Klaus Seehafer, Magister Tinius

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Johann Georg Tinius (1764–1846) war Theologe, Pfarrer auf dem Land und kein wohlhabender Mann. Trotzdem hatte er eine der größten Bibliotheken, die jemals privat zusammengestellt worden sind: Bis zu 40.000 Bände sollen es gewesen sein, wohlgeordnet und sicher verwahrt. 1813 wurde er verhaftet: Er soll betrogen haben, um an Bücher zu kommen, gestohlen – und gemordet. In einem faszinierenden Textmosaik verknüpft der Autor biografische Referenzen mit moderner Psychologie, Rechtsgeschichte mit historischer Pflanzenkunde und stellt so die Schuld des Verurteilten grundlegend in Frage.

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Klaus Seehafer, geboren 1947, ist Buch-händler und Diplom-Bibliothekar. Seit2005 lebt und arbeitet er als freierSchriftsteller in Bitterfeld. Beiträge vonihm erschienen u. a. in der FrankfurterAllge meinen Zeitung, Die Zeit und derStuttgarter Zeitung.

Er hat mehr als zwanzig Bücher geschrie-ben und herausgegeben. Seine Hörspielewurden vom NDR, WDR, BR und vonRadio Bremen gesendet.

Johann Georg Tinius (1764–1846) wareologe, Pfarrer auf dem Land und keinwohlhabender Mann. Trotzdem hatte ereine der größten Bibliotheken, die jemalsprivat zusammengestellt worden sind: Biszu 40.000 Bände sollen es gewesen sein,wohlgeordnet und sicher verwahrt.

1813 wurde er verhaftet: Er soll betrogenhaben, um an Bücher zu kommen,gestohlen – und gemordet.

Klaus Seehafer rollt den spektakulärenFall des Magisters Tinius mit kunstvollenMitteln neu auf. In einem faszinierendenTextmosaik verknüpft der Autor biogra-fische Referenzen mit moderner Psycho-logie, Rechtsgeschichte mit historischerPflanzenkunde und stellt so die Schulddes Verurteilten grund legend in Frage.

Der Fall Tinius bringt vor allem ein emazu Bewusstsein: das der Sinnlichkeitgedruckter Bücher, an deren »magischer«Anziehungskraft sich bis heute nichtsgeändert zu haben scheint.

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19.90 EUR [D]Inklusive eBook ISBN 978-3-940884-81-7

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Klaus SeehaferMagiSter tiniuS

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Klaus Seehafer

MAGISTER TINIUS

Lebensbild eines Verbrechers aus Büchergier

essay

Verlag andré iele

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alle rechte vorbehalten.© Vat Verlag andré iele, Mainz 2013Lektorat & Satz: Felix Bartels, Osakaumschlag: inka HeerdeDruck und Bindung: anrOP Ltd., JerusalemPrinted in israel.

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isbn 978-3-940884-81-7

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Gleich bei meinem Eintritt faßte mich der ewigeZauber der Bücher, jene fast krankhafte, unwider-stehliche Sucht, die jeder Bibliophile kennt, die Lust,alle diese zahllosen Werke zu sehen, zu riechen – ja,zu riechen, genießerisch die Einbände in der Hand-fläche zu fühlen und mit den Fingerspitzen der Blind-pressung des Rückens nachzugehen, griechisch zu le -sen und Latein, bedächtig das alte, gelbfleckige Papierzu wenden, und vom erlesenen seltenen Text zu ko -sten, hier und dort, bis man berauscht ist, wie einweiser Trinker.

arno Schmidt: »Die insel« (1937)

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inHaLt

»Der Hammermörder ist wieder frei!« 9geschichten aus dem Lesesaal i: ein Buch aus der

Bibliothek des Magisters 13Vom Schäfersohn in Staakow zum Pfarrer in

Heinrichs. 1764 bis 1809 17Teil 1: Eine Kindheit in der Lausitz 17Teil 2: Studentenjahre 33Teil 3: Erste Jahre als Lehrer und Pfarrer 38Exkurs über die Autobiographie des Magisters Tinius 3

Poserna oder Die Bibliothek von 40.000 Bänden. 1810 bis 1813 7Exkurs darüber, ob Tinius ein Bibliomane gewesen ist 66Von Sachsen nach Syrakus: Exkurs über Johann

Gottfried Seume 71Exkurs über Betäubungsmittel 74

raub und Mord – Die verschwiegenen Jahre: 1810 bis 1813 77Teil 1: Die Angst geht um im Land 77Teil 2: Taten – und endlich ein Täter? 91Exkurs über die geheime Weichenstellung in Tinius’

Leben 107Exkurs über die Lesewut um 1800 112

nicht länger Pfarrer, doch lange angeklagter. 1813 bis 1823 119Teil 1: Verhaftung und Voruntersuchung.

1813 bis 1814 119Teil 2: Die Degradation am 31. März 1814 –

Dokumente der Demütigung 16Exkurs über Gerücht, Vorurteil und Dämonisierung 16

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Exkurs über die neue Funktion des Beweises im zeit-genössischen Prozeß 167

Teil 3: Fortführung des Prozesses. 1814 bis 1823 172Abschließende Anmerkung 18Exkurs über die Dummheit eines klugen Menschen

sowie über Schuld und Unschuld 186in den Zuchthäusern Moritzburg und Lichtenburg.

1823 bis 183 193geschichten aus dem Lesesaal ii: Die endzeitlichen

Werke des Magisters tinius 20Der unheimliche greis. 183 bis 1846 213

Postskriptum 1: War Magister Tinius ein Mörder oder nicht? 234

Postskriptum 2: Genealogische Anmerkungen 236Exkurs über die Glaubensnöte des Magisters Tinius 237Exkurs über Arno Schmidt, Detlef Opitz & mich 241

geschichten aus dem Lesesaal iii: Odyssee eines nachlasses 247

geschichten aus dem Lesesaal iV: Wer war Magister tinius? 23Exkurs über Bibliomanie und Bücherdiebstahl in

Europa 2

Danksagung 271auswahlbibliographie 273anmerkungen 30

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»der hammermörder ist wieder frei!«

»in den zahlreichen Verhören, denen [er] in der Folge-zeit ausgesetzt war, leugnete er hartnäckig jede Schuld:von Kindheit auf an Demütigungen gewöhnt, ein Mei-ster kaltherziger Verstellungskunst, früh geübt, seinegedanken und gefühle um der Verfolgung eines Zieleswillen in Zucht zu halten. Mit derselben energie, dieihn als Schüler und als jungen eologen den Kampfmit Widerwärtigkeiten aller art hatte aufnehmen lassen,führte er jetzt den Kampf mit den richtern.«

Helene Homeyer: »Bericht über das Leben des Pfarrers undMagisters tinius, Mörders aus Büchersammelwut« (1932)

183 geschah, wovor sich viele Menschen lange gefürchtethatten: Der Halleysche Komet kehrte wieder. im selben Jahrwurde in der Moritzburg von Zeitz, einem der bestbefestigtenZuchthäuser Preußens, ein Mann freigelassen, der – die un-tersuchungshaft eingerechnet – 22 Jahre lang hinter gitterngesessen hatte. Mit 49 war er in der Blüte seiner Jahre ver-haftet worden. niemals hatte man ihm eine Schuld nach-weisen können, immer hatte er alles bestritten. Das Verfahrengegen ihn – einer der längsten indizienprozesse, die in Preu-ßen je geführt worden sind – war nach der wirren Zeit derKoalitionskriege und Friedensschlüsse, der neuen grenzen,Zuständigkeiten und gesetze, endlich nach zehn Jahren zuende gegangen. Längst war, was man dem angeklagten einstvorgeworfen hatte, zur Fama geworden. entlassen wurde einkleiner, zierlicher Mann, an geist und Körper ungebrochen,nicht weiter auffällig, ein kräftiger Fußgänger, der bald daraufverschwunden war. er tauchte in Weimar und erfurt auf. inglauchau soll er gesehen worden sein, auch in ascherode,in Manebach, Kahla und rudolstadt.

