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Ken Wilber Unplugged Seite 1 von 34 1 KEN WILBER UNPLUGGED Christina Kessler, Anne Devillard und Bob Richards im Gespräch mit Ken Wilber 11. Mai 2002 Wir sind alle Pioniere Christina: Ken, zurzeit genießt Du besonders in Deutschland große Popularität. Arbeits- und Gesprächskreise, Institute usw., die sich mit Deinen Theorien beschäftigen, schießen wie Pilze aus dem Boden. Es hat den Anschein, dass die Deutschen aufgrund ihres philosophischen Erbes eine besondere Affinität zu Deinem Ansatz haben. Ken: Ich selber empfinde mich als nordeuropäischen Denker mit südeuropäischem Lebensstil. Alle großen systematischen Denker – von denen die meisten Deutsche waren – sind wirklich außergewöhnlich. Wenn wir die Philosophen der westlichen Tradition betrachten, kommen tatsächlich 70 oder 80 % aus dem deutschsprachigen Raum. Ich denke, dass wohl deshalb eine bestimmte Sympathie mit den Schritten, die ich zu gehen versuche, besteht. Diese Schritte wurden bereits von einigen der großen europäischen Denker vorbereitet, z. B. den Idealisten, den Naturphilosophen und der ganzen Tradition der integrativen Vernunft. Das war bereits transrationale Spiritualität.

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KEN WILBER UNPLUGGED

Christina Kessler, Anne Devillard und Bob Richards

im Gespräch mit Ken Wilber

11. Mai 2002

Wir sind alle Pioniere

Chris t ina: Ken, zurze i t genießt Du besonders in Deutsch land große

Popular i tät . Arbei t s - und Gesprächskre ise , Inst i tute usw. , d ie s i ch mit

Deinen Theor ien beschäf t igen, s chießen wie Pi lze aus dem Boden. Es hat den

Ansche in , dass d ie Deutschen aufgrund ihres phi losophischen Erbes e ine

besondere Aff in i tät zu Deinem Ansatz haben.

Ken: Ich selber empfinde mich als nordeuropäischen Denker mit südeuropäischem

Lebensstil. Alle großen systematischen Denker – von denen die meisten Deutsche

waren – sind wirklich außergewöhnlich. Wenn wir die Philosophen der westlichen

Tradition betrachten, kommen tatsächlich 70 oder 80 % aus dem

deutschsprachigen Raum. Ich denke, dass wohl deshalb eine bestimmte Sympathie

mit den Schritten, die ich zu gehen versuche, besteht. Diese Schritte wurden bereits

von einigen der großen europäischen Denker vorbereitet, z. B. den Idealisten, den

Naturphilosophen und der ganzen Tradition der integrativen Vernunft. Das war

bereits transrationale Spiritualität.

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Und was den südeuropäischen Lebensstil betrifft: Ich liebe es ganz einfach, am

Strand zu liegen, Wein zu trinken und Pasta zu essen.

Heute erleben wir einen Zeitabschnitt in der Geschichte der Menschheit, in dem

uns erstmals das Wissen und die Einsichten aller Kulturen dieser Welt in vollem

Umfang zur Verfügung stehen. Es ist wirklich umwerfend, sich das klar zu machen.

Und das Kennzeichnen des integralen Anliegens, ja seine Keimzelle überhaupt, ist,

die Essenz dieses Wissens herauszukristallisieren.

C: Ja, es i s t e in e inzigart iger Augenbl i ck in der Weltges chi chte und deshalb

s ind die Chancen für pos i t ive Neuerungen sehr groß.

Ken: Richtig, das geschah niemals zuvor. Die Herausforderungen sind groß, aber

auch die Belohnungen, und wir sind alle Pioniere. Was ich am Integralen mag: Es

verwandelt und vervollkommnet unser Wissen. Und was ich daran mag, ein Pionier

zu sein, ist, dass du ein absoluter Idiot sein und trotzdem einen bedeutenden

Beitrag leisten kannst.

C: (lachend): Nun, von Dir kann man nicht gerade behaupten, dass Du e in

Idiot b is t . Du bis t der Pionier der neuen integra len Phi losophie , d ie s i ch

gerade durchzusetzen beg innt . Vie le Menschen f inden Deine Bücher j edoch

schwier ig zu l esen . . .

Ken (neckend): Nicht die Deutschen!

C: Doch, auch. . .

Ken (lacht) Nein, nur die Amerikaner!

C: Nein, es i s t wirkl i ch so . Nicht e inmal 50% der Leser vers t ehen Deine

vo luminösen Arbei t en in e iner Weise , dass s i e Deine Gedanken wirkl i ch auf

den Punkt br ingen und mit ihnen e twas anfangen können. Vie le meinen, Ken

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Wilber l e sen zu müssen, klappen aber nach e in paar hundert Se i t en das Buch

wieder zu, wei l s i e e in fach über forder t s ind.

Ken: Ich verstehe, ich verstehe.

C: Deshalb i s t e s wicht ig - und nicht nur wicht ig , sondern notwendig . . . .

Ken: .. es gemeinverständlich darzustellen, es zugänglicher zu machen.

C: Ja. Eben darum geht es unserer Meinung nach im Augenbl i ck. Deshalb i s t

e s unser heut iges Anliegen, de ine Hauptgedanken e inmal in e iner l e i cht

vers tändl i chen Form darzuste l l en . Deine Ideen s ind wicht ig für unsere

Zukunft und deshalb müssen wir s i e vers t ehen.

Ken: Wenn das Thema auf diese Dinge kommt, habe ich üblicherweise ein paar

Jokes parat. Nehmt diese nicht zu wörtlich. Aber wenn Ihr an wirklich schwierige

Autoren denkt – jeder deutsche Philosoph, dessen Name mit einem H beginnt, ist

schwierig zu lesen: Horkheimer, Hegel, Heidegger, Husserl, Habermas. Die sind

wirklich schwierig. Ken Wilber ist weit entfernt von jenen deutschen Philosophen,

deren Namen mit einem H beginnen. I´m kidding. I´m joking.

C: Ja. Habermas z. B. i s t wirkl i ch s chreckl i ch zu l esen . Während meiner

Studienzei t en habe i ch ihn gehass t . I ch habe ihn gehass t (lachend). Anfangs war

i ch deshalb ers taunt , ihn in Deinen Arbei t en zu f inden.

Ken: Ja, viele Amerikaner haben Habermas erst durch meine Bücher kennengelernt.

Ebenso ist es mit Schelling und Fichte. Ich bin durchaus Deiner Meinung. Die

Schwierigkeit ist jedoch eine andere: wenn du wirklich ernst genommen werden

willst, musst du wie ein Heidegger oder ein Habermas oder ein Husserl schreiben.

In der Philosophie und in den akademischen Kreisen herrscht ein bestimmtes

Elitedenken. Willst du in diesen Kreisen – besonders in Amerika - ernst genommen

werden, musst du gewissermaßen beweisen, dass du zu hochgradig analytischem

Denken fähig bist. Nun, in gewissem Sinne werde ich von der akademischen

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Philosophie nie richtig ernst genommen werden. Ich passe einfach nicht in deren

Typ von Spiel, das, so denke ich, extrem begrenzt ist, weil es bestimmten Regeln

und Vorschriften folgt und eine Club-Mitgliedschaft erfordert. In der Tat ist das

einzige, was du tun musst, um ein offizieller Philosoph zu werden, den Rest der

Welt vollständig zu ignorieren. Aus irgendeinem Grund wird ein solcher

Charakterzug bei diesen Philosophen hochgeschätzt. Und das verstehe ich nicht.

C: Aber die meis t en Deiner Schr i f t en s ind hoch akademisch.

Ken: Aber sie sind leicht zu lesen, oder? Eros, Kosmos, Logos zum Beispiel. Ich

bemühe mich, selbst wenn der Grundgedanke äußerst komplex ist, jeden Satz klar

auszudrücken. Ich versuche Klartext zu reden. Jeder Baustein des Gebäudes ist

sehr, sehr klar. Es ist wie ein Hochhaus mit 42 Stockwerken und all den

dazugehörenden Zimmern und Abteilungen – eine sehr komplexe Struktur. Aber

wenn du gewillt bist, dich hinzusetzen und es zu lesen, dann ist es trotz seiner 800

Seiten eines der einfachsten, leichtesten Bücher. Jeder Satz macht Sinn und ist,

meiner Meinung nach, klar und geradeaus. Wenn die Leute einen tiefen Atemzug

nehmen und dann eintauchen, haben sie in der Regel eine gute Zeit. Unter diesem

Gesichtspunkt unterscheidet sich meine Arbeit doch gewaltig von dem, was

Philosophen normalerweise tun. Wenn die einen Satz formulieren, der einfach und

klar verständlich ist, meinen sie gleich, sie hätten ihre Aufgabe verfehlt, die da

lautet: einen Gedanken so tiefgründig zu erforschen und so verworren zu

formulieren, dass niemand ihn mehr versteht.

C: Aber auch be i Deinen Büchern muss man vorher zumindes t e ine Ahnung

von der Thematik haben, um mitzukommen. Ohne Vorbi ldung hat man auch

be i Dir keine Chance .

Ken (lachend): Das ist wahr.

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C: Also noch e inmal . Wir g lauben, es i s t nun an der Zei t , dem „normalen

Menschen“ e ine e in fache Darste l lung zu präsent i eren und ihm e ine Art

Highl ight anzubie ten , das ö f fne t und Interesse erweckt . Es i s t wicht ig , Ken.

Es i s t wirkl i ch wicht ig . Deine Ideen s ind wicht ig für unsere Zukunft und

deshalb müssen auch wir „Normalbürger“ s i e vers t ehen.

