Kinematik und Robotik -...

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Institute of Geometry Institut f¨ ur Geometrie, TU Graz www.geometrie.tugraz.at Kinematik und Robotik 2. Fassung Anton Gfrerrer Institut f¨ ur Geometrie, TU Graz e-mail: [email protected]

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Institute of Geometry

Institut fur Geometrie, TU Grazwww.geometrie.tugraz.at

Kinematik und Robotik

2. Fassung

Anton Gfrerrer

Institut fur Geometrie, TU Graze-mail: [email protected]

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Vorwort

Das vorliegende Skriptum ist eine Lehrunterlage zur Vorlesung Kinematik und Robotik, die ich mehrmalsan der TU Graz fur Studierende der Studienrichtung Maschinenbau, Studienzweig Mechatronik gehaltenhabe. Der Stoff ist in drei Abschnitte gegliedert. Der erste beschaftigt sich mit ebener Kinematik. Nebenden geometrischen und analytischen Grundlagen, Eigenschaften erster und zweiter Differentiationsord-nung werden einige spezielle ebene Bewegungsvorgange (Ellipsenbewegung, Oldhambewegung, Vier-stabgetriebe) besprochen. Die Grundlagen der Raumkinematik sind Inhalt des zweiten Kapitels. Die ana-lytische Beschreibung von raumlichen Bewegungsvorgangen, raumliche Mechanismen und Zwanglaufemit ihren Eigenschaften erster Differentiationsordnung bilden die Themen dieses Abschnitts. Das dritteKapitel schließlich ist eine Einfuhrung in die Robotik. Serielle und parallele Roboter, deren Vorwarts-und Ruckwartskinematik, deren Geschwindigkeitsverteilung und deren Singularitaten werden behandelt.

Es ist mir durchaus klar, dass die im Skriptum behandelten Themen nur einen kleinen Ausschnitt derGebiete Kinematik und Robotik bilden. Intention der Lehrveranstaltung ist es ja, die Studierenden mitden Grundlagen des Themas vertraut zu machen, die elementaren Begriffsbildungen zu erortern unddie wichtigsten Lehrsatze zu besprechen. Das Skriptum versteht sich also keinesfalls als vollstandigeAbhandlung des Themas, welche in einer 3-stundigen Lehrveranstaltung ja auch kaum geboten werdenkann. Es wurde jedoch sehr wohl auf einen geschlossenen Aufbau des Inhalts geachtet; insbesonderewerden alle im Skriptum vorkommenden Lehrsatze auch detailiert hergeleitet. Nach Absolvierung derLehrveranstaltung sollte der Studierende jedenfalls in der Lage sein, sich in weiterfuhrender Literaturzurechtzufinden.

Das Skriptum enthalt auch einige Beispiele und Ubungsaufgaben, die dem Leser die Moglichkeit geben,seinen Wissensstand zu uberprufen. Die meisten der Ubungsaufgaben sind Programmieraufgaben, diein einer geeigneten Umgebung, wie etwa MAPLE oder MATHEMATICA, bearbeitet werden konnen.

Kenntnisse der elementaren Vektor- und Matrizenrechnung, der komplexen Zahlen und der elemen-taren Differentialrechnung in einer und mehreren Variablen werden vom Leser vorausgesetzt. In denfunf Anhangen des Skriptums sind einige der benotigten mathematischen und geometrischen Grund-lagen zusammengestellt. Insbesondere behandeln die Anhange D bzw. E homogene Koordinaten bzw.Pluckerkoordinaten. Mit Hilfe der ersten konnen Bewegungsvorgange sehr ubersichtlich beschriebenwerden, die zweiten lassen eine schone geometrische Interpretation der Singularitaten von seriellen undparallelen Robotern zu.

In der vorliegenden zweiten Fassung des Skriptums wurden einige Fehler der Erstausgabe korrigiert.

Anton Gfrerrer Graz, im November 2008

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Inhaltsverzeichnis

1 Ebene Kinematik 1

1.1 Die Gruppe der ebenen euklidischen Kongruenztransformationen . . . . . . . . . . . . 1

1.2 Einparametrige Bewegungsvorgange, Momentanpole, Polkurven . . . . . . . . . . . . . 4

1.2.1 Heuristische Herleitung der Begriffe Momentanpol, Rastpolkurve, Gangpolkurve 4

1.3 Geschwindigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1.3.1 Geschwindigkeitsverteilung bei einem Zwanglauf . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1.3.2 Geschwindigkeitsvektoren bei Uberlagerung von zwei Bewegungsvorgangen . . 11

1.4 Hullkurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1.5 Bewegungsumkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1.6 Analytische Beschreibung gleichsinniger Kongruenztransformationen . . . . . . . . . . 15

1.6.1 Verwendung komplexer Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

1.6.2 Analytische Beschreibung von Zwanglaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

1.7 Die Ellipsenbewegung und ihre Umkehrbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

1.8 Gelenkvierecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

1.8.1 Klassifikation der Gelenkvierecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

1.9 Mehrere Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

1.9.1 Die Grublersche Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

1.9.2 Uberlagerung von Zwanglaufen, Satz von Aronhold . . . . . . . . . . . . . 34

1.9.3 Polplane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

1.10 Eigenschaften zweiter Differentiationsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

1.10.1 Bewegung des begleitenden Zweibeins einer ebenen Kurve . . . . . . . . . . . 38

1.10.2 Eine Anwendung: Bewegung eines einachsigen mobilen Roboters langs einer vor-gegebenen Kurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

1.10.3 Die Formel von Euler-Savary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

2 Raumkinematik 45

2.1 Die Gruppe der euklidischen Kongruenztransformationen des E3 . . . . . . . . . . . . 45

2.2 Analytische Beschreibung von gleichsinnigen Kongruenztransformationen des E3 . . . . 51

2.2.1 Beschreibung von Drehungen durch eigentlich orthogonale Matrizen . . . . . . 51

2.2.2 Beschreibung beliebiger gleichsinniger Kongruenztransformationen . . . . . . . 58

I

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2.2.3 Verwendung homogener Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

2.3 Einparametrige Bewegungsvorgange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

2.3.1 Geschwindigkeitsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

2.3.2 Die Momentanbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

2.3.3 Rast- und Gangaxoid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

2.3.4 Geschwindigkeitsschraube und Geschwindigkeitsoperator . . . . . . . . . . . . 70

2.4 Raumliche Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

2.4.1 Die Grublersche Formel fur raumliche Mechanismen . . . . . . . . . . . . . 76

3 Einfuhrung in die Robotik 79

3.1 Kinematik serieller Roboter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

3.1.1 Architektur serieller Roboter; Denavit-Hartenberg-Parameter . . . . . . . 79

3.1.2 Die direkte Aufgabe (Vorwartskinematik) fur serielle Roboter . . . . . . . . . 82

3.1.3 Die inverse Aufgabe (Ruckwartskinematik) fur serielle Roboter . . . . . . . . 85

3.1.4 Der Geschwindigkeitsoperator und die Jacobi-Matrix eines seriellen Roboters . 87

3.1.5 Die direkte und die inverse Aufgabe fur die Geschwindigkeiten serieller Roboter 90

3.1.6 Singularitaten serieller Roboter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

3.2 Kinematik paralleler Roboter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

3.2.1 Architektur von Stewart-Gough-Plattformen . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

3.2.2 Die direkte Aufgabe (Vorwartskinematik) fur Stewart-Gough-Plattformen . 93

3.2.3 Die inverse Aufgabe (Ruckwartskinematik) fur Stewart-Gough-Plattformen 95

3.2.4 Die Geschwindigkeitsschraube und die Jacobi-Matrix einer Stewart-Gough-Plattform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

3.2.5 Die direkte und die inverse Aufgabe fur die Geschwindigkeiten von Stewart-Gough-Plattformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

3.2.6 Singularitaten von Stewart-Gough-Plattformen . . . . . . . . . . . . . . . 99

A Gruppen, Korper, Vektorraume 100

A.1 Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

A.2 Korper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

A.3 Vektorraume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

B Komplexe Zahlen 103

C Matrizen und Determinanten 105

C.1 Rechenoperationen mit Matrizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

C.2 Determinanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

C.3 Die Inverse einer quadratischen Matrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

C.4 Der Rang einer Matrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

C.5 Eigenwerte, Eigenvektoren und Eigenraume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

C.6 Orthogonale Matrizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

II

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D Homogene Koordinaten 113

D.1 Homogene Koordinaten in der Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

D.2 Homogene Koordinaten im Pd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

D.3 Analytische Beschreibung von Geraden, Ebenen und algebraischen Hyperflachen mittelshomogener Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

E Pluckerkoordinaten 117

III

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Kapitel 1

Ebene Kinematik

1.1 Die Gruppe der ebenen euklidischen Kongruenztransforma-tionen

Definition 1.1. Unter der euklidischen Ebene E2 verstehen wir die mit einer euklidischen Metrikausgestattete affine Ebene.Eine (ebene) euklidische Kongruenztransformation ist eine Punktabbildung κ der euklidischenEbene E2, die die Lange jeder Strecke erhalt; d.h.: Werden die Punkte A, B bei κ auf die PunkteA∗ := κ(A), B∗ := κ(B) abgebildet, so muss stets A∗B∗ = AB gelten.

Da eine Kongruenztransformation alle Streckenlangen erhalt, ist sie auch winkel- und flachentreu. Wieman weiters zeigen kann, ist jede Kongruenztransformation bijektiv und zudem eine affine Abbildung,was bedeutet, dass kollineare Punkte in ebensolche ubergefuhrt werden. Weiters gilt

Satz 1.1. Gegeben seien zwei Strecken AB, A∗B∗ gleicher Lange: AB = A∗B∗; dann gibt es genauzwei Kongruenztransformationen κi mit κi(A) = A∗ und κi(B) = B∗ fur i = 1, 2.

Beweis. Wir orientieren die Gerade g := AB in Richtung von A nach B und ebenso die Geradeg∗ := A∗B∗ von A∗ nach B∗. Die Ebene wird durch die orientierte Gerade g in eine links von gund eine rechts von g liegende Halbebene ε+ und ε− zerlegt. Ebenso zerlegt die orientierte Geradeg∗ die Ebene in zwei Halbebenen ε∗+ und ε∗−. Um das Bild X∗ eines beliebigen Punktes X bei einerKongruenztransformation, die A in A∗ und B in B∗ uberfuhrt, zu erhalten, muss das Dreieck ABXkongruent uber die Strecke A∗B∗ ubertragen werden. Dies kann offensichtlich auf genau zwei Artengeschehen:

• orientierungstreu: die Punkte der Halbebene ε+ werden in Punkte der Halbebene ε∗+ ubertragenund jene von ε− in jene von ε∗− oder

• orientierungsandernd: die Punkte von ε+ werden in Punkte von ε∗− ubertragen und jene von ε−in jene von ε∗+.

Im ersten Fall erhalten wir eine orientierungstreue Kongruenztransformation κ1 (der Umlaufsinn jedesDreicks bleibt erhalten), im zweiten Fall eine orientierungsandernde Kongruenztransformation κ2 (der

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Umlaufsinn jedes Dreicks andert sich). q.e.d.

Figur 1.1. Gleichsinnige und gegensinnige Kon-gruenztransformationen.

Definition 1.2. Eine Kongruenztransformation, die den Umlaufsinn jedes Dreiecks erhalt (andert),heißt gleichsinnige (gegensinnige) Kongruenztransformation.

Aus dem Beweis von Satz 1.1 ergibt sich als Folgerung:

Satz 1.2. Gegeben seien zwei Strecken AB, A∗B∗ gleicher Lange: AB = A∗B∗; dann gibt es genaueine gleichsinnige Kongruenztransformationen κ mit κ(A) = A∗ und κ(B) = B∗.

Beispiele fur gleichsinnige Kongruenztransformationen sind Drehungen (M, ϕ) um einen Punkt M durcheinen Winkel ϕ und Schiebungen (v) mit Schiebvektor v. Beispiele fur gegensinnige Kongruenztrans-formationen sind die Spiegelungen (g) an Geraden g.

Die Menge aller Kongruenztransformationen bildet eine Gruppe1 G3 bzgl. der Hintereinander-ausfuhrung ”◦”: Das neutrale Element ist die identische Abbildung, das inverse Element zu einer gege-benen Transformation κ ist die Umkehrabbildung κ−1. So ist z.B. die Inverse zu einer Drehung (M,ϕ)die Drehung (M,−ϕ) und die Inverse zur Schiebung (v) die Schiebung (−v). Geradenspiegelungensind autoinvers (involutorisch): (g)−1 = (g). Die Gruppe G3 ist jedoch nicht kommutativ, d.h. i.a. giltfur zwei Kongruenztransformationen κ1 und κ2: κ2 ◦ κ1 6= κ1 ◦ κ2 (siehe Fig. 1.2).

Figur 1.2. Eine Schiebung ist mit einer Dre-hung nicht vertauschbar.

Offensichtlich ist die Zusammensetzung zweier gegensinniger Kongruenztransformationen eine gleich-sinnige Kongruenztransformation. Unmittelbar ersichtlich aus Fig. 1.3 und Fig. 1.4 ist:

Satz 1.3.

(a) Die Zusammensetzung zweier Geradenspiegelungen (g) und (h) mit g 6‖ h ist eine Drehung.Das Drehzentrum ist M = g ∩ h. Der Drehwinkel ϕ ist gleich dem doppelten orientiertenWinkel zwischen g und h.

(b) Die Zusammensetzung zweier Geradenspiegelungen (g) und (h) mit g ‖ h ist eine Schiebung.Der Schiebvektor ist gleich dem doppelten Abstandsvektor von g und h.

1Zum Begriff ”Gruppe” siehe Anhang A.

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Kinematik und Robotik 3

Figur 1.3. Die Komposition zweier Gera-denspiegelungen mit schneidenden Ach-sen ist eine Drehung.

Figur 1.4. Die Komposition zweier Ge-radenspiegelungen mit parallelen Achsenist eine Schiebung.

Die Zusammensetzung einer gleichsinnigen mit einer gegensinnigen Kongruenztransformation ist einegegensinnige Kongruenztransformation. Setzt man jedoch zwei gleichsinnige Kongruenztransformatio-nen zusammen, so erhalt man wieder eine gleichsinnige Kongruenztransformation. Damit ist klar, dassdie Menge der gleichsinnigen Kongruenztransformationen eine Untergruppe von G3 bildet. DieseUntergruppe wird ublicherweise mit SE(2) bezeichnet. Die gegensinnigen Kongruenztransformationenbilden hingegen keine Untergruppe in G3.

Satz 1.4. Jede geichsinnige Kongruenztransformation κ ist entweder eine Drehung oder eine Schie-bung.

Beweis. Sei κ gegeben durch ein Paar (A,B) von Punkten und deren Bildpunktepaar (A∗, B∗). O.B.d.A.2

sei A 6= A∗ und g die Streckensymmetrale von AA∗. Die Spiegelung (g) fuhrt A in A∗ uber und Bin einen Punkt B (Fig. 1.5). Wir wahlen eine zweite Spiegelungsachse h wie folgt: Ist B = B∗, dannwahlen wir h := A∗B∗. Ist hingegen B 6= B∗, dann wahlen wir h als Streckensymmetrale von BB∗. Injedem Fall beinhaltet h den Punkt A∗. Die Spiegelung (h) fuhrt B in B∗ uber und lasst A∗ fest. Somitgilt (h) ◦ (g) fuhrt A in A∗ und B in B∗ uber. Wegen Satz 1.2 (eindeutige Bestimmung einer Kongru-enztransformation durch zwei Punktepaare) folgt damit bereits κ = (h) ◦ (g). Die Zusammensetzung

2Ist A = A∗ und B = B∗, so ist κ die identische Abbildung!

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4 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

zweier Spiegelungen ist aber eine Drehung oder eine Schiebung (Satz 1.3). q.e.d.

Figur 1.5. Jede gleichsinnige Kongruenztrans-formation lasst sich aus zwei Geradenspiegelun-gen komponieren.

1.2 Einparametrige Bewegungsvorgange, Momentanpole, Pol-kurven

Definition 1.3. Eine einparametrige Menge von gleichsinnigen Kongruenztransformationen der Ebe-ne heißt Zwanglauf oder einparametriger Bewegungsvorgang.

Der Parameter t eines Zwanglaufes wird hierbei meist als ”Zeit” interpretiert.

Folgende Vorstellung eines Zwanglaufes ist vielleicht der Anschauung am ehesten dienlich:

Bei einem Zwanglauf denkt man sich die Ebene in zwei ”ubereinander liegenden” Exemplaren Σ (Gan-gebene, Gangsystem, bewegtes System) und Σ∗ (Rastebene, Rastsystem, festes System) aus-gefuhrt, wobei Σ auf Σ∗ gleitet. Man stelle sich etwa ein Blatt Papier vor, das uber eine Tischplattebewegt wird. Fur den Zwanglauf werden wir daher im Folgenden auch die Bezeichnung Σ/Σ∗ verwenden.

Bei einem Zwanglauf beschreibt jeder Punkt X ∈ Σ eine wohldefinierte Bahnkurve b∗X in Σ∗.

Beispiele fur Zwanglaufe:

1. Kontinuierliche Drehung um einen Punkt M durch den Winkel ϕ(t): In diesem Fall sind dieBahnkurven konzentrische Kreise um M .

2. Kontinuierliche Schiebung mit einem Schiebvektor v(t) parallel zu einer festen Geraden g. Hiersind die Bahnkurven Geraden parallel zu g.

1.2.1 Heuristische Herleitung der Begriffe Momentanpol, Rastpolkurve, Gang-polkurve

Gegeben sei ein Zwanglauf durch die Bahnkurven b∗A, b∗B ⊂ Σ∗ zweier Punkte A,B des GangsystemsΣ. Es seien A∗i B

∗i diskrete Lagen der Strecke AB zu den Zeitpunkten ti, i = 1, 2, 3, . . . und Σ∗i die

zugehorigen Lagen des Gangsystems. Dann ist die Kongruenztransformation, die Σ∗i in die benachbarteLage Σ∗i+1 uberfuhrt i.a.3 eine Drehung mit einem Drehzentrum P ∗i,i+1. Dieses ist der SchnittpunktP ∗i,i+1 der beiden Streckensymmetralen von A∗i A

∗i+1 und B∗

i B∗i+1 (siehe Figur 1.6; dort sind die Dreh-

sehnen und Streckensymmetralen fur i = 1 eingetragen).

Wenn wir den Grenzubergang t2 − t1 −→ 0 durchfuhren, dann erhalten wir als Grenzlage

3Diese Kongruenztransformation wird nur in Sonderfallen eine Schiebung sein.

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Kinematik und Robotik 5

der Drehsehne A∗1A∗2 die Tangente an b∗A in A∗1.

der Drehsehne B∗1B∗

2 die Tangente an b∗B in B∗1 .

der Streckensymmetrale von A∗1A∗2 die Kurvennormale von b∗A in A∗1.

der Streckensymmetrale von B∗1B∗

2 die Kurvennormale von b∗B in B∗1 .

des Punktes P ∗12 einen Punkt P ∗1 .

Definition 1.4. Der durch obigen Grenzubergang erhaltene Punkt P ∗1 , also die Grenzlage des Dreh-zentrums zweier benachbarter Lagen, heißt Momentanpol des Zwanglaufes Σ/Σ∗ zum Zeitpunktt1.Die Verbindungsgerade eines Punktes X des bewegten Systems mit dem Momentanpol heißt Pol-strahl.

Als Zwischenresultat haben wir:

Zu jedem Zeitpunkt gehen bei einem Zwanglauf alle Bahnnormalen durch einen gemeinsamen Punkt,dem Momentanpol.

Konstruieren wir weiters fur je zwei benachbarte Lagen Σ∗i , Σ∗i+1 das entsprechende Drehzentrum P ∗i,i+1,so erhalten wir einen Polygonzug q∗ = P ∗1,2P

∗2,3P

∗3,4 . . . in der Rastebene Σ∗. Wir wahlen nun eine feste

Lage Σ∗i0 des Gangsystems und ubertragen jedes Drehzentrum P ∗i,i+1 vermoge jener gleichsinnigen

euklidischen Kongruenztransformation, die A∗i B∗i in A∗i0B

∗i0

uberfuhrt4, in diese Lage. Damit erhaltenwir einen weiteren Polygonzug q = P1,2P2,3P3,4 . . . in der Gangebene, wobei entsprechende Seiten derbeiden Polygone dieselbe Lange aufweisen:

Pi,i+1Pi+1,i+2 = P ∗i,i+1P∗i+1,i+2

Somit folgt: Der Ubergang zwischen den einzelnen diskreten Positionen Σ∗1, Σ∗2, . . . der Gangebene Σ

erfolgt durch Abwalzen des Polygons q = P1,2P2,3 . . . auf dem Polygon q∗ = P ∗1,2P∗2,3 . . .

Figur 1.6. Diskretisierung eines ebenenZwanglauf; die Walzpolygone q∗ und q.

Durch entsprechende Verfeinerung (∆t = ti+1−ti −→ 0) gehen bei Durchfuhrung des Grenzubergangesdie beiden Polygone q∗ und q in zwei Kurven p∗ und p uber, die bogenlangentreu aufeinanderbezogen sind.

4Ebenso konnte man jene Transformation verwenden, die A∗i+1B∗i+1 in A∗i0B∗i0 uberfuhrt. Warum? In Figur 1.6 wurde

i0 = 3 gewahlt und die Ubertragung von P ∗4,5 in diese Position eingetragen.

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Wir fassen unsere Ergebnisse zusammen im5:

Satz 1.5. (Chasles, 1828)

(a) Zu einem festen Zeitpunkt t1 gehen samtliche Bahnnormalen (Polstrahlen) eines ZwanglaufesΣ/Σ∗ durch einen gemeinsamen Punkt P ∗1 des Rastsystems Σ∗, dem Momentanpol.

(b) Jeder ebene Zwanglauf entsteht durch gleitfreies Abrollen einer Kurve p auf einer Kurve p∗.

Figur 1.7. Verfeinerung der Diskretisie-rung eines ebenen Zwanglauf.

Figur 1.8. Ein weiterer Verfeinerungs-schritt der Diskretisierung.

Figur 1.9. Rastpolkurve p∗ und Gang-polkurve p eines Zwanglaufes; Momen-tanpol P ∗3 zum Zeitpunkt t3.

Definition 1.5. Die Kurve p∗ bzw. p aus Satz 1.5, (b), heißt Rastpolkurve bzw. Gangpolkurvedes Zwanglaufes.

Die Figuren 1.7 und 1.8 zeigen zwei der oben angefuhrten Verfeinerungsschritte. Es wurden hierbei

5Hierbei wurde nur der Sonderfall ausgeschlossen, dass die Grenzlage P ∗i eines Punktes P ∗i,i+1 ein Fernpunkt ist: Dasist der Fall der Momentanschiebung, der im Abschnitt 1.6 genauer behandelt wird.

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Kinematik und Robotik 7

die diskreten Lagen jeweils um jene erweitert, die zu den Zwischenwerten ti+ti+12 der vorangegangenen

Diskretisierung gehoren. Figur 1.9 zeigt die Situation nach Durchfuhrung des Grenzubergangs.

Aufgrund obigen Satzes gelingt fur einen festen Zeitpunkt t0 die Konstruktion der Bahnkurventangentet∗X eines beliebigen Punktes X des Gangsystems Σ bei Kenntnis der Bahnkurvantangenten t∗A, t∗Bzweier Punkte A,B ∈ Σ (siehe Figur 1.10): Zuerst kann der Momentanpol P ∗0 als Schnitt der beidenPolstrahlen n∗a, n∗B von A und B konstruiert werden. Die gesuchte Tangente t∗X ist dann normal zumPolstrahl n∗X = P ∗0 X von X.

Figur 1.10. Konstruktion derBahnkurventangente tX einesPunktes X ∈ Σ bei Zwei-punktfuhrung.

1.3 Geschwindigkeiten

Gegeben sei ein Zwanglauf Σ/Σ∗; der Punkt X ∈ Σ besitze die Bahnkurve b∗X ⊂ Σ∗. Weiters seienX∗

0 , X∗1 zwei benachbarte Positionen von X zu den Zeitpunkten t0 < t1 (Figur 1.11).

Figur 1.11. Definition des mittleren Ge-schwindigkeitsvektors v und des Momen-tangeschwindigkeitsvektors v.

Definition 1.6.

(a) Die skalare Große

v :=∆s

∆t(1.1)

heißt mittlere Geschwindigkeit von X im Intervall [t0, t1]. Hierbei bezeichnet ∆s die Langedes Kurvenbogens zwischen X∗

0 und X∗1 auf b∗X und ∆t := t1 − t0.

(b) Existiert der Grenzwert

v := lim∆t→0

v = lim∆t→0

∆s

∆t, (1.2)

dann heißt dieser skalare Momentangeschwindigkeit des Punktes X zum Zeitpunkt t0.

Die mittlere Geschwindigkeit v ist daher der Differenzenquotient und die skalare Momentangeschwin-digkeit v der Differentialquotient der Funktion s = s(t).

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8 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Anmerkung: Wegen

lim∆t→0

X∗0X∗

1

∆s= 1

gilt:

v = lim∆t→0

∆s

∆t= 1 · lim

∆t→0

∆s

∆t=

(lim

∆t→0

X∗0X∗

1

∆s

)·(

lim∆t→0

∆s

∆t

)= lim

∆t→0

(X∗

0X∗1

∆s· ∆s

∆t

)

= lim∆t→0

X∗0X∗

1

∆t.

D.h.: Die skalare Momentangeschwindigkeit ergibt sich auch als Grenzwert des Quotienten aus derSehnenlange der Bahnkurve und der Zeitdifferenz.

Definition 1.7. Es habe ∆t wieder dieselbe Bedeutung wie in Definition 1.6.

(a) Der Vektor

v :=−−−−→X∗

0X∗1

∆t(1.3)

heißt mittlerer Geschwindigkeitsvektor von X im Intervall [t0, t1].

(b) Existiert der Grenzvektor

v := lim∆t→0

v = lim∆t→0

−−−−→X∗

0X∗1

∆t, (1.4)

dann heißt dieser Momentangeschwindigkeitsvektor des Punktes X zum Zeitpunkt t0.

Obige Begriffe lassen sich auch auf Winkelgroßen, die kontinuierlich von einem Parameter t abhangen,ubertragen:

Definition 1.8. Es sei P ∗ ein Punkt und ρ(t) eine kontinuierliche Drehung um P ∗ mit dem Dreh-winkel ϕ(t). Wir setzen voraus, dass ϕ = ϕ(t) eine differenzierbare Funktion ist. Sei weiters∆ϕ := ϕ(t1)− ϕ(t0) und ∆t habe wieder dieselbe Bedeutung wie in Definition 1.6.

(a) Der Wert

ω :=∆ϕ

∆t(1.5)

heißt mittlere Winkelgeschwindigkeit der Drehung ρ im Intervall [t0, t1].

(b) Die Große

ω := lim∆t→0

ω = lim∆t→0

∆ϕ

∆t, (1.6)

heißt momentane Winkelgeschwindigkeit der Drehung ρ zum Zeitpunkt t0.

Die mittlere Winkelgeschwindigkeit ω ist also der Differenzenquotient, die momentane Winkelgeschwin-digkeit ω der Differentialquotient der Funktion ϕ = ϕ(t).

Im Gegensatz zur mittleren Geschwindigkeit und zur skalaren Momentangeschwindigkeit sind die mitt-lere Winkelgeschwindigkeit und die Winkelgeschwindigkeit unabhangig vom betrachteten Punkt desbewegten Systems.

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Kinematik und Robotik 9

1.3.1 Geschwindigkeitsverteilung bei einem Zwanglauf

Es sei Σ/Σ∗ ein Zwanglauf. Das Gangsystem Σ sei durch die Strecke AB reprasentiert. Wir betrachtenzwei (benachbarte) Lagen A∗0B

∗0 bzw. A∗1B

∗1 des Gangsystems zu den Zeitpunkten t0 bzw. t1 (Figur

1.12). P ∗01 sei das Zentrum und ∆ϕ der Winkel jener Drehung, die A∗0B∗0 in A∗1B

∗1 uberfuhrt. Weiters

bezeichne r den Radius des Drehkreises von A. Dann kann die mittlere Geschwindigkeit v von A imIntervall [t0, t1] naherungsweise durch

v ∼ 2 · sin ∆ϕ2 · r

∆t(1.7)

berechnet werden. Fuhren wir in (1.7) den Grenzubergang fur ∆t → 0 durch, dann geht die mittlereGeschwindigkeit v in die Momentangeschwindigkeit v zum Zeitpunkt t0 uber; es ist daher

v = lim∆t→0

2 · sin ∆ϕ2 · r

∆t.

Die rechte Seite dieser Gleichung kann wie folgt umgeschrieben werden:

lim∆t→0

2 · sin ∆ϕ2 · r

∆t= 1 · lim

∆t→0

2 · sin ∆ϕ2 · r

∆t=

(lim

∆t→0

∆ϕ2

sin ∆ϕ2

)·(

lim∆t→0

2 · sin ∆ϕ2 · r

∆t

)

= lim∆t→0

(∆ϕ2

sin ∆ϕ2

· 2 · sin ∆ϕ2 · r

∆t

)

= lim∆t→0

∆ϕ

∆t· r =

(lim

∆t→0

∆ϕ

∆t

)·(

lim∆t→0

r)

Der Radius r geht nach Durchfuhrung des Grenzubergangs in den Abstand r := A∗0P∗0 des Punktes A∗0

vom Momentanpol P ∗0 uber, wahrend der Grenzwert von ∆ϕ∆t die momentane Winkelgeschwindigkeit ω

ist. Daher gilt insgesamt:

v = ω · r (1.8)

Wir haben also folgendes Resultat erhalten:

Satz 1.6. Ein ebener Zwanglauf Σ/Σ∗ verhalt sich in jedem Augenblick t0 hinsichtlich der Ge-schwindigkeitsverteilung so wie eine reine Drehung mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ω um denMomentanpol P ∗, soferne P ∗ kein Fernpunkt ist.Die Momentangeschwindigkeit vX eines Punktes X ∈ Σ ist direkt proportional zu seinem Abstandr vom Momentanpol P ∗. Der Proportionalitatsfaktor ist die momentane Winkelgeschwindigkeit ω:

vX = ω · r

Der Momentangeschwindigkeitsvektor steht normal zum Polstrahl.

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Figur 1.12. Zusammenhangzwischen skalarer Geschwindigkeitund Winkelgeschwindigkeit beieinem Zwanglauf Σ/Σ∗.

Bemerkung 1.1.

1.) Wegen Satz 1.6 gehen die Bahnkurvenpunkte X, Y, Z, . . . durch eine Drehstreckung in dieSpitzen der zugehorigen (von den Bahnkurvenpunkten abgetragenen) GeschwindigkeitsvektorenvX ,vY ,vZ , . . . uber (Figur 1.13). Das Zentrum dieser Drehstreckung ist der Momentanpol P ∗,der Drehwinkel ist θ mit tan θ = ω und der Streckfaktor ist 1

cos θ .

Figur 1.13. Verteilung der Momentan-geschwindigkeitsvektoren.

2.) Da eine Drehstreckung eine lineare Transformation ist und daher Geraden wieder auf Geradenabbildet, folgt aus 1.):

Die Spitzen der Geschwindigkeitsvektoren von Punkten einer Geraden g liegen wieder auf einer

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Kinematik und Robotik 11

Geraden g. Die beiden Geraden g und g schließen den Winkel θ ein (Figur 1.14).

Figur 1.14. Geschwindig-keitsvektoren von kollinea-ren Bahnkurvenpunkten.

3.) In der Praxis werden statt der Geschwindigkeitsvektoren vX oft die um π2 gedrehten Geschwin-

digkeitsvektoren v×X verwendet (Figur 1.15). Die Endpunkte der von den Bahnkurvenpunktenabgetragenen gedrehten Geschwindigkeitsvektoren gehen namlich durch eine reine Streckung ausden Bahnkurvenpunkten hervor. Daher gelingt mit deren Hilfe die Konstruktion des Geschwindig-keitsvektors vY eines beliebigen Punktes Y , wenn der Momentanpol P ∗ und der Geschwindig-keitsvektor vX eines Punktes X bekannt sind (Strahlensatz!).

Figur 1.15. Konstruktion eines Ge-schwindigkeitsvektors mittels Strahlen-satz.

1.3.2 Geschwindigkeitsvektoren bei Uberlagerung von zwei Bewegungsvor-gangen

Wir gehen wieder von einem Zwanglauf Σ/Σ∗ aus. In der Gangebene Σ fuhre ein Punkt A eine Ei-genbewegung langs einer Kurve c ⊂ Σ aus. Bei Uberlagerung der beiden Bewegungen bewegt sich Alangs einer Kurve k∗ ⊂ Σ∗. Wie sieht der Absolutgeschwindigkeitsvektor v des Punktes A zu einemfest gewahlten Zeitpunkt t0 aus?

Um diese Frage zu beantworten, wahlen wir eine zur betrachteten Lage Σ0 benachbarte Lage Σ1 vonΣ. Es sei b∗A die Bahnkurve von A beim Zwanglauf Σ/Σ∗ und es bezeichne weiters (Figur 1.16)

A0 die Position von A zum Zeitpunkt t0,A1 die Position von A zum Zeitpunkt t1 ohne Berucksichtigung der Eigenbewegung auf c,B1 die Position von A zum Zeitpunkt t1 ohne Berucksichtigung der Zwanglaufbewegung,C1 die Position von A zum Zeitpunkt t1 bei Berucksichtigung beider Bewegungen undc0, c1 die Positionen von c zu den Zeitpunkten t0, t1.

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Figur 1.16. Situation beiUberlagerung zweier Bewe-gungsvorgange.

Dann gilt:

−−−→A0C1 = −−−→

A0A1 +−−−→A1C1

Wir dividieren durch ∆t = t1 − t0:

−−−→A0C1

∆t︸ ︷︷ ︸(∗)

=−−−→A0A1

∆t︸ ︷︷ ︸(∗∗)

+−−−→A1C1

∆t︸ ︷︷ ︸(∗∗∗)

Nach Durchfuhrung des Grenzuberganges ∆t −→ 0 geht

(∗) in den Absolutgeschwindigkeitsvektor v,(∗∗) in den Geschwindigkeitsvektor vF des Punktes A beim Zwanglauf Σ/Σ∗ und

(∗ ∗ ∗) in den Geschwindigkeitsvektor vR des Punktes A bei seiner Eigenbewegung langs c

zum Zeitpunkt t0 uber.

