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Umschlagbild: Paula Pipa „Die Seelensucher“ Zur Kunstrichtung „Outsider ART“: „Die Urheber dieser Werke sind hauptsächlich Menschen, die ungewöhnliche Erfahrungen gemacht haben oder tiefgreifenden seelischen Belastungen ausgesetzt sind: Psychisch Kinder zwischen Heimerziehung und Kinder– und Jugendpsychiatrie Übergänge im Erleben der Betroffenen Inga Abels

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Umschlagbild:

Paula Pipa „Die Seelensucher“ Zur Kunstrichtung „Outsider ART“:

„Die Urheber dieser Werke sind hauptsächlich Menschen, die ungewöhnliche Erfahrungen gemacht haben oder tiefgreifenden seelischen Belastungen ausgesetzt sind: Psychisch Kranke, geistig Behinderte, Strafgefangene, Menschen am Rand der Gesellschaft, im sozialen Abseits, in freiwilliger oder ungewollter Isolation. Sie sind nicht oder nur teilweise in die Gesellschaft integriert (Outsider). So ist es auch mit ihrer Kunst. Sie ist den kulturellen Einflüssen weitgehend entzogen. Ihr bildneri-sches Schaffen findet außerhalb der Sphäre der offiziellen Kunstszene und unabhängig von den Stilvorgaben statt, ohne jegliche Vorbilder, nur aus der inneren Notwendigkeit, jedoch

nicht in professioneller Absicht. Sie haben weder eine künstlerische Ausbildung noch technische Kenntnisse vorzuweisen. […] Gleichwohl hat die Kunst der Außenseiter nunmehr zunehmend das Interesse der Kunstwelt erweckt. Eine Vielzahl von Werken fand Akzeptanz im freien Handel und ist seither in bedeutendsten Sammlungen und Museen vertreten. Die wachsende Anerkennung fördert in erster Linie das Selbstvertrauen, Lebensqualität und die soziale Integration der Außenseiter, hat je-doch auch zur Folge, dass durch Kommerzialisierung die Grenzen verwischt werden. Letztlich bleibt das spontane, ursprüngliche Ausdrucksbedürfnis in seiner Authentizität ausschlaggebend für die Out-sider Art“ (Quelle: http://www.outsider-bildwelten.de).

Weitere Zeichnungen von Paula Pipa und anderen Künstlern sind unter der oben genannten Internet-adresse zu sehen.

Kinder zwischen Heimerziehung und Kinder– und Jugendpsychiatrie

Übergänge im Erleben der Betroffenen

Inga Abels

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Umschlagbild:

Paula Pipa „Die Seelensucher“ Zur Kunstrichtung „Outsider ART“:

„Die Urheber dieser Werke sind hauptsächlich Menschen, die ungewöhnliche Erfahrungen gemacht haben oder tiefgreifenden seelischen Belastungen ausgesetzt sind: Psychisch Kranke, geistig Behinderte, Strafgefangene, Menschen am Rand der Gesellschaft, im sozialen Abseits, in freiwilliger oder ungewollter Isolation. Sie sind nicht oder nur teilweise in die Gesellschaft integriert (Outsider). So ist es auch mit ihrer Kunst. Sie ist den kulturellen Einflüssen weitgehend entzogen. Ihr bildneri-sches Schaffen findet außerhalb der Sphäre der offiziellen Kunstszene und unabhängig von den Stilvorgaben statt, ohne jegliche Vorbilder, nur aus der inneren Notwendigkeit, jedoch

nicht in professioneller Absicht. Sie haben weder eine künstlerische Ausbildung noch technische Kenntnisse vorzuweisen. […] Gleichwohl hat die Kunst der Außenseiter nunmehr zunehmend das Interesse der Kunstwelt erweckt. Eine Vielzahl von Werken fand Akzeptanz im freien Handel und ist seither in bedeutendsten Sammlungen und Museen vertreten. Die wachsende Anerkennung fördert in erster Linie das Selbstvertrauen, Lebensqualität und die soziale Integration der Außenseiter, hat je-doch auch zur Folge, dass durch Kommerzialisierung die Grenzen verwischt werden. Letztlich bleibt das spontane, ursprüngliche Ausdrucksbedürfnis in seiner Authentizität ausschlaggebend für die Out-sider Art“ (Quelle: http://www.outsider-bildwelten.de).

Weitere Zeichnungen von Paula Pipa und anderen Künstlern sind unter der oben genannten Internet-adresse zu sehen.

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Universität Siegen Integrierter Studiengang

Sozialpädagogik und Sozialarbeit Fachbereich II

Diplomarbeit

Kinder zwischen Heimerziehung und Kinder- und Jugendpsychiatrie

Übergänge im Erleben der Betroffenen

vorgelegt von: INGA ABELS

Im Neuenhof 32 57072 Siegen

Matrikelnummer: 601755

Referent: Prof. Dr. KLAUS WOLF Koreferentin: PD Dr. IMBKE BEHNKEN

Siegen im Februar 2006

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Danksagung

Danksagung

Zunächst möchte ich mich bei den Mitarbeitern der verschiedenen Einrichtungen bedan-

ken, die mir den Zugang und Kontakt zu meinen Interviewpartnern ermöglichten. Bei ih-

nen bin ich auf großes Interesse am Thema meiner Arbeit und engagierte Hilfe gestoßen,

womit ich im Vorfeld nicht gerechnet hatte. Besonders zu erwähnen sind die Jugendlichen, die sich bereit erklärt haben, an den Inter-

views teilzunehmen. Bei ihnen bedanke ich mich für ihre Hilfe und Bereitschaft, womit sie

einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung der Arbeit in dieser Form geleistet haben. Sie

gewährten mir besondere Einblicke in ihr Leben und haben mir die Interviewsituationen, in

die ich immer mit großer Anspannung ging, durch ihre offene Art erleichtert. Ich wünsche

ihnen alles Gute für die Zukunft. Professor Doktor Klaus Wolf danke ich für seine Begleitung und Unterstützung während

der Diplomarbeit und dafür, dass er unermüdlich vermittelt, was das Besondere am ‚sozi-

alpädagogischen Blick’ ausmacht. Ein großes Dankeschön geht an Dirk Schäfer, Frank Moschner, Sven Hinck und Thomas

Baumann dafür, dass sie neben ihrem Studium und/oder Beruf viele Stunden in das Le-

sen und Korrigieren meiner Diplomarbeit investiert haben und mir halfen, wenn ich mal

wieder auf der Stelle trat. Meiner ‚Mitstreiterin’ Kathrin Klein danke ich dafür, dass sie alle Höhen und Tiefen der

letzten vier Monate so gut nachvollziehen konnte, wie wahrscheinlich niemand sonst. Nicht zu vergessen sind all die, die es nicht leid wurden, sich Geschichten aus der Welt

der Diplomarbeit anzuhören und die mich auf verschiedene Art und Weise unterstützt ha-

ben. Danke sagen möchte ich auch meiner Familie Angelika, Christoph und Lisa Abels, weil sie

mich nicht nur während meines Studiums, sondern immer unterstützen und unterstützt

haben und so oft viel mehr an mich glauben als ich selbst.

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Vorwort

Vorwort

Ansgar, ein 19-jähriger Patient einer Kinder- und Jugendpsychiatrie schreibt:

NORMAL, das sind nur die anderen. Viele wollen normal sein, und keiner schafft es.

Normal ist, wenn die Sonne scheint, der Regen weint, der Wind an den Blättern rüttelt und der Mensch

…das ist normal. Normal ist der, der tut, was „man“ tut.

VERRÜCKT ist, wenn die Sonne weint,

der Regen scheint, und der Wind an dem Menschen rüttelt. Verrückt ist, wenn man das Leben an sich rütteln läßt.

Aber das ist nicht verrückt. Das heißt: zu leben.

Die Idee, meine Diplomarbeit zum Thema „Kinder1 zwischen Heimerziehung und Kinder-

und Jugendpsychiatrie“ zu schreiben, entstand durch meine Teilnahme an einem Praxis-

forschungsprojekt in Kooperation zwischen der Universität Siegen und einem Jugendamt.

Ziel dieses Projektes war anhand von Aktenanalysen zu untersuchen, wie Entscheidun-

gen im Rahmen von Hilfen zur Erziehung getroffen werden. Im Laufe des Projektes kris-

tallisierte sich heraus, dass eine Reihe von Kindern in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

untergebracht wurden, wobei die Begründungen für die Unterbringungen oft nicht nach-

vollziehbar erschienen.

Sensibilisiert durch die Diskussionen an der Universität und innerhalb des untersuchten

Jugendamtes begann ich, auch in der Heimeinrichtung, in der ich tätig war, die dortige

‚Zusammenarbeit’ mit der Kinder- und Jungendpsychiatrie – die mir vorher ganz selbst-

verständlich erschienen war – zu hinterfragen. Ich stieß auf die Meinungen, dass den Kin-

dern in der Psychiatrie ‚besser geholfen’ werden könne und die Heimeinrichtung, in der

ich arbeitete, für diese Kinder nicht ‚die richtige’ sei. Außerdem sei die Kinder- und Ju-

gendpsychiatrie personell viel besser ausgestattet und könne unter Umständen auch mal

mit Zwangsmaßnahmen reagieren, was in der Heimerziehung schon allein rechtlich nicht

möglich sei. Auf meine Einwände, ob es sich denn nicht eher um pädagogische als psy-

chiatrisch zu behandelnde Probleme handle, bekam ich selten eine konkrete Antwort.

1 Im Folgenden werde ich der Einfachheit halber nicht immer explizit von ‚Kindern und Jugendlichen’ spre-chen. Ich werde den Begriff ‚Kind’ für Minderjährige bis zum 18. Lebensjahr verwenden, Jugendliche sind in dieser Formulierung gleichberechtigt mit eingeschlossen.

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Vorwort

In Heimeinrichtungen leben Kinder, die manchmal Verhaltensweisen zeigen, die man auf

den ersten Blick nicht nachvollziehen kann, die überfordern können und vielleicht sogar

eine Bedrohung für Pädagogen2, andere untergebrachte Kinder und die betroffenen Kin-

der selbst darstellen. Dies kann bei den Pädagogen das Gefühl der Hilflosigkeit auslösen.

Aus dieser Perspektive ist der Wunsch, solche Kinder in der Psychiatrie unterzubringen

und die mit der Unterbringung verbundene Erleichterung vielleicht in einem gewissen Ma-

ße nachvollziehbar. Die Ruhe im nächsten Nachtdienst ist gesichert und man wird nicht

allein dastehen, wenn ein einzelnes Kind es schafft, den Rest der Gruppe aufzumischen.

Gefahr gebannt! Aber ist die Unterbringung auch fachlich begründet und legitimiert? Ge-

rade bei den ‚besonders Schwierigen’ sollten Pädagogen doch hinterfragen, warum sie

sind, wie sie sind und was ihnen geboten werden kann, um ihnen konstruktive Lernerfah-

rungen zu ermöglichen. Hier reicht es dann nicht aus, sich auf psychiatrische Diagnosen

zu verlassen und das Kind als ‚krank’ zu bezeichnen. Stattdessen muss man den Kindern

zuhören und zumindest versuchen, ihr Verhalten im Kontext ihrer Lebenserfahrungen zu

dechiffrieren. Dann erscheint ‚verrücktes’ Verhalten möglicherweise fast normal, weil es

die Reaktion auf die ‚ver-rückte’ Welt ist, in der sie leb(t)en. Eine Welt, in der das Leben –

vielleicht mehr als an anderen – an ihnen gerüttelt hat.

2Die vorliegende Arbeit ist in der maskulinen Form geschrieben, um die umständliche Benennung jeweils beider Geschlechter zu vermeiden, bezieht dabei aber gleichberechtigt Männer und Frauen mit ein.

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Danksagung.........................................................................................................................2 Vorwort .........................................................................................................................3 Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................5 Einleitung .........................................................................................................................7

Kapitel I: Theoretische Grundlagen.................................................................... 8

1. Heimerziehung.................................................................................................................8 1.1 Die Verortung der Heimerziehung im Kinder- und Jugendhilfegesetz...........................8 1.2 Was ist Heimerziehung?................................................................................................9 1.3 Anlässe und Ziele von Heimerziehung ........................................................................13

2. Kinder- und Jugendpsychiatrie ......................................................................................18 2.1 Das medizinische Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie/ -psychotherapie .................................................................................................................18 2.2 Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie ...............................................................19 2.3 Anlässe und Ziele der kinder- und jugendpsychiatrischen Unterbringung...................20

3. Einführung in die aktuelle Diskussion um das Verhältnis zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie......................................................................................25

3.1 Konfliktlinien der Hilfesysteme.....................................................................................25 3.2 Kritik an der kinder- und jugendpsychiatrischen Unterbringung ..................................27 3.3 Die gegenseitige Inanspruchnahme ............................................................................28

4. Übergänge als kritische Lebensereignisse ....................................................................31 4.1 Begriffsbestimmung ‚kritisches Lebensereignis’ ..........................................................31 4.2 Übergänge in die Heimerziehung bzw. Kinder- und Jugendpsychiatrie als kritisches Lebensereignis ..................................................................................................32

Kapitel II: Anlage der Untersuchung ................................................................ 36

1. Das zentrale Erkenntnisinteresse ..................................................................................36

2. Das Erhebungsdesign ...................................................................................................39 2.1 Welche Menschen sollen befragt werden?..................................................................39 2.2 Auswahl geeigneter Untersuchungsmethoden ............................................................40

3. Durchführung der Untersuchung ...................................................................................44 3.1 Kontaktaufnahme.........................................................................................................44 3.2 Durchführung der Interviews........................................................................................45 3.3 Nachbereitung der Interviews und Aufbereitung der Daten.........................................46

4. Das Auswertungsverfahren ...........................................................................................47

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel III: Betrachtung der Hilfeverläufe ......................................................... 50

1. Aylin ............................................................................................................................51 1.1 Das Leben bei der Mutter ............................................................................................52 1.2 Die erste Wohngruppe.................................................................................................53 1.3 Das Leben beim Vater .................................................................................................55 1.4 Die Kinder- und Jugendpsychiatrie..............................................................................60 1.5 Die zweite Wohngruppe...............................................................................................64

2. Tim ............................................................................................................................70 2.1 Die ersten drei Lebensjahre.........................................................................................70 2.2 Die Pflegefamilie..........................................................................................................71 2.3 Die Kinder- und Jugendpsychiatrie..............................................................................73 2.4 Die Wohngruppe..........................................................................................................78

3. Elfriede...........................................................................................................................83 3.1 Das Leben bei den Eltern ............................................................................................84 3.2 Das erste Heim............................................................................................................84 3.3 Das zweite Heim..........................................................................................................87 3.4 Die Kinder- und Jugendpsychiatrie..............................................................................89

Kapitel IV: Auswertung der Ergebnisse und Folgerungen ............................. 93

1. Zusammenfassung der Ergebnisse ...............................................................................93 1.1 Die Wahrnehmung der Unterbringungsprozesse ........................................................93 1.2 Die Kinder- und Jugendpsychiatrie..............................................................................95 1.3 Die Heimeinrichtungen ................................................................................................96 1.4 Die Relevanz von Regeln und Strukturen....................................................................97 1.5 Die Relevanz von Personen innerhalb der Einrichtungen ...........................................98 1.6 Die Bedeutung der Eltern ............................................................................................99

2. Schlussfolgerungen .....................................................................................................101 Persönliche Schlussbemerkungen ..................................................................................106Literaturverzeichnis..........................................................................................................108 Verzeichnis verwendeter Onlinedokumente ....................................................................115 Abkürzungsverzeichnis....................................................................................................116

Anhang................................................................................................................... I

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Einleitung

Einleitung

Seit Jahren gibt es eine Fachdiskussion zwischen Vertretern der Jugendhilfe und denen

der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Hier geht es um den Versuch, sich voneinander abzu-

grenzen, aber auch um die Frage, wie die Kooperation der beiden Fachgebiete verbessert

werden kann. Hervorgerufen wurde diese Diskussion dadurch, dass es Kinder gibt, bei

denen sich beide Fachgebiete auf den Plan gerufen fühlen – oder die Vertreter des einen

die Verantwortung beim jeweils anderen Gebiet sehen.

Im Mittelpunkt meiner Arbeit sollen Kinder stehen, die sowohl Erfahrungen mit einem Le-

ben im Heim, als auch mit der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie haben. Sowohl

der theoretische als auch der empirische Teil beschäftigt sich mit der Frage, was die An-

lässe und Ziele von Übergängen in die Heimerziehung und/oder in die Kinder- und Ju-

gendpsychiatrie sein können und wie diese Übergänge gestaltet sind. Was können die

einzelnen Systeme den Kindern bieten, um ihr Leben zu bewältigen? Was stellt Belastun-

gen dar? Das Ziel der Arbeit ist, die individuellen Sichtweisen der Kinder auf ihr Leben,

darin eingebettete Übergänge und deren Rahmenbedingungen zu beleuchten, um so ei-

nen Transfer zwischen Theorie und Praxis zu ermöglichen.

In Kapitel I soll in die theoretischen Grundlagen der Arbeit eingeführt werden. Es wird ein

Überblick über die Systeme der Heimerziehung und der Klinik für Kinder- und Jugendpsy-

chiatrie gegeben, um anschließend eine Arbeitsdefinition der Begriffe zu entwickeln. Unter

Punkt 3 des ersten Kapitels werden die wichtigsten Gesichtspunkte der oben genannten

Fachdiskussion zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe aufgezeigt. In

einem letzten Punkt werden Überlegungen angestellt, inwieweit Übergänge in die Heim-

erziehung oder in die Kinder- und Jugendpsychiatrie für die Kinder kritische Lebensereig-

nisse darstellen können.

Das zweite Kapitel befasst sich mit der Anlage der Untersuchung. Neben der Festlegung

des zentralen Erkenntnisinteresses und Erhebungsdesigns sollen die einzelnen Phasen

der Untersuchung skizziert und abschließend das Auswertungsverfahren vorgestellt wer-

den.

In Kapitel III werden die Ergebnisse der durchgeführten Einzelinterviews anhand der ge-

schilderten Hilfeverläufe vorgestellt.

Die Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse unter ausgewählten Einzelaspek-

ten und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen werden in Kapitel IV vorgestellt.

Im Anhang befinden sich die verwendeten Interviewleitfäden, die Erläuterung der

Transkriptionsregeln sowie die Interviews in vollständig transkribierter Form.

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Kapitel I: Heimerziehung

Kapitel I: Theoretische Grundlagen

1. Heimerziehung

Dieser Punkt dient dazu, einen theoriebezogenen Überblick über das Gebiet der Heimer-

ziehung zu geben. Zunächst werde ich kurz in die gesetzlichen Grundlagen von Heimer-

ziehung einführen. Anschließend werde ich auf die Vielfalt des Lebens- und Lernfeldes

‚Heim’ eingehen und eine Arbeitsdefinition des Begriffes ‚Heimerziehung’ vornehmen. In

einem letzten Punkt werde ich mich damit auseinandersetzen, aus welchen Gründen Kin-

der in Heimen untergebracht werden und welchen fachlichen Anforderungen Heimerzie-

hung im Einzelfall genügen muss.

1.1 Die Verortung der Heimerziehung im Kinder- und Jugendhilfege-setz

Das achte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VIII) – auch bezeichnet als Kinder- und

Jugendhilfegesetz (KJHG) – regelt die Kinder- und Jugendhilfe. Ihr Ziel ist es, junge Men-

schen zu fördern, Eltern zu unterstützen, Minderjährige zu schützen und eine kinder- und

familienfreundliche Umwelt zu schaffen (vgl. KUNKEL 2001, S.462 in Bezug auf § 1 Abs. 3

KJHG3). Die Umsetzung dieser formulierten Zielsetzungen der Kinder- und Jugendhilfe

wird durch die Festlegung unterschiedlicher Aufgabengebiete im KJHG konkretisiert (vgl.

SCHONE 2004, S.29). Für die vorliegende Arbeit ist der Bereich ‚Hilfen zur Erziehung’ (§§

27 ff. KJHG) von Bedeutung. Nach § 34 KJHG wird die Hilfe zur Erziehung in Form von

Heimerziehung geregelt (einschließlich der Unterbringung in einer sonstigen betreuten

Wohnform), in der Kinder in einer Einrichtung außerhalb ihres Elternhauses über Tag und

Nacht untergebracht, betreut und erzogen werden (vgl. MÜNDER et al. 2003, S.319).

Heimerziehung stellt heute eine unter vielen Möglichkeiten des breit gefächerten Ange-

botsspektrums der Hilfen zur Erziehung dar (vgl. HAMBERGER 1998a, S.34). Bei allen

Formen der Hilfen zur Erziehung liegt entsprechend der Regelung nach § 27 KJHG der

3 Korrekt müssten die Paragraphen mit dem Zusatz SGB VIII zitiert werden. Ich werde im Folgenden die Ab-kürzung KJHG verwenden, da diese sich in weiten Teilen der Literatur und Praxis eingebürgert hat.

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Kapitel I: Heimerziehung

Rechtsanspruch auf die jeweilige Hilfe beim Personensorgeberechtigten und nicht bei den

Kindern selbst (vgl. BÜRGER 2001, S.643).4

1.2 Was ist Heimerziehung?

Heimerziehung gilt als die älteste Form gesellschaftlich organisierter Kinder- und Jugend-

fürsorge, deren Wurzeln zurück bis zu den Findel- und Waisenhäusern des Mittelalters

reichen (vgl. BÜRGER 2001, S.632). Der Begriff ‚Heimerziehung’ ist hinsichtlich seiner Aus-

sagekraft in der aktuellen Diskussion um Erziehungshilfen und seiner inhaltlichen Ausdif-

ferenzierung nur noch beschränkt tauglich, die Heimerziehung gibt es nicht (vgl. HAMBER-

GER 1998a, S.37). HAMBERGER bezieht sich auf MÜNSTERMANN (1990), der vorschlägt,

Heimerziehung als einen „konzeptionellen Begriff“ zu betrachten und sie somit losgelöst

von allen institutionellen Aspekten wie Größe, Lage, Arbeitszeitregelung, Mitarbeiterstruk-

tur etc. unter pädagogisch-konzeptionellen Gesichtspunkten zu definieren:

„Heimerziehung meint

a) ’daß Kinder und Jugendliche mit einer als defizitär definierten Sozialisation – also mit

einer bestimmten Biographie – an einem anderen Ort als in der Ursprungsfamilie zeit-

weilig oder langfristig erzogen werden sollen und diese Erziehung aus organisatori-

schen oder pädagogischen Gründen im Kontext der Betreuung mehrerer Kinder und

Jugendlicher geschehen soll;

b) daß mehr als eine professionelle Betreuungsperson (.....) mit einem sozialpädagogi-

schen Auftrag zur Erziehung von Kindern zur Verfügung steht’“ (MÜNSTERMANN 1990,

S.24, zit. n. HAMBERGER 1998a, S.37).

Der Begriff ‚Heimerziehung’ umschreibt also ein sozialpädagogisches Arrangement, in

dem es um die Ausgestaltung eines Rahmens geht, der als ‚gesellschaftliche Erziehung’

charakterisiert werden kann (vgl. MÜNSTERMANN 1989, S.70). In diesem konzeptionellen

Rahmen finden sich die unterschiedlichsten Betreuungskonzepte wieder (vgl. HAMBERGER

1998a, S.37). In der Folge der Heimerziehungsreform in den 70er und 80er Jahren ent-

standen vielfältige Angebotsformen neben der traditionellen Heimerziehungspraxis mit

dem Ziel, weniger in die Lebensverhältnisse der Kinder einzugreifen und eine angemes-

sene, individuelle Hilfe zu arrangieren (vgl. a.a.O, S.34). Heimerziehung umfasst eine

Vielzahl unterschiedlicher Lebensorte, die – um einige zu nennen – von größeren Einrich-

tungen mit mehreren Gruppen, heilpädagogischen und therapeutischen Heimen,

Kleinsteinrichtungen, Einrichtungen mit Schichtbetrieb über Einrichtungen mit kontinuierli-

4 „Ausnahmen davon sind Hilfen nach § 34, die in Verbindung mit § 41 KJHG für junge Volljährige oder in Verbindung mit § 35a KJHG als Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gewährt werden und bei denen jeweils der junge Mensch selber Träger des Rechtsanspruches ist“ (BÜRGER 2001, S. 643f.).

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Kapitel I: Heimerziehung

cher Betreuung in familienähnlichen Lebensformen reichen (vgl. MÜNDER et al. 2003,

S.320). In § 34 KJHG werden gleichrangig neben der institutionalisierten Betreuungsvari-

ante (‚Einrichtung’) sonstige betreute Wohnformen aufgeführt, wozu beispielsweise famili-

enähnliche Betreuungsangebote, Wohngemeinschaften, Jugendwohnen, aber auch For-

men des betreuten Einzelwohnens zählen (vgl. a.a.O, S.320). Die verschiedenartigen

Betreuungsangebote können jeweils als spezifisches sozialpädagogisches Feld mit unter-

schiedlichen pädagogischen Konzeptionen betrachtet werden (vgl. FREIGANG/WOLF 2001,

S.9). Vor allem der organisatorische Rahmen der unterschiedlichen Settings setzt Bedin-

gungen, die die Gestalt des Lebens- und Lernfeldes stark beeinflussen. In unterschiedli-

chen Heimerziehungsarrangements leben und entwickeln sich Kinder, arbeiten Pädago-

gen auf jeweils spezifische Art. Weitere Einflussfaktoren sind beispielsweise das Wirken

der Erzieherpersönlichkeiten, das gesellschaftliche Umfeld, die anderen Kinder (vgl.

a.a.O., S.9f.).

Wenn ich im Folgenden von Heimerziehung spreche, sind damit in Anlehnung an HAM-

BERGER (1998b) alle möglichen und in der Praxis vorfindbaren Betreuungskonzepte, die

das Prinzip der institutionellen Betreuung an einem anderen Ort als der Herkunftsfamilie

über Tag und Nacht verbindet (vgl. a.a.O., S.200) und die über Tagespflegesätze finan-

ziert werden, gemeint. Im Rahmen dieser Arbeit soll nicht das gesamte Spektrum von

Heimerziehungsformen aufgezeigt und mit sämtlichen Vor- und Nachteilen diskutiert wer-

den.5 Ich werde mich auf eine kurze Darstellung der für den empirischen Teil relevanten

pädagogischen Settings beschränken, die eher den Anspruch eines groben Überblickes

zum Verständnis der Arbeit, als den auf Vollständigkeit hat.

Merkmale des Lebensfeldes ‚Großheim’

Hier leben zwischen 30 und 100 Kinder auf einem Gelände. Vielfach bestehen Großheime

aus mehreren Wohnhäusern, in denen einzelne Gruppen untergebracht sind. Die Grup-

pen haben meist zwischen acht und zehn Mitglieder, die von drei bis fünf Mitarbeitern im

Schichtdienst betreut werden (vgl. FREIGANG/WOLF 2001, S.60). Großheime haben häufig

weitgehende (zentrale) Versorgungssysteme – z.B. zentrale Hauswirtschaft –, worunter

das Selbständigwerden der jungen Menschen leidet, da notwendige lebensrealistische

Erfahrungen gemindert werden (vgl. GÜNDER 1985, S.39). Durch die Verortung einer zent-

ralen Verwaltung auf dem Heimgelände bleibt das Geschehen in den einzelnen Gruppen

für die Heimleitung und den Träger weitgehend transparent. Auch personelle Ressourcen

5 Eine Auswahl von Heimerziehungsarrangements wird in dem Buch „Heimerziehungsprofile“ von FREIGANG und WOLF (2001) ausführlich dargestellt und diskutiert.

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Kapitel I: Heimerziehung

sind eher steuerbar, als in Heimen mit nur einer Gruppe (vgl. FREIGANG/WOLF 2001,

S.85).

Als Begründung für die Unterbringung von Kindern in Großheimen wird vielfach angeführt,

dass der Rahmen einer Großeinrichtung mit seiner gewissen Unverbindlichkeit besonders

für Kinder, die keine familienähnlich gestalteten Bindungen mehr eingehen wollen oder

können, eine Entlastung und einen Schonraum bieten könnte. Damit wird jedoch unter

Umständen in Kauf genommen, dass diese Einrichtungen auf einen bestimmten Typ von

Kindern spezialisiert werden, was sich nachteilig auswirken kann (vgl. a.a.O., S.87f.).

GÜNDER (1985) weist beispielsweise darauf hin, dass die Gefahr der Potenzierung von

Problemen dadurch wachsen kann, dass vermehrt Kinder mit ähnlichen ‚schwierigen’

Verhaltensweisen auf einem Heimgelände untergebracht sind. Dies wirkt sich dann nicht

nur innerhalb des Heimes aus, Kinder aus größeren Einrichtungen sind somit auch eher

Stigmatisierungsprozessen von außerhalb ausgesetzt (vgl. a.a.O., S.39).

Je ähnlicher die einzelnen Gruppen konstruiert sind, „desto größer ist der Druck auf die

Institution und ihre Vertreter, […]6 die Gleichheit der Bedingungen für alle Kinder und Ju-

gendlichen und alle Mitarbeiterinnen sicherzustellen“ (FREIGANG/WOLF 2001, S.85). Die

Folge können enge Reglementierungen und Heimordnungen sein. Die heimabhängigen

Reglementierungsmechanismen sind nicht aus den Bedürfnissen, den Eigenarten, der

Rücksichtsnahme und den Vorlieben einer kleinen Gruppe – wie dies z.B. bei einer Fami-

lie der Fall wäre – entstanden. Ordnungen sind nicht entstanden, weil primär pädagogi-

sche Aspekte für den einzelnen eine Rolle spielen, sondern weil ohne sie die gesamte

Organisation und der reibungslose Ablauf gefährdet würden. Die Folge kann schlichte

Unterwerfung und bloße Anpassung der Kinder an die Regeln sein (vgl. GÜNDER 1985,

S.39f.).

Diese Nivellierung und prinzipielle Austauschbarkeit von Kindern und Mitarbeitern wirken

sich zwar auf der Ebene des Trägers und der Leitung des Heimes entlastend aus, wider-

sprechen aber gleichzeitig dem Bedürfnis der Kinder, als einzigartig wahrgenommen und

anerkannt zu werden (vgl. FREIGANG/WOLF 2001, S.85). Das Problem der Nivellierung

lässt sich abmildern, indem Unterschiede zwischen den Gruppen gefördert und Verschie-

denheit kultiviert wird (vgl. a.a.O., S.86).

Die Kinder nehmen die zentralen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung häufig positiv wahr.

So ist es weniger langweilig, man lernt andere Kinder kennen, die in den Nachbargruppen

leben. Dieser aus der Sicht der Kinder positive Aspekt bringt allerdings auch mit sich,

dass die Integration in die Welt außerhalb des Heimes für die Heimbewohner damit weni-

ger notwendig wird (vgl. a.a.O., S.73).

6 Auslassungen in Zitaten werde ich durch eckige Klammern kennzeichnen: eckige Klammern mit einem Punkt [.] geben die Auslassung eines Wortes an, bei mehreren Worten werde ich eckige Klammern mit drei Punkten […] verwenden.

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Kapitel I: Heimerziehung

Merkmale des Lebensfeldes ‚Außenwohngruppe’

7Außenwohngruppen entstanden im Zuge der Dezentralisierung von Großheimen, die vor

allem durch die Kritik an der Anstaltserziehung ausgelöst wurde. Gruppen wurden aus

den zentralen Heimgeländen in Einfamilienhäuser oder Wohnungen ausgelagert. So kön-

nen Außenwohngruppen relativ unauffällig in ein normales Wohnumfeld integriert werden

(vgl. GÜNDER 2000, S.68f.). Bei Außenwohngruppen handelt es sich nicht um völlig unab-

hängige Einrichtungen. Sie bleiben organisatorisch und rechtlich Teil übergeordneter Ein-

richtungen, die mehrere Gruppen umfassen (vgl. FREIGANG/WOLF 2001, S.89).8 Die

Betreuung findet im Schichtdienst – abhängig von der Gruppengröße – durch ca. drei bis

fünf pädagogische Mitarbeiter statt (vgl. a.a.O., S.90). Ein wichtiges Prinzip der Außen-

wohngruppe stellt die Selbstversorgung dar. Das bedeutet, dass hauswirtschaftliche Tä-

tigkeiten, wie Wäsche waschen und Kochen, nicht durch zentrale Versorgungseinrichtun-

gen übernommen werden, sondern innerhalb der Gruppe stattfinden (vgl. GÜNDER 2000,

S.69). Inwieweit die Kinder hier einbezogen werden und sich somit Lernmöglichkeiten

eröffnen, ist abhängig von der Praxis der einzelnen Wohngruppen (vgl. FREIGANG/WOLF

2001, S.90f.).

Kinder, die nicht bei ihren Eltern leben, entsprechen nicht den gesellschaftlichen Normali-

tätsvorstellungen und unterliegen somit auch immer einem gewissen Maß an Stigmatisie-

rung. Dadurch, dass in Außenwohngruppen eine übersichtliche Zahl von Kindern in einem

gewöhnlichen Haus lebt, die Lebensbedingungen also denen anderer Kinder ähnlicher

sind, kann die Gefahr der Stigmatisierung gemindert werden. Es wird möglich, dass bei-

spielsweise die Nachbarn nicht mehr die ‚Gruppe der Heimkinder’, sondern einzelne Kin-

der wahrnehmen und unterscheiden. Damit geht im günstigen Fall einher, dass z.B. Prob-

leme und Ärgernisse nicht allen, sondern nur einzelnen Kindern zugeschrieben werden

(vgl. a.a.O., S.91).

Der Druck zur Nivellierung der Kinder kann in Außenwohngruppen aufgehoben oder zu-

mindest verringert sein. Hier ist es möglich, dass jede Gruppe spezifische Regeln hat, die

flexibler an die individuellen Bedürfnisse der Kinder angepasst werden können. Dieser

Aspekt ist allerdings abhängig von der jeweiligen Gruppengröße – je größer die Gruppe,

desto größer ist die Gefahr der Nivellierung – sowie den Überzeugungen einzelner Mitar-

beiter (vgl. a.a.O., S.92).

7 „Unter Dezentralisierung wird in der Heimerziehung sowohl die Verlagerung von Gruppen in Häuser außer-halb eines zentralen Heimgeländes – gelegentlich auch nur die Auflösung zentraler Versorgungseinrichtungen und die Bildung von abgeschlossenen Wohneinheiten auf einem zentralen Gelände – als auch ein umfassen-der Prozess der räumlichen Zersiedelung und Verlagerung von Kompetenzen auf die Mitarbeiter der kleineren Einheiten verstanden.“ (WOLF 1995, S. 14 zit. n. FREIGANG/WOLF 2001, S. 89) 8 Die Aspekte und Auswirkungen der Anbindung an zentrale Einrichtungen werden im Folgenden aufgrund ihrer Irrelevanz für das Verständnis des empirischen Teils nicht ausgeführt.

12

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Kapitel I: Heimerziehung

Auch in Außenwohngruppen bleiben Merkmale klassischer Heimerziehung bestehen: „das

Zusammenleben in einer großen Gruppe mit anderen und zunächst fremden Kindern, die

Betreuung im Schichtdienst und die Wirkung vieler Organisationsmerkmale, die z.B. das

Gefühl der Einzigartigkeit beeinträchtigen können“ (a.a.O., S.102).

1.3 Anlässe und Ziele von Heimerziehung

Wann werden Kinder außerhalb ihrer Ursprungsfamilie in einem Heim untergebracht?

Ich werde nie eine Szene vergessen, die ich vor einigen Jahren in einer Fußgängerzone

beobachtet habe: Da standen eine Mutter und ein Kind, das weinte und am Arm der Mut-

ter zog. Die Mutter schimpfte: „Du weißt, was Herr X gesagt hat. Wenn du dich nicht be-

nimmst, kommst du in ein Heim.“ Heimunterbringung als Strafe für aufsässige Kinder?

Anlässe für Heimerziehung

In § 27 KJHG wird der Anspruch der Personensorgeberechtigten auf Hilfe zur Erziehung –

was die Heimerziehung einschließt – daran geknüpft, dass „eine dem Wohl des Kindes

oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist“ (§ 27 KJHG Abs.

1). Dadurch wird der Blick weg von eventuellen Verhaltensauffälligkeiten und Störungen

des Kindes hin zu den Bedingungen, unter denen es aufwächst, das soziale Umfeld und

die hier problemverursachenden Faktoren gelenkt (vgl. MÜNDER et al. 2003, S.269f.).

Ausschlaggebend für die Entscheidung der Heimunterbringung sollten also nicht spezifi-

sche Merkmale des Kindes sein, sondern der Wille der betroffenen Familie oder aber

Merkmale, die die Lebenssituation des Kindes kennzeichnen und nicht seine Persönlich-

keit oder sein Verhalten (vgl. FREIGANG 1999, S.689). Zusätzlich ist die Gewährung der

Hilfe damit verbunden, dass ein „Angebot der erzieherischen Hilfe für die Entwicklung des

Kindes/Jugendlichen ’geeignet und notwendig’ ist (§ 27 Abs. 1)“ (MÜNDER et al. 2003,

S.270). Somit schließt § 27 KJHG die Anordnung von Heimerziehung als Strafe aus. Die

Begriffe ‚Kindeswohl’ sowie ‚notwendige und geeignete Hilfe’ lassen allerdings einen brei-

ten Interpretationsspielraum für die an der Entscheidung beteiligten Institutionen und Per-

sonen (vgl. FREIGANG/WOLF 2001, S.14). Es existieren keine einheitlichen Festlegungen,

Richtlinien oder Gesetze, die bestimmen, wer in einem Heim untergebracht werden soll,

wer bei seinen Eltern bleiben darf bzw. muss oder wer aus welchen Gründen in welche

Art von Einrichtung kommt. Es ist von subjektiven Einschätzungen abhängig, was für El-

tern nicht mehr zu ertragen ist, was man Kindern nicht mehr zumuten kann, was die Ge-

sellschaft und ihre mit der Jugendhilfe beauftragten Institutionen (z.B. Jugendämter) in

13

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Kapitel I: Heimerziehung

Familien oder bei Kindern tolerieren (vgl. a.a.O., S.14f.). Es gibt unterschiedliche Gründe,

aus denen Kinder vorübergehend oder auf längere Sicht in Heimen statt bei ihrer Her-

kunftsfamilie leben (vgl. GÜNDER 2000, S.28). BLANDOW (2001) weist darauf hin, dass

Entscheidungen durch bestimmte Traditionen und Normalitätsvorstellungen, bestimmte

Annahmen über Bedürfnisse von Kindern, über die Verpflichtungen von Eltern und über

die sozialisatorische Wirkung einzelner Hilfeformen beeinflusst werden. Zu einer bestimm-

ten Zeit werden also bestimmte Entscheidungen eher getroffen, als andere (vgl. a.a.O.,

S.104). Wer in einem Heim lebt und welche Gründe zur Heimunterbringung führen, ist

demnach auch immer abhängig von gesellschaftlichen Definitionsprozessen, die einem

zeitlichen Wandel unterliegen sowie von den subjektiven Vorstellungen der an den Ent-

scheidung beteiligten Personen.