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Wenn er fünf taler hatte, lief ’s gut, hatte er sie nicht,konnte jede Streifmannschaft ihn als Vagabund verhaftenund zurück nach Zeitz expedieren. in der Moritzburg saß ernun nicht mehr im Zuchthaus, sondern in der sogenanntenLandarmenanstalt, nicht länger zwar als Häftling, aber derumgangston war entwürdigend roh, die Zucht militärischstreng und seine Freizügigkeit wieder dahin. Vagabundenund Huren waren seine nachbarn. Die einzigen Vorzügebestanden darin, daß er hier zu essen bekam und in derkalten Jahreszeit ein Dach über dem Kopf hatte.

als der Mann 1813 verhaftet worden war, hatte eine völligandere Zeit geherrscht. es war die große Zeit der Postkut-schen. Der Walzer kam als gesellschaftstanz auf. georg Büch-ner wurde geboren, und goethe arbeitete an »Dichtung undWahrheit«. als der berüchtigte gefangene der Moritzburg183 wieder auf freiem Fuß war, fuhr die erste deutsche ei-senbahn zwischen nürnberg und Fürth, hatte Büchner seinDrama »Dantons tod« geschrieben und Bettina von arnim»goethes Briefwechsel mit einem Kinde« veröffentlicht. DeruS-amerikaner Samuel Colt ließ sich einen von ihm ent-wickelten revolver patentieren. Charles Darwin beobachteteauf den galapagosinseln, wie sich durch isolation neue artenbilden. Der New York Herald kam heraus und wurde zumPreis von nur einem Cent massenhaft vertrieben.

Der unbekannte Wanderer kam und verschwand alsbaldwieder, keiner wußte, wohin. Die Familie hatte sich von ihmlosgesagt. Freunde, soweit er welche besessen hatte, hattenihn in den langen Jahren der Haft verlassen. Doch als bekanntwurde, wer da wieder auf freiem Fuß war, ging die angstum in Preußen und Sachsen, am meisten natürlich dort, woer früher gelebt hatte und wo die gegenden einsam, dieWälder dicht und dunkel waren. Wie ein riesiger, finstererSchatten waren zwischen üringer Holzland, Fläming undSpreewald, zwischen elbe und Havel die gerüchte immerschon da, wenn vom Wanderer noch weit und breit nichtszu sehen war.

»Der Hammermörder ist wieder frei!«

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Der Hammermörder soll wieder auf freiem Fuß sein,raunte man sich zu. Der Mann, der der alten Frau in Leipzigden Schädel eingeschlagen hat. geld habe er gewollt. Hatschon früher die mitreisenden Männer auf Kutschfahrtenzwischen Lützen und Leipzig mit selbst verfertigtem Schnupf-tabak und die Damen mit hübschen Blumensträußchen be-täubt und dann ausgeraubt. nie habe man ihn wiedererkannt,weil er sich durch Perücken, Bärte und immer neue Verklei-dungen ein immer anderes aussehen zugelegt habe. und derist jetzt wieder frei. Der Hammermörder ist frei!

in einer Zeit, da es keine genauen Steckbriefe gab undaus der bis heute nur ein einziges, noch dazu ungesichertesBild dieses Menschen existiert, wußte niemand, wie er genauaussah, dieser Johann georg Heinrich tinius. also konnteihn jeder mit den Zügen der eigenen Phantasie, der eigenenFurcht und Schrecknis ausstatten. am ende, so erinnert sicheiner, der ihn noch als Kind kennengelernt und später inder Gartenlaube darüber geschrieben hat, »hat er alle seinedunklen blutigen geheimnisse mit sich ins grab genommen.Kein Mensch hat jemals nach ihm gefragt. Weder angehö-rige, noch eine Behörde wandte sich an meinen großvaterum ausstellung eines totenscheins. er war für die Welt längstgestorben!«

»Der Hammermörder ist wieder frei!«

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geschichten aus dem lesesaal iein buch aus der bibliothek des magisters

ich hatte schon fast den ganzen nachmittag in der univer-sitäts- und Landesbibliothek Halle verbracht, hatte mir einentitel nach dem anderen aus der eologischen abteilungkommen lassen, einzig zu dem Zweck, Lücken im Literatur-verzeichnis meines letzten Buches zu schließen. eine sturz-langweilige arbeit, die ich mir deshalb auch jedesmal biszum Schluß aufspare. in gedanken war ich längst bei meinerneuen Biographie: Johann georg tinius, der Büchermörder!ein Mann, der sich einst mit bibliomanischem Furor eineBibliothek von angeblich 40.000 Bänden aufgebaut hatte.und weil ein einfacher Landpfarrer niemals genügend Kapitalfür eine solche Sammlung hätte aufbringen können, soll ergeraubt und gemordet haben, um an das benötigte geld zukommen.

Das Jahr 1810 muß für den Sammler ein Höhepunkt ge-wesen sein. Der Hallenser eologe Johann august nösselt –auch er ein großer Sammler – war drei Jahre zuvor gestorben,und nun lag da ein auktionskatalog mit allen 10.966 Bändenvor, die er hinterlassen hatte. Die Sammlung ging am 3. Sep-tember komplett an tinius, den unbekannten Pastor aus Po-serna, der bislang allenfalls durch gutes Predigen und zweikleine Heftchen mit Homilien aufgefallen war. er soll sichdamals gebrüstet haben, mit seinem gebot noch 400 talerüber dem des preußischen Königs Friedrich Wilhelm iii.gelegen zu haben. im november 1813, als er schon neunMonate in untersuchungshaft saß und um alles in der Weltwieder frei sein wollte, gab er vor, seine Bücher der Berliner(mithin preußischen!) Bibliothek zugedacht zu haben. einandermal war der »Schatz von 40 tausend auserlesenen Bü-chern, an welchen ich seit 20 Jahren gesammlet und all meinHab und gut darauf verwendet habe«, angeblich für die

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universität Jena bestimmt, und er, tinius, müsse so raschals möglich aus der Haft, um den wertvollen Bestand zu-sammenhalten zu können.

