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Kinematik und Dynamik 1m ersten Teil der vorliegenden Untersuchung haben wir die Grundlagen flir die Analyse der Geometrisierung der physikalischen Methodik, d.h. der For- malisierung von Kinematik und Dynamik, gelegt: Zum einen hinsichtlich der Homogenisierung des physikalischen Raumes mit der Oberwindung der Unterscheidungen von linearen und zirkularen Bewegungen und von sub- und supralunarer Welt, sowie zum anderen hinsichtlich der Homogenisierung des Zeitverstandnisses und der dadurch moglichen Entwicklung der natur- wissenschaftlichen Zeit. Damit konnen wir im zweiten Teil nun die Entwick- lung des Verstandnisses von Bewegung und Kraft, insbesondere die eigen- standige Reprasentation der physikalischen Zeit im Rahmen der Kinematik und die Aufhebung der kosmologischen Zweiteilung durch einen einheitli- chen, linearen, der Kinematik adaquaten Kraftbegriff, in ihrem jeweiligen historischen Verlauf beleuchten. Wahrend wir also im ersten Teil die techno- logischen Bedingungen und ihre Einfllisse auf das Raum- und Zeitversmnd- nis untersucht haben, konzentrieren wir unsere Oberlegungen nun auf das reflexive Bemlihen, diese Entwicklungen und die dabei entstandenen Span- nungen im Weltbild durch die Formalisierung der physikalischen Zusam- menhlinge mit Hilfe neuer Reprasentationssysteme einzuholen und das Welt- bild damit auf eine neue Basis zu stellen. Flir die formale Ausdifferenzierung von Kinematik und Dynamik, d.h. der Bewegungslehre aus- und einschlieB- lich der Bewegungsverursachung, und ihre operationalisierbare Reintegration spielt die Ebene der formalen Darstellungsmittel eine entscheidende Rolle, denn urn die Kinematik und im Anschluss auch die Dynamik zu geometrisie- ren, und d.h. der modemen wissenschaftlichen Betrachtung den Weg zu offnen, mussten spezifische Formen gefunden werden, urn vor allem Zeit und Kraft als GroBen geometrisch adaquat darstellen und operational verknlipfen zu konnen. Urn der Entwicklung von Kinematik und Dynamik naher zu kommen, ist es, wie im ersten Teil, von Interesse einen Blick auf die Zusammenhange zwischen kognitiven und historischen Entwicklungsverlaufen zu werfen, und dabei die Perspektive auf die Entwicklung der mechanistischen Kausalitat fokussieren. Wir werden uns hierbei zuerst in allgemeiner Weise dem Begriff der Kausalitat nahem, urn dann durch sein spezifisches Verhaltnis zum Raum 93

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Kinematik und Dynamik

1m ersten Teil der vorliegenden Untersuchung haben wir die Grundlagen flir die Analyse der Geometrisierung der physikalischen Methodik, d.h. der For­malisierung von Kinematik und Dynamik, gelegt: Zum einen hinsichtlich der Homogenisierung des physikalischen Raumes mit der Oberwindung der Unterscheidungen von linearen und zirkularen Bewegungen und von sub­und supralunarer Welt, sowie zum anderen hinsichtlich der Homogenisierung des Zeitverstandnisses und der dadurch moglichen Entwicklung der natur­wissenschaftlichen Zeit. Damit konnen wir im zweiten Teil nun die Entwick­lung des Verstandnisses von Bewegung und Kraft, insbesondere die eigen­standige Reprasentation der physikalischen Zeit im Rahmen der Kinematik und die Aufhebung der kosmologischen Zweiteilung durch einen einheitli­chen, linearen, der Kinematik adaquaten Kraftbegriff, in ihrem jeweiligen historischen Verlauf beleuchten. Wahrend wir also im ersten Teil die techno­logischen Bedingungen und ihre Einfllisse auf das Raum- und Zeitversmnd­nis untersucht haben, konzentrieren wir unsere Oberlegungen nun auf das reflexive Bemlihen, diese Entwicklungen und die dabei entstandenen Span­nungen im Weltbild durch die Formalisierung der physikalischen Zusam­menhlinge mit Hilfe neuer Reprasentationssysteme einzuholen und das Welt­bild damit auf eine neue Basis zu stellen. Flir die formale Ausdifferenzierung von Kinematik und Dynamik, d.h. der Bewegungslehre aus- und einschlieB­lich der Bewegungsverursachung, und ihre operationalisierbare Reintegration spielt die Ebene der formalen Darstellungsmittel eine entscheidende Rolle, denn urn die Kinematik und im Anschluss auch die Dynamik zu geometrisie­ren, und d.h. der modemen wissenschaftlichen Betrachtung den Weg zu offnen, mussten spezifische Formen gefunden werden, urn vor allem Zeit und Kraft als GroBen geometrisch adaquat darstellen und operational verknlipfen zu konnen.

