. Sie sind sich offenbar von vorn-herein sicher, dass dies der Didaktik zumerheblichen Vorteil gereicht. Was sie fürwichtig erachten, beschränkt sich nicht dar-auf, Kinder und Jugendlichen zum versier-ten Umgang mit Digitaltechnik anzuleiten.Sie erwarten insbesondere die Anhebungder Unterrichtsqualität – als unerlässlicheVoraussetzung für eine optimale Aus-rüstung Heranwachsender („Fit machen“),die dereinst den Fortbestand der modernenLeistungsgesellschaft sichern und zu unge-bremster Prosperität verhelfen sollen.

Umgehend stellt sich die Frage, ob nun-mehr der Didaktik (= „Lehrkunst“) probateMöglichkeiten eröffnet werden, bisherkaum oder zu wenig genutzte Potenziale zumobilisieren und dadurch ihre Stärken bes-ser zur Geltung zu bringen. Gewinnt sie anVitalität, erhöht sich ihr Pulsschlag? Verhilftihr das Internet zu mehr „Biss“, zu mehr„Power“ und Ansehen? Gab es vor derOffensive vielerlei Gründe, mit ihrer „Effi-zienz“ unzufrieden zu sein? Wird sie dieLast der hohen Erwartungen schultern kön-nen? – Letzteres darf man hoffen und wün-schen. Indes muss bedacht werden: Der Tat-bestand der „Implantierung“ des Internetsin die Didaktik erlaubt für sich noch keineAbgabe einer Erfolgsgarantie.

Insofern lässt sich auch die Frage, ob inter-net-gestützter Unterricht in der Grundschuleansehnliche oder eher bescheidene Erfolgezeitigen wird, derzeit nicht plausibel beant-worten. Prognosen nach dieser Richtunghin hätten wenig Hand und Fuß. Nichtsaber sollte uns an einer Ausschöpfung dersich bietenden Chancen hindern, ohneeinschränkende Momente unbeachtet zulassen. Allerdings halte ich mit meiner Mei-nung nicht zurück, dass ich keine Notwen-digkeit sehe, bereits ABC-Schützen und

Zweitklässler mit Tablets, Laptops oderNotebooks auszustatten.

Je jünger Kinder sind, desto mehr bedürfensie der Lern- und Denkanreize aus der kon-kret erfahrbaren Wirklichkeit heraus. DenErstunterricht im Lesen, Schreiben undRechnen mittels Zugriff auf das Internet zuunterstützen, mag nicht grundverkehrtsein, sofern der Zugriff punktuell, in kurzenEpisoden erfolgt, nicht aber durchgängig.Obwohl kein Befürworter einer „retardie-renden Erziehung“, würde ich persönlich fürden Leselernprozess und das erste Schrei-ben für die herkömmliche, vielfach bewähr-te fibel-gestützte Methode optieren. Eben-so erachte ich für das Erlernen elementarermathematischer Operationen den Zugriff aufDigitalgeräte für entbehrlich. Hinzufügenmöchte ich sogleich, dass ich mich für Über-raschungen offen halte und mich gegebe-nenfalls eines Besseren belehren lasse.

Ab der dritten Jahrgangsstufe wird sich dasSpektrum der Gelegenheiten zu themen-und sachgerechter Internetnutzung deut-lich erweitern. Am häufigsten wird wohl Re-cherche mit Hilfe gängiger Suchmaschinen(z.B. Google) angesagt sein. Das Internetdient dann vornehmlich als fächerübergrei-fend angelegtes Lexikon. Zugegriffen wirdauf Basisinformationen zu vielerlei Thema-tiken; hierzu zählen Kurzbiografien, Ge-brauchsanleitungen, Tabellen, Schaubilder,Angaben z.B. zum Getreide- und Gemüse-anbau, zur Verbreitung bestimmter Pflan-zen- und Tierarten, zu den Flugroutenheimischer Zugvögel, zur Abfallbeseitigungin Großstädten, zur Funktionsweise vonWindkraftanlagen, usf.

Fremdwörter lassen sich per Fingerdruckmühelos nachschlagen; die Übersetzungeinfacher Texte ins Spanische und Italieni-sche ist möglich. Der Lehrkraft obliegt es,die sachgerechte Einordnung recherchier-

Page 8: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

109KB MAI/JUNI 2019

ter Informationen in den jeweiligen Unter-richtsgegenstand zu überwachen.

Zum Einüben grundlegender Fertigkeitensind Digitalgeräte vorzüglich geeignet (ob-gleich nicht zwingend erforderlich). Ihr Ge-brauch kann Schülerinnen und Schülern dazuverhelfen, zunehmend Sicherheit in Recht-schreibung, Grammatik und Elementarma-thematik (Grundrechnungsarten) zu erlan-gen. Solchem Üben geht selbstverständlichdas Erlernen der jeweiligen Fertigkeit alssolcher voraus. Inder Regel wissen jadie Schülerinnenund Schüler anfangsnicht, wie manmehrsilbige Wörterkorrekt trennt, guteSätze formuliert,Imperfekt vom Per-fekt unterscheidet,zweistellige Zahlenmiteinander multi-pliziert und derglei-chen mehr. Auf ge-naues, aufmerksa-mes Hinhören undHinsehen kommt esan. Nicht seltenwird es die Lehr-kraft für nötig er-achten, eine zu er-langende Fertigkeit mehrmals dezidiert zuerklären und mit geeigneten Beispielen zubelegen, ehe sie zu selbsttätigem Anwen-den und Üben auffordert. Die Einführung ineine neue Fertigkeit ist an eine präventiveStrategie gekoppelt: Die Lehrperson legtvon Anfang an Wert auf Fehlervermeidung,wodurch sich nachträgliche Fehlerkorrekturzwar nicht erübrigt, jedoch auf ein vertret-bares Quantum reduzieren lässt.

Überdies ist es wenig wahrscheinlich, dassauf den Gebrauch herkömmlicher Print-

medien, beispielsweise Lehrbücher für dieFächer Sachkunde, Mathematik und Reli-gionslehre, absehbar verzichtet werdenkann. Insbesondere die Abschaffung desSchullesebuches wäre ein schwerer Faux-pas. Zudem ist es mehr denn je geboten,junge Menschen für hochwertige Literaturzu interessieren. Mit Sorge registrieren wirlandauf landab eine nachlassende Bereit-schaft, die üppig bestückte „Wunderweltder Bücher“ zu betreten.2) Offenbar gerätzunehmend in Vergessenheit, dass die Lese-

kultur ein wichtigesSegment von Kulturschlechthin bildet –zumindest seit Er-findung der Schrift.