Bald, bald durfte ich in all diesen geschichten wühlenund forschen und hemmungslos neugierig sein. immerhingab es schon jetzt Berührungspunkte zwischen meiner dem-nächst beendeten arbeit, in der die theologischen richtungenwährend der Deutschen Klassik eine rolle spielten, und dersich anschließenden: Der name nösselt tauchte wiederholtauf, und so bibliographierte ich den rest des nachmittagsdie hier noch bestehenden Lücken. Das ist nun eine dieserarbeiten, über der man irgendwann an der nützlichkeit wis-senschaftlichen arbeitens zu zweifeln beginnt. Wer hat etwasvon der erkenntnis, daß es einmal einen »einflussreichenprotestantischen eologen neologischer richtung« namensnösselt gegeben hatte, 1734 in Halle geboren, 1807 dortauch gestorben? Wem nützen diese ganzen ergänzungen vonVornamen wie J. a. in J[ohann] a[ugust]? Wer kann etwasmit der entdeckung anfangen, daß ein titel nicht nur 1772,sondern auch noch 1787 und 1803 erschienen war?

Meine augen brannten. Die uhr an der Wand zeigte mir,daß der Lesesaal in einer halben Stunde schließen würde.Vor mir lag der letzte titel des wackeren unbekannten: »an-weisung zur Kenntniß der besten allgemeinen Bücher in al -len eilen der eologie«, 4. auflage 1800. Dies noch raschbuchstabengetreu abgeschrieben – und fertig!

Schon wollte ich das Buch zu den anderen legen, als ichunwillkürlich mit dem Daumen über die 700 Seiten desWälzers hinstrich und dabei entdeckte, daß jemand auf Seite48 oben rechts ein Kreuzchen hingezeichnet hatte. Das gehörtsich nicht bei einem über 200 Jahre alten Buch, ist aber jahr-hundertealter Mißbrauch. Schon 134 hat sich richardusde Bury in seinem »Philobiblon« über »unzuständige glos-satoren« beschwert. Dann wurde mir auf einmal schlagartigklar: Das hat nösselt selbst gemacht. Das Kreuzchen aufSeite 48 war sein versteckter Besitztumsvermerk! Wo hatte

Geschichten aus dem Lesesaal I

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ich noch von dieser tatsache gelesen? es war in letzter Zeitin einem anderen Zusammenhang gewesen.

Die stundenlange stumpfsinnige arbeit muß mir wohlden Kopf zugenagelt haben, denn erst, als ich in der Stra-ßenbahn saß, ging mir auf, was aus dem Kreuzchen folgte:Wenn diese »anweisung« einst zur Bibliothek ihres Verfassersgehört hatte, mußte sie doch später dem bibliomanischennachlaßsammler tinius gehört haben! Zum ersten Mal hatteich also etwas in Händen gehabt, worauf früher schon desMagisters Hand gelegen hatte. eines jener vielen Bücher,die er stolz in die selbst geschreinerten regale seines Hausesoder seiner großen Bücherscheune eingeordnet haben mußte.Johann georg tinius mochte Besitztumsvermerke nicht undhatte darum seinen namen selten vermerkt. (So selten, daßeinmal auf einer auktion ein völlig unbedeutendes theolo-gisches Büchlein einen aberwitzigen Preis erzielte, nur weiles vorn ein gestempeltes t. für tinius trug.) nösselts gesamteBibliothek war in der des Pfarrers aufgegangen. Beide Samm-lungen existierten nicht mehr. aber was ich hier gefundenhatte, trug auf Seite 48 dieses Kreuzchen. ich hatte also einesvon 11.000 Büchern des Professors nösselt entdeckt unddamit zugleich eines der 40.000 von Magister tinius.

er hatte sich an der »anweisung zur Kenntniß der bestenallgemeinen Bücher in allen eilen der eologie« bestenfallszwei Jahre erfreuen können. am 4. März 1813 wurde der da-mals 48jährige verhaftet, weil man ihn verdächtigte, eineLeipziger Witwe ermordet zu haben. aber damit greife ichmeiner geschichte weit voraus – um 48 Jahre, um genau zusein.

Ein Buch aus der Bibliothek des Magisters

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vom schäfersohn in staakow zum pfarrer in heinrichs

1764 bis 1809

Teil 1: Eine Kindheit in der Lausitz

»nach dem aufstehen war ordentliche Musterung; Wa-schen, Haarkämmen, und eine halbe Betstunde vordem tische, nebst Morgengesang. Dann erst kam eszum Frühstücken. Dasselbe geschah auch abends vordem Schlafengehen. Die tischgebete waren etwas langund feierlich in Verbindung mit Knechten und Mäg-den. Mit ihnen hatten wir gleiche Kost.«

»Merkwürdiges und lehrreiches Leben des M. Johann georgtinius …« (1813)

1.

Ich, Johann Georg Tinius, bin der zweite Sohn von 9 Kin-dern aus Einer Ehe, wovon noch sechse leben, geboren am22. October 1764 auf einem Landhause in der Mühle beidem Niederlausitzischen Flecken Staako, das auf der säch-sischen Seite liegt, wo mein Vater, Johann Christian, alsAufseher über die königlich preußischen Schäfereien inden Ämtern Buchholz und Krausnigk, damals im Sommersich aufhielt. Er stammt her aus dem Dorfe Kimmeritzbei Luckau, in der Niederlausitz, wo sein Vater Schäfergewesen ist, und unsern Namen zuerst nach Deutschlandgebracht hat. Er ist nämlich im spanischen Successions-kriege, als ein siebenjähriger Knabe, an der großen Heer-straße bei Baruth, wo beständige Durchmärsche geschahen,an einem Morgen, seitwärts im Kornfelde, herumirrend

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und weinend gefunden worden im militärischen Habit,und hat ausgesagt, es wäre in der Nacht ein großer Tumultentstanden, und durch einen feindlichen Überfall Allesauseinander gesprengt worden. Er hätte sich ins Korn ver-steckt, und bei Tages Anbruch Niemanden mehr gesehen.Alles sey fortgewesen. Er hat eigen seinen Namen gewußt,und von seinem Vater ausgesagt, daß derselbe auf einemSchimmel sitzend mit einem großen Säbel ein Regimentkommandirt habe. Bestimmtere Nachrichten fehlen. DerName ist römischen Ursprungs mit verschiedenen Vor -sylben, z. B. Atinius, Titinius, Vatinius; der reine Namefindet sich in Rufus Tinius, der unter den römischen Kai-sern einen Feldzug gegen die Parther führte.

genealogische Forschungen haben ergeben, daß schon dieseranfang der autobiographie von Johann georg Heinrich ti-nius voller ungereimtheiten ist. in den Kirchenbüchern vonKümmeritz war niemals ein Schäfer mit namen tinius oderähnlich eingetragen. Der Spanische Successionskrieg – ein13jähriger Krieg um das erbe Karls ii., der kinderlos gestor-ben war und die Begehrlichkeiten von nicht weniger als vierDynastien geweckt hatte – war zu keiner Zeit auch nur indie nähe der niederlausitz gekommen.

allerdings hatte es im September 1706 in der nähe vonLuckau einzelne gefechte zwischen fliehenden Sachsen undanrückenden Schweden im nordischen Krieg gegeben. Dakönnte der großvater von tinius als kleiner Junge schoneher abhanden gekommen sein. er war auch nicht der erste,der den namen nach Deutschland gebracht hatte. nachge-wiesenermaßen wurde 172 im märkischen Fehrbellin einJohann tinius geboren – und dieser dürfte weitere, nichtnachweisbare namensvetter einschließen. Die häufigste Ver-breitung des namens findet sich noch heute in Berlin, denbrandenburgischen Kreisen Dahme-Spreewald, teltow-Flä-ming und den umliegenden Landkreisen; in Deutschlandleben heute knapp 300 Personen, die tinius heißen.