Die Vektoren vF bzw. vR werden als Fuhrungsgeschwindigkeitsvektor bzw. Relativgeschwindig-keitsvektor bezeichnet. Wir haben als Ergebnis den

Satz 1.7. (Figur 1.17) Ist Σ/Σ∗ ein Zwanglauf, bei dem der Punkt A der Gangebene Σ eine Eigen-bewegung langs einer in Σ liegenden Kurve c ausfuhrt, dann ist der Absolutgeschwindigkeitsvektorv von A zum Zeitpunkt t0 die Summe aus dem Fuhrungsgeschwindigkeitsvektor vF und dem Rela-tivgeschwindigkeitsvektor vR:

v = vF + vR (1.9)

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Kinematik und Robotik 13

Figur 1.17. Additivitatder Geschwindigkeitsvekto-ren bei Uberlagerung zweierBewegungsvorgange.

1.4 Hullkurven

Wir betrachten wieder einen Zwanglauf Σ/Σ∗. Eine in der Gangebene gelegene Kurve k durchlauftwahrend des Zwanglaufes eine Reihe von Lagen k1, k2, k3, . . . Diese einparametrige Kurvenschar besitzti.a. eine in der Rastebene liegende Hullkurve h∗ – d.i. eine Kurve, die jede der Lagen von k in einemPunkt H (Hullpunkt) beruhrt (Figur 1.18). Man sagt auch, k gleitet langs h∗ bzw. k und h∗ sind einGleitkurvenpaar.

Figur 1.18. Eine Kurve k derGangebene und ihre Hullkurveh∗ in der Rastebene.

Fur einen Beobachter in Σ∗ wandert der Hullpunkt H wahrend des Bewegungsvorganges auf h∗, wahrender sich fur einen Beobachter in Σ langs k bewegt. Wir haben also fur den Punkt H die in Abschnitt1.3.2 beschriebene Situation: Wahrend des Zwanglaufes Σ/Σ∗ fuhrt H eine Eigenbewegung auf derKurve k ⊂ Σ aus. Da die beiden Kurven k und h∗ einander zu jedem Zeitpunkt t0 beruhren, sindder Relativgeschwindigkeitsvektor vR und der Absolutgeschwindigkeitsvektor v stets linear abhangig(zueinander parallel). Wegen

vF = v − vR

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(Satz 1.7) folgt, dass auch der Fuhrungsgeschwindigkeitsvektor vF – also jener der Bahnkurve von Hohne Berucksichtigung der Eigenbewegung auf k – parallel zu den beiden anderen Vektoren ist. Da vF

andererseits normal zum Polstrahl steht, gilt somit

Satz 1.8. Die gemeinsame Normale zweier Gleitkurven k und h∗ im momentanen Beruhrpunkt Hist ein Polstrahl.

Eine Anwendung dieses Satzes ist die Bestimmung des Momentanpoles bei einer sogenannten Gleit-fuhrung. Eine solche liegt vor, wenn zwei Kurven a und b des Gangsystems Σ langs zweier Kurven a∗

bzw. b∗ des Rastsystems gleiten (Figur 1.19). Der Momentanpol P ∗ liegt dann im Schnitt der beidenHullbahnnormalen na und nb.

Figur 1.19. Bestimmung desMomentanpoles P ∗ bei einerGleitfuhrung.

Als weiteres Beispiel fuhren wir eine Kurbelschleife an: Eine solche liegt vor, wenn ein Punkt A desGangsystems Σ sich auf einem Kreis k∗ des Rastsystems Σ∗ bewegt und eine Gerade g ⊂ Σ durcheinen Punkt L∗ ∈ Σ∗ schleift. In diesem Fall ist die Hullkurve h∗ der von g gebildeten Geradenscharzu einem Punkt, namlich L∗, degeneriert. Der Momentanpol P ∗ findet sich daher als Schnittpunkt derNormalen ng zu g durch L∗ mit der Bahnnormalen nA von A (Figur 1.20).

Figur 1.20. Bestimmung des Mo-mentanpoles P ∗ bei einer Kurbel-schleife.

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Kinematik und Robotik 15

1.5 Bewegungsumkehr

Gegeben sei ein Zwanglauf Σ/Σ∗, wobei Σ wieder das bewegte und Σ∗ das feste System bezeichne.Fur einen Beobachter in Σ erscheint die Situation jedoch genau umgekehrt: Σ ist das feste und Σ∗ dasbewegte System.

Definition 1.9. Die zu einem Zwanglauf Σ/Σ∗ gehorende, durch Rollentausch von Gang- und Rast-system entstehende Bewegung Σ∗/Σ heißt Umkehrbewegung oder inverse Bewegung zur Aus-gangsbewegung.

In nachfolgender Tabelle sind einige Aussagen uber einen Zwanglauf Σ/Σ∗ in die ”Sprache seinerUmkehrbewegung Σ∗/Σ ubersetzt.”

Zwanglauf Σ/Σ∗ Umkehrbewegung Σ∗/Σ

Ein Punkt P ∈ Σ lauft auf einer Kurve k∗ ⊂ Σ∗. Die Kurve k∗ ⊂ Σ∗ schleift durch den PunktP ∈ Σ.

Eine Kurve k ⊂ Σ gleitet langs einer Kurve h∗ ⊂Σ∗.

Die Kurve h∗ ⊂ Σ∗ gleitet langs der Kurve k ⊂Σ.

p∗ ist die Rastpolkurve bei Σ/Σ∗. p∗ ist die Gangpolkurve bei Σ∗/Σ.

p ist die Gangpolkurve bei Σ/Σ∗. p ist die Rastpolkurve bei Σ∗/Σ.

Tabelle 1.1.Wechsel des Beobachterstandpunktes – Umkehrbewegung.

1.6 Analytische Beschreibung gleichsinniger Kongruenztransfor-mationen

Wir legen in E2 ein kartesisches Normalkoordinatensystem Σ := {O; e1, e2} zugrunde; dann besitzt der

Ortsvektor x := −−→OX eines Punktes X ∈ E2 eine Darstellung der Form

x = x · e1 + y · e2 (1.10)

mit eindeutig bestimmten Zahlen x, y ∈ R. Dafur schreiben wir fortan auch: X(x, y).

Ist τ eine Schiebung mit Schiebvektor d = a · e1 + b · e2, X(x, y) ein Punkt und X∗(x∗, y∗) sein Bildunter τ , dann gilt (Figur 1.21)

[x∗

y∗

]=

[ab

]+

[xy

](1.11)

bzw.

x∗ = d + x (1.12)

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mit6 x := [x, y]> und x∗ := [x∗, y∗]>.

Figur 1.21. Analytische Beschreibungeiner Schiebung.

Um eine Drehung ρ = (M,ϕ) zu beschreiben, legen wir den Koordinatenursprung O zweckmaßigerweisein das Drehzentrum M (Figur 1.22). Fur die Koordinaten x, y eines Punktes X und jene x∗, y∗ desgedrehten Punktes X∗ = κ(X) gilt:

x = r · cosαy = r · sin α

}(1.13)

x∗ = r · cos(α + ϕ)y∗ = r · sin(α + ϕ)

}(1.14)

Figur 1.22. Analytische Beschreibungeiner Drehung.

Hierbei ist r := OX = OX∗ und α := ∠(e1,−−→OX). Mittels der Additionstheoreme fur Winkelfunktionen

erhalten wir aus (1.13), (1.14):

x∗ = x · cosϕ− y · sinϕy∗ = x · sin ϕ + y · cosϕ

}(1.15)

6Hierbei wird stillschweigend ein Vektor mit seiner Koordinatenspalte identifiziert, wobei eine gewisse Vorsicht ange-bracht ist, da die Koordinatenspalte eines Vektors von der Wahl des Koordinatensystems abhangt, wahrend der Vektorselbst davon unabhangig ist. Sind jedoch alle im Verlauf einer Rechnung vorkommenden Vektoren auf dasselbe festgewahlte Koordinatensystem bezogen, dann ist diese Vorgangsweise erlaubt.

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Kinematik und Robotik 17

bzw. in Matrixschreibweise: [x∗

y∗

]=

[cosϕ − sinϕsin ϕ cosϕ

]·[

xy

](1.16)

Die Matrix

A :=[

cosϕ − sinϕsinϕ cosϕ

](1.17)

ist eigentlich orthogonal,7 d.h.

A ·A> = I2 :=[

1 00 1

]und

detA = 1,

wovon man sich leicht uberzeugt. Identifiziert man die Ortsvektoren x und x∗ zu den Punkten X undX∗ wieder mit ihren Koordinatenspalten: x := [x, y]>, x∗ := [x∗, y∗]>, dann liest sich (1.16) so:

x∗ = A · x (1.18)

Weiters gilt:

Satz 1.9. Jede gleichsinnige Kongruenztransformation κ ist Zusammensetzung einer Drehung ρ umden Koordinatenursprung O mit einer Schiebung τ .

Beweis. (Figur 1.23) Sei κ gegeben durch ein Paar (A, B) von Punkten und deren Bildpunktepaar

(A∗, B∗). Die Drehung ρ mit dem Koordinatenursprung O als Zentrum und ϕ = ∠(−−→AB,−−−→A∗B∗) als

Drehwinkel fuhrt die Strecke AB uber in eine Strecke A B, die parallel zur Bildstrecke A∗B∗ ist.Die Schiebung τ , die A in A∗ uberfuhrt, bringt daher auch B nach B∗. Wegen Satz 1.2 (Existenzund Eindeutigkeit einer gleichsinnigen Kongruenztransformation bei Vorgabe zweier Punktepaare) folgtdann aber: κ = τ ◦ ρ. q.e.d.

Figur 1.23. Jede gleichsinnigeKongruenztransformation ist Zu-sammensetzung einer Drehung umden Koordinatenursprung O miteiner Schiebung.

Jede beliebige gleichsinnige Kongruenztransformation κ lasst sich wegen des obigen Satzes daher wiefolgt beschreiben:

κ . . .

[x∗

y∗

]=

[ab

]+

[cosϕ − sinϕsinϕ cosϕ

]·[

xy

](1.19)

7siehe Anhang C.6!

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bzw.

x∗ = d + A · x, (1.20)

mit x := [x, y]>, x∗ := [x∗, y∗]>, d := [a, b]> und der eigentlich orthogonalen Matrix A gemaß (1.17).

Gleichung (1.19) zeigt auch, dass die Gruppe SE(2) der gleichsinnigen Kongruenztransformation in E2

dreiparametrig ist. Bei obiger Parametrisierung sind a, b, ϕ die drei Parameter.

1.6.1 Verwendung komplexer Zahlen

Komplexe Zahlen (siehe Anhang B) konnen wie folgt zur Beschreibung gleichsinniger Kongruenz-transformationen herangezogen werden. Wir interpretieren die Komponenten x, y bzw. x∗, y∗ derOrtsvektoren bzgl. der Koordinatensysteme Σ bzw. Σ∗ als Real- und Imaginarteile von komplexenZahlen z bzw. z∗. Die Drehung (1.16) um den Koordinatenursprung mit dem Winkel ϕ wird dannbeschrieben durch

z∗ = eiϕ · z. (1.21)

Interpretieren wir weiters auch den Schiebvektor d als komplexe Zahl

d = a + b · i, (1.22)

dann erhalten wir aus (1.19) die komplexe Schreibweise einer beliebigen gleichsinnigen Kongruenztrans-formation:

z∗ = d + eiϕ · z (1.23)

Speziell wird wegen

ei π2 = i (1.24)

durch

z∗ = i · z (1.25)

eine positive Vierteldrehung um den Koordinatenursprung beschrieben.

1.6.2 Analytische Beschreibung von Zwanglaufen

In komplexen Zahlen lasst sich ein einparametriger Bewegungsvorgang (Zwanglauf) durch

z∗(t) = d(t) + eiϕ(t) · z (1.26)

beschreiben. Hierbei werden Gang- bzw. Rastebene als Gausssche Zahlenebenen und die Ortsvektorenz = [x, y]> bzw. z∗ = [x∗, y∗]> eines Punktes als komplexe Zahlen z = x + y · i bzw. z∗ = x∗ +y∗ · i interpretiert (Figur 1.24). Der als komplexe Zahl interpretierte Schiebvektor d und der (reelle)Drehwinkel ϕ hangen vom Parameter t (”Zeit”) ab:

d = d(t) = a(t) + b(t) · i,ϕ = ϕ(t)

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Kinematik und Robotik 19

Fur festes z beschreibt (1.26) dann die Bahnkurve b∗Z des gangfesten Punktes Z mit Ortsvektor z bzgl.des Rastystems. Insbesondere wird die Bahnkurve b∗O von O durch d = d(t) beschrieben.

Figur 1.24. Beschreibung ei-nes Zwanglaufes mittels komplexerZahlen.

Den Geschwindigkeitsvektor eines Bahnkurvenpunktes erhalten wir durch Differenzieren von (1.26) nacht:

z∗(t) = vZ = d + ϕ · i · eiϕ · z = d + ω · i · eiϕ · z (1.27)

Dabei ist die Große ω = ϕ die momentane Winkelgeschwindigkeit.

Um eine Klassifikation der moglichen Momentanbewegungen durchzufuhren, bestimmen wir jene Punk-te, deren Geschwindigkeit vZ gleich null ist:

d + ϕ · i · eiϕ · z = 0 (1.28)

Hier sind die drei folgenden Falle zu unterscheiden:

Fall 1: ω = ϕ 6= 0.

Fall 2: ω = ϕ = 0, d 6= 0.

Fall 3: ω = ϕ = 0, d = 0.

Wir diskutieren die Falle im einzelnen:

Fall 1: ω = ϕ 6= 0.

Hier gibt es genau einen Punkt mit verschwindendem Geschwindigkeitsvektor. Sein Ortsvektor imGangsystem lautet (Auflosen von (1.28) nach z):

p =d · i

ϕ · eiϕ(1.29)

In diesem Fall erhalt man also einen eigentlichen Momentanpol P ∗. p ist sein Ortsvektor bzgl.des Gangsystems. Der Ortsvektor des Momentanpols bzgl. des Rastsystems ergibt sich durchEinsetzen von (1.29) in (1.26):

p∗ = d +d · iϕ

(1.30)

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Anmerkung: Fur laufendes t ist (1.29) bzw. (1.30) die Parameterdarstellung der Gang- bzw.Rastpolkurve.

In diesem Fall liegt die bereits in Satz 1.6 beschriebene Situation vor:

Satz 1.10. Der Geschwindigkeitsvektor vZ eines Punktes Z . . . z steht normal zum PolstrahlP ∗Z∗. Der Betrag von vZ ist proportional zum Abstand vom Momentanpol P ∗; der Propor-tionalitatsfaktor ist die momentane Winkelgeschwindigkeit ω = ϕ.

Beweis. Wir berechnen den Vektor−−−→P ∗Z∗:

−−−→P ∗Z∗ = z∗ − p∗ = d + eiϕ · z− (d +

d · iϕ

) = eiϕ · z +d

i · ϕ=

1i · ϕ · (d + ϕ · i · eiϕ · z)︸ ︷︷ ︸

= vZ

Daher ist

vZ = ω · i · −−−→P ∗Z∗

und da Multiplikation mit der komplexen Zahl i ja eine positive Viertelschwenkung bedeutet, folgtdie Behauptung. q.e.d.

Der Zwanglauf verhalt sich also in diesem Moment hinsichtlich der Geschwindigkeitsverteilungwie eine Drehung mit der konstanten Winkelgeschwindigkeit ω um den Momentanpol P ∗. Esliegt der Fall der Momentandrehung vor.

Fall 2: ω = ϕ = 0, d 6= 0.

In diesem Fall sind die Geschwindigkeitsvektoren vZ aller Bahnkurvenpunkte Z . . . z identisch undvon null verschieden, namlich

vZ = d 6= 0.

Es liegt eine sogenannte Momentanschiebung vor. Es gibt daher keinen eigentlichen Punkt mitverschwindender Geschwindigkeit. Als Momentanpol bezeichnet man hier den Fernpunkt der zurSchiebrichtung normalen Geradenstellung.

Fall 3: ω = ϕ = 0, d = 0. Hier sind die Momentangeschwindigkeitsvektoren aller Bahnkurvenpunktegleich null. Es liegt momentaner Stillstand vor.

Anmerkung: Gilt die Bedingung ω = ϕ = 0 fur alle t aus dem betrachtenden Zeitintervall, dann sprichtman von einer krummen Schiebung. In diesem Fall ist ϕ(t) = c = const. und alle Bahnkurven sinduntereinander schiebungsgleich.

Wir wollen abschließend noch das Abrollen der Gangpolkurve p auf der Rastpolkurve p∗ analytischverifizieren.

Ist k eine in Parameterdarstellung

x = x(t) =[

x(t)y(t)

]

vorliegende Kurve, dann berechnet man die Bogenlange s(t0, t1) zwischen den zu den Parameterwertent0 und t1 gehorenden Kurvenpunkten durch

s(t0, t1) =∫ t1

t0

|x| dt =∫ t1

t0

√x2 + y2 dt.

Um daher nachzuweisen, dass die Gangpolkurve ohne zu gleiten auf der Rastpolkurve abrollt, ist zuzeigen, dass die Tangentenvektoren beider Kurven zu jedem Zeitpunkt t identisch sind.

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Kinematik und Robotik 21

Die Gangpolkurve besitzt die Parameterdarstellung

p = p(t) (1.31)

bzgl. des Gangsystems, wobei p(t) gemaß (1.29) berechnet wird. Die Parameterdarstellung p∗(t) derRastpolkurve bzgl. des Rastsystems erhalt man durch Einsetzen von (1.31) in die Zwanglaufdarstellung(1.26):

p∗ = p∗(t) = d(t) + eiϕ(t) · p(t) (1.32)

Als Tangentenvektor der Rastpolkurve erhalten wir daher

p∗ = d + eiϕ · p + i · ϕ · eiϕ · p︸ ︷︷ ︸= −d gemaß (1.29)

= eiϕ · p

Der Vektor eiϕ · p ist aber gerade der Tangentenvektor der Gangpolkurve dargestellt im Rastsystem.Das beendet den Nachweis.

1.7 Die Ellipsenbewegung und ihre Umkehrbewegung

Definition 1.10. Ein Zwanglauf Σ/Σ∗ heißt Ellipsenbewegung, wenn zwei Punkte X und Y desGangsystems auf zwei einander schneidenden Geraden x∗ und y∗ des Rastsystems Σ∗ laufen.Die Umkehrbewegung einer Ellipsenbewegung heißt Oldhambewegung.

Anmerkung: Eine Bewegung, bei der zwei Punkte auf zwei zueinander parallelen Geraden laufen, isteine Schiebung in Richtung der beiden Geraden.

Wir betrachten eine Oldhambewegung Σ∗/Σ. Da sie die Umkehrbewegung einer Ellipsenbewegungist, schleifen die zwei Geraden x∗, y∗ des nunmehr bewegten Systems Σ∗ durch die zwei Punkte X, Ydes nunmehr festen Systems Σ (Figur 1.25).

Figur 1.25. Oldhambewegung;zwei Positionen des GangsystemsΣ∗.

Wegen des Peripheriewinkelsatzes folgt, dass die Bahnkurve des Punktes S∗ := x∗∩y∗ ein Kreis k in Σist. Wegen des selben Satzes folgt weiters, dass jede Gerade z∗ des Strahlbuschels um S∗ durch einenrastfesten Punkt Z ∈ k schleift.

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Damit haben wir fur die Oldhambewegung:

Satz 1.11. Bei einer Oldhambewegung Σ∗/Σ schleifen alle Geraden z∗ eines Strahlbuschels S∗(z∗)durch Punkte Z, die einem Kreis k in Σ angehoren.

Fur die Ellipsenbewegung als Umkehrbewegung der Oldhambewegung, folgt:

Satz 1.12. Bei einer Ellipsenbewegung Σ/Σ∗ bewegen sich alle Punkte Z eines Kreises k ⊂ Σ aufGeraden z∗, die einem Strahlbuschel S∗(z∗) angehoren.

Wir wollen die Ellipsenbewegung nun naher betrachten. Wegen Satz 1.12 konnen wir o.B.d.A. voraus-setzen, dass die Bahngeraden x∗ und y∗ der beiden Punkte X und Y zueinander rechtwinklig stehen(Figur 1.26). Ihr Schnittpunkt ist S∗. Der Kreis k, welcher die Punkte mit geradlinigen Bahnen tragt,besitzt XY als Durchmesser.

Figur 1.26. Ellipsenbewe-gung: Momentanpol P ∗;Gangpolkreis k = p; Rastpol-kreis p∗; Bahnkurve b∗Z einesPunktes Z.

Den Momentanpol P ∗ der Ellipsenbewegung erhalten wir als Schnittpunkt der beiden Polstrahlen nX

und nY durch X und Y . Da es sich beim Viereck S∗XP ∗Y um ein Rechteck handelt, dessen Diagonalendie konstante Lange

l := XY

besitzen, folgt, dass die Rastpolkurve p∗ ein Kreis mit Radius l und Mitte S∗ ist.

Um die Gangpolkurve p zu bekommen, mussen wir die einzelnen Lagen der rechtwinkligen DreieckeXY P ∗ gleichsinnig kongruent in eine feste Lage des Gangsystems Σ ubertragen. Wegen des Satzes vonThales folgt dann: p ist der Kreis mit Durchmesser XY , also: p = k.

Wir fassen zusammen:

Satz 1.13. Die Ellipsenbewegung entsteht durch Abrollen eines Kreises p in einem Kreis p∗ mitdoppelten Radius.

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Kinematik und Robotik 23

Fur die Umkehrbewegung erhalten wir daher

Satz 1.14. Die Oldhambewegung entsteht durch Abrollen eines Kreises p∗ auf einem halb so großenKreis p, wobei p im Inneren von p∗ liegt.

Um die Ellipsenbewegung analytisch zu beschreiben, legen wir den Koordinatenursprung O∗ desKoordinatensystes in Σ∗ in den Punkt S∗ und die Koordinatenachsen in x∗ und y∗ (Figur 1.26). AlsKoordinatenursprung O des Gangsystems wahlen wir den Punkt Y ; die x-Achse des Gangkoordinaten-systems legen wir in die Gerade XY . Als Bewegungsparameter wahlen wir den Winkel ϕ = ∠(x∗, XY ).Bzgl. dieser Koordinatensyteme wird die Ellipsenbewegung dann durch

[x∗

y∗

]=

[0

−l · sin ϕ

]+

[cos ϕ − sin ϕsin ϕ cos ϕ

] [xy

](1.33)

bzw. in komplexer Schreibweise durch

z∗ = −l · sin ϕ · i + eiϕ · z (1.34)

erfasst.

Wir wollen uns nun uberlegen, was die Bahnkurve eines allgemeinen Punktes Z ∈ Σ ist. Die Bahn-kurve des Halbierungspunktes M von XY ist der Kreis um S∗ = O∗ mit Radius l

2 . Jeder Durchmesserdes Gangpolkreises k = p, also jede Gerade durch M , besitzt Endpunkte, die zueinander rechtwinkligeGeraden durchlaufen. Es genugt daher, die Punkte Z auf der Tragergeraden des Durchmessers XYvon k zu betrachten (Figur 1.26). Ein solcher Punkt besitzt die Koordinaten x = a, y = 0 bzgl. desGangkoordinatensystems. Mit (1.33) erhalten wir

x∗ = a · cosϕy∗ = (a− l) · sin ϕ

}(1.35)

als Parameterdarstellung der Bahnkurve b∗Z von Z. Durch Eliminieren des Parameters ϕ ergibt sich dieGleichung von b∗Z :

x∗2

a2+

y∗2

(a− l)2= 1 (1.36)

Damit ist b∗Z als Ellipse mit Achsenlangen 2|a|, 2|l−a| und Mitte in S∗ = O∗ erkannt.8 Dies rechtfertigtauch den Namen Ellipsenbewegung.

Satz 1.15. Bei einer Ellipsenbewegung Σ/Σ∗ lauft jeder nicht auf dem Gangpolkreis k = p liegendePunkt Z des Gangsystems Σ auf einer Ellipse b∗Z . Alle Bahnellipsen besitzen denselben Mittelpunkt,namlich den gemeinsamen Schnittpunkt S∗ aller Bahngeraden.

8Hierbei ist naturlich a 6= 0, l vorauszusetzen, was bedeutet, dass Z nicht mit einem der beiden Punkte X, Y zusam-menfallt. (Diese laufen ja auf Geraden.)

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Figur 1.27. Ellipsenbewegung:Hullkurve h∗ der Geraden g =XY .

Was ist die Hullkurve h∗ der Geraden g := XY ? Die Hullbahnnormale ist der Polstrahl n normal zu g.Der momentane Hullpunkt H ist der Schnittpunkt von g und n (Figur 1.27). Die Gerade g besitzt dennormierten Richtungsvektor n = [cos ϕ, sin ϕ]>; X(l cos ϕ, 0) kann als Aufpunkt genommen werden.Die Parameterdarstellung von g lautet somit:

g :[

x∗

y∗

]=

[l cos ϕ

0

]+ λ ·

[cos ϕsin ϕ

](1.37)

Die Gerade n beinhaltet den Momentanpol P ∗(l cosϕ,−l sin ϕ) und besitzt n als Normalvektor; ihreGleichung ist daher:

n : cos ϕ · (x∗ − l cos ϕ) + sin ϕ · (y∗ + l sin ϕ) = 0 (1.38)

Durch Einsetzen von (1.37) in (1.38) erhalten wir

λ = −l sin2 ϕ.

Die Koordinaten des Hullpunktes H sind also

[x∗

y∗

]=

[l cos3 ϕ−l sin3 ϕ

](1.39)

Fur laufendes ϕ stellt (1.39) die Parameterdarstellung der gesuchten Hullkurve h∗ dar. Die Gleichungvon h∗ erhalten wir durch Eliminieren des Parameters ϕ aus (1.39) (Ubungsaufgabe!); sie lautet:

(x∗2 + y∗2 − l2)3 = −27 · l2 · x∗2 · y∗2 (1.40)

Es handelt sich bei h∗ um eine trizirkulare Kurve 6. Ordnung. Sie heißt Astroide, ist symmetrisch bzgl.

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Kinematik und Robotik 25

der x∗- und bzgl. der y∗-Achse und besitzt 4 Spitzen in den Punkten (±l, 0), (0,±l).

Figur 1.28. Die Ellipsenbewe-gung als Gleitfuhrung: Die beidenKreise k1 und k2 gleiten langs derbeiden Geraden g∗1 und g∗2 .

Figur 1.29. Oldhamkupplung.

Weitere Bemerkungen zur Ellipsen- bzw. Oldhambewegung:

1. Eine Ellipsenbewegung liegt auch bei folgender Gleitfuhrung vor: Zwei Kreise k1 und k2 desGangsystems Σ gleiten langs zweier Geraden g∗1 und g∗2 des Rastsystems Σ∗ (Figur 1.28). DieMittelpunkte M1 und M2 durchlaufen namlich dann bei Σ/Σ∗ zwei zu g∗1 und g∗2 parallele Bahn-geraden g∗1 und g∗2.

Umgekehrt liegt eine Oldhambewegung vor, wenn zwei Geraden g∗1 und g∗2 langs zweier Kreisek1 und k2 gleiten.

2. Eine praktische Anwendung der Oldhambewegung ist die Oldhamkupplung (Figur 1.29). Sieubertragt eine Rotation um eine Achse a auf eine Rotation um eine zu a parallele Achse a, wobeidie Winkelgeschwindigkeiten der beiden Rotationen ubereinstimmen.

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1.8 Gelenkvierecke

Definition 1.11. Bewegen sich bei einem Zwanglauf Σ/Σ∗ zwei Punkte A und B des GangsystemsΣ auf zwei Kreisen b∗A und b∗B des Rastsystems Σ∗, dann spricht man von einer Koppelbewegung.Es seien A∗ und B∗ die Mittelpunkte von b∗A und b∗B . Der die Koppelbewegung realisierende Me-chanismus besteht dann aus dem Viereck A∗B∗BA, in dessen Ecken Drehgelenke angebracht sind.Man spricht daher auch von einem Gelenkviereck (engl. 4-bar mechanism). Der Stab A∗B∗ wirdals Steg bezeichnet; er reprasentiert das Rastsystem Σ∗. Die beiden Stabe A∗A und B∗B heißenArme; der das Gangsystem Σ reprasentierende Stab AB heißt Koppel.

Figur 1.30. Gelenkviereck A∗B∗BA:Bestimmung des Momentanpoles; Ge-schwindigkeitsverteilung.

Die vier Stablangen bezeichnen wir fur das weitere mit a := A∗A, b := B∗B, c := AB, d := A∗B∗.

Der Momentanpol P ∗ zu einem Zeitpunkt t befindet sich im Schnittpunkt der Tragergeraden derbeiden Arme A∗A und B∗B (Figur 1.30). Eine Fernpolstellung liegt somit vor, wenn zu irgendeinemZeitpunkt die beiden Arme zueinander parallel sind. Diese parallelen Lagen konnen gemaß Figur 1.31konstruiert werden. Ob und wieviele Fernpolstellungen existieren, ist aquivalent mit der Frage nach der

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Konstruierbarkeit der Dreiecke mit Seitenlangen d, c, |b− a| bzw. d, c, a + b.

Figur 1.31. Gelenkviereck: Kon-struktion der Fernpolstellungen.

Sogenannte Totlagen stellen sich ein, wenn die Koppel mit einem der beiden Arme kollinear ist. DieKonstruktion moglicher Totlagen ist in Figur 1.32 dargestellt.

Figur 1.32. Gelenkviereck: Konstruktionder Totlagen.

Man spricht von einer Durchschlagslage, wenn alle vier Stabe kollinear sind. Das kann nur vorkom-men, wenn entweder

(a) a + b = c + d

oder

(b) a± c = c± d

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ist (siehe Figur 1.33).

Figur 1.33. Gelenkviereck: Durchschlagsla-gen.

Ist Z ein beliebiger Punkt des Gangsystems Σ, so lasst sich sein Geschwindigkeitsvektor vZ mitHilfe der in Abschnitt 1.3.1, Bemerkung 1.1, 3.) beschriebenen Methode leicht konstruieren, soferneder Geschwindigkeitsvektor eines anderen Punktes (etwa A) bereits bekannt ist (Figur 1.30).

Die Bahnkurve b∗Z eines Punktes Z ∈ Σ bei einer Koppelbewegung heißt Koppelkurve. Es handeltsich dabei um eine trizirkulare algebraische Kurve 6. Ordnung.

1.8.1 Klassifikation der Gelenkvierecke

Bemerkung 1.2. Durch Standpunktwechsel des Beobachters kann das Rastsystem in jeden der vierStabe verlegt werden, wodurch nur eine Permutation der Begriffe ”Steg”, ”Arme” und ”Koppel” statt-findet. Welcher der vier Stabe auch immer als Rastsystem ausgezeichnet wird – der gegenuberliegendeStab fuhrt gegen diesen stets eine Koppelbewegung aus.

Ist bei einem der vier Drehgelenke eine volle Umdrehung moglich, dann heißt der um dieses Gelenkrotierende Arm Kurbel, andernfalls nennt man ihn Schwinge.

Eine volle Umdrehung – etwa beim Gelenk A∗ – ist genau dann moglich, wenn die beiden in Figur 1.34eingezeichneten Dreiecke A1B1B

∗ und A2B2B∗ konstruierbar sind. Wir konnen o.B.d.A. voraussetzen,

dass etwa der in diesem Gelenk endende Stab A∗B∗ großer gleich dem anderen Stab mit Endpunkt inA∗ ist:

d ≥ a (1.41)

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Kinematik und Robotik 29

Figur 1.34. Gelenkviereck: VolleUmdrehung beim Gelenk A∗.

Die beiden Dreiecke sind genau dann konstruierbar, wenn die beiden Bedingungen9

a + d ≤ b + c

|c− b| ≤ d− a

erfullt sind. Die zweite dieser Bedingungen ist wegen (1.41) aquivalent mit:

c− b ≤ d− a

b− c ≤ d− a

Daher haben wir insgesamt:

Unter der Voraussetzung (1.41), ist eine volle Umdrehung bei A∗ ist genau dann moglich, wenn

a + b ≤ c + da + c ≤ b + da + d ≤ b + c

(1.42)

Insbesondere folgt aus diesen drei Ungleichungen, dass a die kleinste Stablange ist. Als Resultat habenwir:

Satz 1.16. Dafur, dass bei einem Gelenk eines Gelenkvierecks eine volle Umdrehung moglich ist, istdas Eintreten der beiden folgenden Bedingungen notwendig und hinreichend:

(a) Einer der beiden Stabe mit Endpunkt in diesem Gelenk ist der kurzeste aller vier Stabe.

(b) Die Summe aus der Lange des kurzesten Stabes und der Lange eines der drei anderen Stabeist immer kleiner oder gleich der Summe der beiden anderen Stablangen.

Mit Hilfe dieses Satzes lassen sich die Gelenksvierecke wie folgt klassifizieren:

• Ein Gelenkviereck heißt Doppelkurbel, wenn bei beiden an den Steg anschließenden Gelenke A∗

und B∗ volle Umdrehungen moglich sind. Eine Doppelkurbel liegt genau dann vor, wenn die dreiBedingungen

d + a ≤ b + c

d + b ≤ a + c

d + c ≤ a + b

erfullt sind.

9Hier gehen die beiden Dreiecksungleichungen ein.

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• Von einer Kurbelschwinge spricht man, wenn eines der beiden Gelenke am Steg eine volleUmdrehung zulasst, wahrend beim anderen nur ein Schwingen moglich ist. Diese Situation wirddurch

a + b ≤ c + d

a + c ≤ b + d

a + d ≤ b + c

(volle Umdrehung bei A∗, Schwingen bei B∗) bzw. durch

b + a ≤ c + d

b + c ≤ a + d

b + d ≤ a + c

(Schwingen bei A∗, volle Umdrehung bei B∗) charakterisiert.