Im Sog der Digitali-sierung verliert dieliterarische Bildungan Boden; Gleichesist auch für anderemusische Bereichezu erwarten. Derausgiebige Umgangmit Geräten, bei de-nen durch einfa-chen Fingerdruck(„Wischen“) eineReaktion in Bruch-teilen einer Sekun-de erfolgt, zeitigt

konditionierende Effekte. Ob die damit ein-hergehende Gewöhnung, wie nicht nur Pes-simisten meinen, ein Klima seelischer Un-terkühlung heraufziehen lässt? Die Möglich-keit besteht durchaus, zumal bei täglichemund sehr intensivem Umgang mit HighTech. (Das Smartphone in der Hosentasche,ständig präsent – das Buch, irgendwo imRegal ... Was ist angesagt: Schmökern oder

PROFITIERT SCHULE VON DER DIGITALISIERUNG?

Solchem Üben gehtselbstverständlich das

Erlernen der jeweiligenFertigkeit als solcher voraus.

In der Regel wissen ja dieSchülerinnen und Schüler

anfangs nicht, wie manmehrsilbige Wörter korrekt

trennt, gute Sätze formuliert,Imperfekt vom Perfekt unter-scheidet, zweistellige Zahlen

miteinander multipliziert unddergleichen mehr. Auf genaues,aufmerksames Hinhören und

Hinsehen kommt es an.

2) Christian Graf von Krockow: Der Zauber des Ge-druckten. Studien zur deutschen Lesekultur, Flens-burg 2001, S. 146.

Page 9: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

110 KB MAI/JUNI 2019

PROFITIERT SCHULE VON DER DIGITALISIERUNG?

Surfen?) Ich frage mich: Müssen wir gewär-tigen, dass allmählich – von vielen unbe-merkt – all das ins Hintertreffen gerät, waspoetische Qualität hat? Das Ausmaß der Ver-armung wäre monströs – eine Tragödie son-dergleichen! Denn Poesie lässt Raum fürFantasie und Träumen; mit ihr wachsen uns„Flügel der Vorstellungskraft“ zu.3)

Sorgsam zu achten ist auf gepflegtes Sprechenund Schreiben. Zum Schreiben von E-Mailswird sich des Öfteren Gelegenheit bieten,etwa bei längerer krankheitsbedingter Ab-wesenheit einer Klassenkameradin oder beiKorrespondenzen mit Kindern einer Partner-schule. Die Lehrkraft gibt mit aller Deutlich-keit zu verstehen, dass man sich mit einerschludrig verfassten E-Mail eine Blöße gibt.Blamage muss nicht sein. Man sollte stetsdavon ausgehen, dass es der Empfängerinoder dem Adressaten keinesfalls gleichgül-tig ist, ob die Formen des Anstands gewahrtwerden oder nicht. Höfliche Kontaktpflegebricht niemandem einen Stein aus derKrone. Der Sprachstil verrät viel über dieWertschätzung der Person, mit der mansich in Nah- oder Telekommunikation aus-tauscht. Auch ist man es sich selbst schuldigzu vermeiden, unangenehm aus der Rollezu fallen. Das rein Technische und Funktio-nale an der E-Mail-Korrespondenz ist zweit-rangig gegenüber dem Bemühen um dasAbfassen von Texten, die in inhaltlicher undstilistischer Hinsicht „comme il faut“ sind.

5. Zielgenaue oder halbblindeZugriffe auf das Internet?

In der Sekundarstufe I und II würde maneine Lehrperson kaum ernst nehmen, diedemonstrativ einer „digitalen Askese“ fröntund meint, ihr starres Beharren werde vonden Schülerinnen und Schülern goutiert.Sie verscherzte sich allen Respekt, zumal

die Möglichkeiten sinnvoller Nutzung viel-fältig sind und zur Ausschöpfung einladen.Mit „vielfältig“ ist freilich nicht gemeint,dass zu sorgfältiger Abwägung und Grenz-ziehung keine Notwendigkeit besteht. „ Jehäufiger das Internet befragt, desto besserder Unterricht“ – die Primitivität dieserFormel macht jeden weiteren Kommentarüberflüssig. Die Frequenz des Zugriffs aufdas Internet ist kein verlässliches Kriteriumfür die Qualität des Lehrens und Lernens.Wichtiges muss vorausgehen, ehe man ausdem im Netz befindlichen Datenfundusverwertbare Informationen schöpft. Hierbeikommt es besonders auf Treffgenauigkeit an.

Machen wir uns das an einem Beispiel deut-lich, und zwar an dem Unterrichtsthema„Die Bedeutung der Steinkohle für Deutsch-lands industrielle Entwicklung“ (9./10. Jahr-gangsstufe). Die Erarbeitung des Themasnimmt zwölf (auf mehrere Tage verteilte)Unterrichtsstunden in Anspruch. Zuerstmuss geklärt werden:

l Welche Schwerpunkte setzen wir; welcheFragestellungen sind von herausragen-der Wichtigkeit und somit vorrangig zubearbeiten?

l In welcher Abfolge sind die Fragen zu be-arbeiten?

l In welcher Sozialform soll das Durch-arbeiten des Themas erfolgen: in Einzel-,Partner- oder Gruppenarbeit?

Ich halte es für wenig wahrscheinlich, dassdie Schülerinnen und Schüler ganz ohneMitwirkung der Lehrperson in die „richtigeSpur“ einscheren und treffsicher wichtigeFragestellungen von eher Beiläufigem un-terscheiden. Leitende Fragestellungen sindunverzichtbar für die Erschließung einesjeden anspruchsvollen Themas. Sie habengleichsam Geländer- und Kompassfunktion.3) Ebd.

Page 10: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

111KB MAI/JUNI 2019

PROFITIERT SCHULE VON DER DIGITALISIERUNG?