Vom Schäfersohn in Staakow zum Pfarrer in Heinrichs

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als die autobiographie des Magisters Johann georg Hein-rich tinius 1802 das erste Mal erschien, war er 37 Jahre alt,ein geachteter Pfarrer, nach dem tod der ersten Frau in zwei-ter ehe verheiratet und Vater von sechs Kindern, adoptiertenund eigenen. Dennoch lassen sich starke untertöne vonMinderwertigkeitsgefühlen nicht überhören. Da ist der ge-bildete Lateiner, der seinen namen natürlich von einem rö-mischen Feldherrn ableiten muß – aber kein altes oder neue-res Konversationslexikon kennt dessen namen. Da ist seingroßvater, aus dem nichts auftauchend wie Moses im Schilf-körbchen, Mitleid heischend und hilfsbedürftig. und derurgroßvater natürlich »auf einem Schimmel sitzend mit ei-nem großen Säbel ein regiment kommandirent«: ein Kriegs-held, der ein edles, weithin sichtbares tier lenkt und hin-ter dem ein ganzes regiment steht, ein Streiter mit demSäbel, eine geradezu mythische gestalt. Was für ein verzwei-felter kindlicher größenwahn pulst da noch immer in die-sem Mann auf dem Höhepunkt seines ansehens! 1813 hater den Zenit überschritten, da zerren ihn die selbst gewecktenerinnyen rächend in die tiefe. er wird verhaftet, ein Objektder öffentlichen Sensationslust, und seine autobiographieerscheint, nunmehr als Separatdruck und ohne sein Zutun,ein weiteres Mal. Da ist er 48 Jahre alt.

2.

Soviel ist sicher: tinius wurde bei der Mühle von Staakow,dem heutigen rietzneuendorf-Staakow, geboren. Das liegtim großraum Wittenberg, Potsdam, Königs Wusterhausen,eisenhüttenstadt und Cottbus, zwischen Fläming und Spree-wald. einen Katzensprung weiter verläuft heute die polnischegrenze. als er auf die Welt kam, war diese Welt durch dasende des Siebenjährigen Krieges bitterarm geworden. 1763,ein Jahr vor seiner geburt, hatten Österreich, Sachsen undPreußen den Frieden zu Hubertusburg geschlossen, aber dieBevölkerung aller beteiligten Staaten litt noch lange unter

1764 bis 1809

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den verheerenden Folgen der jahrelangen bewaffneten aus-einandersetzungen. Zwar hatte Friedrich ii. zwischen 1740und 1763 in drei Kriegen Schlesien für Preußen vereinnahmtund den Hohenzollernstaat damit zur viertstärksten Machtin europa befördert, aber der Verlust an Soldaten war mit180.000 Mann ein blutiger aderlaß geworden. Der einwoh-nerzahl nach rangierte Preußen damals nur an 13. Stelle untereuropas nationen. Die zivile Bevölkerung, besonders in denam stärksten betroffenen Landesteilen Sachsen und Pom-mern, war in den Kriegen stark dezimiert worden. Sachsenhatte als ein von Preußen besetztes gebiet außerdem starkunter Plünderungen, Zwangsrekrutierungen und Kontribu-tionszahlungen zu leiden. und zu alledem hatten die letztenJahre eine Mißernte nach der anderen gebracht.

Das gut Staakow war 1711 um eine Schäferei und 1718um ein Vorwerk erweitert worden, für die großvater undVater tinius arbeiteten, außerdem um eine Wasser- und eineSchneidemühle. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundertsentwickelte sich Staakow zu einer kleinen gemeinde, derenBewohner von Handwerk und Landwirtschaft lebten. Mitdem Kauf des anwesens durch Friedrich Wilhelm i. wurdeStaakow dann dem amt Buchholz unterstellt.

Wie es damals bei Johann georg tinius und seiner Familiezugegangen sein wird, kann man sich vielleicht anhand einerwenige Jahrzehnte vor seiner geburt aufgezeichneten Be-schreibung einer preußischen Vollbauernstelle vorstellen:»Michel Koßian der elter, Vollbauer, hat 4 Kinder, als Jochen29 Jahr alt, Maria 28 Jahr, anne 26 und trine 16 Jahr alt.Dessen Wohnhaus ist von gebunden, darinnen eine Stubemit 3 schlechten Fenstern, der Kachelofen ist niedergefallen,das Schweifchen schlecht. im Hause eine schlechte Kammer,noch im Hause zwei Viehstelle, item ein Backofen, so nochzimlich. Das Haus an Holz, Wenden und Dach schlecht imStande und muß notwendig gebessert werden. Die Scheureist von gebund mit einer Scheundiele, daran ein Stelchen.

Vom Schäfersohn in Staakow zum Pfarrer in Heinrichs

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Das Holz und Wende sampt dem Dache ist noch in mittel-meßigem Stande. Darnegst ein Schopchen von 4 gebunden,darunter 2 Viehstelle oben mit Bohlen beleget und Leimbeschlagen, darauf das Saatkorn verwahret wird. Das torge-richte mit einer kleinen und zwei großen türen nur schlecht.an beiden Seiten ein Zaun im Hackelwerk, so noch zimlichim Stande, wie auch der übrige Bohlenzaun. Hinter demHause ein garten mit Obstbeumen.«

tinius’ Vater Johann Christian war Schäfer, was wenigwar, aber er war aufseher über die königlich-preußischenSchäfereien in den Ämtern Buchholz und Krausnick. er waralso mit einem angestellten im öffentlichen Dienst vergleich-bar und verfügte vermutlich auch über Mitarbeiter. Dennochwird er nicht viel verdient haben. Hat vielleicht, um die zeit-weise elfköpfige Familie durchzubringen, neben dem Scha-fehüten Kräuter gesammelt, Blumen und gräser, alles, woraussich Kost und Beikost machen ließ. Johann georg ist oft ge-nug mitgegangen, hat ihm so manches abgeschaut und sichoffenbar mit der Zeit ein beträchtliches Wissen über dieguten und gefährlichen Kräfte der Pflanzen angeeignet.