Urn der Entwicklung von Kinematik und Dynamik naher zu kommen, ist es, wie im ersten Teil, von Interesse einen Blick auf die Zusammenhange zwischen kognitiven und historischen Entwicklungsverlaufen zu werfen, und dabei die Perspektive auf die Entwicklung der mechanistischen Kausalitat fokussieren. Wir werden uns hierbei zuerst in allgemeiner Weise dem Begriff der Kausalitat nahem, urn dann durch sein spezifisches Verhaltnis zum Raum

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den kognitiven Hintergrund fUr die historische Fonnalisierung von Kinema­tik und Dynamik im 17. Jahrhundert entfalten zu konnen. 191

Die mechanistische Kausalitiit in historisch-genetischer Perspektive

Die fundamentalen materialen Kategorien: Raum, Zeit, Objekt, Kausalitat, bilden in der frtihkindlichen Phase einen nicht eindeutig zu differenzierenden Komplex. Die sich im Laufe der Entwicklung zeigende Differenzierungsten­denz der (auBeren) Kausalitat aus diesem Komplex besteht darin, dass aus ihr die Zuschreibung eines Ursache-Wirkung-Zusammenhangs (mit der spezifi­schen Sukzession erst Ursache dann Wirkung) auf das Verhalten bestimmter Objekte wird, die in einem bestimmten raumlichen Verhaltnis zueinander stehen. 192 Kausalitat stellt somit ein tiber die Wahmehmung hinausgehendes, aber dennoch als objektiv begriffenes Verhaltnis zwischen Objekten her.

Die Entwicklung der Realkategorien beginnt in der ersten, der sensomo­torischen Phase auf der Basis isolierter einzelner Handlungen, wobei die in diese Handlungen eingehenden Objekte von diesen Handlungen gerade noch nicht unterschieden sind. Wunsch, Korper und Phanomenwelt bilden noch eine Einheit.

"Das Hervorbringen interessanter Resultate muS also einfach als Verlangerung der Gefiih­Ie, des Wunsches, der Anstrengung, des Wartens usw. empfunden werden. Anders gesagt, die erreichte Nahrung muS als Verlangerung der Handlung Saugen, die visuellen Bilder als Verlangerung derjenigen des Sehens usw. wahrgenommen werden. Die primitive Kausali­tat k6nnte also als eine Art Effizienzgefiihl oder ein Gefiihl des Wirkens, das an die Hand­lung als solches gebunden wird, verstanden werden.,,193

Die einzelnen ,Verlangerungen' sind dabei aber gerade noch nieht so zu verstehen, dass ihnen bereits eine Subjekt-Objekt-Differenzierung zugrunde lage. Diese Differenzierung ist vielmehr Produkt der weiteren Entwicklung. Die entseheidenden Momente dieser ,frtihesten Struktur der Realkategorien' benennt Piaget mit den komplementaren und die kommende Differenzierung von Subjekt und Objekt anzeigenden Begriffen Dynamismus und Phanome­nismus. Vor dem Hintergrund, dass das Geftihl des Wirkens und die Wahr­nehmung der Dinge (noeh) nieht differenziert sind, bezeiehnet das dyna-

191 Westfall sieht flir die wissenschaftliche Entwicklung im 17. lahrhundert zwei Trends als wesentlich an: die geometrische Reprasentation und die spezifische Form der Kausalerkla­rung; vgl. Westfall 1977, S. 1.

192 Dass das eigentliche Verhiiltnis von Ursache und Wirkung unbeobachtbar ist, sehen empi­ristische Kausalerklarungen ebenso, aber sie verkennen erstens, dass schon das Wahrneh­men, auf das die Assoziationen dann angewandt werden sollen, selbst spezifische aktive Koordinationen des Subjektes erfordert, und zweitens teilen sie mit aprioristischen Theo­rien die Unfahigkeit die Strukturentwicklung der Kausalitat, insbesondere die zunehmende Differenzierung subjektiver und objektiver Aspekte, zu erfassen; vgl. Kalble 1997, S. 74ff.

193 Piaget 1975, S. 220.

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mistische Moment die subjektive wirkende Seite und das phanomenistische Moment die objektive Seite. Die Entwicklung der Kausalitat flihrt dann zur Trennung von Wirkgeflihl als Ursache und Phanomen als Wirkung, d.h. letztlich also der Trennung von Subjekt und Objekt(welt). Durch die ver­mehrte Verwendung von Hilfsmitteln schlieBt sich die Entwicklung der au­Beren Kausalitat direkt an die der inneren an, insofem das kausale Verhliltnis zwischen Hilfsmittel und Zielobjekt in den Handlungsentwurf eingehen muss. Mit der zunehmenden Unabhangigkeit der Objektwelt, d.h. je weniger diese eine dynamistische Setzung darstellt, differenzieren sich innere und auBere Kausalitat.