Ken: Ok. Ich werde Euch also einige meiner eher leicht zugänglichen und allgemein

verständlichen Versionen offerieren. Warum fangen wir nicht an mit...? (überlegt) Ja,

wir beginnen mit einer Zusammenfassung, - mit einer der simpelsten

zusammenfassenden Darstellungen, deren ich im Moment fähig bin.

C: Prima. Wir l ehnen uns s chon mal zurück (lachend).

All quadrants, all levels

Ken: Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit basiert auf dem Versuch, alle bekannten

Formen menschlichen Wissens und menschlicher Erfahrung in ein allumfassendes

System oder Modell zu integrieren. Dabei handelt es sich nicht um ein

geschlossenes System, wie beispielsweise das Hegelianische, sondern um ein sehr

offenes, sehr fließendes, in dem auch Raum für neues Material vorhanden ist.

Bevor ich jedoch zum einfachen Teil komme, muss ich zunächst die technischen

Seiten des Modells erklären: alle Quadranten, alle Ebenen, alle Linien, alle

Zustände, alle Typen. Manchmal sprechen wir auch von AQAL - eine Abkürzung

für „all quadrants, all levels“.

Die einfache Version davon ist folgende:

Wenn wir die bekannten Sprachen der Welt anschauen, werden wir feststellen, dass

alle ein erstes, zweites und drittes Personalpronomen besitzen. Während der

gesamten Evolution der Menschheit gab es also die sehr realen Dimensionen des

„Ich“, „Du“ und „Es“. Für das „Du“ lässt sich auch „Wir“ einsetzen. Also haben

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wir eine Ich-Dimension, eine Wir-Dimension und eine Es-Dimension. Die

Tatsache, dass alle Sprachen diese drei Pronomen besitzen, zeigt, dass es sich dabei

um wirklich reale Dimensionen handelt, die in allen Kulturen und allen

Evolutionsstadien zu finden sind. Es handelt sich um universelle Dimensionen.

Diese spiegeln sich in den Bereichen des Guten, des Wahren und des Schönen

wider. Das Schöne z.B. liegt im Auge des Betrachters, dem „Ich“ des Betrachters;

es ist die ästhetische Dimension. Die objektive Wissenschaft beschäftigt sich

dagegen mit dem „Es“ bzw. mit Objekten. Ethik und Moral schließlich befassen

sich mit der „Wir“-Dimension und dem Guten, das wir uns gegenseitig antun

wollen. So stehen das Ich, das Wir und das Es für Kunst, Moral und Wissenschaft -

das Schöne, das Gute und das Wahre. Dies sind Dimensionen der Wirklichkeit, die

wir überall auf der Welt finden. Deshalb bilden sie die Grundlage meiner

Quadranten-Theorie. Wobei das „Es“ natürlich in der Einzahl als „Objekt“ oder

in der Mehrzahl als „Objekte“ auftreten kann.

Das ist also der erste Teil: die Quadranten. Dementsprechend ist es die erste

Aufgabe - egal mit welcher Thematik wir uns befassen - diese vier Dimensionen,

die vier völlig verschiedene Perspektiven einer bestimmten Entität erfassen,

abzuchecken. Jede Entität kann auf künstlerische, wissenschaftliche und moralische

Art erfassen werden – und keine dieser Seiten darf vernachlässigt werden, wollen

wir uns auf eine integrale Art annähern.

Der zweite Teil bezieht sich auf das Spektrum des Bewusstseins, sozusagen auf die

Ebenen oder Zustandsformen des Bewusstseins, um sie gleich alle gemeinsam

abzuhandeln. Jeder Mensch durchläuft abwechselnd den Wachzustand, den

Traumzustand und den formlosen Zustand während des Tiefschlafs. Und es ist

offensichtlich, dass aus den verschiedenen Bewusstseinszuständen in gewissem

Sinne sehr verschiedene „Welten“ entstehen.

Darüber hinaus kennen wir meditative Bewusstseinszustände, intuitive

Bewusstseinszustände usw. Jeder Bewusstseinszustand zeigt uns eine andere Welt.

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Wir können eine komplette Landkarte erstellen aus den uns bekannten Zuständen,

die Männer und Frauen auf der ganzen Welt haben: schamanische

Bewusstseinszustände, wissenschaftliche, künstlerisch-kreative usw. Und wir

können grundsätzlich annehmen, dass sie alle etwas Wichtiges über das Wesen der

Wirklichkeit aussagen.

Wenn wir nun jenen zweiten Teil, den wir „all levels“ oder „all states of consciousness“

nennen mit dem erstgenannten Teil der Quadranten oder den Ich-, Wir- und Es-

Dimensionen zusammenbringen, gelangen wir zu der Erkenntnis, dass jeder

Bewusstseinszustand in einem subjektiven Sinn betrachtet werden kann - in Begriffen

der Ästhetik oder des Selbst-Ausdrucks -, des weiteren auf einer moralischen

Dimension, und dass er schließlich auch wissenschaftlich erforscht werden kann.

AQAL bedeutet also, dass grundsätzlich jeder Typus menschlicher Erfahrung in

einen Gesamtüberblick eingeordnet und wie auf einer Landkarte lokalisiert werden

kann. Der Vorteil einer solchen Gesamtschau ist, dass die Beziehungen und

Verwandtschaften der verschiedenen Disziplinen, ob Politik, Wirtschaft,

Soziologie, Philosophie o.a. auf einen Blick ersichtlich werden. Aber mehr noch:

Wenn wir eine komplette Landkarte der menschlichen tradition besitzen, werden wir

auch das Eigen-Potential dieser Disziplinen wesentlich effektiver nutzen können.

Vergleichbar ist dies mit einer Landkarte der Alpen. Besitzen wir eine gute Karte,

so kommen wir schnell und sicher ans Ziel. Besitzen wir dagegen eine schlechte,

werden wir an einem Berghang zerschellen. Die meisten der heutigen Disziplinen,

seien es Wissenschaft, Medizin oder Erziehungswesen, haben schlechte Karten. Sie

sind unvollständig, sie sind partiell, und die Menschen zerschmettern tagtäglich in

den Alpen ihrer eigenen Dummheit.

Wir versuchen, das nicht zu tun. Wir finden, dass dies keine gute Sache ist. Deshalb

versuchen wir es mit einer mehr integralen Annäherung. Und natürlich versuchen

wir - egal was uns unter die Finger kommt – zu bestimmen, einzuordnen usw.

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Das Wichtigste an dieser Arbeit ist, mit einer extrem offenen Einstellung

heranzugehen. Hier kann man nicht mit Vorurteilen oder Begrenztheiten daher

kommen und behaupten, dass ein spezieller Weg der einzige Weg sei, Dinge und

Situationen zu betrachten. Der integrale Ansatz ist also einerseits ein radikal

pluralistischer Ansatz, andererseits setzt er „das Viele“ in einen übergeordneten

Rahmen, in dem es nicht nur aneinandergereiht sondern auch systematisch

zugeordnet wird. Dieser Rahmen integriert, er verbindet und zeigt auf, dass

grundsätzlich alles mit allem zusammenhängt.

Soweit die theoretische Seite. Sie versucht, eine umfassendere und genauere

Landkarte der menschlichen tradition zu erstellen. Nun kommen wir zur praktischen

Seite. Wie können wir das in unserem Leben anwenden? Wie können wir es für

unser eigenes Wachstum, für unsere Transformation nutzen? Was können wir tun,

wenn wir uns weiter entwickeln wollen? Wie lässt sich das integrale Modell in

Medizin, Erziehungswesen, Politik und in die Planung von Gemeinschaften

einbeziehen? Grundsätzlich ist es auf alles anwendbar, denn die Landkarte deckt

alles ab. Auch in unserem persönlichen Leben, in der Art und Weise, wie wir einen

Betrieb führen, Beziehungen gestalten usw. lässt es sich anwenden. Wir können

sehr viel damit machen. Wir können es, wenn wir wollen, auch nur theoretisch

studieren. Das würde ich jedoch nicht empfehlen. Es geht darum, es zu

praktizieren.

C (lachend): Das war wirkl i ch e ine gute , l e i cht vers tändl i che Zusammenfassung.

Damit s ind ers t mal a l l e Fragen beantworte t .

Ken lacht sein typisches Lachen, laut und herzhaft.

Es gibt keinen „einzig wahren“ Ansatz

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Bob: Nun, i ch habe da noch e ine Frage . Wir sprachen vorhin darüber , dass

wir im Augenbl i ck e inen spezie l l neuen Moment in der Geschi chte der

Menschhei t er l eben. Auf der anderen Sei t e t endieren die Menschen da draußen

in Kultur und Gese l l s chaf t dazu, entweder in „tradi t ions“ der Moderne oder

der Postmoderne zu denken. Auf wel che Weise korr ig i er t das integra le Model l

d ie damit e inhergehenden Irr tümer , d ie s i ch vor a l l em in e inem Hang zum

Absolut i smus ausdrücken - indem e ine bes t immte Sichtweise zur e inzig wahren

Sichtweise erhoben wird?