Die Erziehung in einem Heim ist – wie andere Formen der Hilfen zur Erziehung auch – als

Leistungsangebot für Familien und Kinder in schwierigen Lebenssituationen zu verstehen

(vgl. MÜNDER et al. 2003, S.270) und reagiert auf sehr unterschiedliche Problemlagen von

Kindern (vgl. a.a.O., S.324), die gesellschaftlich, individuell und/oder familiär begründet

sein können (vgl. GÜNDER 2000, S.31). „Dies kann Schutz und Versorgung, Familiener-

satz oder Gestaltung jugendspezifischer Lebenswelten (Verselbstständigung) beinhalten,

kann auf kurze oder lange Zeit bezogen sein, intensive sozial- und heilpädagogische

Betreuung zur Kompensation von Sozialisationsdefiziten einschließen (pädagogisch-

therapeutischer Umgang mit sozial nicht akzeptierten Verhaltensweisen Minderjähriger

bzw. auch von diesen selbst so erlebten Problemen in der Alltagsbewältigung). Die Sym-

ptome können im Schulversagen, in nicht gelingender Integration in Ausbildungs- und

Arbeitsstrukturen, im partiellen bis massiven Rückzug aus sozialen Kontakten und in psy-

chosozialen Störungen liegen“ (MÜNDER et al. 2003, S.324).

Eine Hilfe durch Heimerziehung kommt insgesamt dann in Frage, wenn sich im Zuge der

Hilfeplanung herausstellt, dass die familiäre Situation und die vorhandenen Ressourcen

nicht ausreichen um dem Kind einen zuverlässigen Lebensort und Orientierungsrahmen

zu bieten (vgl. BÜRGER 2001, S.652). Die Entscheidung, was im Einzelfall die ‚richtige’

Hilfe ist, muss also an den jeweils gegebenen Lebensverhältnissen und vorhandenen

Ressourcen ausgerichtet werden. Dies erfordert sowohl auf Seiten der Fachkräfte des

Jugendamtes, als auch auf der der Heimeinrichtungen ein hohes Maß an Professionalität

und Verantwortung (vgl. HAMBERGER 1998a, S.41).

14

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Kapitel I: Heimerziehung

Aufgaben und Ziele der Heimerziehung

Da die Unterbringung in Heimen aufgrund sehr unterschiedlicher Problemlagen von Kin-

dern und deren Familien erfolgt, lassen sich nur schwer konkrete Aufgaben und Ziele von

Heimerziehung festlegen. Den Ausgangspunkt bieten die individuellen Probleme, Bedürf-

nisse und die Belastbarkeit der Kinder (vgl. z.B. GÜNDER 1989, S.18; THIERSCH, zit. n.

PIES/SCHRAPPER 2002, S.449).

Wie bereits erwähnt, können Heimerziehung und sonstige betreute Wohnformen Kindern

eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten.

Hierbei sollen ihre wachsenden Fähigkeiten und Bedürfnisse zu selbstständigem verant-

wortungsbewusstem Handeln und ihre Beziehung zur Herkunftsfamilie berücksichtigt

werden (vgl. MÜNDER et al. 2003, S.323). In § 34 KJHG werden folgende Zielsetzungen

benannt:

• die Förderung der Rückkehr in die Familie,

• die Vorbereitung der Erziehung in einer anderen Familie,

• das Angebot einer auf längere Zeit angelegten Lebensform,

• die Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben (vgl. MÜNDER et al. 2003, S.323).

Weitere Funktionen können die Krisenintervention und Aufnahme in Notsituationen (vgl. §

42 KJHG) sein – „sei es auf Wunsch des Kindes oder Jugendlichen selbst, sei es, weil

hierdurch eine sozialpädagogische Schutzfunktion ausgeübt wird“ (a.a.O., S.323).

Zum einen soll Heimerziehung Kindern einen alternativen Lebensort zur Verfügung stellen

(vgl. HAMBERGER 1998b, S.200), an dem ihre Grundbedürfnisse befriedigt werden. ‚Le-

bensort’ meint jedoch mehr als ein Dach über dem Kopf und 3 Mahlzeiten am Tag. Heim-

erziehung ist immer auch verbunden mit einem zu gestaltenden Sozialisationsprozess

(vgl. FREIGANG/WOLF 2001, S.15). Sie muss den Ansprüchen, die sich aus der Vorge-

schichte der Betroffenen stellen, gerecht werden (vgl. Freigang 1986, S.29). Auch prob-

lematische Verhaltensweisen müssen im biographischen Kontext dechiffriert und verstan-

den werden. Es müssen Lernprozesse und –felder arrangiert werden, durch die den Kin-

dern gelingende Bewältigungsstrategien und Perspektiven vermittelt werden können (vgl.

BÜRGER 2001, S.657). Dies gelingt unter Umständen erst dadurch, dass eine Distanz und

Entlastung von Beziehungen und Aufgaben hergestellt wird, in und an denen Heranwach-

sende gescheitert sind (vgl. THIERSCH, zit. n. PIES/SCHRAPPER 2002, S.449). Eine weitere

Aufgabe besteht darin, Kinder bei der Entwicklung von Zukunftsperspektiven sowie der

Selbstbewusstseins- und Identitätsausbildung zu unterstützen (vgl. MÜNSTERMANN 1990,

S.129).

Bewegt man sich von den pädagogischen Aufgabenstellungen und Zielsetzungen weg zu

den gesellschaftlichen Erwartungen an Heimerziehung, sieht sich die Heimerziehung

15

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Kapitel I: Heimerziehung

auch heute noch im Spannungsfeld zwischen Hilfe und sozialer Kontrolle. Trotz des Sozi-

alleistungsgedankens des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ist der historisch offenkundige

Kontrollcharakter von Heimerziehung sowohl in der Wahrnehmung der Betroffenen wie in

ihrer gesellschaftlichen Funktion noch nicht abschließend überwunden (vgl. BÜRGER

2001, S.656). So ist es möglich, dass Heimerziehung von den Kindern primär als Sankti-

onsmaßnahme erlebt wird, dass Heimerziehung als feindselige Institution zur Abschre-

ckung, Bestrafung, Umerziehung und Besserung von Kindern und/oder ihren Familien

dient (vgl. WOLF 2002a, S.637).

„Der Verweis auf diese Ambivalenz ruft im Übrigen auch in Erinnerung, dass Sozialpäda-

gogik häufig mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, die an den – im Wortsinne – herr-

schenden Normen um den Preis ihrer dauerhaften sozialen Ausgrenzung zu scheitern

drohen, und für die diese Hilfe deshalb nicht nur die Auseinandersetzung mit und die Ges-

taltungsmöglichkeit von Normen, sondern gleichermaßen auch deren Vermittlung zum

Gegenstand haben muss. Das Verstehen auch problematischer Verhaltensweisen im bio-

graphischen Kontext und die Gestaltung von Lernprozessen in der gemeinsamen Suche

nach gelingenderen Bewältigungsstrategien sind ohne das Wissen um die oftmals zumin-

dest latent ambivalente Einstellung der Adressaten gegenüber der Hilfe im Heim nicht

möglich“ (BÜRGER 2001, S.657).

Zusammenfassend lässt sich sagen: „Bei der Unterbringung im Heim […] ist das Grund-

prinzip der Intervention offensichtlich: Kinder oder Jugendliche erhalten einen anderen

und neuen Lebensort. Dieser kann und muss sich dadurch sozialpädagogische Legitima-

tion verschaffen, dass die Kinder hier neue und konstruktive Lebenserfahrungen machen

können, von unangemessenen Belastungen befreit werden und sie so neue Entwick-

lungsmöglichkeiten gewinnen“ (WOLF 2002a, S.639). „Letztlich muß sich die Heimerzie-

hung daran messen lassen, inwieweit es ihr gelingt, objektiv und subjektiv die Lebensbe-

dingungen der betreuten Kinder zu verbessern, die Lebenserfahrungen aufzugreifen und

nicht zu negieren und die Kinder auf ihr Leben als Erwachsene durch die Lebensbedin-

gungen im Heim und die Inhalte und Ziele der Erziehung angemessen vorzubereiten“

(WOLF 1993, S.13 zit. n. HAMBERGER 1998a, S.48).

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass die individuellen Ziele von Heimerzie-

hung nicht statisch sind, sondern die Ausgestaltung der Hilfe und deren Zielsetzungen

ständig überprüft und gegebenenfalls neu an die Entwicklung und Bedürfnisse der Kinder

angepasst werden müssen. § 36 KJHG (Mitwirkung, Hilfeplan) legt fest, dass dies in re-

gelmäßigen Abständen durch das Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte sowie durch die

Beteiligung der Kinder und deren Personensorgeberechtigten erfolgen soll. Die Ausgestal-

16

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Kapitel I: Heimerziehung

tung des individuellen Hilfeprozesses soll durch die Aufstellung eines Hilfeplans konkreti-

siert und festgehalten werden (vgl. MÜNDER et al. 2003, S.344ff.).

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Kapitel I: Kinder- und Jugendpsychiatrie

2. Kinder- und Jugendpsychiatrie

Im Folgenden werde ich mich mit der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie beschäfti-

gen. Als stationäre Einrichtung ist sie Teil des medizinischen Fachgebietes ‚Kinder- und

Jugendpsychiatrie und –psychotherapie’, dessen Aufgaben und Strukturen ich zunächst

kurz beschreiben möchte. In einem nächsten Punkt werde ich die organisatorischen

Strukturen kinder- und jugendpsychiatrischer Kliniken vorstellen und eine Arbeitsdefinition

vornehmen. Abschließend werde ich auf die Indikationen für eine stationäre kinder- und

jugendpsychiatrische Unterbringung und deren mögliche Zielsetzungen eingehen.

2.1 Das medizinische Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie

Das Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie ist historisch ge-

sehen ein junges medizinisches Gebiet, das in Deutschland erst seit 1968 als selbststän-

dige Facharztdisziplin gilt (vgl. z.B. FLOSDORF/SCHMIDT 1989, S.203; KLOSINSKI 2003,

S.11). Die Bundesärztekammer definiert das Aufgabengebiet wie folgt:

„Die Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie umfasst die Erkennung, nicht-

operative Behandlung, Prävention und Rehabilitation bei psychischen, psychosomati-

schen, entwicklungsbedingten und neurologischen Erkrankungen und Störungen sowie

bei psychischen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter“

(BUNDESÄRZTEKAMMER 1992 zit. n. LEHMKUHL/WARNKE 2003, S.1). Dies beinhaltet, dass

sich der Kinder- und Jugendpsychiater mit einem breiten Spektrum von Erkrankungen bei

Kindern befasst (vgl. REMSCHMIDT 2002, S.549).9

Als medizinisches Fachgebiet ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie

mit ihren Aufgaben Teil des Gesundheitswesens und eng verknüpft mit den Disziplinen

Psychiatrie, Kinderheilkunde, Neurologie, Sonderpädagogik, der klinischen Psychologie

und dem System der Jugendhilfe. Die organisatorischen Strukturen umfassen sowohl

ambulante, als auch teilstationäre und stationäre Einrichtungen (vgl. LEHMKUHL/WARNKE

2003, S.1), wobei der Schwerpunkt heute bei der ambulanten Behandlung liegt (vgl.

REMSCHMIDT 2002, S.549).

9 Auf einzelne Krankheitsbilder einzugehen, würde im Rahmen dieser Arbeit zu weit gehen und ist für das Verständnis nicht relevant. Eine Übersicht über die Störungsbilder im Kindes- und Jugendalter findet sich beispielsweise in dem Buch „Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in der Bundesrepublik Deutschland“ von LEHMKUHL und WARNKE (1990, S. 13ff.).

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Kapitel I: Kinder- und Jugendpsychiatrie

Der multimodale Ansatz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Dadurch, dass davon ausgegangen werden kann, dass psychische Störungen und Er-

krankungen bei Kindern multifaktoriell bedingt sind, ist in der Therapie und Rehabilitation

ein mehrdimensionales Vorgehen begründet (vgl. REMSCHMIDT 2002, S.550). Die ver-

schiedenartigen Behandlungsmaßnahmen beziehen sich im Allgemeinen auf die körperli-

che, psychische und sozio-ökologische Ebene. Hierzu zählen die Psychotherapie, die

Psychopharmakotherapie, heilpädagogische Behandlungen, andere Übungsbehandlun-

gen wie Ergotherapie, Musiktherapie und Physiotherapie sowie schulische, sozialthera-

peutische und sozialpädagogische Hilfestellungen und andere Maßnahmen der Sozial-

und Jugendhilfe (vgl. FEGERT/LIBAL 2004, S.227).

Kinder- und jugendpsychiatrische Arbeit muss sich am Entwicklungsstand des Kindes

sowie an den Ressourcen der Familie orientieren. Ziel kann nicht immer primär die Hei-

lung oder Symptomfreiheit sein, sondern liegt auch darin, Kindern und ihren Familien bei

der Entwicklung von Lösungen und Akzeptanz von Problemen zu unterstützen, um so

heilende Prozesse zu initiieren (vgl. a.a.O., S.228). In die Therapie-, Rehabilitations- und

Präventionsmaßnahmen werden zunehmend Aspekte des sozialen Umfelds integriert

(vgl. REMSCHMIDT 2002, S.550).

2.2 Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Die stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung erfolgt schwerpunktmäßig

entweder in eigenständigen Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychothera-

pie, in Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Allgemein-

krankenhäusern und Kinderkliniken oder in Universitätskliniken (vgl. LEHMKUHL/WARNKE

2003, S.48f.).

Kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken werden durch einen Chefarzt – der Facharzt für

Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie sein muss – geleitet. Dieser steht

einem interdisziplinären Team vor und trägt die fachliche und inhaltliche Verantwortung

für das diagnostische und therapeutische Konzept der Klinik und die am Patienten geleis-

tete Arbeit. Neben Ärzten sind Psychologen, Ergotherapeuten, Bewegungstherapeuten,

Sozialarbeiter, Logopäden, Krankenpflegepersonal und Pädagogen Teil des Klinikteams.

Der Klinik ist eine Schule angeschlossen oder anderweitig assoziiert (vgl. BRÜNGER

2004a, S.357f.). Neben der Sicherung der kontinuierlichen Unterrichtung von Patienten

kommt ihr eine Bedeutung im Rahmen der Diagnostik und Wiedereingliederung der Kin-

der zu (vgl. LEHMKUHL/WARNKE 2003, S.54).

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Kapitel I: Kinder- und Jugendpsychiatrie

Es wird empfohlen, dass für eine vollstationäre Klinik mindestens 30 Betten verfügbar sein

sollten, um eine hinreichend differenzierte Personalstruktur und diagnostisch-

therapeutische Ausstattung, die finanziell tragfähig ist, sicherzustellen (vgl. a.a.O., S.54).

Eine angemessene und individuelle Betreuung soll durch die in der Psychiatriepersonal-

verordnung10 festgelegte Stationsgröße von zehn Patienten mit Behandlungsgruppen von

fünf Patienten gesichert werden (vgl. FEGERT/LIBAL 2004, S.236). Diese Stationen können

in ihrer Konzeption alters- und störungsbezogen sein, seltener sind sie familienähnlich

und altersgemischt strukturiert (vgl. BRÜNGER 2004a, S.357). „Die Stationskonzepte sind

geprägt von der therapeutischen Ausrichtung der Klinik, verhaltenstherapeutische, famili-

entherapeutische und tiefenpsychologische Konzepte sind vorwiegend anzutreffen. An-

sprechpartner der Kinder und Jugendlichen im Tagesablauf und bei der Alltagsgestaltung

sind das Krankenpflegepersonal und die pädagogischen Mitarbeiter. Therapeuten [...]

widmen sich in der Regel im Rahmen gezielter und vereinbarter Einzel- oder Gruppen-

termine den Patienten und ihren Eltern oder Angehörigen. Sie haben darüber hinaus oft

koordinierende Funktionen im Team“ (BRÜNGER 2004a, S.357f.).

Die stationäre Unterbringung kann als Krankenhausbehandlung im Sinne des § 39 Abs. 1

SGB V11 durch die Krankenkassen finanziert werden. Stationäre Behandlungen können

aber auch als Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach § 39 BSHG12 (jetzt § 53 SGB

XII13) oder § 35a KJHG eingestuft und somit finanziell durch die Sozial- bzw. Jugendhilfe

erstattet werden (vgl. FEGERT/LIBAL 2004, S.236f.).

Wenn ich im Folgenden den Begriff ‚Kinder- und Jugendpsychiatrie’ verwende, ist damit

die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie gemeint, nicht das me-

dizinische Fachgebiet, da Übergänge zwischen Heimerziehung und der stationären Ebe-

ne der Kinder- und Jugendpsychiatrie untersucht werden.

2.3 Anlässe und Ziele der kinder- und jugendpsychiatrischen Unter-bringung

Ähnlich wie bei der Unterbringung im Heim kann man sich auch hier fragen, warum Kinder

in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen werden. Und ähnlich wie dort habe ich

10 „Zwischen den Trägern der psychiatrischen Krankenhäusern und den Kostenträgern der Krankenhausbe-handlung entstand unter Vermittlung einer Arbeitsgruppe des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialord-nung 1989 die Psychiatriepersonalverordnung (PsychPV), die sowohl für die Psychiatrie des Erwachsenenal-ters als auch für die Kinder- und Jugendpsychiatrie erstmalig Anhaltszahlen für die Personalbemessung in den Kliniken mit Versorgungsverpflichtung entwickelte“ (BRÜNGER 2004b, S. 391). 11 Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung 12 Bundessozialhilfegesetz 13 Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch – Sozialhilfe

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Kapitel I: Kinder- und Jugendpsychiatrie

auch hier einige Szenen vor Augen, die ich erlebt habe: Da steht z.B. ein Pädagoge vor

einem Kind in einer Heimeinrichtung und sagt: „Das ist jetzt deine letzte Chance. Wenn du

dein Verhalten nicht änderst, müssen wir dich in die Psychiatrie bringen.“ Kinder- und Ju-

gendpsychiatrie als Strafe für aufsässige Kinder?

Anlässe für eine stationäre Behandlung

Kinder werden bei einer stationären Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

vollzeitig – d.h. über Tag und Nacht – aufgenommen (vgl. FEGERT/LIBAL 2004, S.234).

„Die Aufnahme […] erfolgt durch die ärztliche ’Verordnung von stationärer Krankenhaus-

pflege’, häufig Einweisung genannt. Grundlage der Verordnung ist die Feststellung eines

Arztes, dass im konkreten Einzelfall Diagnostik und Therapie nicht ambulant oder teilstati-

onär erbracht werden können. […] Die aufnehmende Klinik ist verpflichtet, die Notwendig-

keit der Aufnahme eigenständig zu überprüfen und dies gegenüber den Kostenträgern –

in aller Regel die (gesetzlichen) Krankenkassen – zu begründen. Eine Zuweisung zur kin-

der- und jugendpsychiatrischen Klinik erfolgt allerdings häufig durch nicht-ärztliche Stel-

len: Schulen, Erziehungsberatungsstellen und die Jugendhilfe sind neben den Ärzten we-

sentliche zuweisende Stellen. Rechtlich verbindlich wird ein Auftrag zur Diagnostik und

Therapie durch einen Vertrag zwischen Eltern/Sorgeberechtigten und der Klinik“ (BRÜN-

GER 2004a, S.356). Da die stationäre Behandlung mit einer psychischen Belastung, gro-

ßem organisatorischen und finanziellen Aufwand sowie der Herauslösung des Kindes aus

seinem gewohnten Umfeld (Familie, Freunde, Schule) verbunden ist, ist die Aufenthalts-

dauer möglichst kurz zu halten (vgl. FEGERT/LIBAL 2004, S.234).

FEGERT und LIBAL (2004) beziehen sich auf HERSOV (1994), der dann eine stationäre kin-

der- und jugendpsychiatrische und psychotherapeutische Behandlung für angebracht hält,

• „wenn Denkstörungen, affektive Störungen oder Verhaltensstörungen so weitgehend

ausgeprägt sind, dass eine ambulante Behandlung unmöglich ist oder eine Selbst-

oder Fremdgefährdung besteht.

• Darüber hinaus hält er es im Gegensatz zu einer bloßen Verwahrung für erforderlich,

dass eine realistische Hoffnung besteht, dem Kind oder Jugendlichen in seiner Prob-

lemlage durch die stationäre Behandlung zu helfen.

• Wenn ein Kind ein so weitgehendes, sozial nicht akzeptables Verhalten zeigt, dass es

nicht in seiner bisherigen Umgebung, auch nicht mit Unterstützung, belassen werden

kann.

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Kapitel I: Kinder- und Jugendpsychiatrie

• Wenn eine schwierige psychiatrische Problematik fachkundige Beobachtung und inte-

grative spezialisierte Diagnostik etc. notwendig macht.

• Wenn die Familieninteraktion so verzerrt ist, dass ein Verbleiben im elterlichen Haus-

halt zu fortdauernden, zunehmenden Beeinträchtigungen der kindlichen Entwicklung

führt.

• Wenn eine lebensbedrohliche Erkrankung, wie die Magersucht, komplizierte Asthma-

verläufe oder Depressionen mit Suizidimpulsen, eine stationäre Behandlung erforder-

lich machen.

• Wenn es notwendig ist, im Rahmen diagnostischer Probleme eine ausführliche und

kontinuierliche Verhaltensbeobachtung mit medizinischer Diagnostik zu kombinieren,

z.B. bei der Differentialdiagnose von epileptischen und pseudoepileptischen Anfällen.

• Wenn die Aufgabe darin besteht, herauszufinden, ob eine intellektuelle Beeinträchti-

gung (Lernbehinderung bzw. geistige Behinderung) bzw. scheinbare intellektuelle Be-

einträchtigung im Sinne von ’Pseudo-Debilität’ als Misshandlungsfolge oder Vernach-

lässigungsfolge besteht“ (FEGERT/LIBAL 2004, S.234f. in Bezug auf HERSOV 1994).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Unterbringung in der Kinder- und Jugend-

psychiatrie eher bei schweren oder mittelgradigen Störungen indiziert ist und wenn ambu-

lante oder teilstationäre Therapien nicht realisierbar, aussichtslos oder bereits ausge-

schöpft sind (vgl. FEGERT/LIBAL 2004, S.234).

Aufgaben und Ziele

Aufgaben aller kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen – also auch ambulanter

und teilstationärer – ist die Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen und Er-

krankungen bei Kindern (vgl. REMSCHMIDT 1987, S.403).

Unter ‚Diagnose’ versteht man in diesem Zusammenhang „die möglichst präzise Be-

schreibung einer psychischen Störung nach einheitlichen Kriterien. Sie […] begründet ein

störungsspezifisches therapeutisches Vorgehen. Ausgangspunkt für jede angemessene

Interventionsplanung ist eine sorgfältige Diagnose. Ziel der Diagnostik in der Kinder- und

Jugendpsychiatrie/Psychotherapie [.] ist die Klassifikation von Auffälligkeiten, Symptomen

oder Syndromen (Muster gemeinsam auftretender Symptome) im Rahmen eines der in-

ternational standardisierten Klassifikationsschemata für psychische Störungen bzw.

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Kapitel I: Kinder- und Jugendpsychiatrie

14Erkrankungen “ (FEGERT et al. 2004, S.259). Die Diagnostik erfolgt auf verschiedenen

Ebenen (z.B. neurologische Untersuchung, Familiendiagnostik) und durch verschiedene

diagnostische Verfahren (vgl. LEHMKUHL/WARNKE 2003, S.33ff.). LEHMKUHL und WARNKE

(2003) verweisen darauf, dass es ein weiteres Ziel der Diagnostik ist, „Probleme, Bedürf-

nisse und Begabungen sowie Ressourcen, die zur Entlastung, Gesundung und besseren

Tragfähigkeit sowie zur Entwicklungsförderung von Kind und Familie verfügbar gemacht

und genutzt werden können“, in Erfahrung zu bringen (vgl. a.a.O., S.34). Die Diagnostik

dient insgesamt dem Zweck, Störungen und Erkrankungen zu benennen und zu klassifi-

zieren, sodass möglichst spezifische Behandlungsschritte eingeleitet werden können (vgl.

a.a.O., S.37).

Das Spektrum kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung umfasst verschiedene Ver-

fahren (z.B. Milieutherapie, Psychotherapie) (vgl. a.a.O., S.38ff.). Die stationäre Behand-

lung soll zum einen anstreben, bestehende Kompetenzen der Kinder zu stärken und zum

anderen – wo immer möglich – neue Bewältigungsstrategien zu vermitteln. Es gilt, Angst,

Schuldgefühle und psychische Konflikte zu reduzieren (vgl. FEGERT/LIBAL 2004, S.236 in

Bezug auf BERLIN 1984). Zielgrößen „können einzelne Symptome des Befindens oder

Verhaltens, die Funktionen in den Systemen Familie, Schule oder Peer-group einschließ-

lich Potential und Niveau der Persönlichkeitsentwicklung“ sein (SCHMIDT 1990, S.102).

„Welche Zielgröße im einzelnen [sic] zu wählen ist, bestimmt das Kind oder der Jugendli-

che selbst bzw. dessen Eltern oder irgendeine Ersatzinstanz und erst zuletzt der Kinder-

und Jugendpsychiater“ (a.a.O., S.102). ROTTHAUS (1990) ist der Ansicht, dass sich jede

kinder- und jugendpsychiatrische Therapie durch die Besonderheiten der Kinder definie-

ren muss. Der jeweils sehr unterschiedliche Entwicklungsstand und ihre individuellen Ent-

wicklungsaufgaben, sowie das Verhältnis und die Abhängigkeit von den Eltern und Fami-

lien sind zu beachten. Kinder sind in ihren sozialen Bezügen zu therapieren (vgl. a.a.O.,

S.20).

FEGERT und LIBAL (2004) weisen darauf hin, dass es nicht immer das alleinige Ziel sein

kann, alle Probleme zu erkennen und zu beseitigen (z.B. wenn kinder- und jugendpsychi-

atrische Erkrankungen eine chronische Verlaufsprognose haben). Vielmehr geht es dar-

um, die bestmögliche Lebensqualität für alle Beteiligten (Familie, Patienten) zu erreichen

(vgl. a.a.O., S.227). „Lebensqualität hat allerdings sehr viel mit Alltag und Alltagsbewälti-

gung und eher wenig mit kurzfristigen intensiven medizinischen Interventionen zu tun.

Das erreichte Ziel der verbesserten Lebensqualität zeigt sich im Verlauf, d.h. in der Regel

14 „Klassifikationssysteme psychischer Störungen dienen der Vereinheitlichung diagnostischer Kriterien. […] Die zz. wichtigsten K. sind die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterstützte 10. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) und die Revision der 4. Fassung des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychische Störungen (DSM-IV). Aufgrund weitreichender Untersuchungen wur-den mit diesen Systemen grundlegende diagnostische Kriterien erarbeitet, die dem Praktiker Leitlinien zur Hand geben, die eine Symptomzuordnung zu einem bestimmten Störungsbild erleichtern und Fehldiagnosen vermeiden helfen“ (DÄBRITZ 2002, S. 557).

23

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Kapitel I: Kinder- und Jugendpsychiatrie

außerhalb der Klinik. Hierauf muss eine moderne ärztliche Mitwirkung bei der Hilfepla-

nung abzielen“ (a.a.O., S.227).

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Kapitel I: Einführung in die Fachdiskussion

3. Einführung in die aktuelle Diskussion um das Verhältnis zwi-schen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie

Das Verhältnis von Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie ist der Gegenstand

von Diskussionen und Auseinandersetzungen, die sowohl innerhalb der einzelnen Diszip-

linen als auch zwischen ihnen geführt werden (vgl. GINTZEL/SCHONE 1990a, S.5). Im

Rahmen meiner Diplomarbeit können nicht alle Facetten der Fachdiskussion aufgezeigt

werden.15 Eines der zentralen Themen bezieht sich beispielsweise auf den § 35a KJHG,

der die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche regelt und so-

mit Grundlage für die Zusammenarbeit – und für Debatten – zwischen dem Gebiet der

Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe ist. Da der § 35a KJHG aber vor allem die

Grundlage für die Kooperation zwischen Jugendhilfe und dem ambulanten Facharzt für

Kinder- und Jugendpsychiatrie ist, werde ich auf den Aspekt des § 35a KJHG nicht einge-

hen.

Ich werde mich auf die für diese Arbeit relevanten Gesichtspunkte der Fachdiskussion

beschränken. Zunächst werde ich die unterschiedlichen Sichtweisen der Jugendhilfe und

Kinder- und Jugendpsychiatrie und daraus hervorgehende Konfliktlinien herausstellen.

Anschließend werde ich zwei, mir für diese Arbeit besonders interessant und wesentlich

erscheinende Themen aufzeigen: zum einen die bestehende Kritik an der stationären Be-

handlung von Kindern in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ein weiterer Themenschwer-

punkt der Fachdiskussion liegt in der kritischen Betrachtung der Überweisungsprozesse in

das jeweils andere Hilfesystem.

3.1 Konfliktlinien der Hilfesysteme

Die Vertreter der Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie versuchen immer wie-

der, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der

Heimerziehung herauszustellen. Der Überschneidungsbereich wird darin gesehen, dass

sowohl Kinder in der Heimerziehung als auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie unter

ähnlich komplexen Problemlagen leiden: Sowohl die Kinder in öffentlicher Erziehung als

auch die in kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung „sind [.] nahezu ausnahmslos

auf vielfältige Weise er- und beziehungsproblematisch. Es gibt bei beiden in der Vorge-

15 In verschiedenen Herausgeberwerken sind Aufsätze zu den unterschiedlichen Themen der Fachdiskussion veröffentlicht. Exemplarisch seien hier genannt: INSTITUT FÜR SOZIALE ARBEIT (1989), GINTZEL/SCHONE (1990), KÖTTGEN et al. (1990) und KÖTTGEN (1998).

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Kapitel I: Einführung in die Fachdiskussion

schichte ihrer Sozialisation unterschiedlich geartete Verletzungen, oft hervorgerufen oder

verstärkt durch Beziehungsverluste und/oder Abbrüche“ (KÖTTGEN/KRETZER 1990, S.85).

Dadurch, dass Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie auf unterschiedliche histo-

rische Wurzeln zurückgehen, haben sie sich weitgehend unabhängig voneinander entwi-

ckelt. Aus diesem Grund bestehen vielfältige und prägende Unterschiede in

• der Geschichte und der Theoriebildung,

• der Terminologie und den Sichtweisen,

• den Methoden und den Organisationsformen sowie

• in den Finanzierungsmodalitäten (vgl. BLUMENBERG 1999, S. 868).

Umstritten ist die Frage nach der Zuständigkeit und Leistungsfähigkeit der beiden Fach-

disziplinen für die Bearbeitung der Problemlagen von Kindern (vgl. GINTZEL/SCHONE

1990a, S.5). Hier kommen durch die perspektivischen Problemverständnisse Konfliktlinien

auf unterschiedlichen Ebenen zustande. Die wesentlichen Unterschiede liegen im medizi-

nischen Paradigma der Kinder- und Jugendpsychiatrie einerseits und in der Lebenswelt-

orientierung der Jugendhilfe bei der Erklärung abweichenden Verhaltens andererseits

(vgl. z.B. COBUS-SCHWERTNER 2001, S.187; BLUMENBERG 1999, S.868).

Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit ergeben sich weiterhin durch die gesellschaftliche

Hierarchie und den Status der Systeme. Auch heute noch wird die gesellschaftliche Posi-

tion eines Berufsstandes bestimmt durch Dauer, Art und Umfang der Ausbildung, die Hö-

he der Bezahlung, die Sicherheit des Arbeitsplatzes und die Anerkennung der Kompetenz

(vgl. GINTZEL 1989, S.15). „Gemessen an diesen Kriterien gibt es eine klare Hierarchie der

Hilfesysteme, an deren Spitze die Jugendpsychiatrie (Medizin) steht. Es folgen Psycholo-

gie und Sozialarbeit in Jugendämtern. Am unteren Ende steht die Erziehung in Heimen“

(a.a.O., S.15f.). Während die Finanzierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie durch die

Kostenübernahme der Krankenkassen weitgehend gesichert ist, hängt die Finanzierung

der Heime von aktuellen politischen Entwicklungen und der Lage der öffentlichen Kassen

ab. Hier kann die Kinder- und Jugendpsychiatrie ihren Mitarbeitern Sicherheit bieten, wäh-

rend Unsicherheiten bei den Mitarbeitern der Heimerziehung vorliegen (vgl. a.a.O., S.16).

„Nicht zuletzt gibt es einen grundlegenden hierarchischen Unterschied in der gesellschaft-

lichen Akzeptanz von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie. Während Medizin gesellschaft-

lich eine hohe Akzeptanz erfährt, hat Jugendhilfe insbesondere in der Form der Heimer-

ziehung eher mit Inakzeptanz zu kämpfen“ (vgl. a.a.O., S.16). In der Praxis ist weiterhin

eine Rangfolge in der Macht, Verhalten und Persönlichkeiten zu definieren, zu finden.

„Gutachterliche Stellungnahmen des Arztes […] werden in der Regel höher bewertet als

Feststellungen beteiligter Pädagogen […]“ (a.a.O., S.16). Beispielsweise FRANKEN (1998)

verdeutlicht in diesem Zusammenhang, dass das unterschiedliche professionelle Selbst-

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Kapitel I: Einführung in die Fachdiskussion

bild zu einer Ungleichberechtigung im Kontakt zwischen den Fachleuten der Kinder- und

Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe führen kann. Hier sind teilweise erhebliche Zweifel auf

der Seite der Psychiatrievertreter an den Möglichkeiten sozialpädagogischer Betreuungs-

bedingungen zu spüren. Sie ist der Meinung, dass eine gelingende Kooperation nur dann

gewährleistet werden kann, wenn beide Hilfesysteme als gleichberechtigte Partner zu-

sammenwirken. Das fachspezifische Wissen des jeweils anderen Gebietes muss aner-

kannt und respektiert werden (vgl. a.a.O., S.112; vgl. hierzu auch WEHNER 2002, S.827).

3.2 Kritik an der kinder- und jugendpsychiatrischen Unterbringung

Vor allem Vertreter der Jugendhilfe, aber auch Vertreter der Kinder- und Jugendpsychiat-

rie machen auf die Nachteile aufmerksam, die eine Unterbringung in der Kinder- und Ju-

gendpsychiatrie für die betroffenen Kinder mit sich bringen kann:

Es wird festgestellt, dass durch die medizinische Definition als krank oder gesund Verhal-

tensweisen aus ihrem biographischen Kontext isoliert werden und den Bezug zu dem

Sinnzusammenhang, in dem sie entstanden sind, verlieren (vgl. KÖTTGEN 1998C, S.237).

WEHNER (2002) merkt an, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie zu individuumsbezoge-

nen Erklärungen und Behandlungen tendiert, da sie als medizinische Disziplin von der

Krankheit des Einzelnen ausgeht (vgl. a.a.O., S.816).

Es wird kritisiert, dass die Diagnose psychischer Störungen und die Unterbringung von

Kindern in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Grundlage für Stigmatisierungen und damit

einhergehende Vorurteile, verbunden mit Benachteiligungen, sein kann (vgl. KÖTT-

GEN/KRETZER 1990, S.89).

Der Mediziner RAMB (1999) hält dem entgegen, eine rein lebensweltorientierte Sicht- und

Arbeitsweise greife zu kurz, indem der Blick vor dem Vorhandensein psychiatrisch fest-

stellbaren Dispositionen verschlossen würde. Es werde negiert, dass Menschen „primär

anders ausgestattet“ sind oder „neurophysiologische Funktionen sekundär beschädigt“

sein können (vgl. a.a.O., S. 852). Er bemängelt, diese Sichtweise sehe die wertneutrale

Feststellung nervlicher Abweichung durch die Medizin ausschließlich im Zusammenhang

mit diskriminierender Etikettierung (vgl. a.a.O., S. 852).

FRANKEN (1990) weist darauf hin, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie keine Lebens-

orte auf Dauer bieten kann und dass es für Kinder, die sich für einen langen Zeitraum dort

aufgehalten haben, problematisch ist, zu einer weniger reglementierten Alltagsgestaltung

zurückzukehren (vgl. a.a.O., S.120).

KÖTTGEN zeigt in verschiedenen Fallberichten auf, dass die Einweisung in die Kinder- und

Jugendpsychiatrie Hospitalisierungen zur Folge haben kann. Es besteht die Gefahr, dass

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Kapitel I: Einführung in die Fachdiskussion

sich Kinder emotional an das Klinikpersonal binden. Durch die Entlassung werden Bezie-

hungsabbrüche erzeugt, die mit Enttäuschungen und Verletzungen für die Kinder einher-

gehen können. Gerade dann, wenn Kinder außerhalb der Institution keine stabilen Be-

zugspersonen haben, kann es dazu kommen, dass sie Versuche unternehmen, die Klinik

zum Lebensort zu machen, um neu gewonnene Bezugspersonen nicht zu verlieren (vgl.

KÖTTGEN 1998a, S.21; 1998b, S.62; KÖTTGEN/KRETZER 1990, S.93).

Aufgrund dieser ungünstigen ‚Nebenwirkungen’ eines Psychiatrieaufenthaltes besteht die

Forderung, die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf die akute Krankenbe-

handlung zu beschränken (vgl. KÖTTGEN/KRETZER 1990, S.97; FRANKEN 1998). „Leis-

tungsfähige Angebote im Jugendhilfebereich [sollen, d. Verf.] durch Zusammenarbeit und

Beratung mit den multiprofessionellen Fachkräften (Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter)

und Unterstützung durch den ambulanten Sektor längerfristige klinische Aufenthalte weit-

gehend vermeiden helfen“ (KÖTTGEN 1998c, S.241, vgl. hierzu auch KÖTTGEN 1998a,

S.21).

3.3 Die gegenseitige Inanspruchnahme

Ein weiterer – meiner Meinung nach besonders interessanter – Aspekt der Fachdiskussi-

on besteht in der gegenseitigen Inanspruchnahme der Systeme der Kinder- und Jugend-

psychiatrie und Jugendhilfe. Überschneidungsbereiche der beiden Fachdisziplinen, bei

denen ein direkter Übergang der betroffenen Kinder von einem Hilfesystem ins andere

erfolgt, bestehen dann, wenn entweder Patienten aus jugendpsychiatrischen Kliniken in

Einrichtungen der Jugendhilfe vermittelt werden oder wenn Kinder aus der Jugendhilfe in

Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie überwiesen werden (vgl. GINTZEL 1989,

S.12). Diese gegenseitigen Überweisungsprozesse geben oftmals Anlass zur Kritik:

Es wird angeführt, dass Kinder dann zu so genannten ‚Grenzfällen’ erklärt werden, wenn

die Institutionen an ihre eigenen Grenzen stoßen. Vor allem in Heimeinrichtungen wird

versucht, unlösbar erscheinende Probleme an höher bezahlte Fachleute wie Ärzte und

Psychologen zu delegieren (vgl. KÖTTGEN/KRETZER 1990, S.98).16 „Man erwartet, daß in

Spezialinstitutionen auch bessere Behandlungsangebote bereitgehalten werden. Solche

überhöhten Kompetenzerwartungen an psychologisch-psychiatrische Fachleute werden

genutzt, um sich von Drucksituationen zu entlasten. Die tatsächlichen Behandlungsange-

bote solcher Spezialinstitutionen sind jedoch oft enttäuschend“ (a.a.O., S.98).