• Ist bei beiden Gelenken am Steg nur ein Schwingen moglich, dann nennt man das GelenkviereckDoppelschwinge. Hier unterscheidet man noch genauer:

(a) Bei einer Doppelschwinge 1. Art ist bei beiden Gelenken an der Koppel eine volle Umdre-hung moglich. Dieser Fall tritt genau fur

c + a ≤ b + d

c + b ≤ a + d

c + d ≤ a + b

ein.

(b) Eine Doppelschwinge 2. Art tritt auf, wenn die beiden Gelenke an der Koppel ebenfallsnur ein Schwingen zulassen. Eine Doppelschwinge 2. Art liegt genau dann vor, wenn keinesder oben angegebenen Tripel von Ungleichungen erfullt ist.

1.9 Mehrere Systeme

Definition 1.12.

(a) Ein ebener Mechanismus besteht aus einer Anzahl von starren Korpern (Systemen)Σ0, . . . , Σn−1, deren freie Beweglichkeit durch gewissen Verbindungen (Gelenke) einge-schrankt wird. Besitzt ein ebener Mechanismus n Systeme, so spricht man von einer n-gliedrigen kinematischen Kette.

(b) Kann jedes Glied eines Mechanismus gegenuber jedem anderen nur eine einparametrige Bewe-gung ausfuhren, so spricht man von einer Zwanglaufkette.

(c) Ein Mechanismus, bei dem jedes Glied mit mindestens zwei anderen uber Gelenke verbundenist, heißt geschlossener Mechanismus.

(d) Sind alle Gelenke eines ebenen Mechanismus Drehgelenke, so spricht man von einem ebenenGelenkwerk.

1.9.1 Die Grublersche Formel

Wir betrachten eine kinematische Kette mit n Systemen Σ0, . . . , Σn−1 und m Gelenken G1, . . . , Gm.Das Gelenk Gi besitze den Freiheitsgrad fi (fi = 1, 2). Wir zeichnen eines der Systeme – etwa Σ0 – als”festes” System (Rastsystem, Gestell) aus und nehmen vorerst an, dass alle Gelenke Gi ausgebaut sind.

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Kinematik und Robotik 31

Dann besitzt jedes der Systeme Σ1, . . . , Σn−1 gegenuber dem Rastsystem Σ0 einen Freiheitsgrad von3 (Anzahl der Parameter der Gruppe SE(2)).10 Um alle moglichen Konstellationen der n Systeme zubeschreiben, benotigen wir also 3 · (n− 1) Parameter. Durch den Einbau des i-ten Gelenks Gi werdendiesem System von 3·(n−1) Parametern 3−fi Bedingungen (Gleichungen in den Parametern) auferlegt.Durch Einbau aller Gelenke erhalten wir somit

∑mi=1(3−fi) Bedingungen. Durch jede diese Bedingungen

kann i.a. ein Parameter eliminiert werden. Die verbleibende Parameteranzahl (der Freiheitsgrad) derkinematischen Kette ist daher i.a.

f = 3 · (n− 1)−m∑

i=1

(3− fi). (1.43)

Diese Formel geht auf M. Grubler, 1883 zuruck.

Liegt ein ebenes Gelenkwerk vor, also eine kinematische Kette, deren samtliche Gelenke Drehgelenkesind, dann ist fi = 1 fur i = 1, . . . , m. Die Grublersche Formel vereinfacht sich dann zu

f = 3 · (n− 1)− 2 ·m. (1.44)

Die Bedingung, dass ein ebenes Gelenkwerk einparametrig (zwanglaufig) beweglich ist (f = 1), lautetsomit

3 · n− 2 ·m = 4. (1.45)

Das ist die sogenannte Zwanglaufbedingung.

Bemerkung 1.3. Der tatsachliche Freiheitsgrad einer kinematischen Kette kann vom theoretischennach (1.43) berechneten Freiheitsgrad f wegen der beiden nachfolgend angefuhrten Grunde abweichen:

1. Die Grublersche Formel beruht auf dem einfachen Zahlen von Bedingungen. Manche der auf-tretenden Bedingungen konnen jedoch von anderen abhangen, was bedeutet, dass die Anzahl derrelevanten Bedingungen dann kleiner als

∑mi=1(3− fi) ist. In diesem Fall ergibt sich eine großere

Anzahl freier Parameter als f , also ein tatsachlicher Freiheitsgrad der großer als der theoretischeist (siehe Beispiel 1.3).

2. Es kann vorkommen, dass die∑m

i=1(3 − fi) Gleichungen in den 3 · (n − 1) Parametern (zumTeil) komplexe Losungsvarietaten besitzen. Das bewirkt, dass der tatsachliche Freiheitsgrad u.U.kleiner als der theoretische ausfallt (siehe Beispiel 1.4).

Beispiel 1.1. Gelenkviereck. Bei einem Gelenkviereck A0B0A3B3 (Figur 1.35) handelt es sich umeinen 4-gliedrigen geschlossenen Mechanismus. Die vier Systeme sind das durch den Steg A0B0 re-prasentierte System Σ0 (Rastsystem), die zu den beiden Armen A0A3 und B0B3 gehorenden SystemeΣ1 und Σ2 und das mit der Koppel A3B3 verbundene System Σ3. Die Anzahl der Gelenke ist ebenfallsvier: m = 4. Da es sich um lauter Drehgelenke handelt ist, fi = 1 fur i = 1, . . . , 4. Der theoretischeFreiheitsgrad f eines Gelenkvierecks ist daher

f = 3 · 3− 2 · 4 = 1 (1.46)

in Ubereinstimmung damit, dass es sich bei der Koppelbewegung um einen einparametrigen Bewegungs-

10Stattet man jedes der Systeme Σi mit einem kartesischen Normalkoordinatensystem {Oi; ei1, ei2} aus, dann sinddiese drei Parameter etwa die beiden Koordinaten ai, bi des Koordinatenursprunges Oi bzgl. des Koordinatensystems{O0; e01, e02} des festen Systems und der Winkel ϕi := ∠(e01, ei1).

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vorgang handelt.

Figur 1.35. Anwendung derGrublerschen Formel auf einGelenkviereck.

Wir wollen nun die oben angesprochene Zahlung der Parameter und der Bedingungen fur diesen Fallnachvollziehen. Dazu bezeichnen wir die Stablangen in der gewohnten Weise:

a := A0A3, b := B0B3, c := A3B3, d := A0B0.

In den Systemen Σi wahlen wir geeignete Koordinatensysteme {Oi; ei1, ei2} (Figur 1.35). Als Parameterdes Systems Σi konnen dann etwa die Koordinaten ai, bi von Oi bzgl. des Rastkoordinatensystems{O0; e01, e02} und der Winkel ϕi = ∠(e01, ei1) gewahlt werden (i = 1, 2, 3). Sind alle 4 Gelenkeausgebaut, gibt es eine 9-parametrige Menge von moglichen Konstellationen der vier Systeme; die neunParameter sind ai, bi, ϕi. i = 1, 2, 3.

Wir bauen nun nacheinander die vier Gelenke ein:

• Der Einbau des Gelenks G1 liefert die beiden Bedingungen:

a1 = 0 (1.47)

b1 = 0 (1.48)

• Durch Einbau von G2 erhalten wir:

a2 = d (1.49)

b2 = 0 (1.50)

• Mit dem Einbau von G3 ergibt sich:

a3 = a cosϕ1 (1.51)

b3 = a sin ϕ1 (1.52)

• Schließlich bekommen wir durch den Einbau von G4:

a3 + c cos ϕ3 = a2 + b cosϕ2 (1.53)

b3 + c sin ϕ3 = b2 + b sin ϕ2 (1.54)

Wir haben also insgesamt 4 · 2 = 8 Bedingungen an die 3 · 3 = 9 Parameter, was den besagtenFreiheitsgrad f = 1 liefert.

Anmerkung: Durch Einsetzen der ersten sechs in die letzten zwei der acht Gleichungen (1.47), ...,(1.54) wird das Gleichungssystem auf die zwei Bedingungen

a cosϕ1 − b cosϕ2 + c cosϕ3 = d (1.55)

a sin ϕ1 − b sin ϕ2 + c sin ϕ3 = 0 (1.56)

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Kinematik und Robotik 33

in den Parametern ϕ1, ϕ2 und ϕ3 reduziert. Dieses Gleichungssystem kann dann etwa nach ϕ2 und ϕ3

aufgelost werden und liefert so die Abhangigkeit dieser beiden Winkel vom Winkel ϕ1 (Antriebswinkel).Eine numerische Analyse der Koppelbewegung (Parameterdarstellung der Bahnkurven, Berechnung derWinkelgeschwindigkeiten bei den Gelenken, usw.) kann basierend auf diesen beiden Gleichungen durch-gefuhrt werden.11

Beispiel 1.2. Ebene Plattform. Dieser Mechanismus besteht aus n = 8 Systemen (Figur 1.36) undm = 9 Gelenken: Die Basis Σ0 ist mit der Plattform Σ7 uber drei Teleskoparme (Beine, legs) verbunden,an deren Enden sich Drehgelenke befinden. Jeder dieser Teleskoparme reprasentiert zwei Systeme. AlsGelenke haben wir neben den sechs Drehgelenken also noch drei Schubgelenke. Alle Gelenke besitzendaher den Freiheitsgrad 1. Als Freiheitsgrad fur den Mechanismus erhalten wir somit nach Grubler:

f = 3 · 7− 2 · 9 = 3

Figur 1.36. Ebene Plattform.

Beispiel 1.3. Sind bei einem Gelenkviereck gegenuberliegenden Seiten gleich lang (a = b, c = d),dann kann dieses entweder als Gelenkparallelogramm oder als Gelenkantiparallelogramm zusam-mengebaut werden (siehe Figur 1.37). Jeder der beiden Mechanismen besitzt einen Freiheitsgrad von1.

Da im Fall des Gelenkparallelogramms der Momentanpol zu jedem Zeitpunkt ein Fernpunkt ist, ist dieBewegung der Koppel gegenuber dem Steg eine krumme Schiebung (siehe Abschnitt 1.6.2). SamtlicheBahnkurven sind daher zu den Bahnkreisen kA3 und kB3 von A3 und B3 kongruente Kreise.12 Um in denbeiden Strecklagen das Durchschlagen des Gelenkparallelogramms in das Gelenkantiparallelogramm zuverhindern, wird daher oft ein zusatzlicher Arm C0C3 eingefuhrt, der uber zwei zusatzliche Drehgelenkeeinen Punkt C3 des System der Koppel mit seiner Bahnkreismitte C0 im System des Stegs verbindet(Figur 1.38). Fuhren wir fur diesen durch den Zusatzarm erweiterten Mechanismus die Berechnung desFreiheitsgrades nach Grubler durch (Anzahl n der Systeme = 5, Anzahl m der Drehgelenke = 6),dann erhalten wir den theoretischen Freiheitsgrad

f = 3 · 4− 2 · 6 = 0,

11Siehe etwa in [Hus 1997, Seite 119 – 122].12Es kann gezeigt werden, dass neben dem trivialen Fall der kontinuierlichen Drehung um einen Punkt O die Koppel-

bewegung des Gelenkparallelogramms die einzige Bewegung mit lauter Kreisbahnen ist.

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obwohl der tatsachliche Freiheitsgrad gleich 1 ist.13

Figur 1.37. Gelenkparallelo-gramm und Gelenkantiparalle-logramm.

Figur 1.38. Gelenkparal-lelogramm: Verhindern desDurchschlagens durch einenzusatzlichen Arm.

Beispiel 1.4. Gilt fur Seitenlangen a := A0A3, b := B0B3, c := A3B3, d := A0B0 eines Gelenkvier-ecks A0B0B3A3 die Ungleichung

a + b + c < d,

so kann dieses nicht zusammengebaut werden und ist daher auch nicht beweglich, obwohl die Grub-lersche Formel eine theoretischen Freiheitsgrad von 1 liefert!

1.9.2 Uberlagerung von Zwanglaufen, Satz von Aronhold

Wir betrachten eine Zwanglaufkette (f = 1). Σ0, Σ1,Σ2 seien drei Systeme dieser Kette. Zu diesengibt es die drei Relativbewegungen Σ1/Σ0, Σ2/Σ1 und Σ2/Σ0. Sind weiters

Σ1/Σ0 : z0 = d0 + eiϕ0 · z1, (1.57)

Σ2/Σ1 : z1 = d1 + eiϕ1 · z2 (1.58)

13Durch den Einbau weiterer Zusatzarme kann auf diese Weise der theoretische Freiheitsgrad sogar auf einen beliebigkleinen ganzzahligen negativen Wert gebracht werden.

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Kinematik und Robotik 35

die komplexen Beschreibungen der Relativbewegungen Σ1/Σ0 bzw. Σ2/Σ1, dann lasst sich jene vonΣ2/Σ0 durch Einsetzen von (1.58) in (1.57) gewinnen:

Σ2/Σ0 : z0 = d0 + eiϕ0 · (d1 + eiϕ1 · z2) = d0 + eiϕ0 · d1 + ei(ϕ0+ϕ1) · z2 (1.59)

Hierbei sind ϕ0, d0, ϕ1 und d1 Funktionen eines gemeinsamen Parameters t (”Zeit”):

ϕ0 = ϕ0(t), d0 = d0(t), ϕ1 = ϕ1(t), d1 = d1(t).

Wir berechnen nun die Momentangeschwindigkeitsvektoren der drei Relativbewegungen. Der Momen-tangeschwindigkeitsvektor v01 der Relativbewegung Σ1/Σ0 ist

v01 = d0 + i · ϕ0 · eiϕ0 · z1 = d0 + i · ω01 · eiϕ0 · z1 (1.60)

Das ist seine Darstellung bzgl. des Systems Σ0. Die Darstellung des Geschwindigkeitsvektors der Rela-tivbewegung Σ2/Σ1 bzgl. des Systems Σ1 erhalten wir durch Differenzieren von (1.58):

v12 = d1 + i · ϕ1 · eiϕ1 · z2 = d1 + i · ω12 · eiϕ1 · z2 (1.61)

Seine Darstellung bzgl. Σ0 erhalten wir durch Multiplikation mit eiϕ0 :

v12 = eiϕ0 · (d1 + i · ω12 · eiϕ1 · z2) (1.62)

Schließlich konnen wir die Darstellung des Momentangeschwindigkeitsvektor v02 der RelativbewegungΣ2/Σ0 bzgl. Σ0 aus (1.59) berechnen:

v02 = d0 + i · ϕ0 · eiϕ0 · (d1 + eiϕ1 · z2) + eiϕ0 · (d1 + i · ϕ1 · ei·ϕ1 · z2)= d0 + i · ω01 · eiϕ0 · (d1 + eiϕ1 · z2) + eiϕ0 · (d1 + i · ω12 · ei·ϕ1 · z2) (1.63)

Aus (1.63) folgt:

v02 = d0 + i · ω01 · eiϕ0 · (d1 + eiϕ1 · z2)︸ ︷︷ ︸=z1︸ ︷︷ ︸

=v01

+ eiϕ0 · (d1 + i · ω12 · ei·ϕ1 · z2)︸ ︷︷ ︸=v12

,

also

v02 = v01 + v12.

Ebenso verhalten sich die momentanen Winkelgeschwindigkeiten wegen

v02 = d0 + i · ω01 · eiϕ0 · (d1 + eiϕ1 · z2) + eiϕ0 · (d1 + i · ω12 · ei·ϕ1 · z2)= d0 + i · ω01 · eiϕ0 · d1 + eiϕ0 · d1 + i · (ω01 + ω12︸ ︷︷ ︸

=ω02

) · ei(ϕ0+ϕ1) · z2

additiv:

ω02 = ω01 + ω12.

Wir fassen zusammen:

Satz 1.17. Sind Σ0, Σ1, Σ2 drei Systeme einer Zwanglaufkette und v01, v12, v02 die Geschwindig-keitsvektoren eines Punktes bei den Relativbewegungen Σ1/Σ0, Σ2/Σ1 und Σ2/Σ0, dann gilt

v02 = v01 + v12. (1.64)

Die Winkelgeschwindigkeiten ω01, ω12, ω02 der drei Relativbewegungen verhalten sich ebenfalls ad-ditiv:

ω02 = ω01 + ω12. (1.65)

Wir berechnen nun die Momentanpole P01, P12, P02 der obigen drei Relativbewegungen. Den auf dasSystem Σ1 bezogenen Ortsvektor p01 des Momentanpoles P01 errechnen wir durch Nullsetzen derrechten Seite von (1.60):

z1 = p01 = − d0

i · ω01 · eiϕ0=

d0 · iω01 · eiϕ0

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36 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Durch Einsetzen in (1.58) erhalten wir den Ortsvektor p01 von P01 bezogen auf das System Σ2:

p01 =d0 · i

ω01 · ei(ϕ0+ϕ1)− d1

eiϕ1

Der auf Σ2 bezogene Ortsvektor p12 des Momentanpoles P12 ergibt sich durch Nullsetzen der rechtenSeite von (1.62):

p12 =d1 · i

ω12 · eiϕ1

Schließlich erhalten wir den auf Σ2 bezogenen Ortsvektor p02 des Momentanpoles P02 durch Nullsetzender rechten Seite von (1.63):

p02 =d0 · i − ω01 · eiϕ0 · d1 + eiϕ0 · d1 · i

(ω01 + ω12) · ei(ϕ0+ϕ1)

=1

ω01 + ω12·( d0 · i

ei(ϕ0+ϕ1)− ω01 · d1

eiϕ1︸ ︷︷ ︸=ω01·p01

+d1 · ieiϕ1︸ ︷︷ ︸

=ω12·p12

)

=1

ω01 + ω12· (ω01 · p01 + ω12 · p12)

Hieraus ist ersichtlich, dass die drei Momentanpole P01, P12 und P02 kollinear liegen. Durch eineeinfache Zusatzuberlegung kann weiters auch nachgewiesen werden, dass dieses Resultat auch gultigist, wenn einer oder alle drei der Punkte Pij Fernpunkte sind.

Das Teilverhaltnis τ der Punkte P01, P02 und P12 ist durch

−−−−→P01P12 = τ · −−−−→P02P12

bestimmt. Wegen

−−−−→P02P12 = p12 − 1

ω01 + ω12· (ω01 · p01 + ω12 · p12) =

ω01

ω01 + ω12︸ ︷︷ ︸=ω02

· (p12 − p01)

=ω01

ω02· −−−−→P01P12

folgt

τ =ω02

ω01

Wir haben damit den

Satz 1.18. (Dreipolsatz von Aronhold, 1872.) Σ0,Σ1, Σ2 seien drei Systeme einer Zwanglaufkette.Zu einem festen Zeitpunkt t seien mit P01, P02 und P12 die Momentanpole und mit ω01, ω02 undω12 die momentanen Winkelgeschwindigkeiten der Relativbewegungen Σ1/Σ0, Σ2/Σ0 und Σ2/Σ1

bezeichnet. Dann gilt:Die drei Momentanpole liegen kollinear und soferne nicht alle drei Momentanpole Fernpunkte sind,ist

−−−−→P01P12 =

ω02

ω01· −−−−→P02P12. (1.66)

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Kinematik und Robotik 37

Beispiel 1.5. In Figur 1.39 ist ein Fahrzeug (blau, System Σ1) dargestellt. Die Straße (schwarz) stelltdas Rastsystem Σ0 dar und das linke Vorderrad (rot) ein weiteres System Σ2.

• Die Bewegung Σ1/Σ0 ist eine reine Schiebung – der zugehorige Momentanpol P01 ist der Fern-punkt der zur Schiebrichtung normalen Richtung; die Winkelgeschwindigkeit ω01 ist gleich null:

ω01 = 0 (1.67)

• Die Bewegung Σ2/Σ1 ist eine Drehung um den Mittelpunkt des Kreises k; der Momentanpol P12

ist daher dieser Mittelpunkt.

• Bei der Bewegung Σ2/Σ0 schließlich handelt es sich um das Abrollen des Kreises k auf der Geradeng: k ist die Gangpolkurve und g die Rastpolkurve dieses Zwanglaufes. Der Momentanpol P02 falltin den Beruhrpunkt von g und k.

Die drei Momentanpole P01, P12, P02 liegen kollinear wie es gemaß dem Satz von Aronhold seinmuss. Wegen (1.67) folgt aus (1.65):

ω12 = ω02

Figur 1.39. Bewegung einesFahrzeugs.

1.9.3 Polplane

Wir betrachten eine n-gliedrige Zwanglaufkette mit den Systemen Σ0, . . . , Σn−1. Zu je zwei SystemenΣi, Σj existiert die Relativbewegung Σi/Σj . Zu jedem fest gewahlten Zeitpunkt t gibt es fur diese

Relativbewegung einen Momentanpol Pij . Wir haben daher insgesamt(n2

)= n·(n−1)

2 Momentanpolezum Zeitpunkt t. Wegen des Satzes von Aronhold liegen die drei Momentanpole Pij , Pjk, Pik auf

einer Geraden aijk (Polgerade). Es gibt daher(n3

)= n·(n−1)·(n−2)

3·2 solche Polgeraden. Die geometrische

Konfiguration aus den(n2

)Polen und den

(n3

)Polgeraden heißt Polplan der Zwanglaufkette zum

Zeitpunkt t.

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38 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Beispiel 1.6. Ein Gelenkviereck besteht aus n = 4 Systemen, namlich dem Steg Σ0, den beiden ArmenΣ1 und Σ2 und der Koppel Σ3. Der Polplan enthalt daher

(42

)= 6 Pole und

(43

)= 4 Polgeraden (Figur

1.40).

Figur 1.40. Polplan eines Ge-lenkvierecks.

1.10 Eigenschaften zweiter Differentiationsordnung

1.10.1 Bewegung des begleitenden Zweibeins einer ebenen Kurve

Wir betrachten eine in einer Ebene Σ1 liegende Kurve k (Figur 1.41). t bzw. n bezeichne die Tangentean k bzw. Normale von k in einem Kurvenpunkt P . Lasst man P auf der Kurve k laufen, dann hullt t dieKurve k ein, wahrend die Geradenschar n als Hullkurve die Evolute k∗ von k besitzt. k∗ ist gleichzeitigdie Ortskurve der Krummungsmitten von k: Der jeweilige Hullpunkt K ist die Krummungsmitte von kfur die jeweilige Position des Punktes P .

Das Geradenpaar (t, n) heißt begleitendes Zweibein von k. Die Bewegung des begleitendes Zweibeinslangs k ist ein einparametriger Bewegungsvorgang Σ2/Σ1. Das Gangsystem Σ2 wird dabei durch dasbegleitende Zweibein (t, n) reprasentiert.

Da bei der Bewegung Σ2/Σ1 k die Bahnkurve von P ist, liegt der Momentanpol P12 auf n. Andererseitsliegt P12 auf der Hullbahnnormalen von n – d.i. die Normale zu n durch die Krummungsmitte K. Daherist P12 = K und wir haben den

Satz 1.19. Bei der Bewegung des begleitenden Zweibeins einer ebenen Kurve k fallt der Momen-tanpol in die jeweilige Krummungsmitte von k.

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Kinematik und Robotik 39

Figur 1.41. Begleitendes Zwei-bein und Evolute k∗ einer ebenenKurve k.

Anmerkung: Die Punkte der Normalen n durchlaufen bei der Bewegung des begleitenden ZweibeinsParallelkurven zu k.

1.10.2 Eine Anwendung: Bewegung eines einachsigen mobilen Roboters langseiner vorgegebenen Kurve

Figur 1.42. Einachsiger mobi-ler Roboter.

Ein einachsiger mobiler Roboter fahrt auf einer ebenen und horizontalen Platte ( = Rastsystem Σ1).Die beiden Rader besitzen dieselbe Achse aber mechanisch zwei verschieden Wellen (Figur 1.42). Umdie Transportplattform ( = Gangsystem Σ2) des Roboters horizontal zu halten, ist vorne und hinten jeeine Noppe angebracht. Die Reibungseinflusse der Noppen sollen bei unserer Betrachtung vernachlassigt

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40 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

werden. Die Winkelgeschwindigkeiten ωM und ωN der beiden Rader konnen unabhangig voneinandergeregelt werden, wodurch der Roboter lenkbar wird.

Aufgabenstellung: Der unter dem Fahrzeugmittelpunkt liegende Punkt P von Σ2 soll sich langs einerdurch ihre Parameterdarstellung

x1(t) =[

x1(t)y1(t)

](1.68)

gegebene Bahnkurve k ⊂ Σ1 bewegen und zwar so, dass die unter der Langsachse liegende Geradeg stets Tangente von k ist. Wie sind die Winkelgeschwindigkeiten ωM und ωN in Abhangigkeit vomParameter t (= ”Zeit”) zu berechnen?

Losung:

• Zunachst ist klar, dass es sich beim Zwanglauf Σ2/Σ1 um die Bewegung des begleitenden Zwei-beins (g, n) langs der Kurve k handelt. Dabei bezeichnet n die Kurvennormale von k. Diese falltmit der unter der Radachse liegenden Geraden zusammen (Figur 1.43). n hullt daher die Evolutek∗ von k ein und der Hullpunkt von n und k∗ ist der Momentanpol P12, zugleich die jeweiligeKrummungsmitte K von k. Der (vorzeichenbehaftete) Krummungskreisradius ρ berechnet sichdurch14

ρ =(x2

1 + y21)

32

x1y1 − y1x1. (1.69)

ρ ist fur – im Sinne des Durchlaufsinnes des Parameters t – linksgewunde (rechtsgewundene)Kurven positiv (negativ); der Betrag von ρ ist gleich dem Abstand von P und K = P12.

• Der Geschwindigkeitsvektor vP von P ergibt sich durch Ableiten von (1.68):

vP = x1 =[

x1

y1

]

Daher erhalten wir fur seinen Betrag:

vP = |vP | = (x21 + y2

1)12 (1.70)

vP ist die Momentangeschwindigkeit des Punktes P bei Σ2/Σ1.

Figur 1.43. Die Bewegungdes mobilen Roboters langseiner vorgeschriebenen Kur-ve k ist die Bewegungdes begleitenden Zweibeinslangs k.

14Siehe in einem beliebigen Lehrbuch uber elementare Differentialgeometrie oder in einer Formelsammlung.

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Kinematik und Robotik 41

Figur 1.44. Momentange-schwindigkeitsvektoren vP ,vA und vB der Punkte P ,A und B bei der Bewegungdes mobilen Roboters.

• Wir wollen nun die Momentangeschwindigkeiten vA und vB der beiden unter den Radnaben Mund N liegenden Punkte A und B berechnen. A bzw. B liege auf dem linken bzw. rechten”Ufer” von k im Sinne des durch den Parameter t vorliegenden Durchlaufsinn. Die zugehorigenMomentangeschwindigkeitsvektoren seien mit vA, vB bezeichnet. Die beiden Punkte A und Bbeschreiben bei Σ2/Σ1 Parallelkurven zu k im Abstand d

2 . Hierbei bezeichnet d den Abstand derbeiden Radnaben M und N . Da die Momentangeschwindigkeiten proportional zum Abstand vomMomentanpol P12 sind, erhalten wir unter Beachtung von Figur 1.44 die folgenden Beziehungen:

vB + vA

2= vP

vB − vA

d=

vP

ρ

Daraus errechnen wir:

vA =12· vP · (2− d

ρ) (1.71)

vB =12· vP · (2 +

d

ρ) (1.72)

mit ρ und vP gemaß (1.69) und (1.70).

Setzen wir zusatzlich

|ρ| ≥ d

2

voraus, was bedeutet, dass die Krummung der gegebenen Kurve k im Verhaltnis zum Radabstandd nicht zu groß ist, dann sind die aus (1.71) und (1.72) berechneten MomentangeschwindigkeitenvA und vB stets großer gleich null. Andernfalls kann eine der beiden MomentangeschwindigkeitenvA, vB auch einen negativen Wert annehmen, was bedeutet, dass sich in diesem Fall die Raderin entgegengesetzte Richtungen drehen.

• Die Momentangeschwindigkeiten vA bzw. vB der Punkte A bzw. B stimmen mit jenen derdaruberliegenden Radnaben M bzw. N uberein. Ist r der Radius der Rader, dann ergibt sich daher

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unter Berucksichtigung von (1.8) und Beispiel 1.5 fur die gesuchten Winkelgeschwindigkeiten ωM

und ωN :

ωM =vA

r(1.73)

ωN =vB

r(1.74)

Hierbei sind naturlich vA und vB gemaß (1.71) und (1.72) zu substituieren.

1.10.3 Die Formel von Euler-Savary

Wir betrachten einen Zwanglauf Σ1/Σ0 mit der Rastpolkurve p∗ ⊂ Σ0 und der Gangpolkurve p ⊂ Σ1

(Figur 1.45). Zum Zeitpunkt t beruhren p∗ und p einander im Momentanpol P01. Deren gemeinsameTangente tp heißt Walztangente; die gemeinsame Normale sei mit np bezeichnet. Es sei weiters Kbzw. K∗ die Krummungsmitte von p bzw. p∗ zum Zeitpunkt t.

Figur 1.45. Herleitungder Konstruktion derKrummungsmitte Z∗ derBahnkurve k eines Punktes Zbei einem Zwanglauf.

Die Normale nk der Bahnkurve k eines Punktes Z ist der Polstrahl ZP01; die Tangente tk an k in Zsteht rechtwinklig dazu.

Wir wollen die Krummungsmitte Z∗ von k fur den Punkt Z bestimmen. Zur Losung dieser Aufgabefuhren wir zwei weitere Systeme ein, namlich

• das durch das begleitende Zweibein (tk, nk) von k reprasentierte System Σ2 und

• das durch das gemeinsame begleitende Zweibein (tp, np) von p∗ und p reprasentierte System Σ3.

Wie wir im obigen Abschnitt erkannt haben, ist der Momentanpol P02 der Bewegung Σ2/Σ0 dieKrummungsmitte von k fur den Punkt Z, also der gesuchte Punkt Z∗.

Aus demselben Grund wissen wir, dass der Momentanpol P03 bzw. P13 der Relativbewegung Σ3/Σ0

bzw. Σ3/Σ1 in die Krummungsmitte K∗ von p∗ bzw. K von p fallt.

Da Z bei der Relativbewegung Σ2/Σ1 fest bleibt und diese Bewegung daher eine Drehung um Z ist,ist Z der Momentanpol P12 von Σ2/Σ1: P12 = Z.

Bei der Bewegung Σ2/Σ3 schleift die Gerade nk durch den Punkt P01. Der Momentanpol P23 vonΣ2/Σ3 ist daher auf der Normalen n zu nk durch P12 zu suchen. Andererseits muss P23 auf derPolgeraden a123 = P12P13 = ZK liegen; also ist P23 = ZK ∩ n.

Die gesuchte Krummungsmitte Z∗ = P02 finden wir schließlich im Schnitt der beiden Polgeradena023 = P23P03 = P23K

∗ und a012 = nk.

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Kinematik und Robotik 43

Bei bekannten Krummungsmitten K, K∗ der beiden Polkurven p, p∗, haben wir damit eine einfacheKonstruktion der Krummungsmitte Z∗ einer Bahnkurve bei einem ebenen Zwanglauf erhalten15 (Figur1.46).

Figur 1.46. Konstruktion derKrummungsmitte Z∗ der Bahn-kurve k eines Punktes Z bei einemZwanglauf.

Wir wollen nun die Verwandtschaft V, die zu einem festen Zeitpunkt t jedem Punkt Z die Krummungs-mitte Z∗ seiner Bahnkurve zuordnet, auch analytisch beschreiben. Dazu verwenden wir ein Koordina-tensystem, dessen x- bzw. y-Achse mit tp bzw. np zusammenfallt (Figur 1.47). Die Polarkoordinatendes Punktes Z bzw. Z∗ bzgl. dieses Koordinatensystems seien mit (r, θ) bzw. (r∗, θ) bezeichnet. Wirsetzen außerdem a := KP01, a∗ := K∗P01 und h := P23P01. Weiters bezeichnen wir den Fußpunktdes Lotes aus K bzw. K∗ auf nk mit L bzw. L∗.

Figur 1.47. Herleitungder Formel von Euler-Savary.

Da die beiden Dreiecke P01P23Z und LKZ ahnlich sind, folgt:

h

r=

a cos θ

r − a sin θ(1.75)

Analog ergibt sich aus der Ahnlichkeit der beiden Dreiecke P01P23Z∗ und L∗K∗Z∗:

h

r∗=

a∗ cos θ

r∗ − a∗ sin θ(1.76)

Durch Eliminieren von h aus (1.75) und (1.76) erhalten wir

1r− 1

r∗=

1sin θ

·(

1a− 1

a∗

)(1.77)

bzw., wenn wir

c :=1a− 1

a∗15Diese Konstruktion geht auf G. Koenigs (1907) zuruck.

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44 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

setzen:

1r− 1

r∗=

c

sin θ(1.78)

Das ist die bekannte Formel von Euler-Savary.

Anmerkung: Fur einen festen Polstrahl ist θ und damit die rechte Seite von (1.78) eine Konstante!

Mit der Formel von Euler-Savary lassen sich viele Eigenschaften 2. Differentiationsordnung einesZwanglaufes einfach herleiten. Wir wollen etwa auf folgende Fragestellung eingehen:

Welche Punkte durchlaufen zu einem festen Zeitpunkt t gerade Wendepunkte ihrer Bahnen?

Fur einen Wendepunkt ist die zugehorige Krummungsmitte ein Fernpunkt; daher sind die Wendepunktedurch r∗ = ∞ erfasst. Aus der Formel von Euler-Savary erhalten wir dann

1r

=c

sin θ,

bzw. als Ortskurve der gesuchten Punkte in Polarkoordinaten

r =sin θ

c

Umrechnen auf kartesische Koordinaten liefert:

x = r cos θ =1c· sin θ · cos θ

y = r sin θ =1c· sin2 θ

Welche Kurve kW wird durch diese Parameterdarstellung erfasst? Ihre Gleichung ergibt sich durchEliminieren des Parameters θ:

x2 + y2 − 1c· y = 0

bzw.

x2 + (y − 12c

)2 =1

4c2

Es handelt sich daher bei kW um einen Kreis, der die Walztangente tp im Momentanpol beruhrt. Erheißt Wendekreis des Zwanglaufes Σ1/Σ0 zum Zeitpunkt t.