Ken: Mit Hilfe des integralen Modells können wir in der Tat all die üblichen Formen

des Absolutismus, alle parteiischen Annäherungen, die ihre Sicht für die einzig

wahre halten, aufdecken und korrigieren. Anhand des Quadranten-Modells

betrachten wir jedes Thema zunächst aus den Ich-, Wir-, Es- und Sie (ITS)

Dimensionen. In den heute üblichen Ansätzen der verschiedenen Disziplinen wird

dagegen meist nur einer der Quadranten berücksichtigt, während die Relevanz der

übrigen geleugnet wird. Die typischen Naturwissenschaftler z.B. behaupten, dass

nur individuelle materielle Objekte wirklich sind. Für sie sind weder Subjektivität

noch moralische Dimensionen von Bedeutung. Das einzige, was für sie wirklich

wirklich ist, ist dieser Tisch hier, Steine und Felsen, Dinge also, die wissenschaftlich

messbar sind. Die Naturwissenschaft erhebt also die Es-Dimension zur einzig

gültigen Dimension. Die Systemtheoretiker kommen stattdessen daher und meinen:

„Ok, wir stellen das richtig. Wir betrachten die Systeme der Dinge und die Art und

Weise, wie sie zusammenpassen.“ Aber auch sie schauen noch immer auf Objekte -

auf Systeme von Flüssen etwa, die das Gebirge beeinflussen, welche ihrerseits auf

den physischen Körper einwirken, der wiederum gewisse Auswirkungen auf das

ökologische System haben kann, und so weiter und so fort. Aber dies sind noch

immer nur ITS, die die inneren Dimensionen der Subjektivität, des Bewusstseins

und der erweiterten Bewusstseinszustände usw. außer Acht lassen. Die

Systemtheorie behauptet zwar das Ganze zu betrachten. Tatsächlich beschäftigt sie

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sich aber nur mit einem Teil des Ganzen. Sie befasst sich mit der ITS-Dimension

von Objekten – mit Systemen von Objekten.

Dann gibt es Richtungen, welche die Ich-Dimension zur einzig wahren Dimension

erklären wollen. Bestimmte Weisheitstraditionen z. B. behaupten, dass nur

bestimmte mystische und meditative Zustände, das subjektive Selbst also, die

einzige Realität darstellen, und dass alle anderen Dinge und Erscheinungen

Illusionen sind.

In jüngster Zeit haben wir den postmodernen Ansatz, der besagt, dass die Kultur,

die Wir-Dimension, alle Objekte konstruiert, dass alles eine kulturell-soziale

Konstruktion ist und dem Ich oder dem Es daher keinerlei Wirklichkeitscharakter

zugesprochen werden kann. Alles ist eine Konstruktion des sozialen Wir. So lautet

die Essenz der Postmoderne. Auch sie setzt eine einzige Perspektive absolut.

Wir dagegen versuchen zu sagen: „Wisst ihr was? ihr habt alle recht! Alle diese

Ansätze sind richtig. Aber ihr liegt falsch in dem Moment, wo ihr denkt, dass eurer

Ansatz der einzig wahre ist.“ Wir sagen einfach: „Lasst uns das Ich, das Wir und

das Es betrachten und nicht eines auf das andere reduzieren.“ Genau hier kommen

wir aus der Falle des Absolutismus heraus, der ein Stück der Realität zum einzig

wahren Stück macht. Das gleiche gilt für die Ebenen oder Zustandsformen des

Bewusstseins und auch für die Entwicklungsstufen des Bewusstseins. Die

prämoderne Weltsicht ließ nur bestimmte Zustände und Stadien gelten. In der

Weltsicht der Moderne war nur wissenschaftliche Rationalität und pragmatische

Business-Rationalität erlaubt. Die postmoderne Weltsicht schließlich hat einen

bestimmten pluralistischen Ansatz postuliert, und dies ist wiederum das einzige,

was sie erlaubt.

So, wir versuchen nun, einen Schritt zurückzutreten und der Tatsache gerecht zu

werden, dass wir heute Zugang zu allen Kulturen rund um die Welt haben. Dabei

wird wirklich, wirklich, wirklich offensichtlich, dass es im Hinblick auf die heutige

Weltsituation völlig inadäquat ist, nur Dein spezielles Stück herzunehmen und

dieses zum allein gültigen Stück zu erklären. Dies ist eine sehr überhebliche,

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beschränkte Sichtweise, und das betrifft auch die Postmoderne, die meint, sie allein

liege richtig und alles andere sei ein Irrweg.

Wir sagen: „So funktioniert das nicht. Das macht keinen Sinn. Wenn ja, dann müsst

ihr erklären, warum 99 % der Weltbevölkerung nicht einer Meinung mit euch sind.

99 % der Menschheit müssten für krank oder dumm erklärt werden, nur damit eure

Richtung die richtige sein kann.“ Wir finden gerade das eine kranke und dumme

Sichtweise. Aber gegenwärtig wird leider noch die ganze Welt von ihr beherrscht.

Wir müssen eine Einstellung entwickeln, die großzügig genug ist, um sagen zu

können: „Wir sollten alle diese Dinge im Rahmen ihrer eigenen Bedingungen

akzeptieren.“ Anstatt zu fragen, was richtig oder falsch ist, sollten wir fragen:

„Welche Sicht erlaubt uns die Erkenntnis, dass alle etwas Wichtiges beizutragen

haben?“ Das ist eine völlig andere Fragestellung. Dennoch ist das die einzige Frage,

die wir uns heute, in einer Welt, in der alle Kulturen zusammen kommen, stellen

müssen. Eine solche integrale Sichtweise hinterlässt neue Prägungen in unserem

Mind, denn sie zwingt uns dazu, Begrenzungen zu überwinden und uns so weit wie

möglich auszudehnen. Und das verwandelt unser ganzes Sein. Es ändert unsere

Wahrnehmung und unser Bewusstsein. Wir werden großzügiger, toleranter,

liebevoller, mitfühlender und mit der Ausdehnung erhalten wir die Fähigkeit, mehr

und mehr zu integrieren.

Das Integral Operating System – eine integrale Methode für

jedermann

C: Genau an diesem Punkt wird das Integra le interessant für j edermann –

nicht nur für komplexe Systeme wie Wissenschaf t , Wirtschaf t , Pol i t ik oder

Rel ig ion – sondern auch für den ganz normalen Menschen und das a l l täg l i che

Leben.

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Ken: Richtig. Und das versuchen wir mit vereinfachten Erklärungen wie derjenigen,

die ich gerade gegeben habe, zu erreichen. Auf diese Weise betrachtet, ist es gar

nicht so komplex. Das Integral Institute hat es sich unter anderem zur Aufgabe

gemacht, mein Modell sehr stark zu vereinfachen, um es wirklich rüber bringen zu

können.

Wenn man das Modell einmal unter folgendem Gesichtspunkt betrachtet, wird es

für den Einzelnen noch verständlicher: Die einzelnen Bausteine zum Beispiel, die

ich eben beschrieben habe – die Ich-, Wir- und Es- Dimensionen und die

Bewusstseinszustände – sind ja etwas, was alle Menschen bereits in sich tragen. Es

ist nicht etwas, das ich fabriziert habe und jetzt versuche, in dich reinzutrichtern.

Es ist etwas, was man bereits hat, und wir reden nur darüber. Wenn man das mal

checkt, wird der Job wesentlich leichter. Wenn wir einfache Wege aufzeigen, die

eine gewisse Resonanz in den Menschen erwecken, dann blinkt es sehr, sehr schnell

bei ihnen auf. Denn es handelt sich um Teile ihres eigenen Seins, von denen sie nur

noch nicht wussten, dass es sie gibt. Auf diese Weise können sie selbst erfülltere

und reichere Menschen werden, in ihren Beziehungen, ihrem Beruf, ihrem Leben

und so weiter.

Nachdem die theoretische Arbeit einmal getan ist, kommt nun tatsächlich die

interessante Frage an die Reihe: Wie können wir dies an den normalen Menschen

bringen, den Menschen auf der Strasse, - im besten Sinne?

C: Überal l h in , so dass s i ch wirkl i ch e twas änder t .

Ken: Ja. Bob Richards, der hier sitzt, ist einer der Schlüsselfiguren im Kern des

Integral Institute – und er leistet wahrhafte Pionierarbeit, indem er diese komplexen

Ideen leicht verständlich macht, und das in sehr kurzer Zeit. Sein Integral Operating

System (IOS) ist ein brillantes Beispiel hierfür.

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C: Es i s t ja gerade die Besonderhe i t des Integra len, dass se in Gesi cht s t e t s

zwei Sei t en zugle i ch ze ig t : d ie e ine i s t komplex, wei l s i e der Komplexität

gere cht werden muss , d ie andere dagegen i s t extrem e in fach.

Ken: So ist es. Vorhin sagtest du, dass man den Teil nicht verstehen kann, bevor

man nicht das Ganze kennt. Hierin liegt die Schwierigkeit, die ich habe, wenn ich

verstanden werden will. Denn um das Ganze zu verstehen, müssen die Leute

zunächst einmal Zeit aufbringen. Sie müssen sich durch zwei oder drei dicke

Wälzer wie Eros, Kosmos, Logos durcharbeiten oder zumindest A brief history of

everything lesen. Wenn die Leute das aber mal hinter sich gebracht haben, dann wird

es furchtbar einfach, wirklich sehr, sehr einfach. Wenn man die Quadranten

verinnerlicht, die Ebenen und Zustände verstanden hat, kommt das andere fast

automatisch, einfach weil es etwas ist, was jeder bereits in sich trägt. Man lernt

Dinge zu gebrauchen, die man bereits hat. Wenn man das einmal drin hat, dann

wird man sagen: „Wow, ist das einfach!“ Wenn man es einmal begriffen hat, ist es

wirklich einfach und spart enorme Zeit und Mühe.

Bob: Einer der Gründe, warum ich es Integra l Operat ing System, IOS

genannt habe , i s t , we i l e s wie das Betr i ebssys tem e ines Computers funktionier t .