Was die Ausdifferenzierung der auBeren Kausalitat betrifft, so ist ein von Piaget vemachlassigter Umstand von entscheidender Bedeutung: der kognitive Konstitutionsprozess steht von Beginn an unter sozialen Bedin­gungen; d.h. zum einen, dass das flir den Aufbau der kindlichen Kompeten­zen dominante Objekt die sorgende Bezugsperson ist, und zum zweiten, dass von diesen Personen entwicklungsanftemessene Kontakte mit weiteren Ob­jekten absichtsvoll moderiert werden. 94 Noch bevor die eigentliche Objekti­vierung der auBeren Kausalitlit einsetzt, wird so ein interaktives Verhliltnis von Subjekt und Objekt eingetibt. Insofem sich dem Subjekt damit die Ob­jekte als Wirkzentren darstellen, die in einem intentionalen Verhaltnis zum Subjekt stehen, wird letztlich auch deren Verhalten untereinander dieses Schema unterlegt. "Ursache und Wirkung werden so homolog gebildet, nam­lich beiderseits als lebendige, wirkmachtige, intentionale Kraft.,,195 Kausale Erklarungsmuster wie Artifizialismus und Animismus sind also nicht als bloBe Applikation des subjektiven Kausalschemas auf nicht yom Subjekt selbst induzierte Vorgange zu verstehen, sondem der subjekthafte und der interaktive Charakter der auBeren Kausalitat beruht auf der konstruktiven Auseinandersetzung mit der (sozial gepragten) Umwelt. Es handelt sich also nicht urn eine bloBe Spiegelung oder Obertragung von subjektiven Schemata in die AuBenwelt, sondem urn eine eigenstandige Konstruktion des auBeren Zusammenhange. Diese Konstruktion zeigt sich daher auch entsprechend konservativ.

Die Charakteristika der auBeren Kausalitat lassen sich daher mit den Begriffen des bipolaren Finalismus und des substantialistischen Dynamismus naher bestimmen:

"Die Bipolaritiit des kindlichen Finalismus driickt die Eigenschaft jedweden kausalen Geschehens aus, auf zwei kooperierende Wirkzentren zu konvergieren, die einer gemein­samen Intention folgen. Ursache und Wirkung sind also beide gleichermaBen aktiv an der Verwirklichung des gemeinsamen Ziels beteiligt. ... Der substantialistische Dynamismus bezeichnet die materiale Konzeption der Wirkzentren: Iedwedes Geschehen geht auf die aktive Uberwindung eines Widerstandes durch die (lebendige) Eigenkraft der beteiligten

194 Vgl. Dux 1982, S. 92ff. 195 Wenzel 1994, S. 346.

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Dinge zuruck. Diese Eigenkraft ist ihnen unmittelbar und unloslich zu eigen, wirkt entwe­der stets oder erst nach der ,Erregung' durch ein anderes Phlinomen; niemals aber wird Kraft tibertragen." 196

Die Konservativitat (und die Praktikabilitat) dieser Struktur zeigt sich daran, dass in der an die sensomotorische Phase anschlieBenden, vorstellungsmaBi­gen und begrifflichen Entwicklung der Kausalitat eine grundlegende Neu­strukturierung der Kausalitat nur langsam in Gang kommt. Die vorstellungs­maBige und begriffliche Form der Kausalitat stellt sich zuerst vielmehr als bloBe Rekonstruktion der zuvor entwickelten Struktur auf einer anderen medialen Ebene dar. 197

Der Grund fUr die Konservativitat der Struktur auch nach dem Wechsel zu einer komplexeren Reprasentationsebene liegt in der Divergenz von ope­rationaler und kausaler Entwicklung. Wahrend die Operationalitat sich gera­de durch die Ablosung von Inhalten als reine Handhabung von Relationen entwickelt, stellt Kausalitat eine subjektive Konstruktion dar, die stlindig mit sinnlichen Eindriicken der AuBenwelt koordiniert werden muss bzw. diese erst in der jeweiligen Form moglich macht, dabei aber als der AuBenwelt selbst zukommend verstanden wird. 198 Die historischen Angriffspunkte di­vergieren entsprechend; wahrend die Veranderung der Kausalitat starker in Abhangigkeit von den materialen Gegebenheit, d.h. den vorkommenden und zu begreifenden Vorgangen, abhangt, kann sich das operationale Denken auch durch die Dialektik formaler Begrifflichkeit fortentwickeln. Flir eine historisch-genetische Analyse ist diese Differenzierung daher von eminenter Bedeutung. 199

Die Entwicklung der Kausalitat profitiert somit nicht in derselben Weise von der Offenheit der begrifflichen Relationalitat wie die der Operationalitat; vielmehr bedarf es aufwandiger reflexiver Anstrengungen, urn die Entwick­lung der kausalen Strukturen in Gang zu bringen.