auch von mütterlicher Seite war nicht viel geld in dieehe gekommen. »Meine Mutter ist eine geborene gnädig,aus der preußischen amtsschäferei teuro, bei Buchholz, ander niederlausitzischen grenze, eine Stunde von meinemgeburtsorte, wo ihr Vater als Schäferei-Verweser angestelltgewesen, und in einem hohen alter von 98 Jahren, als derwürdigste greis, den ich je gekannt habe, im Jahre 1786 ge-storben ist.«

Vater und beide großväter waren Schäfer, der Junge jedenSommer mit auf den Wiesen. am ende eines langen, er-bärmlich harten Lebens, das nichts ausgelassen hatte, umtinius für alles zu bestrafen, was er etwa begangen habenmochte – und wir wissen es ja bis heute nicht mit letzter Si-cherheit! –, sagte eine Mutter zu ihm: »Wenn meine Jungensbloß halb so klug werden wollten, wie Sie es sind, HerrMagister!« Da soll der alte nur verbittert abgewinkt haben:

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»Wünschen Sie das nicht, liebe Frau! Das war gerade meinunglück, daß ich so klug war und immer noch mehr wissenund immer klüger werden wollte! es wäre mir besser gewe-sen, man hätte mich als Hütejungen bei meinen Schafengelassen; so wäre ich wie mein Vater ein ehrlicher Schäfergeworden.«

nichts mehr von weißem Schimmel und generals-ur-großvater, der vor einem ganzen regiment herreitet. in denautobiographischen aufzeichnungen aber geht es zunächstnoch tief erbaulich und in hohem tonfall weiter. »Die got-tesfurcht, der Fleiß und die Mäßigkeit waren unsere täglichengäste. Vater und Mutter gingen Sonntäglich in die Kirche,wir aber sahen nie einen Schulmeister, noch einen Pfarrer,bis wir 12 Jahre alt waren – nach dem Beispiel Jesu. Wirblieben ganz naturkinder, außer der Veredelung durch diehäusliche Frömmigkeit. […] alle diese umstände haben ei-nen bleibenden eindruck auf mich gemacht. nie habe ichvon meinen eltern ein böses Wort gehört, noch ein bösesBeispiel gesehen. ehrlichkeit bis auf den Heller, Verträglich-keit ohne ende, geradheit und Wahrheitsliebe, ätigkeitund geduld …« Die aufzählung geht immer noch weiter.Der großvater mütterlicherseits habe kurz vor seinem todewie der fromme Simeon seinen enkel »eingesegnet, und mirmeine Schicksale prophezeit«.

ein starker Vergleich, denn in Lukas 2 finden wir, daß Si-meon offenbart wird, das Kind, das er in armen halte, seikein geringerer als der Messias. Der ehrwürdige lobt dar-aufhin gott und dankt ihm mit den Worten: »nun läßt du,Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden.« auch dem altenSchäfereiverweser wird prophetisch zumute: »Seine Wortesind mir unvergeßlich geblieben, und da sie meinem geistein der Folge eine eigene richtung gegeben haben: so mögensie hier sein andenken verewigen. ›Sorget nur nicht, liebenKinder, sprach er, ihr seyd wohl arm, aber ihr werdet vielgutes haben, so ihr gott werdet fürchten, die Sünde meidenund gutes thun. und du, mein Sohn – hier fasste er meine

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Hand – du hast einen schweren Stand erwählt, und willstein Hirt der Heerde (?) Jesu werden; theile das Wort derWahrheit recht. Du wirst darüber viel leiden müssen; aberfliehe nicht, wann der Wolf kommt, sondern vertheidige dieWahrheit bis in den tod, so wird gott der Herr für dichstreiten. Lebe wohl und denke an mich!‹«

Literarisch ein guter trick, denn zu diesem Zeitpunktmuß tinius in seiner beruflichen Laufbahn der Wind schonein paar Mal heftig um die nase geweht sein, wird er sichschon einige Male gerechtfertigt haben müssen. Möglicher-weise hatte er auch schon einiges zu verantworten, was sichin einer gottesfürchtigen Biographie nicht gut machen würde,also konnte sein Lebenslauf gar nicht gottesfürchtig genugausfallen.

3.

Über wen schreibe ich da überhaupt? Wer ist es, der am 22.Oktober 1764 auf die Welt kam, getauft auf die namendreier ausgesprochen standhafter und streitbarer Heiliger?er ist ja kein Dichter, Komponist oder Staatsmann, sondernder nachwelt, wenn überhaupt, dann als räuber und Mörderin erinnerung geblieben. und Johann georg Heinrich tiniuswar nicht einmal ein robin Hood, der zugunsten der armengemordet und geraubt hätte, sondern ein ganz und gar egoi-stischer Büchersammler. Da muß doch die Frage erlaubtsein: Warum ist dieser Mann eigentlich immer noch nichtim Orkus des Vergessens verschwunden? Warum gibt esheute ein antiquariat mit seinem namen, eine Zeitungsserievoller literarischer rätsel, deren autor unter dem Pseudonym(»)tinius(«) schreibt? Warum existieren bei ebay und in al-lerlei Blogs accounts, die sich den Magister tinius als tarn-kappe überziehen, und warum gibt es über ihn mehr Literaturals über viele bedeutendere und zweifellos nützlichere Zeit-genossen? Mehr als zwei Jahrhunderte lang scheint dieserMann fasziniert zu haben. Zu Lebzeiten kulminierte das

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zeitweilig in grauen, später wurde er zur schillerndsten ge-stalt unter den deutschen Bibliomanen.

aber zurück zum Kind tinius: unschuldig, lernbegierigund intelligent. unsere annahme, daß es vielleicht ein Mörderwerden sollte, muß im Hinterkopf bleiben und darf erstwirksam werden, wenn der erwachsene tinius tatsächlichunter Verdacht und vor gericht gerät. Dann können auchwir gericht spielen, mit allen drei rollen: ankläger, Vertei-diger und richter. tinius wurde angeklagt und durch zweiinstanzen hindurch verurteilt. Wir rollen den Fall jetzt erneutauf. gnade müssen wir ihm nicht schenken, gerechtigkeitgenügt. Wahrscheinlich ist das schon mehr, als ihm zu Leb-zeiten widerfahren ist.

Bislang habe ich das tinius-gewebe zweisträngig geflochtenund meinen eigenen Faden mit dem des Magisters verzwirnt.Jetzt wird noch ein dritter hineingedreht, und der stammtvon einem Mann namens Detlef Opitz. Siebzig, achtzig Jahrelang hat es kaum eine nennenswerte tinius-Forschung gege-ben – und dann kommt dieser erzähler und veröffentlichtim Jahre 200 einen historischen roman mit dem titel »DerBüchermörder«. eigentlich aber doch keinen roman, sonderneine in literarisch hoch verschnurrter Sprache gefaßte Bio-graphie, die aus einem Mosaik in schlechtem Zustand einBildnis zusammenfügt, dem nur noch wenige Steinchen feh-len. aber stimmen denn die vielen kleinen randbemerkungen,Fußnoten und integrierten Dokumente überhaupt, die er daerzählt hat? inwieweit kann ich mich auf ihn verlassen?