Wer e inmal die integra le Methode er l ernt hat , wird se ine gesamten

Erfahrungen ent lang der Wege , d ie Ken beschre ibt , organis i eren. Wer IOS

e inmal ins ta l l i e r t hat , zumindest kogni t iv , dessen gesamte Erfahrung wird

s truktur ier t er und klarer . Die Wirkl i chkei t kann besser organis i er t werden,

Komplexität läss t s i ch l e i chter in den Gri f f kr iegen; man kann untersche iden

zwischen Ich- , Wir- und Es-Erfahrungen, zwischen Zuständen des

Bewusstse ins und Entwicklungss tadien des Bewusstse ins usw. Dieses

Operat ing System kann im Business Anwendung f inden, in der Medizin, der

Pol i t ik – überal l .

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C: Und nach e iner gewissen Zei t braucht man nicht e inmal mehr

Untersche idungen zu tre f f en . Dann beg innen wir , nur noch auf das zu hören,

was wir d ie „ innere St imme“ nennen. Hier in l i eg t e in r i es iger Forts chr i t t . Wer

das Integra le ver inner l i cht kommt irgendwann automatis ch an den Punkt, wo

er nur noch auf s i ch se lbs t zu hören braucht , wo s i ch se lbs t d ie Landkarte

erübr ig t .

Ken: Genau! Das ist es! Ich freue mich wirklich, dass Du das sagst. Immer wieder

behaupten die Leute: „Wilber, dieser Besserwisser, will mir seine Art zu denken

aufzwingen.“ Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Wenn ich betone, dass jede

Sprache die Perspektive einer ersten, zweiten und dritten Person hat, meine ich

damit, dass, wenn du in deinem Leben mit einer Situation konfrontiert wirst, du

zumindest wissen willst: „Wie fühle ich mich in dieser Situation? (Ich-Ebene)“. Du

betrachtest auch die objektiven Tatsachen der Situation, also das Es: „Was geht

objektiv gesehen tatsächlich vor sich? Was passiert hier?“ Und du wirst die Wir-

Dimension im Auge haben, d.h. die Menschen, die involviert sind. Auf diese Weise

kannst du ein Einverständnis darüber entwickeln, wohin die Situation führen soll.

Wenn ich also aufzeige, dass es eine Ich-, eine Wir- und eine Es-Dimension gibt,

dann will ich sagen: „Was auch immer du tust, stelle sicher, dass du alle diese

Ebenen abdeckst. Denn sie sind da.“ Es ist nicht etwas, das ich aufzwinge. Es sind

vielmehr Bereiche, die in jedem von uns vorhanden sind. Wir alle durchlaufen

abwechselnd den Wachzustand, den Traumzustand und den formlosen Zustand.

Wenn wir einen von ihnen nicht berücksichtigen, sind wir unvollständig. Man

checkt also nur sich selbst, technisch gesehen: alle Quadranten, alle Ebenen, alle

Linien, - all that stuff. Wenn man das integrale Modell anwendet, ist es tatsächlich

sehr einfach. Es stellt sicher, dass die eigene innere Stimme alle diese Kriterien

überprüft. Es geht nicht um mich. Ich bin an dieser Stelle nicht mehr im Spiel.

Bob: Ken, warum is t es se lbs t für Menschen, d ie den ni cht -dualen Zustand

erre i cht haben, wicht ig , d ie integra le Real i sat ion mit e inzubeziehen?

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Ken: Um dieses Thema gibt es immer wieder heiße Diskussionen. Jede spirituelle

Tradition hat ein Verständnis von Erleuchtung oder kosmischem Bewusstsein oder

Einheit oder satori, unio mystica, wie immer man diesen Zustand nennen mag. Und

nun sagen die Leute: „Was du sagst, ist ja alles schön und gut, Ken. Aber ich

brauche über diesen ganzen Stoff nicht mehr nachzudenken. Ich habe satori

erreicht.“ Wir leben nun aber mal in dieser Welt und in eben dieser Welt bringen wir

unsere Realisation zum Ausdruck. Selbst wenn du die Einheit oder nirvana, - der

buddhistische Terminus für formlose Einheit - realisiert hast, gibt es da dennoch

die Welt der Form, in der du deine Erleuchtung ausdrückst. Du kannst eine perfekte

Erleuchtung erlebt haben; aber wenn du in der Welt der Form zerbrochen, getrennt

und instabil bist, wird deine Erleuchtung in Spaltung, Trennung und Instabilität

zum Ausdruck kommen. In diesem Fall ist die Erfahrung aber nutzlos, sie wird der

wirklichen Welt nichts nützen. Wenn du ein bodhisatva-Gelübde ablegst - das

Gelübde, Erleuchtung zu erreichen um der Menschheit helfen zu können – dann

muss ein Teil des Gelübdes sein, eine möglichst klare Landkarte des menschlichen

Wesens zu besitzen. Or you’re gonna screw it up! Wenn du also dein bodhisatva-Gelübde

wirklich ernst nimmst, musst du ein integraler Denker werden, oder du wirst deine

Aufgabe verfehlen. Es ist dasselbe, wenn wir sagen: “Wenn du eine schlechte Karte

der Alpen besitzt, wirst Du eine Bruchlandung erleben.“ Egal, ob jemand ein guter

Arzt werden will, ein guter Dalai Lama oder ein guter Psychotherapeut, ein guter

Automechaniker oder ein guter Hausverwalter, immer muss er sicher gehen, ob er

alle Teile seines Selbst erfasst hat. Das Integral Operating System, IOS, ist eine

Methode, die, einmal verstanden, dein eigenes System dazu bringt, alle diese Teile

zu überprüfen und sicherstellt, dass du nichts auslässt. Und dies ist wirklich die

eigene innere Stimme, wie Du sagst, es ist deine Stimme. Es ist nicht meine Stimme,

nicht seine, es ist deine ureigene Stimme, und sie führt dich zu einem runderen

Ausdruck dessen, was du bist. Von ihr geführt, wirst du nichts Wichtiges mehr

übersehen oder unterlassen. In diesem Sinne ist das alles sehr nützlich.

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C: Nicht nur nützl i ch , sondern notwendig ! Die innere St imme muss tra inier t

werden, sonst können wir ni cht unters che iden, ob es s i ch wirkl i ch um die

innere St imme handel t , oder nur um e ine der v i e l en anderen St immen, d ie s i ch

s tändig in uns melden.

Ken: Ja, genau. Es verleiht uns im wahrsten Sinne des Wortes das, was die

Buddhisten „unterscheidende Weisheit“ nennen, das, was uns hilft, das

Ursprüngliche, Tiefe und Grundsätzliche vom Oberflächlichen, Hohlen und

Nichtssagenden zu unterschieden. Dies ist sehr wichtig. Es ist nämlich genau die

Eigenschaft, durch die man sich des höchsten Zustandes gewahr wird, und weit

mehr noch: durch die man gezeigt bekommt, wie man diesen Bewusstseinszustand

im Alltagsleben, in der richtigen Welt zum Ausdruck bringen kann.

Der glückliche Umstand an der Begegnung der Kulturen heute ist, dass wir uns von

Halbwahrheiten befreien können, indem wir uns einfach anschauen, was uns alle

diese Kulturen zu erzählen haben. In einer Million Jahren werden wir eine

Betrachtungsweise entwickeln, die nicht mehr cross-cultural ist, sondern cross-galactical

(lacht). In diesem zukünftigen integralen Stadium wird es heißen: „Oh, die

Erdbewohner glauben an diesen Blödsinn, die Venusier glauben an das und die

Bewohner von Alpha-Centaury bilden sich jenes ein“ – genauso, wie wir heute

sagen: „Die Tibeter glauben an das und die Deutschen an jenes“. Eine Million

Jahre später wird man noch immer den Zustand der Einheit erleben wie heute.

Aber die Form wird sich verändern. Und die Form heute ist integral, sie ist cross-

cultural, und wer die Kulturen nicht integrieren kann, der liegt einfach daneben; der

ist begrenzt und unvollständig und verletzt seine eigene Seele. Die Seele leidet

Höllenqualen unter dieser Trennung und Zersplitterung. Deshalb sehnen sich die

Menschen danach, sich in die Größe und Weite auszudehnen, die sie wirklich sind.

Die gegenwärtige Weltsituation aus der Sicht des Stadien-Modells

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C: Das i s t genau die Si tuat ion, d ie wir heute er l eben und es s che int , dass s i e

s i ch von Tag zu Tag mehr zuspi tzt . Auf der e inen Sei t e d ieses

Abgeschni t t ense in , d ie Trennung und Begrenzthe i t , auf der anderen Sei t e d ie

s tarke Sehnsucht nach Ganzhei t , Wachstum und Vol lkommenhei t . Was,

g laubst Du, wird ges chehen?

Ken: Die gegenwärtige Weltsituation sieht nicht gut aus, das muss man zugeben. Da

stehen einige äußerst schwierige Themen an.

Bis zu diesem Punkt unseres Gesprächs haben wir von Bewusstseinszuständen

gesprochen. Jetzt sollten wir die anderen Modelle ins Spiel bringen, um diese Frage

genauer zu beleuchten. Diese Modelle ermöglichen uns ein noch feineres

Verständnis des menschlichen Bewusstseins. Eines dieser Modelle ist das Stadien-

Modell. In der bisherigen Forschung gibt es mehr als hundert solcher

psychologischer Entwicklungs-Modelle.

