Keraunia (Beiträge zu Mythos, Kult und Heiligtum in der Antike) || Einleitung

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Einleitung Der vorliegende Band gibt einen Überblick über neue archäologische For- schungen zum antiken Kultgeschehen; er vereint unpubliziertes oder von der Wissenschaft bislang vernachlässigtes Material, stellt aktuelle Forschungser- gebnisse vor und eröffnet den Blick auf weiterführende Fragestellungen. Ver- fasser der einzelnen Beiträge sind junge Nachwuchsforscher, aber auch inter- national renommierte Wissenschaftler, die bereits vielfach durch Beiträge zu diesem Themenkomplex hervorgetreten sind. Inhaltlich deckt der Band nahezu das gesamte Spektrum der Beschäfti- gung mit antikem Kult ab. Hierzu zählt zunächst die Erforschung der topogra- phischen Situation der Heiligtümer als Zentren kultischen Geschehens; diese liefert zugleich auch den Kontext für das Verständnis der unterschiedlichen Gaben an die Götter, die an den sakralen Orten abgelegt oder in ihnen aufge- stellt wurden. Mit Hilfe des archäologischen Befundes sowie bisweilen unter Einbeziehung weiterer Quellen lässt sich dann – im Idealfall – die rituelle Pra- xis eines Heiligtums rekonstruieren. Untrennbar mit dem kultischen Gesche- hen verbunden ist schließlich auch die mythologische Überlieferung, die oft- mals als Begründung für die kultische Verehrung eines Gottes oder Heros an einem bestimmten Ort angeführt wurde. Dieser knappen Skizzierung folgend, lassen sich die in dem Band versam- melten Beiträge auch den vier übergreifenden Bereichen ›Heiligtum, ›Votiv‹, ›Ritual‹ und ›Mythos‹ zuordnen, obgleich diese Einteilungen nicht in jedem Fall als ausschließlich zu verstehen sind. Heiligtum Heiligtümer in Kleinasien, Etrurien und auf dem griechischen Festland stehen im Zentrum der Beiträge von Dennis Graen, Stella Drougou und Ulf Weber. Dennis Graen widmet sich dem sogenannten Palast von Poggio Civitate beim toskanischen Murlo. Nach Analyse des archäologischen Befundes deutet er den Komplex nicht, wie vielfach bisher in der Forschung angenommen, als Heiligtum, sondern als Wohn- und Nutzbau einer lokalen aristokratischen Familie. Stella Drougou gibt einen ersten Einblick in die Erforschung des unter ihrer Leitung ergrabenen Heiligtums der Göttin Meter in Vergina, dem anti- ken Aigai. Der Kult, der hier ausgeübt wurde, zeigt chthonische Merkmale, be- Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 12/18/13 7:35 PM

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Einleitung

Der vorliegende Band gibt einen Überblick über neue archäologische For-schungen zum antiken Kultgeschehen; er vereint unpubliziertes oder von der Wissenschaft bislang vernachlässigtes Material, stellt aktuelle Forschungser-gebnisse vor und eröffnet den Blick auf weiterführende Fragestellungen. Ver-fasser der einzelnen Beiträge sind junge Nachwuchsforscher, aber auch inter-national renommierte Wissenschaftler, die bereits vielfach durch Beiträge zu diesem Themenkomplex hervorgetreten sind.

Inhaltlich deckt der Band nahezu das gesamte Spektrum der Beschäfti-gung mit antikem Kult ab. Hierzu zählt zunächst die Erforschung der topogra-phischen Situation der Heiligtümer als Zentren kultischen Geschehens; diese liefert zugleich auch den Kontext für das Verständnis der unterschiedlichen Gaben an die Götter, die an den sakralen Orten abgelegt oder in ihnen aufge-stellt wurden. Mit Hilfe des archäologischen Befundes sowie bisweilen unter Einbeziehung weiterer Quellen lässt sich dann – im Idealfall – die rituelle Pra-xis eines Heiligtums rekonstruieren. Untrennbar mit dem kultischen Gesche-hen verbunden ist schließlich auch die mythologische Überlieferung, die oft-mals als Begründung für die kultische Verehrung eines Gottes oder Heros an einem bestim mten Ort angeführt wurde.