Es sind – auf unser Thema bezogen – fol-gende:

l Wann und wodurch ist Steinkohle ent-standen?

l Die Anfänge der Kohleförderung: Wo-durch wurde der Abbau des RohstoffsKohle ausgelöst?

l In welchen Gegenden Deutschlandsstieß man auf Steinkohle in abbau-loh-nender Menge?

l Welche Hilfsmittel standen in der An-fangsphase der Kohleförderung zur Ver-fügung?

l Wie sieht eine moderne Zeche aus?Welches sind die Arbeitsbereiche undArbeitsabläufe?

l Welchen Anteil hatten die Ruhr- und dieSaarkohle an dem wirtschaftlichen Auf-schwung Deutschlands? (Zeitrahmen:zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bis2000)

l Welche Bedeutung hat die Stahlkohle fürdie Strom- und Stahlerzeugung?

l Welche Anforderungen wurden an denBeruf des Steigers gestellt? Wie sah seinArbeitsplatz aus? Welchen Gefahren sahsich der Bergmann ausgesetzt? WelcheSchutzvorkehrungen wurden getroffen?

l Welche Umstände führten zeitweise zuempfindlichem Kohlemangel, und wiewurde er behoben?

l Welche Gründe führten zur Einstellungder Steinkohleförderung in Deutschland(endgültig im Dezember 2018)? Was ge-schieht mit stillgelegten Förderanlagen?

Sind diese Fragen formuliert, akzeptiertund fixiert, empfiehlt es sich, die Gesamt-

thematik differenziert in Gruppen bearbei-ten zu lassen – sinnfälliger Weise mit fol-genden Aufgabenstellungen:

Gruppe I: Die Anfänge intensiver Kohleför-derung in Deutschland (ca. 1790 bis 1850)

Gruppe II: Eine typische Förderanlage: Be-schaffenheit, Funktionen, Arbeitsabläufe

Gruppe III: Kohleförderung im Zeitraumvon 1850 bis 2000

Gruppe IV: Die Verwendung von Steinkohlefür die Stahl- und Stromerzeugung

Gruppe V: Der Arbeitstag eines Steigers

Gruppe VI: Das „Zechensterben“ in Deutsch-land. Die Behebung von Folgeschäden(Bodenabsenkungen) als Zukunftsaufgabe

Es ist unschwer zu begreifen, dass eine auf-wendige Themenbearbeitung zu keinembefriedigenden Resultat gelangen kann,wenn man der Frage, was genau das jewei-lige Thema fordert und wie die Schwer-punkte zu setzen sind, ausweicht oder sielediglich streift. Diese Frage zu stellen gehtder Zuhilfenahme von (nichttechnischen odertechnischen) Lehr- und Arbeitsmitteln, somitauch des Internets, unbedingt voraus!4)Andernfalls vollzieht sich der Zugriff aufDateien im Internet ziel-ungenau. Mangreift ausgiebig in den Datenfundus undbemerkt womöglich (wenn überhaupt) ersthinterher, dass die entnommenen Daten fürden „Kern“ der Thematik ziemlich irrele-vant sind, und zwar auch dann, wenn sie,für sich genommen, Hand und Fuß haben.Mithin lässt sich sagen: Tabellen, Übersich-ten, Statistiken, Skizzen, Schaubilder, Kurz-

4) Vgl. vom Verfasser: Das Internet im individuali-sierenden Unterricht. In: Katholische Bildung,117. Jg., Heft 7/8, Essen 2016, S. 317.

Page 11: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

112 KB MAI/JUNI 2019

PROFITIERT SCHULE VON DER DIGITALISIERUNG?

videos, Angaben z.B. über Zechendichte,Fördermengen, Gerätebedarf, Stollentiefen,Kohletransporte (per Schiff und Bahn) etc.abzurufen macht nur dann Sinn, wennsie in einschlägige Kontexte eingebundensind. Die erfolgver-sprechende Nutzungdes Internets ist ange-wiesen auf klar struk-turierte Arbeits- undOrganisat ionsrah-men. Fehlen diese,verliert sich derNetz-Nutzer unwei-gerlich im „Daten-dschungel“ undtrifft, um irgendwievoranzukommen,eine Wahl, die ihnvon der Zielgeradenentfernt. An dieserStelle wird deutlich,dass es mit der zu-weilen behaupte-ten, dem Internetgeschuldeten „Ent-lastung“ der Lehr-person nicht weither ist: Erfolg oderMisserfolg gemeinsamen Bemühens imUnterricht hängen wesentlich von ihremdidaktisch-methodischen Geschick ab. Die„Kunst des Kombinierens und Verknüpfens“ist zuvörderst von ihr zu leisten, was nichtheißt, es erübrige sich, Schülerinnen undSchüler zum rechten Auswählen, Gewichten,Einordnen und Beurteilen anzuleiten.5)

6. Ordnung und Organisation

Dass das Internet zunehmend in didakti-sches Terrain eindringt und dort mächtig anEinfluss gewinnt, ist nicht zu bestreiten.Der „Digitalpakt“ gibt dieser (ohnehin in

Schnellfahrt befindlichen) EntwicklungRückenwind; er befördert und beschleunigtsie. Ich erkenne die sich bietenden Chancendurchaus, bin mir allerdings nicht sicher, obdas Internet unserem Unterrichten nachhal-

tig zu mehr Attrakti-vität und (insbeson-dere) Qualität ver-helfen wird. Mancheiner, der die Ent-wicklung aufmerk-sam verfolgt, magsich fragen: Ist, inpädagogisch-didak-tischer Hinsicht, fürdie neu verfügbarenPotenziale das Attri-but „revolutionär“angemessen? Ändertsich unser Unterrich-ten radikal; wird ihmein völlig neuer Cha-rakter aufgedrückt?

Letzteres glaube ichnicht. Indes ist es ei-ner Überlegungwert, ob dank desInternets und seines

Nutzungspotenzials demokratische Tugen-den besser als bisher zur Entfaltung gelan-gen können. Wird nunmehr der grundsätz-lich zu begrüßende Trend zur Individualisie-rung des Unterrichts beflügelt? Nimmt ergehörig an Fahrt auf? Ist jetzt mit der viel-fach kritisierten und karikierten „Lehrer-dominanz“ endgültig Schluss? – Ich finde,dass in der Tat ein Schub zu mehr Individua-lisierung erfolgt, setze aber sogleich hinzu,dass mit ausgiebiger Internet-Nutzung dasUnterrichten auch fehleranfälliger wird. Dashat seinen Grund nicht allein darin, dass aufeine Vielzahl von Daten im Netz kein Ver-lass ist. Es liegt in erster Linie daran, dassThematiken und Daten nicht ohne Weitereskompatibel sind. Daten können in die Irre

Es ist unschwer zu begreifen,dass eine aufwendige Themen-

bearbeitung zu keinembefriedigenden Resultat

gelangen kann, wenn man derFrage, was genau das jeweilige

Thema fordert und wie dieSchwerpunkte zu setzen sind,ausweicht oder sie lediglich

streift. Diese Frage zu stellengeht der Zuhilfenahme von

(nichttechnischen odertechnischen) Lehr- und

Arbeitsmitteln, somit auch desInternets, unbedingt voraus!