16 GINTZEL & SCHONE (1990b) untersuchten, in welchen Fällen es zu Überweisungen von Heimen in die statio-näre Kinder- und Jugendpsychiatrie kommt und arbeiteten drei Überweisungsmuster heraus: (1.) permanente Ratlosigkeit, (2.) plötzlich auftretende Hilflosigkeit, (3.) langfristige Eskalation (vgl. a.a.O., S. 37ff.).

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Kapitel I: Einführung in die Fachdiskussion

Beispielsweise RÖßLER (1990) merkt an, dass dieses Verfahren umso überzeugter ange-

wandt wird, je weniger bei den jeweiligen Fachkräften über die tatsächlichen Hilfemöglich-

keiten der Kinder- und Jugendpsychiatrie bekannt ist. Er kritisiert, dass es gerade dann

nicht nur um die bestmögliche Hilfe im Einzelfall geht, sondern auch um die Stabilisierung

des Systems, das den ‚Grenzfall’ abgibt. „Die weitverbreitete Strategie der Ausgrenzung

von Problemen führt ja dazu, das vorhandene System eingespielter Handlungsmuster zu

stabilisieren und die Grenzen von Institutionen deutlicher zu markieren“ (a.a.O., S.135f.).

Um eine Überweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie legitimieren zu können, wer-

den in solchen Fällen die Verhaltensweisen des Kindes als krank definiert und die eigene

Nicht-Zuständigkeit erklärt (vgl. a.a.O., S.138; RAMB 1999, S.855). Durch diese Strategie

der Ursachensuche können selbstwertbelastende Fragen innerhalb der Einrichtung ver-

mieden werden: es müssen dann nicht die Lebensbedingungen im Heim oder der eigene

Umgang mit den Kindern hinterfragt werden, weil man es schließlich mit einem verhal-

tensgestörten Kind zu tun hat (vgl. WOLF 1998, S.48). WOLF kritisiert, dass diese Ver-

schiebung der Wahrnehmung weg von den Lebensumständen des Kindes, institutionellen

Grenzen und eigenen Handlungsunsicherheiten, hin zu dispositionalen Ursachen, die im

Kind liegen, mit dem Verlust der eigenen Handlungsfähigkeit einhergeht (vgl. a.a.O.,

S.48). „Die Überzeugung, Wirkungen durch eigene Handlungen erzeugen zu können, ist

gebrochen“ (a.a.O., S.49).

Es besteht in vielen Fällen die Erwartung an die Kinder- und Jugendpsychiatrie, herauszu-

finden, was mit dem Kind ‚nicht stimmt’ und damit verbundene Empfehlungen für das wei-

tere Vorgehen zu erhalten (vgl. ABELS/SCHÄFER/WOLF 2006, S.12). Die anschließende

Verwertbarkeit psychiatrischer Diagnosen in der sozialpädagogischen Praxis wird in der

Debatte allerdings kritisch gesehen. Auf der einen Seite stehen die ausführlichen Darstel-

lungen der Ergebnisse diverser Untersuchungen, auf der anderen Seite wenig ausdiffe-

renzierte Empfehlungen für pädagogische Settings, „die die Mediziner als pädagogische

Laien outen“ (WOLF 1998, S.56) und die sich für die pädagogische Praxis als ungeeignet

erweisen (vgl. a.a.O., S.56).

KÖTTGEN (1998b) weist darauf hin, dass auch Vertreter der Kinder- und Jugendpsychiatrie

bei Schwierigkeiten, die Hilflosigkeit erzeugen, ähnliche Zuschreibungen zur Feststellung

der eigenen Nicht-Zuständigkeit vornehmen. Hier werden die Probleme der Kinder als

‚erzieherische Probleme’ definiert und in der Konsequenz dem System der Jugendhilfe

überantwortet (vgl. a.a.O., S.69).17

17 Auch hier stellten GINTZEL & SCHONE (1990b) Überweisungsmuster heraus: (1.) das Muster der Überwei-sung nach Clearing, (2.) das Muster der ins Diagnose- und Behandlungskonzept eingebundenen Maßnahme, (3.) das Muster der Überweisung nach Nichtfruchten von Therapieversuchen, (4.) das Muster der Überwei-sung nach Erklärung der eigenen Nichtzuständigkeit (vgl. a.a.O., S. 40ff).

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Kapitel I: Einführung in die Fachdiskussion

„In der Folge erschließt sich die Zusammenarbeit zwischen der Jugendhilfe und der Kin-

der- und Jugendpsychiatrie als ein Verständnis der gegenseitigen Inanspruchnahme bei

der Suche nach Problemlösungen im Einzelfall mit erheblichen Problemen“ (COBUS-

SCHWERTNER 2001, S.188f.). BLANDOW (1990) sieht darin nichts anderes, als dass man

der je eigenen Arbeitsform nur Begrenztes zutraut (vgl. a.a.O., S.11).

In der Konsequenz fordert RÖßLER (1990), dass es zum Selbstverständnis der Jugendhilfe

gehören sollte, ständig die Frage zu prüfen, ob im Rahmen der eigenen Institution die

Probleme produziert werden, die dann als behandlungsbedürftig erscheinen. Er verlangt,

eigene Problemlösestrategien zu entwickeln, bevor Kinder als Psychiatriefälle definiert

werden (vgl. a.a.O., S.139; ähnlich auch WOLF 1998, S.49). Die Mitarbeiter der Jugendhil-

fe dürfen nicht darauf verzichten, (zunächst) unverständliches Verhalten der Kinder zu

dechiffrieren und sich zu den Lebenserfahrungen der Kinder einen Zugang zu erarbeiten,

um diese zu interpretieren (vgl. ABELS/SCHÄFER/WOLF 2006, S.12f.). Es wird angeführt,

dass eine spezifische pädagogische Deutung unerlässlich ist, da sich psychiatrisch-

medizinische und sozialpädagogische Diagnosen sowie die damit verbundenen Interven-

tionen strukturell unterscheiden (vgl. a.a.O., S.14).18 Das Ziel sozialpädagogischer Diag-

nosen besteht darin, einen verstehenden Zugang zu den Kindern und deren Verhaltens-

weisen zu ermöglichen, um sozialpädagogische Interventionsstrategien zu eröffnen, „ein

Lernfeld zu arrangieren, in denen die Menschen neue Erfahrungen machen und ihre

Grundstrategien verändern können“ (vgl. a.a.O., S.15). „Es kann agiert statt nur reagiert

werden, womit Abschiebungstendenzen aus Hilflosigkeit entgegengewirkt werden kann“

(WEHNER 2002, S.823 in Bezug auf FREIGANG 1986 & WOLF 1998).

18 Eine anschauliche Unterscheidung der beiden Diagnoseformen beschreiben MOLLENHAUER & UHLENDORFF (1992): Psychiatrische Diagnosen zielen darauf ab, zu möglichst eindeutigen und generalisierten Zuordnun-gen von beobachtetem Verhalten und dessen Ursachen zu kommen, um den Fall allgemeingültigen Störungs-typen zuzuordnen. Hieraus ergibt sich ein eingeschränktes Spektrum von Interventionsstrategien (beispiels-weise behandelt man eine festgestellte frühkindliche Hirnschädigung mit einer bestimmten Therapie). Mithilfe sozialpädagogischer Diagnosen wird weniger nach somatischen Ursachen gesucht, sondern eher nach le-bensthematischen Bedeutungen, die durch die Äußerungen des Menschen vermittelt werden. Hier geht es nicht darum, den Fall möglichst schnell einem allgemeinen Typus zuzuordnen, weil dadurch Erkenntnismög-lichkeiten verbaut würden (vgl. a.a.O., S. 26ff.). MOLLENHAUER & UHLENDORFF haben Verfahrensvorschläge für sozialpädagogische Diagnosen entwickelt und erprobt (vgl. a.a.O., 1992 & 2000).

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Kapitel I: Übergänge als kritische Lebensereignisse

4. Übergänge als kritische Lebensereignisse

Will man die Bedeutung von Übergängen in die Hilfesysteme der Kinder- und Jugendpsy-

chiatrie oder Heimerziehung untersuchen, genügt es nicht, die beiden Hilfesysteme vor-

zustellen und miteinander zu vergleichen. Da es sich bei solchen Übergängen für die Kin-

der um entscheidende Veränderungen ihres biographischen Verlaufs handelt (vgl. HOER-

NIG 1987, S.231), werde ich im Folgenden Übergänge unter dem Aspekt des ‚kritischen

Lebensereignisses’ betrachten.

4.1 Begriffsbestimmung ‚kritisches Lebensereignis’

Kritische Lebensereignisse können nach FILIPP (1990a) „als solche im Leben einer Person

auftretende Ereignisse verstanden werden, die durch Veränderungen der (sozialen) Le-

benssituation der Person gekennzeichnet sind und die mit entsprechenden Anpassungs-

leistungen durch die Person beantwortet werden müssen“ (a.a.O., S.24). Kritische Le-

bensereignisse werden – unabhängig davon, ob es sich um ein positives oder negatives

Ereignis handelt – prinzipiell als stressreich angesehen, da sie eine Unterbrechung ge-

wohnter Handlungsabläufe darstellen und eine Veränderung bisheriger Verhaltensmuster

erfordern (vgl. a.a.O., S.24). Bei kritischen Lebensereignissen handelt es sich also um

reale Lebenserfahrungen einer besonderen Tönung, die sich für die Person als Einschnit-

te im Geschehensablauf darstellen und die auch rückblickend häufig als Einschnitte und

Übergänge im Lebenslauf wahrgenommen werden (vgl. FILIPP 1990b, S.293).

FILIPP (1990a) schlägt folgende Aspekte zur Kennzeichnung kritischer Lebensereignisse

vor:

1. „Sie stellen die raumzeitliche, punktuelle Verdichtung eines Geschehensablaufs inner-

halb und außerhalb der Person dar und sind somit im Strom der Erfahrungen einer

Person raumzeitlich zu lokalisieren“ (a.a.O., S.24).

2. „Kritische Lebensereignisse stellen Stadien des Ungleichgewichts in dem bis dato

aufgebauten Passungsgefüge zwischen Person und Umwelt dar […]. Diese Konzep-

tualisierung schließt ein, daß jedes Person-Umwelt-System durch ein bestimmtes Maß

an interner Kongruenz gekennzeichnet ist, welches der Person ’adaptives Funktionie-

ren’ in ihrem jeweiligen Umweltkontext ermöglicht“ (a.a.O., S.24). Unterschreitet diese

Kongruenz zwischen Person und Umwelt ein Mindestmaß und wird die Neuorganisa-

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Kapitel I: Übergänge als kritische Lebensereignisse

tion des Person-Umwelt-Gefüges erforderlich, ist ein kritisches Lebensereignis gege-

ben (vgl. a.a.O., S.24).

3. Das Ungleichgewicht in der Person-Umwelt-Beziehung wird für die Person unmittelbar

erlebbar. Das Erleben ist von affektiven Reaktionen – die nicht zwangsläufig negativer

Qualität sein müssen – begleitet. Die „Tatsache der emotionalen Nicht-Gleichgültig-

keit“ lässt kritische Lebensereignisse in der Biographie als prägnant und herausragend

erscheinen (vgl. a.a.O., S.24f.).

Erst individuelle Prozesse der Wahrnehmung und Einschätzung von Lebensereignissen

qualifizieren diese als kritisch, belastend, erfreulich und vieles mehr (vgl. a.a.O., S.31).

Die subjektive Ereigniswahrnehmung wird zum einen durch die subjektive Erwünschtheit

des Ereignisses beeinflusst. Lebensereignisse sind in dem Maße erwünscht, in dem sie

die Erreichung von Handlungszielen fördern (vgl. a.a.O., S.33f.). Zum anderen hängt die

ihnen zugeschriebene Bedeutung davon ab, inwieweit ihnen ein Sinn im Hinblick auf das

eigene Leben verliehen werden kann, der die Auseinandersetzung mit und Bewältigung

von kritischen Lebensereignissen erleichtert (vgl. a.a.O., S.34). Es wird außerdem davon

ausgegangen, dass ein hohes Maß an Vorhersagbarkeit und Kontrollierbarkeit die Belas-

tungswirkung von Lebensereignissen mindert (vgl. a.a.O., S.34f.). Ein weiterer Faktor ist

die wahrgenommene Herausforderung, „die Tendenz einer Person, kritische Lebenser-

eignisse als Chancen für die Erprobung von Problemlöse- und Bewältigungsverhalten

aufzufassen“ (a.a.O., S.35).

4.2 Übergänge in die Heimerziehung bzw. Kinder- und Jugendpsychi-atrie als kritisches Lebensereignis

Nach FINKEL (2004) kann die Unterbringung im Heim als kritisches Lebensereignis ver-

standen werden, da die oben genannten Aspekte zur Kennzeichnung kritischer Lebenser-

eignisse zutreffen: „Der Lebensortwechsel ist sowohl räumlich als auch zeitlich zu lokali-

sieren, die Person muss sich in einem veränderten sozialen Milieu zurechtfinden, es muss

ein neues Passungsgefüge entstehen zwischen Person und Umwelt und schließlich geht

der ganze Prozess mit einer hohen emotionalen Betroffenheit einher“ (a.a.O., S.193). In-

wieweit Unterbringungen in Heimen oder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie als kriti-

sche Lebensereignisse gekennzeichnet werden können, soll im Folgenden näher betrach-

tet werden:

Die Unterbringung im Heim ist mit einem Wechsel der Lebenswelt und der Trennung von

Bezugspersonen verbunden. Da sich die soziale Identität auch immer über die Zugehörig-

keit zu verschiedenen Gruppen definiert, wird diese nun grundlegend infrage gestellt (vgl.

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Kapitel I: Übergänge als kritische Lebensereignisse

FREIGANG 1986, S.26). Während in einem ‚normalen’ Lebenslauf Statusübergänge ge-

plant und vorbereitet sind – meist verlaufen sie in institutionellen Bahnen (beispielsweise

der Schuleintritt) –, sind diese Übergänge nicht geregelt (vgl. FREIGANG 1986, S.26). Der

Statusübergang vom ‚Kind im Familiensystem’ zum ‚Heimkind’ stellt einen Wendepunkt in

der kindlichen Entwicklung dar, in denen die ‚normalen’ Bahnen des Lebenslaufs verlas-

sen werden. Das Kind kann an solchen Wendepunkten die bisherige Interpretation seiner

selbst nicht mehr aufrechterhalten. Seine Erfahrungen und seine Selbstsicht müssen neu

strukturiert werden (vgl. a.a.O., S.26). Zum einen muss das Kind die sozialräumliche und

damit oft auch lebensweltliche Trennung bewältigen (vgl. LAMBERS 1996,S.50f.). Diese ist

verbunden mit dem Verlust bzw. der Infragestellung von vertrauten Sinnsystemen. Der

besondere Charakter dieser Bewältigungsproblematik besteht darin, dass es sich in der

Regel um eine völlig neue Erfahrung für die Kinder handelt, in der sie nicht auf erprobte

Verhaltensmuster ähnlicher Bewältigungsprobleme zurückgreifen können. Dies erfordert

die Entwicklung einer gänzlich neuen Anpassungsleistung, was der Bewältigungsproble-

matik eine völlig neue psychische Qualität verleiht, sie stellt sich als Krise dar (vgl. a.a.O.,

S.50f.).

Finkel (2004) weist darauf hin, dass über den Akt der Heimunterbringung und den damit

verbundenen Übergang in ein neues Lebensmilieu hinaus, oft auch das vorangegangene

konflikthafte Erleben der Familienbeziehungen für die Kinder zu bewältigen ist (vgl. a.a.O.,

S.192).

Der Wechsel des Kindes in die Heimerziehung stellt aber nicht nur für das Kind, sondern

für die gesamte Familie ein kritisches Lebensereignis dar, da er auch mit gravierenden

Änderung im Familiensystem einhergeht, welches durch einen Anpassungsvorgang wie-

der stabilisiert werden muss (vgl. LAMBERS 1996, S.10). „Die Lebenslage von Familien

wird durch die Heimunterbringung bewußt verändert. Der krisenhafte Prozeß im Familien-

system wird durch ein weiteres, das System radikal veränderndes Ereignis zu lösen ver-

sucht. Es wird eine Trennung herbeigeführt, die wiederum als Krise wahrnehmbar ist und

bewältigt werden muß“ (a.a.O., S.48). LAMBERS (1996) stellte in einer Untersuchung fest,

dass Eltern und Kinder die Heimunterbringung, die Gründe, die hierzu geführt haben, die

Zeit des Überganges vom alten in das neue Lebensfeld sowie auch die Zeiten im Heim

als Ereignisse erleben, die ihr Leben einschneidend verändern. „Diese Veränderungen

stellten für die Kinder und Jugendlichen und ihre Eltern stets einen […] Abbruch [.] ihrer

gewohnten Lebensweise dar und wurden in der Regel als unerwünschtes oder auch er-

wünschtes, in jedem Fall aber als verunsicherndes und daher auch ’emotional nicht

gleichgültiges’ Ereignis erlebt, auf das in neuer, zunächst noch nicht bekannter Form rea-

giert werden mußte. Hierbei war man stets darum bemüht, ein altes Gleichgewicht, eine

Verhaltenssicherheit, zurückzugewinnen. Diese Abläufe kennzeichnen im wesentlichen

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Page 36: Kinder zwischen Heimerziehung und Kinder– und ... · Universität Siegen Integrierter Studiengang Sozialpädagogik und Sozialarbeit Fachbereich II Diplomarbeit Kinder zwischen Heimerziehung

Kapitel I: Übergänge als kritische Lebensereignisse

[sic] den von FILIPP begrifflich als ’kritisches Lebensereignis’ bezeichneten Konfliktfall im

Alltagsleben“ (a.a.O., S.112).

Dadurch, dass Heimerziehung immer mit der Konstituierung eines anderen Lebensmittel-

punktes des Kindes verbunden ist und damit unvermeidbar tief in die bisherigen Lebens-

zusammenhänge eingreift, ist sie also immer auch ein kritisches Lebensereignis (vgl.

WOLF 2002a, S.642 in Bezug auf LAMBERS 1996). Es ist allerdings nicht möglich, allge-

meine Aussagen über die damit verbundenen Belastungen und Chancen zu machen. Es

macht beispielsweise einen erheblichen Unterschied, ob das Kind in einem Heim in unmit-

telbarer Nähe zum Elternhaus und damit im gewohnten Umfeld oder hunderte Kilometer

entfernt untergebracht wird. Auch der Umstand, ob Kinder bei der Unterbringung im Heim

Zwang erleben oder freiwillig untergebracht werden, verändert die Qualität des Ereignis-

ses (vgl. WOLF 2002a, S.642f.).

Ich gehe davon aus, dass auch die Unterbringung eines Kindes in der Kinder- und Ju-

gendpsychiatrie unter dem Aspekt des ‚kritischen Lebensereignisses’ betrachtet werden

kann:

Die Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist sowohl räumlich als auch zeitlich

zu lokalisieren. Das Kind erfährt – zeitlich in der Regel wesentlich begrenzter als in der

Heimerziehung – eine Trennung von seiner Familie und anderen Bezugspersonen und

muss sich in einer ihm bisher unbekannten Umgebung zurecht finden. Dadurch wird auch

hier eine Neuorientierung des Person-Umwelt-Gefüges notwendig, die soziale Identität

wird infrage gestellt (vgl. FREIGANG 1986, S.26 & 1989, S.25f.). In dieser neuen Umge-

bung gibt es Regeln sowie Sinnstrukturen, die sich teilweise von denen ihm bisher be-

kannten unterscheiden (vgl. KÜHNLEIN/MUTZ 1996, S.32). Es handelt sich also um keinen

vertrauten und bekannten Lebenszusammenhang, in dem die lebensgeschichtlich erwor-

benen „Typisierungen und Habitualisierungen“ gültig sind, Vertrautheit und Bekanntheit

mit der gegebenen Sinnstruktur müssen erst hergestellt werden (vgl. a.a.O., S.32). Die

bisherige Meinung, die das Kind von sich, den anderen Menschen und dem von ihm er-

warteten Verhalten hatte, kann nicht mehr ohne weiteres aufrecht erhalten werden (vgl.

FREIGANG 1989, S.26).

Auch wenn es sich um eine zeitlich auf einige Wochen bis zu einigen Monaten begrenzte

Maßnahme handelt, nach deren Abschluss das Kind in der Regel in seine gewohnte Le-

benswelt zurückkehrt, ist es doch das Ziel, dem Kind neue Erfahrungs-, Deutungs- und

Handlungsmuster zu vermitteln, die es auch nach Abschluss der stationären Unterbrin-

gung beibehalten soll. Nach der Entlassung erfordert dies weitere Anpassungsleistungen

und Neuorientierungen in dem ihm vertrauten Lebenskontext (vgl. KÜHNLEIN/MUTZ 1996,

S.7).

34

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Kapitel I: Übergänge als kritische Lebensereignisse

Ähnlich wie bei der Unterbringung im Heim ist es auch hier meines Erachtens nicht mög-

lich, eine allgemeine Bewertung der Belastungen und Chancen vorzunehmen. Ob eine

Unterbringung in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie ein kritisches Lebensereignis für

das Kind darstellt und wie einschneidend dies erlebt wird, wird sowohl von der Gestaltung

des Unterbringungsprozesses, als auch von der Dauer der Unterbringung abhängen: Ich

gehe davon aus, dass es einen deutlichen Unterschied ausmacht, ob das Kind dem Psy-

chiatrieaufenthalt zustimmt oder ob es von seinen Eltern (oder anderen Personen) ohne

sein Einverständnis untergebracht wird. Ebenso wird ein Aufenthalt in der Kinder- und

Jugendpsychiatrie, der nur wenige Tage dauert, einen geringeren Einschnitt in den Le-

benslauf darstellen, als ein mehrmonatiger Aufenthalt.

FREIGANG (1989) weist darauf hin, dass die Unterbringung sowohl im Heim, als auch in

der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht nur eine Antwort auf, sondern auch Auslöser von

Identitätskrisen sein kann. „Solche Krisen können dann verkraftet und produktiv genutzt

werden, wenn der neue Status dem Betroffenen dazu verhilft, das Problem, das in ihm die

Krise [im Verhältnis Person-Umwelt, d. Verf.] ausgelöst hat, zu lösen. […] Gelingt dies

nicht, so besteht die Gefahr, daß der Heranwachsende seine Identität auf eine Weise

wiederherstellt, die von den Institutionen nicht beabsichtigt war. Diese Gefahr besteht

umso mehr, wenn der Übergang zum Status ’Heimkind’ oder ’Patient’ schon an sich als

Abstieg und Stigma gilt und die Diagnose dazu dient, den Betroffenen auf eine Identität

des Abweichers [sic] festzulegen“ (FREIGANG 1989, S.25f.).

Den Begriff ‚Übergang’ werde ich im Folgenden verwenden, wenn es sich um einen

Wechsel des Lebensortes in Verbindung mit stationären professionellen Settings – Heim-

erziehung oder Kinder- und Jugendpsychiatrie – handelt. In diesen Fällen wechseln Kin-

der ihren Lebensort, ohne dass die Eltern den gleichen Lebensortwechsel vollziehen, wie

dies bei einem Umzug der Familie der Fall wäre. Es finden also raum-zeitlich lokalisierba-

re Veränderungen in der sozialen Lebenssituation der Kinder statt, bei denen davon aus-

zugehen ist, dass die Kinder sich an die neue Situation anpassen müssen und dass diese

Veränderungen daher eine emotionale Bedeutung besitzen.

35

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Kapitel II: Das zentrale Erkenntnisinteresse

Kapitel II: Anlage der Untersuchung

Dieses Kapitel dient dazu, den Untersuchungsprozess zu beschreiben. In Punkt 1 wird

das für die Untersuchung leitende Erkenntnisinteresse dargestellt. Punkt 2 enthält die

Beschreibung des Erhebungsdesigns mit den Überlegungen, welche Menschen befragt

werden sollen sowie die Darstellung und Diskussion der gewählten Untersuchungsmetho-

de. In Punkt 3 wird die Durchführung der Untersuchung mit den verschiedenen Phasen

der Kontaktaufnahme, Durchführung der Interviews, Nachbereitung und Aufbereitung des

gewonnenen Datenmaterials beschrieben. Abschließend werde ich in Punkt 4 das Aus-

wertungsverfahren vorstellen.

An einigen Stellen möchte ich dem Leser Einblicke in den Forschungsprozess geben. Es

sollen Überlegungen und Erfahrungen, die ich während der ‚Feldphase’ und deren Vorbe-

reitung gemacht habe und die sich teilweise auf den Verlauf des Prozesses auswirkten,

skizziert werden. Diese zusätzlichen Informationen sind durch eingerückte Absätze in

kursiver Schrift gekennzeichnet.

Bei der Planung des Untersuchungs- und Auswertungsdesigns habe ich mich an dem

Text „Arbeitsschritte im qualitativen Forschungsprozeß“ von BENTLER und KÖNIG (1997,

S.88ff.) und den von WOLF (2003 & 2005) dargestellten Schritten zur Erstellung eines Un-

tersuchungsdesigns orientiert.

1. Das zentrale Erkenntnisinteresse

Betrachtet man den Titel meiner Arbeit

„Kinder zwischen Heimerziehung und Kinder- und Jugendpsychiatrie“,

stößt man auf ein weites Feld, welches Möglichkeiten für zahlreiche unterschiedliche Un-

tersuchungen bietet. Man könnte zum Beispiel die Sichtweise der Eltern der betroffenen

Kinder untersuchen, die Perspektive der in der Heimerziehung oder im Jugendamt tätigen

Pädagogen sowie die der Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Je nachdem,

welchen Fokus man hat, sind weiterhin unterschiedliche Methoden zur Datenerhebung

denkbar.

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Kapitel II: Das zentrale Erkenntnisinteresse

Im Mittelpunkt dieser Arbeit sollen die Kinder stehen, da sie unmittelbar von den Ent-

scheidungen betroffen sind und die durchgeführten Maßnahmen sich auf die Kinder be-

ziehen. Gegenstand der Untersuchung wird ihr Erleben von Übergängen in Heimeinrich-

tungen und die Kinder- und Jugendpsychiatrie sein. Ich gehe davon aus, dass Kinder eine

differenzierte Meinung zu ihrem Leben und darin eingebettete Entscheidungen (bei-

spielsweise bezüglich pädagogischer Interventionen und ihres Lebensortes) haben, und in

der Lage sind, diese zu äußern. Aus diesem Grund sollte das Erleben der Hilfeadressa-

ten, die Wahrnehmung und Deutung ihrer Situation unentbehrlicher Gegenstand für die

Theorie und Praxis der Sozialpädagogik sein (vgl. PIES 2004, S.429). Zahlreiche Fallbe-

richte in der Literatur belegen, dass dies aber dort, wo es um die oft so genannten ‚Grenz-

fälle’ zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie geht, häufig nur am Rande

berücksichtigt wird (vgl. z.B. ABELS/SCHÄFER/WOLF 2006). Gerade in Entscheidungssitua-

tionen, die tief greifende Veränderungen im Leben der Kinder zur Folge haben, wäre es

aber wichtig, die Sichtweise des Kindes auf seine Lage möglichst differenziert zu kennen.

„Auch dann könnte man seinen Wünschen nicht immer folgen, aber man wüsste zumin-

dest um die Diskrepanz [zwischen den kindlichen Wünschen und der getroffenen Ent-

scheidung, d. Verf.]“ (a.a.O., S.11).

Für die Untersuchung gibt es einige Themen, die ich für besonders relevant halte:

• Wie erleben die Kinder Übergänge und den Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsy-

chiatrie und in der Heimerziehung?

• Wie erleben sie Entscheidungsprozesse in solchen Situationen?

Aus den beiden genannten Fragen resultieren spezifischere Fragen, die für mich von Inte-

resse sind:

• Haben die Kinder das Gefühl, in die Entscheidung einbezogen worden zu sein und

konnten sie diese beeinflussen?

• Wie erklären sie sich die Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. die

Unterbringung im Heim? Wurden Entscheidungen für sie transparent und nachvoll-

ziehbar?

• Wie bewerten sie pädagogisches Handeln in Übergangssituationen?

• Wurde der Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. der Aufenthalt im

Heim als Hilfe wahrgenommen oder vielmehr als Belastung?

• Was stellte in diesem Zusammenhang besondere Belastungen dar und wie wurden

sie bei der Bewältigung unterstützt?

• Haben solche Unterbringungen Auswirkungen auf ihr Selbstbild? Gehen sie davon

aus, dass sie ‚das Problem’ darstellen und etwas an ihrem Verhalten ändern müssen?

• Wie betten sie diese kritischen Lebensereignisse in ihre Biographie ein?

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Kapitel II: Das zentrale Erkenntnisinteresse

Während ich diese Aspekte im Laufe der Interviews zur Sprache bringen möchte, soll es

auch möglich sein, dass die Kinder eigene Themen einbringen. Es ist durchaus denkbar,

dass die oben angeführten Fragen in diesem Zusammenhang für sie weniger Relevanz

haben und andere Aspekte wesentlicher sind.

Das praktische Interesse der Untersuchung liegt darin, aus den Äußerungen der Befrag-

ten Konsequenzen für die Soziale Arbeit abzuleiten. Denn „Einschätzungen und Ansich-

ten von Kindern und Jugendlichen sind für eine qualifizierte Hilfepraxis von unschätzba-

rem Wert, da sie die Perspektive von Professionellen erweitern und Anstoß zur kritischen

Reflexion sowie vielfältige Anregungen für die Weiterentwicklung dieser bieten“ (PIES

2004, S.429).

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Kapitel II: Das Erhebungsdesign

2. Das Erhebungsdesign

2.1 Welche Menschen sollen befragt werden?

Wie ich im Punkt ‚Das zentrale Erkenntnisinteresse’ bereits festgelegt habe, wird sich die

Untersuchung ausschließlich auf die Perspektiven von Kindern beziehen. Dies bedarf

sicherlich einer Begründung.

Mir erschien es von Beginn an nicht abwegig, die Untersuchung derart einzuschränken. Einzelne Pädagogen der Einrichtungen, zu denen ich während der Suche nach Interview-partnern Kontakt aufnahm, schienen aber fast enttäuscht zu sein, dass ich nicht auch Inter-views mit ihnen durchführen wollte und wiesen mich darauf hin, dass ich berücksichtigen müsse, dass es sich nur um eine von vielen Perspektiven auf den jeweiligen Hilfeverlauf handle.

Ich sehe die Kinder als Experten für ihre eigene Lebensgeschichte und die darin eingebet-

teten Hilfeverläufe. „Die Aussagekraft der subjektiven Einschätzungen sind dabei zu-

nächst in ihrer Eigenständigkeit als Ausdruck individueller Erfahrens- und Erlebensweisen

zu werten. Die jungen Menschen geben aus ihrer Sicht der Dinge Auskunft über ihre Er-

fahrungen mit Jugendhilfe [und der Kinder- und Jugendpsychiatrie, d. Verf.]“ (BMFSFJ

1998, S.107). Grundlage der Untersuchung werden von den Kindern erzählte (Lebens-)

Geschichten, Ereignisse und Meinungen sein. Es handelt sich also – wie bereits festge-

stellt – lediglich um eine von mehreren Sichtweisen auf den Hilfeprozess, meines Erach-

tens aber um eine besonders bedeutsame und ernst zu nehmende. Es muss jedoch be-

rücksichtigt werden, dass der subjektiven Wahrnehmung Verzerrungen und Selektionen

unterliegen, die beispielsweise dem Versuch einer möglichst günstigen Selbstdarstellung

der Kinder zuzuschreiben sind (vgl. FINKEL/HAMBERGER 1998, S.76). Da es nicht Ziel die-

ser Arbeit ist, festzustellen und zu bewerten, ob es im einzelnen Fall objektiv gesehen

‚richtig’ oder ‚falsch’ war, Kinder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und in stationären

Jugendhilfeeinrichtungen unterzubringen und wie diese Übergänge gestaltet wurden, hal-

te ich diese Einschränkung für vertretbar.

Bei den Überlegungen, welche Personen für die Untersuchung infrage kommen, gibt es

für mich mehrere Auswahlkriterien:

• Die Kinder sollen Übergänge zwischen der Heimerziehung und der Kinder- und Ju-

gendpsychiatrie erfahren haben. Es handelt sich also um unmittelbare Übergänge

zwischen pädagogischen Betreuungssettings und eher medizinisch orientierten Set-

tings.

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Kapitel II: Das Erhebungsdesign

Nach den Aussagen der Mitarbeiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie der verschie-dener Heimeinrichtungen gibt es weit mehr Kinder, die nach einer kinder- und jugendpsy-chiatrischen Behandlung in der Heimerziehung untergebracht werden, als Kinder die aus Heimen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie überwiesen werden.19

• Der Kontakt der Kinder zur Kinder- und Jugendpsychiatrie soll sich nicht auf einen rein

ambulanten beschränken, sondern mit einem stationären Aufenthalt verbunden gewe-

sen sein, da es mir explizit um den (zeitlich begrenzten oder dauerhaften) Wechsel

des Lebensfeldes geht.

• Unabdingbare Voraussetzung ist, dass die Kinder die Bereitschaft zeigen, mit mir als

einer fremden Person über ihre Erlebnisse – die sie unter Umständen als sehr belas-

tend empfunden haben – zu sprechen.

• Ein weiteres Auswahlkriterium resultiert aus der von mir gewählten Untersuchungsme-

thode, deren Beschreibung und Begründung ich an diesem Punkt vorgreifen möchte.

Um Interviews in dieser Form durchführen zu können, sollten die Befragten ein be-

stimmtes Alter erreicht haben. HEINZEL (1997) beschreibt zwar, dass es durchaus

möglich ist, auch mit Kindern, die jünger als 14 Jahre sind, Interviews zu führen, weist

aber gleichzeitig darauf hin, dass von ihr befragte Experten (z.B. BEHNKEN) angaben,

dass eine Schulung der Interviewer im Vorfeld unbedingt notwendig sei und die Inter-

viewfragen im Vorfeld mit Kindern in Bezug auf deren Verständlichkeit erprobt werden

sollten. Dies ist mir durch die begrenzte Zeit, die mir zur Verfügung steht, nicht mög-

lich. Ich gehe zwar davon aus, dass gelingende Interviews mit Jugendlichen auch eine

gewisse Übung erfordern, traue es mir hier aber eher zu, einen Zugang und eine an-

gemessene sprachliche Ebene zu finden als zu jüngeren Kindern.

Ich werde drei Interviews führen und analysieren, da diese geringe Anzahl es ermöglicht,

genauer auf die Besonderheiten des einzelnen Falles einzugehen (vgl. MAYRING 2002,

S.42).

2.2 Auswahl geeigneter Untersuchungsmethoden

Um die individuelle Sichtweise der Kinder hinsichtlich ihrer Hilfeverläufe, insbesondere

bezüglich der Übergänge zwischen Heimerziehung und Kinder- und Jugendpsychiatrie

und ihre damit gemachten Erfahrungen zu erheben, werde ich teilstandardisierte, leitfa-

19 Dies deckt sich mit den Ergebnissen eines vom Institut für soziale Arbeit (ISA) durchgeführten Praxisfor-schungsprojektes. Dies wird hier darauf zurückgeführt, dass einer relativ großen Anzahl von Heimeinrichtun-gen weniger kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken gegenüberstehen. Dadurch stellen Direktüberweisun-gen für Heime eher Ausnahmesituationen dar, während sie für jugendpsychiatrische Kliniken eher zum Alltag gehören. In Kliniken treten außerdem aufgrund der wesentlich kürzeren Unterbringungsdauer Aufnahme- bzw. Abgabesituationen häufiger auf als in Heimen (vgl. GINTZEL/SCHONE 1990b, S. 35).

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Kapitel II: Das Erhebungsdesign

dengestützte Interviews durchführen. Ich habe mich für die Methode des Interviews ent-

schieden, weil sich durch einen sprachlichen Zugang das subjektive Erleben der Kinder

am ehesten ableiten lässt (vgl. MAYRING 2002, S.66).

Mögliche Nachteile und Risiken bei dieser Form der Datenerhebung können „der Einfluß

des Interviewenden durch nonverbale und verbale Reaktionen auf die Äußerungen des

Befragten, Mißverständnisse, die unter anderem auch durch die Fragenformulierung auf-

treten können, der Einfluß der sozialen Erwünschtheit auf die Antworten, bis hin zur mög-

lichen Differenz zwischen den verbalen Äußerungen und dem tatsächlichen Verhalten der

Befragten [sein, d. Verf.]“ (FRIEBERTSHÄUSER 1997, S.371).

Für die Methode eines teilstandardisierten, leitfadengestützten Interviews spricht zum

einen der stärkere Strukturiertheitsgrad während des Interviews, durch den bestimmte

Themen zur Sprache gebracht werden können, die ich im zentralen Erkenntnisinteresse

festgelegt habe. Ein weiterer Grund für die Wahl dieses Verfahrens besteht darin, dass

sich mein Erkenntnisinteresse unter Umständen auf relativ kurze Passagen (Übergänge)

in der Biographie der Kinder bezieht, die ohne eine gewisse Lenkung des Interviewverlau-

fes eventuell nicht Bestandteil der Erzählungen sein würden. Bei rein narrativen Inter-

views würde stattdessen möglicherweise ein relativ hoher Anteil von Datenmaterial erho-

ben, der für die Untersuchung nicht relevant ist.