Die Entwicklung des Verhaltnisses von Kausalitat und Operationalitat erscheint zwar in Bezug zu spezifischen Strukturen (z.B. logische Transitivi­tlitlmechanische Transmission, mathematische Proportionalitatl Aquivalenz von Ursache und Wirkung)200 durchaus konvergent; in wesentlichen Berei-

196 Ebd., S. 347. 197 Ebd., S. 348. 198 Kausalitat ist damit auch das Bindglied zwischen den subjektiven Operationen und den

realen 'operators'; sie "constitutes the principal partner in the shuttle game that constitutes the exchanges of the subject's operations with the real ... ". PiagetlGarcia 1974, S. 131.

199 "Die Unterscheidung der operationalen und kategorialen Strukturen ist fiir das Verstandnis der Geistesgeschichte von allergroBter Bedeutung. Denn wahrend die ersteren dem Denken weithin verborgen bleiben, sind es die letzteren, die festiegen, wie es in der Welt aussieht und wie es in ihr zugeht. Das Denken halt sich deshalb in der Auslegung des sen, was in der Welt der Fall ist, an sie. Die Kategorien stellen die materiale Logik der Welt dar. Dabei geht die Ereignisstruktur in Ftihrung. Denn als was die Welt sich darstellt, wird zuallererst dadurch bestimmt, in welcher Weise etwas in ihr geschieht." Dux 1994, S. 184f.

200 PiagetlGarcia 1974, 17f.

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chen ist die Entwicklung aber divergent, weil sich die Operationalitat durch die Eliminierung der fUr die Struktur der Kausalitat zentralen Zeitlichkeit auszeichnet;" ... the passage from the action to the operation is made by a gradual elimination of the dynamic and kinematic factors that include the intervention of duration. ,,201 So steht die Tatsache, dass kausale Vorgange (nicht die der klassischen Physik) allgemein irreversibel sind, d.h. tiber Dau­er und Zeitrichtung (Sukzession) strukturiert sind, einer Parallelitat von Kau­salitat Operationalitat entgegen.202

Die kausalen Schemata des bipolaren Finalismus und des substantialisti­schen Dynamismus werden auf der vorstellungsmaBigen und begrifflichen Ebene rekonstruiert und pragen sich angesichts der Konservativitat der kau­salen Schemata auch in der naturphilosophischen Reflexion aus. Sie sind durchaus soweit systematisierbar, dass sich aus ihnen eine komplexe Natur­theorie entwickeln lasst. Nicht nur eine Vielzahl mythischer und religioser Weltbilder, sondem gerade auch Aristoteles' Physik offeriert eine inhaltliche Aufflicherung dieser Struktur. (Das vorhandene Regelwissen wird dabei mit unterschiedlichem interpretativen Aufwand in diese Struktur integriert.) Augenscheinlich sind die verschiedenen Aspekte etwa in der Unterscheidung von innerem und auBerem Motor oder von terminus a quo und ad quem. Am folgenreichsten da konservativsten zeigt sich aber der allgemeine Grundsatz, dass alles, was sich bewegt, von etwas bewegt wird?03 Jedem Vorgang bzw. jeder Bewegung (mindestens) eine Ursache zu unterstellen, ist strukturell und anschaulich so zwingend, dass es der hochelaborierten Abstraktion des Trag­heitsprinzips bedarf, urn diesen Grundsatz zu verabschieden.

Aristoteles' physikalische Vorstellungen sind dynamistisch, substantialis­tisch, bipolar und finalistisch; dies hindert ihn aber nicht daran, in anderen Feldem das formal-operatorische Niveau ohne Weiteres zu erreichen. Hin­sichtlich der Divergenz operationaler und kausaler Strukturen mtissen wir daher "anerkennen, daB eine volle operatorische Beweglichkeit durchaus mit einer Objekt- und Ereignisauffassung vereinbar ist, die die Strukturlogik des psycho-physikalischen Kausalkonstruktes fortsetzt, mithin finalistisch und dynamistisch ist. ,,204

Die Bedingungen, unter denen diese Kausalstruktur zumindest ftir pro­fessionelle Interpreten in manifester Form problematisch werden, entwickeln sich seit dem Mittelalter. Die zunehmende Relevanz nicht-organisch indu­zierter Bewegung in artifiziellen Zusammenhangen sowie ihrer Transforma-

201 Ebd., S. 126. So verzogert beispielsweise das dynamische Verstandnis von Gewicht als "weight-action" die Attribuierung von bereits entwickelten Operationen erheblich; vgl. ebd., S. 118.

202 Ebd., S. 115. 203 1m Rahmen der handlungslogisch gepragten Kausalvorsteliung gilt, "daB eine Handlung

nur so lange fortdauert, wie der Handelnde die Handlung aufrechterhalt, also deren Fort­gang auch aktiv bewirkt." Dux 1994. S. 217.