Dieser knappen Skizzierung folgend, lassen sich die in dem Band versam-melten Beiträge auch den vier übergreifenden Bereichen ›Heiligtum, ›Votiv‹, ›Ritual‹ und ›Mythos‹ zuordnen, obgleich diese Einteilungen nicht in jedem Fall als ausschließlich zu verstehen sind.

Heiligtum

Heiligtümer in Kleinasien, Etrurien und auf dem griechischen Festland stehen im Zentrum der Beiträge von Dennis Graen, Stella Drougou und Ulf Weber. Dennis Graen widmet sich dem sogenannten Palast von Poggio Civitate beim toskanischen Murlo. Nach Analyse des archäologischen Befundes deutet er den Komplex nicht, wie vielfach bisher in der Forschung angenommen, als Heiligtum, sondern als Wohn- und Nutzbau einer lokalen aristokratischen Familie.

Stella Drougou gibt einen ersten Einblick in die Erforschung des unter ihrer Leitung ergrabenen Heiligtums der Göttin Meter in Vergina, dem anti-ken Aigai. Der Kult, der hier ausgeübt wurde, zeigt chthonische Merkmale, be-

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inhaltete die Durchführung von Trankopfern und stand zudem vermutlich in Verbindung mit Mysterienkulten.

Für den berühmten hellenistischen Apollontempel von Didyma weist Ulf Weber zusätzlich zu den bereits dokumentierten Bauzeichnungen ein weiteres, in der Forschung bislang nicht erkanntes System von Buchstaben nach, das ebenfalls am Bau selbst angebracht war. Es bezeichnete die Linien eines Raster-plans, der als Planungsgrundlage für den Tempel diente.

Votiv

Eine Reihe weiterer Beiträge hat verschiedenartiges Votivmaterial zum Thema. Andreas E. Furtwängler wendet sich mit den sogenannten Tridacna-Muscheln einer außergewöhnlichen Objektgruppe zu. Die mit Ritzdekor versehenen Muscheln fanden als Schminkbehälter im gesamten östlichen Mittelmeer Ver-breitung und wurden häufig als Weihgaben in Heiligtümern abgelegt. Eines der erhaltenen Exemplare, das auch im Zentrum des Beitrags steht, ist aufwen-dig plastisch umgearbeitet worden. Furtwängler kann zeigen, dass diese Umar-beitung nicht, wie bisher angenommen, im Nahen Osten, sondern von einem ostgriechischen Handwerker durchgeführt wurden.

Einem Fund von der Athener Akropolis, einer bislang unpublizierten fi-gürlich und ornamental bemalten Tonstatuette geht Aliki Moustaka nach. Sie ordnet die Figur zunächst einer Gruppe ähnlicher Statuetten zu und nimmt weiterhin an, dass die auf dem vorgestellten Exemplar abgebildete Prozession mit dem Fest für die Göttin Athena in Verbindung steht.

Helga Bumke behandelt fünf Marmorkugeln, die von Priesterinnen in das Artemisheiligtum von Sardeis geweiht wurden. Sie interpretiert die Kugeln als Himmelsgloben und zugleich als Symbole für das vorausbestimmte mensch-liche Schicksal. Damit kann sie für die Artemispriesterinnen in Sardeis erst-mals auch eine Funktion als Sterndeuterinnen vermuten.

Stavros Vlizos stellt in seinem Beitrag eine Marmorstatuette des stehenden Zeus vor, die jüngst Eingang in die Sammlung des Athener Benaki Museums gefunden hat. Nach stilistischer und zeitlicher Einordnung gibt Vlizios einen Überblick über die Entwicklung des stehenden Zeusbildes durch die Jahrhun-derte und diskutiert mögliche Aufstellungskontexte der Statuette.