Rein narrative Interviews erfordern außerdem eine hohe Gesprächsbereitschaft und -fä-

higkeit der Interviewpartner, die nicht bei allen Kindern anzunehmen ist (vgl. LENZ 1986,

S.139 in Bezug auf LEY 1984, S.241f.). Ein Vorteil der Methode des Leitfadeninterviews

ist, dass sie diese hohe Gesprächsbereitschaft den Kindern nicht in dem Maße abverlangt

und der Leitfaden sie in ihren Erzählungen unterstützen kann. 20Vor dem Interview wird ein Leitfaden entwickelt, der die für mich relevanten Themen und

teilweise bereits vorformulierte Fragen enthält, wodurch die Interviewthematik eingegrenzt

und einzelne Themenkomplexe vorgegeben werden. Ein Vorteil des Leitfadens liegt darin,

dass von einer gewissen Vergleichbarkeit der Ergebnisse einzelner Interviews auszuge-

hen ist (vgl. FRIEBERTSHÄUSER 1997, S.375). Ziel des Leitfadens ist es nicht, alle in ihm

enthaltenen Fragen zu stellen und eine bestimmte Fragenfolge einzuhalten. Ich werde

versuchen, den Verlauf der Interviews so zu gestalten, dass die Leitfragen lediglich als

Gerüst dienen und „die einzelnen Themenkomplexe […] offene Erzählaufforderungen

enthalten, mit denen die Befragten dazu aufgefordert werden, ihre subjektiven Einschät-

zungen und Erfahrungen anhand von konkreten Schilderungen von Erlebnissen und an-

hand von Beispielen darzustellen“ (FRIEBERTSHÄUSER 1997, S.376). Durch dieses Vorge-

hen möchte ich den Befragten die Möglichkeit geben, offen, das heißt ohne Antwortvor-

20 Der Leitfaden ist im Anhang beigefügt.

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Kapitel II: Das Erhebungsdesign

gaben auf meine Fragen zu reagieren. Eine offene Gestaltung und flexible Handhabung

des Leitfadens soll es zum anderen den Kindern ermöglichen, eigene Themen anzuspre-

chen.

Der Leitfaden dient also nicht zur Vorstrukturierung eines Frage-Antwort-Schemas, „son-

dern fungiert im Gegenteil lediglich als Orientierungsrahmen und Gedächtnisstütze für

den Interviewenden, indem er Hintergrundwissen thematisch organisiert. […] Allerdings

soll dieser ’leitende Faden’ den Befragten nicht aufoktroyiert werden, sondern er dient vor

allem der Unterstützung und Ausdifferenzierung von Erzählsequenzen des Befragten“

(FRIEBERTSHÄUSER 1997, S.380). Wenn die Kinder eigene Themen zur Sprache bringen,

die im Leitfaden nicht enthalten sind, für die Untersuchung oder die Erhaltung des Ge-

sprächsfadens aber bedeutsam sind, werde ich an diesen Stellen spontan „Ad-hoc-

Fragen“ formulieren (vgl. MAYRING 2002, S.70).

In der Literatur wird empfohlen, den Leitfaden durch die Durchführung von Probeinter-

views zu testen und gegebenenfalls zu modifizieren (vgl. z.B. MAYRING 2002; FRIEBERTS-

HÄUSER 1997).

Die Durchführung von Probeinterviews war mir aufgrund des hohen Zeitaufwandes bei der Suche nach Interviewpartnern und ohnehin einer geringen Anzahl von Kindern, die für mein Erkenntnisinteresse in Frage kamen und sich zu Interviews bereit erklärten, nicht möglich. Ich versuchte aber, nach dem ersten Interview (mit Elfriede) jene Fragen, die meiner Inter-viewpartnerin lediglich knappe Antworten entlockt hatten, zu modifizieren.

Ein mögliches Risiko von Leitfaden-Interviews ist, dass das Interview zu einem Frage-

Antwort-Dialog verkürzt wird, bei dem lediglich Fragen ‚abgehakt’ werden, ohne dem In-

terviewten Raum für eigene Erzählungen und Themen zu geben. In diesem Fall würde der

Leitfaden eher die Gewinnung von Informationen blockieren, als diese zu fördern. Mittei-

lungen und Informationen können auch durch Interviewerfehler, wie Aufforderungen zu

kurzen Darstellungen, das Ablesen von Fragen, Nicht-Beachten von Äußerungen des

Befragten etc., blockiert werden (vgl. FRIEBERTSHÄUSER 1997, S.377 in Bezug auf HOPF

1978).

Obwohl ich mir im Vorfeld der Interviews über diese möglichen Probleme und Fehler be-wusst war, fiel es mir vor allem im Interview mit Elfriede schwer, es angemessen durchzu-führen. Ich stellte fest, dass mich der Leitfaden an einigen Stellen eher hinderte, spontan auf Themen einzugehen, die von ihr aufgeworfen wurden und ich sehr am Leitfaden fest-hielt. Ich hatte im Nachhinein das Gefühl, dass es bei einem weniger strukturierten Inter-view teilweise zu ausführlicheren Darstellungen gekommen wäre. Um diese aufgetretenen Probleme bei den folgenden Interviews zu vermeiden, verkürzte ich den Leitfaden, so dass er nur noch wenige vorformulierte Fragen enthielt und stattdessen relevante Themen nur noch stichpunktartig aufgeführt wurden.21 Weiterhin führte ich während der Interviews mit Aylin und Tim einen Zwischenschritt durch. Nachdem Aylin und Tim mit der Erzählung ihrer Geschichte geendet hatten, zeichnete ich die von ihnen geschilderten Stationen ihrer Bio-graphie auf und platzierte die Zeichnung so, dass sowohl die Befragten als auch ich sie se-

21 Im Anhang ist der Leitfaden für das Interview mit Elfriede als Leitfaden I, der modifizierte Leitfaden für die beiden folgenden Interviews als Leitfaden II gekennzeichnet.

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Kapitel II: Das Erhebungsdesign

hen konnten. Den weiteren Verlauf der Interviews strukturierte ich anhand der aufgezeich-neten Stationen. So war es möglich, zu verdeutlichen, bei welcher Station wir uns gerade in der Erzählung befanden, was zuerst und was später geschah.

22Bei der Datenerhebung ist von möglichen subjektiven Verzerrungen auszugehen (vgl.

MAYRING 2002, S.44). „Jeder bastelt sich seine Wirklichkeit so zusammen, wie er/sie sich

selbst sehen will oder welchen Eindruck er/sie machen will. D.h. Dinge werden verdrängt

oder auch aus bestimmten Beweggründen nicht erzählt oder anders erzählt als sie sich

abgespielt haben. […] Jenseits dieser Einschränkungen zur Aussagekraft biographischer

Erzählungen […] darf aber nicht übersehen werden, daß sie als subjektive Deutungen von

Wirklichkeit Bestand haben.“ (BMFSFJ 1998, S.108f.).

22 Subjektive Verzerrungen können nicht nur auf der Seite des Befragten entstehen. Auch der Einfluss des Interviewers kann zu Verzerrungen führen. Schon während der Datenerhebung fließen auch dessen Deutun-gen vor seinem Erfahrungshintergrund ein und können den Verlauf des Interviews beeinflussen. Ich gehe davon aus, dass sich dies gerade in Leitfadeninterviews nicht völlig vermeiden lässt, möchte aber auf diese mögliche Einschränkung hinweisen.

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Kapitel II: Durchführung der Untersuchung

3. Durchführung der Untersuchung

Unter diesem Punkt möchte ich dem Leser einige Einblicke in den Ablauf der ‚Feldphase’

meiner Untersuchung gewähren.

3.1 Kontaktaufnahme

Einen wesentlichen Teil der Vorbereitung der Untersuchung stellte die Suche nach Inter-

viewpartnern dar. Hier mussten Einrichtungen gefunden werden, in denen Kinder lebten,

die den für meine Untersuchung relevanten Übergang zwischen Heimerziehung und Kin-

der- und Jugendpsychiatrie erlebt hatten.

Bis kurz vor Beginn meiner Diplomarbeit hatte ich als Aushilfskraft in einer Heimeinrichtung gearbeitet, in der einige Kinder lebten, auf die meine Auswahlkriterien zutrafen und von de-nen ich annahm, dass sie sich zur Teilnahme an den Interviews bereit erklären würden. Ei-ne erste Überlegung war, diese Kinder zu befragen. Dafür sprach, dass eine gewisse Ver-trauensgrundlage zwischen den Kindern und mir hätte vorausgesetzt werden können, die den Befragten und auch mir als Interviewer die Interviewsituation möglicherweise erleich-tert hätte. Ich verwarf diesen Gedanken allerdings recht schnell, da ich davon ausging, dass die Kinder während ihren Erzählungen ein gewisses Vorwissen meinerseits zu ihrer Biographie vorausgesetzt hätten und es so zu verkürzten Darstellungen gekommen wäre. Ein weiterer Punkt, der gegen Interviews mit Kindern dieser Einrichtung sprach, lag darin, dass ich die Entscheidungen, warum sie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie unterge-bracht worden waren, kannte und mir bereits eine Meinung dazu gebildet hatte. Ich be-fürchtete, dass dies eine unvoreingenommene Auswertung der Daten unmöglich machen würde.

Nachdem ich auf unterschiedlichen Wegen (z.B. über Jugendämter, Kommilitonen die

Praktika in Heimen gemacht hatten etc.) Einrichtungen ausfindig gemacht hatte, die in

Frage kamen, rief ich dort an und stellte kurz mein Vorhaben vor. Für die Folgezeit wurde

dann ein Termin vereinbart, um vor Ort das Thema meiner Diplomarbeit, mein geplantes

Untersuchungsdesign und die Ziele der Arbeit genauer darzustellen und zu besprechen.

Weiterhin legte ich die Themen, die Gegenstand der Interviews sein sollten, offen. Hier

ging es mir darum, dass die dortigen Pädagogen einschätzten, ob die Interviews die Kin-

der nicht zu stark belasten würden.

Wenn es möglich war, sprach ich auch vor dem eigentlichen Interviewtermin persönlich

mit den Kindern, um organisatorische Dinge wie die Anonymisierung und die Verwendung

des Aufnahmegerätes mit ihnen zu klären und einen ersten Eindruck von ihnen zu gewin-

nen. Ich ging davon aus, dass es für die Durchführung der Interviews ausreichen würde,

ihnen zu erläutern, wie ich mir den Verlauf vorstellte – nämlich dass sie mir erst etwas

über sich und ihr Leben erzählten und ich ihnen im Anschluss noch einige Fragen stellen

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Kapitel II: Durchführung der Untersuchung

würde – und dass ich über Kinder schrieb, die im Heim lebten und darüber hinaus Psychi-

atrie-Erfahrungen hatten. Hier verlangten aber die Mitarbeiter sämtlicher Einrichtungen,

dass ich den Kindern im Vorfeld einige Fragen vorstellte. ‚Damit sie wissen, worauf sie

sich einlassen’, so der Tenor. Ich versuchte dann die Interviewthemen möglichst vage zu

umschreiben, da ich befürchtete, dass sich die Kinder andernfalls zu genau überlegen

würden, was sie mir auf bestimmte Fragen antworten sollten.

Erklärten die Kinder sich zur Teilnahme bereit, wurde ein Interviewtermin vereinbart, an

dem sie ausreichend Zeit hatten.

3.2 Durchführung der Interviews

Die Interviews erfolgten im alltäglichen Milieu der Befragten, also an ihrem aktuellen Le-

bensort, entweder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder in den jeweiligen Heimein-

richtungen.

Zu Beginn der Termine wies ich sie ausdrücklich darauf hin, dass sie jederzeit entschei-

den könnten, welche Fragen sie beantworten möchten und welche nicht. Ich schaltete das

Aufnahmegerät erst dann ein, wenn sie ihre Bereitschaft signalisierten.

Hier ist festzuhalten, dass das Aufnahmegerät mich anscheinend mehr störte als die Kin-der, die dem Mikrofon nach kurzer Zeit keine Beachtung mehr schenkten. Ich ertappte mich hingegen nicht nur einmal bei dem Gedanken, dass das gerade von mir Ausgesprochene wörtlich in der Transkription erscheinen würde.

Vor und während der Interviews versuchte ich, den Interviewten zu vermitteln, dass ich sie

als Experten für die Thematik und als gleichberechtigte Gesprächspartner ansah. Ich be-

mühte mich, eine Gesprächsebene zu finden, die der der Befragten gerecht wurde und

ihnen erzählgenerierende Fragen zu stellen, sie während ihrer Erzählung nicht zu unter-

brechen und Pausen nicht sofort zu überbrücken, sondern ihnen Zeit zu lassen, falls sie

zu weiteren Erzählungen ansetzen würden. Dies gelang mir in einigen Fällen gut, in man-

chen gar nicht.

Vor allem bei dem Interview mit Elfriede hatte ich ständig das Gefühl, das Gespräch in Gang halten und Pausen überbrücken zu müssen.

Wie bereits in Punkt 2.2 dieses Kapitels skizziert wurde, empfand ich den Leitfaden wäh-

rend des ersten Interviews eher störend als hilfreich, da ich sehr daran festhielt und so

wenig spontan auf die Themen der Befragten einging. Nach der Modifikation und Überle-

gungen zu einer besseren Handhabung des Leitfadens fiel es mir leichter, die folgenden

Interviews zu führen.

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Kapitel II: Durchführung der Untersuchung

Im Vorfeld der Interviews hatte ich die Befürchtung, dass ich meinen Interviewpartnern

Fragen stellen könnte, die zu einer starken emotionalen Belastung während der Inter-

viewsituation führen könnten. Meine Fragen schienen den Kindern aber in keinem Fall

unangenehm zu sein, und ich entschied von Fall zu Fall, bei welchen Themen ich genauer

nachfragen konnte und bei welchen ich den Eindruck hatte, dass man sie besser ruhen

ließe. Ich nehme an, dass die Erfahrungen mit therapeutischen Gesprächssituationen, die

die Befragten hatten, sich auch auf die Interviewverläufe auswirkten. Für sie war es ver-

mutlich weniger befremdlich, mit einer fremden erwachsenen Person über ihre Erfahrun-

gen zu sprechen, als ich erwartet hatte.

3.3 Nachbereitung der Interviews und Aufbereitung der Daten

Möglichst zeitnah zu den Vorgesprächen und Interviews machte ich mir Notizen zu der

Gesprächssituation und zu Besonderheiten, die mir an meinen Gesprächspartnern und

mir aufgefallen waren sowie zu Fehlern, die ich während der Interviewführung an mir

wahrgenommen hatte etc.

Nach den Interviewterminen hörte ich mir zu Hause die Aufnahmen an, um mir nochmals

Notizen zur Interviewsituation zu machen (z.B. zu nonverbalen Äußerungen) und um

spontane Ideen (z.B. zu angesprochenen Themen) zu notieren.

Ein notwendiger Zwischenschritt nach der Datenerhebung und vor der Auswertung der

Interviews besteht in der Aufbereitung der Daten. Ich habe alle Interviews am jeweils fol-

genden Tag vollständig transkribiert. Bei den Transkriptionsregeln habe ich mich an ei-

nem von GLINKA (1998, S.21ff. & S.62) vorgestellten Modell für Transkriptionszeichen ori-

entiert.23 Während der Transkription wurde die Anonymisierung der Daten vorgenommen.

Gleichzeitig notierte ich mir aufkommende Ideen, Auffälligkeiten, angesprochene Themen

und erste Deutungen.

23 Die Transkriptionsregeln und Transkripte sind im Anhang beigefügt.

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Kapitel II: Das Auswertungsverfahren

4. Das Auswertungsverfahren

Bei der Auswertung der Interviews orientiere ich mich am „Themenzentrierten komparati-

ven Auswertungsverfahren“ nach LENZ (1986, S.144ff.) und einer leichten Modifikation

dieser Verfahrensweise nach WOLF (1999, S.45ff.).24

LENZ (1986, S.144ff.) unterteilt sein Auswertungsverfahren in fünf Arbeitsschritte:

1. Kontrolle der Transkription anhand der Tonbandaufnahmen

Nach der Fertigstellung der Transkription wird überprüft, ob die sprachlichen Äußerungen

richtig und vollständig verschriftlicht wurden (vgl. LENZ 1986, S.145). „Dieses aufwendige

Verfahren des Korrekturhörens ist notwendig, um später bei der Analyse Fehlinterpretati-

onen zu vermeiden, die auf Übertragungsfehler zurückgehen“ (SCHMIDT 1997, S.546).

Durch das mehrmalige Anhören der Tonbandaufnahmen wird zusätzlich sichergestellt,

dass der Forscher im Auswertungsprozess das Gesagte noch ‚im Ohr’ hat. So bleiben

Eindrücke erhalten, die im Interviewtranskript nicht mehr nachzuvollziehen sind (vgl. LENZ

1986, S.145).

2. Identifizieren von Themenkomplexen

Das transkribierte Material wird hier darauf durchgesehen und untersucht, welche The-

men und Aspekte in ihm enthalten sind. Die im Text vorhandenen Informationen werden

einzelnen Themenkomplexen zugeordnet. „Dabei ist zu beachten, daß Aussagen zu be-

stimmten Themenkomplexen nicht nur dann auftreten, wenn explizit danach gefragt wird“

(a.a.O., S.145). Es ist möglich, dass einzelne Textstellen mehreren Themenkomplexen

zugeordnet werden können (vgl. a.a.O., S.145).

An dieser Stelle des Verfahrens nimmt WOLF (1999, S.47f.) eine Modifikation vor, an der

ich mich orientieren werde. Während im Verfahren nach LENZ untersuchungsrelevante

Themen schon vor der Interpretation der Interviewtexte festgelegt sind, geht WOLF davon

aus, dass während der Auswertung der Interviews zusätzliche Themenkomplexe, die

durch die Befragten angesprochen werden, entwickelt werden können. Umfangreiche

24 Ich habe die von Lenz vorgestellten Verfahrensschritte nicht genau übernommen, sondern habe an einigen Stellen Modifikationen vorgenommen um meinem Thema gerecht werden zu können. Diese Änderungen werde ich im Anschluss an die jeweiligen Verfahrensschritte aufzeigen.

47

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Kapitel II: Das Auswertungsverfahren

Themenkomplexe werden weiter untergliedert. Es ist möglich, dass es Themen gibt, die in

allen Interviews angesprochen werden sowie Themen, die nur Gegenstand einzelner In-

terviews sind.

Wie im zentralen Erkenntnisinteresse beschrieben, hatte auch ich Themen, die ich für be-sonders untersuchungsrelevant hielt, wollte aber außerdem Themen, die durch die Kinder eingeführt wurden, in die Auswertung einbeziehen. Ein von allen Kindern eingebrachtes Thema sind z.B. Regeln und Strukturen und deren Vergleich in Bezug auf verschiedene Einrichtungen. Dieses Thema wurde in allen Interviews angesprochen, obwohl ich nicht danach gefragt hatte.

Ein mögliches Problem, dass durch die Verwendung von Leitfadeninterviews entstehen

kann besteht darin, dass durch den Leitfaden und die Nachfragestrategien eventuell The-

men, die den Befragten nicht so wichtig sind, eine stärkere Relevanz erhalten als in einer

freieren Form der Erzählung. Dies kann zu Fehlinterpretationen und falschen Gewichtun-

gen in der Auswertung führen (vgl. SCHMIDT 1997, S.566).

3. Themenanalyse

„Aufgabe dieser Stufe ist es, schrittweise nachzuvollziehen und zu rekonstruieren, was

der/die Gesprächspartner/in mit den Äußerungen zu einem bestimmten Themenkomplex

’eigentlich gemeint’ hat und diese textimmanenten Bedeutungsinhalte in Form eines ’Sub-

strats’ festzuhalten“ (LENZ 1986, S.145). Hier werden die einzelnen Interviews unabhängig

voneinander betrachtet. Dabei ist zu beachten, dass Aussagen immer in dem Kontext, in

dem sie stehen, erfasst werden müssen (vgl. WOLF 1999, S.48).

Zunächst werden Aussagen als Beispielfälle für bestimmte Muster gelesen und als Hypo-

thesen an den Text herangetragen. Im weiteren Verlauf wird nach Aussagen gesucht, die

diese Muster belegen oder ihnen widersprechen. Die anfänglichen Muster können nun

präzisiert, modifiziert und erweitert werden. Das modifizierte Muster wird erneut an den

Text herangetragen und weiterentwickelt usw. Die so kontrollierten und verdichteten Mus-

ter werden zu einem Substrat zum jeweiligen Thema zusammengefasst (vgl. LENZ 1986,

S.146f.).

„Ein besonderer Vorteil dieser Methode liegt darin, daß die ’Eigenarten’ des einzelnen

Interviews bzw. Gesprächspartners herausgearbeitet werden, bevor der Vergleich mit

anderen erfolgt. Auf diese Weise werden die Daten in einer gegen unangemessene Ge-

neralisierungen und Nivellierungen widerstandsfähigeren Form aufgearbeitet“ (WOLF

1999, S.48).

Dieser Schritt musste sehr gründlich bearbeitet werden. Manchmal stellte ich fest, dass ich vor der Datenerhebung unbewusst Thesen aufgestellt hatte, die hier durch die Aussagen der Befragten widerlegt wurden. So wurde dieser Teil der Auswertung für mich zu einem

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Kapitel II: Das Auswertungsverfahren

ständigen und bedeutenden Lernprozess, durch den ich angeregt wurde, eigene Einstel-lungen noch einmal zu überdenken. An einigen Stellen mussten anfängliche Deutungen modifiziert werden. Ich fand es span-nend festzustellen, wie sehr kleine Nuancen die Einstellungen der Befragten z.B. zu Ent-scheidungsprozessen verändern können. Bei einer oberflächlichen Betrachtung der Inter-viewtranskripte wären solche Nuancen nicht deutlich geworden, die sich bei der weiteren Interpretation als sehr gewichtig herausstellten. Manchmal musste ich – dann etwas verärgert über meine Interviewführung – feststellen, dass ich für eine gründlichere Interpretation während der Interviews genauer hätte nachfra-gen müssen. Die aus den Interviews gewonnenen ‚Substrate’/‚Muster’ sind in Kapitel III durch grau hin-terlegte Kästchen im Anschluss an die jeweilige Darstellung der biographischen Station ge-kennzeichnet. Dies soll dazu dienen, meine Deutung der Hilfeverläufe und die daraus re-sultierenden Themen besser nachvollziehen und überprüfen zu können.

4. Bestimmung von Grundmustern auf der Basis thematisch geordneter Substrate

Während die bisherigen Auswertungsschritte am Einzelfall orientiert waren, werden in

diesem Schritt die Substrate aller Interviewprotokolle miteinander verglichen mit dem Ziel,

Grundmuster herauszubilden (vgl. LENZ 1986, S.147 in Bezug auf GLASER/STRAUSS 1967,

S.21ff.). „Diese Grundmuster werden durch Kontrastierung mit weiteren Fällen überprüft

und ggf. modifiziert“ (WOLF 1999, S.49).

Ich wertete die Interviews mit Elfriede, Tim und Aylin ausführlich aus um sie anschließend miteinander zu vergleichen. Die Ergebnisse dieses Schrittes werden in Kapitel IV vorge-stellt. Der Vergleich der Interviews erfolgte unter der Einbeziehung und Darstellung der re-levanten Themen. In einem letzten Schritt habe ich versucht, aus den gewonnenen Ergebnissen Konsequen-zen für die pädagogische Praxis abzuleiten, die sich günstig auf die Gestaltung von Über-gängen, und stationären Hilfesettings auswirken könnten.

5. Konstruktion deskriptiver Modelle

„Auf dieser Stufe ist es notwendig, typische, häufig vorfindbare Kombinationen von

Grundmustern aufzuspüren, zu überprüfen und diese in Form von Modellen zu formulie-

ren.“ (LENZ 1986, S.148). Hier ging es LENZ um die Überprüfung einer Hypothese und die

Entwicklung einer Typologie.

Auf die Durchführung dieses Schrittes habe ich verzichtet, da dies den Rahmen meiner Diplomarbeit überschreiten würde.

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Kapitel III: Betrachtung der Hilfeverläufe

Kapitel III: Betrachtung der Hilfeverläufe

In diesem Kapitel wird die Analyse der einzelnen Interviews anhand der darin geschilder-

ten biographischen Stationen und Hilfeverläufe dargestellt. Zu Beginn soll dem Leser je-

weils ein kurzer Überblick über die biographischen Daten in Form einer Tabelle gegeben

werden. Im Anschluss werden die Hilfeverläufe und darin enthaltene Übergänge ausführ-

lich beschrieben und kommentiert. Die Darstellung der Biographie umfasst auch Statio-

nen, die für mein Erkenntnisinteresse nicht unmittelbar von Bedeutung sind. Sie sollen

dennoch aufgezeigt werden, um Zusammenhänge und Hintergründe zu verdeutlichen.

Ziel dieses Schrittes ist es, dem Leser einen umfangreichen Einblick in die Biographie der

Kinder zu geben.25 Aus der Darstellung und Deutung der biographischen Stationen wer-

den Aussagen abgeleitet, die sich auf die Gestaltung von Übergängen und das Erleben

der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie des Heimaufenthaltes beziehen. Diese werden

durch grau hinterlegte Kästchen markiert.

Da die Hilfeverläufe auch ambulante Maßnahmen beinhalten, werde ich die jeweilige Hil-

feform in kurzen Exkursen vorstellen. Hier ist festzuhalten, dass es sich lediglich um gro-

be Einführungen zum besseren Verständnis handelt, die nicht den Anspruch auf Vollstän-

digkeit haben.

25 Hier möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass ich mich bei der Rekonstruktion der Biographien aus-schließlich auf die Erzählungen der Jugendlichen beziehe und mir keine weiteren Informationen z.B. aus den Akten des Jugendamtes oder durch Gespräche mit anderen am Fall beteiligten Personen zur Verfügung ste-hen. Es handelt sich also bereits um eine Interpretation der eigenen Biographie aus der Sicht der Jugendli-chen.

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Kapitel III: Aylin

1. Aylin

26Zum Zeitpunkt des Interviews ist Aylin 14 Jahre alt. Sie lebt seit ca. acht Monaten in

einer Außenwohngruppe eines überregionalen Jugendhilfeträgers. Die Wohngruppe bietet

neun Plätze für Kinder im Alter zwischen 13 und 17 Jahren.

Überblick über die biographischen Daten

geboren im Dezember 1990 Leben im mütterlichen Haushalt Hilfearrangements während dieser Zeit • Betreuung in einer Ta-

gesgruppe • Betreuung durch das

Jugendamt • ambulante Therapie

„[.] ich hab meine ersten paar Jahre bei meiner Mama […] gelebt“ (10/IX)27

„ich hatte n bisschen Betreuung vom Jugendamt“ (31/X) „ich war in Therapie wegen meiner Mutter und weil ich damit alles nicht klar kam“ (32/X)

Auszug bei der Mutter im Alter von zwölf Jahren

„dann war’s mir zu viel und dann bin ich zum Jugendamt gegangen“ (13-14/X)

ca. vier Monate ‚Über-gangszeit’ in einer Wohn-gruppe in Werdohl

„dann hatt ich den Herrn Müller der hat mir geholfen nach meinem Papa zu gehen, und [.] der musste aber in der Bundeswehr, in der Türkei für n paar Monaten, da bin ich erst nach Werdohl gekommen“ (1-3/X)

Knapp drei Jahre im väterli-chen Haushalt Suizidversuch Hilfearrangements: • Betreuung durch das

Jugendamt (Sozialpäda-gogische Familienhilfe)

„dann bin ich zu meinem Vater vor 3 Jahren gezogen, und dann klappte das da auch nicht mehr und dann hab ich Schläge bekommen, dann hab ich angefangen mit Dro-gen zu nehmen und in diesem Drogenzustand hab ich dann versucht, mich umzubringen“ (12-15/IX) „wir hatten da auch Betreuung vom Jugendamt mit mei-nem Papa“ (29-30/XIII)

ca. zwei Monate kinder- und jugendpsychiatrische Stati-on (S5) im Alter von 14 Jah-ren

„dann lag ich 2 Monate in Krankenhaus, in der Kinderkli-nik auf S5, das is wie in der Psychiatrie“ (15-16/IX)

Aufnahme in einer Wohn-gruppe Hilfearrangements: • ambulante Therapie

„dann bin ich hier hin gekommen“ (17/IX) „beim Herrn Endlein der ist auch in der Kinderklinik, der ist da Therapeut“ (9-10/XX)

26 Aus Datenschutzgründen wurden sämtliche Namen, Orte, Daten etc., die auf Personen zurück schließen lassen könnten, verfremdet. 27 Die in Klammern angegebenen Zahlen geben die Textstelle des Zitates im Interviewtranskript an: (10/IX) entspricht Zeile 10 auf Seite IX. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichte ich darauf, Pausen, Wortab-brüche etc. in den Interviewzitaten anzugeben. Solche Auslassungen werden durch eckige Klammern ge-kennzeichnet.

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Kapitel III: Aylin

• reiten „jetzt bin ich halt draußen [aus der Therapie, d. Verf.]. Aber dafür geh ich jetzt reiten.“ (19/XX)

1.1 Das Leben bei der Mutter

Aylins Eltern leben getrennt, ob sie geschieden sind (bzw. ob sie überhaupt verheiratet

waren), geht aus ihrer Erzählung nicht hervor. Bis zum Alter von 12 Jahren lebte sie in

einem gemeinsamen Haushalt mit ihrer Mutter.

Pädagogische und therapeutische Hilfen

Während dieser Zeit wurden verschiedene pädagogische und therapeutische Maßnah-

men durchgeführt. Aylin besuchte eine Tagesgruppe, außerdem wurde eine ambulante

Therapie durchgeführt. Die Therapie begründet sie damit, dass sie mit der Situation bei

der Mutter nicht zurecht kam (vgl. 32/X). Weiterhin erwähnt sie eine Betreuung vom Ju-

gendamt, wobei hier nicht deutlich wird, um welche Form der Betreuung es sich handelte

und in welchem Umfang diese stattfand (vgl. 30-31/X). Im weiteren Verlauf des Interviews

spielen diese Maßnahmen keine Rolle mehr. Lediglich die Tagesgruppe erwähnt Aylin im

Zusammenhang mit dem Auszug bei ihrer Mutter.

Exkurs: Tagesgruppen Bei der Erziehung in einer Tagesgruppe handelt es sich um eine teilstationäre Maß-nahme der Hilfen zur Erziehung nach § 27 i.V.m. § 32 KJHG. „Die Tagesgruppe […] soll für Familien, die sich in besonders belasteten Lebenssituationen befinden, den Verbleib des Kindes oder Jugendlichen in der Familie und im sozialen Milieu ermögli-chen, indem die Familie von der Betreuung und Versorgung des Kindes oder Jugendli-chen tagsüber entlastet wird und gleichzeitig durch eine intensive Beratung, Betreuung und Unterstützung der Familie mittelfristig eine Bewältigung der Problemursachen und eine Neuorientierung ermöglicht wird“ (MÜNDER et al. 2003, S.310). Es handelt sich meist um alters- und geschlechtsgemischte Gruppen, in denen Kinder ab ca. sieben Jahren betreut werden (vgl. KRÄUTER 2004, S.151). „Ziele sind die emotionale Stabili-sierung und Entwicklungsförderung des Kindes, die Förderung und Begleitung der schulischen Integration und die Verbesserung der Beziehung zwischen Eltern und Kin-dern“ (a.a.O., S.151). Durch die Gewährleistung von Angeboten wie heilpädagogisch-therapeutische Einzelförderung und sozialpädagogisch-therapeutische Familienarbeit unterscheiden Tagesgruppen sich von anderen Betreuungsangeboten wie z.B. der Ganztagsschule und dem Hort (vgl. a.a.O., S.151).

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Kapitel III: Aylin

Die Situation bei der Mutter

„dann ist alles schief gelaufen, dann hab ich auch n paar Schläge gekriegt und mit meiner Mama nicht mehr so vertragen“ (10-12/IX)

Das Leben bei der Mutter scheint über einen längeren Zeitraum für Aylin kaum noch er-

träglich gewesen zu sein. Sie verwendet während des Interviews die Formulierungen „das

war mir zu viel“ (13 & 41/X), „Ich bin damit nicht mehr klar gekommen“ (2/XI).

Die Mitarbeiter der Tagesgruppe kannten die Situation und rieten ihr, sich an das Jugend-

amt zu wenden, wenn sie sich bei ihrer Mutter nicht mehr wohl fühlte (vgl. 38-40/X). Aylins

Schilderung lässt darauf schließen, dass sie sich in der Tagesgruppe verstanden fühlte

und während dieser belastenden Zeit die beratende Funktion der Tagesgruppe als hilf-

reich erlebte. Nach einem Streit mit ihrer Mutter befolgte Aylin den Rat der Tagesgruppe

und kontaktierte das Jugendamt (vgl. 11-14/X). Zu diesem Zeitpunkt war sie ca. zwölf

Jahre alt.

1.2 Die erste Wohngruppe

„dann hatt ich den Herrn Müller der hat mir geholfen nach meinem Papa zu gehen“ (1-2/X).

Herr Müller ist ein Mitarbeiter des Jugendamtes, in dem Aylin einen Ansprechpartner fand

(vgl. 19-20/X). Auffallend ist an dieser Passage, dass Aylin namentlich von Herrn Müller

spricht. Im weiteren Verlauf des Interviews benennt sie Mitarbeiter des Jugendamtes nur

selten beim Namen, in großen Teilen wählt sie stattdessen die Bezeichnung ‚das Jugend-

amt’.

Auszug bei der Mutter und ‚Zwischenstation’ in einer Wohngruppe in Werdohl

„dann hatten die keine andre Lösung mehr, und dann sollt ich in der Wohngruppe nach Werdohl gehen“ (8-9/XI)

Ursprünglich war geplant, dass Aylin in den väterlichen Haushalt zieht. Dies war ihr

Wunsch, den sie mit der Unterstützung von Herrn Müller auch gegen den Willen ihrer Mut-

ter durchsetzen konnte (vgl. 19-23/X). Da der Vater für vier Monate in die türkische Armee

einberufen wurde, musste eine Übergangslösung für Aylins zwischenzeitlichen Verbleib

gefunden werden. Eine Alternative war der weitere Verbleib bei ihrer Mutter („das wollt ich

überhaupt nicht“ (8/XI)). Weiterhin boten Aylins Tante sowie eine Freundin von Aylin an,

sie in der Zwischenzeit aufzunehmen. Diese Lösung wurde weder durch das Jugendamt

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Kapitel III: Aylin

noch durch Aylins Mutter akzeptiert. Auf die Frage, warum das Jugendamt und die Mutter

sich dagegen ausgesprochen hätten, antwortet Aylin:

„dat weiß ich überhaupt nicht, […] die meinten, […] da würde gar

kein Grund für geben, [.] es wär einfach so, wie die’s sagen“ (25-26/XI)

An einer Stelle erwähnt Aylin außerdem, dass sie nirgendwo anders hinwollte (vgl. 19/XI).

Ob sie hier lediglich den Verbleib bei der Mutter meint, oder ob weitere Möglichkeiten zur

Diskussion standen, wird nicht deutlich.

Da es keine Alternative gab, wurde Aylin gegen ihren Willen – allerdings mit dem Ver-

sprechen, dass es nur für eine begrenzte Zeit sei – in einer Wohngruppe in Werdohl un-

tergebracht (vgl. 8-9/XI & 17-19/XI).28

Auffallend ist, dass Aylin die Kontaktaufnahme zum Jugendamt und die Entscheidung, zu

ihrem Vater zu ziehen, aus ihrer Sicht aktiv beschreibt. Sie sei zum Jugendamt gegangen,

„dann haben wir entschieden dass ich zu meinem Vater ziehe“ (21-22/X). Ihrem Wunsch,

nicht länger bei der Mutter bleiben zu wollen, wurde entsprochen. Herr Müller wird positiv

und als helfende Figur dargestellt (vgl. 1-2/X). Auch als die Mutter kein Einverständnis

signalisierte, unterstützte er Aylin.

Im Gegensatz dazu beschreibt sie den Übergang in die Wohngruppe aus einer passiven

Rolle. Sie scheint jeglichen Einfluss auf diese Entscheidung verloren zu haben:

„Ich hab zwar dagegen gestreikt, aber die ham mich einfach da

rein getan“ (17-19/XI)

Herr Müller wird nun nicht mehr namentlich erwähnt, stattdessen spricht Aylin nur noch

vom ‚Jugendamt’, bzw. sagt lediglich ‚die’, was neben dem Mitarbeiter des Jugendamtes

die Mutter mit einschließt (vgl. 28/XI). Hier ist nicht klar, ob Herr Müller zu diesem Zeit-

punkt noch am Fall beteiligt war, oder ob zwischenzeitlich die Zuständigkeit innerhalb des

Jugendamtes gewechselt hat.29

• Den Auszug bei der Mutter begründet Aylin mit der belastenden familiären Situation.

• Aylin benötigt in Krisensituationen Ansprechpartner, durch die sie Unterstützung er-

fährt.

• Sie nimmt es als Entlastung und Hilfe wahr, wenn sie mit ihren Interessen, Bedürfnis-

sen und Befürchtungen ernst genommen wird und diese – auch gegen den Willen der

Mutter – vertreten werden.

28 Wie diese Heimgruppe bzgl. Mitarbeiterstruktur, Platzkapazität etc. ausgestaltet war, erzählt Aylin nicht. 29 Mittlerweile ist eine Mitarbeiterin des Jugendamtes (Frau Schneider) mit dem Fall betraut. Zu irgendeinem Zeitpunkt muss also ein Wechsel stattgefunden haben.

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Kapitel III: Aylin

• Keine Beteiligung bei Entscheidungen bzw. das Handeln gegen ihre Interessen löst

Unverständnis, Passivität und/oder Verweigerung aus (vgl. hierzu auch den Übergang

in die Kinder- und Jugendpsychiatrie).

Über die viermonatige Unterbringung in der Wohngruppe spricht Aylin während des Inter-

views kaum. Auf die Frage wie es in Werdohl gewesen sei, antwortet sie:

„[.] das hat mir [.] gar nicht gefallen. Weil die waren so streng, man

durfte nur bis 6 Uhr abends raus, und dann gab’s noch [.] Hausaufgabenzeit, und das war dann zu wenig Ausgang, was wir

hatten“ (12-14/XI)

Es ist auffallend, dass sie keine Äußerungen über einzelne Personen (beispielsweise an-

dere Kinder, die in der Wohngruppe lebten oder einzelne Betreuer) macht, sondern auch

hier die unbestimmte Bezeichnung ‚die’ wählt und ansonsten lediglich die als zu gering

wahrgenommene Freizeit beschreibt (vgl. 12-14/XI). Es ist möglich, dass die Wohngruppe

rückblickend für Aylin nur eine kurze Episode darstellt, die in ihren Augen keinen starken

Einfluss auf ihr weiteres Leben hatte. In ihrer ersten Darstellung ihres Lebens wird die

Wohngruppe noch nicht einmal erwähnt (vgl. 10-17/IX). Für Aylin scheint es wichtiger zu

sein, den Übergang in die Wohngruppe und den in diesem Zusammenhang wahrgenom-

menen Zwang und die eigene Ohnmacht zu beschreiben als die Wohngruppe selbst.30

1.3 Das Leben beim Vater

Übergang in den väterlichen Haushalt

„Ja, das war schon seltsam, weil ich hatte mich da eingelebt, schon, und ja, dann bin ich zu meinem Vater gegangen“ (31-32/XI)

Aylin zog zu ihrem Vater, als dieser nach Deutschland zurückkehrte. Hier stellt sie sich

wieder in einer aktiven Rolle dar: Es sei allein ihre Entscheidung gewesen, ob sie in der

Wohngruppe bleibe oder zu ihrem Vater gehe (vgl. 13-17/XII). Obwohl sie sich zunächst

gegen die Heimunterbringung gewehrt hatte und diese auch im Nachhinein negativ be-

wertet, fiel ihr die Wahl nicht leicht, da sie sich mittlerweile in der Wohngruppe eingelebt

hatte. Die Entscheidung über ihren weiteren Lebensort und die Befürchtung, dass ein Le-

ben bei ihrem Vater mit den gleichen Problemen wie bei ihrer Mutter verbunden sein wür-

de, löste Unsicherheit aus (vgl. 11 & 28-31/XII). Mit dieser unsicheren Situation scheint sie

alleine gelassen worden zu sein. Ihre Mutter versagte ihr die Unterstützung:

30 Dieser Feststellung ist allerdings hinzuzufügen, dass die Fragen während des Interviews sie vielleicht auch eher dazu ermutigten, den Übergang als die Wohngruppe selbst darzustellen.