204 Wenzel 1994, S. 354.

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tion darin, vor allem natlirlich durch Mlihlen und ihre Getriebe aber auch durch die Verbreitung von Feuerwaffen, fOrderte eine Entwicklung der Kau­salitat weg vom Interaktionsmodell hin zu einer libertragbaren Kraft.20s So betreibt bereits die spatscholastische Impetustheorie eine AblOsung von peri­patetischen Konzepten, insoweit sie sich gegen bipolare und dynamistische Aspekte richtet, die mit den technischen Entwicklungen kaum noch zu ver­einbaren waren; z.B. gibt es in Mlihlen einfach zu viele bewegte und unter­einander abhangige Teile, urn eine bipolare und dynamistische Betrach­tungsweise durchzuhalten.

Mit dem Abnehmen des dynamistischen Aspektes wird die Kraft als ei­genstandige GroBe von der Bewegung ablOsbar und tendenziell auch quanti­tativen Uberlegungen zuganglich.206 Insofem der Impetus nun als einem Korper eingepragte Menge von libertragbarer Kraft, die wahrend der jeweili­gen Bewegung dauemd wirkt und sich dabei aufbraucht, konzeptualisiert wird, bleibt die Impetustheorie aber weiterhin substantialistisch und in spezi­fischer Form finalistisch gepragt.

Die anfanglich enge Verschranktheit von Kraft und Bewegung ist flir die Differenzierung von Kinematik und Dynamik ein grundlegendes Problem; Kraft und Bewegung werden beide im Rahmen des Wirkkomplexes als kor­respondierende Teile physikalischer Aktivitat verstanden.207 "The primitive notion seems to be one of ,action' in the sense of fte [fts] or of mve [mvs], which makes any kinematics consonant with dynamics.,,208 In dieser ana­chronistischen Darstellungsweise stellt sich der Wirkkomplex als multiplika­tive Einheit aus Kraft, Zeit und Weg bzw. Masse, Geschwindigkeit und Weg dar. Dem mit einer bestimmten Geschwindigkeit zurlickgelegten Weg kor­respondiert eine bestimmte Menge einer dynamisch relevanten GroBe und umgekehrt. Die strukturelle Nahe von Kraft und Bewegung zeigt sich so u.a.

205 "In allen dynamischen Problembereichen, die durch die am Ende des Mittelalters einset­zende technische Revolution der Arbeitsmittel aufgeworfen worden sind, ist ein entschei­dender Unterschied gegeniiber den dynamischen Problemstellungen der antiken Mechanik auffallig. Kraft wird in der modemen praktischen Mechanik an schon bewegten Korpem studiert; das Problem des bloBen Verriickens oder Transportierens ruhender Lasten von ei­nem Ort zum anderen, das in der antiken Dynamik vorgeherrscht hatte, wird als Sonder­problem behandelt ... Die modeme praktische Mechanik untersucht, wieviel Kraft aus ei­nem in Bewegung befindlichen Korper gewonnen werden kann. Sie untersucht bewegende Kraft als Foige von Bewegung und versucht, diese Kraft mit der Geschwindigkeit und Gro­Be des bewegten Korpers in eine allgemeine mathematische Beziehung zu bringen." Wolff 1978, S. 279f.

206 Die Nutzung mathematischer Reprasentationsformen im physikalischen Denken waren lange auf wenige unsystematische Einzelfalle wie die Hebelgesetze oder den Satz des Ar­chimedes beschrankt.

207 Das Verstandnis als Aktionszentren behindert dariiberhinaus auch die Komposition von Kraften, da diese somit zuerst in wesentlicher Verbindung zu ihrem Effekt gedacht werden; eine Komposition von Kraften erfordert aber die Koordination dieser Krafte hinsichtlich ih­res gemeinsamen Effektes.

208 PiagetlGarcia 1974, S. 145.

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darin, dass die Bewegung eines Korpers selbst als eine Art von Kraft ver­standen wird. 1m Rahmen der Undifferenziertheit eines yom Wirkkomplex bestimmten Kraftbegriffes scheint es daher moglich, Bewegungskraft mit anderen Formen der Wirkmachtigkeit, d.h. insbesondere Gewichtskraft, in Aquivalenz zueinander zu setzen.