Die Basen von zwei verloren gegangenen Bronzestatuen auf der Athener Akropolis stehen im Zentrum der Untersuchungen von Ralf Krumeich. Dem Autor gelingt es, mit Hilfe der Inschriften und Einlassungsspuren nicht nur Aussagen zum einstigen Aussehen der Statuen sowie zu Herkunft und Hinter-grund der ursprünglichen griechischen Stifter, sondern auch zu Wiederver-wendung der Weihgaben in der römischen Kaiserzeit zu treffen.

Ebenfalls von ikonographischen Überlegungen geht Nina Willburger bei der Besprechung eines Weihreliefs aus, das im baden-württembergischen Con-

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weiler (Enzkreis) gefunden wurde. Obgleich schon seit längerem in der For-schung bekannt, bereiten die regional geprägten Eigenheiten des Reliefs auch aktuell noch Schwierigkeiten bei der Interpretation. Mit ihrer Diskussion des Stücks leistet Willburger nicht nur einen wesentlichen Beitrag zum besseren Verständnis des Reliefs selbst, sondern gibt zugleich einen wichtigen Anstoß zur ikonographischen Erforschung provinzialrömischer Plastik in Südwest-deutschland.

Ritual

Riten im Bereich des Totenkultes geht Agnes Schwarzmaier nach und gibt da-mit zugleich neue Impulse für die Erforschung des attischen Totenkultes. Die Autorin geht bei ihren Überlegungen von einer Lutrophore in der Berliner Antikensammlung aus, einem Gefäßtypus, der im Hochzeitsritus zum Einho-len des Brautbades diente. Ein wichtiges Ergebnis ihres Beitrags ist, dass nun offenbar nicht nur Mädchen und jungen Frauen, sondern auch unverheiratet verstorbenen jungen Männern Lutrophoren auf das Grab gestellt und ihnen damit das Brautbad noch nach ihrem Tod ›gereicht‹ wurde.

Torsten Kleinschmidt illustriert anhand einer bislang unpublizierten athe-nischen Tetradrachme, wie fruchtbar auch die Interpretation von Münzen für Fragen von Kult und Ritus sein kann. So ist es ihm möglich – nach der ge-nauen zeitlichen Einordnung des Stücks –, die Darstellung auf der Rückseite als Reflex eines wichtigen Kultfestes zu Ehren des römischen Feldherrn Sulla zu deuten.

Sogenannte Übergangsriten stehen im Zentrum des Beitrags von Mirko Vonderstein. Ausgangspunkt ist ein etwa lebensgroßes marmornes Knaben-porträt mit einer ungewöhnlichen Frisur, das in der Berliner Antikensamm-lung ausgestellt ist. Bei der Interpretation des Kopfes ist bislang übersehen worden, dass die Haartracht mit einem aus Schriftquellen rekonstruierbaren Ritual in Zusammenhang steht, das in Ägypten beim Übertritt vom Kindes- zum Erwachsenenalter vollzogen wurde.

Yvonne Schmuhl widmet sich einem spätantiken Zeremoniell, das mit den sogenannten Omphalia in Zusammenhang steht. Diese aus Porphyr bestehen-den, im Boden eingelassenen kreisrunden Flächen bezeichneten den Ort, an dem der Kaiser vor das Volk oder den Hofstaat trat. Omphalia konnten aber auch hohen Würdenträgern als Standfläche oder aber Boten zum Niederwerfen vor dem Kaiser dienen. Schmuhl gibt in ihrem Beitrag erstmals eine wertvolle Zu-sammenstellung aller verfügbaren literarischen und archäologischen Quellen.