Satz 1.20. Es sei Σ1/Σ0 ein ebener Zwanglauf. Zum Zeitpunkt t liege ein eigentlicher MomentanpolP01 vor. Dann ist der Ort der Punkte Z des Gangsystems Σ1, die momentan Wendepunkte ihrerBahnkurven durchlaufen, ein Kreis kW , der die Walztangente im Momentanpol P01 beruhrt.

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Kapitel 2

Raumkinematik

2.1 Die Gruppe der euklidischen Kongruenztransformationen desE3

Definition 2.1. Unter dem euklidische 3-Raum E3 verstehen wir den mit einer euklidischen Metrikausgestatteten affinen 3-Raum.Eine euklidische Kongruenztransformation ist eine Punktabbildung κ des euklidischen 3-RaumesE3, die die Lange jeder Strecke erhalt; d.h.: Werden die Punkte A, B bei κ auf die Punkte A∗ := κ(A),B∗ := κ(B) abgebildet, so muss stets A∗B∗ = AB gelten.

Jede Kongruenztransformationen ist auch winkel-, flachen- und volumstreu. Weiters kann man zeigen,dass Kongruenztransformationen bijektiv und affin ist. Letzteres bedeutet, dass kollineare Lage vonPunkten erhalten bleibt.

Es gilt der

Satz 2.1. Gegeben seien zwei kongruente Dreiecke ABC und A∗B∗C∗: AB = A∗B∗, BC = B∗C∗,AC = A∗C∗. Dann gibt es genau zwei Kongruenztransformationen κi mit κi(A) = A∗, κi(B) = B∗

und κi(C) = C∗ fur i = 1, 2.

Beweis. Wir bezeichnen die Tragerebene von ABC mit ε und jene von A∗B∗C∗ mit ε∗.

1. Falls es eine Kongruenztransformation κ gibt, die das Dreieck ABC in das Dreieck A∗B∗C∗

uberfuhrt, dann ist das Bild D∗ jedes in ε liegenden Punkte D bei κ eindeutig festgelegt (kongru-entes Ubertragen des Dreiecks ABD von ε nach ε∗; die Eindeutigkeit folgt aus dem zusatzlichenPunktepaar C, C∗).

2. Jede der beiden Ebenen ε und ε∗ zerlegt den Raum in zwei Halbraume Π+ und Π− bzw. Π∗+und Π∗−. Dabei sei Π+ bzw. Π∗+ jener Halbraum, von dem aus das Dreieck ABC bzw. A∗B∗C∗

mathematisch positiven Umlaufsinn aufweist. Wir betrachten einen Punkt X, der nicht in ε liegt(Figur 2.1). Das Lot n aus X auf ε schneidet ε in einem Punkt D. Das Bild D∗ von D beieiner moglichen Kongruenztransformation κ, die das Gewunschte leistet, ist gemaß 1.) eindeutigfestgelegt. Damit ist auch die Bildgerade n∗ von n eindeutig bestimmt – es ist dies die Normalen∗ auf ε∗ durch D∗. Fur das Bild X∗ von X kommen damit nur mehr die beiden Punkte aufn∗ in Frage, die sich im Abstand DX von D∗ befinden. Diese Ubertragung der Punkte X kannoffensichtlich auf genau zwei Arten geschehen:

• orientierungstreu: die Punkte des Halbraumes Π+ werden in Punkte des Halbraumes Π∗+ubertragen und jene von Π− in jene von Π∗−. Bei dieser Transformation wird jedes Rechts-dreibein (Linksdreibein) wieder in ein Rechtsdreibein (Linksdreibein) abgebildet.

45

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oder

• orientierungsandernd: die Punkte von Π+ werden in Punkte von Π∗− ubertragen und jenevon Π− in jene von Π∗+. Die Menge der Rechtsdreibeine wird bei dieser Transformation mitjener der Linksdreibeine vertauscht.

3. Zu zeigen bleibt, dass, wenn die Bilder der Punkte D ∈ ε und der Punkte X 6∈ ε wie unter 1.)und 2.) beschrieben konstruiert werden, auch tatsachlich eine Kongruenztransformation vorliegt,d.h. dass alle Streckenlangen erhalten bleiben.

Sind X, Y zwei Punkte und X∗, Y ∗ ihre gemaß 2.) konstruierten Bilder und D, E bzw. D∗, E∗

die Fußpunkte der Lote aus X, Y bzw. X∗, Y ∗ auf ε bzw. ε∗ (Figur 2.2), dann folgt zunachstDE = D∗E∗, da die Konstruktion gemaß 1.) eine ebene Kongruenztransformation von ε nachε∗ liefert. Wegen des Satzes von Pythagoras ist dann aber auch XY = X∗Y ∗.

q.e.d.

Figur 2.1. Es gibt genaueine gleichsinnige und ge-nau eine gegensinnige Kon-gruenztransformation, dieein Dreieck ABC in ein da-zu kongruentes uberfuhren.

Figur 2.2. Die Langentreue im Beweiszu Satz 2.2 folgt wegen des Satzes vonPythagoras.

Definition 2.2. Kongruenztransformationen, die die Menge der Rechtsdreibeine (und damit auchdie Menge der Linksdreibeine) in sich uberfuhrt, heißen gleichsinnige Kongruenztransformatio-nen. Kongruenztransformationen, die die Menge der Rechtsdreibeine mit jener der Linksdreibeinevertauschen, heißen gegensinnige Kongruenztransformationen.

Aus dem Beweis von Satz 2.1 ergibt sich als Folgerung:

Satz 2.2. Gegeben seien zwei kongruente Dreiecke ABC, A∗B∗C∗: AB = A∗B∗, BC = B∗C∗,AC = A∗C∗. Dann gibt es genau eine gleichsinnige Kongruenztransformationen κ mit κ(A) = A∗,κ(B) = B∗ und κ(C) = C∗.

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Kinematik und Robotik 47

Anmerkung: Gemaß Satz 2.2 ist eine gleichsinnige Kongruenztransformation κ durch die Vorgabe einesDreiecks ABC und des (dazu kongruenten) Bilddreiecks A∗B∗C∗ eindeutig bestimmt. Wie wir uns imBeweis des Satzes uberlegt haben, fuhrt κ dann jedes Rechtsdreibein in ein ebensolches uber. Wirwerden daher im weiteren eine gleichsinnige Kongruenztransformation auch durch die Vorgabe einesorthonormiertes Rechtsdreibeins {O; e1, e2, e3} und dessen Bilddreibeins {O∗; e∗1, e∗2, e∗3} festlegen.

Beispiele fur Kongruenztransformationen:

1. Die Drehung (a, ϕ) um eine Gerade a (Drehachse) durch einen Winkel ϕ ist eine gleichsinni-ge Kongruenztransformation. Damit die Drehung eindeutig ist, muss a als orientierte Geradegegeben sein – der Drehwinkel ϕ versteht sich dann im mathematisch positiven Sinn ( = Gegen-uhrzeigersinn) im Sinne der Richtung von a. (Figur 2.3). Lediglich, wenn der Drehwinkel ϕ = π ist,spielt die Orientierung der Geraden keine Rolle; diese Transformation heißt Geradenspiegelungund wird mit (a) bezeichnet.

Bei Drehungen kann man sich auf Drehwinkel beschranken, die im Intervall [0, π] liegen – liegtder Drehwinkel ϕ im Intervall (π, 2π), dann orientiert man a einfach um.

Figur 2.3. Drehung im mathematisch positiven Sinn.

2. Ein weiteres Beispiel einer gleichsinnigen Kongruenztransformation ist die Schiebung (v) mitSchiebvektor v.

3. Als Schraubung bezeichnet man die Zusammensetzung einer Drehung um eine (orientierte!)Gerade a (Schraubachse) durch den Drehwinkel ϕ (positiv im Sinne der Orientierung von a)mit einer Schiebung, deren Schiebvektor v parallel zu a ist . Eine Schraubung wird mit (a, ϕ,v)bezeichnet.

Wir unterscheiden zwischen Rechtsschraubungen (Figur 2.4), wenn v die gleiche Orientierungwie a aufweist und Linksschraubungen im gegenteiligen Fall (Figur 2.5).

Figur 2.4. Rechtsschraubung.

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Figur 2.5. Linksschraubung.

4. Die Spiegelung (ε) an einer Ebene ε ist eine gegensinnige Kongruenztransformation.

Die Menge aller Kongruenztransformationen des Raumes bildet eine nicht kommutative Gruppe G6

bzgl. der Hintereinanderausfuhrung ”◦”: Das neutrale Element ist die identische Abbildung, das inverseElement zu einer gegebenen Transformation κ ist die Umkehrabbildung κ−1. So ist z.B. die Inversezu einer Drehung (a, ϕ) die Drehung (a,−ϕ) und die Inverse zur Schiebung (v) die Schiebung (−v).Geradenspiegelungen (a) nehmen eine Sonderstellung ein, denn sie sind autoinvers: (a)−1 = (a).

Da die Zusammensetzung zweier gleichsinniger Kongruenztransformationen wieder eine gleichsinnigeKongruenztransformation ist, bilden die gleichsinnigen Kongruenztransformationen eine Untergruppeder Gruppe G6. Diese Untergruppe heißt SE(3). Weiters bilden alle gleichsinnigen Kongruenztransfor-mationen, die einen Punkt O festlassen, ebenfalls eine Untergruppe SO(3).

Wir betrachten nun zwei verschiedene Geraden a1 und a2. Was ist die Zusammensetzung (a2) ◦ (a1)der beiden Geradenspiegelungen (a1) und (a2)?

Figur 2.6. Zusammensetzungzweier Geradenspiegelungen mitparallelen Achsen.

Fall 1: a1 und a2 sind parallel.

Die Situation ist in Figur 2.6 in Grund- und Aufriss dargestellt. a1 und a2 sind im Aufriss projizie-rend, erscheinen also dort als Punkte. Die Grundrissebene wurde parallel zur Verbindungsebeneε von a1 und a2 gewahlt. Aus der Figur erkennen wir, dass ein Punkt P bei (a2) ◦ (a1) uberdie Zwischenlage P1 in einen Punkt P2 ubergefuhrt wird, der aus P durch eine Schiebung (v)hervorgeht: Der Schiebvektor v ist normal zu a1 und a2 und parallel zu ε. Seine Lange ist gleichdem doppelten Abstand von a1 und a2.

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Kinematik und Robotik 49

Fall 2: a1 und a1 schneiden einander oder sind windschief zueinander.

In beiden Fallen gibt es ein eindeutig bestimmtes Gemeinlot n der beiden Geraden. Dieses wurdein Figur 2.7 als erstprojizierend angenommen. Weiters wurde die Aufrissebene π2 so gewahlt,dass beide Geraden mit ihr denselben Winkel ϕ

2 einschließen; ϕ ist dann der von den beidenGeraden eingeschlossene Winkel. Der zwischen den Lotfußpunkten L1 := a1∩n und L2 := a2∩nauftretende Minimalabstand d von a1 und a2 erscheint im Aufriss in wahrer Große. d = 0 giltgenau dann, wenn a1 und a2 einander schneiden.

Spiegelt man einen beliebigen Punkt P zunachst an a1 und anschließend an a2, so wird er ubereine Zwischenlage P1 in einen Punkt P2 ubergefuhrt.

Aus der Figur erkennen wir, dass, sofern a1 und a2 windschief sind, die Transformation P −→ P2

eine Schraubung mit der Schraubachse n, dem Schraubwinkel 2ϕ und der Schiebstrecke 2d ist.

Schneiden a1 und a2 einander in einem Punkt, dann ist d = 0, und die Transformation ist einebloße Drehung um n durch den Winkel 2ϕ.

Figur 2.7. Zusammensetzungzweier Geradenspiegelungen mitwindschiefen oder schneidendenAchsen.

Wir fassen zusammen im

Satz 2.3. Die Zusammensetzung (a2) ◦ (a1) zweier Geradenspiegelungen (a1) und (a2) ist

(a) eine Schiebung, wenn a1 und a2 zueinander parallel sind. Der Schiebvektor v ist normal zu a1

und a2 und parallel zur Verbindungsebene von a1 und a2. Seine Lange ist gleich dem doppeltenAbstand von a1 und a2.

(b) eine Drehung, wenn a1 und a2 einander in einem Punkt schneiden. Die Drehachse ist dasGemeinlot n von a1 und a2. Der Drehwinkel ist gleich dem doppelten Winkel von a1 und a2.

(c) eine Schraubung, wenn a1 und a2 zueinander windschief sind. Die Schraubachse ist das Ge-meinlot n von a1 und a2; der Drehwinkel ist gleich dem doppelten Winkel und die Schiebstreckeist gleich dem doppelten Abstand von a1 und a2.

Anmerkung: Umgekehrt lasst sich jede Schiebung, Drehung oder Schraubung durch die Hintereinan-derausfuhrung von zwei Geradenspiegelungen herstellen und das sogar auf unendlich viele Arten. Liegtetwa eine Schraubung (a, ϕ,v) mit Achse a, Drehwinkel ϕ und Schiebvektor v vor, dann wahlt man als

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50 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

erste Spiegelungsachse eine beliebige Gerade a1, die a rechtwinklig schneidet. Die zweite Spiegelungs-achse a2 ist dann bereits eindeutig festgelegt als jene Gerade, die aus a1 durch Schiebung in Richtung

a um die Strecke |v|2 und anschließende Drehung um a durch den Winkel ϕ

2 hervorgeht.

Satz 2.4. (Satz von Chasles, 1860.) Jede gleichsinnige Kongruenztransformation κ ist entwedereine Schraubung oder eine Drehung oder eine Schiebung.

Beweis. Die Kongruenztransformation κ sei durch zwei kongruente Dreiecke ABC und A∗B∗C∗ gege-ben.1 Die Tragerebene von ABC bzw. A∗B∗C∗ heiße ε bzw. ε∗.

Figur 2.8. Jede gleichsinnigeKongruenztransformation κ istZusammensetzung zweier Gera-denspiegelungen: κ = (l3) ◦ (l1).

Es konnen zwei Falle auftreten:

• ε und ε∗ schneiden einander in einer Geraden a (Figur 2.8)

oder

• ε und ε∗ sind zueinander parallel.

Da der Beweis im Fall paralleler Ebenen mit analogen Mitteln wie jener schneidender Ebenen durch-gefuhrt wird, beschranken wir uns auf den ersten.

Es gibt genau eine Drehung ρ := (a, ϕ) mit Achse in a, die das Dreieck ABC in ein in ε∗ liegendesund zu A∗B∗C∗ gleichsinnig kongruentes Dreieck ABC uberfuhrt.

Es gibt genau eine gleichsinnige Kongruenztransformation ρ, die das Dreieck ABC in das DreieckA∗B∗C∗ uberfuhrt. Da die beiden Dreiecke in derselben Ebene liegen, handelt es sich bei ρ entwederum eine Drehung (b, ψ), deren Achse b normal zu ε∗ steht (Fall 1) oder um eine Schiebung (v) mitSchiebvektor v parallel zu ε∗ (Fall 2).

Fall 1. (siehe Figur 2.8) Da a in ε∗ und b normal zu dieser Ebene ist, besitzen a und b ein eindeutigbestimmtes Gemeinlot l2 (dieses liegt in ε). Die Drehung ρ lasst sich als Zusammensetzung zweierGeradenspiegelungen realisieren (Satz 2.3). Hierbei kann l2 als Achse der zweiten Spiegelunggewahlt werden. Die Achse l1 der ersten Spiegelung ist dann bereits eindeutig festgelgt: Sie stehtnormal zu a, geht durch den Schnittpunkt von a und l2 und schließt mit l2 den Winkel ϕ

2 ein.

Ebenso konnen wir die Drehung ρ als Zusammensetzung zweier Geradenspiegelungen schreiben.

Die Achse der ersten Spiegelung kann hierbei in l2 gelegt werden, die Achse l3 der zweitenSpiegelung ist dann normal zu b durch den Schnittpunkt von b und l2 und schließt mit l2 denWinkel ψ

2 ein.

1Wegen Satz 2.2 ist ja genau eine gleichsinnige Kongruenztransformation durch diese Angabe festgelegt.

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Kinematik und Robotik 51

Fall 2. Hier konnen wir die Drehung ρ als Zusammensetzung zweier Geradenspiegelungen (l1) und(l2) schreiben, wobei die zweite Achse l2 normal ε∗ gewahlt werden kann. Damit ist l2 auchnormal zum Schiebvektor v. Die Schiebung ρ = (v) lasst sich daher als als Zusammensetzungder Geradenspiegelungen (l2) mit einer zweiten Geradenspiegelung (l3) schreiben. Hierbei ist die

Achse l3 parallel zu l2 im Abstand |v|2 .

In beiden Fallen gilt also:ρ = (l2) ◦ (l1)

undρ = (l3) ◦ (l2)

Die gegebene Kongruenztransformation κ ist die Zusammensetzung der Drehung ρ und der Kongru-enztransformation ρ. Daher gilt:

κ = ρ ◦ ρ = (l3) ◦ (l2) ◦ (l2)︸ ︷︷ ︸=id

◦(l1) = (l3) ◦ (l1)

κ ist somit Zusammensetzung zweier Geradenspiegelungen und daher wegen Satz 2.3 entweder eineSchraubung oder eine Drehung oder eine Schiebung. q.e.d.

Gemaß obigen Satz ist jede gleichsinnige Kongruenztransformation des Raumes entweder eine Schrau-bung oder eine Drehung oder eine Schiebung. Da allein Drehungen Punkte fix lassen, namlich die Punkteder Drehachse, haben wir als Folgerung:

Satz 2.5. Jede gleichsinnige Kongruenztransformation, die einen Punkt O fest lasst, ist eine Drehungum eine Achse a durch O.

2.2 Analytische Beschreibung von gleichsinnigen Kongruenztrans-formationen des E3

2.2.1 Beschreibung von Drehungen durch eigentlich orthogonale Matrizen

Lemma 2.1. Es sei

A =

a11 a12 a13

a21 a22 a23

a31 a32 a33

eine eigentlich orthogonale (3× 3)-Matrix.2 Dann gilt:

(a) Das charakteristische Polynom3 von A ist

p(λ) = −λ3 + trA(λ2 − λ) + 1. (2.1)

Hierbei ist trA die Summe der Hauptdiagonalelemente, die sogenannte Spur von A:

trA = a11 + a22 + a33

(b) Ist A 6= I3, dann ist λ0 = 1 eine einfache aber nicht mehrfache Nullstelle von p(λ).

2Siehe Anhang C.6.3Siehe Anhang C.5.

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52 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Beweis.

(a) Wir berechnen das charakteristische Polynom p(λ) von A:

p(λ) = det

a11 − λ a12 a13

a21 a22 − λ a23

a31 a32 a33 − λ

= −λ3 + (a11 + a22 + a33)λ2

+ (a23a32 − a22a33︸ ︷︷ ︸(∗)

+ a13a31 − a11a33︸ ︷︷ ︸(∗∗)

+ a12a21 − a11a22︸ ︷︷ ︸(∗∗∗)

+ a11a22a33 + a12a23a31 + a21a32a13 − a13a22a31 − a12a21a33 − a23a32a11︸ ︷︷ ︸= detA = 1

Da die Inverse A−1 einer orthogonalen Matrix mit ihrer Transponierten zusammenfallt, folgtweiters

A> = A−1 =1

detA︸ ︷︷ ︸= 1

· adjA = adjA

Hierbei ist adjA die Adjungierte zu A:

adjA =

a22a33 − a23a32 a32a13 − a12a33 a12a23 − a22a13

a31a23 − a21a33 a11a33 − a13a31 a21a13 − a11a23

a21a32 − a31a22 a12a31 − a11a32 a11a22 − a12a21

Daher gilt:

(∗) = −a11, (∗∗) = −a22, (∗ ∗ ∗) = −a33,

womit (2.1) gezeigt ist.

(b) Dass λ0 = 1 Nullstelle des Polynoms p(λ) ist, erkennt man durch Einsetzen in (2.1). Das Polynomp(λ) kann in der Form

p(λ) = (1− λ) · (λ2 − ( trA− 1)λ + 1︸ ︷︷ ︸=: q(λ)

)

geschrieben werden (nachrechnen!).Angenommen, λ0 = 1 ist mehrfache Nullstelle von p(λ), dann muss λ0 = 1 auch Nullstelle desquadratischen Faktors

q(λ) = λ2 − ( trA− 1)λ + 1

sein; d.h. es muss

1− ( trA− 1) · 1 + 1 = 0,

also

trA = 3 (2.2)

gelten, was a11 = a22 = a33 = 1 nach sich zieht. Da der Betrag jeder Spalte einer orthogonalenMatrix gleich 1 ist, folgt dann aber, dass alle anderen Eintrage der Matrix gleich 0 sind und Adaher die Einheitsmatrix I3 ist im Widerspruch zur Vorausetzung A 6= I3. Daher ist λ0 = 1 bloßeinfache Nullstelle des charakteristischen Polynoms p(λ).

q.e.d.

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Kinematik und Robotik 53

Lemma 2.2. Eine euklidische Kongruenztransformation κ mit zwei verschiedenen Fixpunkten A undB, die außerhalb der Geraden a := AB keinen weiteren Fixpunkt besitzt, ist eine Drehung um a.

Beweis. Da es sich bei κ um eine Kongruenztransformation handelt, folgt zunachst, dass bei κ allePunkte von a fix bleiben.

Es sei nun C ein außerhalb von a liegender Punkt. Da κ außerhalb von a keinen Fixpunkt besitzt, falltdas Bild C∗ = κ(C) von C nicht mit C zusammen. Es sei l die Normale aus C auf a (Figur 2.9). DasBild von l unter κ ist die Normale l∗ zu a durch C∗. Die Gerade CC∗ ist daher rechtwinklig zu a. Sieliegt ja in der Normalebene ν zu a durch C.

Damit folgt einerseits, dass die Symmetrieebene σ der Strecke CC∗ durch a geht und andererseits dassC und C∗ auf einem Kreis k in ν mit Achse a liegen.

Das Dreieck ABC wird somit einerseits durch die Spiegelung (σ) an der Ebene σ und andererseits durcheine Drehung Drehung ρ := (a, ϕ) mit der Achse a in das kongruente Dreieck ABC∗ ubergefuhrt. Ausdem vorigen Abschnitt wissen wir aber, dass es genau zwei Kongruenztransformationen gibt, namlicheine gleichsinnige und eine gegensinnige, die ein Dreieck in ein dazu kongruentes uberfuhrt (Satz 2.1).Die gegebene Kongruenztransformation κ muss daher entweder die Spiegelung (σ) oder die Drehungρ sein. Andererseits kann κ nicht gleich (σ) sein, da ja bei einer Ebenenspiegelung alle Punkte derSpieglungsebene fix bleiben und wir vorausgesetzt haben, dass es außerhalb von a keine Fixpunkte gibt.Daher ist κ = ρ. q.e.d.

Figur 2.9. Jede von der Identitatverschiedene Kongruenztransfor-mation mit zwei Fixpunkten A,B ist entweder eine Drehung mitAchse a = AB oder eine Ebenen-spiegelung mit Spiegelungesebeneσ durch A, B.

Satz 2.6. Gegeben sei eine eigentlich orthogonale und von der Einheitsmatrix I3 verschiedene (3×3)-Matrix A. Dann ist die durch

x∗

y∗

z∗

= A ·

xyz

(2.3)

beschriebene Transformation ρ eine Drehung um eine Achse a durch den KoordinatenursprungO(0, 0, 0). Hierbei bezeichnet [x, y, z]> die Koordinatenspalte eines Punktes X und [x∗, y∗, z∗]>

jene seines Bildes X∗ bei ρ bzgl. eines fest gewahlten kartesischen Koordinatensystems.

Beweis.

1. Sind P, Q zwei Punkte mit den Koordinatenspalten p := [xP , yP , zP ]> bzw. q := [xQ, yQ, zQ]>,dann wird durch

PQ2

= (xQ − xP )2 + (yQ − yP )2 + (zQ − zP )2 = 〈q− p,q− p〉 = (q− p)>(q− p)

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54 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

dass Quadrat ihres Abstandes berechnet. Hierbei bezeichnet

〈x,y〉 := x>y

das innere Produkt zweier Vektoren x,y des E3.

Die Bildpunkte P ∗ und Q∗ bei ρ besitzen die Koordinatenspalten p∗ = Ap und q∗ = Aq. Furdas Quadrat des Abstandes der Punkte P ∗, Q∗ gilt:

P ∗Q∗2

= 〈q∗ − p∗,q∗ − p∗〉 = 〈Aq−Ap,Aq−Ap〉 = 〈A(q− p),A(q− p)〉= (A(q− p))> (A(q− p)) = (q− p)>A>A︸ ︷︷ ︸

= I3

(q− p) = (q− p)>(q− p)

= PQ2

2. Die Fixpunkte der Transformation besitzen Koordinatenspalten x, die dem Eigenraum der MatrixA zum Eigenwert λ0 = 1 angehoren, denn fur Fixpunkte gilt ja:

Ax = x = 1 · x = λ0 · x,

also

(A− λ0I3)x =

000

.

Da λ0 = 1 einfache aber nicht mehrfache Nullstelle des charakteristischen Polynoms p(λ) vonA ist (Lemma 2.1), besitzt der zum Eigenwert 1 gehorende Eigenraum die Dimension eins4,die zugehorigen Punkte (Fixpunkte) reprasentieren also eine durch den Koordinatenursprung Ogehende Gerade a.

Wegen 1.) folgt, dass die Abstande von zwei beliebigen Punkten P und Q bei ρ erhalten bleiben –daher ist ρ eine Kongruenztransformation.

Aufgrund von 2.) folgt, dass ρ die Punkte einer durch O gehenden Geraden a fix lasst und dass esaußerhalb von a keine weiteren Fixpunkte gibt. Wegen Lemma 2.2 ist ρ daher eine Drehung mit Achsea. q.e.d.

Obiger Satz zeigt, dass jede eigentlich orthogonale (3 × 3)-Matrix eine Drehung um eine Achse adurch den Koordinatenursprung O reprasentiert. Im nachfolgenden Satz zeigen wir, dass umgekehrtjede solche Drehung durch eine eigentlich orthogonale Matrix beschrieben werden kann. Der Beweis istkonstruktiv, d.h. wir zeigen, wie man aus dem Input (Richtungsvektor der Drehachse, Drehwinkel) diezugehorige Matrix A bestimmt.

Satz 2.7. Gegeben sei eine Drehung ρ um eine Achse a durch O. Dann gibt es eine eigentlichorthogonale Matrix A, sodass

x∗ = Ax

diese Drehung bzgl. eines fest gewahlten kartesischen Rechtskoordinatensystems mit Ursprung in Obeschreibt (Bezeichnungen wie im Satz 2.6).

Beweis. Es sei a := [a1, a2, a3]> die Koordinatenspalte eines normierten Richtungsvektors der orientier-ten Drehachse a, d.h. es gilt

a21 + a2

2 + a23 = 1

4Siehe Anhang C.5, Eigenschaft 7.).

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Kinematik und Robotik 55

Der im Intervall (0, π] liegende Drehwinkel heiße ϕ. Wir betrachten einen beliebigen, nicht auf a liegen-den Punkt X (Figur 2.10). Die durch X gehende Ebene normal zu a heiße ε. Sie schneidet a in einemPunkt M . Der durch X gehende und in ε liegende Kreis k mit Mitte M enthalt auch den BildpunktX∗ von X bei der Drehung ρ.

Figur 2.10. Analytische Beschrei-bung einer Drehung.

Es sei weiters x := [x, y, z]> bzw. x∗ := [x∗, y∗, z∗]> die Koordinatenspalte von−→OX bzw.

−→OX∗. Dann

gilt – nach Identifikation der Vektoren mit ihren Koordinatenspalten –

−→OM = 〈a,x〉 · a (2.4)−→

MX =−→OX −

−→OM = x− 〈a,x〉 · a (2.5)

Fur jenen Punkt Y auf k, fur den die drei Vektoren a,−→

MX und−→MY ein Rechtsdreibein bilden, gilt:

−→MY = a×

−→MX = a× (x− 〈a,x〉 · a) = a× x. (2.6)

Der Ortsvektor x∗ =−→

OX∗ des Bildpunktes X∗ berechnet sich dann durch:

x∗ =−→

OX∗ =−→OM +

−→MX∗ =

−→OM +cos ϕ·

−→MX + sin ϕ·

−→MY . (2.7)

Nach Einsetzen von (2.4), (2.5) und (2.6) in (2.7) erhalten wir

x∗ = 〈a,x〉 · a + cos ϕ · (x− 〈a,x〉 · a) + sin ϕ · a× x

= (a1x + a2y + a3z) ·

a1

a2

a3

+ cos ϕ · (

xyz

− (a1x + a2y + a3z) ·

a1

a2

a3

)

+ sin ϕ ·

a2z − a3ya3x− a1za1y − a2x

(2.8)

bzw.

x∗ = Ax,

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56 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

mit der (3× 3)-Matrix

A :=

a21(1− cosϕ) + cos ϕ a1a2(1− cosϕ)− a3 sin ϕ a1a3(1− cos ϕ) + a2 sin ϕ

a1a2(1− cos ϕ) + a3 sin ϕ a22(1− cos ϕ) + cos ϕ a2a3(1− cos ϕ)− a1 sin ϕ

a1a3(1− cos ϕ)− a2 sin ϕ a2a3(1− cosϕ) + a1 sin ϕ a23(1− cos ϕ) + cos ϕ

(2.9)

Durch Nachrechnen verifiziert man, dass A ·A> = I3 und detA = 1 gilt, A also eigentlich orthogonalist. q.e.d.

Beispiel 2.1. Ist a = [1, 0, 0]>, liegt also eine Drehung um die x-Achse des Koordinatensystems vor,so lautet die Drehmatrix

A =

1 0 00 cos ϕ − sin ϕ0 sin ϕ cosϕ

.

Fur die Drehungen um die y- bzw. z-Achse erhalten wir die Drehmatrix

A =

cosϕ 0 sin ϕ0 1 0

− sin ϕ 0 cos ϕ

bzw.

A =

cos ϕ − sin ϕ 0sin ϕ cosϕ 0

0 0 1

.

Nachfolgend wollen wir noch klaren, wie bei Vorgabe einer eigentlich orthogonalen Matrix

A =

a11 a12 a13

a21 a22 a23

a31 a32 a33

(2.10)

der Richtungsvektor a der Drehachse und der Drehwinkel ϕ der zugehorigen Drehung berechnet werdenkonnen.

Zunachst lesen wir aus (2.9) ab:

trA = (1− cos ϕ)(a21 + a2

2 + a23︸ ︷︷ ︸

= 1

) + 3 cos ϕ = 2 cos ϕ + 1,

also

cosϕ =12· ( trA− 1) (2.11)

Da das Intervall fur den Drehwinkel ϕ auf (0, π] eingeschrankt wurde, lasst sich ϕ eindeutig aus dieserGleichung berechnen.

Fur das weitere haben wir die beiden Falle ϕ 6= π (Fall 1) und ϕ = π (Fall 2) zu unterscheiden.

Fall 1: ϕ 6= π. Durch den Vergleich von (2.9) und (2.10) erhalten wir die Gleichungen

a32 − a23 = 2 sin ϕ · a1

a13 − a31 = 2 sin ϕ · a2

a21 − a12 = 2 sin ϕ · a3

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Kinematik und Robotik 57

und daher wegen ϕ 6= π:

a =

a1

a2

a3

=

12 sinϕ

a32 − a23

a13 − a31

a21 − a12

(2.12)

Fall 2: ϕ = π. Dieser Fall tritt offensichtlich genau dann ein, wenn die Matrix A symmetrisch ist:5

A =

2a21 − 1 2a1a2 2a1a3

2a1a2 2a22 − 1 2a2a3

2a1a3 2a2a3 2a23 − 1

(2.13)

Daraus erhalten wir die Gleichungen

a32 + a23 = 4a2a3 (2.14)

a13 + a31 = 4a1a3 (2.15)

a21 + a12 = 4a1a2 (2.16)

1 + a11 − a22 − a33 = 4a21 (2.17)

1− a11 + a22 − a33 = 4a22 (2.18)

1− a11 − a22 + a33 = 4a23 (2.19)

Da nicht alle drei Großen a1, a2, a3 gleichzeitig verschwinden konnen – der Vektor [a1, a2, a3]>

besitzt ja die Lange 1 – ist auch mindestens einer der drei Werte 1 + a11 − a22 − a33, 1− a11 +a22 − a33 und 1− a11 − a22 + a33 von null verschieden.

Ist etwa 1 + a11 − a22 − a33 6= 0, dann folgt aus (2.17)

a1 =√

1 + a11 − a22 − a33

2

was eingesetzt in (2.15), (2.16) die Gleichungen

a2 =a12 + a21

2√

1 + a11 − a22 − a33

a3 =a13 + a31

2√

1 + a11 − a22 − a33

Der Richtungsvektor der Drehachse ist daher

a =

a1

a2

a3

=

12√

1 + a11 − a22 − a33

1 + a11 − a22 − a33

a12 + a21

a13 + a31

(2.20)

Die Wahl des Vorzeichens bei der Wurzel spielt dabei keine Rolle, da es sich ja um eine Drehungdurch den Winkel π handelt und daher die Orientierung der Achse unerheblich ist.

Analog erhalt man in den beiden Fallen 1 − a11 + a22 − a33 6= 0 bzw. 1 − a11 − a22 + a33 6= 0als Richtungsvektor der Drehachse

a =

a1

a2

a3

=

12√

1− a11 + a22 − a33

a12 + a21

1− a11 + a22 − a33

a23 + a32

(2.21)

bzw.

a =

a1

a2

a3

=

12√

1− a11 − a22 + a33

a13 + a31

a23 + a32

1− a11 − a22 + a33

(2.22)

5Das ist klar, da A−1 = A> gilt und Geradenspiegelungen autoinvers sind.

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Wir fassen zusammen im

Satz 2.8. Es sei

A :=

a11 a12 a13

a21 a22 a23

a31 a32 a33

eine eigentlich orthogonale (3× 3)-Matrix mit A 6= I3 . Dann gilt fur den Drehwinkel ϕ ∈ (0, π] derzugehorigen Drehung die Formel (2.11).

• Ist trA 6= −1, also ϕ 6= π, dann ist der normierte Richtungsvektor a der Drehachse durch(2.12) gegeben.

