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Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit Universität Duisburg-Essen, Winter-Semester 2006/07 Christentum und Kultur Die soziale Akzeptanz des Christentums Modul 2: Quellen und Entwicklungen – Das Christentum in seiner Geschichte

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Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit

Universität Duisburg-Essen, Winter-Semester 2006/07

Christentum und Kultur

Die soziale Akzeptanz des Christentums

Modul 2: Quellen und Entwicklungen –

Das Christentum in seiner Geschichte

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Übersicht

1. Zwischen Kultursynthese und Kulturkritik

2. Religionskritik: gebildete Skepsis und Materialismus

3. Vernunft, Geschichte, Glaube

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1.1 Ficino: Philosophie, die heilige Gottesgabe

• O ihr Männer, Bürger des himmlischen Vaterlandes und Bewohner der Erde, lasst uns doch, wenn wir können, endlich die Philosophie, die heilige Gottesgabe, aus den Händen der Gottlosigkeit befreien! Wir können aber, wenn wir wollen. Lasst uns die heilige Religion nach Kräften aus den Händen der verdammenswerten Unwissenheit erlösen! Ich ermahne und bitte daher alle: die Philosophen, dass sie die Religion tiefer erfassen oder berühren, die Priester aber, dass sie sich ... den Studien der echten Weisheit widmen

Marsilio Ficino, De religione christiana (1474)

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1.2 Ficino: Religionspluralismus

• Vielleicht bringt sogar eine solche Verschiedenheit [der Riten der Anbetung], da Gott sie so angeordnet hat, im Universum eine wunderbare Schönheit hervor. Dem Allerhöchsten geht es mehr darum, dass man ihn in aller Wahrheit verehrt, als durch diese oder jene Geste ... Er will lieber irgendwie angebetet werden, selbst ungeschickt, aber menschlich, als dass er durch die Wirkung des Hochmuts keinen Kult empfängt.

Marsilius Ficinus, De religione christiana (1474) , IV

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1.3 die Stanza della Segnatura, 1509-1511

• ursprünglich Bibliothek Papst Julius II., 8 x 6 m

• Thema: die vier Fakultäten: Theologie, Philosophie, Jurisprudenz, Poesie (statt Medizin); es wird variiert zur Symphonie von Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit

• die Disputa del Sacramento– die Wahrheit der Offenbarung

• Die Schule von Athen– die Wahrheit der Vernunft

• der Parnass– der Lobpreis der Schönen

• die Jurisprudenz– der Lobpreis des Guten

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1.3.1 La disputa del SS. Sacramento

Trinität

Gott Vater

Christus

Heiliger Geist

vier Evangelien

Maria Johannes d.T.

Petrus, Adam, Johannes, David, Laurentius Stephanus, Moses, Jakobus, Abraham. Paulus

Hostie

Hieronymus

Grogor d.Gr.(Julius II.)Beato Angelico

Bramante

Franc. Maria d.R.

Ambrosius

Augustin

Thomas

Innozenz III.

Bonaventura

Sixtus IV., Dante, Savonarola

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1.3.2 die Schule von Athen – Scuola di Atene

Platon AristotelesSokrates

Epikur

Francesco Maria della Rovere

PythagorasHeraklit

Diogenes

Euklid

Zoroaster

Ptolemäus

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1.3.3 Parnaso (Parnaß)

ApolloCalliope

Terpsichore

Horaz

Ovid

Homer

Dante

Petrarca

Ariost

Boccacciodie Musen

die griechische Dichter die lateinischen Dichter

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1.3.4 das Recht als Schutz des Guten

TapferkeitKugheit

Mäßigung

IVS

SVVMVNICVIQUE

TRIBUIT

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1.3.5 die Kultursynthese der Stanza della Segnatura

• Apoll – Christus – Plato und Aristoteles• Das Wahre, Gute und Schöne ergänzen einander und

führen in der Verschmelzung von antikem und christlichem Denken zur letzten Wahrheit und zum höchsten Gut.

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1.4 Luthers Absage an Aristoteles und an die Philosophie

• Es ist ein Irrtum zu sagen: ohne Aristoteles könne man nicht Theologe werden.²

• Im Gegenteil, man wird kein Theologe, es sei denn, man werde es ohne Aristoteles.³

• «Ein Theologe, der nicht logisch verfährt, ist ein abscheulicher Häretiker» – ist eine abscheuliche und häretische Redensart.4

• Kurz, der ganze Aristoteles ist hinsichtlich der Theologie wie Finsternis zum Licht.5

Thesen gegen die Scholastische Philosophie, 1517

• Auf natürliche Weise Gott über alle Dinge zu lieben, ist eine Fiktion, ein Luftgespinst.