Andernfalls vollzieht sichder Zugriff auf Dateien im

Internet ziel-ungenau.

5) Ebd.

Page 12: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

113KB MAI/JUNI 2019

PROFITIERT SCHULE VON DER DIGITALISIERUNG?

führen, wenn sie an Kontexte gebundensind, zu deren Transferierung auf andereKontexte man sich verleiten lässt, obwohlman (in aller Regel) genau das unterlassenmüsste. Erliegt man der Versuchung, sogerät das Zusammenfügen verschiedensterElemente beinahe zum Glücksspiel. Anstattthemengerecht zu „integrieren“, wird „ge-kittet“, selbst wenn manche Teile nicht zu-sammenpassen. Entsprechend unbefriedi-gend sind dann die Endresultate. Somit isterwiesen: Ein Gutteil der zu Recht für uner-lässlich erachteten „Medienkompetenz“ ist„Organisationskompetenz“! Diese sich anzu-eignen bedarf es erheblicher Anstrengung.Sie aufzubringen fällt selbst versiertenErwachsenen nicht leicht, und viele Heran-wachsende haben vermutlich nur eine diffu-se Vorstellung von ihrer Bedeutung. RegeAktivität und guter Wille zur Mitarbeit sindgewiss lobenswert; über besagtes Manko je-doch können sie nicht hinwegtäuschen. EineVervielfachung von Optionen darf das „Prin-zip Ordnung“ nicht aushebeln; dieses erfährtvielmehr einen beträchtlichen Bedeutungs-zuwachs. Ohne Ordnung keine Klarheit!

Im Übrigen gilt es, mit einem weit verbrei-teten Irrglauben aufzuräumen: Was wirwissen und wissentlich zu tun vermögen,beruht nicht auf einer „Autoproduktion“von Daten und Informationen. Wissen wirdnicht „eingesogen“ wie „ein Getränk auseinem Becher, sondern es muss durch denLerner aus den Daten und Informationenerst aktiv konstruiert werden. Er muss eineBeziehung auf sein Vorwissen, auf seineVorkenntnisse und Vorerfahrungen herstel-len. Wissen hat immer System- und Struk-turqualität. Wissen gibt es überhaupt nichtin irgendwelchen Speichermedien, sondernnur in lebendigen Menschen“.6)

7. Hightechan Grenzen

Profitiert die Didaktik von der Digitalisie-rungs-Offensive? – Die Antwort lautet:Ja, sie kann sich in die Riege der Nutznießereinreihen. Sie profitiert, sofern der Zugriffauf Digitalmedien an vorgreifende undflankierende Überlegungen geknüpft ist,die über das apparativ- und funktions-gebundene Know-how hinausweisen. Nachwelcher Richtung hin diese Überlegungenanzustellen sind, hoffe ich verständlichund exemplarisch aufgewiesen zu haben.Erspart man sie sich, bleiben die sich bie-tenden Chancen großenteils ungenutzt,und es muss eher mit enttäuschenden alsmit erwünschten Resultaten gerechnet wer-den.

Das Internet – zweifelsohne eine bahnbre-chende Erfindung, der wir hohe Wertschät-zung nicht versagen können. Jedoch be-steht ein Unterschied zwischen Wertschät-zung und Vergötzung. Die Konturen derGrenzziehung dürfen nicht verwischt wer-den. So viele Terrains sich Hightech aucherobert, so stößt sie dennoch auf Mauern,die ihr schrankenloses Expandieren ver-wehren. Unsere Lebenswelt ist angefüllt mitProblemen, die ausgetüftelter Technologienicht zugänglich sind und trotzdem derLösung, zumindest der Entschärfung, be-dürfen. In einer Welt wachsender Unord-nung, Unruhe und Unverträglichkeit spitzensich viele dieser Probleme gefährlich zu.Technischer Erfindergeist und dessen Her-vorbringungen, so grandios diese seinmögen, können uns und unseren Kindernnicht sagen, wie wir uns eine lebenswerteWelt erhalten, wie wir es erreichen, dauer-haft in Friedfertigkeit Umgang zu pflegen,wie wir menschenverachtender Hybris Ein-halt gebieten, wozu wir auf der Welt sindund welchen Sinn unser Leben hat.

6) Werner Sacher: Lernen im Unterricht. Broschüredes Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universi-tät Erlangen-Nürnberg, Juni 2001, S. 10.

Page 13: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

114 KB MAI/JUNI 2019

Kafkas Angst:„Das gefrorene Meer in uns“

Kafkas Texte beginnen verstörend: „ Jemandmusste Josef K. verleumdet haben, denn ohnedass er etwas Böses getan hätte, wurde er einesMorgens verhaftet.“ („Der Prozess“) – „AlsGregor Samsa eines Morgens aus unruhigenTräumen erwachte, fand er sich in seinem Bettzu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“(„Die Verwandlung“). Selbst wenn die Textescheinbar harmlos anfangen, schleicht sichbeim Leser doch ein ungutes Gefühl ein,weil die demonstrativen Beruhigungs-formeln, die der Ich-Erzähler benutzt, eherdazu angetan sind, kommendes Unheil er-warten zu lassen. In der Kurzgeschichte„Der Nachbar“ heißt es gleich zu Beginn:„Ich klage nicht, ich klage nicht“, bevor derIch-Erzähler schließlich von paranoiderAngst gepackt wird. In der Parabel „DerSchlag ans Hoftor“ äußert der Ich-Erzähleranfangs den Satz: „Ich war sehr ruhig und be-ruhigte auch meine Schwester“, nur um spätervom Unheil heimgesucht zu werden.

Woher kommt diese Angst der Protagonis-ten, die sie zu Beruhigungsformeln zwingt?

Viel ist in der Fachwissenschaft darüber ge-mutmaßt worden, ob sich in die Texte daseigene ängstliche Lebensgefühl, von demFranz Kafka immer wieder berichtet, einge-

schrieben hat. Wie überdimensioniert seineAngstgefühle sind, zeigt Kafkas Begrün-dung, eine gemeinsame Reise mit einemFreund abzusagen: „Es ist die Angst vor derVeränderung, Angst davor, die Aufmerksamkeitder Götter durch eine für meine Verhältnissegroße Tat auf mich zu lenken.“ Lesen undSchreiben sind für Kafka existenziell – ge-rade weil sie an das rühren, was unter derOberfläche eingeschlossen scheint: „[...] einBuch muss die Axt sein für das gefrorene Meerin uns“, so schreibt Kafka am 27. Januar 1904

Zum 95. Todestag von Franz Kafka in 2019

Rainer Werner

„Was bist du? Elend bin ich.“Zum 95. Todestag von Franz Kafka am 3. Juni 2019

Franz Kafka im Januar 1923Quelle: Foto gemeinfrei, www.wikipedia.org

Page 14: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

115KB MAI/JUNI 2019

ZUM 95. TODESTAG VON FRANZ KAFKA IN 2019

in einem Brief an Oskar Pollak. „Wenn dasBuch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faust-schlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wirdann das Buch?“ – so seine rhetorische Frage.