• Ist hingegen trA = −1, also ϕ = π, dann ist zumindest eine der Großen 1 + a11 − a22 − a33,1 − a11 + a22 − a33 und 1 − a11 − a22 + a33 ungleich null und der Richtungsvektor a derDrehachse kann

im Fall

1 + a11 − a22 − a33 6= 01− a11 + a22 − a33 6= 01− a11 − a22 + a33 6= 0

durch

(2.20)(2.21)(2.22)

berechnet werden.

Anmerkung: Die Gruppe SO(3) – das ist die Gruppe der Drehungen mit Drehachsen durch den festenPunkt O – ist dreiparametrig: Ein Parameter ist der Drehwinkel ϕ, die beiden anderen legen denRichtungsvektor der Drehachse fest.

2.2.2 Beschreibung beliebiger gleichsinniger Kongruenztransformationen

Lemma 2.3. Jede gleichsinnige euklidische Kongruenztransformation κ ist Zusammensetzung einerDrehung ρ mit einer Schiebung τ :

κ = τ ◦ ρ

Figur 2.11. Jede gleichsinnigeeuklidische Kongruenztransforma-tion ist Zusammensetzung einerDrehung ρ mit einer Schiebung τ .

Beweis. κ sei bestimmt durch ein orthonormiertes Rechtsdreibein S := {O; e1, e2, e3} und dessenBild S∗ := {O∗; e∗1, e∗2, e∗3}. Es gibt genau eine Translation τ , die O in O∗ uberfuhrt. Bei τ−1 gehtO∗ in O und S∗ in ein orthonormiertes Rechtsdreibein S∗∗ := {O; e∗∗1 , e∗∗2 , e∗∗3 } uber (Figur 2.11).Die (eindeutig bestimmte) gleichsinnige Kongruenztransformation ρ, die S in S∗∗ uberfuhrt, ist eine

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Kinematik und Robotik 59

Drehung, da O fix bleibt. Daher gilt κ = τ ◦ ρ. q.e.d.

Mit obigem Lemma und Satz 2.7 haben wir auch

Satz 2.9. Jede gleichsinnige euklidische Kongruenztransformation κ des E3 lasst sich analytisch wiefolgt beschreiben:

x∗ = d + A · x (2.23)

Hierbei ist

d :=

a10

a20

a30

der sogenannte Schiebanteil,

A :=

a11 a12 a13

a21 a22 a23

a31 a32 a33

eine eigentlich orthogonale (3 × 3)-Matrix und x := [x, y, z]> bzw. x∗ := [x∗, y∗, z∗]> die Koordi-natenspalte eines Punktes X bzw. seines Bildes X∗ unter κ bzgl. eines fest gewahlten kartesischenRechtskoordinatensystems.

Anmerkung: In der Darstellung (2.23) konnen neben den drei freien Parametern der Matrix A nochdie drei Komponenten a10, a20, a30 des Schiebanteils frei gewahlt werden. Die Gruppe SE(3) allergleichsinniger euklidischer Kongruenztransformationen ist daher 6-parametrig.

2.2.3 Verwendung homogener Koordinaten

Gehen wir in Gang- und Rastsystem zu homogenen Koordinaten6 x0, x1, x2, x3 und x∗0, x∗1, x

∗2, x

∗3 mit

x = x1x0

, y = x2x0

, z = x3x0

bzw. x∗ = x∗1x∗0

, y∗ = x∗2x∗0

, z∗ = x∗3x∗0

uber, dann lautet (2.23) ausgeschrieben

x∗1x∗0

x∗2x∗0

x∗3x∗0

=

a10

a20

a30

+

a11 a12 a13

a21 a22 a23

a31 a32 a33

·

x1x0

x2x0

x3x0

bzw. wegen

x∗ix∗0

=ai0x0 + ai1x1 + ai2x2 + ai3x3

x0fur i = 1, 2, 3

x∗0x∗1x∗2x∗3

= λ ·

1 0 0 0a10 a11 a12 a13

a20 a21 a22 a23

a30 a31 a32 a33

·

x0

x1

x2

x3

(2.24)

6Siehe Anhang D.

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60 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

mit λ ∈ R beliebig aber 6= 0. Also erhalten wir fur die Darstellung einer gleichsinnigen Kongruenztrans-formation in homogener Schreibweise:

X∗ = B ·X :=[

1 o>

d A

]·X (2.25)

mit X := [x0, x1, x2, x3]>, X∗ := [x∗0, x∗1, x

∗2, x

∗3]>, d := [a10, a20, a30]>, o =: [0, 0, 0]> und der

eigentlich orthogonalen (3× 3)-Matrix A := [ai,j ]i,j=1,2,3.

Sind Fernpunkte von der Betrachtung ausgeschlossen, dann kann in (2.24) x0 = x∗0 = 1 gesetzt werden.Es ist dann x1 = x, x2 = y, x3 = z und x∗1 = x∗, x∗2 = y∗, x∗3 = z∗.

Der Vorteil der homogenen Schreibweise liegt in ihrer kompakten Form. So gewinnt man z.B. dieDarstellung der Zusammensetzung κ2 ◦ κ1 zweier gleichsinniger Kongruenztransformationen

κ1 : X0 = B1 ·X1 und

κ2 : X1 = B2 ·X2

einfach durch Multiplikation der beiden Transformationsmatrizen:

κ2 ◦ κ1 : X0 = B1 ·B2 ·X2

Ubungsaufgaben:

1. Schreiben Sie ein Programm, welches fur eine gegebene Drehung ρ (INPUT: Richtungsvektor ader Drehachse, Drehwinkel ϕ) die zugehorige eigentlich orthogonale Matrix A berechnet!

2. Schreiben Sie ein Programm, welches zu einer gegebenen eigentlich orthogonalen Matrix A dennormierten Richtungsvektor a der Drehachse und den Drehwinkel ϕ berechnet!

3. Gegeben seien die Koordinatenspalten der Punkte P , P ∗ und der Vektoren a, b, a∗, b∗ bzgl.eines festen kartesischen Rechtsdreibeins S := {O; e1, e2, e3}.

(a) Bestimmen Sie zwei kongruente Dreiecke PQR und P ∗Q∗R∗ mit−→PQ=

−→OP +λa bzw.

−→P ∗Q∗=

−→OP ∗ +λ∗a∗ und

−→PR=

−→OP +µa + νb bzw.

−→P ∗R∗=

−→OP ∗ +µ∗a∗ + ν∗b∗

mit λ, λ∗, µ, µ∗, ν, ν∗ > 0.

(b) Bestimmen Sie die analytische Beschreibung gemaß (2.23) jener gleichsinnigen Kongruenz-transformation κ, die PQR in P ∗Q∗R∗ uberfuhrt.

(c) Schreiben Sie eine Prozedur zu obiger Aufgabe:

INPUT: P , P ∗, a, b, a∗, b∗;OUTPUT: d, A.

2.3 Einparametrige Bewegungsvorgange

Wir geben die zum ebenen Fall analoge

Definition 2.3. Eine einparametrige Menge von gleichsinnigen Kongruenztransformationen desRaumes E3 heißt Zwanglauf oder einparametriger Bewegungsvorgang.

Der Parameter t eines Zwanglaufes wird hierbei meist als ”Zeit” interpretiert.

Im folgenden sei wieder das bewegte System oder Gangsystem mit Σ und das Rastsystem mit Σ∗

bezeichnet. Den Zwanglauf selbst bezeichnen wir durch Σ/Σ∗.

Zu analytischen Beschreibung statten wir das Gang- bzw. Rastsystem außerdem mit einem kartesischenRechtsdreibein S := {O; e1, e2, e3} bzw. S∗ := {O∗; e∗1, e

∗2, e

∗3} aus (Figur 2.12). Bezeichnet dann x :=

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Kinematik und Robotik 61

[x, y, z]> die Koordinatenspalte eines Punktes bzgl. S und x∗ := [x∗, y∗, z∗]> die Koordinatenspaltedes selben Punktes bzgl. S∗, dann kann der Bewegungsvorgang durch

x∗(t) = d(t) + A(t) · x (2.26)

beschrieben werden. Hierbei sind der Schiebanteil d und die eigentlich orthogonale Drehmatrix AFunktionen des Parameters t:

d(t) = [a10(t), a20(t), a30(t)]>, A(t) = [aij(t)]i,j=1,2,3

Bei einem Zwanglauf beschreibt jeder Punkt X des Gangsystems eine wohldefinierte Bahnkurve b∗Xim Rastsystem. Ist x die Koordinatenspalte von X bzgl. S, dann ist (2.26) die Parameterdarstellungvon b∗X .

Figur 2.12. Zwanglauf des E3:Rastkoordinatensystem (schwarz),Gangkoordinatensystem (rot).

O

xy

z

x¤(t)

d(t)

X

b¤X

e1

e2e3

1

2

3

x

Beispiele fur raumliche Zwanglaufe:

1. Kontinuierliche Drehung um einen Achse a: In diesem Fall sind die Bahnkurven konzentrischeKreise mit Achse a.

2. Kontinuierliche Schiebung mit einem Schiebvektor parallel zu einer festen Geraden g. Hier sinddie Bahnkurven Geraden parallel zu g.

3. Von einer kontinuierlichen Schraubung (Figur 2.13) um eine (orientierte) Achse a spricht manbei der Zusammensetzung einer kontinuierlichen Drehung um a mit einer kontinuierlichen Schie-bung in Richtung von a, wobei der Betrag des Schiebvektors v eine lineare Funktion des Dreh-winkels ϕ ist:

|v(t)| = p · ϕ(t) (2.27)

Die Konstante p heißt Schraubparameter. Die Bahnkurven bei einer kontinuierlichen Schrau-bung sind Schraublinien mit der Achse a. Wie im diskreten Fall unterscheidet man zwischenRechtsschraubungen und Linksschraubungen, je nachdem v gleich oder entgegengesetzt zurSchraubachse orientiert ist.

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62 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Figur 2.13. Kontinuierliche Rechtsschraubung.Der Drehwinkel ϕ(t) und der Schiebvektor v(t)genugen der Beziehung: |v(t)| = p · ϕ(t) mitp = const.

2.3.1 Geschwindigkeitsverteilung

Den Tangentenvektor der Bahnkurve b∗X eines Punktes X . . .x des Gangsystems erhalten wir durchDifferenzieren von (2.26) nach t:

x∗ =dx∗

dt=

dddt

+dAdt

· x = d + Ax (2.28)

Aus (2.26) konnen wir x explizit berechnen:

x = A−1(x∗ − d) = A>(x∗ − d) (2.29)

Durch Einsetzen von (2.29) in (2.28) erhalten wir dann:

x∗ = AA>(x∗ − d) + d (2.30)

Definition 2.4.

(a) Die Abbildung

ι :{R3 −→ R3

x∗ −→ x∗ = AA>(x∗ − d) + d

}(2.31)

heißt infinitesimale Transformation des Zwanglaufes Σ/Σ∗ zum Zeitpunkt t.

(b) Die Matrix

W := AA> (2.32)

heißt Winkelgeschwindigkeitsmatrix.

Anmerkung: Die infinitesimale Transformation ι ordnet jedem Punkt X mit der Koordinatenspaltex∗ bzgl. des Rastkoordinatensystems S∗ den Tangentenvektor x∗ seiner Bahnkurve b∗X zu. Ist derParameter t die Zeit, dann ist x∗ der Momentangeschwindigkeitsvektor und sein Betrag die skalareMomentangeschwindigkeit.

Aus AA> = I3 folgt durch Differenzieren nach dem Parameter t:

AA> + AA> = O3,

wobei O3 die (3× 3)-Nullmatrix bezeichnet. Daher ist

W = AA> = −AA> = −(AA>

)>= −W>.

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Kinematik und Robotik 63

Die Winkelgeschwindigkeitsmatrix W ist also schiefsymmetrisch und besitzt somit die Bauart

W =

0 −wz wy

wz 0 −wx

−wy wx 0

(2.33)

Bekanntlich lasst sich die Multiplikation einer schiefsymmetrischen (3 × 3)-Matrix W mit einem 3er-Vektor [x, y, z]> als Exprodukt anschreiben:

W ·

xyz

=

0 −wz wy

wz 0 −wx

−wy wx 0

·

xyz

=

wyx− wzywzx− wxzwxy − wyx

=

wx

wy

wz

×

xyz

= w ×

xyz

mit

w :=

wx

wy

wz

Damit haben wir eine vektorielle Schreibweise fur (2.30):

x∗ = w × (x∗ − d) + d (2.34)

Als Beispiel betrachten wir eine kontinuierliche Schraubung um eine Achse a mit dem Schraubparameterp. Wenn wir a als gemeinsame z-Achse des Gang- und Rastkoordinatensystems wahlen, dann besitztder Bewegungsvorgang die Darstellung:

x∗

y∗

z∗

︸ ︷︷ ︸= x∗

=

cos ϕ(t) − sin ϕ(t) 0sin ϕ(t) cos ϕ(t) 0

0 0 1

︸ ︷︷ ︸= A

·

xyz

︸ ︷︷ ︸= x

+

00

pϕ(t)

︸ ︷︷ ︸= d

(2.35)

Wir berechnen die Winkelgeschwindigkeitsmatrix:

W = AA> = ϕ ·− sin ϕ − cosϕ 0

cos ϕ − sin ϕ 00 0 0

·

cos ϕ sin ϕ 0− sin ϕ cos ϕ 0

0 0 1

= ϕ ·

0 −1 01 0 00 0 0

Daher ist in diesem Fall

w =

00ϕ

Weiters erhalten wir

d =

00pϕ

= pw

Der Geschwindigkeitsvektor x∗ eines Punktes X . . .x∗ = [x∗, y∗, z∗]> ist somit gemaß (2.34):

x∗ =

00ϕ

×

x∗

y∗

z∗ − pϕ

+

00pϕ

= ϕ ·

−y∗

x∗

0

︸ ︷︷ ︸=: wn

+p ·

00ϕ

= wn + pw

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Damit haben wir den folgenden

Satz 2.10. (Figur 2.14) Bei einer kontinuierlichen Schraubung mit der Schraubachse a und demSchraubparameter p lasst sich der Momentangeschwindigkeitsvektor x∗ eines Punktes X in einenBestandteil pw parallel zu a und einen Bestandteil wn normal zu a zerlegen, wobei der Vektor pwunabhangig von gewahlten Punkt X ist und der Vektor wn normal zur Ebene Xa steht. Der Betragvon wn ist direkt proportional zum Abstand von X und a.

Figur 2.14. Zerlegung des Ge-schwindigkeitsvektors x∗ bei einerSchraubung in eine Komponentepw parallel und eine Komponentewn normal zur Schraubachse.

2.3.2 Die Momentanbewegung

Im Fall eines ebenen Zwanglaufes wissen wir, dass es zu einem festen Zeitpunkt t i.a. genau einen Punkt(= Momentanpol) gibt, dessen Momentangeschwindigkeitsvektor verschwindet. Wie lautet die Antwortauf die analoge Frage bei einem raumlichen Zwanglauf?

Fur einen solchen Punkt musste gelten

x∗ = w × (x∗ − d) + d = o

bzw.

w × (x∗ − d) = −d.

Diese Gleichung wird jedoch i.a. keine Losung in x∗ haben, da d und w i.a. nicht zueinander normalstehen. Daher lautet die Antwort auf obige Frage:

Bei einem raumlichen Zwanglauf gibt es zu einem Zeitpunkt t i.a. keinen Punkt X, dessen Momentan-geschwindigkeitsvektor gleich dem Nullvektor ist.

Wir andern daher obige Frage in folgende:

Gibt es bei einem raumlichen Zwanglauf zu einem Zeitpunkt t Punkte X, deren Momentangeschwin-digkeitsvektoren x∗ parallel zum Vektor w sind?

Der Geschwindigkeitsvektor x∗ eines solchen Punktes X ware dann ein Vielfaches von w:

x∗ = w × (x∗ − d) + d = pw (2.36)

fur ein p ∈ R.

Durch innere Produktbildung mit w erhalten wir zunachst aus dieser Bedingung:

〈w, d〉 = p〈w,w〉.

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Kinematik und Robotik 65

〈w,w × (x∗ − d)〉 ist ja wegen w⊥w × (x∗ − d) gleich null.

Also folgt, sofern wir w 6= o voraussetzen, fur den Faktor p:

p =〈w, d〉〈w,w〉 (2.37)

Setzen wir

y := x∗ − d und

b := pw − d

}(2.38)

dann lautet die Bedingung (2.36):

w × y = b (2.39)

Damit diese Vektorgleichung eine Losung in y hat, muss notwendigerweise b⊥w gelten, was in unseremFall wegen

〈w,b〉 = 〈w, pw − d〉 = 〈w,〈w, d〉〈w,w〉w − d〉 = 0

erfullt ist.

Mogliche Losungsvektoren y stehen jedenfalls normal zu b, weshalb wir sie als Linearkombination derVektoren w und b×w ansetzen konnen:

y = uw + v(b×w)

Durch Einsetzen dieses Ansatzes in (2.39) erhalten wir

w × (uw + v(b×w)) = b,

also

vw × (b×w) = b

Durch Anwendung des Grassmann’schen Entwicklungssatzes7 erhalten wir daraus

v(〈w,w〉 · b− 〈w,b〉︸ ︷︷ ︸= 0

·w) = b

und daher

v =1

〈w,w〉

Wir haben somit fur unsere Vektorgleichung (2.39) eine einparametrige Schar von Losungsvektoren:

y =1

〈w,w〉 · (b×w) + u ·w, u ∈ R (2.40)

Geometrische Interpretation: Tragt man alle Vektoren von einem gemeinsamen Anfangspunkt O ab,

7a× (b× c) = 〈a, c〉 · b− 〈a,b〉 · c

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dann erfullen die Spitzen der Losungsvektoren y eine Gerade a parallel zu w (Figur 2.15).

Figur 2.15. Losungsvektoren yder Vektorgleichung w × y = bmit w⊥b.

Unsere Ausgangsgleichung (2.36) in x∗ besitzt somit die Losung (Einsetzen von (2.38) in (2.40)):

x∗ =1

〈w,w〉 · ((pw − d)×w) + u ·w + d =1

〈w,w〉 · (pw ×w︸ ︷︷ ︸= o

−d×w) + u ·w + d,

also mit der neuen Bezeichnung s∗ := x∗

s∗ =1

〈w,w〉 · (w × d) + d + u ·w (2.41)

Das ist die Parameterdarstellung einer Geraden a parallel zum Vektor w (der Parameter ist u). AllePunkte dieser Geraden besitzen Momentangeschwindigkeitsvektoren parallel zu w.

Definition 2.5. Die durch die Parameterdarstellung (2.41) erfasste Gerade a heißt Momentan-schraubachse des Zwanglaufes Σ/Σ∗ zum Zeitpunkt t.

Wir berechnen weiters:

w × (x∗ − s∗) + pw = w × (x∗ − 1〈w,w〉 · (w × d)− d− u ·w) + pw

= w × (x∗ − d)− 1〈w,w〉 ·w × (w × d) + pw

? ? ? Anwendung des Grassmann’schen Entwicklungssatzes ? ? ?

= w × (x∗ − d)− 1〈w,w〉 · (〈w, d〉 ·w − 〈w,w〉 · d) + pw

? ? ? wegen p =〈w, d〉〈w,w〉 ? ? ?

= w × (x∗ − d) + d

Also gilt (vgl. obiges Ergebnis mit der Formel (2.34) fur den Momentangeschwindigkeitsvektor x∗):

x∗ = w × (x∗ − s∗) + pw (2.42)

Der Momentangeschwindigkeitsvektor x∗ eines Punktes X lasst sich daher in einen Bestandteil pwparallel zur Momentanschraubachse a und einen zweiten Bestandteil wn := w × (x∗ − s∗) normal zurEbene Xa zerlegen. Der Betrag von wn ist direkt proportional zum Abstand von X und a. Die Verteilungder Momentangeschwindigkeitsvektoren ist daher genau dieselbe wie jene bei einer kontinuierlichenSchraubung mit der Schraubachse a und dem Schraubparameter p (vgl. mit Satz 2.10).

Definition 2.6. Die kontinuierliche Schraubung mit der Schraubachse a gemaß (2.41) und demSchraubparameter p gemaß (2.37) heißt Momentanschraubung des Zwanglaufes Σ/Σ∗ zum Zeit-punkt t.

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Kinematik und Robotik 67

Wir fassen zusammen im

Satz 2.11. Es sei

x∗ = A · x + d

ein Zwanglauf Σ/Σ∗ des E3 und es gelte zum Zeitpunkt t: 〈w, d〉 6= 0. Dann verhalten sich dieMomentangeschwindigkeitsvektoren zum Zeitpunkt t so wie jene der Momentanschraubung zumZeitpunkt t.

Wir wollen nun auch noch die oben ausgeschlossenen Sonderfalle diskutieren:

Sonderfall 1: Zum Zeitpunkt t gelte 〈w, d〉 = 0 aber w 6= o.

Dann folgt aus Gleichung (2.36) durch innere Produktbildung mit w:

p = 0

und der Anteil pw des Momentangeschwindigkeitsvektors x, der parallel zur Momentanschrau-bachse liegt, verschwindet (siehe (2.42)). Die Momentangeschwindigkeitsvektoren der Punkte aufa sind gleich o. Die Geschwindigkeitsverteilung ist daher so wie bei einer reinen Drehung um a.Es liegt der Fall der Momentandrehung vor.

Sonderfall 2: Zum Zeitpunkt t gelte w = o aber d 6= o.

Fur die Momentangeschwindigkeitsvektoren gilt dann (siehe (2.36)):

x∗ = d

D.h.: Alle Punkte besitzen denselben Momentangeschwindigkeitsvektor d. Es liegt der Fall derMomentanschiebung vor.

Sonderfall 3: Zum Zeitpunkt t gelte w = d = o.

Dann ist der Momentangeschwindigkeitsvektor jedes Punktes gleich null. Man spricht von mo-mentanen Stillstand.

2.3.3 Rast- und Gangaxoid

Wir haben im vorigen Abschnitt gesehen, dass ein Zwanglauf Σ/Σ∗ sich in erster Differentiationsordnungzu einem festen Zeitpunkt t wie eine Schraubung bzw. Drehung um eine Achse a (Momentanschrau-bachse) verhalt, sofern w(t) 6= o. Gilt die Bedingung w(t) 6= o in einem ganzen Intervall [t0, t1], dannerfullen die zugehorigen Momentanschraubachsen a(t) eine Regelflache Π∗ im Rastraum Σ∗. Eine Pa-rameterdarstellung von Π∗ liegt mit (2.41) vor; die Parameter sind t und u; der Richtungsvektor derjeweiligen Erzeugenden ist w.

Ubertragt man die einzelnen Erzeugenden von Π∗ in eine feste Lage des Gangraumes Σ, dann entstehteine weitere in Σ liegende Regelflache Π. Ihre Parameterdarstellung ist

s = A−1(s∗ − d) = A>(

1〈w,w〉 · (w × d) + u ·w

)

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68 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Definition 2.7. Gegeben sei ein Zwanglauf

Σ/Σ∗ : x∗(t) = A(t) · x + d(t).

Im Zeitintervall [t0, t1] gelte w(t) 6= o. Dann heißt die im Rastraum durch die Parameterdarstellung

s∗(t, u) =1

〈w,w〉 · (w × d) + d + u ·w (2.43)

gegebene Regelflache Π∗ Rastaxoid.Die im Gangraum durch die Parameterdarstellung

s(t, u) = A>(

1〈w,w〉 · (w × d) + u ·w

)(2.44)

gegebene Regellache Π wird Gangaxoid genannt.

Satz 2.12. Unter den Voraussetzungen von Definition 2.7 gilt:Das Rastaxoid Π∗ und das Gangaxoid Π beruhren einander zu jedem Zeitpunkt t ∈ [t0, t1] langs derjeweiligen Momentanschraubachse a. (siehe Figur 2.16.)

Beweis. Setzt man s aus (2.44) fur x in die Abbildungsvorschrift

x∗ = A · x + d (2.45)

des Zwanglaufes ein, so erhalt man genau (2.43). Daher haben Π∗ und Π zu jedem Zeitpunkt t ∈ [t0, t1]die zu diesem Zeitpunkt gehorende Momentanschraubachse a(t) als gemeinsame Erzeugende.

Um nachzuweisen, dass die beiden Flachen sich sogar langs a(t) beruhren, ist zu zeigen, dass sie injedem Punkt von a(t) ubereinstimmende Tangentialebenen aufweisen.

• Die Tangentialebene τ∗ des Rastaxoids Π∗ wird durch die beiden partiellen Ableitungsvektoren∂s∗∂t und ∂s∗

∂u aufgespannt. Wir setzen

b :=1

〈w,w〉 · (w × d) (2.46)

und berechnen aus (2.43):

∂s∗

∂t= b + d + uw (2.47)

∂s∗

∂u= w (2.48)

• Die Tangentialebene τ des Gangaxoids Π wird durch die Vektoren ∂s∂t und ∂s

∂u aufgespannt. Dieseergeben sich aus (2.43) unter Berucksichtigung von (2.46):

∂s∂t

= A>(b + uw) + A>(b + uw) (2.49)

∂s∂u

= A>w (2.50)

Das ist die Darstellung der Vektoren ∂s∂t und ∂s

∂u bzgl. des Gangkoordinatensystems. Wir erhalten

ihre Darstellung ∂s∂t

(R)und ∂s

∂u

(R)bzgl. des Rastkoordinatensystems durch Multiplikation mit A

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Kinematik und Robotik 69

(der Schiebanteil d ist ja bei Richtungsvektoren unerheblich!):

∂s∂t

(R)

= AA>︸ ︷︷ ︸= (AA>)>

(b + uw) + AA>︸ ︷︷ ︸= I3

(b + uw)

= −W(b + uw) + (b + uw)

= −w × (1

〈w,w〉 · (w × d) + uw) + (b + uw)

? ? ? Anwendung des Grassmann’schen Entwicklungssatzes ? ? ?

= − 〈w, d〉〈w,w〉 ·w + d + b + uw︸ ︷︷ ︸

= ∂s∗∂t

= − 〈w, d〉〈w,w〉 ·

∂s∗

∂u+

∂s∗

∂t(2.51)

∂s∂u

(R)

= AA>︸ ︷︷ ︸= I3

w = w

=∂s∗

∂u(2.52)

Die Gleichungen (2.51) und (2.52) zeigen, dass die beiden partiellen Ableitungsvektoren ∂s∂t

(R)und

∂s∂u

(R)Linearkombinationen der beiden partiellen Ableitungsvektoren ∂s∗

∂t und ∂s∗∂u sind. Daher stimmen

die Tangentialebenen τ∗ und τ tatsachlich uberein. q.e.d.

Anmerkung: Die Bewegung des Gangaxoids Π auf dem Rastaxoid Π∗ ist das raumliche Analogonzum Abrollen der Gangpolkurve auf der Rastpolkurve im Fall eines ebenen Zwanglaufes. Da jedoch dieMomentanbewegung bei einem raumlichen Zwanglauf i.a. eine infinitesimale Schraubung ist, tritt beider Bewegung von Π auf Π∗ i.a. auch ein Schiebanteil auf, weshalb es sich bei dieser nicht um einenreinen Rollvorgang handelt. Die Relativbewegung von Π und Π∗ ist vielmehr eine durch Rollen undGleiten zusammengesetzte Bewegung. Man spricht vom sogenannten Schroten des Gangaxoids Π aufdem Rastaxoid Π∗.

Somit gilt:

Satz 2.13. Jeder Zwanglauf des E3 wird durch Schroten einer Regelflache Π (Gangaxoid) auf einerRegelflache Π∗ (Rastaxoid) erzeugt. Die beiden Regelflachen beruhren dabei einander zu jedemZeitpunkt t langs einer Erzeugenden a(t), der Momentanschraubachse zu diesem Zeitpunkt.

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70 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Figur 2.16. Das Gangaxoid Πberuhrt das Rastaxoid Π∗ langsder Momentanschraubachse a(t).

a(t)

2.3.4 Geschwindigkeitsschraube und Geschwindigkeitsoperator

Wir wollen nun den kinematischen Begriff der Momentanschraubung in mathematische Großen ”ver-packen”. Das wird uns auf die Begriffe Geschwindigkeitsschraube und Geschwindigkeitsoperator fuhren.Die Geschwindigkeitsschraube reprasentiert die Geschwindigkeitverteilung als 6er-Vektor, wahrend derGeschwindigkeitsoperator dieselbe als (4 × 4)-Matrix mit 6 wesentlichen Eintragen darstellt. BeideKalkule haben ihre Berechtigung und es hangt von der jeweiligen Aufgabenstellung ab, welche derbeiden Darstellungen zu bevorzugen ist.

Wir haben gesehen, dass sich die Momentangeschwindigkeitsvektoren

x∗ = w × (x∗ − d) + d

eines Zwanglaufes zum Zeitpunkt t auch in der Form

x∗ = w × (x∗ − s∗) + pw

schreiben lassen. Daher ist

d×w + d = s∗ ×w + pw.

Diesen Vektor wollen wir mit v bezeichnen:

v := d×w + d = s∗ ×w + pw (2.53)

Damit haben wir fur die Momentangeschwindigkeitsvektoren die Gleichung:

x∗ = w × x∗ + v (2.54)

Definition 2.8. Der aus den Paar w,v von 3er-Vektoren kombinierte homogene 6er-Vektor

g :=[

wv

]=

wx

wy

wz

vx

vy

vz

,

heißt Geschwindigkeitsschraube, wenn w 6= o gilt.

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Kinematik und Robotik 71

Anmerkung: Der Ausdruck ”homogen” bedeutet, dass zwei 6er-Vektoren, die durch Multiplikationmit einer von 0 verschiedenen reellen Zahl ineinander ubergehen, dieselbe Geschwindigkeitsschraubedarstellen.

Ist die Momentanschraubung eines Zwanglaufes Σ/Σ∗ zum Zeitpunkt t etwa durch (2.54) gegeben, dannbestimmen die beiden Vektoren w und v eine Geschwindigkeitsschraube g = [w>,v>]>. Umgekehrtgilt:

Satz 2.14. Eine vorgegebene Geschwindigkeitsschraube g = [wx, wy, wz, vx, vy, vz]> bestimmt bisauf Multiplikation aller Geschwindigkeitsvektoren mit einem Faktor ρ 6= 0 genau eine Momentan-schraubung.

Beweis. Es sei g = [w>,v>]> = [wx, wy, wz, vx, vy, vz]> eine Geschwindigkeitsschraube.

1. Mit (2.53) folgt zunachst

〈w,v〉 = 〈w, s∗ ×w + pw〉 = p〈w,w〉,also

p =〈w,v〉〈w,w〉 (2.55)

Damit ist der Schraubparameter eindeutig festgelegt.

2. Um die Schraubachse zu erhalten, fassen wir (2.53) als Gleichung in s∗ auf:

w × s∗ = pw − v

Diese Gleichung besitzt wegen

〈w, pw − v〉 = 0

die einparametrige Schar von Losungsvektoren (siehe Abschnitt 2.3.2):

s∗ =1

〈w,w〉 · ((pw − v)×w) + uw =1

〈w,w〉 · (w × v) + uw (2.56)

mit u ∈ R. Diese stellt die Parameterdarstellung einer Geraden, namlich der gesuchten Schrau-bachse dar.

Eine Multiplikation des gegebenen Vektors g = [w>,v>]> mit einem Faktor ρ 6= 0 andert tatsachlichnichts am daraus errechneten Schraubparameter p (2.55) und der errechneten Schraubachse (2.56).Lediglich die Geschwindigkeitsvektoren werden alle mit ρ multipliziert (siehe (2.54)). q.e.d.

Wir wollen uns noch uberlegen, wie wir fur eine gegebene Geschwindigkeitsschraube g = [w>,v>]>

die Pluckervektoren8 p,q der zugehorigen Momentanschraubachse a ermitteln konnen. Dies gelingtmit Hilfe des Satzes E.2, Anhang E:

Zunachst wissen wir, dass w ein Richtungsvektor der Momentanschraubachse a ist; daher konnen wir

p := w

setzen.

Da außerdem

v = s∗ ×w + pw8Siehe Anhang E, Definition E.1.

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ist, wobei s∗ Ortsvektor eines Punktes von a und p der Schraubparameter

p =〈w,v〉〈w,w〉

ist, folgt

q = s∗ ×w = v − 〈w,v〉〈w,w〉w

Ist insbesondere die Momentanbewegung eine Momentandrehung (p = 〈w,v〉〈w,w〉 = 0), dann gilt sogar:

[pq

]=

[wv

]

Wir fassen zusammen:

Satz 2.15.

(a) Ist g = [w>,v>]> eine Geschwindigkeitsschraube, dann sind

p = w

q = v − 〈w,v〉〈w,w〉w

Pluckervektoren der zugehorigen Schraubachse a.

(b) Handelt es sich bei der Momentanbewegung speziell um eine Momentandrehung, dann stimmendie Pluckervektoren p, q der Momentandrehachse a sogar mit den Vektoren w, v derGeschwindigkeitsschraube g uberein:

p = w

q = v

Wir betrachten nun die homogene Darstellung

X∗ = B(t) ·X. (2.57)

des Zwanglaufes Σ/Σ∗. Hierbei ist

B(t) :=[

1 o>

d(t) A(t)

], X :=

1xyz

und X∗ :=

1x∗

y∗

z∗

mit o := [0, 0, 0]>.

Durch Differenzieren von (2.57) erhalten wir

X∗ =d

dtB ·X = B ·X. (2.58)

Weiters folgt aus (2.57)

X = B−1 ·X∗. (2.59)

Man uberzeugt sich leicht davon, dass B−1 die Gestalt

B−1 =[

1 o>

−A>d A>

]

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Kinematik und Robotik 73

besitzt. Durch Einsetzen von (2.59) in (2.58) ergibt sich

X∗ = BB−1 ·X∗ =[

0 o>

d A

]·[

1 o>

−A>d A>

]·X∗

=[

0 o>

d− AA>d AA>

]·X∗ =

[0 o>

d−Wd W

]·X∗

=: G ·X∗ (2.60)

Die Matrix G beinhaltet die gesamte Information uber die Geschwindigkeitsverteilung des Zwanglaufeszum Zeitpunkt t:

• W ist die Winkelgeschwindigkeitsmatrix:

W =

0 −wz wy

wz 0 −wx

−wy wx 0

• Die Großen wx, wy, wz bilden die Komponenten des Vektors w der zugehorigen Geschwindig-keitsschraube g = [w>,v>]>.