• Kurz, die Natur hat weder ein richtige Urteil noch einen guten Willen

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1.5 Luther: die Untauglichkeit der Philosophie für die Religion

• Inn tzeyttlichen dingen und die den menschen angehen, da ist der mensch vornunfftig gnug, da darff er keyniß andern liechts denn der vornunfft.

• Darumb leret auch gott ynn der schrifft nit, wie man hewßer bawen, kleyder machen, heyratten, kriegen, schiffen oder dergleychen thun soll, das sie geschehen; denn da ist das natürlich liecht gnugsam tzu.¹

• Aber ynn gottlichen dingen, das ist: ynn den, die gott angehen, das man alßo thue, das es gott angenehm sey und damit selig werde, da ist die natur doch stock star unnd gar blind, das sie nitt mag eyn harbreytt antzeygen, wilch dieselbigen dinge sind. Vormessen ist sie gnug, das sie drauff fellet und plumbt eynhynn, wie eyn blind pferd, aber alles, was sie orttert und schleust [=schließt], das ist ßo gewiß falsch unnd yrrig, alßo gott lebt.

Martin Luther, Kirchenpostille (1522)

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Übersicht

1. zwischen Kultursynthese und Kulturkritik

2. Religionskritik: gebildete Skepsis und Materialismus

3. Vernunft, Geschichte, Glaube

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2.1 Pierre Charron und die libertinage érudit

• Pierre Charron, 1541-1603, zunächst Jurist, dann Theologe; Leiter der Stiftsschule in Bordeaux, mit Michel de Montaigne befreun-det, Generalvikar in Cahors und Domherr in der Gascogne

De la sagesse (Über die Weisheit), 1601

die menschliche Weisheit ist eine rationale Weisheit. Sie ist gegründet auf die Kritik der Vorurteile und auf die Kritik bloßer Autorität.

Sie ist zu unterscheiden von der Weisheit der Religion. Eine Ethik, die auf der Religion gegründet ist, führt zur Intoleranz und zum Fanatismus.

Das Buch wurde 1605 auf den Index gesetzt. Es wurde eine Art Manifest des libertinage érudit (gelehrte Freigeisterei).

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2.2 Blaise Pascal, Pensées

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2.2.1 Pascal – die Idee der verschiedenen Ordnungen

Der unendliche Abstand zwischen Körper und Geist dient als Bild für den unendlich unendlicheren Abstand zwischen Geist und caritas, denn diese ist übernatürlich.

Alle Pracht irdischer Größe hat keinerlei Glanz für jene Leute, die ihr Leben geistigen Dingen widmen.

Die Größe der Menschen, die sich geistigen Dingen widmen, ist den Königen, den Reichen und den Feldherrn, allen diesen Großen dieser Welt unsichtbar.

Die Größe der Weisheit, die nur etwas gilt, wenn sie von Gott kommt, ist für solche, die sich mit irdischen oder mit geistigen Dingen befassen, unsichtbar. Dies sind drei wesenhaft verschiedene Ordnungen.

Pensées, postum 1670, Fragment 308 (Lafuma), 793 (Brunschvicg)

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2.2.2 Pascal - die Idee der verschiedenen Ordnungen, Zusammenfassung

Alle Körper, das Himmelsgewölbe, die Sterne, die Erde und ihre Reiche wiegen nicht den geringsten der Geister auf; denn der Geist erkennt dies alles und sich selbst, und die Körper nichts.

Alle Körper zusammen und alle Geister zusammen und alle ihre Werke wiegen nicht die geringste Regung der caritas auf. Sie gehört zu einer unendlich viel höheren Ordnung.

Aus allen Körpern zusammen kann man nicht einen kleinen Gedanken hervorbringen. Das ist unmöglich und gehört zu einer anderen Ordnung. Aus allen Körpern und Geistern kann man keine Regung wahrer caritas gewinnen, das ist unmöglich und gehört zu einer anderen, übernatürlichen Ordnung.

ebd.