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Kapitel III: Aylin

„meine Mama hat gesagt, ich soll das machen was ich will, sie will damit nichts zu tun haben, und ich sollte auch dann nicht ankom-

men, wenn ich Probleme hätte oder so was“ (19-21/XII).

Sowohl bei der Entscheidung, den gemeinsamen Haushalt mit der Mutter zu verlassen,

als auch bei der, die Wohngruppe zu verlassen, hat es den Anschein, dass dies für Aylin

mit der Entscheidung für oder gegen ihre Mutter verbunden war. Es geht also zum einen

um die Alternative, den Alltag mit dem einen oder anderen Elternteil in einer gemeinsa-

men Wohnung zu teilen, bzw. mit keinem von beiden und in einem Heim zu leben. Zum

anderen ist diese Entscheidung mit dem drohenden Bruch in der ohnehin belasteten Be-

ziehung zur Mutter verknüpft. Dies muss für Aylin eine zusätzliche Belastung dargestellt

und zu ihrer Unsicherheit beigetragen haben.

Auffallend ist, dass Aylin bisher nur davon spricht, wie ihre Mutter sich äußerte. Die Mei-

nung ihres Vaters erwähnt sie nicht. Auch im weiteren Verlauf des Interviews wird deut-

lich, dass die Ansichten der Mutter für Aylin von größerer Bedeutung sind als die des Va-

ters.

Das Jugendamt hielt es für unproblematisch, dass Aylin in den väterlichen Haushalt zieht

(vgl. 25-26/XII). An dieser Stelle relativiert Aylin ihre aktive Rolle indem sie sagt „dann

ham se mich dahin gebracht“ (26/XII).31

Heute bereut Aylin ihre Entscheidung:

„dann hab ich dat Falsche ausgesucht, und bin zu meinem Vater

gegangen“ (12/XII).

• Aylins Eindruck, autonom Entscheidungen bezüglich ihres weiteren Lebensortes tref-

fen und diese verantworten zu müssen, löste Überforderung aus. Erschwerend wirkte

sich aus, dass ihr zukünftige Hilfe bei Schwierigkeiten durch ihre Mutter versagt wur-

de.

• Ihr fehlte die Gewissheit, dass ihre Entscheidung zum Vater zu ziehen nicht gleichbe-

deutend ist mit der Entscheidung für oder gegen ihre Mutter. Der Eindruck, dass Ent-

scheidungen mit dem Verlust der Loyalität eines Elternteils verbunden sind, stellte für

Aylin eine Belastung dar.

• Entscheidungen, die sich auf grundlegende Dinge wie den Lebensort auswirken, so-

wie unklare Zukunftsperspektiven erzeugen bei Aylin Unsicherheit und Ängste.

31 Es ist denkbar, dass diese Widersprüchlichkeit zwischen der Aussage, dass es einerseits ihre eigene Ent-scheidung war und sie andererseits sagt, dass sie zum Vater ‚gebracht’ wurde, durch ihre rückblickende Inter-pretation und ihr heutiges Wissen um die weitere Entwicklung bei ihrem Vater entsteht. So wäre es ihr zumin-dest möglich, ihre eigene Verantwortlichkeit für den ‚Fehler’ zu ihrem Vater gegangen zu sein, im Nachhinein zu relativieren.

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Kapitel III: Aylin

Situation beim Vater

„dann klappte das da auch nicht mehr, und dann hab ich auch Schläge von ihm bekommen, dann hab ich angefangen mit Drogen

zu nehmen“ (12-14/IX)

Aylin lebte fast drei Jahre bei ihrem Vater. Die Lebensgefährtin des Vaters ist Aylins Tante

mütterlicherseits, die ebenfalls mit ihren beiden Töchtern in diesem Haushalt lebt. Aylin

erzählt, dass sie gut miteinander zurecht gekommen seien (vgl.33/XI). Dem widerspricht

allerdings die Aussage, dass es mit ihrer Tante täglich Auseinandersetzungen (vgl. 33-

35/XI) und auch mit dem Vater ‚Stress’ – Aylin berichtet sogar von ‚Schlägen’ – gegeben

habe (vgl. 12-14/IX & 35-36/XII). Diese Ambivalenz lässt sich auf zweierlei Weisen deu-

ten: eine mögliche Deutung ist, dass es neben Krisen und Streit auch positive Erlebnisse

mit dem Vater gab. Eine zweite Lesart ist, dass Aylin sich in dieser Interviewpassage le-

diglich auf ihre beiden Cousinen bezieht, mit denen sie zurecht kam.32

Die ältere der Cousinen spielte während dieser Zeit eine wichtige Rolle für Aylin. Zwi-

schen den Mädchen schien eine Art Bündnis entstanden zu sein. Wenn es zu Hause wie-

der Ärger gab, trafen sie sich mit anderen Jugendlichen. Während dieser Treffen kamen

sie in Kontakt mit Drogen (vgl. 32-36/XI & 40/XII-1/XIII). Zwischen der Situation im Haus-

halt des Vaters und dem Drogenkonsum scheint für Aylin ein Zusammenhang zu beste-

hen (vgl. 40/XII-1/XIII). Die Treffen mit den anderen Jugendlichen und der damit verbun-

dene Drogenkonsum könnte für die Mädchen eine Flucht aus der Krisensituation darge-

stellt haben.

Die Situation, als die Eltern den Drogenkonsum entdeckten, beschreibt Aylin folgender-

maßen:

„[…] dann hatte mein Vater das rausgekriegt, und hatte mich gefragt, ob ich Drogen neh-me und ich hab gesagt nein, [.] ja, und dann hat er mir gedroht mit nem Drogentest, und da hab ich gesagt, soll er doch machen, aber hat er noch nicht gemacht gehabt [.] ja, bei meiner Cousine kam’s auch raus, dass die Drogen nimmt und dann wurde sie [.] von ihrer Mutter geschlagen, und dann hatte meine Cousine zurück geschlagen, und dann wurde sie in der Drogenklinik eingewiesen nach Dortmund, [.] ja und ich sollte [.] das dann auch sagen, dass ich Drogen nehme und ich hab’s aber nicht zugegeben“ (1-8/XIII).

Diese Beschreibung legt nahe, dass Aylin die Situation bedrohlich wahrgenommen hat.

Sie muss angenommen haben, dass sie ihren eigenen Drogenkonsum verdecken muss,

um dem gleichen ‚Schicksal’ wie dem ihrer Cousine zu entgehen.

32 Ich halte die zweite Lesart für wahrscheinlicher. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass Aylin sich mit ihrer Cousine gut verstand, während sie nicht von positiven Erlebnissen mit dem Vater spricht.

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Kapitel III: Aylin

Die Betreuung vom Jugendamt

„die ham immer alles über meinen Kopf hinweg entschieden, was zu Hause gilt“ (40/XIII)

Aylin und ihr Vater erhielten Betreuung durch das Jugendamt (Herr Jung) in Form von

Sozialpädagogischer Familienhilfe (SPFH) (vgl. 36-38/XIII).

Exkurs: Sozialpädagogische Familienhilfe SPFH ist eine ambulante Form der Hilfen zur Erziehung, die nach § 27 i.V.m. § 31 KJHG gewährt wird. Ziel ist es, die Selbsthilfekompetenzen zur Problemlösung und All-tagsbewältigung der Familie durch eine gezielte Verbindung von pädagogischen und alltagspraktischen Unterstützungsleistungen zu stärken (vgl. MÜNDER et al. 2003, S.306f.). Kennzeichnend für diese Hilfeform ist, dass sie in der Umwelt der Familie ge-leistet wird, was eine besondere Bereitschaft der Familie zur Mitarbeit, sowie eine be-sondere Beziehung zwischen dem Familienhelfer und der Familie erfordert (vgl. a.a.O., S.306f.). Der Familienhelfer sucht die Familien in ihren Wohnungen auf, der zeitliche Umfang der Kontakte ist – je nach Bedarf – unterschiedlich (vgl. HELMING 2004, S.136). „Der Ansatz der SPFH ist mehrdimensional, d.h. die Hilfe orientiert sich am gesamten Familiensystem und an dessen sozialem Netzwerk mit seinen Erziehungs-, Bezie-hungs-, sozialen und materiellen Problemen und Ressourcen; die konkrete Ausgestal-tung der Hilfe entwickelt sich in der Zusammenarbeit von Familie und Fachkraft“ (a.a.O., S.136).

Dieses Hilfearrangement beschreibt sie äußerst negativ:

„Ja, die ham immer alles über meinen Kopf hinweg entschieden, was zu Hause gilt, und die hatten so n Plan aufgestellt, wie ich mich anziehe morgens früh, wie ich mich schmin-ke, wie ich meine Haare mache und [.] welche Schuhe ich anhab und wenn das nicht zu-sammengepasst hat, oder wenn’s nicht gebügelt war oder so was, [...] das wurde dann in der Woche immer [.] zusammengezählt, und dann [.] gab immer 10 Cent [.] für gut anzie-hen, und [.] also so wie Erpressung, wie ich mich anziehe und wie ich mich nicht anziehe. Ja und wenn ich das dann nicht so gemacht hab, wie die es wollten, dann gab’s Strafe zum Beispiel Badezimmer aufräumen, oder Küche aufräumen, ja, und ich wollt mich ein-fach nicht länger verarschen lassen von denen. Weil ich seh das nicht ein, dass die sa-gen, was ich anziehe, was ich nicht anziehe und wie ich meine Haare mache […]“ (40/XIII-8/XIV).

Hier wird deutlich, dass nicht versucht wurde, Aylin in Entscheidungen und Planungen

einzubeziehen und Regeln mit ihr auszuhandeln um so ihre Einsicht und Zustimmung zu

gewinnen. Stattdessen wurde von ihr verlangt, dass sie die aufgestellten Regeln einhält,

was mit Belohnungen und Strafen durchgesetzt werden sollte. Dies empfand sie als ‚Er-

pressung’, was zumindest innere Verweigerung bei ihr auslöste. Ob sie ihren Unmut auch

aussprach und ihr die Möglichkeit dazu gegeben wurde, erzählt sie nicht. Es gelang nicht,

eine vertrauensvolle Basis zwischen ihr und Herrn Jung herzustellen, durch die Probleme,

die Aylin beschäftigten, thematisiert und aufgearbeitet werden konnten.

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Kapitel III: Aylin

Der Suizidversuch

„in diesem Drogenzustand hab ich dann versucht, mich umzubrin-gen“ (14-15/IX)

Im Laufe der Zeit wurde Aylin ‚alles zu viel’ und sie vermisste ihre Cousine. Als sie abends

auf die Kinder ihrer Cousine aufpassen musste, nahm sie Drogen und versuchte an-

schließend sich das Leben zu nehmen, indem sie eine große Menge Tabletten schluckte.

Nachdem sie nachts bewusstlos aufgefunden wurde, wurde sie mit dem Krankenwagen in

eine Kinderklinik gebracht (vgl. 8-15/XIII). Aylin war zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt.

Ich stellte während des Interviews an dieser Stelle fest, dass Aylin, als sie noch bei ihrer

Mutter lebte, wusste, dass sie sich an das Jugendamt wenden kann, wenn sie Probleme

hat und dass ihr dort geholfen wird. Auf meine Frage, ob sie auch beim Jugendamt gewe-

sen sei, als es ‚Stress’ mit dem Vater gegeben habe (vgl. 23-28/XIII), antwortet Aylin,

dass sie aufgrund der Betreuung durch Herrn Jung das Vertrauen in das Jugendamt ver-

loren hatte. Sie bezieht sich aber auch auf die Unsicherheit, als sie aus dem mütterlichen

Haushalt auszog. Ihre Ausweglosigkeit in der Situation wird deutlich (vgl. 29/XIII-8/XIV).

Ihren versuchten Suizid begründet Aylin also mit verschiedenen Dingen: Zum einen stell-

ten die ständigen Konflikte in der Familie, verbunden mit Gewalt, eine starke Belastung für

sie dar, hinzu kam ihr Drogenkonsum und die Einweisung der Cousine in die ‚Drogenkli-

nik’. Erschwerend wirkte sich aus, dass sie keinen Ansprechpartner bei Problemen hatte.

Während sie drei Jahre zuvor wusste, dass sie im Jugendamt Unterstützung bei Proble-

men findet, hatte sie mittlerweile ihr Vertrauen in das Jugendamt verloren und erfuhr von

dieser Seite eher Bevormundung als Hilfe. Wie sich der Kontakt zwischen Aylin und ihrer

Mutter zu diesem Zeitpunkt gestaltete, erzählt sie nicht. Es ist aber möglich, dass auch die

Aussage der Mutter, dass Aylin mit ihren Problemen nicht mehr ‚ankommen’ solle, wenn

sie zu ihrem Vater ziehe, sich noch immer auf das Verhältnis auswirkte. Der Suizidver-

such ist meines Erachtens als ein deutliches Anzeichen von Überforderung und Hilflosig-

keit zu werten.

59

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Kapitel III: Aylin

1.4 Die Kinder- und Jugendpsychiatrie

Übergang in die Kinder- und Jugendpsychiatrie

„dann ham se mich gezwungen, auf S5 zu gehen. Und ich wollte das nie wirklich machen“ (22-23/XIV)

Nachdem Aylin nach ihrem Suizidversuch drei Wochen auf einer normalen Station der

Kinderklinik in Lüdenscheid verbracht hat, wurde sie auf die Station S5 verlegt. Hier han-

delt es sich um eine kinder- und jugendpsychiatrische Station der Kinderklinik (vgl. 16-

21/XIII).

Der Oberarzt der Kinderklinik, das Jugendamt und die Eltern von Aylin erklärten ihr, dass

sie nach ihrem Suizidversuch Hilfe in Form einer stationären Therapie benötige (vgl. 25-

25/XIV). Ursprünglich sollte sie in die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marsberg einge-

wiesen werden, wogegen sie sich sträubte (vgl. 21-22/XIV). Dies begründet sie damit,

dass sie im Vorfeld schon einiges von Marsberg gehört und sich die Klinik bereits ange-

schaut hatte, da schon vor ihrem Suizidversuch eine stationäre Therapie angedacht war.

Auch ihre Schwester hatte dort bereits eine stationäre Therapie gemacht, während der

diese Beruhigungsmittel verabreicht bekam. Die Klinik gefiel Aylin nicht und auch die Ein-

nahme von Medikamenten wollte Aylin vermeiden (vgl. 38/XIV-2/XV). Die Erwachsenen

entschieden daraufhin, dass Aylin auf Station S5 der Kinderklinik in Lüdenscheid stationär

behandelt werden sollte. Sie beschreibt, dass sie keinen Einfluss auf diese Entscheidung

hatte:

„Also die ham gesagt, ja wir ham entschieden, dass du auf S5

gehst, dass es besser für dich ist, und ich hatte gar nichts mehr zu sagen darüber. Also das war für die schon klar, dass ich da hoch-

gehe.“ (19-21/XV)

Aylin fühlte sich von den Erwachsenen abgeschoben:

„man denkt, man wird abgeschoben von den Leuten. Dass die ei-

nen gar nicht wollen, und dass die einen weg haben wollen“ (26-27/XV)

Aylin erlebte an dieser Stelle erneut, dass Erwachsene über ihr Leben entscheiden. Es

wird aber auch deutlich, dass ihre Interessen nicht völlig einflusslos blieben: Ihr Wunsch,

nicht in Marsberg untergebracht zu werden, wurde respektiert.

60

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Kapitel III: Aylin

Die Verantwortung für eine Veränderung schien in Aylins Hände gelegt zu werden: sie

musste eine Therapie machen, sie benötigte Hilfe. Ob und inwieweit ihre Familie in die

Therapie einbezogen wurde, erzählt Aylin nicht.33

• Übergänge und Entscheidungen werden dann besonders ungünstig erlebt, wenn Aylin

einer Koalition von Erwachsenen gegenübersteht und so eine ungleiche Machtvertei-

lung wahrnehmbar wird.

• Der erlebte Zwang überdeckte Aylins Wahrnehmung, einen Teil von Entscheidungen

beeinflusst zu haben.

• Die mangelnde Einsicht in die Notwendigkeit der Maßnahme und ihre fehlende Zu-

stimmung zur psychiatrischen Unterbringung machten es Aylin unmöglich, die Thera-

pie als Hilfe anzunehmen. Diese ungünstigen Voraussetzungen wurden verstärkt

durch das Gefühl abgeschoben und nicht gewollt zu sein.34

• Aylin wurde vermittelt, dass sie (allein) Hilfe benötigt.

• Ihre Vorstellung von der Psychiatrie löste Ablehnung aus.

Das Leben in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

„man hat sich schon richtig gefühlt wie im Knast“ (33-34/XVII)

Aylin verblieb ca. zwei Monate auf Station S5. Die Folge des erzwungenen Psychiatrie-

aufenthaltes war, dass sie sich an der Therapie nicht so beteiligte, wie es von ihr verlangt

wurde (vgl. 31-32/XIV). Die Frage, was durch die Therapie erreicht werden sollte, kann sie

nicht beantworten. Stattdessen erzählt sie, dass sie ‚Ausraster’ hatte und dann Beruhi-

gungsmittel bekam (vgl. 28-31/XV). Sie beschreibt die Auswirkungen der Medikamente:

„da konnte man echt den Tag danach gar nichts mehr machen.

Man war fertig wie sonst was, und war so zu gedröhnt, ich hab ge-dacht, ich hätt mir ganze Nacht die Drogen reingepfiffen oder so,

und oa das war so schrecklich“ (31-33/XV)

Es trat ein, wovor sie Angst hatte und was sie bewogen hatte, nicht nach Marsberg zu

gehen: sie musste Beruhigungsmedikamente einnehmen und erlebte diese als körperliche

– und wahrscheinlich auch psychische – Einschränkung und Belastung.

33 Geht man – wie oben bereits beschrieben – davon aus, dass verschiedene Faktoren in Aylins Lebenssitua-tion zu ihrem Suizidversuch führten, wäre es aber wichtig gewesen, ihr Umfeld in diese Therapie zu integrie-ren und Aylin das Gefühl zu geben, dass nicht nur sie behandlungsbedürftig ist. Stattdessen fühlte sie sich abgeschoben, chancenlos. 34 Vielleicht entstand das Gefühl nicht gewollt zu sein auch umgekehrt erst durch die mangelnde Zustimmung und den erlebten Zwang.

61

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Kapitel III: Aylin

Den Aufenthalt in der Psychiatrie bewertet Aylin äußerst negativ: sie ist der Meinung, dass

die Therapie keine Hilfe für sie war, sie fand es auf der Station S5 ‚schrecklich’ und be-

dauerte während des Psychiatrieaufenthaltes, dass der Suizidversuch nicht erfolgreich

war (vgl. 33-40/XV). Sie vermisste ihre Freunde, zu denen sie keinen Kontakt haben durf-

te, da die Gefahr bestand, dass diese ihr Drogen in die Klinik bringen. Auch ihre Familie

sah sie kaum (vgl. 1-10/XVI).

Als Aylin aufgefordert wird, die Zeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu beschreiben,

schildert sie den Tagesablauf (vgl. 6-12/XV) und merkt an, dass sie „nie [.] wirklich [.] was

getan [hat, d. Verf.]“ (14/XV). Nachmittags hatte Aylin eine halbe Stunde Ausgang, die sie

sich so einteilte, dass sie genug rauchen konnte, was ihr – wahrscheinlich aufgrund ihres

Alters – eigentlich verboten war. An dieser Stelle des Interviews stellt Aylin ihre Mutter

zum ersten Mal positiv dar: Gegen die geltenden Regeln versorgte ihre Mutter sie mit Zi-

garetten (vgl. 32-36/XIV & 8-11/XV). Möglicherweise hat während des Psychiatrieaufent-

haltes eine Wende in der Beziehung zwischen Aylin und ihrer Mutter stattgefunden.

Die Frage nach den Aufgaben und Tätigkeiten der Ärzte und des Betreuungspersonals

der Station beantwortet Aylin folgendermaßen:

„Die machen gar nicht so viel. Die gucken nur, dass wir ruhig bleiben, und dass wir was miteinander machen, [.] und sonst sitzen se eigentlich immer im Büro und schreiben ir-gendwas oder unterhalten sich mit den andren Erzieher, und also so viel hat man gar nicht von denen. […] Ich wollte nie was wirklich mit den Betreuern was zu tun haben oder so. [.] Und die ham auch manchmal […] die Außentür zugeschlossen, und man hat sich schon richtig gefühlt wie im Knast“ (27-34/XVII).

Es scheint in Aylins Wahrnehmung auf der einen Seite ein ‚Wir’, die Patienten der Station

und auf der anderen Seite die Betreuer gegeben zu haben. Die Betreuer empfand sie

eher als ‚Aufpasser’ denn als Ansprechpartner, zu denen Aylin möglichst keinen Kontakt

haben wollte. In ihrer Wahrnehmung beschäftigten sich die Betreuer auch lieber mit sich

selbst und untereinander als mit den untergebrachten Kindern. Dies deckt sich auch mit

ihrer Darstellung der Station, in der sie beschreibt, man habe ‚nie wirklich was getan’, bis

auf einmal, da habe die Gruppe einen Ausflug in die Stadt gemacht (vgl. 13-15/XV).

Auffallend ist der Vergleich der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit einem ‚Knast’. Dies

lässt darauf schließen, dass Aylin ihren Psychiatrieaufenthalt auch als Bestrafung für ihr

Verhalten wahrnahm. Die Assoziation zwischen der Psychiatrie und einem Gefängnis wird

durch die teilweise abgeschlossene Außentür sowie das Verhalten der Betreuer verstärkt,

die aufpassten statt sich mit den Kindern zu beschäftigen.

Interessant ist, dass Aylin im Zusammenhang mit der Psychiatrie, dem geschilderten Ta-

gesablauf und der Frage nach den Ärzten keine speziellen Therapien beschreibt, die sie

ja vermutlich gemacht hat. Dies steht eventuell im Zusammenhang mit ihrer Feststellung,

dass sie sich an der Therapie nicht ausreichend beteiligte und dass der Aufenthalt auf der

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Kapitel III: Aylin

Station keine Hilfe für sie war. Einzelne Therapien erscheinen ihr nicht erwähnenswert,

wichtiger ist ihr, zu beschreiben, dass die Psychiatrie mit Zwang, eingesperrt sein und

negativem Erleben verbunden war. Nur das Wissen, dass es ihren Psychiatrieaufenthalt

verlängern würde, hielt sie davon ab, von der Station wegzulaufen (vgl. 34-38/XVII).35

• Dadurch, dass auch nachträglich keine Zustimmung zu ihrem Psychiatrieaufenthalt

gewonnen wurde, überwog bei Aylin die Wahrnehmung von Zwang und Ohnmacht.

• Aylin nahm die Therapie nicht als sinnstiftend wahr und ihr fehlte die Einsicht in die

Zielsetzungen. Demzufolge entstand eine Verweigerungshaltung.

• Die mit dem Psychiatrieaufenthalt einhergehenden Kontaktabbrüche empfand sie als

zusätzliche Belastung.

• Es gingen mögliche Anknüpfungspunkte verloren, da es den Mitarbeitern der Psychi-

atrie nicht gelang, ein wohlwollendes Klima zu Aylin herzustellen und gemeinsam die

Freizeit zu gestalten.

• Die Einnahme von Medikamenten unter Zwang löste bei ihr negative Körperwahrneh-

mungen aus.

• Durch Zwang und Geschlossenheit nahm Aylin eine bestrafende Funktion der Kinder-

und Jugendpsychiatrie wahr.

Sie beschreibt die anderen Kinder auf der Station:

„Ja, die waren eigentlich so wie ich, also [.] n paar warn wegen Ausraster da, n paar we-gen Magersucht, ein paar wegen Ritzen und da warn schon schwierige Kinder. Find ich schon n bisschen (*hart*) mit dem Ritzen am ganzen Körper hatten se Wunden, und na paar Stück sind immer abgehauen von S5 und kamen wieder und überall Wunden und wurde genäht und schrecklich. Und 2 Mädchen die haben jeden Morgen, jeden Abend dieses Beruhigungszeug gekriegt“ (16-21/XVII).

Sie verstanden sich gut miteinander, passten sich aneinander an und erzählten sich, wa-

rum sie auf der Station waren (vgl. 23-24/XVII). Es fällt auf, dass Aylin die Passage mit

‚die waren eigentlich so wie ich’ beginnt, und im Folgenden auf die Probleme der anderen

Kinder eingeht und sie als ‚schwierig’ bezeichnet. Es lässt darauf schließen, dass auch

Aylins Selbstsicht sich auf die eigenen Defizite konzentrierte und die Unterbringung mit

Normalitätszweifeln einherging (nach dem Motto: ‚In der Psychiatrie sind eben schwierige

Kinder’). Allerdings grenzt sie sich im Folgenden auch von den anderen ab, indem sie

sagt, dass sie es ‚hart’ fand, was diese machten und Verhaltensweisen beschreibt, die sie

an sich nicht beobachtete (ritzen, entweichen etc.). An einer anderen Stelle erklärt sie,

dass sie für eine stationäre Therapie „nie wirklich bestimmt“ war (31/XIV).

35 Eine andere Lesart könnte sein, dass die Therapien so gestaltet waren, dass Aylin sie nicht als solche wahrgenommen hat.

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Kapitel III: Aylin

• Aylins Wahrnehmung der Probleme und Defizite der anderen Psychiatriepatienten

überwiegt der Wahrnehmung ihrer individuellen Persönlichkeiten.

• Die Psychiatrieunterbringung war mit Normalitätszweifeln, aber auch mit dem Versuch

der Abgrenzung verbunden.

1.5 Die zweite Wohngruppe

Übergang in die Wohngruppe

Aylin beschreibt den Übergang von der Kinder- und Jugendpsychiatrie in die Wohngruppe

in einem positiven Grundton. Ihre Mutter, das Jugendamt und der Oberarzt waren der

Meinung, dass sie nicht mehr in den väterlichen Haushalt zurückkehren soll (vgl. 12-

15/XVI). Ihre eigene Einstellung zu dieser Entscheidung beschreibt sie folgendermaßen:

„Also ich war sofort beschlossen, dass ich weg will. Also dass ich sofort hier hin möchte, dass es am besten für mich ist, also ich hab jetzt vor 3 Jahren so n großen Fehler ge-macht und bin nicht weg gegangen von der Familie, diesmal hab ich gründlich überlegt und hab auch sehr viel geweint darüber, weil das einem richtig weh tut, von der Familie weg zu kommen, und keine richtige Familie zu haben, ja aber ich bin froh, dass ich die Entscheidung getroffen hab“ (30-34/XVI).

Sie hatte die Möglichkeit zwischen verschiedenen Wohngruppen zu wählen und entschied

sich für die Wohngruppe, in der sie zum Zeitpunkt des Interviews lebt (vgl. 15-21/XVI).

Aylin scheint mit diesem Übergang einverstanden und akzeptiert die Entscheidung (vgl.

17-18/XVI & 19-10/XVI). Eine Woche später verließ sie Station S5 und zog in der Wohn-

gruppe ein (vgl. 20-21/XVI).

Ähnlich wie bei dem Übergang von der Mutter in die erste Wohngruppe in Werdohl, bzw.

zum Vater musste Aylin ein gemeinsames Leben mit ihrer Familie verlassen. Dennoch

gelingt es ihr hier, diese – wenngleich belastende – Entscheidung anzunehmen. Ich gehe

davon aus, dass es verschiedene Faktoren gibt, die dieses Erleben positiv beeinflusst

haben: Sie musste nicht mehr in die als belastend erlebte Situation im Haushalt des Va-

ters zurückkehren, und die Wohngruppe schien außerdem eine Art ‚Erlösung’ von dem

Leben in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu sein. Ein weiterer Unterschied ist, dass

dieser Übergang nicht erzwungen wurde oder gegen den Willen der Mutter geschah, son-

dern dass es eine Übereinkunft zwischen Aylin und den Erwachsenen gab. Sie fühlt sich –

wie im Folgenden deutlich werden wird – in der Wohngruppe relativ wohl, auch dies könn-

te sich positiv auf die rückblickende Sicht des Wechsels in die Wohngruppe ausgewirkt

haben.

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Kapitel III: Aylin

Belastend wirkte sich aber die Einsicht, keine ‚richtige’ Familie zu haben, aus. Hier wird

der Wunsch nach stabilen Familienverhältnissen, in denen Aylin Unterstützung und Har-

monie erfährt, deutlich.

Übergänge erlebt Aylin dann positiv, wenn

• sie Entlastungen von Lebensumständen schaffen, die als belastend empfunden wur-

den,

• Entscheidungen, die zu Übergängen führen, in Übereinkunft zwischen Aylin und Er-

wachsenen – vor allem zwischen Aylin und ihrer Mutter – getroffen werden,

• sie die Auswahl ihres künftigen Lebensortes zumindest beeinflussen oder sogar mit

Unterstützung selbst entscheiden kann.

Der Übergang zum Status ‚Heimkind’ ist mit Normalitätszweifeln und dem Wunsch nach

‚normalen’, intakten familialen Verhältnissen verbunden. Es ist belastend, wenn die Her-

kunftsfamilie nicht Aylins – und den gesellschaftlichen – Vorstellungen einer ‚richtigen’

Familie entspricht.

Das Leben in der Wohngruppe

„Ja für mich ist das jetzt hier n zu Hause und ja Mama zweite zu Hause, Papa dritte zu Hause“ (34/XX)

Aylin berichtet sehr ausführlich von der Wohngruppe, in der sie zum Zeitpunkt des Inter-

views seit knapp acht Monaten lebt. Sie beschreibt, dass sie jetzt weiß, dass ihr Leben

einen Sinn hat, weil es ihr hier besser als in ihrer Familie geht, zu der sie aber Kontakt hat

(vgl. 17/IX & 35-37/XV). Auch der bestehende Kontakt zur Familie könnte dazu beigetra-

gen haben, dass Aylin den Übergang in die Wohngruppe positiv bewertet. Die räumliche

Trennung scheint sich positiv auf das Verhältnis zu den Eltern auszuwirken und eine Ent-

spannung in der Eltern-Kind-Beziehung zu schaffen. So wird eine gegenseitige Annähe-

rung möglich.

Dass sich das Verhältnis zu ihren Eltern verbessert hat, wird auch an anderen Stellen des

Interviews deutlich. Mittlerweile sind die Eltern wieder Ansprechpartner bei Problemen

(vgl. 35-37/XX). Wenn sie wüsste, dass sich ein Zusammenleben mit der Mutter harmoni-

scher gestalten würde als vor ihrem Auszug vor drei Jahren, würde sie gerne wieder dort-

hin zurückkehren. Dies lehnt allerdings das Jugendamt ab (vgl. 40/XX-4/XXI). Aylins Ver-

hältnis zum Jugendamt ist im Moment nicht gut. Am liebsten hätte sie keinen Kontakt

mehr zum Jugendamt, aber sie weiß, dass dies nicht möglich ist, weil Mitarbeiter des Ju-

gendamtes an Hilfeplangesprächen teilnehmen müssen. Sie wünscht sich, dass sie einen

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Kapitel III: Aylin

Wechsel der Jugendamtsmitarbeiter erreichen kann und Herr Müller ihren Fall wieder ü-

bernimmt (vgl. 6-16/XXI).

Aylin war zu Beginn des Heimaufenthaltes oft den ganzen Tag unterwegs. Mittlerweile

verbringt sie ihre Freizeit meistens in der Wohngruppe („weil Lüdenscheid ist so asozial

geworden und hab ich keine Verträge mehr mit“ (37/XIX)). Dies könnte als Zeichen für

eine Veränderung gedeutet werden: Während sie bei ihrem Vater und auch in der An-

fangszeit in der Wohngruppe das Bedürfnis hatte, in die Stadt zu gehen um sich mit ande-

ren Jugendlichen zu treffen, lehnt sie dies mittlerweile ab und zieht es vor, in der Wohn-

gruppe zu bleiben. Die Betreuer bemühten sich in der Anfangszeit sie zu bewegen, mehr

Freizeit in der Wohngruppe zu verbringen. Nun signalisieren sie Aylin, dass sie auch hin

und wieder ‚rausgehen’ soll (vgl. 21-23/XX). Hier scheint aber kein Druck auf sie ausgeübt

zu werden, stattdessen wird ihr eine wohlwollende Einstellung der Betreuer signalisiert

und Aylin kann eigenständig entscheiden, wie sie ihre Freizeit gestaltet.

Während sie an einer Stelle des Interviews feststellt, man könne sich in der Wohngruppe

nicht richtig zu Hause fühlen (vgl. 13-14/XIX), sagt sie später, dass die Wohngruppe jetzt

ein Zuhause für sie sei, das zweite Zuhause sei bei ihrer Mutter, das dritte bei ihrem Va-

ter. Das findet sie anstrengend (vgl. 34-37/XX). Hier wird eine Ambivalenz zwischen dem

Wunsch nach einem Zuhause und der Vorstellung, wie ein ‚richtiges’ Zuhause aussieht

deutlich. Das Hin- und Hergerissensein zwischen einem Lebensort in der Familie und der

Wohngruppe ist ein wichtiges Thema in Aylins Leben, bei dem sie Unterstützung bedarf.

Mit den Betreuern der Wohngruppe versteht sie sich gut. Sie beschäftigen sich mit den

Kindern, wenn diesen langweilig ist und bieten Freizeitaktivitäten an. Wenn Aylin Hilfe

(beispielsweise bei der Neugestaltung ihres Zimmers) benötigt, signalisieren die Betreuer

die Bereitschaft, sie zu unterstützen (vgl. 40/XVII-6/XVIII). Allerdings berichtet Aylin auch

von einer Betreuerin (Anke), die die Zimmer der Kinder durchsucht, wenn diese nicht an-

wesend sind (vgl. 8-23/XVIII). Das empfindet sie als Eingriff in ihre Intimsphäre und als

Grenzüberschreitung:

„weil das gehört sich nicht, entweder wenn wir dabei sind, dann ist mir das scheißegal, aber wir können auch Sachen haben, die die nicht sehen sollen. [.] Und Privatsphäre kann man auch haben, aber bei der kann man das nicht haben. Also wenn die Dienst hat, muss man schon alles verstecken, da wo sie nicht drangeht“ (14-17/XVIII).36

36 Hier ist anzumerken, dass sich dieser Vorfall am Morgen des Interviews ereignet hat. Aylin hatte sich zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht mit Anke ausgesprochen. Es ist also möglich, dass Aylin Anke aufgrund der aktuellen Situation negativer beschreibt als sie es zu einem anderen Zeitpunkt getan hätte.

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Kapitel III: Aylin

Aylin ist es wichtig, dass zwischen ihr und den Betreuern Harmonie herrscht, sie gemein-

sam Spaß haben und die Stimmung gut ist (vgl. 33-35/XVIII). Neben dem derzeitigen

Streit mit Anke berichtet Aylin auch von positiven Erlebnissen mit ihr. Aylin ist hier in der

Lage zu differenzieren und festzustellen, dass ihr Verhältnis zu Anke vom beiderseitigen

Befinden abhängt (vgl. 29-34/XVIII).

Als sie die jetzige Wohngruppe mit der in Werdohl vergleicht, stellt sie fest, dass die Re-

geln hier nicht so streng sind. Wichtig ist ihr, dass die Betreuer Ausnahmen von den Re-

geln machen, was sie „richtig klasse“ findet (vgl. 38/XVI-6/XVII).

Aylin berichtet, dass innerhalb der Gruppe der Kinder eine große Fluktuation stattgefun-

den hat. Dies bewertet sie folgendermaßen:

„Doof. Weil man kann sich nicht richtig einleben. Man kann sich nicht wie zu Hause fühlen. Weil einer geht, einer kommt, einer

geht, einer kommt, das is wie in ner Disco“ (13-14/XIX).

Aylin verwendet hier das eindrückliche Bild von einer ‚Disco’, um die Heimgruppe zu be-

schreiben. Stellt man sich vor, wie Jugendliche von einer Disco reden, würde man wahr-

scheinlich davon ausgehen, dass sie diese ausschließlich mit Spaß verbinden. Aylin be-

nutzt dieses Bild aber, um auf die negativen Seiten aufmerksam zu machen: die Heim-

gruppe ist geprägt von einem ständige Kommen und Gehen, Neuaufnahmen und Entlas-

sungen, was es erschwert, sich besser kennen zu lernen und dauerhafte Bindungen auf-

zubauen. Hier wird ihr Wunsch nach Stabilität und Sicherheit deutlich, was sie benötigt,

um sich richtig zu Hause fühlen zu können.37

Ihr missfällt, dass viele der Kinder keine Rücksicht nehmen, vor allem wenn sie krank ist.

Die laute Musik der anderen empfindet sie als störend und sie wünscht sich dann mehr

Ruhe. Wenn sie krank ist, wäre sie gerne bei ihrer Mutter „die mit einem mit leidet“ (vgl.

15-28/XIX). Hier wird erneut der Wunsch nach einer intakten Familie deutlich. Interessant

ist, dass sie von einzelnen Kindern nur im Zusammenhang mit deren Auszug aus der

Wohngruppe berichtet. Ansonsten thematisiert sie lediglich die gesamte Gruppe.

Ein weiteres Thema, das in Bezug auf die Heimgruppe während des Interviews bespro-

chen wird, sind Hilfeplangespräche. Aylin teilt mit, dass sie vor den Hilfeplangesprächen

entscheiden darf, was besprochen wird, und was nicht. Während der Hilfeplangespräche

hat sie allerdings das Gefühl, dass sie zwar nach ihrer Meinung gefragt wird, die Erwach-

senen aber meist durchsetzen, was sie für richtig halten. „Man [.] denkt, man hat über-

haupt kein Mitspracherecht, warum muss man dann dabei sein?“ (vgl. 19-41/XXI) Wäh- 37 Das Fehlen des zentralen Merkmals ‚personale Stabilität’ kann als ein Definitionskriterium der Institution Heim angesehen werden. Durch Aufnahmen und Entlassungen der untergebrachten Kinder sowie Neueinstel-lungen und Kündigungen der dort arbeitenden Mitarbeiter ist dieses künstlich arrangierte Lebens- und Lern-feld in seiner Zusammensetzung deutlich instabiler als die ‚natürliche’ Primärgruppe Familie (vgl. FREI-GANG/WOLF 2001, S. 62).