• Der Vektor v der Geschwindigkeitsschraube g stimmt mit dem Vektor d−Wd in G uberein:9

v = d−Wd = d−w × d

Das motiviert die

Definition 2.9. Die Matrix

G = BB−1 =[

0 o>

d−Wd W

]=

[0 o>

v W

]=

0 0 0 0vx 0 −wz wy

vy wz 0 −wx

vz −wy wx 0

(2.61)

heißt Geschwindigkeitsoperator zum Zeitpunkt t.

Wir fassen zusammen:

Satz 2.16. Ist

X∗ = B(t) ·X :=[

1 o>

d(t) A(t)

]·X,

die homogene analytische Darstellung eines einparametrigen Bewegungsvorganges Σ/Σ∗, dann wirddie Geschwindigkeitsverteilung zu einem Zeitpunkt t durch

X∗ = G ·X∗

beschrieben.Hierbei ist G der durch (2.61) definierte Geschwindigkeitsoperator zum Zeitpunkt t.

Anmerkung: Es ist klar ersichtlich, wie man aus den Komponenten wx, wy, wz, vx, vy, vz der Geschwin-digkeitsschraube g den Geschwindigkeitsoperator G erhalt und umgekehrt. Die beiden Reprasentationeng und G der momentanen Geschwindigkeitsverteilung sind daher gleichwertig.

9Vgl. mit der Definition von v (Gleichung (2.53)).

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2.4 Raumliche Mechanismen

Die Definitionen fur Mechanismen, kinematischen Ketten, Zwanglaufketten und geschlossene Mecha-nismen konnen wortlich aus dem ebenen Fall ubernommen werden:

Definition 2.10.

(a) Ein raumlicher Mechanismus besteht aus einer Anzahl von Systemen Σ0, . . . , Σn−1, derenfreie Beweglichkeit durch gewissen Verbindungen (Gelenke) eingeschrankt wird. Besitzt einMechanismus n Systeme Σ0, . . . , Σn−1, so spricht man auch von einer n-gliedrigen kinema-tischen Kette.

(b) Kann jedes Glied eines Mechanismus gegenuber jedem anderen nur eine einparametrige Bewe-gung ausfuhren, so spricht man von einer Zwanglaufkette.

(c) Ein Mechanismus, bei dem jedes Glied mit mindestens zwei anderen uber Gelenke verbundenist, heißt geschlossener Mechanismus.

In Tabelle 2.1 sind die gebrauchlichsten Gelenke mit ihren Freiheitsgraden aufgelistet. Beim Kardange-lenk sind eigentlich drei Systeme beteiligt: Dieses Gelenk ist eine Kombination aus zwei Drehgelenkenmit einander rechtwinklig schneidenden Achsen. Da wie beim Kugelgelenk genau ein Punkt, festbleibt,namlich der Schnittpunkt der beiden Achsen, wird es oft als Ersatz fur das Kugelgelenk verwendet, umeinen Freiheitsgrad zu eliminieren.

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Kinematik und Robotik 75

Gelenktyp Freiheitsgrad

Drehgelenk (revolute joint)Abkurzung: R

1

Schubgelenk (prismatic joint)Abkurzung: P

1

Drehschubgelenk (cylindrical joint)Abkurzung: C

2

Kugelgelenk (spherical joint)Abkurzung: S

3

Kardangelenk (universal joint)Abkurzung: U

2

Tabelle 2.1.Verschiedene gangige Gelenkstypen und ihre Freiheitsgrade.

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2.4.1 Die Grublersche Formel fur raumliche Mechanismen

Wie im ebenen Fall betrachten wir eine kinematische Kette mit n Systemen Σ0, . . . , Σn−1 und mGelenken G1, . . . , Gm, wobei das Gelenk Gi den Freiheitsgrad fi besitze. Da die Gruppe SE(3) 6-parametrig ist, also sechs Freiheitsgrade besitzt, konnen wir fi = 1, 2, 3, 4, 5 voraussetzen.

Der theoretische Freiheitsgrad der kinematischen Kette ist dann nach M. Grubler durch

f = 6 · (n− 1)−m∑

i=1

(6− fi). (2.62)

definiert.10

Bemerkung 2.1. Ebenso wie im ebenen Fall kann der tatsachliche Freiheitsgrad einer kinematischenKette vom theoretischen nach (2.62) berechneten Freiheitsgrad f aus den besagten Grunden abweichen.

Ubungsaufgaben:

1. Der in Figur 2.17 abgebildete Mechanismus besitzt zwei Drehgelenke, ein Drehschubgelenk undein Kugelgelenk. Bestimmen Sie den theoretischen Freiheitsgrad!

Figur 2.17. Ein Mechanis-mus mit zwei Drehgelenken, ei-nem Drehschubgelenk und ei-nem Kugelgelenk.

2. Der in Figur 2.18 abgebildete Mechanismus besitzt vier Drehgelenke und ein Kugelgelenk. Be-

10Die Herleitung der Formel erfolgt wie im ebenen Fall (siehe Abschnitt 1.9.1).

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Kinematik und Robotik 77

stimmen Sie den theoretischen Freiheitsgrad!

Figur 2.18. Ein Mechanismusmit vier Drehgelenken und ei-nem Kugelgelenk.

3. Bestimmen Sie den theoretischen Freiheitsgrad des in Figur 2.19 dargestellten Mechanismus (alleGelenke sind Drehgelenke).

Anmerkung: Hier liegt ein Beispiel vor, in dem die Grublersche Formel einen kleineren als dentatsachlichen Freiheitsgrad liefert: Letzterer ist 1!

Figur 2.19. Ein einparametrigbeweglicher Mechanismus mitlauter Drehgelenken.

4. Figur 2.20 zeigt eine Stewart-Gough-Plattform. Dieser Mechanismus besteht aus einer Basis-platte (festes System) und einer beweglichen Platte (Gangsystem), die uber sechs Beine gekoppeltsind. Jedes Bein besteht wiederum aus zwei Systemen, welche jeweils uber ein Schubgelenk ge-koppelt sind. Die Beine sind mit der Basis und mit dem Gangsystem durch je ein Kugelgelenk

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78 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

verbunden. Bestimmen Sie den theoretischen Freiheitsgrad! Wie interpretieren Sie das Ergebnis?

Figur 2.20. Eine Stewart-Gough-Plattform.

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Kapitel 3

Einfuhrung in die Robotik

3.1 Kinematik serieller Roboter

Definition 3.1. Ein serieller Roboter Rn ist eine kinematische Kette mit (n + 1) SystemenΣ0, . . . , Σn und n Gelenken G1, . . . , Gn, wobei Gi die Systeme Σi−1 und Σi verbindet. Jedes derGelenke Gi ist entweder ein Dreh- oder ein Schubgelenk.Das System Σ0 bzw. Σn heißt Basis bzw. Endeffektor des seriellen Roboters.

Anmerkung: In unserer Einfuhrung wollen wir uns auf den in der Praxis haufiger vorkommenden Fall se-rieller Roboter mit lauter Drehgelenken beschranken. Figur 3.1 zeigt einen seriellen Industrieroboterder Schweizer Firma Staubli mit n = 6 Drehgelenken.

Figur 3.1. Serieller Roboter derFirma Staubli mit 6 Drehgelen-ken.

3.1.1 Architektur serieller Roboter; Denavit-Hartenberg-Parameter

Um die Architektur eines seriellen Roboters mit lauter Drehgelenken zu beschreiben, werden die so-genannten Denavit-Hartenberg-Parameter verwendet. Es seien gi−1, gi und gi+1 die orientiertenAchsen dreier aufeinanderfolgender Drehgelenke Gi−1, Gi und Gi+1 eines solchen Roboters (Figur 3.2).li−1 bzw. li bezeichne das Gemeinlot1 der Achsen gi−1, gi bzw. gi, gi+1. Es sei weiters Oi bzw. Pi der

1Das Gemeinlot l zweier gegebener Geraden g1 und g2 ist eine Gerade l, die sowohl g1 als auch g2 rechtwinkligschneidet. Die beiden Lotfußpunkte L1 := l ∩ g1 und L2 := l ∩ g2 bestimmen den kurzesten zwischen g1 und g2

einspannbaren Abstand (Minimalabstand von g1 und g2). Das Gemeinlot l ist eindeutig bestimmt, sofern g1 und g2 nichtzueinander parallel sind.

79

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80 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Fußpunkt des Lotes li−1 bzw. li auf gi.

Dann bezeichnen wir

den Winkel von gi und gi+1

den Minimalabstand von gi und gi+1

den Abstand von Oi und Pi

mit

αi

ai

di

.

Die Große di wird auch Absatz der Drehachse gi genannt. Ist Rn ein serieller Roboter mit n Drehgelen-ken, dann sind die Großen αi und ai somit fur i = 1, . . . , n− 1 und die Absatze di fur i = 2, . . . , n− 1erklart. Wir erhalten also insgesamt 3n−4 Parameter im Fall eines seriellen Roboters mit n Drehachsen.

Figur 3.2. Definition derDenavit-Hartenberg-Parameter.

Definition 3.2. Es sei Rn ein serieller Roboter mit n Drehgelenken. Dann heißen die Großen αi, ai,i = 1, . . . , n − 1 und die Großen di, i = 2, . . . , n − 1 die Denavit-Hartenberg-Parameter vonRn. Man spricht auch von einem Satz von Denavit-Hartenberg-Parametern.

Lemma 3.1. Unter obigen Vorausetzungen gilt:Nach Vorgabe der orientierten Geraden gi durch den Aufpunkt Oi und den Richtungsvektor ei,1 ist dierelative Lage der nachfolgenden orientierten Achse gi+1 durch die Angabe der drei Parameter αi, ai

und di eindeutig festgelegt.

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Kinematik und Robotik 81

Figur 3.3. Aufeinanderfol-gende orientierte Drehachsenund Denavit-Hartenberg-Parameter.

Beweis. Durch Abtragen der Große di von Oi auf gi im Sinne der durch ei,1 bestimmten Orientierungerhalten wir zunachst den Punkt Pi (Figur 3.3). Durch Pi legen wir eine zu gi normale Gerade – sie istdas Gemeinlot li von gi und gi+1. Abtragen des Abstandes ai auf li von Pi aus liefert den Punkt Oi+1.

• Ist ai 6= 0, also Pi 6= Oi+1, dann ist durch den Vektor vi := −−→PiOi+1 auch die Orientierung von li

festgelegt. Im Sinne dieser Orientierung drehen wir die Achse gi um li durch den Winkel αi undverschieben sie mit dem Schiebvektor vi. Das liefert die orientierte Achse gi+1.

• Ist hingegen ai = 0, also Pi = Oi+1, dann kann li auf zwei Arten orientiert werden, wodurch wirauch zwei mogliche gi in Pi schneidende Geraden gi+1 erhalten. Diese gehen jedoch durch 180◦-Drehung um gi (Spiegelung an gi) ineinander uber. Daher ist auch in diesem Fall die gegenseitigeLage von gi und gi+1 eindeutig bestimmt.

q.e.d.

Da wegen obigem Lemma die gegenseitige Lage von je zwei aufeinanderfolgenden Drehachsen gi, gi+1

durch die drei Parameter αi, ai, di festliegt und man den seriellen Roboter daher nach Angabe desGesamtsatzes von Denavit-Hartenberg-Parametern sukzessive zusammenbauen kann, folgt:

Satz 3.1. Durch einen Satz

αi, ai, i = 1, . . . , n− 1di, i = 2, . . . , n− 1

von Denavit-Hartenberg-Parametern ist die Architektur eines seriellen Roboters eindeutig be-stimmt.

Umgekehrt lassen sich zu einem vorgegebenen seriellen Roboter Rn jedoch i.a. mehrere Satze vonDenavit-Hartenberg-Parametern angeben.

Beispiel 3.1. Wir betrachten den in Figur 3.4 dargestellten 3-achsigen seriellen RoboterR3. Seine erstenbeiden Drehachsen g1 und g2 schneiden einander rechtwinklig; die Achsen g2 und g3 sind zueinanderparallel. Fur seine Denavit-Hartenberg-Parameter gilt:

α1 = π2 , a1 = 0,

α2 = 0, a2 6= 0, d2 ≥ 0 beliebig.

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Figur 3.4. 3-Achs-Roboter in sei-ner Ausgangsposition.

Beispiel 3.2. Im Falle des 6-achsigen Staubli-Roboters (Figur 3.5) schneiden die ersten zwei Ach-sen g1, g2 einander rechtwinklig, die Achsen g2, g3 sind zueinander parallel, und die Achsen g3, g4

schneiden einander wieder rechtwinklig. Die letzten drei Achsen g4, g5, g6 gehen alle durch einen fe-sten Punkt;2 zusatzlich stehen g4, g5 bzw. g5, g6 zueinander rechtwinklig. Ein moglicher Satz vonDenavit-Hartenberg-Parametern dieses Roboters ist:

α1 = π2 , a1 = 0,

α2 = 0, a2 6= 0, d2 = 0,α3 = π

2 , a3 = 0, d3 ≥ 0 beliebig,α4 = π

2 , a4 = 0, d4 6= 0,α5 = π

2 , a5 = 0, d5 = 0.

Figur 3.5. Drehachsen desStaubli-roboters.

3.1.2 Die direkte Aufgabe (Vorwartskinematik) fur serielle Roboter

Gegeben sei ein n-achsiger serieller Roboter Rn durch einen Satz

αi, ai, i = 1, . . . , n− 1di, i = 2, . . . , n− 1

2Ein serieller Roboter, bei dem die letzten drei Achsen durch einen gemeinsamen Punkt laufen, heißt Roboter mitHandgelenk.

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Kinematik und Robotik 83

von Denavit-Hartenberg-Parametern. Benachbarte Glieder Σi, Σi+1 sind uber das DrehgelenkGi+1 (Drehachse gi+1) gekoppelt. Mit dem Glied Σi, i = 1, . . . , n verbinden wir wie folgt ein kanoni-sches kartesisches Rechtsdreibein {Oi; ei,1, ei,2, ei,3} (Figur 3.6):

• Oi ist Fußpunkt des Gemeinlotes li−1 von gi−1 und gi. (Fur i = 1 wahlen wir den zugehorigenKoordinatenursprung O1 beliebig auf g1.)

• ei,1 ist Einheitsrichtungsvektor der orientierten Geraden gi.

• ei,3 ist Einheitsrichtungsvektor des Lotes li.

• ei,2 ist dann als Kreuzprodukt der beiden Vektoren ei,3 und ei,1 bereits festgelegt:

ei,2 := ei,3 × ei,1

Zusatzlich versehen wir das System Σ0 mit einem kartesisches Rechtsdreibein {O0; e0,1, e0,2, e0,3},wobei wir

O0 := O1 und e0,1 := e1,1

wahlen. Zu den Denavit-Hartenberg-Parametern kommt dann die Große

d1 := O1P1 = O0P1

hinzu.

Figur 3.6. Kanonische Koor-dinatensysteme zur Beschrei-bung der RelativbewegungΣi+1/Σi benachbarter Gliedereines seriellen Roboters.

Wir formulieren die

Direkte Aufgabe fur serielle Roboter:

Gegeben: Die Drehwinkel ui fur die Drehgelenke Gi, i = 1, . . . , n und die Koordinatenxn, yn, zn eines Punktes X des Endeffektors Σn bzgl. des zum Endeffektor gehorenden Dreibeins{On; en,1, en,2, en,3} des seriellen Roboters Rn.

Gesucht: Die Koordinaten x0, y0, z0 von X bzgl. des zur Basis Σ0 gehorenden Dreibeins{O0; e0,1, e0,2, e0,3}.

Um diese Aufgabe zu losen, werden wir zunachst die Relativbewegung Σi+1/Σi der beiden benachbartenGlieder Σi und Σi+1 des Roboters analytisch beschreiben. Hierbei handelt es sich um eine reine Drehungum die Achse gi+1 durch den Winkel ui+1.

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Bezeichnet xi+1, yi+1, zi+1 das Koordinatentripel eines Punktes X aus Σi+1 bzgl. des Dreibeins{Oi+1; ei+1,1, ei+1,2, ei+1,3} und xi, yi, zi das Koordinatentripel desselben Punktes bzgl. des mit Σi

verbundenen Dreibeins {Oi; ei,1, ei,2, ei,3}, dann wird der Ubergang zwischen den beiden Tripeln durch(siehe Figur 3.6)

xi

yi

zi

=

di

0ai

+

cos αi − sin αi 0sin αi cos αi 0

0 0 1

·

1 0 00 cos ui+1 − sin ui+1

0 sin ui+1 cos ui+1

·

xi+1

yi+1

zi+1

beschrieben, also in homogener Schreibweise durch:

1xi

yi

zi

=

1 0 0 0di cosαi − sin αi 00 sin αi cosαi 0ai 0 0 1

·

1 0 0 00 1 0 00 0 cos ui+1 − sinui+1

0 0 sin ui+1 cosui+1

·

1xi+1

yi+1

zi+1

Mit den Abkurzungen

Xi :=

1xi

yi

zi

, Xi+1 :=

1xi+1

yi+1

zi+1

und

Ci :=

1 0 0 0di cos αi − sin αi 00 sin αi cos αi 0ai 0 0 1

, Rx(ui+1) :=

1 0 0 00 1 0 00 0 cos ui+1 − sin ui+1

0 0 sin ui+1 cosui+1

haben wir also

Xi = Ci ·Rx(ui+1) ·Xi+1 (3.1)

fur i = 1, . . . , n− 1.

Da außerdem der Koordinatenursprung und die x-Achse der in Σ0 und Σ1 gewahlten Koordinatensy-steme zusammenfallen, ist die Relativbewegung von Σ1 gegenuber Σ0 die Drehung um die gemeinsamex-Achse und kann daher durch

X0 = Rx(u1) ·X1 (3.2)

beschrieben werden.

Damit folgt durch rekursives Einsetzen

X0 = Rx(u1) ·X1 = Rx(u1) ·C1 ·Rx(u2) ·X2 = . . .

= Rx(u1) ·C1 · . . . ·Cn−1 ·Rx(un) ·Xn,

also

X0 = B(u1, . . . , un) ·Xn, (3.3)

mit der (4× 4)-Matrix

B(u1, . . . , un) := Rx(u1) ·C1 · . . . ·Cn−1 ·Rx(un). (3.4)

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Kinematik und Robotik 85

Wir fassen zusammen im

Satz 3.2. (Losung der direkten Aufgabe fur serielle Roboter.)Gegeben sei ein serieller Roboter Rn mit lauter Drehgelenken Gi durch einen Satz

αi, ai, i = 1, . . . , n− 1di, i = 2, . . . , n− 1

von Denavit-Hartenberg-Parametern und die zu den Gelenken Gi gehorenden Drehwinkel ui,i = 1, . . . , n.In der Basis Σ0 sei ein Rechtsdreibein S0 := {O0; e0,1, e0,2, e0,3} so gewahlt, dass O0 auf der erstenDrehachse g1 liegt und e0,1 Richtungsvektor von g1 ist.Ebenso sei im Endeffektor Σn ein Rechtsdreibein Sn := {On; en,1, en,2, en,3} so gewahlt, dass On

der auf gn liegende Fußpunkt des Lotes der beiden Drehachsen gn−1 und gn und en,1 normierterRichtungsvektor von gn ist.Es bezeichne weiters d1 den Abstand von O0 zum Fußpunkt P1 auf g1 des Gemeinlotes der erstenbeiden Drehachsen g1, g2.

Dann gilt: Die Koordinaten eines Punktes X des Endeffektors bzgl. S0 berechnen sich aus seinemKoordinaten bzgl. Sn vermoge der Gleichung (3.3).

Anmerkungen:

1. Die direkte Aufgabe fur serielle Roboter ist ein lineares Problem, das genau eine Losungbesitzt.

2. In der Darstellung (3.3) erhalten wir fur den Fall, dass alle Drehwinkel ui = 0 sind, eine Positiondes seriellen Roboters, bei der alle Gemeinlote li benachbarter Drehachsen zueinander parallelsind. Diese wollen wir im weiteren als Ausgangsposition bezeichnen.

Ubungsaufgabe:

Schreiben Sie ein Programm zur Losung der direkten Aufgabe fur serielle Roboter!

INPUT: Die Großen αi, ai, di, ui, i = 1, . . . , n.

OUTPUT: Die Matrix B.

3.1.3 Die inverse Aufgabe (Ruckwartskinematik) fur serielle Roboter

Bei der inversen Aufgabe handelt es sich um die Umkehrung zur direkten Aufgabe:

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Inverse Aufgabe fur serielle Roboter:

Gegeben: Eine Position des Endeffektors Σn eines seriellen Roboters Rn etwa durch die Gleichung

X0 = B0 ·Xn.

Hierin bezeichnet B0 eine feste (4× 4)-Matrix der Bauart

B0 :=[

1 ot

d0 A0

]

wobei A0 eine eigentlich orthogonalen Matrix ist.X0 bzw. Xn bezeichnet die homogene Koordinatenspalte eines Punktes X des Endeffektors Σn bzgl.des Koordinatensystems S0 der Basis Σ0 bzw. bzgl. des Koordinatensystems Sn des Endeffektors Σn

(S0 und Sn seien wie in Satz 3.2 gewahlt).

Gesucht: Alle moglichen Drehwinkel-n-Tupel (u1, . . . , un), fur die der Endeffektor des Roboters dievorgegebene Position einnimmt. D.h. wir suchen die Losungen in u1, . . . , un des Gleichungssystems

B(u1, . . . , un) = B0. (3.5)

Anmerkungen:

1. Die inverse Aufgabe ist ein nichtlineares Problem, da die Unbekannten u1, . . . , un als Argu-mente von Winkelfunktionen vorkommen, deren Produkte im Gleichungssystem (3.5) als Termeauftreten. Das trigonometrische Gleichungssystem kann naturlich durch die ubliche Halbwinkel-substitution

ti = tanui

2in ein algebraisches Gleichungssystem in den neuen Variablen ti umgewandelt werden.

2. Da die Gruppe SE(3) 6-parametrig ist, konnen wir i.a.

• eine endliche Anzahl von Losungen erwarten, wenn n = 6 ist.

• unendlich viele Losungen erwarten, wenn n > 6 ist.

• keine Losung erwarten, wenn n < 6 ist.

Im letzten Fall bilden die moglichen Positionen des Endeffektors eine n-dimensionale Unterman-nigfaltigkeit der 6-parametrigen Gruppe SE(3), bzw. wenn wir es in der Sprache der zugehorigenMatrizen formulieren: Die moglichen Matrizen B0 bilden eine (stetige) n-parametrige Untermen-ge W der Gruppe aller (4×4)-Matrizen der genannten Bauart. Es kann daher nur dann Losungengeben, wenn B0 ∈ W ist.

3. Wegen der begrenzten Lange der einzelnen Glieder eines seriellen Roboters ist naturlich auch dieMenge aller Lagen des Endeffektors beschrankt. Daher folgt, dass auch im Fall n ≥ 6 bei beliebigvorgebener Endposition (Matrix B0), u.U. keine einziges (reelles) Losungs-n-Tupel (u1, . . . , un)existiert.

Anmerkung 3.) motiviert die folgende

Definition 3.3. Die Menge W aller Matrizen B0, fur die das Gleichungssystem (3.5), also die inverseAufgabe, zumindest eine reelle Losung (u1, . . . , un) besitzt, heißt Arbeitsraum (workspace) desseriellen Roboters.

Fur allgemeine serielle Roboter mit 6 Drehgelenken lasst sich zeigen, dass die inverse Aufgabe hochstens16 Losungen besitzen kann (siehe [Rag 1993]). Fur 6-achsige Roboter mit Handgelenk reduziert sich dieMaximalanzahl der Losungen auf 8. Fur diesen Fall kann ein Algorithmus zur Berechnung der Losungenin [Hus 1997, Seite 429 – 432] nachgelesen werden.

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Kinematik und Robotik 87

3.1.4 Der Geschwindigkeitsoperator und die Jacobi-Matrix eines seriellen Ro-boters

Fur das weitere mussen wir uns uberlegen, wie sich der Geschwindigkeitsoperator G (siehe Abschnitt2.3.4) eines Zwanglaufes andert, wenn wir das im Rastraum gewahlte Koordinatensystem durch einanderes ersetzen.

Wir betrachten die homogene Darstellung

X∗ = B(t) ·X. (3.6)

eines Zwanglaufes Σ/Σ∗. Hierbei ist

B(t) :=[

1 o>

d(t) A(t)

], X :=

1xyz

und X∗ :=

1x∗

y∗

z∗

mit o := [0, 0, 0]>, dem Schiebvektor d(t) := [a10(t), a20(t), a30(t)]> und der eigentlich orthogonalen(3× 3)-Matrix A(t) := [ai,j(t)]i,j=1,2,3.

x, y, z bzw. x∗, y∗, z∗ bezeichnen die Koordinaten eines Punktes X des Gangsystems Σ bzgl. des imGang- bzw. Rastsystem gewahlten Koordinatensystems.

Dann gilt fur die Geschwindigkeitsverteilung zum Zeitpunkt t:

X∗ = G ·X∗

Hierbei ist G der Geschwindigkeitsoperator zum Zeitpunkt t (siehe Definition 2.9, Abschnitt 2.3.4).

Durch

X∗1 = T ·X∗ (3.7)

sei eine Koordinatentransformation τ im Rastsystem gegeben. Dabei ist

T :=[

1 o>

s S

]

mit dem Schiebanteil s und der eigentlich orthogonalen (3× 3)-Matrix S.

Bzgl. des neuen Koordinatensystems erhalten wir fur die Geschwindigkeitsvektoren:

X∗1 = T · X∗ = TG ·X∗ = TGT−1 ·X∗

1

Also haben wir das

Lemma 3.2. Es sei Σ/Σ∗ ein Zwanglauf und (3.6) seine homogene Beschreibung. Es bezeichne weitersG den Geschwindigkeitsoperator von Σ/Σ∗ zum Zeitpunkt t.

Dann gilt: Eine Koordinatentransformation (3.7) im Rastsystem bewirkt, dass G von links mit derTransformationsmatrix T und von rechts mit ihrer Inversen T−1 multipliziert werden muss:

G1 = TGT−1

Nach dieser Vorbereitung konnen wir uns der Berechnung der Geschwindigkeitsverteilung eines seriellenRoboters zuwenden.

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88 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Aus Abschnitt 3.1.2 wissen wir, dass die Vorwartskinematik eines seriellen Roboters durch Rn mit nDrehgelenken durch

X0 = B(u1, . . . , un) ·Xn (3.8)

beschrieben wird. Hierbei ist

X0 :=

1x0

y0

z0

bzw. Xn :=

1xn

yn

zn

die homogenen Koordinatenspalte eines Punktes X des Endeffektors Σn bzgl. in der Basis bzw. im End-effektor geeignet gewahlter Koordinatensysteme. Die von den Gelenksdrehwinkeln u1, . . . , un abhangige(4× 4)-Matrix B(u1, . . . , un) hat die Gestalt

B(u1, . . . , un) = Rx(u1) ·C1 · . . . ·Cn−1 ·Rx(un)

mit den (4× 4)-Matrizen

Ci :=

1 0 0 0di cos αi − sin αi 00 sin αi cosαi 0ai 0 0 1

bzw. Rx(ui) :=

1 0 0 00 1 0 00 0 cos ui − sin ui

0 0 sin ui cos ui

.

Die Großen αi, ai, di bezeichnen die Denavit-Hartenberg-Parameter des Roboters Rn.

Wir betrachten nun eine durch

B(t) = B(u1(t), . . . , un(t)) (3.9)

gegebene einparametrige Teilbewegung der Roboterbewegung: Alle Drehwinkel ui sind Funktioneneines Parameters t.

Wie sieht der Geschwindigkeitsoperator G dieses Zwanglaufes aus?

G = BB−1

=[

d

dt

(Rx(u1) ·C1 · . . . ·Cn−1 ·Rx(un)

)]·[Rx(u1) ·C1 · . . . ·Cn−1 ·Rx(un)

]−1

=[

d

dt

(Rx(u1) ·C1 · . . . ·Cn−1 ·Rx(un)

)]·[R−1

x (un) ·C−1n−1 · . . . ·C−1

1 ·R−1x (u1)

]

=[Rx(u1) ·C1 · . . . ·Cn−1 ·Rx(un) + Rx(u1) ·C1 · Rx(u2) · . . . ·Cn−1 ·Rx(un) +

. . . + Rx(u1) ·C1 · . . . ·Cn−1 · Rx(un)]·[R−1

x (un) ·C−1n−1 · . . . ·C−1

1 ·R−1x (u1)

]

Wir erhalten hier also eine Summe mit n Summanden. Der i-te Summand Si ist

Si = Rx(u1) ·C1 · . . . ·Ci−1︸ ︷︷ ︸=: Ti

·Rx(ui) ·R−1x (ui) ·C−1

i−1 · . . . ·C−11 ·R−1

x (u1)︸ ︷︷ ︸= T−1

i

Dabei gilt: Rx(ui) ·R−1x (ui) ist der Geschwindigkeitsoperator fur das i-te Drehgelenk, allerdings dar-

gestellt bzgl. des Koordinatensystems Si = {Oi; ei,1, ei,2, ei,3} von Σi. Da Ti jedoch die Transforma-tionsmatrix fur die Koordinatentransformation

τi : Si −→ S0

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Kinematik und Robotik 89

ist, gilt wegen Lemma 3.2:

Si = Ti · Rx(ui) ·R−1x (ui) ·T−1

i

ist der Geschwindigkeitsoperator fur das i-te Drehgelenk dargestellt bzgl. des RastkoordinatensystemsS0 = {O0; e0,1, e0,2, e0,3}.Nach der Kettenregel folgt weiters:

Si = Ti ·(

d

duiRx(ui) · dui

dt

)·R−1

x (ui) ·T−1i = Ti ·

(d

duiRx(ui)

)·R−1

x (ui) ·T−1i · dui

dt

Hierbei ist

ωi :=dui

dt

die Winkelgeschwindigkeit des i-ten Drehgelenks und die Matrix

Gi := Ti ·(

d

duiRx(ui)

)·R−1

x (ui) ·T−1i

der Geschwindigkeitsoperator des i-ten Drehgelenks fur konstante Winkelgeschwindigkeit 1. Fur Gi

erhalten wir

Gi =[

0 o>

vi Wi

]=

0 0 0 0vi,x 0 −wi,z wi,y

vi,y wi,z 0 −wi,x

vi,z −wi,y wi,x 0

.

Wir fassen zusammen:

Satz 3.3. Ist durch

B(u1, . . . , un) = Rx(u1) ·C1 · . . . ·Cn−1 ·Rx(un)

eine einparametrige Teilbewegung eines seriellen n-achsigen Roboters gegeben, dann hat der zu-gehorige Geschwindigkeitsoperator G die Gestalt:

G =(

d

dtB

)·B−1 =

n∑

i=1

Gi · ωi (3.10)

Dabei ist ωi die Winkelgeschwindigkeit des i-ten Drehgelenks, also die i-te Gelenksgeschwindigkeitund

Gi =[

0 o>

vi Wi

]=

0 0 0 0vi,x 0 −wi,z wi,y

vi,y wi,z 0 −wi,x

vi,z −wi,y wi,x 0

der im Koordinatensystem der Basis dargestellte Geschwindigkeitsoperator des i-ten Drehgelenks furkonstante Winkelgeschwindigkeit 1.

Wegen (3.10) folgt:

Satz 3.4. Der Geschwindigkeitsoperator G eines seriellen Roboters Rn (mit lauter Drehgelenken)hangt linear von den momentanen Gelenksgeschwindigkeiten ωi ab.

Wir ubertragen nun die Gleichung (3.10) von der Schreibweise fur Geschwindigkeitsoperatoren in jenefur Geschwindigkeitsschrauben. Es ist dann

g =n∑

i=1

gi · ωi =n∑

i=1

[wi

vi

]· ωi (3.11)

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90 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

mit

wi =

wi,x

wi,y

wi,z

, vi =

vi,x

vi,y

vi,z

Beim Vektor gi handelt es sich um die Geschwindigkeitsschraube des i-ten Drehgelenks. Der Vektor gist die Geschwindigkeitsschraube der Endeffektorbewegung.

Nachdem wir die Spalten gi zu einer (6× n)-Matrix

J :=[

w1 . . . wn

v1 . . . vn

]

zusammengefasst haben, liest sich (3.11) so:

g = J ·

ω1

...ωn

=

[w1 . . . wn

v1 . . . vn

ω1

...ωn

(3.12)

Definition 3.4. Die Matrix

J :=[

w1 . . . wn

v1 . . . vn

]

heißt Jacobi-Matrix des seriellen Roboters Rn fur die vorliegende Position.

Da es sich bei den Gelenksbewegungen um reine Drehungen handelt, folgt wegen Satz 2.15, b) ausAbschnitt 2.3.4:

Satz 3.5. Die i-te Spalte der Jacobi-Matrix J eines seriellen Roboters beinhaltet die Plucker-Koordinaten der Achse des i-ten Drehgelenks.

3.1.5 Die direkte und die inverse Aufgabe fur die Geschwindigkeiten seriellerRoboter

Wir formulieren zunachst die direkte Aufgabe fur Geschwindigkeiten und geben deren Losung an:

Direkte Aufgabe fur Geschwindigkeiten serieller Roboter:

Gegeben: Die momentanen Gelenksgeschwindigkeiten ωi, und die momentanen Geschwindigkeits-schrauben gi = [w>

i ,v>i ]>, i = 1, . . . , n der Drehgelenke eines seriellen Roboters Rn.

Gesucht: Die momentane Geschwindigkeitsschraube g = [w>,v>]> der Endeffektorbewegung.

Losung: Setze wi, vi und ωi in (3.12) ein.

Die Umkehrung dieser Aufgabe lautet:

Inverse Aufgabe fur Geschwindigkeiten serieller Roboter:

Gegeben: Die momentanen Geschwindigkeitsschrauben gi = [w>i ,v>i ]>, i = 1, . . . , n der Drehge-

lenke und die momentane Geschwindigkeitsschraube g = [w>,v>]> der Endeffektorbewegung einesseriellen Roboters Rn.