Schrecknis der Erziehung:„Nur eben als Vater warst du

zu stark für mich“

Franz Kafka wird am 3. Juli 1883 als Sohndes jüdischen Kaufmanns Hermann undseiner Frau Julie, geb. Löwy, in Prag gebo-ren. Nach ihm werden noch drei Schwes-tern geboren. Schon früh zeigen sich beidem Kind die Eigenschaften, die FranzKafka sein kurzes Leben lang – er sollte nurknapp 41 Jahre alt werden – begleiten soll-ten: Schüchternheit und Kontaktscheu,Empfindlichkeit und Ängstlichkeit. ObwohlKafka ein guter Schüler ist, hat er auch vorder Schule Angst. Deshalb gelingt es derboshaften Köchin, die ihn jeden Tag zurSchule begleitet, ihn dadurch einzuschüch-tern, dass sie droht, den Lehrern zu erzäh-len, wie unartig er zu Hause sei. Davorfürchtet er sich so sehr, dass er sie auf derStraße für Dinge um Verzeihung bittet, dieer gar nicht getan hat. In dem berühmt ge-wordenen „Brief an den Vater“, den Kafkamit 36 Jahren verfasst und dem Vater niehat zukommen lassen, wird deutlich, wiesehr die autoritären Erziehungsmethodendes Vaters den sensiblen Sohn verletzt ha-ben: „Ich winselte einmal in der Nacht immer-fort um Wasser [...]. Nachdem einige starkeDrohungen nicht geholfen hatten, nahmst dumich aus dem Bett, trugst mich auf die Pawlat-sche [Balkon] und ließest mich dort allein vorder verschlossenen Tür ein Weilchen im Hemdstehen [...]. Noch nach Jahren litt ich unter derquälenden Vorstellung, dass der riesige Vater,mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grundkommen [...] konnte und dass ich also ein solchesNichts für ihn war.“ Das Gefühl der Nichtig-keit und Schwäche speist sich aus strafen-den Erziehungsmethoden, die durch die

„bloße Körperlichkeit“ des Vaters, der in demBrief als „stark, groß, breit“ beschriebenwird, verstärkt werden. Noch im Alter von40 Jahren schreibt Kafka in einem Brief anseine Schwester Elli rückblickend über dasBestreben des Vaters, den Sohn nach seinenIdealen zu modeln: „Wenn es in dem Kindefehlt, so fängt er an, es ihm einzuhämmern, wasihm auch gelingt, aber gleichzeitig misslingt,denn er zerhämmert das Kind.“ In drastischenWorten verurteilt er diese Erziehungs-methoden: „Das sind, aus Eigennutz geboren,die zwei Erziehungsmethoden [...]: Tyrannei undSklaverei.“

Nach dem Abitur im Jahre 1901 studiertKafka an der Deutschen Universität in PragGermanistik, wechselt dann aber zu Jura.Das Studium schließt er 1906 mit der Pro-motion ab. Von 1908 bis zu seiner krank-heitsbedingten Frühpensionierung im Jahre1922 arbeitet Kafka bei der „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt“ als Sachbearbeiter.Kafka führt eine zweigeteilte Existenz. DenTag verbringt er in der Versicherung, in derNacht schreibt er seine Texte. Das Schreibenwird zu einer Tätigkeit, die er als existen-zielle Notwendigkeit erlebt: „Der Sinn für dieDarstellung meines traumhaften inneren Lebenshat alles andere ins Nebensächliche gerückt.“Manchmal ist bei Kafka der Sog des Schrei-bens so stark, dass Texte wie in Trance aus ihmherausfließen. So verfasst er die Erzählung„Das Urteil“ in der Nacht vom 22. auf den23. September 1912 in nur acht Stunden.

Bestrafungsphantasien: „Liebe Eltern,ich habe euch doch immer geliebt.“

„Das Urteil“: „Ich verurteile dich jetztzum Tode des Ertrinkens.“

Dass ein Vater seinen Sohn nach einem hef-tigen Streit zum Tode verurteilt, gehört zuden ungewöhnlichsten Episoden der Welt-literatur. Der junge Kaufmann Georg Bende-

Page 15: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

116 KB MAI/JUNI 2019

ZUM 95. TODESTAG VON FRANZ KAFKA IN 2019

mann arbeitet im väterlichen Geschäft alsKaufmann. Die Mutter ist vor Kurzem ge-storben. Einem nach Russland ausgewan-derten Freund möchte er in einem Briefsein Verlöbnis mit einem Mädchen namensFrieda mitteilen und ihn zur Hochzeit einla-den. Er sucht seinen Vater in dessen Schlaf-zimmer auf, um ihm von diesem Brief zuerzählen. Im Verlauf des Gesprächs entstehtein heftiger Streit, an dessen Ende das un-gewöhnliche Todesurteil des Vaters steht,das der Sohn ohne Widerspruch vollzieht:„Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt.“ Ereilt zur Brücke, hält sich kurz am Geländerfest und lässt sich in den Fluss fallen. DieErzählung behandelt ein zentrales Thema inKafkas Texten: die Rivalität zwischen Vaterund Sohn. Der Vater ist seit dem Tod derMutter sichtbar gealtert und vernachlässigtdie Reinlichkeit seiner Kleidung. In der Kon-frontation mit dem Sohn im Schlafzimmergewinnt er deutlich an Stärke zurück: „MeinVater ist noch immer ein Riese.“ – „Georg sahzum Schreckbild seines Vaters auf.“ – Der Vater:„Ich bin noch immer der viel Stärkere.“ DerVater beleidigt den Sohn als „teuflischenMenschen“ und seine Braut als „widerlicheGans“, die ihn nur mit erotischer Freizügig-keit geködert habe. Die Vollstreckung desUrteils durch den Sohn wird in der Fach-literatur unterschiedlich interpretiert. Dieeinen deuten den Freitod als Einverständnisdes Versagens und Vollzug einer Bestrafungs-phantasie. Die anderen sehen den Sprungins Wasser (Kafka war ein vorzüglicherSchwimmer) als imaginierte Befreiung vonder väterlichen Bevormundung und als Wegin ein selbstbestimmtes Leben.