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Kapitel III: Aylin

rend der Hilfeplangespräche werden nicht nur Aylins Fehler, sondern auch die der Gruppe

und der Mutter besprochen. Neben dem Fehlverhalten wird auch auf positive Entwicklun-

gen eingegangen (vgl. 31-33/XXI).

In Bezug auf die Heimgruppe wird deutlich, dass Aylin in der Lage ist, diese – zumindest

teilweise – differenziert zu betrachten. Während die vorangegangenen biographischen

Stationen ausschließlich positiv oder negativ bewertet wurden, wägt sie hier ab. Das Heim

und die Personen dort haben sowohl gute als auch schlechte Seiten.

Ambulante therapeutische Maßnahmen

Als Aylin in der Wohngruppe aufgenommen wurde, machte sie eine ambulante Therapie.

Sie berichtet, dass sie von den Betreuern der Wohngruppe gezwungen wurde, diese fort-

zuführen. Ihr wurde gedroht, aus der Gruppe entlassen zu werden, wenn sie die Therapie

abbricht. Trotz dieser Drohung weigerte Aylin sich, die Therapie zu besuchen und argu-

mentierte, dass ihr die Therapie nicht helfen würde, wenn sie es nicht selbst wolle. Mitt-

lerweile hat Aylin sich mit ihrer Argumentation durchgesetzt und hat die Therapie ab-

gebrochen. Stattdessen geht sie reiten, was ihr Spaß macht. Ob es sich hier um einfache

Reitstunden handelt oder sie eine Reittherapie macht, wird im Interview nicht deutlich (vgl.

4-29/XX).

• Aylins Einfluss auf Entscheidungen bezüglich des Lebensortes wirkt sich günstig auf

das weitere Erleben dieses Hilfesettings aus.

• Die Einsicht, kein Leben an einem gemeinsamen Ort mit der Familie führen zu kön-

nen, belastet Aylin.

• Aylin hat den Wunsch nach einem harmonischen und stabilen Verhältnis zu ihren El-

tern. Diese sollten Ansprechpartner bei Problemen bleiben. Werden der Erhalt von

Beziehungen und die Verbesserung der Beziehungen zu den Eltern unterstützt, emp-

findet Aylin dies positiv.

• Eine Atmosphäre zu den Betreuern, die durch Wohlwollen, Unterstützung und Harmo-

nie gekennzeichnet ist, schafft eine Basis, auf der Aylin Hilfe als solche wahrnimmt.

• Es wirkt sich günstig auf Aylins Erleben aus, wenn Regeln nicht starr sind, sondern

individuell an ihre Bedürfnisse angepasst werden können.

• Aylin wünscht sich eine Privatsphäre, die als solche respektiert wird.

• Die Gestaltung von gemeinsamen Freizeitaktivitäten ist für Aylin ein wichtiger Be-

standteil des Heimlebens.

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Kapitel III: Aylin

• Innerhalb der Heimgruppe wünscht sich Aylin mehr gegenseitige Rücksichtnahme.

• Die große Fluktuation innerhalb der Heimgruppe und damit verbundene Beziehungs-

abbrüche, wirken einem Gefühl von Heimat entgegen.

• Aylin wünscht sich in Hilfeplangesprächen nicht nur angehört, sondern auch ernst ge-

nommen und an Entscheidungen beteiligt zu werden.

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Kapitel III: Tim

2. Tim

Zum Zeitpunkt des Interviews ist Tim 14 Jahre alt. Er lebt in einer Außenwohngruppe ei-

nes überregionalen Jugendhilfeträgers. In der Wohngruppe sind gegenwärtig acht Jungen

untergebracht, wobei es sich konzeptionell um eine koedukative38 Gruppe handelt.

Überblick über die biographischen Daten

bis zum Alter von ca. sechs Monaten in der leiblichen Familie

„ich war früher halt in so ner Familie, wo ich aufgewach-sen bin, das war in Hamburg, mein Vater war halt Alko-holiker, meine Mutter war halt psychisch [.] krank“ (9-10/XXIII)

ca. drei Jahre Unterbringung in einem Heim

„dann bin ich halt in Kinderheim gekommen, hab ich da bis 3 gelebt“ (12/XXIII)

im Alter von dreieinhalb Jah-ren Unterbringung in einer Pflegefamilie ambulante Hilfen: ein halbes Jahr ambulante Therapie im Alter von ca. zwölf Jahren

„dann hat mich halt so ne Familie adoptiert […] und da hatte n paar Jahre geklappt, und dann irgendwann hat’s aber überhaupt nicht mehr geklappt so, 2, 3 Jahre, und dann hatten die sich an so n Psychologen gewandt […] und da hatt ich dann n halbes Jahr Therapie“ (13-18/XXIII)

Aufnahme in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Marsberg im Alter von 13 Jahren

„dann hatten se halt vom Jugendamt, erfahren dass es halt so ne Psychiatrie gibt, wo ma halt reingehn können. […] Und hatten ma das halt ma ausprobiert“ (19-22/XXIII)

Aufnahme in einer Heim-gruppe im April 2005 Therapie

„dann haben die mich halt hier in die Wohngruppe ge-steckt“ (28/XXIII) „jede vierte Woche, also auch in größeren Abständen, geh ich halt wieder nach Marsberg, Tagesklinik halt, für 8 Tage, und dann mach ich halt Intensivtherapie“ (36-37/XXXII)

2.1 Die ersten drei Lebensjahre

Tim verbrachte ca. die ersten sechs Monate seines Lebens bei seiner leiblichen Familie.

Seine Mutter war psychisch krank und ging aus diesem Grund keiner Berufstätigkeit nach.

Sein Vater war Alkoholiker und misshandelte den Säugling körperlich. Aufgrund der fami-

liären Situation nahm das Jugendamt Tim aus der Familie und brachte ihn nach der

38 Während in der Vergangenheit die Mehrheit der Heimeinrichtungen nur Kinder eines Geschlechts aufnah-men, bzw. zwischen Mädchen- und Jungengruppen trennten, lebt heute ein Großteil der in der Heimerziehung untergebrachten Kinder in koedukativen – d.h. geschlechtsgemischten – Gruppen (vgl. FREIGANG/WOLF 2001, S. 57f.).

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Kapitel III: Tim

Scheidung seiner Eltern in einem Heim unter. Hier lebte er ca. drei Jahre (vgl. 9-12/XXIII

& 9-24/XXIV).39

2.2 Die Pflegefamilie

Exkurs: Vollzeitpflege In den Hilfen zur Erziehung (§ 27 ff. KJHG) wird neben der Heimerziehung (§ 34 KJHG) eine zweite Form der Fremdunterbringung, die Vollzeitpflege (§ 33 KJHG) ge-regelt, in der Kinder über Tag und Nacht außerhalb des Elternhauses in einer anderen Familie untergebracht werden (vgl. MÜNDER 2003, S.314). Entsprechend dem Alter und dem Entwicklungsstand des Kindes, den persönlichen Bedingungen sowie den Mög-lichkeiten zu Verbesserungen der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie kann die Vollzeitpflege eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten (vgl. BALTZ 2002, S.1030). BLANDOW (1999) weist darauf hin, dass der Begriff ‚Pflegefamilie’ zur Kennzeichnung des Sozialisationsortes, an dem das Pflegekind lebt, verwendet wird. Der Familienbeg-riff wird hier nicht zwingend zur Kennzeichnung einer herkömmlichen Kleinfamilie ver-wendet, es kann sich auch um eine andere privat organisierte Lebensform zwischen Erwachsenen und Kindern handeln (vgl. a.a.O., S.757). Der Großteil der Pflegeperso-nen verfügt über keine spezifische Berufsausbildung für die Ausübung von Erzie-hungsaufgaben (vgl. BLANDOW 2004, S.159). „Da unterschiedliche Aufgabenstellungen und Zielsetzungen regelmäßig dann zu Prob-lemen führen, wenn für Betroffene und Beteiligte (Pflegeeltern, Kind, Herkunftsfamilie) die Ziele und Perspektiven der Inpflegegabe nicht eindeutig erkennbar sind, bzw. kon-fligierende Einschätzungen (vor allem bei der Pflegefamilie auf Zeit bzw. auf Dauer) nicht bearbeitet werden, ist eine qualifizierte Erziehungs- und Entwicklungsplanung (Hilfeplan […]) von zentraler Bedeutung“ (MÜNDER et al. 2003, S.318). Es ist davon auszugehen, dass der Abbruch eines Pflegeverhältnisses für das betrof-fene Kind schwerer zu bewältigen ist als eine Entlassung aus einem Heim (vgl. FREI-GANG/WOLF 2001, S.25).

Die Situation in der Pflegefamilie

Im Alter von dreieinhalb Jahren wurde Tim in einer Familie aufgenommen (vgl. 20/XXIV),

ein Jahr später auch sein jüngerer Bruder (vgl. 29-31/XXIV). Zunächst spricht Tim von

einer Adoption. Es weisen aber mehrere Dinge darauf hin, dass es sich um eine Pflege-

familie handelt. Zum einen hat er einen Amtsvormund, weiterhin trägt er nicht denselben

Namen wie die Familie, in der er aufgewachsen ist und redet vor allem später nur noch

von der Pflegefamilie bzw. seinen Pflegeeltern. Aus diesen Gründen werde ich im Fol-

genden von seiner ‚Pflegefamilie’ sprechen.

39 Da Tim diese Zeit nur aus Erzählungen kennt und im Interview nur wenig darüber spricht, werde ich an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen. Ob Tim noch Kontakt zu seinen leiblichen Eltern hat, geht aus dem Interviewmaterial nicht hervor.

71

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Kapitel III: Tim

Die ersten Jahre in der Pflegefamilie verliefen gut (vgl. 16/XIII & 29/XXIV). Auf die ‚gute’

Zeit geht Tim im Folgenden nicht weiter ein. Nach Tims Einschulung verschlechterte sich

die Situation innerhalb der Familie. Er berichtet, es habe dann fast täglich Streit gegeben.

Auslöser für die Auseinandersetzungen seien Hausaufgaben, Aufräumen und andere Din-

ge gewesen (vgl. 32-40/XXIV). In einer Interviewpassage sagt er, es habe sich um Klei-

nigkeiten gehandelt (vgl. 8/XXVI), später erzählt er, dass er gezündelt und gestohlen habe

(vgl. 6/XXXI). Er ist der Meinung, dass für die Auseinandersetzungen niemandem eindeu-

tig die Schuld gegeben werden kann. Manchmal habe er Streit gesucht, manchmal seine

Eltern (vgl. 11-12-/XXVI).

Tim spricht während des Interviews von seinen Eltern oder Pflegeeltern. Während er an

einigen Stellen seine ‚Mutter’ konkret benennt, erwähnt er den Pflegevater nie als einzel-

ne Person. Auf diesen kommt das Gespräch nur einmal, als Tim nach ihm gefragt wird.

Die ambulante Therapie

„Das Jugendamt meinte ich soll zum Psychologen auffinden, der für meine Eltern zuständig ist und für mich, dass wir halt da besser

klarkommen, hat nur nicht ganz geholfen.“ (12-13/XXV)

40Das Jugendamt stand in regelmäßigem Kontakt zur Familie. Tim erklärt, das Jugendamt

besuche Pflegefamilien normalerweise zweimal im Jahr. Zu ihnen sei es öfter gekommen,

weil es immer so viel ‚Stress’ gegeben habe (vgl. 33-36/XXV). Der Familie wurde von die-

ser Seite geraten, sich an einen Psychologen zu wenden. Daraufhin machte Tim über den

Zeitraum eines halben Jahres eine ambulante Therapie. Ihn habe niemand gefragt, ob er

die Therapie machen wolle, die Sitzungen scheinen Tim aber nicht unangenehm gewesen

zu sein (vgl. 26-27/XXV). Ob seine Pflegeeltern auch in die Therapie einbezogen wurden,

wird nicht deutlich. An einer Stelle schildert Tim, der Psychologe hätte für ihn und seine

Eltern zuständig sein sollen (s.o.), später berichtet er, er sei alleine zu den Therapiesit-

zungen gegangen (vgl. 21-22/XXV). Ziel der Therapie war es, miteinander ‚besser klarzu-

kommen’ (vgl. 13/XXV), es sollte „keinen Streit mehr geben“, was Tim als „vernünftiges

Leben“ (19/XXV) bezeichnet. Tim nahm die Therapie nicht als Hilfe wahr (vgl. 19/XXIII, 13

& 17/XXV). Er habe sich unter der Woche immer benommen, freitags sei Therapie gewe-

sen, und an den Wochenenden habe es dann immer Streit gegeben (vgl. 13-15/XXV).

40 Es wird nicht klar, ob es sich hier um seinen Vormund oder einen anderen Mitarbeiter des Jugendamtes handelt. Tim benennt im Interview immer nur ‚das Jugendamt’ und spricht in diesem Zusammenhang nie namentlich von Personen.

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Kapitel III: Tim

2.3 Die Kinder- und Jugendpsychiatrie

Übergang in die Kinder- und Jugendpsychiatrie

„Das gab halt zu viel Stress und das Jugendamt hat eingegriffen und meinte ich sollt in die Psychiatrie gehen [.] sonst würd ich aus

der Familie rausfliegen“ (15-16/XXVI)

Nachdem die ambulante Therapie keine positive Wirkung zeigte und sich die Situation in

der Familie immer mehr zuspitzte, regte das Jugendamt eine stationäre kinder- und ju-

gendpsychiatrische Behandlung für Tim an (vgl. 18-23/XXIII, 17/XXV & 4-8/XXVI). Tim

scheint erst von diesen Plänen unterrichtet worden zu sein, nachdem der Entschluss

feststand. Er habe nicht mitbekommen, was seine Pflegeeltern zu dieser Entscheidung

gesagt hätten, geht aber davon aus, dass diese es für eine gute Lösung hielten (vgl. 20-

22/XXVI). Einige Wochen vor seiner Unterbringung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

teilte der Mitarbeiter des Jugendamtes ihm die Entscheidung und dass er dort angemeldet

werden sollte, mit (vgl. 24-26/XXVI). Tim erinnert sich an die Erklärung, was die Kinder-

und Jugendpsychiatrie ist:

„Halt ne Psychiatrie, wo ma halt [.] lernen kann […] mit Menschen

besser auszukommen also mit/zum Beispiel mit Eltern“ (35-36/XXVIII)

Ihm wurde mitgeteilt, dass er nicht in der Familie bleiben kann, wenn er sich nicht zu einer

stationären Therapie bereit erklärt und dass der Psychiatrieaufenthalt sechs bis acht Wo-

chen dauern würde. Wo er hingekommen wäre, wenn er aus der Familie genommen wor-

den wäre, weiß Tim nicht (vgl. 39/XXVI-1/XXVII). Tim stimmte der Unterbringung zu (vgl.

18-23/XXIII). Ich habe den Eindruck, dass Tim seine Zustimmung nur gab, um seinen

weiteren Verbleib in der Familie sicherzustellen (vgl. 15-17/XXVI).

Nachdem Tim zweimal zu Gesprächen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marsberg

gewesen war, kam er dort auf eine Warteliste. Eine Woche später wurde er stationär auf-

genommen (vgl. 28-29/XXVI & 31-33/XXVII). Zu diesem Zeitpunkt war Tim 13 Jahre alt.

Ich fragte Tim während des Interviews, welche Vorstellungen er von der Kinder- und Ju-

gendpsychiatrie hatte, bevor er zum ersten Mal dort war. Er beschreibt, dass er die Vor-

stellung, wie es dort aussehen würde, beängstigend fand:

„Ja man macht einem ja halt immer Angst im Fernsehen mit

Gummizellen, so Sachen und hat sich halt irgendwie vorgestellt, da n Zimmer, da n Zimmer, überall Gummiwände, und war dann

doch ganz anderes.“ (35-37/XXVI)

Es ist auffallend, dass Tim im Zusammenhang mit der Unterbringung in der Kinder- und

Jugendpsychiatrie nur davon spricht, was das Jugendamt sagte. Die Meinung seiner Pfle-

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Page 76: Kinder zwischen Heimerziehung und Kinder– und ... · Universität Siegen Integrierter Studiengang Sozialpädagogik und Sozialarbeit Fachbereich II Diplomarbeit Kinder zwischen Heimerziehung

Kapitel III: Tim

geeltern kennt er anscheinend nicht und berichtet auch nicht von Gesprächen mit ihnen

über dieses Thema. Es ist möglich, dass hier das Jugendamt die Entscheidung ohne Be-

teiligung der Familie traf, was aber eher unwahrscheinlich erscheint. Ich gehe davon aus,

dass zumindest Gespräche zwischen den Pflegeeltern und dem Jugendamt stattfanden,

aber keine offene Kommunikation zwischen Tim und seinen Pflegeeltern möglich war.

Vielleicht handelte es sich hier um Strategien der Familie, drohenden Auseinandersetzun-

gen aus dem Weg zu gehen, indem über heikle Themen nicht miteinander gesprochen

wurde.41

Tim hat den Eindruck, dass er die Verantwortung für eine Veränderung der Lebenssituati-

on in der Familie übertragen bekam. Nur durch seine Zustimmung zu einer stationären

Behandlung bestand die Möglichkeit, auf Dauer bei seiner Familie zu verbleiben. Er sollte

lernen, besser mit anderen Menschen ‚auszukommen’. Tim wurde so vermittelt, dass er

bzw. sein Verhalten das Problem war und er für Veränderungen verantwortlich war.

• Tim erlebte, dass das Jugendamt einen massiven Einfluss auf sein Leben ausübte.

• Entscheidungsprozesse wurden für Tim nicht transparent (vgl. auch Übergang in die

Wohngruppe). Durch die drohende Herausnahme aus der Familie bestand für ihn

nicht die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden.

• Zwischen Tim und seinen Pflegeeltern war keine offene Kommunikation über die ge-

plante Unterbringung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (wie auch später über die

Unterbringung in einer Heimgruppe) möglich.

• Der Psychiatrieaufenthalt wurde von Tim nicht als potenzielle Hilfe, sondern als einzi-

ge Möglichkeit, in seiner Familie verbleiben zu können, wahrgenommen.

• Tim wurde vermittelt, dass er sich helfen lassen muss, er somit das Problem darstellt.

Gleichzeitig begründet er den Übergang mit der konfliktreichen familiären Situation.

• Die logische Konsequenz einer gescheiterten ambulanten Therapie schien hier in ei-

ner stationären Therapie gesehen zu werden.

• Das durch die Medien vermittelte Bild von der Psychiatrie löste Angst bei Tim aus.

Das Leben in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Tim beschreibt die Kinder- und Jugendpsychiatrie:

„Ja da warn halt Zimmer, für zwei bis drei Personen, ich hab dann halt mit nem andern Jungen da geteilt, [.] gab’s halt nen Gruppenraum, so n Riesen, der in Wohnzimmer und 41 Es ist möglich, dass Tim durch mein Interviewverhalten auch eher dazu angeregt wurde, zu berichten, wie sich das Jugendamt äußerte. Auffallend ist aber dennoch, dass er die Meinung seiner Pflegeeltern nicht kennt.

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Kapitel III: Tim

Esszimmer verteilt wurde, dann gab’s so ne Küche, und Badezimmer für die ganzen Ju-gendlichen, eine Toilette und ein Badezimmer halt mit Dusche und Waschbecken, alles Mögliche, [.] dann hat ma halt jede [.] Woche nen andern Dienst, Putzdienst, oder Kü-chendienst, Flurdienst, alles Mögliche, [.] und dann gibt’s da auch so n Ausraum, also wenn man dann nicht mehr klarkommt, und halt ausrastet, wird man da reingeschickt, und dann halt/wenn man im Ausraum dann halt Randale macht, kommt man auf so n Fixier-bett.“ (4-12/XXVII)

Bei dieser Passage handelt es sich um Tims Antwort auf die Aufforderung, mir zu be-

schreiben, wie es in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gewesen ist. Es ist bemerkens-

wert, dass Tim an erster Stelle die Räumlichkeiten beschreibt, dann kurz auf die Struktu-

ren eingeht, Personen hier hingegen keine Rolle spielen. Persönliche Kontakte in der Kin-

der- und Jugendpsychiatrie scheinen für Tim nachrangig zu sein.

Vor allem die Erwähnung des ‚Ausraumes’ und Fixierbettes verwunderte mich während

des Interviews, da dies durch die Befragten in den vorangegangenen Interviews nicht

thematisiert wurde. Auf meine Nachfrage erzählte Tim, er sei zweimal im ‚Ausraum’ ge-

wesen und einmal auf dem Fixierbett. Als Grund gab er an, er sei Raucher und dass er

ein Feuerzeug gehabt habe, was die Betreuer ihm fortnehmen wollten. Er habe es nicht

hergeben wollen, daraufhin sei er festgehalten worden und sei ausgerastet (vgl. 13-

29/XXVII). Inwieweit Tim hier Einzelheiten ausspart, um sich evtl. in ein besseres Licht zu

stellen, kann und soll an dieser Stelle nicht nachvollzogen werden. Aus einem Gespräch

mit der Sozialpädagogin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist mir aber bekannt, dass

die dortigen Regeln es Kindern unter 16 Jahren untersagen, zu rauchen. Wurde hier tat-

sächlich versucht, unter allen Umständen diese Regel durchzusetzen, begünstigte dieses

starre Regelsystem möglicherweise die Eskalation der Situation.

Morgens besuchte Tim drei Stunden die Schule der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dort

gefiel es ihm gut, weil der Unterricht kürzer als in einer Regelschule war und nachmittags

weniger Hausaufgaben zu erledigen waren (vgl. 33/XXVII-2/XXVIII). Ich gehe davon aus,

dass diese Schule für Tim eine Entlastung von der Regelschule darstellte, die schließlich

zuvor Anlass zu Auseinandersetzungen mit seinen Eltern gewesen war. Nach der Schule

fanden Therapien statt (vgl. 31-32/XXVII). Er hatte z.B. Reittherapie, in einer anderen

Therapie sollte er lernen, mit Gefühlen umzugehen (vgl. 7-8/XXVIII). Er ist der Meinung,

dass es in der Kinder- und Jugendpsychiatrie langweilig war, da er in seiner Freizeit nur

wenig Beschäftigung hatte (vgl. 40/XXVIII-4/XXIX).

Auf die Frage nach den Aufgaben der Betreuer und Ärzte in der Kinder- und Jugendpsy-

chiatrie erklärt Tim, dass sie die Kinder beobachten.42 Mit den Psychologen fanden wäh-

42 Ich gehe davon aus, dass er an dieser Stelle die Erzieher der Kinder- und Jugendpsychiatrie meint, da er auf die Aufgaben der Psychologen und Ärzte gesondert eingeht.

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Kapitel III: Tim

rend den Therapien Gespräche statt, die Ärzte führten Untersuchungen, Aufnahmege-

spräche und Notaufnahmen durch (vgl. 11-16/XXVIII).

Ich habe den Eindruck, dass es in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht gelang, eine

positive Atmosphäre zu Tim zu schaffen, da er erst nach meiner Nachfrage vom Klinik-

personal spricht und nur diese kurze Antwort, die keinerlei persönliche Färbung hat, gibt.

Lediglich eine Ärztin erwähnt er später als einzelne Person (s.u.).

Die anderen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebrachten Kinder mochte Tim. Er

erzählt, dass jeder seine eigenen Probleme hatte, die zur Unterbringung in der Psychiatrie

geführt hatten. Die Gruppe hielt zusammen und niemand verriet den anderen, wenn man

etwas angestellt hatte (vgl. 18-20/XXVIII). Tims Wahrnehmung konzentriert sich auf die

Patientengruppe, einzelne Kinder erwähnt er nicht. Die anderen Kinder scheinen das ein-

zig Positive während des Aufenthaltes gewesen zu sein (vgl. 40/XXVIII). Trotzdem ver-

misste Tim seine Freunde, als der Psychiatrieaufenthalt länger als acht Wochen dauerte,

was ihm den Aufenthalt erschwerte (vgl. 14-16/XXIX).

Insgesamt ist Tim der Meinung, dass es ihm in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht

gefallen hat (mit Ausnahme der anderen Kinder) und der Aufenthalt keine Hilfe für ihn war

(vgl. 17/XXVI, 30-32/XXVI & 40/XXVIII).

• Tims Wahrnehmung von Räumlichkeiten und Strukturen überwiegt der Wahrnehmung

einzelner Personen (vgl. Heimgruppe).

• Tim nahm die Probleme der anderen untergebrachten Kinder wahr, der gute Zusam-

menhalt der Patientengruppe überwog aber dieser Wahrnehmung.

• Das Betreuungspersonal wurde von Tim in einer Kontrollfunktion erlebt.

• Möglicherweise trug ein starres Regelsystem zu Eskalationen zwischen Tim und den

Betreuern bei.

• Fehlende Freizeitangebote und dadurch entstehende Langeweile werden durch Tim

negativ bewertet.

• Die eingeschränkte Unterrichtsdauer in der Klinikschule schaffte für Tim Entlastung.

• Durch den Psychiatrieaufenthalt ausgelöste Kontaktabbrüche zu seinen Freunden

belasteten Tim.

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Kapitel III: Tim

Die Entwicklung der familiären Situation während des Psychiatrieaufenthaltes

„Also die dachten halt, ich wär halt noch net so gut genug entwi-ckelt wieder in die Familie zurückzugehen.“ (7-8/XXIX)

Wie oben bereits beschrieben, wurde Tim in der Kinder- und Jugendpsychiatrie unterge-

bracht, nachdem die ambulante Therapie sich nicht positiv auf die familiäre Situation aus-

gewirkt hatte. Tim sagt, dass dann die Kinder- und Jugendpsychiatrie ‚mal ausprobiert’

wurde (vgl. 18-22/XXIII). Während der Anfangszeit fuhr Tim jedes Wochenende nach

Hause. Die Besuche hätten ‚so einigermaßen’ geklappt, man hätte gut miteinander aus-

kommen können, es sei aber ‚nicht so besonders’ gewesen (vgl. 30/XXIX). Mit der Zeit

gab es aber auch an den Wochenenden zu Hause Auseinandersetzungen und es ‚klappte

überhaupt nicht mehr’. Von nun an verbrachte Tim auch die Wochenenden in der Kinder-

und Jugendpsychiatrie (vgl. 25-27/XXIX). Die Entscheidung, nicht mehr nach Hause zu

fahren, traf Tim gemeinsam mit der behandelnden Ärztin und den Betreuern (vgl. 33-

34/XXIX). Tim ging davon aus, dass es sich hier nur um einen vorläufigen Zustand han-

delte. Er hoffte, dass sich die Situation zwischen ihm und seinen Pflegeeltern während

den 14-tägig stattfindenden Familiengesprächen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

klären würde (vgl. 36/XXIX-1/XXX).

Ursprünglich sollte die Unterbringung zwischen sechs und acht Wochen dauern. Nach der

achten Woche wurde Tim die Verlängerung des Aufenthaltes mitgeteilt, er stimmte zu. Als

Tims Psychiatrieaufenthalt nach der zehnten Woche ein weiteres Mal verlängert werden

sollte, wollte er nicht mehr dort bleiben und lief aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie

fort. Er erzählt, dass er einen Tag später zurück gebracht wurde und seine Pflegeeltern

ihn dann ‚nicht mehr haben’ wollten. Er blieb insgesamt 16 Wochen in Marsberg (vgl. 22-

28/XXIII). Die mehrmalige Verlängerung des Psychiatrieaufenthaltes wurde gegenüber

Tim durch eine Ärztin und die Psychologen damit begründet, dass er mit der Therapie

noch nicht ‚so weit’ sei, noch nicht ‚gut genug entwickelt’ wäre um wieder in seine Familie

zurückzugehen (vgl. 7-12/XXIX). Die Dauer des Aufenthaltes konnte Tim nicht beeinflus-

sen (vgl. 17-18/XXIX).

Zu seinen Pflegeeltern wird ein ambivalentes Verhältnis deutlich. Auf der einen Seite be-

richtet er von den zahlreichen Auseinandersetzungen, die ihn veranlassten, den Kontakt

abzubrechen. Auf der anderen Seite blieb seine Hoffnung bestehen, dass sich das Ver-

hältnis verbessern und eine Klärung erzielt würde. Hier wird Tims Wunsch nach Entlas-

tung und Harmonie deutlich, der innerhalb der Familie nicht realisiert werden kann.

Tim bekam vermittelt, dass er sich ändern und besser entwickeln muss, um die Möglich-

keit zu bekommen, wieder zu seinen Eltern zurückzukehren. Dass diese sich letztendlich

gegen Tims Rückkehr entschieden, scheint er im Zusammenhang mit seiner Entweichung

aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu sehen.

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Kapitel III: Tim

• Es wirkte sich ungünstig auf Tims weitere Wahrnehmung aus, dass bei ihm keine Ein-

sicht und Verständnis für die Verlängerung des Psychiatrieaufenthaltes erzielt wurde.

Dies wurde dadurch verstärkt, dass vorgesehene Pläne ohne seinen Einfluss revidiert

wurden.

• Dadurch, dass keine Stabilisierung der familiären Bindung erreicht wurde, kam es zu

einem Kontaktabbruch. Dennoch blieb Tims Hoffnung auf eine Klärung der Konflikte

und eine erneute Kontaktaufnahme bestehen.

• Werden Ziele, die durch Therapien (ambulant und stationär) gesetzt wurden, nicht

erreicht, steht dies Tims Wahrnehmung der Hilfe entgegen.

• Tims Selbstwahrnehmung konzentriert sich darauf, dass er sich ändern muss und

Fehler macht, die sich auf sein Verhältnis zu den Eltern negativ auswirken.

2.4 Die Wohngruppe

Übergang in die Wohngruppe

„dann bin ich halt noch bis zur sechzehnten Woche in Marsberg geblieben, und dann haben die mich halt hier in die Wohngruppe

gesteckt.“ (27-28/XXIII)

Nachdem Tim ca. zwölf Wochen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie verbracht hatte,

teilte ihm die behandelnde Ärztin mit, dass er in einem Heim untergebracht werden soll.

Mit der Ärztin fanden fast täglich Gespräche statt, und sie hatte regelmäßig telefonischen

Kontakt zu den Pflegeeltern (vgl. 20-21/XXX). Er geht davon aus, dass die Heimunter-

bringung die gemeinsame Entscheidung des Jugendamtes und seiner Pflegeeltern war

(vgl. 28-29/XXIII & 18/XXX). An der Entscheidung war Tim nicht beteiligt und bekam auch

den Entscheidungsprozess nicht mit. Er kann nicht sagen, warum er nicht wie geplant

zurück in die Pflegefamilie entlassen wurde:

„Das hab ich gar nicht genau mitgekriegt, also weiß ich jetzt ü-

berhaupt net, wieso jetzt auf einmal so“ (7-8/XXX)43

Das Jugendamt suchte in der Folgezeit nach einem geeigneten Heimplatz für Tim und

wurde in der Wohngruppe, in der er heute lebt, fündig (vgl. 10-11/XXX). Der Leiter der

Wohngruppe stellte sich in der Folgezeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vor, es

wurden Gespräche geführt, in denen Tim die Wohngruppe beschrieben wurde und in de-

nen er die Gelegenheit erhielt, Fragen zu stellen (vgl. 11-13/XXX). Nachdem Tim ein Wo-

chenende zum Probewohnen dort gewesen war, verließ er die Kinder- und Jugendpsychi- 43 Hört man diesen Satz auf der Tonbandaufnahme, wird Tims Unverständnis für diese Entscheidung deutli-cher als beim Lesen der Aussage. Es ist die wohl emotionalste Aussage des Interviews.

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Kapitel III: Tim

atrie und zog in der Wohngruppe ein (vgl. 13-15/XXX). Mit dem Mitarbeiter des Jugend-

amtes und seinen Pflegeeltern scheint er erst über die Entscheidung gesprochen zu ha-

ben, als der Leiter der Heimgruppe sich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorstellte

(vgl. 22-26/XXX).

Was man bei der Unterbringung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie bereits beobachten

konnte, setzte sich hier fort: für Tim bleiben Entscheidungsprozesse weiterhin undurch-

sichtig und er wird nicht einbezogen. Auch die Kommunikation zwischen ihm und seinen

Pflegeeltern über die geplante Heimunterbringung fand nicht persönlich, sondern über

Dritte statt. War es beim Übergang in die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Mitarbeiter

des Jugendamtes, der Tim die Entscheidung mitteilte, übernahm dies nun die Ärztin der

Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Er sagt, dass er es „eigentlich fürs Erste ganz gut“ fand, die Kinder- und Jugendpsychiat-

rie verlassen zu können. Er wollte nun ein ‚neues Leben’ anfangen und versuchen, besser

als bei seiner Pflegefamilie zurecht zu kommen (vgl. 28-29/XXX). Ob Tim damals wusste,

dass es sich hier nicht um eine vorläufige Entscheidung handelte, ist nicht klar.

Ich denke, dass Tim der Entscheidung, in einer Heimgruppe untergebracht worden zu

sein, ambivalent gegenübersteht. Auf der einen Seite erlebte er die Entlassung aus der

Kinder- und Jugendpsychiatrie als Entlastung. Auf der anderen Seite wurde Tim in seinen

Erwartungen enttäuscht und scheint dies auf sein Verhalten zu beziehen. Er war es, der in

der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht werden sollte, um in der Familie bleiben

zu können, sich dann aber nicht ‚gut genug entwickelte’ und von dort fortlief. Die Pflegeel-

tern wollten ihn ‚nicht mehr haben’ und ‚steckten’ ihn gemeinsam mit dem Jugendamt in

ein Heim. Auffallend ist auch, dass er in diesem Zusammenhang während einer Inter-

viewpassage nicht von seinen Pflegeeltern spricht: Er wählt die meiner Meinung nach

sehr unpersönliche Bezeichnung „die Familie Strunk“ (29/XXIII), was einen Bruch in der

Beziehung und den Versuch einer Distanzierung zu seiner Pflegefamilie kennzeichnen

könnte.

Im Nachhinein ist Tim der Meinung, dass die Unterbringung in der Kinder- und Jugend-

psychiatrie keine Hilfe für ihn war (was ja nicht überrascht, hält man sich vor Augen, dass

das einzige Ziel, was er damit verfolgte – bei seinen Eltern bleiben zu können – nicht er-

reicht wurde). Er sei zwar nach dem Aufenthalt verändert gewesen, führt dies aber eher

auf den neuen Lebensort in der Wohngruppe zurück (vgl. 30-40/XXX).

• Für Tim werden Entscheidungen und Entscheidungsprozesse, die den Wechsel sei-

nes Lebensortes betreffen, nicht transparent und er wird nicht einbezogen.

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Kapitel III: Tim

• Das Ziel, die Beziehung zwischen Tim und seinen Pflegeeltern zu verbessern, wurde

nicht erreicht.

• Tims Erwartungen und Hoffnungen, die mit dem Psychiatrieaufenthalt verbunden wa-

ren, wurden enttäuscht, wodurch die Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht als Hilfe

wahrgenommen wurde.

• Tim hat den Eindruck, ungewollt und verantwortlich für das Scheitern der Therapie zu

sein.

• Die Unterbringung in einem Heim wurde als Entlastung von der Kinder- und Jugend-

psychiatrie erlebt.

Das Leben in der Wohngruppe

„auf jeden Fall find ich jetzt gut dass ich jetzt hier bin, und nicht mehr zu Hause“ (8/XXX)

Tim sagt, dass er es gut findet, in der Wohngruppe zu sein, in der er seit April 2005 lebt.

Auffallend ist, dass er – bewusst oder unbewusst – zwischen der Wohngruppe und ‚zu

Hause’ unterscheidet. In Bezug auf die Wohngruppe verwendet er diese Bezeichnung nie,

‚zu Hause’ sagt er dann, wenn er den Lebensort bei seinen Pflegeeltern meint.44

Ähnlich wie die Kinder- und Jugendpsychiatrie beschreibt Tim auch das Heim durch die

Räumlichkeiten und bestehenden Strukturen. Er erzählt, dass jedes Kind sein eigenes

Zimmer hat, es ein Wohnzimmer, Küche, Esszimmer, Betreuerzimmer, in dem wöchent-

lich das Taschengeld ausgezahlt wird, und es zwei Badezimmer für die Kinder gibt (vgl. 9-

13/XXXI). An Schultagen steht er um sechs Uhr morgens auf, nachmittags hat die Gruppe

zwei Stunden Hausaufgabenzeit, danach hat er Freizeit bis abends (vgl. 13-16/XXXI). Er

ist der Meinung, dass die Hausaufgabenzeit zu lang ist (vgl. 29-35/XXXIII). Donnerstags

findet ein gemeinsames Gruppenabendessen statt, während dessen Planungen gemacht

werden und man Anträge stellen kann. Dies wird dann 14-tägig sonntags morgens bei

einem Gruppengespräch besprochen (vgl. 18-26/XXXI). Personen beschreibt er erst,

nachdem er danach gefragt wird und geht auch dann nicht auf einzelne Personen ein: Die

Betreuer findet Tim ‚ganz in Ordnung’, mit ihnen kann er reden. Allerdings vertraut Tim

nicht allen Betreuern. Probleme bespricht er lieber mit den Jugendlichen der Wohngrup-

pe, mit denen er ‚ganz gut’ zurecht kommt (vgl. 28-32/XXXI & 8-9/XXXII).

Er berichtet, dass er sich verändert hat, was er nicht auf den Psychiatrieaufenthalt zurück-

führt, sondern auf das Leben in der Wohngruppe. Hier kommt es kaum zu Auseinander- 44 Hier denke ich, dass es nicht außergewöhnlich ist, dass er die Pflegefamilie immer noch als sein Zuhause bezeichnet, war dies schließlich über Jahre sein Lebensmittelpunkt. Für bemerkenswert halte ich, dass er die Wohngruppe nicht ebenfalls als sein Zuhause kennzeichnet (ähnlich wie Aylin, die ein ‚erstes’ und ‚zweites’ Zuhause hat).

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Kapitel III: Tim

setzungen, er macht mittlerweile regelmäßig seine Hausaufgaben, möchte sich „anständi-

ge“ Freunde suchen und versuchen, sein Leben in den Griff zu bekommen (vgl. 36/XXX-

2/XXXI).

Das Leben in der Wohngruppe gestaltete sich allerdings nicht von Anfang an unproblema-

tisch: auch hier waren seine Hausaufgaben Anlass für Konflikte. Mittlerweile muss er ein

Hausaufgabenheft führen, welches er in der Schule unterschreiben lassen muss. Seitdem

gibt es keine Probleme mehr mit den Hausaufgaben (vgl. 35-39/XXXI). Er berichtet, dass

die Bewohner des Heimes vor den Herbstferien versuchten, die Betreuer zu provozieren,

indem sie im Haus Rauchbomben und Knaller anzündeten. Wenn am nächsten Tag wie-

der alles in Ordnung gebracht wurde, hatte dies aber keine Konsequenzen (vgl. 39/XXXI-

7/XXXII).