Gesucht: Die momentanen Gelenksgeschwindigkeiten ωi, i = 1, . . . , n.

Durch Einsetzen der gegebenen Großen w, v, wi, vi in (3.12) erhalten wir ein lineares inhomogenesGleichungssystem mit 6 Gleichungen in den n Unbekannten ωi. Die zugehorige Koeffizientenmatrix istdie Jacobi-Matrix. Wir unterscheiden daher die folgenden drei Falle:

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Kinematik und Robotik 91

Fall 1: n = 6. Dann ist J eine (quadratische) 6 × 6-Matrix. Ist detJ 6= 0, dann existiert die InverseJ−1 zu J und die inverse Aufgabe besitzt die eindeutige Losung:

ω1

...ωn

= J−1 · g

Fall 2: n > 6. Hier existieren i.a. unendlich viele Losungen, da die Anzahl der Unbekannten großer alsjene der Gleichungen ist.

Fall 3: n < 6. In diesem Fall wird es i.a. keine Losung des inversen Problems geben, da die Anzahl derUnbekannten kleiner als jene der Gleichungen ist.

3.1.6 Singularitaten serieller Roboter

Definition 3.5. Die Lage des Endeffektors eines seriellen Roboters Rn mit n ≤ 6 Drehgelenken

heißt

{regularsingular

}, wenn die Jacobi-Matrix J

{maximalennicht-maximalen

}Rang besitzt.

Bemerkung 3.1. Der Endeffektor eines serieller Roboter R6 mit 6 Drehgelenken befindet sich genaudann in einer singularen Lage, wenn detJ = 0 ist. Dadurch sind die Singularitaten dieser am haufigstenverwendeten Roboter sehr klar charakterisiert und konnen leicht bestimmt werden.

Der folgende Satz stellt den Zusammenhang obiger Definition mit der inversen Aufgabe fur Positionen(Abschnitt 3.1.3) her (siehe Figur 3.7):

Satz 3.6. Gegeben sei ein serieller Roboter mit n ≤ 6 Drehgelenken. Es sei B0 eine Position desArbeitsraumes W von Rn, fur die die inverse Aufgabe die Losung u1,0, . . . , un,0 besitzt. Dann gilt:Wenn mit B0 eine regulare Lage des Endeffektors vorliegt, die Jacobi-Matrix J also maximalen Rangaufweist, dann gibt es eine Umgebung U der Losung u1,0, . . . , un,0 und eine Umgebung V ⊂ W derPosition B0, sodass die inverse Aufgabe fur jede vorgegebene Position B aus V eine eindeutigeLosung u1, . . . , un in U besitzt.

Dies lasst sich etwa mit Hilfe des Satzes uber implizite Funktionen beweisen.

Figur 3.7. In einer Um-gebung V einer regularenPosition B0 besitzt die in-verse Aufgabe fur Positio-nen stets eine eindeutigeLosung.

U

V

W

u1; : : : ; un

u1;0; : : : ; un;0

B

B0

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3.2 Kinematik paralleler Roboter

Definition 3.6. Ein paralleler Roboter besteht aus zwei Systemen Σ∗ und Σ, die durch n einfacheoffene kinematische Ketten (Beine) miteinander verbunden sind. Σ∗ bzw. Σ nennt man die Basisbzw. den Endeffektor des parallelen Roboters.

Ein typisches Beispiel eines parallelen Roboters ist die in Figur 2.20 abgebildete Stewart-Gough-Plattform.

Ein zweites Beispiel ist etwa der in Figur 1.36 abgebildete ebene parallele Roboter. Die Basis Σ∗ istmit dem Endeffektor Σ uber drei Beine verbunden, an deren Enden sich Drehgelenke befinden, derenAchsen alle untereinander parallel, namlich normal zu den Tragerebenen von Basis und Endeffektor sind.Jedes Bein besteht aus zwei Systemen, die durch je ein Schubgelenk gekoppelt sind.

In der unten angefuhrten Tabelle sind die Eigenschaften serieller und paralleler Roboter gegenuberge-stellt.

Eigenschaften serieller Roboter paralleller Roboter

Genauigkeit nieder hochWiederholungsgenauigkeit nieder hochArbeitsraum groß kleinSteifigkeit gering hochLast-Gewicht schlecht gutOperationsgeschwindigkeit nieder hochDichte von Singularitaten nieder hochKompliziertheit des Architektur nieder hoch

Tabelle 3.1.Gegenuberstellung der Eigenschaften serieller und paralleler Roboter.

Bei parallelen Robotern sind, bedingt durch die Architektur und die Anzahl der Beine, sehr viele unter-schiedliche Typen moglich. Die Diskussion der Grundeigenschaften und Standardaufgaben (Vorwarts-kinematik, Ruckwartskinematik, Geschwindigkeitsverteilung, Singularitaten, ....) ist hierbei fur jede Klas-se separat zu fuhren. Wir werden uns in unserer Einfuhrung daher exemplarisch auf den am haufigstenvorkommenden Fall der Stewart-Gough-Plattformen beschranken.

3.2.1 Architektur von Stewart-Gough-Plattformen

Eine Stewart-Gough-Plattform besteht aus einer Basis Σ∗ und einem Endeffektor Σ, die uber 6Beine Li gekoppelt sind. Jedes Bein Li besteht seinerseits aus zwei Systemen, von welchen das erstemit der Basis und das zweite mit dem Endeffektor uber je ein Kugelgelenk gekoppelt ist. Die beidenzu einem Bein Li gehorenden Systeme sind untereinander durch ein Schubgelenk verbunden. Zu jedemBein Li gehort eine Achse gi – sie ist die Verbindungsgerade der an den Enden liegenden Kugelgelenks-mittelpunkte.3

Anmerkung: Durch die Kugelgelenke an den beiden Enden eines Beins ergibt sich fur jedes Bein einzusatzlicher Freiheitsgrad: Das Bein Li kann um seine Achse gi gedreht werden. Diese Freiheitsgradebeinflussen jedoch die Position des Endeffektors Σ nicht und spielen in unseren Untersuchungen daherkeine Rolle.4

Um die Endeffektorbewegung analytisch beschreiben zu konnen, wahlen wir in Σ∗ bzw. Σ je ein karte-sisches Rechtsdreibein S∗ := {O∗; e∗1, e

∗2, e

∗3} bzw. S := {O; e1, e2, e3} (Figur 3.8). Die Mittelpunkte

3Die Mittelpunkte der Basis bzw. des Endeffektors mussen hier keineswegs alle in derselben Ebene liegen!4Um diese 6 zusatzlichen Freiheitsgrade zu eliminieren, kann etwa an je einem Ende jedes Beins das Kugelgelenk durch

ein Kardangelenk ersetzt werden.

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Kinematik und Robotik 93

der Kugelgelenke (Ankerpunkte) an den beiden Enden des Beins Li seien mit M∗i bzw. Ni bezeichnet,

i = 1, . . . , 6. Hierbei gehore M∗i zur Basis und Ni zum Endeffektor. Die Achse gi des Beins Li ist die

Verbindungsgerade von M∗i und Ni:

gi = M∗i Ni

Als Parameter des Roboters treten die 6 Beinlangen

ui := M∗i Ni, i = 1, . . . , 6

auf.

Figur 3.8. Stewart-Gough-Plattform:Koordinatensystem S∗ = {O∗; e∗1, e∗2, e∗3}bzw. S = {O; e1, e2, e3} und AnkerpunkteM∗

i bzw. Ni der Basis Σ∗ bzw. des Endef-fektors Σ.

Bemerkung 3.2. Sind die Lagen der Ankerpunkte M∗i im Rastsystem und jene der Ankerpunkte Ni im

Gangsystem bekannt, dann ist die Architektur der Stewart-Gough-Plattform vollstandig bestimmt.Die Lagen der Ankerpunkte M∗

i im Rastsystem bzw. Ni im Gangsystem werden hierbei etwa durch die

Ortsvektoren m∗i :=

−−−−→O∗M∗

i bzw. ni := −−→ONi reprasentiert.

3.2.2 Die direkte Aufgabe (Vorwartskinematik) fur Stewart-Gough-Platt-formen

Die direkte Aufgabe fur Stewart-Gough-Plattformen:

Gegeben:

• Die Architektur einer Stewart-Gough-Plattform durch die Ortsvektoren m∗i =

−−−−→O∗M∗

i der

Lagerpunkte M∗i im Rastsystem bzw. ni = −−→

ONi der Lagerpunkte Ni im Gangsystem.

• Die Langen ui = M∗i Ni der Roboterbeine Li, i = 1, . . . , 6.

Gesucht: Alle moglichen Positionen des Endeffektors zu den gegebenen Beinlangen.

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94 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Im Gegensatz zur Losung der direkte Aufgabe fur serielle Roboter ist jene fur parallele Roboter nichtli-near. Wir wollen den Losungsweg daher nur skizzieren.5

Es werde der Ubergang zwischen den Koordinaten im Gangsystem und jenen im Rastsystem in derhomogenen Schreibweise durch

X∗ = B ·X

beschrieben. Hierbei bezeichnet B eine feste (4× 4)-Matrix der Bauart

B :=[

1 ot

d A

],

wobei A eine eigentlich orthogonale (3× 3)-Matrix ist. X∗ bzw. X bezeichnet die homogene Koordi-natenspalte eines Punktes X des Endeffektors Σ bzgl. des Koordinatensystems S∗ der Basis Σ∗ bzw.bzgl. des Koordinatensystems S des Endeffektors Σ.

Dann bedeutet die direkte Aufgabe, dass zu den obigen Angabestucken alle moglichen Matrizen B zufinden sind.

Die Matrizen B hangen von 6 Parametern ab, drei davon sind die Komponenten des Schiebanteils d,die anderen drei stecken in der eigentlich orthogonalen Matrix A. Diese 6 Parameter konnen durch 8homogene Parameter x0, . . . , x7 ersetzt werden, die der homogenen quadratischen Bedingung

x0x4 + x1x5 + x2x6 + x3x7 = 0 (3.13)

genugen.6

Geometrisch kann man die 8 Parameter x0, . . . , x7 als homogene Koordinaten der Punkte eines 7-dimensionalen projektiven Raumes P7 interpretieren.7 Dieser wird auch als kinematischer Bildraumbezeichnet. Durch die Bedingung (3.13) ist im kinematischen Bildraum P7 eine Hyperflache F von 2.Ordnung erfasst. Sie heißt Study-Quadrik. Damit gehort zu jeder gleichsinnigen Kongruenztransfor-mation (also zu jeder Matrix B der obigen Bauart) ein Punkt X(x0, . . . , x7) der Study-Quadrik F .Umgekehrt kann gezeigt werden, dass zu jedem Punkt von F , der nicht einem gewissen 3-dimensionalenTeilraum von F angehort, genau eine gleichsinnige Kongruenztransformation gehort.

Die Bedingung, dass das Bein Li die Lange ui aufweist, bedeutet, dass der Ankerpunkt Ni an dieKugel mit Mitte im Ankerpunkt M∗

i und dem Radius ui gebunden ist. Wird diese Bedingung in denkinematischen Bildraum P7 ubertragen, so ergibt sich, wie in [Hus 1996] gezeigt wird, je eine homogenequadratische Bedingung

qi(x0, . . . , x7) = 0, i = 1, . . . , 6 (3.14)

in den Study-Parametern x0, . . . , x7.

Wir haben daher die Losungen jenes Gleichungsystems zu bestimmen, das sich aus der Gleichung(3.13) und den 6 Gleichungen (3.14) zusammensetzt. Dieses aus 7 Gleichungen bestehende System isthomogen und quadratisch in den Variablen x0, . . . , x7. M. Husty beweist in [Hus 1996], dass diesesSystem hochstens 40 Losungen besitzt. Der genaue Losungsweg kann dort oder in [Hus 1997, Seite506 –516] nachgelesen werden. P. Dietmaier zeigt in [Die 1998], dass es Plattformarchitekturen undBeinlangen-6-tupel u1, . . . , u6 gibt, die tatsachlich auf 40 verschiedene reelle Losungen fuhren, also auf40 verschiedene zugehorige Positionen des Endeffektors.

5Der beschriebene Losungsweg der direkten Aufgabe fur Stewart-Gough-Plattformen wurde von M. Husty gefun-den; siehe [Hus 1996].

6Die Parametrisierung der Gruppe SE(3) durch die Parameter x0, . . . , x7 geht auf E. Study zuruck; man sprichtdaher von den Study-Parametern. In [Stu 1903, Seite 174–177] wird beschrieben, wie man aus den Komponenten einervorgegebenen Matrix B obiger Bauart die Study-Parameter x0, . . . , x7 bzw. umgekehrt aus den Study-Parametern dieKomponenten von B berechnet.

7siehe dazu Anhang D.

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Kinematik und Robotik 95

3.2.3 Die inverse Aufgabe (Ruckwartskinematik) fur Stewart-Gough-Platt-formen

Die inverse Aufgabe fur Stewart-Gough-Plattformen:

Gegeben:

• Die Architektur einer Stewart-Gough-Plattform durch die Ortsvektoren m∗i =

−−−−→O∗M∗

i der

Lagerpunkte M∗i der Basis bzw. ni = −−→

ONi der Lagerpunkte Ni des Endeffektors.

• Eine feste Position des Endeffektors Σ einer Stewart-Gough-Plattform etwa durch dieGleichung

X∗ = B0 ·X.

Hierin bezeichnet B0 eine feste (4× 4)-Matrix der Bauart

B0 :=[

1 ot

d0 A0

],

wobei A0 eine eigentlich orthogonale (3× 3)-Matrix ist. X∗ bzw. X bezeichnet die homogeneKoordinatenspalte eines Punktes X des Endeffektors Σ bzgl. des Koordinatensystems S∗ derBasis Σ∗ bzw. bzgl. des Koordinatensystems S des Endeffektors Σ.

Gesucht: Die Langen ui der Beine Li, i = 1, . . . , 6 fur die vorgegebene Position.

Die Losung der inversen Aufgabe ist trivial: Es ist

−−−→O∗Ni = d0 + A0 · −−→ONi

und damit

ui = |−−−−→M∗i Ni| = |−−−→O∗Ni −−−−−→O∗M∗

i |.

3.2.4 Die Geschwindigkeitsschraube und die Jacobi-Matrix einer Stewart-Gough-Plattform

Gegeben sei eine Stewart-Gough-Plattform mit den Ankerpunkten M∗i der Basis Σ∗ und den zu-

gehorigen Ankerpunkten Ni des Endeffektors (Gangsystems) Σ, i = 1, . . . , 6 (Figur 3.8). In Σ∗ bzw. Σsei je ein kartesisches Rechtsdreibein S∗ := {O∗; e∗1, e

∗2, e

∗3} bzw. S := {O; e1, e2, e3} gewahlt. Dann

wird die Endeffektorbewegung durch eine Gleichung der Bauart

x∗ = d + A · x (3.15)

beschrieben. Dabei ist x := [x, y, z]> die Koordinatenspalte eines Punktes X des Endeffektors bzgl.des Gangkoordinatensystems S und x∗ := [x∗, y∗, z∗]> seine Koordinatenspalte bzgl. des Rastkoordi-natensystems S∗. Die Komponenten des Schiebvektors d und jene der eigentlich orthogonalen MatrixA sind Funktionen der 6 Beinlangen ui = M∗

i Ni:

d = d(u1, . . . , u6),A = A(u1, . . . , u6)

Weiters wollen wir die auf das Rastkoordinatensystem S∗ bezogenen Ortsvektoren−−−−→O∗M∗

i der Anker-punkte M∗

i in Σ∗ mit m∗i bezeichnen:

m∗i :=

−−−−→O∗M∗

i , i = 1, . . . , 6. (3.16)

Analog bezeichnen wir die auf das Gangkoordinatensystem S bezogenen Ortsvektoren−−→ONi der Anker-

punkte Ni in Σ mit ni:

ni := −−→ONi, i = 1, . . . , 6. (3.17)

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96 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Die Ortsvektoren n∗i :=−−−→O∗Ni der Ankerpunkte Ni bzgl. des Rastkoordinatensystems S∗ erhalten wir

dann durch Einsetzen von (3.17) in (3.15):

n∗i =−−−→O∗Ni = d + A · ni, i = 1, . . . , 6. (3.18)

Wir betrachten nun eine einparametrige Teilbewegung der 6-parametrigen Endeffektorbewegung. Einesolche liegt vor, wenn die 6 Beinlangen ui alle Funktionen von einem einzigen Parameter t (der Zeit)sind:

ui = ui(t), i = 1, . . . , 6.

Da der Abstand von M∗i und Ni gleich ui(t) ist, folgt fur das Abstandsquadrat je zweier zugehoriger

Ankerpunkte

〈n∗i −m∗i ,n

∗i −m∗

i 〉 = u2i (t)

Differenzieren dieser Bedingung liefert nach Kurzen durch den Faktor 2:

〈n∗i ,n∗i −m∗i 〉 = ui · ui

Wir dividieren diese Gleichung durch ui:

〈n∗i ,n∗i −m∗

i

ui〉 = ui (3.19)

Da ui den Abstand der Ankerpunkte M∗i und Ni bezeichnet, ist

pi :=n∗i −m∗

i

ui

ein normierter Richtungsvektor des i-ten Beins. Unsere Gleichung lautet daher

〈n∗i ,pi〉 = ui (3.20)

Andererseits wissen wir,8 dass fur den Geschwindigkeitsvektor n∗i des Ankerpunktes Ni die Gleichung

n∗i = w × n∗i + v (3.21)

gilt. Hierbei legen die beiden Vektoren w und v die Geschwindigkeitsschraube g der einparametrigenTeilbewegung zum Zeitpunkt t fest:

g =[

wv

]

Einsetzen von (3.21) in (3.20) liefert

〈w × n∗i + v,pi〉 = ui

bzw.

〈w × n∗i ,pi〉+ 〈v,pi〉 = ui

Letzteres ist wegen

〈w × n∗i ,pi〉 = 〈w,n∗i × pi〉

jedoch gleichwertig mit

〈w,n∗i × pi〉+ 〈v,pi〉 = ui, i = 1, . . . , 6.

8Siehe Abschnitt 2.3.4.

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Kinematik und Robotik 97

Diese 6 Bedingungen lassen sich somit in der folgenden Matrixgleichung zusammenfassen:

J> ·[

vw

]=

u1

...u6

(3.22)

Hierbei ist J die durch

J :=[

p1 . . . p6

n∗1 × p1 . . . n∗6 × p6

](3.23)

definierte (6× 6)-Matrix.

Definition 3.7. Die Matrix

J =[

p1 . . . p6

n∗1 × p1 . . . n∗6 × p6

]

heißt Jacobi-Matrix der Stewart-Gough-Plattform fur die vorliegende Position.

Da pi ein (normierter) Richtungsvektor und n∗i der Ortsvektor eines Punktes der i-ten Beinachse gi

ist, folgt9

Satz 3.7. Die i-te Spalte der Jacobi-Matrix einer Stewart-Gough-Plattform beinhaltet die nor-mierten Pluckerkoordinaten der Achse des i-ten Plattformbeins.

Durch die Gleichung (3.22) wird somit der Zusammenhang zwischen

• den normierten Pluckervektoren pi, qi := n∗i × pi der Beine,

• den Schubgelenksgeschwindigkeiten ui und

• der momentanen Geschwindigkeitschraube g = [w>,v>]> der Endeffektorbewegung

erfasst. Wir fassen zusammen im

Satz 3.8. Gegeben sei eine Stewart-Gough-Plattform. Bezeichnet m∗i bzw. n∗i den Ortsvektor

des Ankerpunktes M∗i bzw. Ni der Basis bzw. des Endeffektors bzgl. des in der Basis gewahlten

Koordinatensystems und ui die i-te momentane Schubgelenksgeschwindigkeit, dann gilt fur die mo-mentane Geschwindigkeitsschraube g = [w>,v>]> der Endeffektorbewegung die Gleichung

J> ·[

vw

]=

u1

...u6

. (3.24)

Hierbei ist J die Jacobi-Matrix der Plattform fur die vorliegende Position:

J =[

p1 . . . p6

q1 . . . q6

](3.25)

mit

pi =n∗i −m∗

i

|n∗i −m∗i |

, qi = n∗i × pi.

9Siehe Anhang E, Satz E.2.

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98 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

3.2.5 Die direkte und die inverse Aufgabe fur die Geschwindigkeiten vonStewart-Gough-Plattformen

Wir formulieren die direkte und die inverse Aufgabe fur die Geschwindigkeitsverteilung einer Stewart-Gough-Plattform:

Die direkte Aufgabe fur die Geschwindigkeitsverteilung einer Stewart-Gough-Plattform:

Gegeben:

• Die Architektur der Plattform, d.h. die Lage der Ankerpunkte M∗i bzw. Ni der Basis bzw. des

Endeffektors durch ihre Ortsvektoren m∗i bzw. ni bzgl. fest gewahlter Koordinatensysteme der

Basis bzw. des Endeffektors,

• die momentane Position des Endeffektors, etwa durch die Gleichung

x∗ = d0 + A0 · x

und

• die momentanen Schubgelenksgeschwindigkeiten ui, i = 1, . . . , 6.

Gesucht: Die momentane Geschwindigkeitsschraube g = [w>,v>]> der Endeffektorbewegung desRoboters.

Inverse Aufgabe fur Geschwindigkeiten von Stewart-Gough-Plattformen:

Gegeben:

• Die Architektur der Plattform, d.h. die Lage der Ankerpunkte M∗i bzw. Ni der Basis bzw. des

Endeffektors durch ihre Ortsvektoren m∗i bzw. ni bzgl. fest gewahlter Koordinatensysteme der

Basis bzw. des Endeffektors,

• die momentane Position des Endeffektors, etwa durch die Gleichung

x∗ = d0 + A0 · x

und

• die momentane Geschwindigkeitsschraube g = [w>,v>]> der Endeffektorbewegung

Gesucht: Die momentanen Schubgelenksgeschwindigkeiten ui, i = 1, . . . , 6.

Um eine der beiden Aufgaben zu losen, mussen wir zunachst die Eintrage der Jacobi-Matrix fur dievorliegende Position bestimmen. Dazu berechnen wir die Pluckervektoren pi,qi der 6 RoboterbeineLi, i = 1, . . . , 6:

pi =n∗i −m∗

i

|n∗i −m∗i |

, qi = n∗i × pi,

wobei

n∗i = d0 + A0 · ni

ist. Die Jacobi-Matrix lautet dann:

J =[

p1 . . . p6

q1 . . . q6

]

• Um die inverse Aufgabe fur Geschwindigkeiten zu losen, hat man nun nur noch die berechne-te Jacobi-Matrix J und die gegebenen Vektoren w,v der Geschwindigkeitsschraube in (3.24)einzusetzen. Auf der rechten Seite von (3.24) stehen dann die gesuchten Schubgelenksgeschwin-digkeiten.

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Kinematik und Robotik 99

• Die Losbarkeitsfrage der direkten Aufgabe hangt vom Rang der Matrix J> ab, da ja die 6 Kompo-nenten der beiden gesuchten Vektoren w,v dem inhomogenen linearen Gleichungssystem (3.24)genugen mussen. Ist rg J> = 6, was gleichbedeutend mit detJ 6= 0 ist, dann besitzt das Glei-chungssystem genau eine Losung, namlich

[vw

]=

(J>

)−1 ·

u1

...u6

.

D.h. in diesem Fall ist die gesuchte Geschwindigkeitsschraube eindeutig bestimmt.

Ist hingegen detJ = 0, dann besitzt das Gleichungssystem (3.24) in w,v entweder gar keineLosung oder unendlich viele.

3.2.6 Singularitaten von Stewart-Gough-Plattformen

Definition 3.8. Die Position des Endeffektors einer Stewart-Gough-Plattform

heißt

{regularsingular

}, wenn fur die Jacobi-Matrix J der Position gilt:

{detJ 6= 0detJ = 0

}.

Die kinematische Bedeutung einer singularen Position des Endeffektors eines parallelen Roboters (hierkonkret einer Stewart-Gough-Plattform) unterscheidet sich ganz wesentlich von jener eines seriel-len Roboters. Die Bedingung detJ = 0 bedeutet namlich, dass das zu (3.24) gehorende homogeneGleichungssytem

J> ·[

vw

]=

0...0

.

nichttriviale – also von null verschiedene – Losungen besitzt. Das heißt, dass in einer solchen Positionauch im Falle, dass momentan alle 6 Schubgelenksgeschwindigkeiten ui gleich null sind, sich der End-effektor keineswegs momentan im Stillstand befindet, sondern (zumindest) infinitesimale Beweglichkeitaufweist, da die zugehorige Geschwindigkeitsschraube g = [w>,v>]> vom Nullvektor verschieden ist.Der Endeffektor befindet sich in einer wackeligen Lage. In der Umgebung einer solchen Position kannes bei der direkten Aufgabe fur Positionen (siehe Abschnitt 3.2.2) leicht zum Umspringen von einerLosung zu einer anderen kommen.

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Anhang A

Gruppen, Korper, Vektorraume

A.1 Gruppen

Definition A.1. Unter einer Gruppe versteht man eine Menge G zusammen mit einer Operation”◦”, die jedem Paar a, b aus G × G eindeutig ein mit a ◦ b bezeichnetes Element zuweist, wobeifolgende Eigenschaften erfullt sind:

1. a ◦ (b ◦ c) = (a ◦ b) ◦ c fur alle a, b, c ∈ G (Assoziativitat)

2. Es gibt ein e ∈ G mit a ◦ e = e ◦ a = a fur alle a ∈ G (neutrales Element)

3. Zu jedem a ∈ G gibt es ein a′ ∈ G mit a ◦ a′ = e (inverses Element)

Eine Gruppe (G, ◦), bei der a ◦ b = b ◦ a fur alle a, b ∈ G gilt, heißt kommutative oder abelscheGruppe.

Beispiele:

1. Die reellen Zahlen R zusammen mit der Additionsoperation ”+” bilden eine abelsche Gruppe.

Was ist das neutrale Element? Was ist das inverse Element zu einem Element a ∈ R bzgl. ”+”?

2. Die reellen Zahlen ohne Null R \ {0} zusammen mit der Multiplikationsoperation ”·” bilden einekommutative Gruppe.

Was ist das neutrale Element? Was ist das inverse Element zu einem Element a ∈ R bzgl. ”·”?

3. Die Menge SE(2) bzw. die Menge SE(3) der gleichsinnigen euklidischen Kongruenztransforma-tionen der Ebene bzw. des 3-Raumes bilden eine nicht kommutative Gruppe bzgl. der Hinterein-anderausfuhrung ”◦”.

Das neutrale Element ist die identische Abbildung. Das inverse Element zu einer gleichsinnigenKongruenztransformation κ ist die inverse Tramsformation κ−1. (z.B. ist die Inverse zu einerSchiebung mit Schiebvektor v die Schiebung mit Schiebvektor −v.)

100

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Kinematik und Robotik 101

A.2 Korper

Definition A.2. Ein Korper ist eine Menge K zusammen mit zwei verschiedenen Operationen ”+”und ”·”, sodass (K, +) und (K \ {0}, ·) kommutative Gruppen sind und zusatzlich gilt:

1. a · (b + c) = (a · b) + (a · c) fur alle a, b, c ∈ K (1. Distributivgesetz)

2. (b + c) · a = (b · a) + (c · a) fur alle a, b, c ∈ K (2. Distributivgesetz)

(Hierbei bezeichnet 0 das neutrale Element von K bzgl. ”+”.)

Beispiele:

1. Die reellen Zahlen R zusammen mit der Addition ”+” und der Multiplikation ”·” bilden einenKorper.

2. Die komplexen Zahlen C zusammen mit der Addition ”+” und der Multiplikation ”·” bilden einenKorper.

A.3 Vektorraume

Definition A.3. Gegeben sei ein Korper K, dessen Elemente wir Skalare nennen wollen, und einekommutative Gruppe (V, +), deren Elemente wir als Vektoren bezeichnen.Man spricht von einem Vektorraum uber dem Korper K, wenn es eine Operation gibt, die jedemPaar λ,a bestehend aus einem Skalar λ und einem Vektor a eindeutig einen Vektor λa zuordnet,wobei folgende Rechengesetze gelten:

1. λ(µa) = (λµ)a fur alle λ, µ ∈ K und a ∈ V (Assoziativgesetz)

2. λ(a + b) = λa + λb fur alle λ ∈ K und a,b ∈ V (1. Distributivgesetz)

3. (λ + µ)a = λa + µa fur alle λ, µ ∈ K und a ∈ V (2. Distributivgesetz)

4. 1a = a fur alle a ∈ V (Hierbei bezeichnet ”1”das neutrale Element bzgl. der Multiplikationim Korper K).

Die Operation λa wird als Multiplikation eines Vektors mit einem Skalar (MVS) bezeichnet.

Ein wichtiger Begriff fur das Rechnen mit Vektoren ist der der linearen Unabhangigkeit einer Mengevon Vektoren.

Definition A.4. Gegeben sei ein Vektorraum V uber einem Korper K.

1. Es seien a1, . . . ,an aus V und λ1, . . . , λn aus K. Dann heißt der Vektor

n∑

i=1

λiai

eine Linearkombination der Vektoren a1, . . . ,an. Sind insbesondere alle λi = 0, dann heißtdie Linearkombination trivial.

2. Die Vektoren a1, . . . ,an aus V heißen linear unabhangig ⇐⇒ Der Nullvektor o lasst sich nurals triviale Linearkombination der ai darstellen.

D.h. aus∑n

i=1 λiai = o folgt λ1 = . . . λn = 0.

Andernfalls heißen die Vektoren a1, . . . ,an linear abhangig.

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102 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Anmerkung: Die Vektoren a1, . . . ,an sind linear abhangig genau dann, wenn es eine nichttrivialeLinearkombination des 0-Vektors o gibt; d.h. wenn es λ1, . . . , λn ∈ K gibt mit

∑ni=1 λiai = o und

(λ1, . . . , λn) 6= (0, . . . , 0).

Definition A.5. Gegeben sei ein Vektorraum V uber einem Korper K. Gibt es eine maximale Anzahld linear unabhangiger Vektoren, dann heißt der Vektorraum V endlich und d heißt die Dimensionvon V . Jede Menge B = {b1, . . . ,bd} von d linear unabhangigen Vektoren bi heißt Basis von V .

Es gilt:

Satz A.1. Es sei V ein endlicher Vektorraum der Dimension d uber K und B = {b1, . . . ,bd} sei eineBasis von V ; dann besitzt jeder Vektor x von V eine eindeutige Darstellung als Linearkombinationder Basisvektoren:

x =d∑

i=1

λibi

Beispiel: Ist K ein Korper – etwa K = R (der Korper der reellen Zahlen) oder K = C (der Korper derkomplexen Zahlen) –, dann ist die Menge

Kd := {

x1

...xd

| xi ∈ K}

ein endlicher Vektorraum der Dimension d. Er heißt d-dimensionaler Spaltenvektorraum uber demKorper K.

Die geordnete Menge

B := {

10...0

, . . . ,

0...01

}

ist eine Basis von K, die sogenannte kanonische Basis von K.

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Anhang B

Komplexe Zahlen

In R2 fuhren wir durch

[x1

y1

]+

[x2

y2

]:=

[x1 + x2

y1 + y2

](B.1)

eine Addition und durch

[x1

y1

]·[

x2

y2

]:=

[x1 · x2 − y1 · y2

x1 · y2 + x2 · y1

](B.2)

eine Multiplikation ein. Man uberpruft leicht, dass (R2, +, ·) die Axiome eines Korpers1 erfullt. Dieserheißt Korper der komplexen Zahlen und wird mit C bezeichnet. Der Korper R der reellen Zahlenlasst sich durch

R −→ C

x 7−→[

x0

](B.3)

in C einbetten. Die komplexe Zahl i := [0, 1]> erfullt die Gleichung

i2 + 1 = 0 (B.4)

und heißt imaginare Einheit. Jede komplexe Zahl z = [x, y]> lasst sich somit in der (bequemeren)Form

z =[

x0

]+

[0y

]= x ·

[10

]+ y ·

[01

]= x + y · i (B.5)

schreiben. Man nennt x Realteil und y Imaginarteil von z und schreibt x = <(z), y = =(z).

Die beiden komplexen Zahlen z = x + y · i und z = x− y · i heißen (zueinander) konjugiert komplex.Es gilt:

z · z = x2 + y2, (B.6)

z1 + z2 = z1 + z2, (B.7)

z1 · z2 = z1 · z2, (B.8)

z + z = 2 · <(z), (B.9)

z− z = 2 · =(z). (B.10)

1Zum Begriff ”Korper” siehe Anhang A.2.

103

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104 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Die Inverse z−1 = 1/z einer (von 0 verschiedenen!) komplexen Zahl z berechnet sich durch

z−1 =1

z · z · z =1

x2 + y2· (x− i · y) (B.11)

Man erhalt ein geometrisches Modell der komplexen Zahlen, indem man die Elemente von C als Ortsvek-toren

−−→OX der Punkte X der Euklidischen Ebene E2 bzgl. eines kartesischen Normalkoordinatensystems

Σ := {O; e1, e2} interpretiert:

X ←→ −−→OX = x · e1 + y · e2 ←→ z = x + y · i

Dieses geometrische Modell von C heißt Gauß’sche Zahlenebene.

Unter dem Betrag der komplexen Zahl z = x + y · i versteht man die nicht negative reelle Zahl

|z| = +

√x2 + y2 = +

√z · z, (B.12)

welche gleich dem Betrag des zugehorigen Ortsvektors−−→OX ist.

Geht man zu Polarkoordinatenx = r · cos ϕy = r · sin ϕ

}, (B.13)

uber, wobei r := |z| der Betrag und ϕ := ∠(x-Achse, z) das sogenannte Argument von z ist, undberucksichtigt man ferner die Eulersche Identitat2

cosϕ + i · sin ϕ = eiϕ, (B.14)

so gelangt man zur Polarform der komplexen Zahl:

z = r · eiϕ. (B.15)

In der Gauß’schen Zahlenebene lassen sich die Addition und die Multiplikation zweier komplexerZahlen z1, z2 geometrisch interpretieren:

Die Summe z = z1 + z2 entsteht aus z1 durch Schiebung um (die als Vektor interpretierte Zahl) z2

(Parallelogrammregel).

