Kinderschicksale

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Kinderschicksale Berichte aus dem Patientenumfeld Meine Tante sagte: „Warte hier, ich bin gleich zurück…" Der 13-jährige Jon* kommt im August 2011 in unsere Flüchtlingsambulanz. Seine Betreuer aus der Wohngruppe haben sich Sorgen um ihn gemacht, da er immer traurig wirkt und nachts nicht schlafen kann. In der Schule legt vor lauter Müdigkeit meist nur noch seinen Kopf auf den Schreibtisch. Jon kommt aus Guinea. Seine Mutter ist bei der Geburt seiner jüngeren Schwester gestorben - da war er sieben Jahre alt. Nach dem Tod der Mutter lebte er allein mit seinem Vater zusammen. Er erzählt, sie haben sich gut verstanden und wären ein richtiger „Männerhaushalt" gewesen. Vor drei Jahren hat sich plötzlich alles verändert. Sein Vater wurde verhaftet, da die Regierung glaubte, er lehne sich gegen sie auf. Als „die Männer" kamen, war Jon allein mit seinem Vater zu Hause. Sie schlugen seinen Vater zusammen und nahmen ihn anschließend mit. Jon blieb allein zurück. Voller Verzweiflung suchte er Hilfe bei seinen Nachbarn, die ihn kurzzeitig aufnahmen und eine Tante in Europa kontaktierten. Sie flog nach Guinea, besorgte einen gefälschten Pass und flog mit ihm nach Deutschland. Am Flughafen hat sie ihn plötzlich allein gelassen. Sie sei mit den Worten gegangen: „Warte hier, ich bin gleich zurück". Aber sie kam nicht zurück. Als es Nacht wurde sprach das Flughafenpersonal den Jungen an und brachte ihn zur Polizei. Heute lebt Jon in einer Wohngruppe für Jugendliche. Wenn die anderen lachen, fühlt er nichts. Er grübelt ständig und fragt sich, ob sein Vater noch lebt, ob er ihm hätte helfen können. Jon fühlt sich von den Menschen verraten, allein gelassen und ausgesetzt. Er weiß nicht mehr, warum er weiterleben soll. Nichts erscheint ihm wichtig. Manchmal denkt er darüber nach, sich mit einem Strick aufzuhängen. Da er noch nicht gut Deutsch spricht, gibt es wenige, mit denen er reden kann. Seit ein paar Tagen erzählt er in unserer Flüchtlingsambulanz nun plötzlich etwas mehr - auch wenn es ihm immer noch sehr schwer fällt, seine Gedanken und Gefühle zu beschreiben. Mit Hilfe eines Dolmetschers kann er sich in den Therapien ausdrücken und hat das Gefühl, gehört und beachtet zu werden. Jon sagte uns, dass er mittlerweile wieder leben möchte. Vor allem, weil er hofft, irgendwann seinen Vater wiederzusehen. * Name geändert.

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Berichte aus dem jungem Patientenumfeld von Children for Tomorrow

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Kinderschicksale Ber ic h te aus dem Pa t ien tenum f e l d

Meine Tante sagte: „Warte hier, ich bin gleich zurück…"

Der 13-jährige Jon* kommt im August 2011 in unsere Flüchtlingsambulanz. Seine Betreuer aus der Wohngruppe haben sich

Sorgen um ihn gemacht, da er immer traurig wirkt und nachts nicht schlafen kann. In der Schule legt vor lauter Müdigkeit meist

nur noch seinen Kopf auf den Schreibtisch.

Jon kommt aus Guinea. Seine Mutter ist bei der Geburt seiner jüngeren Schwester gestorben - da war er sieben Jahre alt. Nach

dem Tod der Mutter lebte er allein mit seinem Vater zusammen. Er erzählt, sie haben sich gut verstanden und wären ein richtiger

„Männerhaushalt" gewesen.

Vor drei Jahren hat sich plötzlich alles verändert. Sein Vater wurde verhaftet, da die Regierung glaubte, er lehne sich gegen sie

auf. Als „die Männer" kamen, war Jon allein mit seinem Vater zu Hause. Sie schlugen seinen Vater zusammen und nahmen ihn

anschließend mit. Jon blieb allein zurück. Voller Verzweiflung suchte er Hilfe bei seinen Nachbarn, die ihn kurzzeitig aufnahmen

und eine Tante in Europa kontaktierten. Sie flog nach Guinea, besorgte einen gefälschten Pass und flog mit ihm nach

Deutschland. Am Flughafen hat sie ihn plötzlich allein gelassen. Sie sei mit den Worten gegangen: „Warte hier, ich bin gleich

zurück". Aber sie kam nicht zurück. Als es Nacht wurde sprach das Flughafenpersonal den Jungen an und brachte ihn zur Polizei.

Heute lebt Jon in einer Wohngruppe für Jugendliche. Wenn die anderen lachen, fühlt er nichts. Er grübelt ständig und fragt sich,

ob sein Vater noch lebt, ob er ihm hätte helfen können. Jon fühlt sich von den Menschen verraten, allein gelassen und

ausgesetzt. Er weiß nicht mehr, warum er weiterleben soll. Nichts erscheint ihm wichtig. Manchmal denkt er darüber nach, sich

mit einem Strick aufzuhängen. Da er noch nicht gut Deutsch spricht, gibt es wenige, mit denen er reden kann.