Die gegenwärtige Szenerie auf unserem Planeten legt die Vermutung nahe, dass es

verschiedene Blöcke auf der Welt gibt, die auf jeweils verschiedenen

Bewusstseinsebenen operieren. Das soll kein Werturteil sein. Es ist die einfache

Feststellung, dass es Unterschiede gibt, die beachtet werden müssen. Alle diese

Entwicklungsmodelle, die von amerikanischen, japanischen und europäischen

Psychologen entworfen wurden, haben ihren Ursprung in der Tradition der

deutschen Idealisten und wurzeln in der Erkenntnis, dass Bewusstsein, wie alles

andere auf der Welt, wächst und sich entwickelt - wie eine Pflanze oder ein Baum.

Es wächst in bestimmten Stadien und erreicht schließlich die Reife. Das einfachste

Stufen-Modell stammt von Jean Gebser. Er bezeichnete die verschiedenen Stadien

als archaisch, magisch, mythisch, rational und integral. Die meisten Menschen

verstehen sofort, was damit gemeint ist. Die Bezeichnungen erklären sich in

gewissem Sinne selbst.

Was nun die unglückliche Situation anbetrifft, die wir zur Zeit erleben: es gibt

große Blöcke, die magisch sind, große Blöcke, die mythisch sind und große Blöcke,

die rational sind. Wenn wir die Skala auf Amerika anwenden, werden wir ähnliche

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Umstände wie in Europa feststellen: weniger als 2% der Bevölkerung befinden sich

auf einem Level, den man als integrales Entwicklungsstadium bezeichnen könnte.

Die meisten sind magisch, mythisch oder rational. Unglücklicherweise erleben wir

auf der gegenwärtigen Weltszene einige sehr magische, tribalistische Organisationen

der terroristischen Sorte, die sich in Konflikt mit fundamentalistischen, mythischen

Glaubensstrukturen befinden, egal ob das nun christliche oder arabische oder

Fundamentalisten anderer Glaubensrichtungen sind. Darüber hinaus haben wir die

rationalen Industrienationen, von denen der Kapitalismus wieder eine eigene

Kategorie darstellt. Alle drei Stadien haben ihre spezifischen downsides.

Die downsides des egoisch-rationalen Stadiums, in dem sich die westlichen

Industrienationen befinden, sind Ausbeutung der Dritten Welt, exzessive

industrielle Rationalisierung, ökologische Probleme und das, was wir McCulture

nennen: die Invasion von McDonald in alle Teile des Globus als Symbol des

amerikanischen Lebensstils. Obwohl ihre Pommes wirklich unschlagbar sind (lacht).

Ebenso kennen wir die downsides des Mythischen mit seinen alleinseligmachenden

Ideologien; diese kulminierten in der spanischen Inquisition, in

fundamentalistischen Glaubensstrukturen, Homophobie, patriarchalem

Machtmissbrauch usw. Und auch die downside des magischen Stammesdenkens ist

offensichtlich: es ist terroristisch, es ist tribalistisch, es ist nicht in der Lage,

dauerhafte Nationen mit bindenden Einheiten zu bilden.

Die eigentliche Schwierigkeit dabei ist folgende. Bevor man nicht selbst in ein

integrales Entwicklungsstadium gelangt, kann man das Spektrum der verschiedenen

Stufen nicht erkennen. Wenn man sich im mythischen Stadium befindet, glaubt

man, dass die eigene Sicht die einzig wahre ist. Das ist wieder der Absolutismus,

von dem wir gesprochen haben. Wer dagegen industriell rational ist, ist davon

überzeugt, dass er allein Freiheit und Wahrheit kennt, dass er alle Menschen fair

und gleichberechtigt behandelt, dass nur er richtig und alle anderen falsch liegen.

Auf diesen drei Ebenen gibt es keine Möglichkeit, Probleme zu lösen. Leider

regieren diese Ebenen unsere gegenwärtige Welt und daher gibt es keinen Weg, die

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Probleme der Welt zu lösen. Das meine ich ernst. Im Augenblick gibt es keinen

Weg.

Bis zu einem gewissen Grad hoffen wir natürlich auf eine Welt der Bewusstheit,

deren innere Schwerkraft zumindest integral ist, welche die Menschheit zu einem

größeren Verständnis, zu mehr Toleranz führen kann. Diese würde eine Kultur

hervorbringen - nein, nicht einmal das, die Kultur selbst würde einen Zustand

hervorbringen, der ein Nebeneinander aller Stufen erlaubt, aber nicht erlaubt, dass

eine über die andere dominiert.

Die egoisch-rationale Konstitution der Industrienationen bemüht sich zwar , ihren

Bürgern bestimmte Rechte und Freiheiten zu garantieren; das ist sicherlich ein

Schritt in die richtige Richtung. Aber sie ist noch lange nicht integral.

Unser wundervoller Mr. Bush ist nicht rational, er ist mythisch. Er ist ein

Fundamentalist, was angesichts der Tatsache, dass die Vereinigten Staaten schon

eine Art industrieller Rationalität erreicht hatten, wirklich verblüffend ist. Amerika

erlaubte uns die Gewässer zu verschmutzen und überall McDonalds hinzusetzen,

darin ist Amerika wirklich gut. Bush aber ist ein fundamentalistischer Bible-fucking

good old boy, der sich über die Austreibung des Bösen und ähnlichen Schrott auslässt.

Oh, er ist sehr mythisch. Die meisten europäischen Politiker sind entrüstet über

ihn, sie sind beängstigt. Es ist unglaublich!

Aber selbst wenn sich jemand auf einem annehmbaren Level befindet, - Schmidt

z.B. oder wen immer wir auswählen; jeder hat seine Favoriten; es gibt tatsächlich

einige gute Führungspersönlichkeiten – gibt es da noch immer diese großen Blöcke,

die ihr Spiel auf einem magisch-tribalistischen Level, einem mythisch-

fundamentalistischen-Glaubens-Level und einem rational-industriellen Level

spielen. Alle hängen sie sich gegenseitig an der Kehle und es gibt keine Möglichkeit,

diesen Konflikt zu lösen, - außer mit den spezifischen Waffen, die zu diesen

Ebenen gehören. Gegenwärtig haben sich alle gegenseitig den Krieg erklärt, und

das bedeutet: wenn einer gewinnt, wird er sich die anderen vom Hals schaffen.

Daran wird sich erst dann etwas ändern, wenn wir einen integralen Level erreichen

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mit einer Art – nicht Weltregierung – aber einer Art Weltföderation, die ein tiefes

Verständnis für Völker, Kulturen und Nationen hat. Diese dürfen dann auf egal

welchem Level sein, aber sie dürfen nicht über die anderen dominieren, nicht

aufgrund ihres spezifischen Entwicklungsstadiums und Wertesystems. Auf der

Basis einer solchen Weltföderation können wir konstruktive Lösungen erwarten.

Aber ich bin davon überzeugt, dass wir erst dorthin gelangen werden, nachdem wir

noch einige sehr schlimme Kulturkriege zwischen diesen Blocks erlebt haben. Jeder

davon hat seine eigenen fürchterlichen Mittel der Kriegsführung. Das grauenvollste

Zerstörungspotential liegt jedoch in den Händen der rationalen Industrienationen.

Nicht nur, dass sie Atomwaffen und das vernichtendste Waffenarsenal besitzen,

weit schlimmer ist, dass sie die Wirtschaft beherrschen. Sie kontrollieren die

ökonomische Marktwirtschaft, sie besitzen das gesamte Geld. Wen wundert es da

noch, dass sich irgendein magisch-tribalistischer Terrorist eine Bombe umschnallt

und in das Word-Trade-Center reinspaziert. Die ganze gegenwärtige Situation

präsentiert ein sehr, sehr schwieriges Szenario. Deshalb sehe ich keine Möglichkeit

zum Aufatmen, keine globale Transformation, keine Zeitenwende. Diese

Vorstellung ist zwar wundervoll und idealistisch, meiner Meinung nach wird das

jedoch noch eine ganze Weile dauern.

Im Augenblick können wir nichts tun, außer immer mehr integrale Keimzellen ins

Leben zu rufen, die dann wachsen und sich ausdehnen. Je mehr Menschen ein

integrales Verständnis entwickeln, desto größer sind die Chancen. Dann könnte es

vielleicht – wenn auch zu einem langsamen, so doch zu einem gewaltlosen

Übergang kommen. Ich möchte diese Möglichkeit nicht ausschließen. Ich weiß

nicht, was geschehen wird. Aber es wird nicht morgen Nachmittag passieren. Was

wir gerne sehen würden, ist eine wachsende Anzahl von Menschen mit einem

integralen Bewusstsein, Menschen die Einfluss haben. Nicht weil die Integralen den

anderen ihre Sicht überstülpen wollen, sondern weil sie sagen: „Ihr müsst auf alle

Völker schauen, bevor ihr eine Entscheidung trefft.“ Dies ist ein umfassender, alles

einschließender Ansatz und nicht etwas, das behauptet: „Meine industriellen Werte

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sind richtig und deine Stammeswerte sind das Werk des Teufels.“ Aber die

Weltszene ist äußerst unbefriedigend, und ich glaube, es wird auf lange Zeit

gesehen noch schwieriger werden. Ich sehe nicht unbedingt die Sintflut oder den

Weltuntergang, aber es wird tough werden.

C: Auf der anderen Sei t e kann gerade dieser enorme Druck den Übergang

beschleunigen. Die gegenwärt igen Umstände regen den Menschen zum

Nachdenken an, rüt t e ln ihn wach, wei l v i e l e der b isher igen Systeme bere i t s

n i cht mehr funktionieren oder zusammenzubrechen drohen. Eine große Anzahl

Menschen i s t o f f en für das Neue und ö f fne t s i ch e iner der Rel ig ion

übergeordneten Spir i tual i tät . Dieser Wandel wird ni cht von pol i t i s chen,

ökonomischen oder re l i g iösen Gruppen oder b locks e inge l e i t e t , das i s t wahr.