Die strukturelle Nahe von Kraft und Bewegung zeigt sich weiterhin in der Vorstellung, die einen Verursachungszusammenhang von zwei bewegten Korpem yom gemeinsamen Zurlicklegen einer Strecke abhangig macht. Diese Vorstellung findet sich zum Beispiel bei Interpretationen eines Kugel­spieles (mehrere in Reihe sich beriihrend aufgehangte Metallkugeln) durch Kinder:

"Undoubtedly, these subjects still believe that the intermediate marbles need to move by a small amount to transmit the impetus received. [ ... J the essential fact is that from the active marble, and from one marble to the next, the push is seen as causally provoking the move­ment of the mobile only under the condition sine qua non of transmitting to it an ,impetus'. The later is thus the necessary causal link between the push and the acquired motion. ,,209

Eine vergleichbare Vorstellung findet sich aber auch in der mittelalterlichen Impetustheorie, deren Autoren ebenfalls davon ausgehen, dass der bewe­gungsverursachende Impetus nur wahrend einer gemeinsamen Bewe~ung (,mediante motu') von Beweger und Bewegtem libertragen werden kann. 10

Hinsichtlich der Differenzierung von Kraft und Bewegung ist es wieder­urn bedeutsam, dass das dynamische Moment auf Grund der zeitlichen Irre­versibilitat konservativer ist als das kinematische Moment.211 Kinematisch geht es nur urn die Reversibilitat der Verschiebungen im Raum, unabhangig davon ob und wie diese kausal induziert sind. In der historischen Dimension zeigt sich dieser Sachverhalt in der Gleichzeitigkeit von relativistischer Ki­nematik und substantialistischer Dynamik im Mechanismus. So wurde zwar gesehen, dass die line are Bewegungserhaltung logisch direkt aus der Relati­vitat der Bewegung folgt. Den dynamischen Uberlegungen hinsichtlich der Unterscheidung von Ruhe und Bewegung mangelte aber diese Konsequenz.

Insoweit sich die Verbindung von Bewegung und Kraft lockerte, war es aber moglich, die abstrakte geometrische Operationalitat flir die Entwicklung der Kinematik nutzbar zu machen, ohne in direkte Konflikte mit den konser­vativeren dynamischen Anschauung zu kommen.212 Mit der entsprechenden Differenzierung der kinematischen und dynamischen Aspekte entsteht ein

209 PiagetiGarcia 1989, S. 70f. 210 Die hiermit gegebene Ausgedehntheit einer 'action' - in spatialem und temporalem Sinne -

verstiirkt das Problem, Zeitpunkte als Teil des ausgedehnten Zeitkontinuums zu begreifen, und sie als ReferenzgroBe fUr bestimmte Zustande und Veranderungsraten zu begreifen.

211 Die Entwicklungsdifferenz zwischen kinematischen und dynamischen Prinzipien zeigt sich schon bei Kleinkindem, vgl. Spelke 1991, S. 147ff.

212 Vgl. PiagetiGarcia 1974, S. 147f.

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besonderes Verhaltnis zwischen raumlicher Operationalitat und Kausalitat. 1m Gegensatz zu den sonstigen zweiseitigen Beziehung zwischen "the opera­tions of the subject and the operating agents which are objects" findet sich hier - auch historisch - eine Trilogie: "the purely spatial geometry of the subject, the spatio-temporal geometry of the object, and its dynamics".213 Mit den beiden spatial orientierten Bereichen, die sich dadurch auszeichen, dass "however much the geometric operations of the subject and the spatial opera­tors ascribed to objects correspond to each other, the first remain more linked to logico-arithmetic operations while the second acquire a constantly dy­namic meaning,,214, entwickelt sich eine Schnittstelle, an der die Geometris­ierung der Physik durch die Entwicklung adaquater Reprasentationssysteme ansetzen kann. Bei den von den dynamischen Aspekten differenzierten ki­nematischen kann die rein spatiale Geometrie ansetzen, und in der Folge dann auch auf die Dynamik tibergreifen.

Je starker etwa die Vorstellung des physikalischen Raumes die Relatio­nierungsweisen der formal en Geometrie integriert, desto mehr wird diese zu einem Mittel auch weitere Bereiche der physikalischen Welt, insbesondere die Dynamik, zu verstehen und zu beschreiben. Denn die spezifischen Kon­struktionsmoglichkeiten bestimmen sich durch die spezifische Relationalitat des jeweiligen Konstruktionsmediums.215 Eine wesentliche Bedeutung der Reprasentationsmittel ftir die wissenschaftliche Entwicklung besteht damit in der moglichen Ausschopfung der in ihnen angelegten operationalen Mog­lichkeiten.216

Durch die so fortschreitende Formalisierung der Kraft in der Friihen Neuzeit verliert diese zunehmend ihren noch finalistischen Einschlag, denn mit der verallgemeinemden Behandlung als rechenhafte GroBe lOst sich die Zentrierung auf die Verursachung einer spezifischen Bewegung bis zu deren Ende. Vielmehr wird hierdurch die in der Welt insgesamt festgelegte Menge Kraft auf die einzelnen Korper verteilt, und stellt damit die eigentliche dy­namische ReferenzgroBe dar, in der sich die in den Blick genommene ,zustandliche Dynamik' der Welt als Ganzes ausdrtickt.