„Die Verwandlung“:„Da gab ihm der Vater einen wahrhaftig

erlösenden starken Stoß.“

Diese Erzählung gehört zu den schockie-rendsten und rätselhaftesten Texten Kafkas.Die Verwandlung eines Menschen in ein

Insekt irritiert die Leser und fordert dieFachwelt zu Deutungen heraus. Der jungeHandlungsreisende Gregor findet sich einesMorgens beim Aufwachen in einen Käferverwandelt. Aus der Perspektive Gregorserfährt der Leser, wie er seine Verwandlungin eine andere Lebensform verarbeitet undwie die Familie (Vater, Mutter und Schwes-ter) damit umgeht.

Zu Beginn wird Gregor von der Familie nochals Mensch wahrgenommen, indem sienoch von „ihm“ spricht. Später geht sie dannzum sächlichen Personalpronomen „es“über. Das Dienstmädchen spricht vom „Mist-käfer“ und vom „Zeug nebenan“. Aus dem Ge-dankenstrom Gregors erfahren wir, dass ernach dem Bankrott des väterlichen Geschäf-tes in die Rolle des Familienernährers ge-schlüpft ist. Der Vater hingegen ist in Lethar-gie versunken und äußerlich verwahrlost.Nach Gregors Verwandlung lebt der Vaterauf und gewinnt seine alte Rolle als Fami-lienoberhaupt zurück. Die neue Dominanzbekräftigt er, indem er Gregor misshandelt.Die Verletzung im Rücken, aber auch dieEinsicht, dass er um des familiären Friedenswillen das Feld räumen muss, veranlassenihn, die Nahrung zu verweigern und seinLeben zu beenden. Nach Gregors Tod lebtdie Familie sichtbar auf. Vor allem der Vatergewinnt seine alte Stärke zurück. Auchdiese Erzählung schildert im Kern eineVater-Sohn-Rivalität. Die Verwandlung ineinen Käfer kann man als Symbol für dieregressive Selbstbestrafung des jungenMannes deuten, der nach einer kurzenPhase als Oberhaupt der Familie diese Posi-tion wieder räumt und nach einem demüti-genden Prozess familiärer Ausgrenzung undErniedrigung als Höhepunkt der Selbst-bestrafung den Freitod wählt.

Die Parallelen zu Kafkas „Brief an den Vater“(1919) sind unübersehbar. Dort beschreibtKafka seinen Vater als kraftvoll, jähzornig

Page 16: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

117KB MAI/JUNI 2019

und impulsiv, sich selbst als sensibel und in-trovertiert. Während der Vater sich auchohne Bildung ökonomisch nach oben ge-arbeitet habe, verharre sein Sohn unselbst-ständig und verängstigt in seiner geistigenWelt. Wie man an dieser Erzählung sehenkann, sucht sich das Biografische immerwieder Wege in die Texte des Dichters.

Geschichten vom Misslingen:„Gibs auf, gibs auf “

Die bekannteste Parabel Kafkas über dieVergeblichkeit heißt „Gibs auf “. Am frühenMorgen geht der Ich-Erzähler zum Bahnhof.Beim Vergleich seiner Uhr mit der Uhrzeitauf der Turmuhr stellt er fest, dass er sichverspätet hat. Da er sich in der fremdenStadt nicht auskennt, fragt er einen Polizis-ten („Schutzmann“) um Orientierungshilfe.Anstatt ihm zu helfen, fragt der Polizist:„Von mir willst du den Weg erfahren?“ – Das„ Ja“ des Erzählers kontert er mit einemzweimaligen „Gibs auf “. Dabei wendet ersich lachend von dem Hilfesuchenden ab.

Diese Geschichte ist wie die meisten TexteKafkas doppelbödig. Die Suche nach demrichtigen Weg zum Bahnhof steht für dieSuche nach dem Sinn der menschlichenExistenz, nach dem Sinn der Weltordnung.Der „Schutzmann“ vertritt die Autoritäten,an die man sich gemeinhin wendet, umOrientierung zu erhalten: Geistliche, Philo-sophen, Wissenschaftler. Sie können jedochüber die letzten Dinge der menschlichenExistenz keine Auskunft geben, weil sie dieErklärung selbst nicht wissen („Von mir willstdu den Weg erfahren?“). Die starke emotio-nale Reaktion des Erzählers angesichtsder entdeckten Verspätung („Schrecken“,„unsicher“, „atemlos“) deutet auf eine exis-tenzielle Verunsicherung hin.

Dieser Text wird gemeinhin als Beleg dafürgenommen, dass Kafka die existenzielle

Grundtatsache gestaltet, dass der Menschauf sich selbst zurückgeworfen ist, weil ihmin der Moderne die herkömmlichen (religiö-sen) Welterklärungen nicht mehr zur Ver-fügung stehen.

In der Parabel „Vor dem Gesetz“ bittet ein„Mann vom Lande“ um Einlass in das Gesetz,was ihm von einem Türhüter, hinter demnoch eine Phalanx weiterer Wächter steht,verwehrt wird. Alles Bitten und Flehen,aber auch Bestechungsversuche bleibenumsonst. Der Bittsteller wird über das langeWarten alt und schwach. Am Ende desTextes schließt der Türhüter den Eingang indas Gesetz, der nur für den Bittsteller be-stimmt war. Der Text formuliert die rätsel-hafte Paradoxie, dass der Mann vom Landeden Zugang zum Gesetz, der nur ihm vor-behalten war, nicht betreten darf. Bei demGesetz handelt es sich um eine Variante derKafkaschen Ur-Idee: die Frage nach demLebenssinn, nach der letzten Wahrheit un-seres Daseins. Auf diese existenzielle Frageerhält der Mensch keine Antwort, weil erdas Absolute in seiner menschlichen Be-schränktheit nicht zu erfassen vermag.