Die b lockieren den Wandel nur . Aber er l i eg t in der Luft , und überal l auf der

Welt i s t er zu spüren. Egal wohin i ch auf meinen Reisen komme, beobachte

i ch an der Basis - be im e inze lnen Menschen - d ie Sehnsucht und den Wil l en

nach dem Neuen, d ie Aufbruchst immung. Und diese Sehnsucht geht wei t über

po l i t i s che und wir ts chaf t l i che Neuerungen hinaus . Es i s t e ine Sehnsucht nach

der t i e f s t en Wahrhei t , d i e wir a l l e in uns spüren, d ie Sehnsucht nach

Rückverbindung mit unserem al l e s integr i erenden Wesenskern. Diese

Sehnsucht t re ibt uns gewissermaßen genau dorthin : in das integra le

Bewusstse in . Und zum ers t en Mal in der Menschhei t sgeschi chte haben wir d ie

Chance , zu erkennen, dass das wahrhaf t Integra le n i cht von außen kommt,

durch Kultur und Inst i tut ionen, sondern durch j enen inneren

Bewusstse inszustand geboren wird, von dem le tzt l i ch j eder Mensch e ine

Ahnung hat . Wenn es ge l ingt , d ie Menschen genau an diesem Punkt zu

erwischen, werden s i e spr ingen. Jeder wird spr ingen, wenn er spürt , dass es auf

der anderen Sei t e e ine Antwort auf se ine Sehnsucht g ibt .

Ken: Ich würde sagen: Ja und Nein. Mit einem Teil dessen, was du sagst, bin ich

einer Meinung, mit dem anderen Teil etwas weniger. Wir müssen zwischen

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Bewusstseinszuständen und Bewusstseinsstadien unterscheiden. Die meisten

natürlichen Zustände, einschließlich einer Art non-dualem, integrativen Zustand sind

den Menschen zugänglich, ja. Wenn aus ihnen jedoch eine dauerhafte

Errungenschaft werden soll, müssen sie zu einem Stadium werden, zu einem

tatsächlichen, grundlegenden Entwicklungsstadium, das man verkörpert.

Betrachten wir die empirische Forschung, die sich damit auseinandersetzt auf

welcher Entwicklungsstufe die Menschheit steht, sieht das jedoch weniger

ermutigend aus. Der Stufenteil ist weniger ermutigend. Der Zustandsteil, den du

angesprochen hast, ist richtig: die Menschen haben Zugang zu diesem Zustand und

sie können ihn anzapfen. Auf jeder Entwicklungsstufe kann man einen

Durchbruch zur Einheitserfahrung alles Seienden, zu dieser Art integralen

Bewusstseins bekommen.

Aber dass dies zu einer dauerhaften Errungenschaft werden kann und es nicht nur

ein einmaliges Gipfelerlebnis bleibt, dazu muss eine Stufe daraus werden. Man kann

dies beschleunigen mit Techniken wie Meditation usw., aber es wird seine Zeit

dauern.

Jemand, der sich auf der mythischen oder rationalen Stufe befindet, braucht

wahrscheinlich mindestens 5 bis 10 Jahre. Wenn er sich einer tiefgreifenden

Psychotherapie unterzieht, und meditiert – dann ist es ein Prozess von fünf oder

zehn Jahren bis zur tatsächlichen Transformation.

C: Das v ie l l e i cht . Dennoch sehe i ch diesen Punkt e twas anders .

Ken: Das ist ok. Ich muss der Forschung und den Tatsachen folgen, und das tue ich

hier. Wenn wir nun also das Stadien-Konzept verfolgen, stellen wir fest, dass sich

etwa 2% auf integral und etwa 25% der Bevölkerung in Amerika und Europa auf

der postmodernen Stufe befinden. Auf der egoisch-rationalen Stufe befinden sich

ungefähr 30% und circa 40% sind mythisch-fundamentalistisch. Das Integral Institute

konzentriert sich nun auf jene 20% der westlichen Kulturen, die fähig sind, direkt

auf die integrale Stufe überzuwechseln. Das ist keine überwältigend große Zahl,

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aber sie ist dennoch bedeutend, weil jene 20 –25% auf der postmodernen Stufe in

der Hauptsache Babyboomer (Erklärung geht aus der nächsten Frage hervor) sind - und

das schon seit 30 Jahren. Die sind also bereit ins Integrale überzugehen. Und das

könnte theoretisch wirklich in einem Jahr geschehen, ich meine tatsächlich morgen

Nachmittag. Die Frage lautet daher: Welche Faktoren können diesen Übergang

beschleunigen? Es wird nicht so aussehen, dass jedermann in der gesamten Kultur

plötzlich integral wird. Die Tatsachen sprechen einfach nicht dafür. Aber 20% der

Bevölkerung! Selbst wenn nur die Hälfte davon sich zum Integralen hinbewegt,

steigt der Anteil zumindest von 2% auf 10 oder 15% an. Eine solche Zahl hat

bereits Substanz. Nehmen wir zum Vergleich die Revolution der 60er Jahre, die

Mai 68 in Paris ihren Anfang nahm: die Umwälzungen der 60er Jahre wurden von

20% der Bevölkerung herbeigeführt.

Auch damals war es nicht so, dass jeder ein radikaler 68er war. Da gab es noch

immer die Fundamentalisten, - die wurden nicht postmodern. Es gab noch immer

die modernistischen Szientisten, - die wurden nicht postmodern. 20% der

Bevölkerung wurde postmodern und das führte zum Anwachsen der Zivilrechte,

des Feminismus, der ökologischen Bewegungen usw. Diese 20% waren also sehr

einflussreich. Was nun meiner Meinung nach in der westlichen Kultur geschehen

wird – die zweite und dritte Welt sind noch magisch-mythish – ist, dass sich in den

nächsten 10 bis 20 Jahren die 2%, die gegenwärtig integral sind, sich auf 10 –15%

ausdehnen werden. Auch wenn das nicht gewaltig erscheint, - als eine permanente

Errungenschaft wird diese Zahl äußerst machtvoll und einflussreich sein, schon

allein deshalb, weil die integrale Stufe eine sehr effektive, eine sehr effiziente Stufe

ist. Gibt man Menschen auf der integralen Stufe eine Aufgabe, dann werden sie

diese 10mal schneller und effizienter ausführen als Menschen auf der

postmodernen Stufe. Sie sehen einfach klarer. Schon mit 5 oder 10% der

Bevölkerung auf integral wird es meines Erachtens zu einem sweeping change

kommen. Sitzen diese Leute dann noch in führenden Positionen, in der Regierung,

der Politik, im Erziehungswesen, beginnen die Universitäten damit, integral zu

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werden .. - oh, das wäre sehr, sehr einflussreich. Realistisch betrachtet ist das aber

das höchste, was wir erwarten können. Wenn 90% dort ankommen, bin ich nur

glücklich darüber. Aber selbst diese realistischen 10-20% sind sehr, sehr

ermutigend.

Was mir am Stadienmodell gefällt: Diese Stadien haben ihr Pendant in der

natürlichen Entwicklung des Kindes zum Erwachsenen. Das Kind durchlebt die

Stufen des Magischen und des Mythischen und entwickelt sich schließlich zum

Rationalen hin. Es sind also natürliche Stufen, und auch der Ablauf der

Entwicklung ist ein natürlicher Ablauf. Überall auf der Welt werden in jedem

Augenblick Kinder geboren, und sie alle durchlaufen das magische und mythische

Stadium, selbst wenn sie in einer rationalen Kultur geboren werden. Ebenso trägt

das Stadienmodell der Tatsache Rechnung, dass es immer Anhänger

fundamentalistischer Religionen geben wird. Immer. Weil manche Menschen

einfach dort stehen bleiben. Und sie werden wirklich glauben, dass Jesus aus einer

Jungfrau geboren wurde, dass Laotse 900 Jahre alt war, als er geboren wurde usw.

Wenn wir sagen, dass das Integrale ein Evolutionsstadium ist, bedeutet das, dass

sich im Laufe der Evolution die integrale Stufe von selbst einstellen wird. Es ist

nicht etwas, was wir lernen müssen. Es ist ein Stadium der eigenen Entwicklung.

Wir werden also eine wachsende Anzahl integraler Denker erleben, ob diese meine

Bücher gelesen haben oder nicht. Einfach deshalb, weil dies ein Abschnitt ihrer

eigenen Entwicklungsgeschichte ist und sie irgendwann von selbst eine integrale

Sichtweise entwickeln. Das wiederum ist sehr ermutigend. Es ist nicht davon

abhängig, dass die Leute Wilber oder Gebser oder Aurobindo gelesen haben.

Dieser Teil ist wirklich sehr ermutigend.

Fühlst Du Dich mit dieser Art Analyse wohler?

C (lachend): Ja , ja , damit fühle i ch mich wohler . Je tzt haben wir uns ja wieder

ge tro f f en .

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Boomeritis

Bob: Dein neues Buch Boomeri t i s kommt diesen Sommer heraus .

Ken: Nächste Woche schon.

Bob: Wann wird es nach Deutschland kommen?

Ken: Ich bin sicher, dass die Rechte schon verkauft sind. Im allgemeinen wird es

dann sechs Monate später veröffentlicht. Mit der Übersetzung wurde bereits

begonnen, als ich das Manuskript ablieferte.

Bob: Wie würdest Du das Anliegen von Boomeri t i s beschre iben, - innerhalb

des Kontextes , über den wir gerade sprachen?