Durch die mechanistischen Autoren vor Leibniz und Newton wurde meist versucht, Kraft mathematisch tiber die vermeintliche Aquivalenz von Bewegungskraft und Gewichtskraft in eine wissenschaftliche Form zu brin-

213 Ebd., S. 44. 214 Ebd., S. 148. 215 Vgl. DamerowlLefevre 1981, Pick 1993. 216 "Das Ergebnis eines solchen Gebrauchs der Mittel geistiger Arbeit ist, obwohl mit gegen­

standlichen Mitteln erzielt und dadurch objektiv, rein ideeller Natur, und die Tlitigkeit ist als Erkenntnis urn der Erkenntnis willen zu bezeichnen. Werden, aus welchen Grunden auch immer, derartige Tiitigkeiten zu einem liberdauemden Moment der geistigen Arbeit, so wei sen die tradierten Resultate dieser Erkenntnisgewinnung Merkmale wissenschaftli­cher Erkenntnis auf." Damerow/Lefevre 1981, S. 225f.

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gen.217 Auch schon diese mangelhafte mechanistische Form, mit der Kraft mathematisch in den Zusammenhang der physikalischen GraBen integriert wurde, scheint deren Erhaltung im Gesamten zu implizieren. Wie auch im­mer Kraft wahrend eines kausalen Vorganges libertragen wird, die Summe bleibt vorher wie nachher gleich.218 Ais spezifisches Potential von ,Aktivitat', das einem bestimmten Karper je aktuell innewohnt und von einem zu ande­ren libertragen werden bzw. eine bestimmte Wirkung entfalten kann, er­scheint Kraft dabei aber noch substantialisch.219

In dem MaBe wie die substantialistische Kraft zum lediglichen Aktivi­tatspotential eines bewegten Karpers zusammenschrumpft, so weit ist sie auch von der dauerhaften Bewegungsverursachung gelOst. D.h. Bewegungs­erhaltung, letztlich Tragheit, wird vorstellbar. Die Entwicklung eines Trag­heitsprinzips ist dabei der zentrale Bestandteil eines energetisch abgeschlos­senen, d.h. eines zumindest physikalisch immanenten, Universums, denn mit ihm lasst sich das Problem der dauerhaften himmlischen Bewegungen lOsen. Solange dauerhafte Bewegung nicht als beharrlicher Zustand, sondem als einer dauerhaften Verursachung bedlirftige Veranderung begriffen wurde, blieben diese vor den bereits veranderten Hintergrundannahmen im 17. Jahr­hundert ein Ratsel. Vor dem Hintergrund eines Raumes, der zunehmend kein AuBen mehr kennt, bedarf es aber letztlich einer immanenten Lasung.

Diese Entwicklung des physikalischen Abschlusses der Welt fligt sich bezliglich der allgemeinen Koharenz des Weltbildes mit der insgesamt zu­nehmenden Evidenz immanenter Kausalerklarungen. Ein Grund flir das Wachsen der sakularistischen Verdrangung gattlicher Eingriffskausalitat findet sich auch in der Entwicklung der sozialen Beziehungen seit dem Mit­telalter. Die geldvermittelte Marktentwicklung schafft im Rahmen des Netzes der mittelalterlichen Stadte im Zusammenhang mit dem Bevalkerungswachs­tum und der Freisetzung von Arbeitskraften, sowie mit den technisch beding­ten neuen Produktionsweisen neue Interaktionsformen. Die Stadte lOsen mit ihrem Organisationsschema der Interdependenz das hierarchische Schema des Feudalismus abo Durch die sich entwickelnde kapitalistische Marktge­sellschaft wird "das bis dahin schlechterdings dominante Organisationsmedi-

217 Uber die Hebelgesetze war die Gewichtskraft bereits Teil einer traditionsreichen und empi­risch gesattigten, d.h. mit einer operationalisierten Messmethode einhergehenden, Natur­theorie.

218 Was hierbei letztlich fUr die wissenschaftliche Entwicklung geleistet wird, ist ein Ansatz, der die Aquivalenz von physikalischer Ursache und physikalischer Wirkung herstellt. So folgt etwa die radikale Substanzentrennung bei Leibniz direkt aus dieser Aquivalenz; denn es bleibt kein Platz fUr physikalische Verursachung durch geistige EinflUsse und umge­kehrt.

219 ,,1m Hinblick auf den Relationalismus kann man die Entwicklung vereinfacht so darstellen, daB die Relativierung (Funktionalisierung) der Bewegung bis Galilei und Descartes gelingt, die Relativierung der GroBe durch Pascal, die Relativierung der Materie durch Leibniz und die Relativierung des letzten Substanzenrestes in der Natur, der Kraft, durch Kant." Rom­bach 1965, Bd 2, S. 410.