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2.3 De tribus impostoribus¹- Von den drei Betrügern

Typisch für die zunehmende Entfremdung von Wissenschaft und Religion ist die Erneuerung des alten Topos von den drei Betrügern:

• Moses – Jesus - Mohamed• Schlagwort für die so genannte Betrugshypothese, nach

der Moses, Jesus und Mohammed mit ihren Religionsstiftungen nicht im göttlichen Auftrag, sondern aus selbstsüchtigen betrügerischen Motiven heraus gehandelt hätten

• Titel eines Buches, das eben diesen Betrug aufgedeckt haben soll; seit Friedrich II. (13. Jh.) wurde Freigeistern immer wieder unterstellt, Autor einer solchen Schrift zu sein.

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2.4 Holbach (Paul Henri Dietrich, baron d'Holbach)

• Sie [die Priester] sind heuchlerisch, weil die meisten von ihnen zuviel Verstand besitzen, um an die Hirngespinste zu glauben, die sie den anderen erzählen. …

• Wenn sie heuchlerisch und arglistig sind, so sind sie sehr gefährlich; wenn sie dumm und in gutem Glauben fanatisch sind, so sind sie nicht weniger zu fürchten. …

• Das [die Kleriker] sind die Staatsbürger, die durch das Vorurteil am reichsten belohnt ..., denen die Fürsten ihr Vertrauen schenken, die sie als die Stützen ihrer Macht ansehen ...

Paul Thiry d' Holbach, Briefe an Eugénie (1770)

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2.5 Lamettrie: L‘homme machine, Leiden 1748

• Der Mensch ist eine sich steuernde Maschine, deren Empfindungen vielfältigen Einflüssen ausgesetzt sind.

• Das Denken ist lediglich Resultat bestimmter organischer Prozesse.

• Die Einbildungskraft des Menschen war erst nach der Benennung der Dinge in der Lage, Vorstellungen und Ideen hervorzubringen.

• Jede apriorische Erkenntnis ist unmöglich und metaphysische Spekulationen sind sinnlos.

• Allein die Beobachtung der Organe bzw. die mit ihnen gemachten Erfahrungen vermitteln dem Menschen Aufschlüsse über sich und seine Umwelt.

• Frieden für das menschliche Zusammenleben wird es erst dann geben, wenn die von »diesem Gift [der Religion] infizierte Natur wieder ihre Rechte und ihre Reinheit zurückgewinnt«.

Julien Offray de LaMettrie

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2.6 die Vergleichgültigung des Christentums vor der bürgerlichen Moral

„Auf den Trümmern des Evangeliums Christi erhebt sich ein Evangelium menschlicher Rechtschaffenheit, in das man alle Pflichten der Vernunft und der Religion einbezieht. Man unternimmt es, aus dem christlichen Volke ein Volk von Philosophen zu machen. Das Allgemeinwohl, die guten gesellschaftlichen Sitten, die Ordnung, der Frieden innerhalb der Gemeinschaft: das ist es, worauf man alle Tugenden einschränkt.

Man kennt keine anderen, man will keine anderen Gesetze, keine anderen Grundsätze, keine anderen Regeln für das sittliche Verhalten kennen. Man setzt seine Ehre daran, dem Titel eines Christen zu entsagen; man tut sich aber etwas darauf zu Gute, den Ehrennamen eines ehrlichen Menschen zu verdienen und mit Würden zu tragen.“

Charles Frey de Neuville, Sermons, 1776, S. 226

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1. zwischen Kultursynthese und Kulturkritik

2. Religionskritik: gebildete Skepsis und Materialismus

3. Vernunft, Geschichte, Glaube

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3.1 Voltaire: die Verfremdung von Jesus durch die Kirche

• Warum ihn [Jesus] beklagen, sagt man1? – Er hat eine blutige Sekte gegründet, die mehr Blutvergiesen verursacht hat als die grausamsten Völkerkriege.

• Nein, ich wage zu behaupten, ..., dass Jesus niemals daran gedacht hat, diese Sekte [sc. die christliche Kirche] zu stiften.

• Das Christentum, wie es seit der Zeit Konstantins² geworden ist, ist von Jesus weiter entfernt als von Zoroaster³.

• Jesus ist der Vorwand für unsere phantastischen Lehren, für unsere Verfolgungen, für unsere Religionsverbrechen geworden; er ist nicht ihr Urheber

Dieu et les hommes, 1769

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3.2 François Marie Arouet, gen. Voltaire, 1694–1778: Jesus, kein Christ

• Ich schmeichele mir zu beweisen, dass Jesus kein Christ war, dass er im Gegenteil mit Abscheu unser Christentum, wie Rom es gemacht hat, verdammt haben würde.