Seit ein paar Tagen erzählt er in unserer Flüchtlingsambulanz nun plötzlich etwas mehr - auch wenn es ihm immer noch sehr

schwer fällt, seine Gedanken und Gefühle zu beschreiben. Mit Hilfe eines Dolmetschers kann er sich in den Therapien

ausdrücken und hat das Gefühl, gehört und beachtet zu werden. Jon sagte uns, dass er mittlerweile wieder leben möchte. Vor

allem, weil er hofft, irgendwann seinen Vater wiederzusehen.

* Name geändert.

Kinderschicksale Ber ic h te aus dem Pa t ien tenum f e l d

Als Amim* in Deutschland ankommt, hofft er, dass endlich alles besser wird

Amim wird in Afghanistan geboren. Im Krieg hat er mit angesehen, wie sein Vater erschossen wird. Die Mutter hat seitdem große

Angst um Amim und hat veranlasst, dass er mit Hilfe von Schleppern aus Afghanistan fliehen kann. Amim soll eine bessere

Zukunft haben. Die Flucht dauert mehrere Monate und ist zum Teil sehr gefährlich. In der Türkei muss er sich mit anderen

Flüchtlingen in einem Haus verstecken und bekommt nur Wassermelonen zu essen. In einer Nacht flieht er mit Hilfe der

Schlepper in einem Schlauchboot nach Griechenland. Hier lebt Amim mit einigen anderen Jungs in einer betreuten

Jugendwohnung. Oft denkt Amim an seine Familie und an sein Heimatland. Wenn andere Jungs ihn fragen, was mit seiner

Familie ist, wird Amim sehr ärgerlich und wütend.

Heute lebt er in Deutschland. Die Frage des Betreuers, wie Amim nach Deutschland kam, kann er nicht beantworten. Er hat es

vergessen. Er hat große Angst, zur Schule zu gehen, denn er versteht die Lehrerin und die Mitschüler nicht. Manchmal fällt es

ihm schwer, sich zu konzentrieren, weil er so viele Sachen im Kopf hat. Und irgendwie verhält Amim sich auch sonst ganz

eigenartig. In der Klasse wundern sich die Mitschüler, als ein Kind die Klassentür zuknallt und Amim panisch davonrennt. Am

nächsten Tag fehlt Amim in der Klasse.

Manchmal kommt Amim ganz traurig in die Schule, oft wirkt er gereizt und ärgerlich, wenn ihn jemand anspricht. Nachts kann

Amim nicht einschlafen, weil er an den Krieg und an seinen toten Vater denken muss. Manchmal hat er Alpträume und ist am

nächsten Tag in der Schule sehr müde.

Amims größter Wunsch ist es, einmal ein berühmter Fußballer zu werden. Denn Fußballspielen liebt er.

* Name geändert.

Kinderschicksale Ber ic h te aus dem Pa t ien tenum f e l d

„Oft denke ich, ich werde verrückt und ich kann einfach nichts dagegen tun.“

„Mein Name ist Tano*, ich bin 16 Jahre alt und lebe seit 8 Monaten in Deutschland. Ich komme aus Afrika, einer kleinen Stadt

direkt am Meer. Dort konnte ich Schwimmen gehen und ab und zu bin ich heimlich, in der Nacht, mit meinen Freunden am Meer

gewesen, obwohl wir das eigentlich nicht durften. Das war jedes Mal ein großer Spaß. Meine Eltern habe ich sehr lieb gehabt:

Mein Vater hat immer viele Späße mit mir gemacht und wir haben Fußball gespielt. Meine Mutter konnte wunderbar kochen.

Heute versuche ich auch manchmal, so zu kochen, aber dann werde ich traurig und das Essen schmeckt nach gar nichts mehr.

Dann wurde alles anders. Ich war mit meinen Eltern auf einer Demonstration. Worum es da genau ging, weiß ich eigentlich gar

nicht so. Ich glaube, die Menschen haben protestiert, weil die Regierung verbietet, die eigene Meinung sagen zu dürfen. So

haben mir meine Eltern das damals erklärt. Sie waren oft sehr unzufrieden. Auf einmal habe ich Schüsse gehört, dann war da nur

noch Blut, Schreien. Alle Menschen sind gerannt und ich habe meine Mutter nicht mehr gesehen. Ich bin auch gerannt, mein

Vater war neben mir. Und dann war er auf einmal weg. An mehr erinnere ich mich nicht.

Dann war ich auf einmal in einem Militärfahrzeug. Neben mir waren viele andere Männer und Frauen. Auch ein Junge in meinem

Alter. Ich hatte Fesseln an Händen und Füßen und habe nicht verstanden, was passiert. Die kommenden zwei Wochen im

Gefängnis waren die schlimmsten in meinem ganzen Leben. Ich kann darüber nicht sprechen und bete jeden Tag, dass ich diese

Erlebnisse irgendwann vergesse.

In den Nachrichten habe ich später gehört, dass viele Menschen auf der Demonstration erschossen wurden. Auch meine Eltern.

Heute lebe ich in Deutschland, aber Angst habe ich immer noch. Ich versuche, jede Nacht so lange ich kann wach zu bleiben,

denn wenn ich einschlafe, kommen die Träume… und dann fängt alles von vorne an. Immer wieder und immer wieder.

Oft denke ich, ich werde verrückt und ich kann einfach nichts dagegen tun.“

*Name geändert