Ken: Ja. Wir sprachen über diese allgemeinen Stadien des Bewusstseins und der

Evolution, und wir sprachen über die Entwicklung vom Magischen, zum

Mythischen, zum Rationalen und zum Integralen. Bob hat Recht. Boomeritis lässt

sich unmittelbar in diesen Kontext einfügen. Zwischen der rationalen und

integralen Stufe befindet sich ein pluralistisches Stadium, die postmoderne Stufe.

Auf dieser postmodernen Stufe befinden sich ungefähr 20% der Bevölkerung

Amerikas und Europas. Jedes Stadium hat, wie wir feststellten, seine spezifischen

Vor- und Nachteile. Die positiven Aspekte, die wir dem pluralistischen,

postmodernen Stadium zu verdanken haben, sind zivile Rechte, Feminismus, alle

Arten von Gesundheitsreformen, Umweltangelegenheiten usw. Die downside drückt

sich in einer extremen deconstruction aus: alles ist relativ, nichts ist richtig; nichts ist

besser als irgendetwas anderes; man darf keine Vorstellung von irgendeiner Form

absoluter Wahrheit haben. Das führte im akademischen Bereich zu einer Lähmung

des Willens und des Denkens. Diese Sichtweise kann zum Beispiel nicht die Frage

beantworten, ob und warum es verwerflich sein könnte, das World-Trade-Center in

die Luft zu jagen. Die Postmodernen sind also sehr zurückhaltend, was das Äußern

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von Werturteilen betrifft. Das aber lähmt den Handlungswillen. Dieses Phänomen

nenne ich „boomeritis“. Es nahm seinen Anfang mit der Babyboom-Generation (In

Deutschland bezeichnen wir diese Generation im allgemeinen als „die 68er“).

Boomeritis ist ein Roman, der sich mit dieser Problematik auseinandersetzt. Es ist

etwas, was ich noch nie zuvor gemacht habe. Mit Sicherheit wird es einige

Kontroversen hervorrufen und meinen Ruf in einigen Ländern der Erde ruinieren

(lacht). Aber eigentlich macht es mir Spaß umstritten zu sein und dann zu sehen,

was passiert.

Der Roman ist aus der Sicht eines 20jährigen jungen Mannes geschrieben, der

künstliche Intelligenz erforscht. Man muss es gelesen haben, um sehen zu können,

wie schräg und krank es ist. Aber es macht Spaß. Warten wir also ab, was geschieht.

Generell ist es für Leute geschrieben, die Widerstände gegen das integrale

Bewusstsein haben. Darum geht es in diesem Buch. Denn diese Generation hat

wirklich jede Vorwärtsbewegung zum Integralen hin blockiert. Bei denen gibt es

keine universellen Wahrheiten zu integrieren. Die haben nur ihre eingefleischten

Überzeugungen über Relativität. Das allein ist deren absolute Wahrheit. Boomeritis

beleuchtet also deren eigene Widersprüchlichkeit. Und mein zugrundeliegendes

Anliegen dabei ist, mit genau diesen 20% zu arbeiten, die eigentlich bereit wären,

ins Integrale zu gehen. Das ist meine Absicht. Es ist ein Roman, der an diese

Gruppe gerichtet ist.

C: Wenn diese 20% wirkl i ch ins Neue spr ingen, würde das bedeuten, dass s i ch

unser Lebensst i l ändern wird. Weltwei t .

Ken: Absolut.

C: Und wenn s i e das Integra le hine intragen in Bere i che wie . . .

Ken: Huge.

C: Das wäre doch wirkl i ch gewalt ig . Schon mit nur 10% würde s i ch unser

Leben vo l l s tändig ändern.

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Ken: Ja. Das könnte gewaltig werden. Und ich glaube, es wird passieren, und zwar

aus zweierlei Gründen. Einer davon ist, dass die Babyboomer selbst, und zwar sowohl

in Amerika als auch in Europa, gerade die zweite Lebenshälfte erreichen.

Psychologische Transformation geschieht in dieser Phase weit häufiger. Es ist die

Phase, in der sie zum ersten Mal mit dem Phänomen der Sterblichkeit konfrontiert

werden. Jemand, den du gekannt und geliebt hast, ist gestorben, und alle diese

schwierigen Fragen über das Leben werden aufgeworfen. Transformation rückt in

den Bereich des Möglichen. Auf der anderen Seite kommen die neuen Kinder und

Jugendlichen daher. They hit the ground running. Viele von ihnen kommen schon mit

einem integralen Bewusstsein zur Welt und sie antworten auf den post-

modernistischen Senf ihrer Eltern „du kannst kein Statement über die Wahrheit

abgeben, ....“ mit einem „Fuck you, das ist ja lächerlich“. Die haben den Sachverhalt

schnell durchschaut. Und ich liebe das. Im Integral Institute verbringe ich die meiste

Zeit mit den Jugendlichen. Die haben es geschnallt, sie haben es einfach intuitiv

erfasst. Die Boomer dagegen können nicht aufhören mit ihren ewigen Diskussionen.

Stunden um Stunden verbringen sie damit, ohne auf den Punkt zu kommen. Die

denken von mir, ich sei faschistisch, autoritär und schrecklich. Aber die Kinder ...

they hit the ground running. Ja, ich glaube, wir können diese 2% wirklich auf 10%

anheben. Und das wird alles ändern. Es wird wirklich alles ändern. Einfach weil die

neuen Lösungen so viel passender sind, viel effizienter, gewaltlos. Ein Teil unserer

Aufgaben im Integral Institute beinhaltet daher, mit Menschen aus dem

Erziehungswesen, aus der Politik, der Wirtschaft usw. zu arbeiten. Wir sollten diese

Ideen in praktische Wege einbetten. Dann wird es Resultate geben. Und dann

werden auch die Ideen ernst genommen werden. Wenn da einfach nur ein

Philosoph daherkommt, dann heißt es bloß: „Oh, ja..., aber?“

C: Also g ibt es v i e l zu tun .

Ken: Ja. Genau.

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PAUSE

Der Mensch Ken Wilber

C: Wo machen wir j e tzt wei t er , Ken?

Es g ibt Tausende von Fragen. Nicht dass du in Deinen Büchern irgendwelche

Fragen o f f en l i eßes t . Du wir f s t Fragen auf , präsent i er t aber auch

al lumfassende Antworten. Aber dann, e inmal gesät , beg innen die neuen

Gedanken im Inners ten zu brennen und man möchte mehr und mehr darüber

wissen. Man möchte das Neue in j ede Ecke se ines Lebens br ingen.

Bob: Diese europäischen Mädels s ind doch wirkl i ch süß, Ken, oder? ! Eine

Amerikaner in würde s i ch nie so ausdrücken .

C: Warum nicht?

Bob: Amerikanische Mädchen würden fragen: „Wann kaufs t du mir d ieses

Auto? Wann kriege i ch endl i ch das neue Haus?“ Sie würden nicht sagen.

“Gib mir mehr von dieser to l l en Phi losophie .“

(schallendes Lachen)

C (gespielt ernsthaft): Also , lass t uns for t fahren. Erzähl ’ j e tzt doch mal e in wenig

über d i ch se lbs t , Ken. Wie kam es zu de inem ge i s t i g en Durchbruch. Es war

doch e in Durchbruch, oder?

Ken (scherzend): Nun, ich kam von einem anderen Planeten daher.

C: Was du nicht sags t !

Ken: Meine gesamte frühere Ausbildung war wissenschaftlich. Ich studierte Objekte,

Objekte, Objekte, Objekte. ITS, ITS und ITS. Zunächst ging ich zur medical school,

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dann studierte ich Chemie. Aber keine der Fragen, die mich wirklich bewegten,

konnte dadurch beantwortet werden. Alles drehte sich um Objekte. Es gab weder

eine Ich- noch eine Wir-Dimension. Ich dagegen wollte alles über innere

Bewusstseinszustände, über die wirkliche Bedeutung des Lebens, über wirkliche

Werte wissen. So zog es mich zu den östlichen Weisheitslehren hin. Eine intensive

Suche begann, bei der ich versuchte, alle diese Wahrheiten miteinander zu

verbinden. Ich war überzeugt, dass sie alle etwas zu sagen hatten. Mein Weg

begann mit derselben Frage, über die wir vorhin sprachen, nämlich nicht, was

richtig oder falsch ist, sondern wie alles richtig sein kann. Es musste einen Weg

geben, um darzustellen, dass wirklich alle Richtungen etwas Bedeutsames

beizutragen haben. Das ist natürlich eine schwierige Fragestellung. Es ist in der Tat

eine sehr schwierige Fragestellung. Aber ich hatte Glück. Es war die erste Frage, die

ich mir stellte. Mit 23 schrieb ich mein erstes Buch Das Spektrum des Bewusstseins. Es

beinhaltet die Antwort auf die Frage: „Wie kann alles richtig sein?“

C: Da hast du wirkl i ch f rüh ange fangen .

Ken: Mit 23? Ja, das ist ziemlich früh - in Erdjahren gerechnet. (Gelächter)

C: Ich g laube , du kommst wirkl i ch ni cht von diesem Planeten .

Ken: 23 ist früh, ja.

C: Du hast e ine sehr besondere Art von Inte l l i g enz. Wie e in . . . .

Maschinengewehr .

Ken (scherzhaft empört): Das ist eine sehr amerikanische Metapher!

C: Is t e s?

Ken: Ja, wir Amerikaner sind doch sehr machine-gun. Tatatatatatatata ...

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C (neckend): Zumindest empf inde i ch d i ch so . Du br ings t d ie ganze Umgebung

zum Beben.

Ken: Ist das nervig?