Der Kontakt zu seinen Pflegeeltern ist mittlerweile abgebrochen. Seit er in der Heimgrup-

pe untergebracht ist, war er bis auf einmal, als er seine restlichen Sachen abgeholt hat,

nicht mehr dort. Zunächst hatte Tim noch alle drei Wochen mit seiner Pflegemutter telefo-

niert. Aber auch während der Telefonate kam es zu Auseinandersetzungen, aus diesem

Grund möchte er jetzt nicht mehr mit ihr sprechen. Mit seinem Pflegevater hat er ca. ein

halbes Jahr nicht mehr gesprochen. Den Grund kann er nicht benennen, er habe eben

immer mit der Mutter telefoniert. Er sei froh, dass die Pflegeeltern ihn nicht in der Heim-

gruppe besuchten, er wolle keinen Kontakt mehr zu ihnen haben. Lediglich zu seinem

Bruder hat Tim noch einmal im Monat telefonischen Kontakt (vgl. 18-34/XXXII). Auch am

letzten Hilfeplangespräch nahmen seine Pflegeeltern nicht teil, weil er dies ablehnte. Tim

geht allerdings davon aus, dass sie am nächsten Hilfeplangespräch in einem halben Jahr

wieder anwesend sein werden. Ob er dies wünscht, kann er heute noch nicht sagen (vgl.

2-8/XXXIV).

Tim macht hier deutlich, dass er zu seinen Pflegeeltern keinen Kontakt mehr möchte, der

in den alten Strukturen verläuft. Lieber nimmt er einen Kontaktabbruch in Kauf, um weite-

re Belastungen und Enttäuschungen zu vermeiden. Die Beziehung zu den Pflegeeltern

bedarf aber noch einer Klärung. Auch wenn kein Kontakt mehr besteht, geht Tim davon

aus, dass dieser wieder aufgenommen wird.

Tim plant, in der Heimgruppe zu bleiben, bis er 18 Jahre alt ist (vgl. 16/XXXIV).

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Kapitel III: Tim

Die Therapie

„Die hat jetzt auch wirklich wat geholfen“ (18/XXXIII)

Tim macht eine Therapie in der Tagesklinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie Marsberg.

Es handelt sich um eine ‚Intensivtherapie’, die er alle vier Wochen für acht Tage besucht.

Tim erzählt, er werde morgens in die Klinik gefahren und abends wieder abgeholt. Er ma-

che dann ungefähr jede halbe Stunde eine andere Therapie. Die Schule falle in der Zeit

aus, ein paar Schulaufgaben erledige er in der Klinik während der dortigen Hausaufga-

benzeit (vgl. 35/XXXII-12/XXXIII). Inwieweit er hier in die Entscheidung, eine weitere The-

rapie zu machen, einbezogen wurde, wird durch das Interview nicht deutlich.

Tim gefällt die Therapie, er ist der Meinung, sie habe ihm geholfen. Er weiß jetzt, wie er

mit seinen Gefühlen umgehen muss, lernte, wie er sich ausdrücken kann, damit andere

ihn verstehen und sich in andere hineinzuversetzen (vgl. 18-28/XXXIII).

• Tim ist der Ansicht, dass er sich ändern muss.

• Die Heimunterbringung war mit einem Kontaktabbruch zu den Pflegeeltern verbunden,

um die ständigen Konfliktsituationen zu vermeiden.

• Die Beziehung zu den Pflegeeltern bleibt weiterhin unklar.

• Einigen Betreuern ist es gelungen, eine Basis zu schaffen, auf der Gespräche mit Tim

stattfinden können. Bevorzugte Ansprechpartner bei Problemen sind aber die anderen

Heimbewohner.

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Kapitel III: Elfriede

3. Elfriede

„Eine Frage, kann ich in dem Text Elfriede genannt werden?“ (3/XX)

Elfriede ist zum Zeitpunkt des Interviews 17 Jahre alt. Seit drei Wochen lebt sie in der

Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marsberg. Dort gibt es mehrere Stationen, sowohl sol-

che mit Altersbegrenzung, als auch altersgemischte Stationen. Die Stationen bestehen

jeweils aus zwei Gruppen, jede Gruppe kann sieben bis acht Kinder aufnehmen, die in

Mehrbettzimmern untergebracht werden. Elfriede lebt auf einer Jugendlichenstation mit

einem Altersdurchschnitt von 15 bis 18 Jahren, welche sich in der Ausrichtung des Alltags

und Angebotes von den altersgemischten und Kinderstationen unterscheidet.45

Weiterhin hat sie einen Heimplatz in einem Großheim.

Überblick über die biographischen Daten

Auszug des Vaters „[…], dann ist mein Vater ausgezogen, hatte ne neue Freundin gehabt […]“ (7-8/XXXVI)

Umzug mit der Mutter zu deren neuen Lebensgefähr-ten

„Dann sind wir wieder umgezogen zu ihrem neuen Freund und da lief’s halt net so gut.“ (10-11/XXXVI)

Unterbringung in einem Mäd-chenheim im Alter von 15 Jahren

„[Meine Mutter, d. Verf.] hat zum Jugendamt gemeint die will mich net mehr haben. Und dann kam ich von da aus grad ins Heim.“ (14-15/XXXVII)

ein halbes Jahr später Un-terbringung im zweiten Heim ambulante psychiatrische Maßnahmen

„Und da [im ersten Heim, d. Verf.] lief’s halt auch net so gut, da bin ich öfters abgehauen, und dann bin ich ins andere Heim gekommen.“ (12-13/XXXVI) 1. „Ich war einmal in Siegen, da haben se mit mir so

nen Idiotentest gemacht und da kam aber en hoher IQ raus, und dann ham die gemeint […] ich bräuchte net in die Klapse […]“ (25-27/XLIII)

2. „[…] und dann haben se mich nach Attendorn zu der Psychologin geschickt und dann hat se mir den Vor-schlag gemacht hierher zu kommen, […]“ (27-29/XLIII)

Kinder- und Jugendpsychiat-rie im Alter von 17 Jahren

„Deswegen bin ich auch hier [.] Dass ich mit meinen Problemen lerne klar zu kommen.“ (14-15/XXXVI)

45 Diese Informationen habe ich einem persönlichen Gespräch mit der Sozialpädagogin der Station entnom-men.

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Kapitel III: Elfriede

3.1 Das Leben bei den Eltern

Über die Zeit bei ihren Eltern spricht Elfriede während des Interviews kaum. Sie erzählt,

dass sie früher gemeinsam mit ihnen lebte. Ihr Vater trennte sich wegen einer anderen

Frau von der Familie (vgl. 7-8/XXXVI). Dies scheint für Elfriede sehr belastend und ent-

täuschend gewesen zu sein. Sie wählt die Worte:

„hat der uns alleine gelassen, hat mich tierisch aufgeregt so“

(8-9/XXXVI)

In der Folgezeit zogen sie und ihre Mutter, die wechselnde Beziehungen hatte, um (vgl. 9-

10/XXXVI). Schließlich zogen Elfriede und ihre Mutter zu deren neuen Lebensgefährten.

Die Folgezeit bewertet Elfriede folgendermaßen:

„da lief’s halt net so gut. Hatt ich halt ziemlich Stress gehabt und

wurde eingesperrt und so“ (11/XXXVI)

Außerdem habe sie nichts zu essen bekommen und sei ungerecht behandelt worden (vgl.

6-7/XXXVII).

3.2 Das erste Heim

Übergang in das erste Heim

„Die hat zum Jugendamt gemeint die will mich net mehr haben. Und dann kam ich von da aus grad ins Heim.“ (14-15/XXXVII)

Die Entscheidung, dass Elfriede in einem Heim untergebracht werden sollte, traf ihre Mut-

ter allein (20-22/XXXVII), die sich an das Jugendamt wendete (vgl. 17/XXXVII). Elfriede

habe niemand gefragt, ob sie in ein Heim möchte (vgl. 18-19/XXXVII). Ihr Vater erfuhr erst

ein halbes Jahr später von der Entscheidung. Elfriede geht aber davon aus, dass sie auch

dann im Heim untergebracht worden wäre, wenn ihr Vater es früher erfahren hätte (vgl.

24-27/XXXVII). Bemerkenswert ist, dass Elfriede der Ansicht ist, dass ihre Mutter sie nicht

mehr ‚haben’ wollte (s.o.). Nachdem ihr Vater sie bereits ‚allein gelassen’ hatte, verliert sie

nun auch die Mutter, zu der sie heute keinen Kontakt mehr hat.

Die Einzige, die Elfriede nach ihrer Meinung gefragt habe, sei ihre Tante gewesen, die

nicht mit der Unterbringung einverstanden war. Sie habe Elfriede zu sich nehmen wollen.

Da die Tante zu dieser Zeit Elfriedes Großmutter pflegte, war dies nicht möglich (vgl.

31/XXXVII-1/XXXVIII).

Auf der einen Seite fand Elfriede es ‚ganz gut’, dass sie in einem Heim untergebracht

werden sollte, weil es ihr dort besser ging, als bei ihrer Mutter und deren Lebensgefährten

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Kapitel III: Elfriede

(vgl. 30/XXXVII). Andererseits macht Elfriede den Eindruck, dass sie nicht mit einer

Heimunterbringung einverstanden war.46 Einen Einfluss auf die Entscheidung, ob sie in

einem Heim untergebracht wird, hatte sie nicht. Sie sei ins Heim gekommen, und dann

habe es sich so ergeben, dass sie dort bleiben musste (vgl. 2-5/XXXVIII).

An der Auswahl des Heimes war Elfriede nicht beteiligt (6-7/XXXVIII). Sie sagt, dass sie

eine ‚schreckliche’ Vorstellung von einem Leben im Heim hatte (9-12/XXXVIII) und sich

einsam fühlte, als sie ins Heim kam (vgl. 8-12/XXXVII). Zum Zeitpunkt ihrer ersten Heim-

unterbringung war Elfriede 15 Jahre alt (vgl. 19-20/XXXVI).

• Elfriedes Vorstellung vom Heimleben machte ihr Angst.

• Sie wurde weder an der Entscheidung, in einem Heim untergebracht zu werden, noch

bei der Auswahl des Heimes beteiligt.

• Durch die Heimunterbringung entstand bei Elfriede der Eindruck, von ihrer Mutter nicht

mehr gewollt zu sein.

• Die Unterbringung im Heim schaffte Entlastung von der zuvor als belastend erlebten

familiären Situation.

• Die Heimunterbringung rief Gefühle der Einsamkeit hervor.

Das Leben im ersten Heim

Elfriede wurde in einem Mädchenheim mit ca. 10 Plätzen untergebracht (vgl. 17 &

23/XXXVIII). Sie verstand sich mit den Mädchen dort nicht (vgl. 17-20/XXXVIII), die Be-

treuer seien ‚gerade noch so gegangen’ (vgl. 24/XXXVIII). Es widerstrebte ihr, dass die

Mädchen anfallende Hausarbeiten wie Kochen, Waschen und Putzen erledigen mussten.

Einerseits weiß sie, dass sie dadurch hauswirtschaftliche Dinge lernen konnte, auf der

anderen Seite empfand sie die dadurch eingeschränkte Freizeit als zu gering. Sie habe

viele andere Dinge im Kopf gehabt – worum es sich dabei handelte, erwähnt sie nicht –,

für die sie dann nicht ausreichend Zeit hatte (vgl. 23/XXXVIII & 30-38/XLI).

Ich fragte Elfriede, ob sich ihre Vorstellungen, die sie vom Heimleben hatte, bewahrheite-

ten. Sie antwortet, dass es ‚mit der Zeit ging, man gewöhne sich daran’ (vgl. 13-

15/XXXVIII). Diese Aussage weist darauf hin, dass sie die Maßnahme zwar hingenom-

men hat, aber nicht positiv erlebte.

46 Hier unterlief allerdings ein Interviewfehler: Ich fragte Elfriede, ob es Einfluss auf die Entscheidung hatte, dass sie nicht in ein Heim wollte, obwohl sie vorher nie erwähnte, dass sie nicht ins Heim wollte. Elfriede ne-giert allerdings diese Annahme nicht und führt das Gespräch so fort, dass der Eindruck entstand, dass sie diese Annahme bestätigt.

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Kapitel III: Elfriede

Während ihres Aufenthaltes in diesem Heim wurde Kontakt zu ihrem Vater hergestellt

(vgl. 39-40/XXXIX).

• Es wurde nicht erreicht, dass Elfriede das Leben im Heim positiv wahrnahm.

• Durch die Verpflichtungen im Haushalt wurde die Freizeit als eingeschränkt wahrge-

nommen.

• Im Heim wurde der Erhalt der Beziehung zum Vater unterstützt.

Übergang ins zweite Heim

„Und da lief’s auch net so gut, da bin ich öfters abgehauen, und

dann bin ich ins andere Heim gekommen“ (12-13/XXXVI)

Insgesamt lebte Elfriede sechs Monate in dem Mädchenheim. Auffallend ist, dass sie sich

noch genau an die Daten der Aufnahme und Entlassung im ersten Heim erinnert (10.01.

bis 30.06.) (vgl. 41/XLI). Dies weist darauf hin, dass es sich um besonders einschneiden-

de Erfahrungen in ihrem Leben – im Sinne eines kritischen Lebensereignisses – handelt.

Sie berichtet, dass sie oft aus dem Heim fortlief (auch über Nacht) und Alkohol konsumier-

te (vgl. 31-32/XXXVIII). Die Zeit, während der sie aus dem Heim entwich, verbrachte sie

bei ihrem damaligen Freund (vgl. 34-35/XXXVIII). Aufgrund dieser Probleme fanden oft

Gespräche im Jugendamt statt, wo ihr mitgeteilt wurde, dass sie sich entscheiden könne,

ob sie in dem damaligen Heim bleiben oder in einem anderen Heim untergebracht werden

wolle. Sie entschied sich für das zweite Heim (vgl. 35-39/XXXVIII), obwohl es ihr bis zu

diesem Zeitpunkt unbekannt war (vgl. 3-4/XXXIX). Während des Interviews interpretierte

ich Elfriedes Aussagen so, als habe sie nicht mehr in dem ersten Heim bleiben wollen,

was sie bejahte. Das neue Heim sei größer und gemischter gewesen, sie komme dort

auch besser zurecht (vgl. 40/XXXVIII-2/XXXIX). Ich denke, dass es für Elfriedes Aussage

zwei Lesarten geben kann. Es ist möglich, dass sie sich tatsächlich frei entscheiden konn-

te und nicht mehr im ersten Heim leben wollte. Eine andere Lesart wäre aber, dass die

Aussage des Mitarbeiters des Jugendamtes eher eine Art Drohung war. Im Sinne von

‚Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, musst du in ein anderes Heim. Du hast die

Wahl.’ Hier wäre dann Elfriedes Entscheidung nicht so frei gewesen, wie ich es während

des Interviews annahm.

Mit den Betreuern des ersten Heimes sprach sie nicht über die Entscheidung (vgl. 7-

13/XXXIX). An den stattfindenden Hilfeplangesprächen nahm ihr Vater teil, zu ihrer Mutter

hatte sie keinen Kontakt mehr (vgl. 15/XXXIX). Bei dem Hilfeplangespräch, während dem

die Unterbringung im zweiten Heim besprochen wurde, habe sie sich zurückgehalten, sie

könne sich auch nicht mehr erinnern, was dort besprochen wurde (vgl. 4-11/XL).

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Kapitel III: Elfriede

Es wird nicht deutlich, wie sie die Entwicklung zum damaligen Zeitpunkt empfand. In ih-

rem heutigen Wissen darum, dass sie sich im zweiten Heim wohler fühlt, interpretiert sie

die Entscheidung positiv.

• Die Unterbringung im ersten Heim war mit einem Kontaktabbruch zur Mutter verbun-

den.

• Zum Zeitpunkt des Heimwechsels stand Elfriedes Fehlverhalten im Vordergrund.

• Zwischen Elfriede und den Betreuern des ersten Heimes fand keine Kommunikation

über die geplante Unterbringung im zweiten Heim statt.

• Elfriede stimmt dem Heimwechsel (rückblickend) zu.

3.3 Das zweite Heim

Elfriede ist heute in einem Großheim untergebracht: es besteht aus fünf Gruppen, in de-

nen jeweils zehn Kinder leben. Hauswirtschaftliche Tätigkeiten wie Kochen, Waschen und

Putzen müssen die Kinder nicht selbst erledigen (vgl. 27-29/XLI).

„Im zweiten Heim gibt es viel mehr Chancen und da kriegt man

auch mehr geholfen als im andren Heim.“ (4-5/XLI)

Hier handelt es sich um die Antwort auf meine Frage, was das zweite vom ersten Heim

unterscheidet. Elfriede führt diese Aussage weiter aus: sie sagt, dass die Regeln im zwei-

ten Heim strenger sind und es begrenzte Ausgangszeiten gibt (vgl. 7-10/XLI).47 Einen

‚geregelten Tagesablauf’ empfindet sie als Hilfe:

„ein Mensch braucht ja en festen Sitz und wenn er keinen geregel-ten Tagesablauf hat dann funktioniert ja gar nix mehr.“ (10-12/XLI)

Sie ist der Meinung, dass sie dies im Heim lernt, was sie positiv empfindet (vgl. 15/XLI).

Wenn man sich an die Regeln halte, könne man sich Vertrauen aufbauen und bekomme

mehr Freiheiten. Beispielsweise habe sie bis um halb eins zu Freunden gehen dürfen um

DVDs zu schauen (vgl. 18-24/XLI).

Die Betreuer im Heim findet Elfriede ‚spitze’. Mit ihnen kann sie ‚ganz normal’ reden und

sie hören ihr zu. Sie findet die Betreuer nett und vertraut ihnen. Auf der anderen Seite

können die Betreuer auch streng sein und sich durchsetzen, was durch Elfriede ebenso

47 Hier werden die in Kapitel I Punkt 1.2 in Bezug auf Regeln und hauswirtschaftliche Tätigkeiten beschriebe-nen Unterschiede zwischen dem Lebensfeld ‚Großheim’ und ‚Außenwohngruppe’ deutlich.

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Kapitel III: Elfriede

positiv bewertet wird. Bei ihr müsse man sich durchsetzen, wenn sie ‚ausraste’ (vgl. 25-

33/XLII).

An diesen Ausführungen wird deutlich, dass Elfriede sich nicht in der Lage sieht, sich

selbst Regeln zu setzen. Sie ist der Meinung, dass sie auf die Kontrolle anderer und eine

starke Reglementierung angewiesen ist.

Den anderen im Heim untergebrachten Kindern scheint Elfriede ambivalent gegenüberzu-

stehen. An einer Stelle des Interviews sagt sie, dass sie mit ihnen ‚ganz gut’ zurecht

kommt (vgl. 22-24/XLII), während sie an einer anderen Passage erzählt, dass sie die an-

deren Kinder, die ausnahmslos jünger als sie sind, nerven. Hier sagt sie, dass es ihr nicht

im Heim gefällt (vgl. 33-41/XLVI).

Zu ihrem Vater hat Elfriede wieder regelmäßigen Kontakt. Er nimmt an den Hilfeplange-

sprächen teil. Vor den Hilfeplangesprächen wird mit Elfriede nicht abgestimmt, was Inhalt

der Gespräche sein wird. Sie sagt, dass sie das auch alleine weiß, das müsse ihr nie-

mand sagen (vgl. 3-16/XLIII). Während solcher Gespräche, an denen ihr Vater, eine Er-

zieherin und das Jugendamt teilnehmen, sagt sie nicht viel. Sie könne zwar ihre Meinung

sagen, habe aber Respekt vor ihrem Vater und außerdem auch keine Lust etwas zu sa-

gen. Sie lasse die anderen einfach reden. Wenn sie etwas nicht in Ordnung findet, was

besprochen wird, sagt sie dies schon. Allerdings kann sie damit Entscheidungen nicht

beeinflussen. Sie fühlt sich aus den Gesprächen ausgeschlossen und hat das Gefühl,

dass es den Erwachsenen gleichgültig ist, wenn sie etwas sagt. Damit ist Elfriede nicht

einverstanden. Sie ist der Meinung, dass sie ein Recht hat, mitzureden, es ginge schließ-

lich um sie. Sie erzählt, dass sie sich vorgenommen hat, dies anzusprechen (vgl. 11-

40/XL).48

Elfriede beschreibt, dass sie auch in diesem Heim fortgelaufen ist, viele Beziehungen zu

Jungen hatte und Drogen konsumierte. Dies sei aber jetzt vorbei, sie habe einen Neuan-

fang begonnen (vgl. 1-12/XLII). Im Interview wird nicht deutlich, ob der Entschluss zu ei-

nem ‚Neuanfang’ in der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder bereits im Heim entstand.

• Elfriede wird vermittelt, dass das Einhalten von Regeln Vertrauen schafft. Es wird ihr

also nicht grundsätzlich Vertrauen entgegengebracht, dieses muss sie sich erst erar-

beiten.

• Eine geordnete Tagesstruktur und klare Regeln empfindet Elfriede als Hilfe.

• Die Betreuer des Heimes schaffen ein vertrauensvolles Verhältnis, in dem Elfriede

Probleme besprechen kann und sich ernst genommen fühlt.

48 Das Thema Hilfeplangespräche hätte Elfriede wahrscheinlich von sich aus nicht angesprochen und vor allem nicht so ausführlich besprochen. Hier wird eine starke Lenkung des Gespräches durch mich deutlich.

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Kapitel III: Elfriede

• Elfriede macht die Erfahrung, an Hilfeplangesprächen nicht beteiligt und mit ihren

Wünschen nicht ernst genommen zu werden. Ihr wird vermittelt, dass ihr Wort weniger

Gewicht hat, als das der Erwachsenen.

3.4 Die Kinder- und Jugendpsychiatrie

Übergang in die Kinder- und Jugendpsychiatrie

„Ich hab zu oft an die Probleme von früher gedacht, ich kam halt net mehr damit klar und so und da hab ich halt und da ham se mir halt das Angebot gemacht und da hab ich halt gemeint ja, ok.“ (19-

21/XLIII)

Elfriede ist der Meinung, dass es in der Heimeinrichtung ‚ganz gut läuft’. Sie denke aber

oft an ihre Vergangenheit, deshalb sei sie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Hier

möchte sie lernen, mit ihren Problemen zurecht zu kommen (vgl. 13-15/XXXVI).

Elfriede scheint den Übergang in die Kinder- und Jugendpsychiatrie ohne Zwang erlebt zu

haben. Sie beschreibt, dass die Erzieher des Heimes ihr das „Angebot“ gemacht haben,

bzw. ihr „vorgeschlagen“ haben, in die Kinder- und Jugendpsychiatrie zu gehen. Sie

stimmte zu (vgl. 19-23/XLIII).

Vor ihrer Aufnahme in der Kinder- und Jugendpsychiatrie war sie einmal in Siegen, um

einen „Idiotentest“ zu machen, es sei aber ein hoher IQ festgestellt worden. Dort ging man

davon aus, dass kein Grund für eine stationäre Behandlung besteht. Danach war sie bei

einer Psychologin in Attendorn, die ihr vorschlug, in die Kinder- und Jugendpsychiatrie zu

gehen. Elfriede willigte ein (vgl. 25-29/XLIII).

Elfriedes Vorstellung von der Psychiatrie beängstigte sie aber auch. Andere Kinder des

Heimes waren aber schon dort und erzählten ihr davon, was sie beruhigte. Vor allem aber

durch den ersten Besuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marsberg wurden ihre

Ängste ausgeräumt (vgl. 21-23/XLV). Für eine stationäre Aufnahme entschied sich Elfrie-

de erst nach diesem Besuch (vgl. 30-31/XLIII). Einige Tage nach ihrem Erstkontakt zur

Kinder- und Jugendpsychiatrie rief Elfriede dort an und teilte mit, dass sie sich zu einer

stationären Therapie entschlossen hatte (vgl. 30-32/XLIII). Nach ihrem Anruf kam sie auf

eine Warteliste, drei Monate später wurde sie stationär aufgenommen (vgl. 16-19/XLVI).

Später wird deutlich, dass Elfriede verzweifelt gewesen zu sein scheint. Sie sagt, dass es

ihr egal war, wie es in der Psychiatrie sein würde, sie wollte nur, dass ihr geholfen wird.

Weiterhin ist sie der Meinung, dass sie heute ‚auf der Straße sitzen’ würde, wenn sie sich

nicht für eine Therapie entschieden hätte (vgl. 40/XLV–10/XLVI).

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Kapitel III: Elfriede

• Es wurde Elfriedes Einverständnis und Freiwilligkeit für die Unterbringung in der Kin-

der- und Jugendpsychiatrie erzielt.

• Sie entschied sich aktiv für die Unterbringung.

• Ihre Vorstellungen von der Psychiatrie waren angstbesetzt, es gelang aber, diese

Zweifel auszuräumen.

• Die Unterbringung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist mit der Hoffnung verbun-

den, dass sie ihre Probleme bewältigen kann.

Das Leben in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

„Ich find das einfach nur cool hier.“ (3/XLIV)

Elfriede lebt gerne in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der sie seit drei Wochen un-

tergebracht ist (vgl. 20-21/XLVI). Sie unterscheidet zwischen einer „richtigen Klapse“

(25/XLV) und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Eine ‚richtige’ Psychiatrie entspricht ih-

ren Vorstellungen, die sie vor der Unterbringung in Marsberg hatte:

„[…] alles zu, verriegelt, gar nichts auf, Schnüren an den Wänden und so. […] Wenn jemand ausrastet wird der doch aufs Bett ge-

schnürt.“ (25-30/XLV)

Solche Erfahrungen macht sie in Marsberg nicht (vgl. 33-35/XLV). Elfriede sagt, dass es

hier wie im Heim ist, „nur dass es ein bisschen anders ist“ (vgl. 28-29/XLIV).

„Is ja wie Urlaub hier.“ (30/XLVI)

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie schafft sogar Entlastung vom Heimleben. Elfriede ist

der Meinung, dass sie sich hier von „dem Stress im Heim“ erholen kann und dass ihr dies

gut tut (32-34/XLVI).

Ein Unterschied, den Elfriede zwischen dem Heim und der Kinder- und Jugendpsychiatrie

sieht, besteht darin, dass die Regeln in der Kinder- und Jugendpsychiatrie strenger als im

Heim sind, was sie positiv empfindet. Wenn man etwas falsch mache, lerne man, daraus

die Konsequenz zu ziehen (vgl. 1-3/XLIV). Als Beispiel gibt sie an, dass man den ganzen

Abend nicht mehr fernsehen darf, wenn man nicht zur Nachrichtensendung erscheint.

Deshalb gehe sie immer „brav zur Nachrichtensendung“ (vgl. 34-36/XLIV). Sie habe aber

noch nichts falsch gemacht, sie habe nur von den anderen gehört, dass es Konsequen-

zen gebe. Eine mögliche Konsequenz für einen Regelverstoß ist, dass eine Ausgangs-

sperre verhängt wird, was zur Folge hat, dass man nur noch nach dem Essen rauchen

gehen darf. Dies wird durch die Betreuer kontrolliert, indem die Außentür abgeschlossen

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Kapitel III: Elfriede

wird und man sich immer auf einen Zettel eintragen muss, wenn man die Gruppe verlässt

(vgl. 38/XLIV-4/XLV).

Durch das Einhalten von Regeln erlebt Elfriede, dass ihr Vertrauen entgegengebracht

wird und sie mehr Freiheiten bezüglich des Ausgangs erreichen kann (vgl. 11-15/XLVIII).

Weiterhin schaffen die Regeln für Elfriede Handlungssicherheit und Orientierung. Sie weiß

genau, was erlaubt ist und was nicht.

Elfriede ist mit dem Freizeitangebot in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zufrieden. Sie

berichtet von den Therapien, die sie macht und von Freizeitaktivitäten, an deren Gestal-

tung sie beteiligt wird. Während sie im Heim ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) ableistet,

besucht sie hier die Schule (vgl. 24-28/XLIV & 36/XLIX-8/L). Die klare Aufgabenverteilung

unter den Kindern durch Dienste empfindet sie positiv (12-14/XLIV).

Die Aufgaben der Betreuer sieht sie vor allem in organisatorischen Dingen. Sie sind ver-

antwortlich für Terminplanungen, besprechen mit der Gruppe die Regelung der Aus-

gangsstufen und den Ämterplan. Weiterhin können sie Verbote aussprechen und themati-

sieren das Fehlverhalten der Kinder. Sie erkundigen sich aber auch nach den Wochenen-

den, die die Kinder zu Hause verbringen (vgl. 4-6/XLVIII & 31/XLIX).

Mit den anderen Kindern der Station versteht Elfriede sich gut. Mit ihnen kann sie Spaß

haben, sich aber auch ernst unterhalten (2-3/XLVII). Wenn man am Anderen etwas nicht

in Ordnung findet, kann man dies äußern. Dies geschieht allerdings nicht immer direkt,

sondern wird während der Gruppentherapien besprochen (vgl. 5/XLVII-3/XLVIII).

Elfriede erlebt die Kinder- und Jugendpsychiatrie als Hilfe. Sie ist der Meinung, dass die

Therapien sie bei ihrer Vergangenheitsbewältigung unterstützen, sie hier ihre Ruhe finden

kann und zu sich selbst findet. Wie genau dies funktioniert, kann sie nicht erklären. Es

käme einfach so (vgl. 16-20/XLIV). Elfriede ist der Meinung, dass sie ruhiger und erwach-

sener geworden ist. Sie möchte in der Zukunft so bleiben, wie sie jetzt ist (vgl. 20-

32/XLVIII).

„Das muss man sich so vorstellen, als ob ich en Roboter wär, und ich komm hier hin, dass die mich nur einstellen, und dann geh ich hier wieder raus und dann bin ich so in der Form wie ich wie die

mich hier eingestellt haben. [.] In einer positiven Form.“ (32-35/XLVIIII)

Was gut für sie ist, hat sie ihrer Meinung nach in der Kinder- und Jugendpsychiatrie he-

rausgefunden (vgl. 36-41/XLVIII). Ihr Ziel, das sie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

erreichen möchte, ist ruhiger zu werden und sich zu verändern. Sie möchte lernen, mit

ihren Problemen zurecht zu kommen und auch mal an sich zu denken, was ihr vorher

schwer fiel (vgl. 15-18/XLV). In der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird ihr Unterstützung

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Kapitel III: Elfriede

bei Problemen geboten. Es soll Kontakt zu ihrer Mutter aufgebaut werden, was ihr wichtig

ist (vgl. 15-30/XXXIX).

Für die Zukunft hat Elfriede sich vorgenommen, einige Dinge zu ändern: sie möchte nun

ansprechen, dass sie an Hilfeplangesprächen mehr beteiligt werden möchte (vgl. 37-

40/XL). Auch dass sie ihr Verhalten in Bezug auf Drogenkonsum, Fortlaufen, Beziehun-

gen, etc. geändert hat, bzw. ändern möchte, scheint sie in Verbindung mit ihrem Aufent-

halt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu sehen (vgl. 1-12/XLII).

Sie denkt nicht, dass sich ihr Leben nun grundlegend ändern wird oder Menschen sie in

der Zukunft anders behandeln werden als vor ihrem Psychiatrieaufenthalt. Allerdings geht

sie davon aus, dass beispielsweise ihre Betreuer im Heim wissen, dass sie sich geändert

hat (vgl. 21-29/L). Sie fährt jedes Wochenende in das Heim, in dem sie lebt, die Besuche

dort verlaufen gut. Nach ihrer Entlassung aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird sie

dorthin zurückkehren (vgl. 1-9/XLIX).

Sie hat sich vorgenommen, nach ihrem Freiwilligen Sozialen Jahr ihren Hauptschulab-

schluss nachzuholen, um dann Altenpflegerin zu werden (vgl. 3-15/L).

Der Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird durch Elfriede positiv erlebt, weil

• eine Entlastung wahrgenommen wird,

• das Leben dort dem Alltagsleben im Heim relativ ähnlich ist,

• ihr die Freizeitgestaltung und die Therapien gefallen,

• er eine Atmosphäre bietet, in der es gelingt, Probleme zu bearbeiten.

• Elfriede ist der Meinung, dass sie ihr Verhalten ändern muss.

• Die Aufgabe der Betreuer sieht sie vor allem in organisatorischen Aspekten.

• Sie sieht die anderen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebrachten Kinder

nicht defizitorientiert, sondern versteht sich mit ihnen besser als mit den Kindern des

Heimes. Konflikte in der Gruppe müssen nicht eigenständig gelöst werden.

• Während des Psychiatrieaufenthaltes werden Zukunftsperspektiven erarbeitet.

• Strenge Regeln empfindet Elfriede positiv. Sie bieten ihr Handlungssicherheit.

• Es wird kein Verständnis in die Regeln erwirkt. Elfriede hält sie ein, weil sie die dro-

henden Konsequenzen vermeiden möchte.

• Durch das Einhalten von Regeln erlebt Elfriede, dass ihr Vertrauen entgegengebracht

wird und sie mehr Freiheiten bezüglich des Ausganges erreichen kann.

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Kapitel IV: Zusammenfassung der Ergebnisse

Kapitel IV: Auswertung der Ergebnisse und Folgerungen

In diesem Kapitel werden in Punkt 1 die relevanten Gesichtspunkte der Einzelinterviews

zusammengefasst und miteinander verglichen. Ich werde Abweichungen und Gemein-

samkeiten im Erleben von Übergängen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie und Heimer-

ziehung herausstellen und meine Interpretation darlegen. In Punkt 1.1 werde ich darauf

eingehen, wie die Unterbringungsprozesse wahrgenommen wurden. In den Interviews

war aber nicht nur der unmittelbare Prozess der Einweisung in die Kinder- und Jugend-

psychiatrie bzw. der Prozess der Unterbringung in Heimeinrichtungen von Bedeutung.

Das Erleben der Einrichtungen sowie die Qualität der sozialen Beziehungen innerhalb und

außerhalb der Einrichtungen wirkten sich auf die Deutung von Übergängen in der Biogra-

phie der Kinder fundamental aus. Diesen Aspekten möchte ich in den Punkten 1.2 bis 1.6

gerecht werden.

In Punkt 2 werde ich versuchen, die Ergebnisse in den Rahmen der sozialpädagogischen

Praxis zu stellen und Konsequenzen für die Gestaltung von Übergängen herauszuarbei-

ten.

1. Zusammenfassung der Ergebnisse

1.1 Die Wahrnehmung der Unterbringungsprozesse

Die Befragten nahmen die Unterbringungsprozesse in die Heimeinrichtungen und die Kin-

der- und Jugendpsychiatrie sehr unterschiedlich wahr. Dies kann mit verschiedenen Ge-

sichtspunkten in Zusammenhang gebracht werden:

Oft erlebten sie, dass Erwachsene (z.B. die Eltern, die Mitarbeiter von Jugendämtern,

Ärzte) einen massiven Einfluss auf Entscheidungen ausübten, die das Leben der Kinder

stark veränderten. Die Kinder wurden vielfach nicht beteiligt und nahmen hier eine unglei-

che Machtverteilung zwischen sich und den Erwachsenen wahr. Dies wurde dann ersicht-

lich, wenn sie Entscheidungen sowie die Auswahl der Einrichtungen nicht beeinflussen

konnten bzw. sie zwar ihre Meinung äußern konnten, diese aber im weiteren Verlauf nicht

berücksichtigt wurde.

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Kapitel IV: Zusammenfassung der Ergebnisse

Teilweise mangelte es an einer Kommunikation zwischen den Kindern und den Erwach-

senen. Hier fehlte es an Transparenz und Einblicken in die Gründe für Entscheidungen.

Die Kinder suchten dann Erklärungen in ihrem eigenen Fehlverhalten, schwierigen famili-

ären Lebensumständen, oft kombiniert mit dem Eindruck, von ihren Eltern nicht (mehr)

gewollt zu sein.49

Aylin berichtet an einigen Stellen, dass ihre Wünsche zum Teil respektiert wurden, letzt-

endlich jedoch Maßnahmen durchgeführt wurden, mit denen sie nicht einverstanden war.

Hier tritt die Tatsache der eigenen Einflussnahme in den Hintergrund und der erlebte

Zwang ist für sie vorrangig.

Es war aber auch zu beobachten, dass die Möglichkeit, eine autonome Entscheidung be-

züglich des neuen Lebensortes treffen zu können, die Kinder überfordern kann. Dies galt

dann, wenn eine bestimmte Entscheidung mit dem Verlust der Loyalität wichtiger Bezugs-

personen oder mit unklaren Zukunftsperspektiven verbunden war und die Kinder das Ge-

fühl hatten, die Entscheidung und damit verbundene Konsequenzen allein verantworten

zu müssen.

Positiv bewerten die Kinder, wenn sie Ansprechpartner in Krisensituationen fanden, die

sie unterstützten, ihre Probleme ernst nahmen und ihre Interessen vertraten. Am güns-

tigsten werden Situationen wahrgenommen, in denen es eine Übereinkunft hinsichtlich

der Unterbringung im Heim oder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zwischen den Kin-

dern und den Erwachsenen gab. Hier mussten sie ihre Interessen nicht gegen den Willen

anderer durchsetzen bzw. die Unterbringung war für sie nicht mit Zwang, sondern mit

Freiwilligkeit verbunden.

Ein weiterer Aspekt in Bezug auf die Unterbringungsprozesse war die negative Vorstel-

lung der Kinder von einem Leben im Heim oder der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diese

Vorstellungen waren angstbesetzt, wahrscheinlich sehr geprägt durch das in den Medien

vermittelte Bild. Hier war es wichtig, dass ihre Ängste ausgeräumt wurden, indem sie an

der Auswahl der Einrichtungen beteiligt wurden oder vor der Unterbringung erste Kontakte

stattfanden.

Unabhängig von der Beteiligung und Möglichkeit der Einflussnahme auf Entscheidungen

spielt es eine wesentliche Rolle, ob es den Kindern gelingt, der Unterbringung im Heim

oder der Kinder- und Jugendpsychiatrie einen Sinn zu verleihen. Selbst dann, wenn sie

nicht in Entscheidungen einbezogen und diese für sie nicht transparent wurden, treten

rückblickend solche negativen Aspekte in den Hintergrund, wenn die Unterbringung eine

Entlastung von ihrer vorherigen Lebenssituation bot, wenn sie feststellten, dass es ihnen

49 Von ähnlichen Ergebnissen berichtet PIES (2004, S. 430f.).

94

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Kapitel IV: Zusammenfassung der Ergebnisse

an ihrem neuen Lebensort besser ging als zuvor und sie dort bei der Bewältigung beste-

hender Probleme unterstützt wurden.50

1.2 Die Kinder- und Jugendpsychiatrie

Der Anlass für die Unterbringung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie war in keinem der

untersuchten Fälle eine akute Krisensituation (selbst Aylin verbrachte die ersten drei Wo-

chen nach ihrem Suizidversuch auf einer normalen Krankenhausstation), sondern wurde

im Vorfeld geplant. Bei den Befragten waren beträchtliche Unterschiede in der Wahrneh-

mung des Psychiatrieaufenthaltes festzustellen. Dies kann in Zusammenhang mit der

Beteiligung am Unterbringungsprozess und damit, ob es den Kindern gelang, in dem Auf-

enthalt eine Hilfe zu sehen, in Verbindung gebracht werden.

