KOCH, Gertrud_Kunst Als Strafe Zur Asthetik Der Disziplinierung

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Texto de Gertrud Koch

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  • Gertrud Koch Sylvia Sasse Ludger Schwarte Hrsg.

    Kunst als Strafe Zur sthetik der Disziplinierung

    Wilhelm Fink Verlag

  • Die Herausgeber d a n k e n Ann-Sophie Briem fr ihre Hilfe beim Korrigieren de r Texte u n d Jens Segler

    fr die Gestal tung des Buches.

    Umsch lagabb i ldung : J ean Fouquet . Le martyre de Sainte-Apolline.

    Musee Conde , Chantilly

    Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

    ber http://dnb.ddb.de abrufbar.

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    ISBN 3-7705-3771-8 2003 Wilhelm Fink Verlag, M n c h e n Layout u n d Satz: www.Jens-Segler .de

    Hers te l lung: Ferd inand Schningh G m b H , Pade rborn

    [Oh ?N _ Bayerische otaatabiblioth*!

  • Inhalt

    7 Vorwort

    11 Strafe und Zivilisation. Aus den Antikenslen der Kultur (GERTRUD KOCH)

    25 Katharsis und Kunsosigkeit. Von der Beherrschung des Publi-kums zur Anarchie der Kunst (LUDGER SCHWARTE)

    65 Als selbst die Knstler die Todesstrafe forderten (SAMUEL Y. EDGERTON)

    91 Disziplin im Arsenal der Leidenschaften. Die Kunst des Strafens (ALOIS H A H N )

    109 Die Disziplin der sthetik. Eine Lektre von berwachen und Strafen (CHRISTOPH MENKE)

    123 Gerichtsspiele. Fiktive Schuld und reale Strafe im Theater und vor Gericht (SYLVIA SASSE)

    149 Die wahre Kunst, die Strafe der Straftat anzumessen (GRAEME NEWMANN)

    171 Kunst als Strafe fr Kunst. Vom Eifer des Vollzugs im Moskauer Aktionismus (GEORG WITTE)

    189 Selbstverstmmelungs-Performances (ERIKA FISCHER-LICHTE)

    207 Bilder, die tten - Tod im Bild. Michael Powells Peeping Tom (ELISABETH BRONFEN)

    227 Autorenbiographien

  • Kunst als Strafe Zur sthetik der Disziplinierung

    Von Gertrud Koch, Sylvia Sasse und Ludger Schwarte

    Unter dem Stichwort Creative Sentencing wetteifern inzwischen amerika-nische Richter um ausgefallene Strafideen; mitunter erfinden sie regelrechte Strafperformances: Am 11. Mrz 1999 wird ein Lastwagenfahrer zum Besuch des Spielfilms Mississippi .wramg'verurteilt, der die Rassendiskriminierung in den Sdstaaten ins Zentrum rckt; er hatte ein Auto gerammt, in dem eine weie Frau und ein schwarzer Mann saen. Seit Januar 1999 stellen Gerichte in New York den Verurteilten bei kleineren Vergehen zur Wahl, ihre Fehl-sozialisation durch einen Gefngnisaufenthalt oder einen Besuch in der Oper, im Theater oder Museum auszugleichen.

    Handelt es sich hierbei um eine Deformation der Absichten von schner Kunst? Oder war Strafe immer ein Bestandteil knstlerischer und juristischer Praxis? Die interdisziplinre Vorlesungsreihe Kunst als Strafe, auf die der vor-liegende Band zurckgeht, mchte jenen Grenzbereich zwischen Realitt und Fiktion, der unsere Gesellschaftsformen mit den historischen von der Antike bis zum europischen Mittelalter verbindet, markieren.

    In berwachen und Strafen hat Foucault bereits das Strafen als eine Kunst im ffentlichen Raum vorgefhrt. Foucault geht von einer vernunftgemen sthetik des Strafens aus, derzufolge das Strafen zum Spektakel wurde. In einigen Fllen, so berichtet er, wurde die Idee, da die Strafe dem Vergehen entsprechen sollte, soweit getrieben, da die Verurteilten auf dem Hin-richtungsplatz das ihnen zur Last gelegte Verbrechen noch einmal vor aller Augen darstellen muten, um dann zum Abschlu des Dramas real exeku-tiert zu werden.

  • 8 VORWORT

    Die demonstrative Inszenierung der Strafe birgt in sich selbst ein starkes sthetisches Faszinosum, das bereits de Sade sexuell ausbuchstabiert hat. Dar-ber hinaus erffnet sie im Betrachter eine Vorstellungswelt des Strafens, die, an der Oberflche als Abschreckung konzipiert, durch Phnomene der Angst, der Selbstzensur und der Vergeltung sich verstetigt und ihn dadurch immer fester an das Strafen bindet, bis es ihm schlielich zum Bedrfnis wird.

    So hat sich die sthetische Dimension des Strafens seit dem Mittelalter immer weiter nach Innen verlegt und ist ein fast unsichtbarer Mechanismus geworden. Die Pointe des Strafvollzugs in der Moderne hat Franz Kafka in seiner kurzen Erzhlung In der Strafkolonie gestochen formuliert: Strafen sind nicht mehr soziale Markierungen, die wir auf der Haut tragen, Strafen sind unsere Haut, unsere Identitt.