»gehen sie davon aus«, schrieb er mir, »daß es in denmarginalien keine literatur gibt, will sagen nix erfundenes.auch das buch selbst enthält kaum erfindungen, selbst diepersonen, und noch der kleinste wachtmeister, ist authentisch.das war das prinzip des buches, bis ins winzigste Detail alleszu recherchieren.«

in meiner textur wird er der dritte, der rote Faden sein,der sich von vorn bis hinten durch alles zieht, von belle-

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tristischen arabesken befreit, damit klar bleibt: Von ihm ist der biographische roman mit all seinen entdeckun-gen, von mir die geruhsam-übersichtliche Biographie. Opitz’»Büchermörder« hat mit »Zettels traum« von arno Schmidtgemeinsam, daß hier romane weiter führen, als es die Wis-senschaft vermocht hat. Daß sie dabei aber neben demZüchten prächtiger Wortblumen auch derart viel Wissenschultern müssen, macht die Lektüre nicht eben einfach.also habe ich keinen alles übertreffenden tinius-Ciceronegeschrieben, sondern den reiseführer für viele, dabei im-mer eingedenk des Wortes von Matthias Claudius: »Hab’sgemacht wie die anderen: fremd Kraut, und meine Brühedrüber.«

4.

tinius’ autobiographie enthält einige anekdoten, kleineHalbedelsteine von minderem Wert oder auch ganz gefälscht,aber sie lohnen die kritische Prüfung, weil sie die Kette dergeschehnisse nicht nur chronologisch weiterführen, sondernihr unterschiedlicher Wahrheitsgehalt biographisch durchausaufschlußreich ist.

Da wäre als erstes die geschichte des achtjährigen, derfür vier Jahre zum großvater mütterlicherseits gebracht wor-den war, auf daß er von ihm fromm erzogen werde, mithinlesen und beten lerne. »allein das gesinde im Hause undseine großen Söhne verdarben dem guten alten Manne seineFreude. Sie bliesen außen mit Waldhörnern, wenn ich anfingin der Stube zu beten, und sagten mir hernach, der schwarzeMann wolle mich holen, wenn ich weiter beten lernte; erhabe schon geblasen. nun wurde ich so furchtsam, dass ichbeim Vorsagen der gebete zitterte, und schlechterdings nichtmehr nachbetete.« also wurde der Junge 1772 wieder nachHause geholt. als Johann georg wieder bei den eltern war,wollen er und seine geschwister Finsternis und gespensternicht gefürchtet haben, »denn wir hörten nichts Schauerliches

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von ihnen erzählen, und der teufel, hieß es, ist ein bösergeist, der den frommen Menschen nichts thun darf.« eineseltsam konträre aussage, in der autobiographie steht sienur zwei Seiten später.

1772 zog der Vater mit der Familie in das nur 17 Kilo -meter1 von Staakow entfernte Wasserburg, und bis in sein13. Lebensjahr blieb tinius dort. Der unterspreewald warbis zum Studium die Heimat seiner frühen Jahre.

auf das erste Kapitel Schwarzer Pädagogik beim großvaterfolgte daheim das zweite: »Bei meiner ankunft nahm michmeine Mutter sogleich bei Seite, sagte mir ein gebet vor,und hieb, als ich auch nicht nachsprechen wollte, mit einerruthe so lange, bis ich mitbetete, und die Buchstaben in derFibel lernte. innerhalb vier Wochen lernte ich alle ihre kind-lichen gebete und auch das Lesen, so dass ich im folgendenWinter die ganze Bibel durchlas, und nun gar nicht aufhörenwollte. Das Lesemagazin bestand in einer Bibel, einer Postille,in arnd’s wahrem Christenthum, in Luther’s Katechismenund in zwei gesangbüchern.«

also doch eine erfolgsgeschichte? Spätestens seit aliceMillers »evas erwachen« (2001) wissen wir, daß die SchwarzePädagogik nicht erziehen und Wissen vermitteln, sondernden Willen des Kindes brechen, ihn mit Hilfe offener Macht-ausübung (der »ruthe«) oder verborgener (»der schwarzeMann wolle mich holen«) in einen gehorsamkeitspanzerpressen und das Freiheits- wie das glücksstreben möglichstfür immer töten will. Zu tinius’ Zeiten sah man das anders.einer der bekanntesten Philosophen und erzieher seinerZeit, Johann georg Sulzer, meinte gar in seiner Schrift »Ver-such von der erziehung und unterweisung der Kinder«(1748): »Diese ersten Jahre haben unter anderem auch denVorteil, dass man da gewalt und Zwang brauchen kann.Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in derersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindernden Willen nehmen, so erinnern sie sich hiernach niemalsmehr, dass sie einen Willen gehabt haben.«

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es wäre eine erklärung für des Magisters späteres Lavierenzwischen kriecherischem Verhalten vor der Obrigkeit undaggression gegenüber seinen nächsten. er war ein unfroher,auch gewalttätiger ehegatte, und zumindest seine angehei-rateten Kinder haben ihn gefürchtet. es wäre vielleicht aucheine erklärung für die unendliche geschichte seiner späterenwidersprüchlichen Verteidigungsstrategien vor gericht, derkaum zu zählenden offenen Bittbriefe und heimlichen Kas-siber, schleimig und wirr und manchmal dumm und hinter-listig zugleich.

noch immer haben solche während ihrer Kindheit seelischdrangsalierten naturen den Weg in eine Spezialbegabunggesucht, bei der ihnen keiner etwas vormachen konnte, oderin kühne gedankenspiele, bei denen es nicht anders war.Lange bevor tinius auch nur sein erstes Buch geschriebenhatte, behauptete er, ein Werk über die Differenzen zwischendem samaritanischen und dem masorethischen Pentateuchherausgeben zu wollen. Sieben Kommentare zu den chaldäi-schen Paraphrasen mit besonderer Berücksichtigung der sa-maritanischen texte sollte es geben und schließlich auchnoch ein aramäisch-chaldäisch-syrisches Wörterbuch. nichtsdavon wurde bis heute gefunden. Wohl aber beschrieb tiniusseine Pläne detailliert in manchen Briefen, um damit seineBedeutung als Wissenschaftler herauszukehren. So am 18.Februar 181 an den rektor der universität von Berlin: »ichselbst habe den Samaritischen Pentateuch völlig umgestaltetgegen die Form von Morin gehalten, und die übrigen orien-talischen Versionen ganz neu revidiert und corrigirt, weil ichvorher erst das a. und das n. testament verstehen lernenwollte. um ganz ungehindert im Stillen meine Werke aus-zuarbeiten, wählte ich eine kleine, mit wenig mechanischenamtsgeschäften verknüpfte, Landpredigerstelle, und gingdeswegen von meiner humanistischen Bahn, vom gymna-sium in Schleusingen, ab, ward Prediger in Heinrichs beySuhl 12 Jahre und endlich seit 1810 in Poserna bey Weißen-fels, um die universitäten Halle, Jena und Leipzig um mich

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zu haben. einen antrag zur orientalischen Professur in Jenaschlug ich aus.«

So freilich ließ sich die tatsache auch ausdrücken, daßman es dann doch nicht vom kleinen Dorfpfarrer zum be-deutenden gelehrten geschafft hatte.