In der Parabel „Eine kaiserliche Botschaft“übermittelt der Kaiser einem Bewohner sei-nes Reiches, der als „jämmerlicher Untertan“bezeichnet wird, eine Botschaft. Um sie zuüberbringen, sendet er einen seiner kräf-tigsten Boten aus. Außerhalb des Palastestürmen sich unüberwindliche Hindernisseauf, an denen der Bote scheitert. Der Adres-sat der Botschaft sitzt am Fenster und er-träumt sich vergeblich deren Ankunft. DasSich-Abmühen des Boten gleicht der ver-geblichen Mühe seines mythologischen Vor-bilds Sisyphos („wie nutzlos müht er sich ab“),die auch „durch Jahrtausende“ nicht belohntwird. Man geht sicher nicht fehl in derAnnahme, bei der Botschaft handele es sichum eine für den Menschen positive Nach-richt, um eine „frohe Botschaft“, wie das

ZUM 95. TODESTAG VON FRANZ KAFKA IN 2019

Page 17: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

118 KB MAI/JUNI 2019

ZUM 95. TODESTAG VON FRANZ KAFKA IN 2019

Evangelium im Altgriechischen genanntwird. Kafka hat häufiger Anleihen in derchristlichen Religion gemacht, ohne seinJudentum zu verleugnen. Die Parabel istdeshalb eine Geschichte des Misslingens,weil der Mensch die Botschaft, die seinemLeben einen Sinn geben könnte, nicht zuerlangen vermag, dasich zwischen demAbsender (Kaiser= Gott?) und demEmpfänger (Untertan= Mensch) unüber-windliche Hindernis-se auftürmen. Glau-bensverlust in derZeit der Moderne hatdazu geführt, dassman die Botschaftvon einer jenseitigenbesseren Welt nicht mehr zu verstehen ver-mag. Der Mensch im sachlichen Zeitalter istnicht mehr empfänglich für Transzendenz.

Mit der Parabel „Heimkehr“ hat Franz Kafkaeinen Paralleltext zum „Gleichnis vom verlo-renen Sohn“ (Lukas-Evangelium 15, 11 – 32)verfasst. Ein Sohn – der Ich-Erzähler – kehrtnach längerer Abwesenheit in sein Eltern-haus zurück, traut sich aber nicht, die Tür-schwelle zu überschreiten. Er fühlt sichvon altem Gerümpel im Hof und von einerlauernden Katze abgeschreckt. Letztlichverhindert aber seine eigene Unsicherheit,ein Gefühl von Isolation und Fremdheit,dass er in seine Familie zurückkehrt. DerText schildert das Misslingen einer Heim-kehr. Der Ort, den man gemeinhin als Stätteelementarer Geborgenheit versteht – dieFamilie, das Vaterhaus – wird dem heimkeh-renden Sohn zu einem Ort der Fremdheit,des Ausgeschlossen-Seins. Die Parabel for-muliert die Grunderfahrung des ungebor-genen, isolierten Menschen der Moderne.Traditionelle Familienbindungen könnenden Menschen nicht mehr tragen. Fremd-

heit und Heimatlosigkeit sind das Ergebnisdieses Verlustes. Ganz anders verläuft dieHeimkehr des verlorenen Sohnes im bibli-schen Gleichnis: Der Sohn, der sein Erbteil inder Fremde verprasst hat, wird trotz seinesFehlverhaltens vom Vater freudig in die Armegeschlossen. Des Vaters Begründung für

den überschwängli-chen Empfang lau-tet: „Er war verlorenund ist wiedergefun-den.“ Auf die Glau-bensebene übertra-gen lautet die Bot-schaft: Gott freutsich über jeden Sün-der, der umkehrtund den Weg zu ihmzurückfindet. DemAlltagsverständnis

von Gerechtigkeit gehorcht dieses Gleichniskeineswegs. Wir haben uns angewöhnt, Ge-rechtigkeit mit größtmöglicher Gleichheitin eins zu setzen. Der Vater im Gleichnis„bevorzugt“ jedoch den sündigen Sohn vordem braven, treuen Sohn. Das Gleichnis willsagen, dass derjenige eine größere Zuwen-dung braucht, der im Leben gestraucheltist, als derjenige, dem im Leben alles ge-lingt. Die Gerechtigkeit im Gleichnis istkeine formale, sondern eine kompensatori-sche. Kafka steht die metaphysisch unter-legte Sicherheit und Geborgenheit desGleichnisses nicht (mehr) zur Verfügung.Der Sohn in der Parabel ist auf sich alleingestellt und kann sich der göttlichen Ver-gebung und der väterlichen Zuwendungnicht sicher sein. Daran und am eigenenMisstrauen scheitert seine Heimkehr.

Kafkas Tagebücher:„Mein Leben ist das Zögern

vor der Geburt.“

Kafkas Tagebücher sind für den Zeitraum von1909 bis 1923 – er starb im Jahre 1924 –

Glaubensverlust in der Zeitder Moderne hat dazu geführt,

dass man die Botschaft voneiner jenseitigen besseren

Welt nicht mehr zu verstehenvermag. Der Mensch imsachlichen Zeitalter ist

nicht mehr empfänglichfür Transzendenz.

Page 18: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

119KB MAI/JUNI 2019

ZUM 95. TODESTAG VON FRANZ KAFKA IN 2019

größtenteils erhalten geblieben. Sie enthal-ten Aussagen zu seiner psychischen Befind-lichkeit („besseres Selbstbewusstsein“), sei-ner Lektüre („van Gogh Briefe“) und seinenLiebschaften („Behüte dieses Leben nur vorFrauen“). Die Notizen dienen in erster Linieder reflexiven Selbstbewältigung. Sie gebendem Verfasser aber auch Halt in seelischerNot: „Ich werde das Tagebuch nicht mehr ver-lassen. Hier muss ich mich festhalten, denn nurhier kann ich es.“ Das Tagebuch ist für KafkaMedium der literarischen Selbstvergewisse-rung, Versuchslabor für Motive und The-men, die er in Literatur umzuwandeln ge-denkt. In einigen Tagebucheinträgen kannman die Konzipierung literarischer Projektekonkret verfolgen.

Die Tagebücher dokumentieren, dassSchreiben für Kafka eine Existenzform war,eine elementare Lebensäußerung, nebender Beruf und gesellschaftlicher Umgangverblassen. Die Themen seiner wichtigstenWerke finden sich auch in den Tagebüchern:Einsamkeit, Vergeblichkeit und die Fragenach der Lösung des Lebensrätsels. In denBänden aus den Jahren 1917/1918 hat Kafkadiesen existenziellen Themen 109 Aphoris-men gewidmet: „Ein erstes Zeichen beginnen-der Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben.“(Nr. 13); „Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; waswir Weg nennen, ist Zögern.“ (Nr. 26)

Kafkas Tagebücher sind einmalige Doku-mente, die über die komplexe Persönlich-keit des Dichters und seine LebensproblemeAuskunft geben.

Franz Kafka und das Judentum:„Was habe ich mit Juden gemeinsam?