Die Multiplikation zweier in Polarform gegebenen Zahlen zk = rk · eiϕk , k = 1, 2 ergibt

z1 · z2 = r1 · r2 · ei(ϕ1+ϕ2). (B.16)

Die resultierenden komplexe Zahl entsteht also aus der Zahl z2 durch eine Drehstreckung um denKoordinatenursprung O mit dem Drehwinkel ϕ1 = arg z1 und dem Streckfaktor r1 = |z1|.Komplexe Zahlen z1 mit Betrag |z1| = 1 gehoren zu Punkten am Einheitskreis. Die Multiplikation miteiner solchen komplexen Zahl liefert eine reine Drehung um O durch den Winkel ϕ1 = arg z1.

2Beweis der Eulerschen Identitat: cos ϕ + i · sin ϕ =∑∞

k=0(−1)k · ϕ2k

(2k)!+ i · ∑∞

k=0(−1)k · ϕ2k+1

(2k+1)!= (wegen

(−1)k = i2k fur alle k ∈ N) =∑∞

k=0(i·ϕ)2k

(2k)!+

∑∞k=0

(i·ϕ)2k+1

(2k+1)!=

∑∞k=0

(i·ϕ)k

k!= eiϕ.

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Anhang C

Matrizen und Determinanten

Definition C.1. Unter einer (m× n)-Matrix versteht man eine Rechtecksschema

A =

a11 a12 . . . a1n

a21 a22 . . . a2n

......

...am1 am2 . . . amn

aus m× n Zahlen (m Zeilen und n Spalten).Der aus den Elementen der i-ten Zeile gebildete n-Vektor heißt i-ter Zeilenvektor von A. Analognennt man den aus der j-ten Spalte von A gebildeten m-Vektor den j-ten Spaltenvektor von A.

Abkurzend schreibt man oftA = (aij)i=1...m,j=1...n

oder einfachA = (aij).

Definition C.2. Zwei (m×n)-Matrizen A = (aij) und B = (bij) heißen gleich, wenn gilt: aij = bij

fur alle i = 1, . . . ,m und j = 1, . . . , n.Die Matrix, deren Elemente alle gleich 0 sind, heißt Nullmatrix und wird mit O bezeichnet.Ist fur eine Matrix A die Zeilenanzahl gleich der Spaltenanzahl (n = m), dann spricht man von einerquadratischen Matrix.Als Hauptdiagonale einer quadratischen (m×m)-Matrix A = (aij) bezeichnet man die Elementea11, a22, . . . , amm.Die quadratische (m×m)-Matrix, in deren Hauptdiagonale lauter Einsen stehen und deren restlicheElemente alle gleich 0 sind, heißt (m×m)-Einheitsmatrix und wird mit I bezeichnet.

C.1 Rechenoperationen mit Matrizen

Matrizenaddition

Gegeben seien zwei (m × n)-Matrizen A = (aij) und B = (bij). Dann heißt die durch elementeweiseAddition entstehende Matrix

C = (cij) := (aij + bij)

die Summe von A und B.

Fur die Matrizenaddition gelten folgende Rechenregeln:

105

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106 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

1. A + B = B + A (Kommutativgesetz)

2. A + (B + C) = (A + B) + C (Assoziativgesetz)

3. A + O = A, wobei O die Nullmatrix ist.

Skalarmultiplikation

Gegeben sei eine (m× n)-Matrix A = (aij) und eine Zahl λ. Dann heißt die Matrix

B = λA := (λaij)

das Skalarprodukt von λ und A

Fur die Skalarmultiplikation gelten folgende Rechenregeln:

1. λ(µA) = (λµ)A (Assoziativgesetz)

2. λ(A + B) = λA + λB (1. Distributivgesetz)

3. (λ + µ)A = λA + µA (2. Distributivgesetz)

Matrizenmultiplikation

Gegeben sei eine (l × m)-Matrix A = (aij) und eine (m × n)-Matrix B = (bij). Dann heißt die(l × n)-Matrix

C = (cij) mit cij :=m∑

k=1

aikbkj , i = 1, . . . , l, j = 1, . . . , n

das Produkt von A und B.

Fur die Matrizenmultiplikation gelten folgende Rechenregeln:

1. A(BC) = (AB)C (Assoziativgesetz)

2. A(B + C) = AB + AC (Rechtsdistributivgesetz)

3. (A + B)C = AC + BC (Linksdistributivgesetz)

Aber Vorsicht: Die Matrizenmultiplikation ist i.a. nicht kommutativ, d.h. i.a. gilt:

AB 6= BA

Definition C.3. Ist A = (aij)i=1...m,j=1...n eine (m× n)-Matrix, dann heißt die (n×m)-Matrix

A> := (aji)j=1...n,i=1...m

die transponierte Matrix zu A.Eine quadratische Matrix A = (aij) heißt symmetrisch, wenn A> = A.Eine quadratische Matrix A = (aij) heißt schiefsymmetrisch, wenn A> = −A.

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Kinematik und Robotik 107

C.2 Determinanten

Wir betrachten nun quadratische Matrizen, deren Elemente reelle oder komplexe Zahlen sind.

Nachfolgend geben wir eine rekursive Definition der Determinante einer quadratischen (n× n)-Matrix,d.h. wir definieren die Determinante fur den Fall n = 1 und fuhren den Fall fur beliebiges n auf jenenfur n− 1 zuruck.

Definition C.4. Es sei A eine n × n-Matrix: A = (aij) mit Elementen aus einem Korper K, dannheißt die Zahl

detA :=

a11 falls n = 1n∑

j=1

(−1)i+jaij detAij falls n > 1

(C.1)

die Determinante von A. Hierbei ist Aij die ((n−1)× (n−1))-Matrix, die aus A durch Streichender i-ten Zeile und der j-ten Spalte entsteht. Dabei kann i beliebig aus 1, . . . , n gewahlt werden.Man nennt die Zahl detAij den (i, j)-Minor von A, wahrend (−1)i+j detAij die Adjunkte desElements aij heißt und mit adj(aij) bezeichnet wird.

Bemerkung C.1. Fur die in obiger Definition angegebene Berechnung einer Determinante fur n > 1sind folgende Schritte durchzufuhren:

1. Wahle eine beliebige Zeile, etwa die i-te Zeile, der gegebenen (n× n)-Matrix A.

2. Berechne fur j = 1, . . . , n die Determinanten detAij , multipliziere diese mit (−1)i+jaij undsummiere diese n Werte auf.

Man nennt diese Vorgangsweise auch Entwicklung der Determinante nach der i-ten Zeile.

Es gilt: Die oben angegebene Berechnung fur die Determinante ist unabhangig von der Wahl von i alsovon der Wahl der Zeile, nach der man entwickelt. Alternativ dazu kann man auch nach einer beliebigenSpalte der Matrix entwickeln und erhalt das selbe Ergebnis. Der Beweis fur die Unabhangigkkeit derDeterminante von der Zeile oder Spalte, nach der man entwickelt, kann in jedem Lehrbuch uber LineareAlgebra1 nachgelesen werden.

Fur die Determinante verwendet man auch die Schreibweise:

∣∣∣∣∣∣∣∣∣

a11 a12 . . . a1n

a21 a22 . . . a2n

......

...an1 an2 . . . ann

∣∣∣∣∣∣∣∣∣

Beispiel C.1.

• Die Determinante einer (2× 2)-Matrix ist

∣∣∣∣a11 a12

a21 a22

∣∣∣∣ = a11a22 − a12a21. (C.2)

• Die Determinante einer (3× 3)-Matrix ist (wir entwickeln etwa nach der ersten Zeile)

∣∣∣∣∣∣

a11 a12 a13

a21 a22 a23

a31 a32 a33

∣∣∣∣∣∣=

1etwa [Kow 1974]

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108 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

a11

∣∣∣∣a22 a23

a32 a33

∣∣∣∣− a12

∣∣∣∣a21 a23

a31 a33

∣∣∣∣ + a13

∣∣∣∣a21 a22

a31 a32

∣∣∣∣ =

a11a22a33 + a12a23a31 + a13a21a32

−a13a22a31 − a12a21a33 − a11a23a32.

(C.3)

Fur Determinanten gelten u.a. nachfolgend aufgelistete Eigenschaften2.

Eigenschaften und Rechenregeln fur Determinanten

• Werden in der Matrix A zwei Zeilen oder zwei Spalten miteinander vertauscht, dann andert dieDeterminante bloß das Vorzeichen.

• Sind zwei Zeilen oder zwei Spalten in einer Matrix A identisch oder ist die eine ein Vielfaches deranderen, dann ist detA = 0.

• Ist λ ein beliebiger Skalar aus K und A eine (n× n)-Matrix, dann ist det(λA) = λn detA.

• detA> = detA.

• Fur je zwei quadratische Matrizen A, B der selben Dimension gilt: detAB = detA · detB

C.3 Die Inverse einer quadratischen Matrix

Definition C.5.

1. Gegeben sei eine (n× n)-Matrix A. Dann heißt eine Matrix A−1 Inverse zu A wenn gilt:

AA−1 = A−1A = In

Hierbei bezeichnet In die (n×n)-Einheitsmatrix. Existiert eine Inverse zu A, dann nennt manA regular, andernfalls singular.

2. Gegeben sei eine (n × n)-Matrix A. Dann heißt die Matrix, die aus A entsteht, indem manjedes Element aij von A durch sein Adjunktes adj(aij) ersetzt und die so erhaltene Matrixdann transponiert, die Adjungierte von A. Sie wird mit Aa bezeichnet.

Es gelten die folgenden beiden Satze:3:

Satz C.1. Es sei A eine (n× n)-Matrix. Dann sind folgende Aussagen aquivalent:

(a) A ist regular.

(b) detA 6= 0.

(c) Die Inverse A−1 von A existiert und ist eindeutig bestimmt.

Satz C.2. Es sei A eine regulare (n× n)-Matrix. Dann gilt:

A−1 =1

detAAa (C.4)

detA−1 =1

detA(C.5)

2Fur die Beweise verweisen wir wieder auf ein beliebiges Lehrbuch der Linearen Algebra.3Die Beweise konnen in einem beliebigen Buch uber Lineare Algebra, z.B. [Kow 1974], nachgelesen werden.

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Kinematik und Robotik 109

Mit Hilfe von Satz C.1 lasst sich die Inverse einer regularen Matrix leicht berechnen. Wir wollen diesexemplarisch fur die Falle n = 2, 3 durchfuhren.

Beispiel C.2.

Die Inverse einer regularen (2× 2)-Matrix

A =[

a11 a12

a21 a22

]

lautet

A−1 =1

a11a22 − a12a21

[a22 −a12

−a21 a11

](C.6)

Beispiel C.3.

Wir berechnen die Inverse einer regularen (3× 3)-Matrix

A =

a11 a12 a13

a21 a22 a23

a31 a32 a33

.

A−1 =1

detA

a22a33 − a23a32 a32a13 − a12a33 a12a23 − a22a13

a31a23 − a21a33 a11a33 − a13a31 a21a13 − a11a23

a21a32 − a31a22 a12a31 − a11a32 a11a22 − a21a21

(C.7)

Hierbei wird detA gemaß (C.3) berechnet.

C.4 Der Rang einer Matrix

Der Rang einer Matrix spielt bei der Auflosung linearer Gleichungssysteme eine wichtige Rolle. Er kannuber die Maximalanzahl der linear unabhangigen Zeilen einer Matrix definiert werden.

Definition C.6. Gegeben sei eine (m × n)-Matrix A. Dann heißt die Maximalanzahl der linearunabhangigen Zeilenvektoren der Rang der Matrix. Man schreibt dafur kurz: rg A

Anmerkung: Der Rang einer Matrix kann ebenso gut als Maximalanzahl der linear unabhangigenSpalten einer Matrix definiert werden. Es gilt namlich: Die Maximalanzahl der linear unabhangigenZeilen einer Matrix ist gleich der Maximalanzahl der linear unabhangigen Spalten. Fur den Beweis diesesSachverhaltes und jene der nachfolgend angefuhrten Eigenschaften des Ranges einer Matrix verweisenwir wieder auf Lehrbucher uber Lineare Algebra.

Aus der Definition des Ranges einer Matrix A folgt auch, dass sich der Rang einer Matrix nicht andert,wenn man elementare Umformungen der Matrix vornimmt. Darunter versteht man:

1. Vertauschung von zwei Zeilen oder Spalten,

2. Multiplikation einer Zeile oder Spalte mit einem von 0 verschiedenem Skalar und

3. die Addition einer mit einem Skalar multiplizierten Zeile oder Spalte zu einer anderen Zeile oderSpalte.

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110 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Eigenschaften des Ranges einer Matrix

1. Es sei A eine (m× n)-Matrix; dann gilt

rg A ≤ min (m,n)

2. Es sei A eine (l ×m)-Matrix und B eine (m× n)-Matrix; dann gilt:

rg (AB) ≤ min { rg A, rg B}

3. Es sei A eine quadratische (n× n)-Matrix; dann gilt:

rg A = n ⇐⇒ detA 6= 0.

4. Es sei A eine schiefsymmetrische (n× n)-Matrix; dann ist rg A eine gerade Zahl.

Anmerkung: Aus 3.) und 4.) folgt insbesondere fur jede schiefsymmetrische (n × n)-Matrix A beiungeradem n:

detA = 0.

C.5 Eigenwerte, Eigenvektoren und Eigenraume

Definition C.7. Es sei A eine (n× n)-Matrix und es sei x ein n-Spaltenvektor, welcher verschiedenvom Nullvektor ist. Gilt

Ax = λx (C.8)

fur einen Skalar λ dann heißt x Eigenvektor von A zum Eigenwert λ.Die Menge aller zu einem Eigenwert λ gehorenden Eigenvektoren heißt Eigenraum zum Eigenwertλ.

Die Bedingung (C.8) ist aquivalent mit

det(A− λIn) = 0, (C.9)

wobei In die (n× n)-Einheitsmatrix ist.

Die linke Seite von (C.9) ist ein Polynom p(λ) vom Grad n in λ. Es heißt charakteristisches Polynomvon A.

Ist insbesondere A eine (n× n)-Matrix mit Elementen aus C, dann kann man p(λ) als Produkt von nLinearfaktoren schreiben:

p(λ) = (−1)nm∏

i=1

(λ− λi)ki mitm∑

i=1

ki = n. (C.10)

Hierbei sind die λi die Nullstellen von p(λ), also die Eigenwerte von A.

Definition C.8. Der Exponent ki des Faktors (λ − λi) in (C.10) heißt algebraische Vielfachheitdes Eigenwertes λi.

Zahlt man also jeden Eigenwert entsprechend seiner algebraischen Vielfachheit, dann gilt: A besitztgenau n Eigenwerte.

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Kinematik und Robotik 111

Eigenschaften von Eigenwerten, Eigenvektoren und Eigenraumen

1. Eine quadratische Matrix ist genau dann singular, wenn einer ihrer Eigenwerte gleich 0 ist.

2. Die Eigenwerte von A und A> stimmen uberein.

3. Es sei T eine regulare (n×n)-Matrix und A eine beliebige (n×n)-Matrix. Dann besitzen A undTAT−1 dasselbe charakteristische Polynom und daher dieselben Eigenwerte.

4. Symmetrische Matrizen mit Elementen in R besitzen nur reelle Eigenwerte.

5. Jeder Eigenraum ist Untervektorraum der Dimension d ≥ 1.

6. Besitzt ein Eigenwert λi einer quadratischen Matrix die algebraische Vielfachheit ki, dann gilt furdie Dimension di des zugehorigen Eigenraumes: di ≤ ki.

7. Ist die algebraische Vielfachheit ki eines Eigenwertes λi gleich 1, dann folgt aus 5.) und 6.) furdie Dimension di des zugehorigen Eigenraumes: di = 1.

C.6 Orthogonale Matrizen

Definition C.9. Eine (n× n)-Matrix A heißt orthogonal, wenn gilt:

A ·A> = In (C.11)

Bemerkung C.2.

(a) Eine orthogonale Matrix ist regular, da ihre Inverse existiert:

A−1 = A>

(b) Bezeichnet ai die i-te Spalte der Matrix A, i = 1, . . . , n, dann kann die Orthogonalitatsbedingung(C.11) auch so geschrieben werden:

〈ai,aj〉 ={

1 falls i = j0 falls i 6= j

Hierbei bezeichnet

〈ai,aj〉 := a>i aj = a>j ai

das innere Produkt der beiden Vektoren ai, aj .

Satz C.3. Ist A eine orthogonale (n× n)-Matrix, dann gilt

detA = ±1 (C.12)

Beweis. Es gilt:4

1 = det In = det(A ·A>) = detA · detA> = detA · detA = (detA)2.

4Wir verwenden hier, dass die Determinante eines Produkts zweier Matrizen gleich dem Produkt der Determinantender beiden Matrizen ist und dass die Determinante einer Matrix gleich der Determinante ihrer Transponierten ist.

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112 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Damit folgt aber die Behauptung. q.e.d.

Definition C.10. Eine orthogonale (n×n)-Matrix A heißt eigentlich orthogonal bzw. uneigentlichorthogonal, wenn detA = 1 bzw. detA = −1

Es gilt5

Satz C.4. Orthogonale Matrizen besitzen nur Eigenwerte vom Betrag 1.

Als Folgerung ergibt sich:

Satz C.5. Ist λ0 reeller Eigenwert einer orthogonalen Matrix, dann gilt λ0 = ±1.

5Fur den Beweis siehe in einem beliebigen Buch uber Lineare Algebra.

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Anhang D

Homogene Koordinaten

D.1 Homogene Koordinaten in der Ebene

Wir betrachten ein Koordinatensystem S := {O; e0, e1, e2} im 3-Raum E3 (Figur D.1).

Figur D.1. Abbildung derPunkte X der Ebene π auf dieGeraden sX des Strahlbundelsum O.

Jeder Punkt X des Raumes besitzt bzgl. S eindeutig bestimmte Koordinaten x0, x1, x2. π sei die Ebenemit der Gleichung

x0 = 1. (D.1)

Diese ist parallel zu den Basisvektoren e1, e2 und ihr Abstand zu O ist gleich 1. In π wird durch dasKoordinatensystem S in naturlicher Weise ein Koordinatensystem S0 := {O0; e1, e2} induziert. Hierbeiist der Koordinatenursprung O0 der Durchstoßpunkt der x0-Achse mit π. Die Punkte X von π besitzenKoordinaten 1, x1, x2 bzgl. S und Koordinaten x = x1, y = x2 bzgl. S0.

Zu jedem Punkt X in π gibt es eine Verbindungsgerade sX mit O: sX := OX. Wir erhalten auf dieseWeise eine Abbildung der Punkte X von π auf die Geraden sX durch O:

X −→ sX (D.2)

Die Geraden sX durch O werden in der Folge als Bundelstrahlen bezeichnet.

Bei der Abbildung (D.2) gehort zu jedem Punkt X ein eindeutig bestimmter Bundelstrahl. Umgekehrtfuhrt jeder Bundelstrahl sX , sofern er nicht parallel zu π ist, zu einem Punkt X ∈ π. Bundelstrahlen sU

parallel zu π schneiden π in Fernpunkten U . Alle solche Bundelstrahlen liegen in der zu π parallelen

113

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114 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Ebene π durch O. Erweitert man die Punktmenge von π um die Fernpunkte U , so wird aus der affinenEbene π die projektive Ebene P2. Dann ist die Abbildung (D.2) umkehrbar eindeutig (bijektiv). D.h.jedem Punkt X in P2 entspricht genau ein Bundelstrahl sX = OX und zu jedem Bundelstrahl sX

gehort umgekehrt genau ein Punkt X in P2, namlich sein Schnittpunkt mit P2: X = sX ∩ P2.

Die Nicht-Fernpunkte von P2 werden auch eigentliche Punkte genannt. Die Menge aller Fernpunkteheißt Ferngerade und wird mit u∞ bezeichnet.

Wir wollen nun die Punkte X von P2 inklusive der Fernpunkte auch analytisch, d.h. mittels Zahlenbeschreiben.

• Ist X ein eigentlicher Punkt in P2 mit den Koordinaten 1, x, y bzgl. S, also den Koordinatenx, y bzgl. S0, dann besitzt der zugehorige Bundelstrahl sX die Parameterdarstellung

x0

x1

x2

= ρ ·

1xy

. (D.3)

Hieraus folgt:

x =x1

x0, y =

x2

x0(D.4)

• Ist hingegen X der zur Richtung [0, x, y] gehorende Fernpunkt in P2, dann besitzt der zugehorigeBundelstrahl die Parameterdarstellung

x0

x1

x2

= ρ ·

0xy

(D.5)

Das motiviert die folgende

Definition D.1.

• Ist X ein eigentlicher Punkt in P2 mit den Koordinaten x, y bzgl. S0 und ρ 6= 0 eine beliebigeZahl, dann sei

x0 := ρ, x1 := ρx, x2 := ρy. (D.6)

• Ist X ein Fernpunkt in P2 mit der Richtung x, y bzgl. S0, dann sei

x0 := 0, x1 := ρx, x2 := ρy. (D.7)

Die Großen x0, x1, x2 heißen die homogenen Koordinaten und der Spaltenvektor

x :=

x0

x1

x2

(D.8)

heißt homogene Koordinatenspalte von X.

Anmerkungen:

1. Die affinen Koordinaten x, y eines eigentlichen Punktes X werden auch als inhomogene Koor-dinaten bezeichnet.

2. Die homogenen Koordinaten x0, x1, x2 eines Punktes X ∈ P2 sind nur bis auf einen gemeinsamenFaktor ρ 6= 0 bestimmt!

3. Die Fernpunkte von P2 sind durch x0 = 0 charakterisiert.

4. Sind X und Y zwei Punkte und x und y ihre homogenen Koordinatenspalten, dann gilt:

X = Y ⇐⇒ x,y sind linear abhangig

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Kinematik und Robotik 115

D.2 Homogene Koordinaten im Pd

Analog wie in der Ebene konnen homogene Koordinaten auch fur projektive Raume Pd beliebigerDimension eingefuhrt werden1:

Definition D.2.

• Ist X ein eigentlicher Punkt in Pd mit den Koordinaten y1, . . . , yd bzgl. eines affinen Koor-dinatensystems S0 und ρ 6= 0 eine beliebige Zahl, dann sei

x0 := ρ undxi := ρyi fur i = 1, . . . , d

}. (D.9)

• Ist X ein Fernpunkt in Pd mit der Richtung y1, . . . , yd bzgl. S0, dann sei

x0 := 0 undxi := ρyi fur i = 1, . . . , d

}. (D.10)

Die Großen x0, . . . , xd heißen die homogenen Koordinaten und der Spaltenvektor

x :=

x0

...xd

(D.11)

heißt homogene Koordinatenspalte von X.

Fur eigentliche Punkte X (x0 6= 0) des Pd haben wir daher den Zusammenhang

yi =xi

x0, i = 1, . . . , d (D.12)

zwischen den homogenen Koordinaten xi und den inhomogenen Koordinaten yi von X.

D.3 Analytische Beschreibung von Geraden, Ebenen und alge-braischen Hyperflachen mittels homogener Koordinaten

Sind A und B zwei verschiedene Punkte in Pd und a und b ihre homogenen Koordinatenspalten, danngilt: Ein Punkt X liegt genau dann auf der Verbindungsgeraden g von A und B, wenn seine homogeneKoordinatenspalte x eine Linearkombination von a und b ist:

x = λ · a + µ · b (D.13)

Das ist die Parameterdarstellung einer Geraden in homogenen Koordinaten. Die beiden Parameterλ, µ sind hierbei selbst homogen, d.h. es durfen nicht beide gleichzeitig verschwinden und fur gleichesVerhaltnis λ1 : µ1 = λ2 : µ2 ergibt sich derselbe Punkt auf g.

Sind A, B und C drei nicht kollineare Punkte in Pd und a, b und c ihre homogenen Koordinatenspalten,dann gilt: Ein Punkt X liegt genau dann in der Verbindungsebene ε von A, B und C wenn seinehomogene Koordinatenspalte x eine Linearkombination von a, b und c ist:

x = λ · a + µ · b + ν · c (D.14)

1Der projektive Raum Pd entsteht wieder aus dem affinen n-dimensionalen Raum durch Hinzufugen der Fernpunkte.

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116 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Das ist die Parameterdarstellung einer Ebene in homogenen Koordinaten. Die drei Parameter λ, µ, νbilden wieder ein homogenes Tripel, d.h. es durfen nicht alle drei gleichzeitig verschwinden und furgleiches Verhaltnis λ1 : µ1 : ν1 = λ2 : µ2 : ν2 ergibt sich derselbe Punkt in ε.

In der Ebene besitzt eine Gerade g in affinen Koordinaten x, y eine Gleichung der Form

a1x + a2y + a0 = 0. (D.15)

Setzen wir hier (D.4) ein und multiplizieren mit x0, dann erhalten wir die Gleichung von g in homo-genen Koordinaten x0, x1, x2:

a0x0 + a1x1 + a2x2 = 0. (D.16)

Insbesondere besitzt die Ferngerade u∞ von P2 die Gleichung

x0 = 0. (D.17)

Die Umrechnung der inhomogenen Gleichung in die homogene lasst sich fur beliebige algebraischeHyperflachen im Pd analog wie fur Geraden im P2 durchfuhren. Ist

endl.

ai1,...,id· yi0

1 · . . . · yid

d = 0 (D.18)

die Gleichung einer algebraischen Hyperflache F in inhomogenen Koordinaten yi und ist

n := max{i0 + . . . + id} (D.19)

die algebraische Ordnung der Hyperflache F , dann erhalten wir die Gleichung von F in homogenenKoordinaten xi durch Einsetzen von (D.12) in (D.18) und anschließendem Multiplizieren mit xn

0 :

endl.

ai1,...,id· xn−i0−...−id

0 · xi01 · . . . · xid

d = 0 (D.20)

Die Gleichung einer algebraischen Hyperflache in homogenen Koordinaten ist also tatsachlich homogen,d.h. dass in jedem Term dieselbe Exponentensumme, namlich n, auftritt.

Beispiel D.1. Die Gleichung eines Kreises k in euklidischen Koordinaten x, y lautet:

(x−m)2 + (y − n)2 − r2 = x2 + y2 − 2mx− 2ny + m2 + n2 − r2 = 0 (D.21)

Hierbei sind m, n die euklidischen Koordinaten des Mittelpunktes und r ist der Radius. Durch Einsetzenvon (D.4) erhalten wir zunachst

x21

x20

+x2

2

x20

− 2mx1

x0− 2n

x2

x0+ m2 + n2 − r2 = 0

und nach Multiplikation mit x20 die Gleichung des Kreises in homogenen Koordinaten:

x21 + x2

2 − 2mx0x1 − 2nx0x2 + (m2 + n2 − r2) · x20 = 0 (D.22)

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Anhang E

Pluckerkoordinaten

Definition E.1. Gegeben sei eine Gerade g des 3-dimensionalen Raumes P3. X und Y seien zweiPunkte auf g mit den homogenen Koordinaten x0, x1, x2, x3 bzw. y0, y1, y2, y3. bzgl. eines festgewahlten Koordinatensystems.Es sei weiters

pij := det[

xi yi

xj yj

].

Dann heißen

p0 := p01, p1 := p02, p2 := p03, p3 := p23, p4 := p31, p5 := p12 (E.1)

die Pluckerkoordinaten und die Vektoren

p :=

p0

p1

p2

, q :=

p3

p4

p5

(E.2)

die Pluckervektoren von g.

Satz E.1. Fur Pluckerkoordinaten bzw. Pluckervektoren gilt:

1. Ist X 6= Y , dann ist [p0, . . . , p5] 6= [0, . . . , 0]

2. Die Pluckerkoordinaten bzw. Pluckervektoren sind bis auf einen gemeinsamen Faktorρ 6= 0 eindeutig durch die Gerade g festgelegt.

3. Fur Pluckerkoordinaten bzw. Pluckervektoren gilt die sogenannte Pluckerbedingung:

p0p3 + p1p4 + p2p5 = 0 (E.3)

bzw.

〈p,q〉 = 0 (E.4)

Beweis.

1. Trivial aufgrund der Definition!

2. Zu zeigen ist, dass bei Wahl zweier anderer Punkte X, Y mit X 6= Y auf g sich bis auf einenFaktor ρ 6= 0 dieselben Pluckerkoordinaten ergeben.

117

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118 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Seien also X, Y zwei verschiedene auf g liegende Punkte mit den homogenen Koordinatenx0, x1, x2, x3 und y0, y1, y2, y3. Dann gilt1:

x0

x1

x2

x3

= λ ·

x0

x1

x2

x3

+ µ ·

y0

y1

y2

y3

und

y0

y1

y2

y3

= σ ·

x0

x1

x2

x3

+ τ ·

y0

y1

y2

y3

.

Hierbei ist

λτ − µσ 6= (0, 0), (E.5)

da X 6= Y . Fur die aus den Koordinaten von X, Y errechneten Pluckerkoordinaten pij folgt:

pij := det[

xi yi

xj yj

]= det

[λxi + µyi σxi + τyi

λxj + µyj σxj + τyj

]

= λσ

= 0︷ ︸︸ ︷det

[xi xi

xj xj

]+ λτ

= pij︷ ︸︸ ︷det

[xi yi

xj yj

]

+ µσ det[

yi xi

yj xj

]

︸ ︷︷ ︸= −pij

+ µτ det[

yi yi

yj yj

]

︸ ︷︷ ︸= 0

= (λτ − µσ) · pij

= ρ · pij

Der Faktor ρ ist wegen (E.5) von null verschieden.

3. Nachrechnen!

q.e.d.

Da die Pluckerkoordinaten p0, p1, p2, p3, p4, p5 einer Geraden nur bis auf einen gemeinsamen Faktorρ 6= 0 bestimmt sind, kann man durch die Forderung

p20 + p2

1 + p22 = 1

eine Normierung durchfuhren, sofern (p0, p1, p2) 6= (0, 0, 0).

Definition E.2. Ist der erste Pluckervektor p = [p0, p1, p2]> einer Geraden normiert, d.h. gilt

p20 + p2

1 + p22 = 1,

dann spricht man von normierten Pluckerkoordinaten.

Interpretiert man p0, . . . , p5 als homogene Koordinaten der Punkte eines 5-dimensionalen projektiven

1Siehe Anhang D, Parameterdarstellung einer Geraden in homogenen Koordinaten.

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Kinematik und Robotik 119

Raumes P5, dann werden durch die Bedingung(E.3) die Punkte einer quadratische Hyperflache (Qua-drik) M4 dieses Raumes erfasst.

Definition E.3.

(a) Die durch die Gleichung (E.3) erfasste Quadrik M4 des 5-dimensionalen projektiven RaumesP5 heißt Kleinsche Quadrik.

(b) Ist Γ die Menge aller Geraden des dreidimensionalen projektiven Raumes P3, dann heißt dieAbbildung

K :{

Γ −→ M4

g −→ P

}, (E.6)

welche einer Geraden g des P3 jenen Punkt P des P5 zuordnet, dessen homogene Koordinatenp0, . . . , p5 mit den Pluckerkoordinaten von g ubereinstimmen, Kleinsche Geradenabbil-dung.

Anmerkung:

1. Es lasst sich zeigen, dass die Kleinsche Geradenabbildung bijektiv ist.

2. Dass die Menge Γ aller Geraden des P3 vierparametrig ist, sieht man etwa so ein: Sind ε1 und ε2

zwei verschiedene Ebenen im P3, dann besitzt jede Gerade g, die s := ε1∩ ε2 nicht trifft, je einenSchnittpunkt Pi := g ∩ εi mit εi, i = 1, 2 (Figur E.1). Umgekehrt bestimmt jedes Punktepaar(P1, P2) ∈ ε1 × ε2 \ s × s eine Gerade des P3. Da man zur Zahlung der Punkte in εi je zweiParameter benotigt, folgt die Parameterzahl 4 fur die Geradenmenge Γ.

Figur E.1. Die Geraden des 3-Raumes bilden eine vierparametri-ge Menge.

Wir wollen abschließend noch eine euklidische Deutung der Pluckerkoordinaten bzw. Pluckervektorengeben.

Es sei g nun eine eigentliche Gerade (Nicht-Ferngerade) mit dem Richtungsvektor

d =

dx

dy

dz

.

Dann besitzt der Fernpunkt Gu von g die homogenen Koordinaten 0, dx, dy, dz.

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120 A. Gfrerrer, Institute of Geometry, TU Graz, Austria

Sei weiters A ein eigentlicher Punkt von g mit der affinen Koordinatenspalte

a =

ax

ay

az

.

Dann sind 1, ax, ay, az die homogenen Koordinaten von A.

Nehmen wir nun zu Berechnung der Pluckerkoordinaten gemaß Definition E.1 als Punkte X und Ydie beiden Punkte Gu und A, dann ergibt sich

p0 = det[

0 1dx ax

]= −dx

p1 = det[

0 1dy ay

]= −dy

p2 = det[

0 1dz az

]= −dz

p3 = det[

dy ay

dz az

]= dyaz − dzay

p4 = det[

dz az

dx ax

]= dzax − dxaz

p5 = det[

dx ax

dy ay

]= dxay − dyax

Daher hat man fur die Pluckervektoren – da ja bei Pluckerkoordinaten bzw. Pluckervektoreneine Multiplikation mit einem beliebigen Faktor ρ 6= 0 erlaubt ist – nach Multiplikation mit ρ = −1:p = d, q = a× d.

Wir haben also den

Satz E.2. Ist g eine eigentliche Gerade, d ein Richtungsvektor von g und a der Ortsvektor einesPunktes A ∈ g, dann sind

p = d, q = a× d (E.7)

Pluckervektoren von g.

Anmerkung: Der Vektor q wird in diesen Zusammenhang auch als Momentenvektor der Geraden gbezeichnet. Er steht normal zur Verbindungsebene des Koordinatenursprungs O mit der Geraden g undsein Betrag ist gleich der Flache des von a und d aufgespannten Parallelogramms (Figur E.2). Geraden

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Kinematik und Robotik 121

durch den Koordinatenursprung sind daher durch verschwindenden Momentenvektor gekennzeichnet.

Figur E.2. Euklidische Deutungder beiden Pluckervektoren pund q einer Geraden g.

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Literaturverzeichnis

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