.

Der andere Weg eines bedrängten Menschen ist die all-machtsphantasie. irgendwann, irgendwo wird man besser,schöner, reicher, klüger sein als jeder andere, vollends jeder,von dem man etwa gedemütigt wurde. Hierzu gibt es inder autobiographie eine anekdote, die – wenn sie wahrist, und es spricht eigentlich nichts dagegen – vielleichtdas Schlüsselerlebnis im Leben des Kopfmenschen tiniuswar.

in Wasserburg gab es keine Schule. eine Stunde bisKrausnick mußten alle Kinder gehen, die von ihren elternzu einem Katecheten der Filialkirche von Buchholz ge-schickt wurden, einem Handwerker eigentlich nur. imHause der Familie tinius wurde das anders gehandhabt.Hier hatte das älteste Kind – also Johann georg – die nach-geborenen geschwister zu unterrichten, erst unter anleitungder Mutter, schließlich allein. auf dem Lehrplan standendas Lesenlernen anhand der katechetischen Hauptstückeund das auswendiglernen von gebeten, Liedern und Sprü-chen. Kein Problem für den Jungen, der das »fertige Lesen«ja schon beherrschte.

im September 1777, zu Michaelis, zog die Familie wiedernach Staakow, das zur gemeinde Oderin gehörte und woJohann georg getauft worden war. immerhin: Von Staakownach Oderin waren es zehn bis elf Kilometer Fußweg. DerJunge war jetzt so weit, daß er den Winter über in die dortigeKonfirmandenlehre bei Magister Starke gehen sollte. alsomachten sich Mutter und Sohn auf den Weg, damit er ange-meldet werde.

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Die übrigen Kinder waren schon vier Wochen in die Vor-bereitung gegangen, und er trug Bedenken, ob ich so vielnachlernen würde. Ich, ohne Furcht und Scheu, weil ichnoch keine menschliche Hoheit kannte, erbot mich sogleich,das ganze Stück (es war aus dem mir noch völlig unbe-kannten Berliner Katechismus) in ein paar Stunden zulernen, wenn ich in der andern Stube allein seyn könnte.Der Herr Magister sahe mich an mit Lächeln über meinenVorwitz, und sagte: Mein Söhnchen, wenn du nur heuteeine halbe Seite lernst, so musst du schon tüchtig lernen.Es war Mittag vorbei. Ich nahm das Buch, ging in dieEinsamkeit, kam um 5 Uhr wie der und sagte alle Blätter,so weit die andern Kinder gekommen waren, ohne Anstoßher. Dieser Augenblick war von der Vorsehung bestimmt,mir meine künftige Laufbahn zu eröffnen. Der würdigePastor, ein frommer Mann, der in allen Ereignissen GottesFingerzeig erblickt, gerieth in Erstaunen, und sagte meinerMutter, die während dieser Zeit voll Erwartung gewesenwar, und im Herzen gewiß viel zum Herrn gebetet hatte,›Euren Sohn hat Gott zu etwas anderem bestimmt, er sollMenschenheerden weiden!‹ Meine Mutter war unbeweg-lich, und sagte: wir können unserm Sohne keinen Groschenzum Studieren geben, und brauchen ihn nothwendig inunserm Stande. Mein Vater war noch mehr dagegen, weiler eine Abneigung gegen alles Vornehme hatte. Allein Hr.M. Starke ließ nicht nach und versicherte meinen Eltern,es solle ihn mein Studieren keinen Heller kosten; es stu-dierten ja viele Arme.

entfernen wir einmal die pathetische Patina, die dem Zeit-geschmack geschuldet ist (oder auch dem, was man von ei-nem frommen Manne erwartete), so haben wir hier die späteroft und gern erzählte Kernanekdote von und über tinius:das Öffentlichmachen einer intellektuellen Spezialbegabungdes bis dato völlig unauffälligen Heranwachsenden. Zum er-sten Mal keine Phantasterei, zum ersten Mal nachprüfbare

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Wirklichkeit, zum ersten Mal war er wirklich besser als alleanderen. es brachte ihn voran und schuf ihm eine Basis, aufder er aufbauen konnte. natürlich machte er sich damitkeine Freunde unter seinesgleichen. und als erwachsenerwurde es sein Schicksal, daß sich Kinder und manche er-wachsene vor ihm fürchteten, was bei seinen stechenden au-gen und dem bezeugten Jähzorn kein Wunder war.

in Parenthese sei aus einer Kurzbiographie über den nach-maligen Philosophen Johann gottlieb Fichte zitiert, weil eswohl selten eine größere Ähnlichkeit der anfänge zweier be-kannter Menschen gegeben hat: »Vielleicht«, so erzählt Klausgünzel in seinem 199 erschienenen Werk »Die deutschenromantiker«, hätte man von Fichte, »dem Sohn eines armenBandwebers, nie außerhalb seiner Oberlausitzer Kleinweltgehört, wenn er nicht dem Dorfpfarrer aufgefallen wäre,dessen Sonntagspredigten der Knabe fast Wort für Wort zuwiederholen vermochte. als der rittergutsbesitzer Hauboldvon Miltitz einmal den gottesdienst versäumt hatte, wurdeder Kleine ins Schloß zitiert, wo er dem Herrn die Predigtartig aufsagte. Beeindruckt von dieser gedächtnisleistungübernahm der gutsherr die erziehung des Jungen undschickte ihn auf eine der sächsischen eliteschulen, die Für-stenschule Pforta bei naumburg. Das Studium der eologiein Jena und Leipzig mußte er abbrechen, da von Miltitzstarb und die materielle Hilfe von zu Hause nicht einmalmehr das existenzminimum garantierte. aber Fichte war einOberlausitzer Dickschädel, wenn es je einen gab, und nichtgesonnen, die eingeschlagene Laufbahn wieder zu verlassen.«

6.

Zwei Jahre blieb Johann georg tinius bei Magister Starkein Oderin, der ihn konfirmierte, ihn das Schreiben und dieanfangsgründe des Lateinischen lehrte. am 22. September1779 meldete ihn der geistliche am gymnasium in Luckauan, wo schon sein Sohn adolph war, dem tinius nun »die

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Kohlen meines feurigen eifers im Lernen anzünden« sollte.Der Oderiner geistliche war aus Luckau gebürtig und vonKindheit an mit dem mittlerweile verstorbenen Stadtkäm-merer Bötticher befreundet gewesen. Bei dessen Witwe hatteer um Quartier für seinen Zögling gebeten, und die Damewar einverstanden. und nicht nur sie, sondern mit Vehemenzauch ihre einzige tochter Johanna Sophia, die wiederumMagister Starkes Patenkind war; glücklicher hätte es sichkaum fügen können.