In die byzantinische Zeit führt auch der Beitrag von Annegret Plontke-Lüning, die den bislang unpublizierten Arm eines bronzenen Vortragekreuzes aus Kappadokien vorstellt. Die in Medaillons gezeigten Büsten zweier männ-licher Heiliger werden von der Autorin als Erzengel Michael und Hl. Nike-

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phoros – 806 bis 815 Patriarch in Konstantinopel – identifiziert. Letzterem wurde insbesondere am Sonntag der Orthodoxie gedacht, an dem das Kreuz sehr wahrscheinlich in der Prozession mitgeführt wurde.

Mythos

Drei Beiträge befassen sich mit ikonographischen Problemen, die in Zusam-menhang mit Mythos und Kult stehen. Oliver Pilz untersucht ein in der For-schung bislang kaum beachtetes Tonrelief aus Rhodos in der Berliner Antiken-sammlung, das einen Zweikampf, vermutlich zwischen Achilleus und Penthe sileia, wiedergibt. Besonders auffällig ist, dass der Hals der männlichen Figur bereits vor dem Brand mit einem tiefen Einschnitt ›durchtrennt‹ wurde. Pilz wertet dies als möglichen Hinweis auf magische Praktiken.

Im Mittelpunkt der Ausführungen von Angelos Delivorrias steht die Deu-tung einer Figurengruppe auf einem bronzenen Leuchter aus Chalkis auf Euböa. Für sie kann der Autor gut begründet postulieren, dass die Wahl des Themas offenbar in enger Verbindung mit den genealogischen Mythen Athens stand.

Der frühchristlichen Zeit wendet sich Verena Paul-Zinserling zu. Sie stellt eine bisher unpublizierte Pilgerampulle der Sammlung Antiker Kleinkunst der Friedrich-Schiller-Universität Jena vor, die zur Gruppe der kleinasiatischen Pilgerflaschen gehört. Mit ihrem Reliefschmuck auf Vorder- und Rückseite zählen sie zu den ältesten Zeugnissen frühchristlicher Ikonographie. Die Inter-pretation der beiden abgebildeten bärtigen Männer bereitet zunächst Schwie-rigkeiten, doch kann Paul-Zinserling eine zweifache Wiedergabe von Johannes Evangelista wahrscheinlich machen.

Der Titel des Bandes, ΚΕΡΑΥΝΙΑ (›Blitzsteine‹), denen man in der Antike magische Funktion beimaß (Plin. nat. hist. 37, 137), ist aus besonderem Grund gewählt: Alle Autoren widmen ihre Beiträge Uta Kron, die weltweit zu den besten Kennern des antiken Kultgeschehens zählt und eine Vielzahl grund-legender Publikation zu unterschiedlichen Aspekten dieses Themenkreises vorgelegt hat. Mit ihr fühlen sich alle Beiträger eng verbunden, sei es als Schü-ler oder Kollegen, und möchten ihr auf diese Weise für vielfache Unterstüt-zung, Diskussion, Hilfe oder Rat sehr herzlich danken.

Auch wir schenken Ihnen, liebe Frau Kron, nun »Steine statt Blumen« – wie Sie vor einiger Zeit aus ähnlichem Anlass1 – und wünschen Ihnen eine hoffentlich anregende Lektüre sowie für die nächsten Jahre den Schutz der keraunia.

1 U. Kron, Heilige Steine, in: H. Froning – T. Hölscher – H. Mielsch (Hrsg.), Kotinos. Festschrift für Erika Simon (Mainz 1992) 56–70, bes. 59 f. zu den keraunia.

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Abschließend sei den Autoren gedankt, die uns ihre Beiträge anvertraut und bei der ungeplant langen Entstehungszeit des Bandes viel Geduld bewiesen haben. Unser herzlicher Dank gilt zudem den Herausgebern der »Beiträge zur Altertumskunde«, Dorothee Gall, Michael Erler, Ludwig Koenen und Clemens Zintzen, für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe sowie Lisa Neu-halfen für das Erstellen der Druckvorlage.

September 2011 Oliver Pilz Mirko Vonderstein

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