Dieu et les hommes, 1769

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3.3 Reimarus, Hermann Samuel, 1694-1768, der Betrug der Jünger

• »Apologie oder Schutzschrift für die wahren Verehrer Gottes« (entstanden vor 1747)

• 1774-78 in Auszügen von G. E. Lessing veröffentlicht (»Wolfenbütteler Frag-mente«)

• Zum ersten Mal im Druck erschienen 1972

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3.3.1 Reimarus – das Fragment über die Auferstehung

• Und ich bin gewiß versichert, wenn heutigen Tages vor Gericht über eine Sache vier Zeugen besonders abgehört würden und ihre Aussage wäre in allen Umständen so weit voneinander unterschieden als unserer vier Evangelisten ihre: es würde wenigstens der Schluß herauskommen, daß auf dergleichen variierenden Zeugen Aussage nichts zu bauen sei.

• Hier kommt es auf die Wahrheit der Auferstehung Jesu an und so fern diese aus der bloßen Aussage von Zeugen sollte beurteilt werden, so wäre in ihrem Zeugnis ... keine Glaubwürdigkeit

Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift (1777)

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3.3.2 Reimarus – Fragment über die Auferstehung (2)

• Hätte er sich doch nur ein einziges Mal nach seiner Auferstehung im Tempel vor dem Volk und vor dem Hohen Rat zu Jerusalem sichtbar, hörbar, tastbar gemacht:

• so konnte es nicht fehlen, die ganze jüdische Nation hätte an ihn geglaubt und wären so viel tausend Seelen mit so vielen Millionen Seelen der nachkommenden, jetzt so verhärteten und verstockten Juden aus ihrem Verderben gerettet worden. …

• Es ist eine Torheit, über den Unglauben der Menschen zu klagen [bei einer solchen verpaßten historischen Chance]

ebd.

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3.4.0 Gotthold Ephraim Lessing – Geist versus Buchstabe

• Kurz: der Buchstabe ist nicht der Geist; und die Bibel ist nicht die Religion. Folglich sind Einwürfe gegen den Buchstaben und gegen die Bibel nicht eben auch Einwürfe gegen den Geist und die Religion.

• Denn die Bibel enthält offenbar mehr als zur Religion Gehöriges: und es ist bloße Hypothes, dass sie in diesem mehrern gleich unfehlbar sein müsse. Auch war die Religion ehe eine Bibel war. Das Christentum war, ehe Evangelisten .. geschrieben hatten. Es verlief eine geraume Zeit, ehe der erste von ihnen schrieb; und eine sehr beträchtliche, ehe der ganze Kanon zustande kam. Es mag also von diesen Schriften noch so viel abhängen: so kann doch unmöglich die ganze Wahrheit der Religion auf ihnen beruhen

Gegen-Sätze des Herausgebers (1777)

- Textsorte? (Rede, Gebet, Bekenntnis, Abhandlung, Kommentar, Ordnung)- Wer kommt als Verfasser in Frage? - Beispiele für biblische Inhalte, die nicht den „Geist“ und die „Religion“ des

Christentums ausmachen:- Was soll mit der Differenzierung von Geist und Buchstabe, bzw. Religion und Bibel

erreicht werden? - Wer identifiziert hingegen Bibel mit Religion?

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3.4.1 Lessing, historische und religiöse Wahrheit

• Was verbindet mich denn dazu [zur Verkündigung Jesu]?

• Nichts, als diese Lehre selbst, die vor 18hundert Jahren allerdings so neu, ... daß nichts geringeres als Wunder ... erfordert wurden, um die Menge darauf aufmerksam zu machen.-

• Die Menge aber auf etwas aufmerksam machen heißt, dem gesunden Menschenverstand auf die Spur helfen.-

• Auf die kam er .. und was er auf dieser Spur .. aufgejaget, das, das sind die Früchte..-

• Was kümmert es mich, ob die Sage falsch oder wahr ist: die Früchte sind trefflich

Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777)

historisch ist

weder Wahrheit noch Irrtum der Religion beweisbar

Die Wahrheit einer Religion ist ihre Motivationskraft.

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3.4.2 Lessing, Erziehung des Menschengeschlechts - Vorbemerkung

• Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln, oder zürnen?

• Diesen unsern Hohn, diesen unsern Unwillen, verdiene in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen?

• Gott hätte seine Hand bei allem im Spiele: nur bei unsern Irrtümern nicht?

Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) , Vorbericht

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3.4.3 Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, 1780, §§ 1.4

Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) , §§ 1.4

• 1. Was die Erziehung bei den einzelnen Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte.

• 4. Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte; sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschen-geschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde, sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten Dinge nur früher