Ihr habe ich meine städtische Erziehung und die in Oderinangefangene Fortbildung für die Welt zu verdanken. Woh-nung, Wäsche und Frühstück genoß ich hier 7 Jahre, ob-gleich diese beiden edlen Seelen selbst arm waren. Durchmeine Stimme im Chorsingen, da ich 7 Jahre im Discantdie erste Stelle gehabt habe, ist mir das dasige Convicto-rium, wo täglich 7 Schüler gespeiset werden, und meineKleidung jährlich mit den nöthigen Büchern zu eilworden. Außerdem bekam ich Freitische bei Honoratiorenund Bürgern.

es muß tinius bei den Böttichers wirklich gut gefallen haben,denn das gesamte Wittenberger Studium brachte er späterin nur zwei Jahren hinter sich, während er die Luckauer Zeitauf zehn Jahre ausdehnte.

1784 wurde der 20jährige, der ohnehin nie über eine wi-derstandsfähige gesundheit verfügt hatte, lebensgefährlichkrank. er dürfte sich wohl im Studium überanstrengt haben.Daneben verdiente er sich geld als Hauslehrer und lebteausgesprochen asketisch. Der Winter 1783/84 war zudemungewöhnlich lang und streng gewesen. Seit Monaten hattees in Deutschland starke Frosttemperaturen gegeben, in Wit-tenberg minus 21 grad. Weichsel, Oder, elbe, rhein, allegroßen Flüsse trugen meterdicke eisdecken. ende Februarstiegen dann die temperaturen plötzlich, tauwetter setzteein, es begann zu regnen. Mit der Schmelze kam es zu einer

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der größten damaligen naturkatastrophen. Hochwasser drangin die Städte ein, zerstörte Schiffe und Brücken, Wohnhäuser,Öl- und getreidemühlen.

tinius gehörte in diesem harten Winter zu einer gruppevon Kurrendesängern und instrumentalmusikern, die zwi-schen Weihnachten und ende Januar ununterbrochen ihrerunden machten und für geld sangen. er war in dieser Zeitnicht nur länger krank, sondern kam auch in den Stimm-bruch – gott sei Dank aber kurz darauf in den Baß, so daßer weiter singen konnte.

insgesamt acht Jahre hat er in der Kurrende gesungenund »viel Welterfahrung gesammelt. an verführerischen Bei-spielen aller art hat es mir nicht gefehlt«. auch wieder einedieser vagen angaben in seiner autobiographie! gleich daraufheißt es, die »armuth nöthigte mir gleichsam eine gute auf-führung ab, sonst hätten meine gönner ihre Hand von mirabgezogen«. Das läßt eigentlich nur die Vermutung zu, daßaußer gesang auch Wein und Weib den jungen Musikernkeine Fremdworte gewesen sind und tinius nur deshalbnicht gewagt hat mitzumachen, weil er seinen Freitischstatusnicht gefährden wollte. gleichzeitig heißt es dann wiederlammfromm: »an meinen studirenden Mitbrüdern habe ichdamals vielen Fleiß, und an den meisten ein gesittetes Lebengesehen«.

als er Johanna Sophia am 21. September 1779 das ersteMal traf, war sie 20 Jahre alt und er noch nicht ganz 16. eingroßer altersunterschied, doch war man sich offenbar vonanfang an gut. Johanna Sophia sollte später tinius’ Frauwerden, aber dazu mußte noch einiges Wasser die Bersteund die Wudritz hinabfließen.

Zunächst einmal zog er 1787 zu Pfarrer Johann WilhelmPinkert nach Heinsdorf, Kreis Baruth, um dessen Sohn nach-hilfeunterricht zu erteilen. Dafür bekam er Kost und Logissowie das Versprechen des geistlichen, ihm bei der aufnahmean der Wittenberger universität behilflich zu sein. am 21.april des revolutionsjahres 1789 zog tinius voraus und

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machte Quartier für sich und den 17-jährigen Pinkert, dererkrankt war und nachkommen sollte.

Teil 2: Studentenjahre

»Strebsam im wohlverstandenen Sinne, entwickelte ti-nius sich schnell aber auch zu einem Streber aus mate-rieller Veranlagung, der zweifellos mit dem Odium derichsucht nach jeder richtung hin behaftet war. WahreFreunde fürs Leben finden wir nicht in seiner gesell-schaft, er hat sie wahrscheinlich nie gesucht und niegefunden. Zu diesem menschlichen glück sind innereaufrichtigkeit und Klarheit erforderlich, die bei ihmkaum angedeutet sind.«

Hanns Wagner: »Der Pfarrer von Poserna« (o.J.)

1.

im Matrikelbuch der universität Wittenberg heißt es: »ti-nius, Joan georgius; Staako Lusat.; 21. 4. semigrat«. Der la-tinisierte eintrag umfaßt neben seinem namen auch tinius’Herkunft (Staakow in der Lausitz) und gibt darüber aus-kunft, daß der junge Mann zu halben Kosten (semigrat[is])aufgenommen worden sei. Die universität genoß seit Luthersund Melanchthons Zeiten einen hervorragenden ruf. Zeit-weilig war sie eine der wenigen europäischen Hochschulen,an denen Hebräisch gelehrt wurde – eine der Sprachen, aufdie sich tinius später verstand und auf deren Feinheiten ersich spezialisierte.

Kaum war er eingeschrieben, starb Pinkert, und vorbeiwar es mit der lebenswichtigen pekuniären unterstützung.Sein Quartier durfte tinius zwar noch bis Michaelis behalten,aber der September stand schon vor der tür, und wovonsollte er nun leben?

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Klaus Seehafer, geboren 1947, ist Buch-händler und Diplom-Bibliothekar. Seit2005 lebt und arbeitet er als freierSchriftsteller in Bitterfeld. Beiträge vonihm erschienen u. a. in der FrankfurterAllge meinen Zeitung, Die Zeit und derStuttgarter Zeitung.

Er hat mehr als zwanzig Bücher geschrie-ben und herausgegeben. Seine Hörspielewurden vom NDR, WDR, BR und vonRadio Bremen gesendet.

Johann Georg Tinius (1764–1846) wareologe, Pfarrer auf dem Land und keinwohlhabender Mann. Trotzdem hatte ereine der größten Bibliotheken, die jemalsprivat zusammengestellt worden sind: Biszu 40.000 Bände sollen es gewesen sein,wohlgeordnet und sicher verwahrt.

1813 wurde er verhaftet: Er soll betrogenhaben, um an Bücher zu kommen,gestohlen – und gemordet.

Klaus Seehafer rollt den spektakulärenFall des Magisters Tinius mit kunstvollenMitteln neu auf. In einem faszinierendenTextmosaik verknüpft der Autor biogra-fische Referenzen mit moderner Psycho-logie, Rechtsgeschichte mit historischerPflanzenkunde und stellt so die Schulddes Verurteilten grund legend in Frage.

Der Fall Tinius bringt vor allem ein emazu Bewusstsein: das der Sinnlichkeitgedruckter Bücher, an deren »magischer«Anziehungskraft sich bis heute nichtsgeändert zu haben scheint.

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19.90 EUR [D]Inklusive eBook ISBN 978-3-940884-81-7

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