Aylin erlebte den Übergang in die Kinder- und Jugendpsychiatrie geprägt durch Zwang.

Sie fühlte sich abgeschoben und nicht gewollt. Tim gab seine Zustimmung zur Unterbrin-

gung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie unter dem Druck, ansonsten aus der Pflege-

familie genommen zu werden. Elfriede hingegen entschied sich aktiv für die Unterbrin-

gung, die für sie mit der Hoffnung auf Hilfe und Problembewältigung verbunden war. Sie

ist die Einzige, die den Aufenthalt ausschließlich positiv bewertet und aus eigener Motiva-

tion in kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung ist. Sie nimmt hier eine Entlastung

wahr, kann sich von den anderen Kindern im Heim erholen und ihre Probleme bearbeiten.

Sie stellt fest, dass sie sich bereits verändert hat und empfindet dies positiv. Wichtig ist

auch, dass sie klare Zukunftsperspektiven hat: Sie weiß, dass sie in das Heim, in dem sie

vor dem Psychiatrieaufenthalt lebte, zurückkehren wird und hat auch für ihre schulische

und berufliche Zukunft Pläne entwickelt.

Aylin und Tim bewerten den Psychiatrieaufenthalt negativ. Aylins Sicht ist geprägt durch

den wahrgenommenen Zwang. Auch rückblickend kann sie nicht sagen, was durch die

Unterbringung erreicht werden sollte. Dies wirkte sich nachteilig auf ihre Teilnahme an

den Therapien aus, denen sie sich verweigerte.

Tim hatte zu Beginn des Aufenthaltes noch die Hoffnung, dass es durch den Aufenthalt zu

einer Stabilisierung der familiären Verhältnisse und Reduzierung der ständigen Konflikte

kommt. Dadurch, dass sein Aufenthalt mehrmals verlängert wurde und seine Hoffnung auf

eine Besserung der familiären Beziehungen enttäuscht wurde, gelingt es ihm auch rück-

blickend nicht, in dem Aufenthalt eine Hilfe zu sehen. Er erlebte, dass sein Fehlverhalten

in den Mittelpunkt rückte, ihm wurde vermittelt, dass er sich nicht ausreichend entwickelte

und seine Pflegeeltern ihn aufgrund dessen ablehnten.

50 vgl. hierzu PIES (2004, S. 430); GEHRES (1997, S.201)

95

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Kapitel IV: Zusammenfassung der Ergebnisse

Sowohl Tim als auch Aylin berichten von Kontaktabbrüchen während der Zeit in der Kin-

der- und Jugendpsychiatrie. Beide vermissten ihre Freunde und auch die Kontakte zu

ihren Familien fanden selten statt, bzw. brachen ganz ab.

Die Bewertung der Beschäftigungsmöglichkeiten unterscheidet sich ebenfalls stark. Wäh-

rend Aylin und Tim sich über Langeweile und wenig Freizeitbeschäftigungen beklagen,

gestaltet Elfriede ihre Freizeit aktiv.

Während der Psychiatrieaufenthalt für Elfriede Entlastung schafft und eine Art Schonraum

darstellt, brachte er für Tim und Aylin zusätzliche Belastungen mit sich. Es gelang nicht,

ihr Einverständnis zu gewinnen, auch rückblickend bewerten sie den Aufenthalt äußerst

negativ und wenig hilfreich.

1.3 Die Heimeinrichtungen

Im Gegensatz zur Kinder- und Jugendpsychiatrie stellen die Heimeinrichtungen, in denen

die Befragten zum Zeitpunkt der Interviews untergebracht sind, dauerhafte Lebensorte

dar.51 Sie alle planen, bis zum Umzug in eine eigene Wohnung in ihrer jetzigen Heim-

gruppe zu verbleiben und nicht mehr in den elterlichen Haushalt zurückzukehren.52

Für die Kinder bot die Unterbringung in der Heimgruppe eine Entlastung von der familiä-

ren Situation. Aylin und Tim empfanden außerdem eine Entlastung vom vorangegange-

nen Psychiatrieaufenthalt.

Die Unterbringung im Heim war für die Kinder mit der Erkenntnis verbunden, dass ihre

Familie nicht der idealen, intakten Familie, die sich die Kinder wünschen, entspricht. Be-

sonders deutlich wird dies im Interview mit Aylin.

Die Kinder sind zufrieden mit den Heimeinrichtungen, in denen sie zum Zeitpunkt der In-

terviews leben, machen jedoch auch Einschränkungen. Es wird offensichtlich, dass der

Lebensort ‚Heim’ sich von einem Leben in der Familie unterscheidet, was sowohl positive

als auch negative Aspekte für die Kinder beinhaltet: Auch wenn Regeln teilweise ausge-

handelt werden können, gibt es dennoch Strukturen, die nicht auf Aushandlungen beru-

hen, sondern für alle Heimbewohner gleichermaßen gelten. Entsprechen diese nicht den

individuellen Bedürfnissen und Wünschen der Kinder, wird dies negativ bewertet. Ein wei-

terer Unterschied ist die Zwangsgemeinschaft, in der die Kinder leben (vgl. hierzu Punkt

1.5 dieses Kapitels), sowie die geringe personale Stabilität, die durch die Fluktuation der

51 Sie alle lebten aber auch schon in einer anderen Heimeinrichtung, die bei Aylin und Tim von vornherein zeitlich begrenzte Lebensorte darstellten. Das erste Heim, in dem Elfriede lebte, war eventuell ursprünglich als dauerhafter Lebensort geplant, nach einem halben Jahr fand jedoch ein Heimwechsel statt. 52 Wobei hier anzumerken ist, dass Aylin sich auch vorstellen könnte, wieder bei ihrer Mutter zu leben, was ihr jedoch verwehrt wird.

96

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Kapitel IV: Zusammenfassung der Ergebnisse

anderen Heimbewohner entsteht. Weiterhin unterscheidet sich das Heimleben beispiels-

weise dann von der Familie, wenn die Kinder krank sind. In diesem Fall gibt es keine die

Kinder umsorgende Mutter, sondern andere Mitbewohner, die keine Rücksicht nehmen

(vgl. Interview Aylin).

Das Heim kann aber auch Entlastungen von konflikthaften und belastenden Situationen

bieten und den Kindern so neue Chancen eröffnen. Gelingt es, vertrauensvolle Beziehun-

gen zu den Pädagogen aufzubauen, können zurückliegende und aktuelle Probleme bear-

beitet werden. Je mehr positive Aspekte die Kinder dem Heimleben zuschreiben, desto

besser gelingt es ihnen, das Heim als neuen Lebensort zu akzeptieren.

1.4 Die Relevanz von Regeln und Strukturen

Durch die Beschreibung von Regeln und Strukturen verdeutlichen die Kinder in den Inter-

views Unterschiede zwischen den verschiedenen Einrichtungen, in denen die Tagesab-

läufe und Verpflichtungen mehr oder weniger stark reglementiert und festgelegt sind.

Vor allem Elfriede und Aylin dient die Regelbeschreibung dazu, die Einrichtungen zu be-

werten. Die Reaktionen auf die Regelsysteme und deren Akzeptanz bei den Kindern sind

unterschiedlich. Während Aylin Wert darauf legt, dass Regeln ausgehandelt werden kön-

nen und sie diese beeinflussen kann, scheint bei Elfriede das Gegenteil der Fall zu sein.

Je strenger die Regeln und Strukturen der Einrichtungen sind, desto positiver fällt ihre

Beurteilung aus. Klare Regeln und Strukturen bieten ihr Sicherheit und Entlastung. Sie

erleichtern es ihr, sich in den Einrichtungen zu orientieren, indem sie weiß, was dort als

‚richtig’ und ‚falsch’ angesehen wird. Außerdem macht sie die Erfahrung, dass ihr mehr

Vertrauen entgegengebracht wird, wenn sie bestehende Regeln einhält.

Alle Befragten nehmen eine starke Reglementierung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

wahr. Dadurch, dass die mögliche Geschlossenheit zum Alltag der Kinder- und Jugend-

psychiatrie gehört (Elfriede und Aylin berichten von abgeschlossenen Türen, Tim von ei-

nem ‚Ausraum’ und Fixierbett), wird das starke Regelsystem besonders deutlich. Wäh-

rend Tim und Aylin dies mit Zwang und Ohnmacht verbinden, empfindet Elfriede dies po-

sitiv. An diesem Punkt wird Elfriedes Selbstsicht deutlich: Sie ist der Meinung, dass sie

auf die Kontrolle anderer angewiesen ist.

Die Reaktionen der Mitarbeiter der Einrichtungen auf Regelbrüche waren unterschiedlich.

Sie reichten von Sanktionen und drohendem Ausschluss über Nachsicht und der Möglich-

keit für neue Aushandlungsprozesse.

97

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Kapitel IV: Zusammenfassung der Ergebnisse

1.5 Die Relevanz von Personen innerhalb der Einrichtungen

In Bezug auf die Heimeinrichtungen und die Kinder- und Jugendpsychiatrie sprechen die

Kinder nur selten von einzelnen Personen und nehmen stattdessen eher Personengrup-

pen wahr.

Alle Befragten berichten von einem guten Verhältnis innerhalb der Patientengruppe der

Kinder- und Jugendpsychiatrie. Während bei Aylin die Wahrnehmung der Probleme der

anderen Patienten überwiegt und sie bemüht ist, sich in ihrer Schilderung davon abzu-

grenzen, steht bei Tim und Elfriede im Vordergrund, dass sie sich gut mit ihren Mitpatien-

ten verstehen bzw. verstanden. Elfriede geht gar nicht auf die Probleme der anderen Pa-

tienten ein, betont sogar, dass sie mit diesen überwiegend besser zurecht kommt als mit

den Kindern im Heim.

Elfriede und Aylin nehmen die Bewohner der Heimeinrichtungen ambivalent wahr. Auf der

einen Seite berichten sie, dass sie sich relativ gut mit ihnen verstehen. Es wird aber auch

deutlich, dass es sich hier um eine Zwangsgemeinschaft handelt, in der die Kinder sich

nicht aussuchen können, mit wem sie den Alltag teilen.53 Die anderen Bewohner können

lästig sein, nehmen wenig Rücksicht und es kommt zu Auseinandersetzungen. Aylin be-

tont außerdem, dass sie unter der geringen personalen Stabilität der Heimgruppe leidet,

da ständig Kinder die Einrichtung verlassen und neue hinzukommen.

Tim beurteilt die anderen Heimbewohner positiv. Sie stellen für ihn Ansprechpartner bei

Problemen und Bündnispartner bei der Rebellion gegen die Betreuer der Einrichtungen

dar.

Die Kinder berichten nicht von persönlichen, emotional geprägten Beziehungen zum Kli-

nikpersonal. Vor allem Tim und Elfriede unterscheiden hier die Aufgabenbereiche der ver-

schiedenen Berufsgruppen. Psychologen und Ärzte sind zuständig für Untersuchungen

und Therapien. Beide erwähnen eine Ärztin bzw. Psychologin, als einzelne Person. Diese

fungiert für Tim als eine Art Vermittler zwischen ihm und den Eltern, Elfriede erwähnt sie

im Zusammenhang mit der geplanten Kontaktanbahnung zu ihrer Mutter. Alle Kinder erle-

ben das Betreuungspersonal der Kinder- und Jugendpsychiatrie in einer Kontroll- und

Beobachtungsfunktion. Elfriede sieht die Aufgaben der Betreuer außerdem in organisato-

rischen Dingen.

Auch die Mitarbeiter der Heimeinrichtungen haben organisatorische Aufgaben und wer-

den mit der Durchsetzung von Regeln in Verbindung gebracht. Es ist zu beobachten, dass

die Kinder in den Heimen, die sie positiv bewerten, auch persönlichere Beziehungen zu

den dortigen Mitarbeitern haben. Es ist ihnen wichtig, dass zu den Mitarbeitern eine Ver-

53 vgl. FREIGANG/WOLF (2001, S. 63 & S. 95)

98

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Kapitel IV: Zusammenfassung der Ergebnisse

trauensbasis besteht, auf der die Kinder Probleme besprechen können. Es wirkt sich

günstig aus, wenn die Betreuer den Kindern das Gefühl vermitteln, ein aufrichtiges Inte-

resse an ihnen zu haben, Unterstützung bei lebenspraktischen Dingen bieten und um

Harmonie bemüht sind. Dem spricht entgegen, dass die Kinder in Hilfeplangesprächen

häufig das Gefühl haben, nicht ausreichend beteiligt zu werden und weniger Einfluss auf

Entscheidungen zu haben, als die Erwachsenen. Auch Eingriffe in die Intimsphäre der

Kinder durch die Mitarbeiter werden negativ bewertet. Tim sieht es positiv, dass die Be-

treuer nicht nachtragend sind, wenn er gegen Verhaltensregeln verstößt.

An dieser Stelle möchte ich auch kurz auf die Bedeutung der Mitarbeiter des Jugendam-

tes für die Kinder eingehen. Es war – bis auf eine Ausnahme – keine persönliche Bezie-

hung zwischen den Kindern und den Mitarbeitern des Jugendamtes feststellbar. Die Kin-

der sprachen kaum von konkreten Personen, sondern es wurde ‚das Jugendamt’ be-

nannt.54 Die Mitarbeiter des Jugendamtes spielten vor allem während Unterbringungspro-

zessen und – war die Hilfe eingeleitet – bei Hilfeplangesprächen und in Krisensituationen

eine Rolle. Es wurde deutlich, dass die Kinder erlebten, dass das Jugendamt eine Koaliti-

on mit den Mitarbeitern der Heime und den Eltern einging, die Meinung der Kinder hinge-

gen selten ernsthaft gefragt war.

Eine Ausnahme bildete Herr Müller bei Aylin. Er stellte eine konkrete Unterstützung in

einer Krisensituation dar und hatte dadurch auch Jahre später noch eine besondere Be-

deutung für Aylin.55

1.6 Die Bedeutung der Eltern

Die Situationen in den Familien56 der Kinder waren geprägt durch anhaltende Konflikte,

teilweise verbunden mit Gewalt. Für alle stellte es eine Entlastung dar, dass sie durch die

Unterbringung im Heim diesen Situationen nicht mehr dauerhaft ausgesetzt waren. Dies

gilt unabhängig davon, ob sie in die Heimunterbringung eingewilligt hatten oder nicht.

54 Hier vermute ich allerdings auch, dass es sich bei dieser Wortwahl um einen in der Jugendhilfe alltäglichen Sprachgebrauch handelt, den die Kinder übernehmen (‚Wie soll ich diesen Vorfall dem Jugendamt erklären?’ oder ‚Morgen ist Hilfeplangespräch, da kommt das Jugendamt’ etc.). Dies könnte daran liegen, dass die Ein-richtungen Kontakt zu verschiedenen Jugendämtern und dort wiederum zu unterschiedlichen Mitarbeitern haben, und diese Formulierung einfacher ist, als den Namen zu nennen und dann zu erklären, dass Frau XY die Mitarbeiterin des Jugendamtes Z ist. 55 Die Bedeutung des Jugendamtes in der Adressatenperspektive wurde auch im Rahmen des Forschungs-projektes JULE untersucht. Ergebnisse hierzu stellt KÜHN (1998, S. 438ff.) dar. 56 Ich werde an diesem Punkt aus Gründen der Lesbarkeit nicht zwischen leiblichen und Pflegeeltern bzw. Herkunfts- und Pflegefamilien unterscheiden. Da Tim schon als Kleinkind in der Pflegefamilie aufgenommen wurde, gehe ich davon aus, dass seine Bindung an die Pflegeeltern vergleichbar ist, mit der Bindung anderer Kinder zu ihren leiblichen Eltern.

99

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Kapitel IV: Zusammenfassung der Ergebnisse

Trotz der Trennung von den Eltern und den negativen Erfahrungen in den Familien behal-

ten diese aber eine herausragende Bedeutung für die Kinder.57 Die Erfahrung, keinen

gemeinsamen Lebensort mit den Eltern zu teilen, war gleichzeitig mit einer emotionalen

Belastung für die Kinder verbunden, deren Bewältigung den Kindern unterschiedlich gut

gelang. Die Unterbringungsprozesse im Heim oder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

gingen oftmals mit Kränkungen durch die Eltern einher. Besonders einschneidend erleb-

ten die Kinder das Gefühl, von ihren Eltern (aus unterschiedlichen Gründen) nicht mehr

gewollt zu sein.

Für die Kinder ist der Wunsch nach einer Familie, in der sie Verlässlichkeit, Loyalität, Un-

terstützung bei Problemen und Harmonie erfahren, besonders bedeutend. Trotz allen

Schwierigkeiten waren sie bemüht, die Beziehungen zu den Eltern aufrecht zu erhalten

und zu verbessern. Wurde eine Stabilisierung des Verhältnisses zwischen den Eltern und

den Kindern erreicht und unterstützt, gelang es den Kindern besser, die räumliche Tren-

nung anzunehmen. Es belastete die Kinder stark, wenn es zu Kontaktabbrüchen kam

oder es Unsicherheiten bezüglich der Kontinuität und der Verlässlichkeit in den Beziehun-

gen zu den Eltern gab.

Bei Tim war zu beobachten, dass auch durch die Unterbringung in der Kinder- und Ju-

gendpsychiatrie bzw. im Heim die Beziehung zu den Eltern nicht verbessert werden konn-

te und die Auseinandersetzungen anhielten. Für ihn scheint ein vollständiger Kontaktab-

bruch die einzige Möglichkeit darzustellen, weitere Enttäuschungen und Konfliktsituatio-

nen zu vermeiden. Auf der anderen Seite vermute ich, dass die familiären Beziehungen

für Tim nicht endgültig geklärt sind. So geht er beispielsweise weiterhin davon aus, dass

die Eltern beim nächsten Hilfeplangespräch anwesend sein werden.

57 vgl. FREIGANG/WOLF (2001, S. 80)

100

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Kapitel IV: Schlussfolgerungen

2. Schlussfolgerungen

Die Übergänge in die Heimerziehung oder die Kinder- und Jugendpsychiatrie stellten für

die Kinder kritische Lebensereignisse dar, die ihr Leben grundlegend veränderten. Sie

waren verbunden mit der Notwendigkeit, ihre Identität und sozialen Beziehungen neu zu

definieren. Die Kinder machten die Erfahrung, dass die Familienstrukturen, in denen sie

lebten, brüchig sind, was sich in dem Gefühl äußerte, von ihren Eltern ungewollt zu sein

und keine ‚richtige’ Familie zu haben. Sie mussten sich an unbekannte Lebensorte, die

mit neuen Regeln und Strukturen verbunden waren und in denen (zunächst) fremde Per-

sonen lebten und arbeiteten, anpassen und sich dort zurecht finden. Wie sie diese Le-

bensereignisse bewältigten, hing maßgeblich davon ab, ob es den Kindern gelang, ihnen

einen Sinn zu verleihen und sie somit in ihr eigenes Leben zu integrieren. Überwog die

wahrgenommene Hilfe und Entlastung den mit den Übergängen verbundenen Belastun-

gen, gelang der Bewältigungsprozess besser.

Was kann man nun aus den Erzählungen der Kinder für die Gestaltung von Übergängen

in der sozialpädagogischen Praxis lernen?

Unterbringungsprozesse sollten für Kinder transparent werden und sie sollten einbezogen

werden.

Ihre Einsicht und Mitsprache sollte erstrebenswertes Ziel bei Entscheidungsprozessen

und Hilfemaßnahmen sein, um deren Erfolg nicht von vornherein zu be- bzw. zu verhin-

dern. Partizipation sollte nicht nur formal erfolgen, sondern die Beteiligung der Kinder und

durch sie vorgetragene Interessen sollten als Erfolgsfaktoren wichtiger Bestandteil der

Hilfeplanung sein. Hier ist es unerlässlich, ein angstfreies, von gegenseitiger Akzeptanz

geprägtes Klima zu schaffen, in dem die Kinder ihre Bedürfnisse äußern können und ih-

nen zu vermitteln, dass diese wahr- und ernst genommen werden. Besteht die Möglich-

keit, dass die Kinder autonome Entscheidungen treffen können, benötigen sie – je nach

ihrem Entwicklungsstand mehr oder weniger – Beratung und Unterstützung, um Überfor-

derungen zu vermeiden.58

Sicherlich ist es nicht immer möglich, den Wünschen der Kinder zu folgen und diese be-

dingungslos durchzusetzen. Wenn Maßnahmen nicht dem Willen der Kinder entsprechen,

sollte ihnen eine Erklärung für das Vorgehen geliefert werden, um ein Mindestmaß an

Verständnis für die Notwendigkeit zu erlangen. Hierzu schreibt GEHRES (1997): „Die

58 vgl. zu diesem Abschnitt auch FINKEL (2004, S. 322); WOLF (1999, S.371)

101

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Kapitel IV: Schlussfolgerungen

Gründe für die Unterbringung und der oft schwierige Prozeß der Entscheidungsfindung

müssen […] auch dem Kind als dem Hauptbetroffenen offen und ehrlich dargelegt wer-

den, damit die Nachvollziehbarkeit für das Kind möglich wird und das Gefühl entstehen

kann, daß die verantwortlichen Erwachsenen den Betroffenen und die Betroffene akzep-

tieren und sich um seine bzw. ihre Entwicklung ernsthaft bemühen“ (a.a.O., S 95f.).

Die mit den Übergängen verbundenen Ängste und Befürchtungen der Kinder müssen

wahrgenommen und dürfen nicht übergangen werden. Sie benötigen beispielsweise Er-

klärungen, was die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist und wie sich das Leben im Heim

gestaltet, um zusätzliche Belastungen, die durch die angstbesetzten Vorstellungen der

Kinder im Vorfeld der Unterbringung entstehen, zu verringern.

Es müssen die Probleme, die Kinder haben im Vordergrund stehen, nicht die Schwierig-

keiten, die sie machen (vgl. NOHL).

Die Kinder berichteten in den Interviews stellenweise sehr eindrücklich von ihren belas-

tenden Lebenserfahrungen. Deutlich wird aber auch, dass in Hilfeplangesprächen und

während Unterbringungsprozessen teilweise weniger die Probleme im Vordergrund stan-

den, die die Kinder hatten, sondern dass der Fokus auf ihrem Fehlverhalten lag. Diese

Sicht scheinen die Kinder (besonders Elfriede und Tim) für sich übernommen zu haben.

Sie sind der Meinung, dass sie ihr Verhalten ändern, ihre Hausaufgaben erledigen, sich

bessere Freunde suchen müssen, nicht mehr fortlaufen dürfen etc. Es muss ihnen vermit-

telt werden, dass Schwierigkeiten und Brüche in Beziehungen nicht allein in ihrer Verant-

wortung liegen, damit sie diese nicht auf ihre eigene Unzulänglichkeit zurückführen. Dies

kann beispielsweise dadurch gelingen, dass die Eltern in Therapien und Jugendhilfemaß-

nahmen einbezogen werden und die Kinder das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie es

nicht allein sind, die sich helfen lassen müssen und somit die gesamte Verantwortung für

die Veränderung der Lebensverhältnisse tragen.59

In pädagogischen Settings müssen auch problematische Verhaltensweisen der Kinder

‚ausgehalten’ werden und im Kontext bisheriger Lebenserfahrungen dechiffriert werden.

Ein Ziel pädagogischer Arbeit sollte darin gesehen werden, gemeinsam mit den Kindern

konstruktivere Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.

59 vgl. hierzu auch HAMBERGER (1998c, S.570). Andere Untersuchungen zeigen darüber hinaus, dass es hier nicht darum gehen darf, die Eltern abzuwerten, sondern dass Versöhnungen der Kinder mit ihren Eltern angestrebt werden sollten, ohne Kränkungen und Enttäuschungen zu tabuisieren (vgl. WOLF 1999, S.371). Will man die Eltern erfolgreich an der Hilfe beteiligen, müssen die Fachkräfte diese als individuelle Personen mit ihren positiven und negativen Seiten akzeptieren (vgl. BAUR 2000, S. 82).

102

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Kapitel IV: Schlussfolgerungen

Die Bedeutung der Eltern für die Kinder als besonders wichtige Personen in ihrem Leben

darf nicht negiert werden.

Erlebte Verletzungen und Enttäuschungen bedürfen der Bearbeitung und hier benötigen

Kinder Unterstützung. Wann immer es möglich und von den Kindern gewünscht ist, sollte

auf den Erhalt und die Verbesserung der Beziehungen zwischen Kindern und Eltern hin-

gearbeitet werden, damit der Verlust des gemeinsamen Lebensortes für die Kinder nicht

gleichbedeutend ist mit dem Verlust der Eltern.

Bestehen unklare Verhältnisse, sollten diese geklärt und Unsicherheiten beseitigt werden,

damit es den Kindern gelingt, sich mit den gegebenen Verhältnissen zu arrangieren.

Kommt es zu Kontaktabbrüchen, muss wahrgenommen werden, dass diese nicht nur rein

‚äußerlich’ stattfinden. Nur weil die Eltern im Alltag nicht mehr präsent sind, ist dies nicht

gleichbedeutend damit, dass auch ein emotionaler Ablösungsprozess der Kinder von ih-

ren Eltern stattgefunden hat. Hier benötigen die Kinder Unterstützung bei der Bewälti-

gung.

Die Kinder benötigen verlässliche Bezugspersonen.

Vor allem in der Heimerziehung und besonders dann, wenn diese auf Dauer angelegt ist,

benötigen die Kinder verlässliche Bezugspersonen, denen sie vertrauen können und bei

denen sie ein ehrliches Interesse an ihrer Person spüren. Bietet man ihnen hier stabile

und belastbare Beziehungen, gelingt es den Kindern eher, sich mit ihren gemachten Er-

fahrungen auszusöhnen und sich für neue (zwischenmenschliche) Erfahrungen zu öffnen.

Sie können dann beispielsweise lernen, dass sie als Person angenommen werden und

Konflikte ohne Gewalt oder tief greifende emotionale Verletzungen gelöst werden können.

Kinder benötigen ein Klima, das ihnen neue Lernchancen eröffnet und dadurch zur Bewäl-

tigung gemachter Erfahrungen und bestehender Probleme beiträgt.

Besonders deutlich wurde, dass für die Kinder nicht nur der Entscheidungsprozess an

sich für die Bewertung der Übergänge im Vordergrund stand. Auch wenn Übergänge mit

Belastungen und negativen Erfahrungen verbunden sind, gelingt den Kindern eine Bewäl-

tigung und Akzeptanz dann, wenn sie an ihren neuen Lebensorten positive Erfahrungen

machen und neue Perspektiven entwickeln können.

Geht man davon aus, dass die Möglichkeit zur Entwicklung neuer Perspektiven unmittel-

bar mit der Bewältigung negativer Lebenserfahrungen verbunden ist, setzt dies voraus,

„daß das Helfersystem jeden Lebensfeldwechsel als kritisches Lebensereignis wahrnimmt

und seine Beratung bei der Überwindung kritischer Lebensereignisse anbietet“ (LAMBERS

1996, S.187).60

60 vgl. hierzu auch HAMBERGER (1998c, S.570f.)

103

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Kapitel IV: Schlussfolgerungen

Regeln sollten an den individuellen Entwicklungsstand der Kinder angepasst sein und auf

Aushandlungsprozessen beruhen.

Starre Regelsysteme können zu Eskalationen oder zur Untergrabung von Regeln führen,

wenn bei den Kindern keine Einsicht in die vorliegenden Regeln besteht oder wenn ver-

sucht wird, diese auch gegen das Widerstreben der Kinder durchzusetzen.

Strenge und starre Regeln können demgegenüber dann positiv empfunden werden, wenn

sie Handlungssicherheit bieten und die Kinder lernen, dass sie durch das Einhalten von

Regeln Vertrauen gewinnen. Hier bleibt allerdings die Frage, inwieweit starre Regelsys-

teme nicht auch wichtige Lernerfahrungen verhindern. Die Kinder lernen nicht, sich selbst

Regeln zu setzen und so schrittweise eigene Verantwortung für ihr Leben zu überneh-

men. Will man den Kindern Lernchancen ermöglichen, sollte die Bereitschaft bestehen,

Regeln individuell auszuhandeln (warum muss z.B. ein Kind am Nachmittag zwei Stunden

Hausaufgabenzeit einhalten, wenn es vielleicht nach einer Stunde seine Hausaufgaben

erledigt hat?). Es kann nur gelingen, die Kinder auf ein eigenständiges Leben vorzuberei-

ten, wenn sie nicht auf die Kontrolle anderer angewiesen bleiben, sondern in die Lage

versetzt werden, eigene Verantwortung für sich und ihr Leben zu übernehmen. Ihnen soll-

te die Möglichkeit gegeben werden, Regeln zu hinterfragen. Dies kann für die Mitarbeiter

der Einrichtungen zu anstrengenden Situationen führen und den organisatorischen Ablauf

gefährden. Aber nur so können Kinder den Sinn von Regeln verstehen – und innerhalb

der Einrichtung vielleicht auch auf den Unsinn so mancher Regel aufmerksam machen.

Hier ist davon auszugehen, dass das Erlernen von Selbstständigkeit, deren Teil die Fä-

higkeit ist, sich eigene Regeln zu setzen, als Prozess zu sehen ist. Die Rücknahme der

Fremdkontrolle muss dosiert erfolgen. „Die richtige Dosierung muss sich dabei selbstver-

ständlich auch an den Lebenserfahrungen der Jugendlichen orientieren, d.h. an dem Maß

an Selbstkontrolle, das sie bereits gelernt haben. Je besser es gelingt, individuelle Unter-

schiede zu machen und nicht alle gleich zu behandeln, desto günstiger ist das Lernfeld“

(WOLF 2002b, S.49).

Bei der Inanspruchnahme der Kinder- und Jugendpsychiatrie muss die Hilfe den mögli-

chen Belastungen überwiegen.

Ich werde mich hüten, hier Vorschläge zu machen, wie eine bessere Arbeit in der Kinder-

und Jugendpsychiatrie, einem Gebiet, mit dessen Handlungsmethoden ich mich nicht

auskenne, gelingen kann. Wie aber können Pädagogen mit der Kinder- und Jugendpsy-

chiatrie umgehen?

Zum einen war festzustellen, dass die Kinder die Kinder- und Jugendpsychiatrie dann

ablehnten, wenn die dadurch ausgelösten Belastungen größer waren als die wahrge-

104

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Kapitel IV: Schlussfolgerungen

nommene Hilfe, die Kinder den Sinn des Aufenthaltes nicht verstanden und eventuelle

Hoffnungen, die sie in ihn gesetzt hatten, enttäuscht wurden. Dies gilt es zu berücksichti-

gen und unnötige Belastungen zu vermeiden.

Zum anderen wurde die Kinder- und Jugendpsychiatrie dann positiv bewertet, wenn Frei-

willigkeit und eine eigene Motivation zum Aufenthalt vorhanden war, die Kinder- und Ju-

gendpsychiatrie als Entlastung wahrgenommen wurde und bestehende Probleme bear-

beitet werden konnten. Hier bleibt – für mich – der bittere Beigeschmack, inwieweit Kinder

in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der vom Ausgang, über die Bewältigung von Kon-

flikten, die die Kinder untereinander haben, bis hin zum Fernsehprogramm alles regle-

mentiert zu sein scheint, auf ihr Leben nach dem Psychiatrieaufenthalt vorbereitet werden

können. Auch bei Elfriede wird sich erst herausstellen müssen, ob sie das in der Kinder-

und Jugendpsychiatrie Gelernte problemlos auf den weniger reglementierten Heimalltag

übertragen kann.

Während der Auswertung der Interviews stellte sich mir die Frage, ob Kinder nicht auch

außerhalb der Psychiatrie lernen können, mit ihrer Vergangenheit ‚klar zu kommen’ (vgl.

Interview Elfriede) und ‚andere Menschen, wie zum Beispiel die eigenen Eltern besser zu

verstehen’ (vgl. Interview Tim). Ich denke, dass genau abzuwägen ist, ob bestimmte Prob-

leme tatsächlich nur in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bewältigt werden können oder

ob gleichermaßen pädagogische Lernfelder arrangiert werden können, in denen dies ge-

lingen kann. Um solche Lernfelder gestalten zu können, muss man versuchen, die Le-

bensprobleme der Kinder zu verstehen und wahrzunehmen. Es müssen Strategien entwi-

ckelt werden, durch die sie bei ihren individuellen Entwicklungsaufgaben unterstützt wer-

den können. Dies hat den Vorteil, dass Kindern, deren Biographien durch Brüche gekenn-

zeichnet sind, Kontinuität und Stabilität geboten werden kann, indem sie Erfahrungen in-

nerhalb ihres Lebensumfeldes machen können.

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Persönliche Schlussbemerkungen

Persönliche Schlussbemerkungen

Kritiker mögen dieser Arbeit vielleicht vorwerfen, die Heimerziehung sei aber ganz schön

gut weggekommen. Wenn man das so höre, könnte man meinen, dass man am Besten

kein Kind mehr in seiner Familie lassen, sondern gleich alle Kinder im Heim erziehen soll-

te.

Ich glaube nicht, dass das beste Heim eine intakte, gut funktionierende, das, was Aylin

vielleicht mit einer ‚normalen’ Familie meinte, ersetzen kann. Ich glaube aber auch nicht,

dass die ‚schlechteste’ Familie immer noch besser ist, als das ‚beste’ Heim. Heimerzie-

hung kann Kindern einen Lebensort bieten, der vielleicht ein Stück Heimat werden kann,

an dem es gelingen kann, dass Kinder negative Erfahrungen bewältigen und positive Er-

fahrungen machen. Hier spreche ich nicht von ‚der’ Heimerziehung. Die Qualität von

Heimerziehung hängt auch immer davon ab, inwiefern die dort arbeitenden Fachleute sich

auf die Lebensprobleme der Kinder einstellen können, hinter den Problemen, die Kinder

machen, auch sehen – und hier möchte ich mich noch einmal auf das im Vorwort zitierte

Gedicht beziehen –, wo das Leben an den Kindern ‚gerüttelt’ hat. Will man den Kindern

neue Lernerfahrungen ermöglichen, ist es unverzichtbar, ihnen zuzuhören. Während der

Interviews war ich teilweise berührt, in welcher beeindruckenden Klarheit die Kinder in der

Lage sind, auf ihre Probleme hinzuweisen und ihre Interessen und Wünsche zu äußern.

Gelingt es, Kinder ernst zu nehmen, kann dies zu einer Weiterentwicklung der pädagogi-

schen Arbeit im Heimalltag beitragen. Ich denke, dass es wichtig ist, pädagogische Arbeit

am Einzelfall auszurichten und Wege zu finden, die dem individuellen Fall gerecht wer-

den. Dazu gehört auch, sich des eigenen Handelns, den eigenen Einstellungen zu den

Kindern, den eigenen Werten und nicht zuletzt auch den institutionellen Rahmenbedin-

gungen bewusst zu sein. Wenn es der Einzelfall erfordert, gilt es, neue Handlungsstrate-

gien zu entwickeln um den Kindern mit ihren Problemen gerecht zu werden. Das ist si-

cherlich nicht immer der einfachste Weg und erfordert Energie, Kraftanstrengung und

Kreativität. Kann man den Kindern dadurch aber unnötige Beziehungsabbrüche und Be-

lastungen ersparen, ist es dennoch lohnenswert.

Nicht nur während des Schreibens meiner Diplomarbeit, sondern auch während meines

Studiums beschäftigte mich immer wieder die Frage nach der Professionalität und Aner-

kennung von sozialpädagogischer Arbeit. Will man die gesellschaftliche Anerkennung

dieses Berufsfeldes erreichen, gehört es dazu, ein professionelles Selbstverständnis zu

den Handlungsmöglichkeiten und der Leistungsfähigkeit zu entwickeln. Dies beinhaltet

auch, Kinder nicht an andere Institutionen zu delegieren, weil sie zu scheinbar unlösbaren

Problemen oder unbequem geworden sind. Hier meine ich nicht, dass man mit falschem

Stolz glauben sollte, Sozialpädagogik könnte alle Probleme lösen. Zum einen ist es si-

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Persönliche Schlussbemerkungen

cherlich nicht immer das Ziel, sämtliche Probleme zu lösen, es kann auch das Ziel sein,

Probleme erträglich zu machen und den Klienten einen Umgang mit ihren Lebensproble-

men zu erleichtern. Zum anderen sind sicherlich auch andere Professionen (wie z.B. die

Kinder- und Jugendpsychiatrie) bei gewissen Problemen eher – oder auch – gefragt. Geht

es aber um die Inanspruchnahme der Kinder- und Jugendpsychiatrie, muss man sich dar-

über bewusst sein, welche nicht intendierten Nebenwirkungen, wie Beziehungsabbrüche

und Stigmatisierungen, mit einem Psychiatrieaufenthalt verbunden sein können. Hier gilt

es, zu hinterfragen, ob die Chancen, die die Kinder- und Jugendpsychiatrie bieten kann,

größer als die damit verbundenen Nachteile und Belastungen sind. Ich halte es nicht für

legitim, Kinder aus purer Hilflosigkeit an die Kinder- und Jugendpsychiatrie zu delegieren,

die dann unter Umständen ebenfalls ihre Nicht-Zuständigkeit erklärt. So können Hilfekar-

rieren entstehen, durch die sich Probleme manifestieren, statt gelöst zu werden. Die Leid-

tragenden sind in solchen Fällen die betroffenen Kinder.

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Verzeichnis verwendeter Onlinedokumente

Verzeichnis verwendeter Onlinedokumente

SAMMLUNG DEMIREL. Outsider Art. Verfügbar unter: http://www.outsider-bildwelten.de (Stand: 08.01.2006).

WOLF, K. (2003). Lehrforschung: Qualitative Forschung in der Sozialpädagogik. Untersu-chungsdesign I. S.3. Verfügbar unter: http://www.uni-siegen.de/%7Ewolf/studierende/Lehrforschung%20Z.pdf (Stand: 22.09.2005).

WOLF, K. (2005). Sozialpädagogische Interventionen aus KlientInnensicht (Forschungs-praxisseminar). Verfügbar unter: http://www.uni-siegen.de/~wolf/studierende/FPS%20Design.pdf (Stand: 22.09.2005

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Abkürzungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

a.a.O. am angegebenen Ort

BMFSFJ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

BSHG Bundessozialhilfegesetz

d. Verf. die Verfasserin

et al. et alii (= und andere)

JULE Forschungsprojekt Jugendhilfeleistungen

KJHG Kinder- und Jugendhilfegesetz

SGB Sozialgesetzbuch

SPFH Sozialpädagogische Familienhilfe

zit. n. zitiert nach

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Anhang

Anhang

I

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Erklärung zur Diplomarbeit

II