Ich habe kaum etwasmit mir gemeinsam.“

Franz Kafka wird in eine assimilierte jüdi-sche Familie hineingeboren. Der Vater ent-stammt der Unterschicht und pflegt einen

eher nachlässigen Umgang mit der jüdi-schen Religion. Die Mutter hingegen ent-stammt dem deutsch-jüdischen Bürgertumund hat einen geistigen Bezug zum Juden-tum. Die Bar-Mizwah (jüdisches Mündig-keitsritual) des Sohnes annonciert derVater – gemäß der Sitte der assimiliertenJuden – als „Confirmation“. Dem erwachse-nen Franz Kafka wird bewusst, wie wenigdie Eltern ihm von den Grundlagen desJudentums vermittelt haben. Im „Brief anden Vater“ schreibt er vorwurfsvoll: „Es warja wirklich ein Nichts“. Hingezogen fühlt sichKafka zur volksnahen Tradition des Ost-Judentums, zum Chassidismus, und zur mys-tischen Tradition der Kabbala. Freundschaftschließt er mit dem jiddischen Volksschau-spieler Jizchak Löwy, dessen Aufführungener häufig besucht. Erst spät, im letztenLebensjahr, versucht er an der Berliner jüdi-schen Hochschule Hebräisch zu lernen. Aus-reisewünsche nach Palästina scheitern anseiner schwachen Gesundheit. Sein FreundMax Brod hat die These vertreten, bei Kafkahandele es sich um den „jüdischsten allerjüdischen Dichter“. In der Folge haben In-terpreten versucht, dieses Urteil an KafkasTexten zu verifizieren. Sie sehen das Leiden,das viele der Kafkaschen Figuren heimsucht,in der Nachfolge des Leides und der Schuldvon Hiob. Die häufigen Strafaktionen undmysteriösen Gerichtsverfahren – so etwa im„Prozess“ – halten sie für eine Variante derkabbalistischen Lehre von der Geschichteals permanentem Gerichtsprozess. Daskurze Leben Kafkas macht jedoch eine wei-tere Hinwendung zum Judentum zunichte.

Kafka und die Frauen:„Dass ich Ehe und Kinder

für das höchste Erstrebenswerteauf Erden hielt.“

Kafka hat sich insgesamt dreimal verlobt– zweimal mit Felice Bauer, einmal mit JulieWohryzek – und hat alle Verlöbnisse wieder

Page 19: Katholische Bildung - VkdLKatholische... · Bildung geht nur mit Vertrauen Teil II Klaus Zierer Jonas Tögel Christina Lachner Seite 97 Abschied von Sr. Amata Neyer OCD (1922 Œ 2019)

120 KB MAI/JUNI 2019

gelöst. Ihm ist es offensichtlich nicht mög-lich gewesen, eine dauerhafte Bindung zueiner Frau einzugehen. Zwar verspürt erden Wunsch, seine Isolation, von der erimmer wieder berichtet, durch eine Ehe zuüberwinden, schreckt aber am Ende vordem letzten Schritt zurück. Vermutlich hatihn die Angst geplagt, in einer dauerhaftenLiebesbeziehung das fragile seelischeGleichgewicht, das er sich immer wiederaufs Neue erkämpfen muss, einzubüßen.Hinzu kommt die Befürchtung, durch eineerotische Beziehung die literarische Kreati-vität zu verlieren. So bleiben Kafka nurbriefliche Beziehungen, die seiner Angstvor Nähe entgegenkommen. In Fernbezie-hungen ist er äußerst produktiv. Allein dieBriefe, die er an Felice Bauer schreibt, um-fassen gedruckt 700 Seiten. Es sind nichtnur elegant geschriebene Liebesbriefe, siegeben auch einen tiefen Einblick in seineskrupulöse, sensible Persönlichkeit. In denBriefen gelingt es ihm, sich in einer Weisezu öffnen, die ihm in der direkten Begeg-nung mit einer Frau verwehrt bleibt.

Eine unbeschwerte Liebesbeziehung istKafka erst kurz vor seinem Tod beschieden.Mit Dora Diamant, einer natürlichen jungenFrau, die frei von Koketterie ist, lebt Kafkaein halbes Jahr in Berlin zusammen. Sie istes auch, die ihn bis zu seinem Tod auf-opferungsvoll pflegt. Dora Diamant wider-spricht jenen Biografen, die in Kafka inerster Linie eine neurotisch gestörte Per-sönlichkeit haben erblicken wollen. DoraDiamant berichtet, sie habe Kafka vollHeiterkeit, Lebenslust und Spielfreude er-lebt, außerdem sei er „sinnesfreudig wieein Tier (oder wie ein Kind)“ gewesen.

Im August 1917 bricht bei Franz Kafka eineschwere Lungentuberkulose aus, die sichtrotz mehrerer Sanatoriumsaufenthalte

nicht mehr heilen lässt. Am 3. Juni 1924stirbt Kafka in einem Sanatorium in Kier-ling/Klosterneuburg (Niederösterreich). Erwird auf dem jüdischen Friedhof in Prag-Straschnitz bestattet.

Was von Franz Kafka bleibt

Kafka hat nur Prosatexte geschrieben. Siereichen von kurzen, aphoristisch verknapp-ten Parabeln über Erzählungen bis hin zuden großen Romanen, die freilich Fragmentgeblieben sind. Die Texte Kafkas gehörender Weltliteratur an. Wer immer sich mitden letzten Gründen unseres Seins aus-einandersetzen will, wird zu Kafkas Werkengreifen. Deutschlehrer sind gut beraten,dem heute üblichen Trend zur „leichtenKost“ bei der Textarbeit zu widerstehenund zumindest seine Parabeln im Literatur-unterricht zu besprechen. Sie können dieSinnstiftung und Orientierung vermitteln,nach der es Heranwachsende verlangt.Zudem sind sie Meisterwerke sprachlicherGestaltung, die einer eigenen Logik folgt.

Verwendete Literatur:

l Franz Kafka: Gesammelte Werke in siebenBänden, Frankfurt/M. 1976, S. FischerVerlag, Taschenbuchausgabe.

l Klaus Wagenbach: Franz Kafka inSelbstzeugnissen und Bilddokumenten;Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg,1964.

l Marthe Robert: Einsam wie Franz Kafka,S. Fischer Verlag Frankfurt/M., 1985.

Hinweis: Für eine bessere Lesbarkeit des Texteswurden die Literatur-Zitate an die neue Recht-schreibung angepasst (z.B. „dass“ statt „daß“etc.).

ZUM 95. TODESTAG VON FRANZ KAFKA IN 2019