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urn: Macht, durch ein anderes: Geld, mediatisiert, ohne - und das ist ent­scheidend - dadurch seine organisierende Funktion fUr die Gesellschaftsver­fassung zu verlieren. ,,220 W obei die monetlire Mediatisierung von Macht nattirlich eine der mathematischen AbschlieBung der physikalischen Welt zunehmend vergleichbare Formalisierung der gesellschaftlichen Beziehungen darstellt.

Diese gesellschaftlichen Verlinderungen werden dabei zunehmend auch als solche (und dartiberhinaus noch von Menschen gemachte) gesehen. Die Handlungslogik bedingt den statischen Charakter von Welterkllirungsmus­tern, insofern sie die Erscheinungen von einem subjektiv-substantialen Ur­sprung herleitet. D.h. umgekehrt aber, dass mit dem Verlust von stabilen Ordnungsformen, die Moglichkeit schwindet, mit Hilfe der Handlungslogik auf der abstrakten Ebene das Weltbild noch zu einer Einheit zu fUgen. Der nominalistische Unwillen, aus der Art wie die Dinge den Menschen erschei­nen, Gott konstruktive Grenzen zu setzen, zeigt den beginnenden Locke­rungsprozess der Verbindung von Ursprung mid Emanation; "die Organisati­onsform der Stadt leitet einen ProzeB der Slikularisierung ein, der den kogni­tiven Revolutionen schlieBlich das Fundament liefert. Mit der Instabilisie­rung der alten Ordnung ist nlimlich die Autonomisierung der neuen verbun­den. Und die fUhrt ein ganz anderes Deutungsmuster im Verstlindnis der Welt herauf: das funktional-relationale.,,221 Die Verbreitung der funktional­relationalen Ordnung als allgemeinste Form der Immanenz dauert noch an. Ein entscheidender Zwischenschritt war (und ist) das maschinale Weltbild, das die Welt erstmals physikalisch autonom setzt - und zwar dadurch, dass sich an den Herstellungsakt das eigenstlindige Ablaufen nach einfachen Prin­zipien anschlieBt; wobei hierdurch die Strukturgenese der maschinalen Welt allerdings unbefriedigend bleibt.

Wir beginnen den folgenden Teil unserer Untersuchung mit der scholas­tischen Zeit- und Bewegungstheorie und ihren spezifischen Beschrlinkungen. Die anschlieBende Entwicklung der Zeit als unabhlingig verflieBende Basis­variable fUhrt zur Verwissenschaftlichung der Kinematik - mitentscheidend hierbei sind neue methodische Mittel, insbesondere die graphischen Darstel­lung von Bewegungsphlinomenen. Dies ist der erste Schritt hinsichtlich der Geometrisierung des physikalischen Raumes, d.h. der geometrischen Homo­logie zwischen wissenschaftlicher Darstellungs- und physikalischer Refe­renzebene.

Die Kinematik entwickelt sich zwar gerade dadurch, dass sie von Fragen der Verursachung absieht, dennoch zwingt die Behandlung von Bewegung letztlich immer auch zur Reflexion von Kraft. Zentrales Problem hierbei ist die MaBbestimmung der Bewegungskraft. 1m Mechanismus findet diese mit

220 Dux 2000, S. 432. 221 Ebd., S. 437.

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Hilfe der Hebelgesetze und dem Prinzip der virtuellen Geschwindigkeit zu einer ersten, wenn auch mangelhaften mathematischen Formalisierung.

Das groBte Hindemis auf dem Weg einer einheitlichen physikalischen Theorie ist das Problem, wie die Dauerhaftigkeit der zirkuUiren Himmelsbe­wegungen erklart werden kann. Indem die Kreisform auf dies em Weg ihre ontologische Vorrangstellung und Eigenstandigkeit einbiiBt, verliert mit der Linearisierung der Himmelsdynamik das vormodeme Weltbild sein Funda­ment, wahrend das neuzeitliche auf der Basis der Geometrisierung der Phy­sik einen ersten Hohepunkt erreicht.

Wir verfolgen hierbei den Reflexionsprozess im 17. lahrhundert, indem wir bei den Erorterungen der - aus heutiger Sicht - fiihrenden Autoren: Kep­ler, Galilei, Descartes, Leibniz und Newton, systematisch relevante Probleme in Augenschein nehmen, urn dabei vor dem strukturellen Hintergrund deren innere Dynamik deutlich werden zu lassen. Einleitend und kontrastierend hierzu werden wir jeweils Uberlegungen aus dem 14. lahrhundert diskutie­ren. Wahrend hinsichtlich der dynamischen Problemlage kurze exemplari­sche Betrachtungen hierbei geniigen, erfordert die Entwicklung neuer flir die weitere Entwicklung bedeutender (kinematischer) Reprasentationsmittel und der ihrem ontologischen Hintergrund entsprechende empirische Gehalt nun eine nahere Analyse.

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