C: Nicht im Gerings ten . Es i s t höchst inspir i erend.

(Inzwischen ist die Stimmung ziemlich ausgelassen).

Bob: Er i s t der Rambo der Phi losophie .

Ken: Jetzt ist´s aber genug!

Bob: Er is t der Terminator .

Ken: Oh, nein, nein, nein. Nehmt das bloß nicht auf. Nein, nein, nein ... (wehrt sich

laut lachend)

Bob: Er i s t d ie Mutter Theresa der . . . .

C: Einigen wir uns doch auf „Terminator der Phi losophie“

Ken (spielt den Beleidigten): Das ist kein gutes Image für einen Integrator. Wir

integrieren hier doch. Wir terminieren nicht.

C: Glaubst Du, dass Du e in besseres Image verdient hast?

Ken: Auf jeden Fall ein besseres als „Terminator“.

(Nur mit Mühe kommen wir zum Ernst der Sache zurück).

Es gibt tatsächlich verschiedene Geschwindigkeiten in meinem Schaffen. Wenn ich

in einem meditativen Zustand bin, ist es ganz anders. Die Gedanken sind sehr

langsam und der Raum des Denkens ist sehr weit ausgedehnt. Aber wenn ich

schreibe oder wie jetzt mit Euch arbeite, bringe ich tatsächlich eine enorme

Leidenschaft und eine enorme Intensität hinein. Um eine solche Pionierarbeit zu

leisten, braucht es diese Art der Energie. Ohne diese Intensität kannst du das nicht

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schaffen. Für alle Pioniere ist diese Leidenschaft von höchster Bedeutung. Wenn

du dann wieder heruntergeladen und gesammelt bist, ist das natürlich schön. Ich

arbeite nicht 24 Stunden täglich in dieser Geschwindigkeit. But when I do this kind of

stuff I do, it is very, very intense.

C: Es i s t e ine Art kreat iver Ekstase , n i cht wahr? Ich kenne das auch.

Ken: Ja, anders geht es einfach nicht. Aber wenn du dann in die Zen-Meditation

gehst, ist das total anders. Die Energie ist völlig anders; du hast vielleicht zwei oder

drei Gedanken pro Stunde. Aber jetzt ...

Bob: Ein Kerngedanke des Integra len i s t ja gerade , be ides im Leben zu

vere inen und das ganze Spektrum der Energ ien abzudecken .

C: Und das i s t das Faszinierende daran. Wenn die Menschen e inmal

begre i f en , wie faszinierend diese Art zu l eben i s t , dann werden s i e s i ch dem

Neuen bere i twi l l i g ö f fnen. Wir so l l t en ihnen v ie l l e i cht mehr davon ze igen.

Ken: Ja. Aber eine der Schwierigkeiten, die ich habe ... Schaut, wenn Ihr das, was wir

hier reden und wie wir miteinander sprechen, transkribiert und die Leute lesen es,

lesen es wortwörtlich, und das sind ungefähr 50%, kriegen sie einfach nicht das

Persönliche mit. Ich sitze hier und vieles, was ich sage ist witzig. Oder wir lachen,

und da ist diese bestimmte Art von Leichtigkeit. Und allen Gedanken haftet eine

ganz eigene Begeisterung und Freude an. Wir können Stunden hier sitzen, mit

diesen dichten Ideen, aber tatsächlich macht es doch einen ungeheuren Spaß, oder?

C: Es is t d ie re ine Freude .

Ken: Ja, das ist es. Es ist die Energie und der Tonfall und der Gesichtsausdruck.

Aber von all dem wird nichts rüberkommen im Skript, weil man das alles nicht

sehen kann. Ein Teil meines Problems ist: im geschriebenen Wort bin ich nicht

präsent genug. Das ist ein wirkliches Problem für mich. Wenn die Leute das

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Interview lesen, und die Worte mit ihrer eigenen Vorstellung untermalen, dann

denken sie, dass jemand, der von solchen Dingen spricht, eine sehr ernste,

dominante, autoritäre Person sein muss. Dabei bin ich einfach nur ein ganz

normaler Kerl. I’m just a kind of a … guy. Aber das kommt nicht rüber.

C: Jeder so l l t e Dich so er l eben können , wie wir j e tzt .

(Noch immer ist der Raum von Lachen erfüllt. Ken schnäuzt sich):

Eines der Dinge, die wirklich rübergekommen sind, eines meiner ersten Interviews,

die ich der Öffentlichkeit gab, war eine CD, die George Gruber aufnahm. Ich

sprach von allem Möglichen. Das war tatsächlich das einzige Life-Interview, das ich

in 30 Jahren gegeben habe, wo die Menschen mich reden hören konnten. Wenn ihr

nun die Bemerkungen lest von Leuten, die die CD gehört haben und sie vergleicht

mit den Meinungen über das bloße Skript, dann hieß es bei letzteren: „Mensch, ist

der arrogant. Der weiß alles am besten, er ist dadada ..“ Von denjenigen aber, die

die CD angehört hatten, kam nicht die leiseste Kritik. Da hieß es vielmehr: „Oh,

Ken ist warmherzig ...“

(Unterbricht, den Verzweifelten simulierend) Ach, das hört sich schon wieder bescheuert

an!

(Wir krümmen uns vor Lachen)

Wenn Ihr das schreibt, werden sie sagen „He is a total asshole.“

Also, die Kommentare zur CD lauteten: „Er ist menschlich, er ist warmherzig, er

ist humorvoll, er ist fürsorglich, er ist mitfühlend“...

Aber wenn Ihr das als meine Worte wiederbringt, werden sie denken: „Jesus ...“

Ich habe erkannt, dass etwas Entscheidendes fehlt, wenn jemand als Person nicht

präsent ist.

C: Aber in „Mut und Gnade“ und de inem Tagebuch „Einfach das“ dur f t en

di ch die Leser doch a ls „Mensch“ er l eben .

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Ken: Ja, aber selbst dann .... Es ist immer besser, die Person zu sehen oder zu hören.

Die Tagebücher helfen natürlich bis zu einem gewissen Grad. Aber es ist so viel

verborgen in der Körpersprache, im Gesichtsausdruck, im Stimmfall – ob du etwas

lächelnd erzählst oder mit gerunzelter Stirn. Ich bin nie wirklich missbilligend.

Selbst wenn ich kritisch bin, amüsiere ich mich eher darüber – wie wir alle derart

blöd sein können, versteht Ihr? Aber wenn man das transkribiert, hört sich das

grauenvoll an. Und ich selber muss mir dann an den Kopf greifen und mir sagen

“Oh, I’m a total fucking idiot“.

C: Aber wenn man das Interv i ew e in fach authent i s ch wiederg ibt , so wie es i s t ,

ohne Schnörkel , kann man den Lesern v ie l l e i cht e in wenig von der spezie l l en

Atmosphäre vermit t e ln .

Ken: Aber sie können niemals die Energie miterleben, das Lächeln, das Lachen und

alles, was passiert.

Einer der Gründe, warum ich keine Öffentlichkeitsarbeit gemacht habe liegt darin,

dass für meine Arbeit eben jene Intensität erforderlich ist, von der wir vorhin

sprachen. Wenn ich recherchiere, lese ich in der Regel zwei oder drei Bücher

täglich, und es ist eine Riesenarbeit das ganze Material zu strukturieren. Zum

Forschen und Schreiben brauche ich einfach Zeit. Ich kann entweder hier sitzen

und Bücher schreiben oder rausgehen und lehren. Beides zugleich zu

bewerkstelligen ist sehr hart für mich. Jedes von beiden stellt hohe Anforderungen

an Zeit und Engagement. Beide sind Fulltime-Jobs. Wenn man einmal in die

Öffentlichkeit gegangen ist, muss man Ja oder Nein sagen – und ich habe so viele

Freunde. Ich hasse es, dem einen Ja zu sagen, dem anderen dagegen Nein. Deshalb

habe ich schon vor langer Zeit jegliche Öffentlichkeitsarbeit eingestellt. Bis zu

meinen 26., 27. Lebensjahr, also nach dem Erscheinen meines ersten Buches, war

ich dagegen sehr viel in der Öffentlichkeit. Danach habe ich jedoch 22 Jahre lang

kein einziges Interview mehr gegeben. Momentan, in der Aufbauphase des Integral

Institute, machen wir etwas mehr von dieser Arbeit. Das Integrale wirkt auf viele

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Menschen bedrohlich, weil sie befürchten, man will ihnen aufschwätzen wie sie zu

denken haben. Viele kriegen es beim Lesen meiner Bücher mit der Angst zu tun;

sie fühlen sich bedroht und werden wütend. Sie glauben, ich wolle sie kontrollieren.

Die Menschen, die mich persönlich kennen lernen, denken das überhaupt nicht.

Vielleicht halten sie mich aus anderen Gründen für ein asshole, aber sie glauben

zumindest nicht, dass ich sie kontrollieren will. Wenn sie mich treffen, machen sie

sich eine Meinung darüber, ob ihnen das, was ich vermittle, gefällt, und sie tun das

aufgrund der Art und Weise wie ich tatsächlich kommuniziere. Was ich zu sagen

habe, wird vermittelt von meinem Körper, meiner Stimme, meiner Energie.

Ich denke, Ihr wisst, was ich damit ausdrücken will. Sollten mich die Leute wirklich

nicht mögen, wäre es mir recht, wenn sie mich aus einem integralen Grund

auseinander nehmen, nicht aber als ganzen Menschen. Wie genau Ihr das machen

werdet, weiß ich nicht. Aber wehe, Ihr schreibt: „Wilber, the terminator, speaks...“

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