    Diese Verallgemeinerung der von Foucault fr die Frhe Neuzeit analy-sierten Theatralitt des Strafens bezieht ihre Plausibilitt zudem daher, da schon das Theater, die Kunst, seit der Antike als Instrument der Regulierung der Leidenschaften und der Disziplinierung eingesetzt wurde. So lt Piaton in seinen Gesetzen das Theater nur insofern zu, als es den Geist der Verfassung in die Herzen der Zuschauer brennt. Aristoteles konzipiert das Theater in seiner Tragdientheorie als diejenige Instanz, die das Publikum von jenen Erregungszustnden befreien soll, die es selbst hervorruft. Seine politische Theorie setzt die Kunst ein als ethische Luterung durch Schrecken und Furcht, durch Lust und Abscheu und zugleich als Festschreibung der Gren-zen zwischen Regierenden und Regierten.

    Verlt die Kunst mit einer solchen Wirkungssthetik ihre Grenzen, mu umgekehrt errtert werden, ob die sthetischen Verfahren nicht immer die wesentlichen performativen Muster zur Steuerung durch Lust und Strafe ent-werfen, die von der juristischen, religisen und pdagogischen Praxis wieder-um usurpiert und politisch funktionalisiert werden. Die meisten Strafformen machen ohne die dahinterstehenden Weltbilder und ihre sthetische Opera-tionalisierung keinen Sinn. Sie setzen einen Ausstellungsraum voraus, in dem schlechte Erfahrungen zur Einhaltung von Gesetzen lustvoll motivieren. Ein paralleler Blick auf die Inszenierung von Recht und auf den politischen Ein-satz der Wirkungssthetik lt die Frage aufkommen, ob es in einer Kultur, die keine Strafe kennt, berhaupt Kunst geben kann. Nicht zufllig verweist Frances Yates in ihrer Untersuchung Ars Memoria zum Gedchtnistheater auf die Entstehung von Rhetorik im Rechtssystem hin.

    Die von Foucault genannten Beispiele, die Straftheater, Schauprozesse, aber auch Phnomene wie die Gefngnistheater und Lagerorchester, lassen sich nicht nur als Beispiele bestimmter gerichtlicher Praktiken lesen, sondern auch als Merkmale einer Kultur, in der die Katharsis als Instrument der Unterdrk-

  • VORWORT 9

    kung ihre Zweischneidigkeit und ihre Unangemessenheit zu erkennen gibt. Die Strafen des Alltags, die Regulierung unserer Lste und Wnsche, die Aus-grenzungs- und Eliminierungsprozesse nehmen wir selten so deuich wahr wie in den Inszenierungen der Kunstinstitutionen.

    Doch ganz lt sich die Kunst und ihre sthetische Praxis nicht unter das Foucaultsche Kulturmodell subsumieren. Die Spannungen, die dort entste-hen, sind zwar nicht jenseits von den kulturellen Praktiken der Disziplinie-rung zu denken, aber die Kunst will gleichzeitig damit ihre eigene Autono-mie durchsetzen. Die Asthetisierung des Strafens drngt auf seine Abschaffung im Realen. Autonomie schliet Strafe aus: Wer die Verantwortung fr seine Tat bernimmt, bedarf keiner Strafe mehr.

  • Strafe und Zivilisation Aus den Antikenslen der Kultur

    Von Gertrud Koch

    Vor einem Bezirksgericht in den USA hat der Proze ber die Livebertragung der Hinrichtung des Bombenattentters Timothy McVeigh am 16. Mai im Internet begonnen. [...] Mit Zustimmung der USJustiz drfen rund 250 berlebende und Angehrige der Opfer des Bombenanschlags in Oklahoma die Hinrichtung des Attentters per Video verfolgen. [...]. Die fr voyeuristische Internetbertragungen bekannte US-Firma ENI reklamiert vor Gericht den Anspruch der ffentlichkeit, die Hinrichtung zu verfolgen. Dafr sollen die Zuschauer 1,95 Dollar bezahlen.

    (Reuters, Berliner Zeitung, 19. April 2001)

    Wir alle wissen, da es noch nicht lange her ist, da Hinrichtungen ffeni-che Angelegenheiten waren, die auf den groen Pltzen der Stdte vollstreckt wurden. Auch heute noch sind Hinrichtungen denkbar, die den Tod als Stra-fe ffentlich vollstrecken und nicht das Sterben des einzelnen, einen privaten Akt also, ins Zentrum setzen, sondern die im Namen eines Kollektivs vollzoge-ne Ttung.

    Blttert man rund hundert Jahre zurck und die frhen Kinoprogramme durch, in denen die kurzen Filme angezeigt werden, dann fllt eine gewisse Vorliebe fr grausame Akte auf. Insbesondere die institutionell verhngte oder zumindest ffentliche Hinrichtung gehrte zum Arsenal der frhen Attrak-tionen. Ob es sich dabei um die Zurschaustellung der Hinrichtung eines wild gewordenen Elefanten im Vergngungspark von Coney Island handelt, der durch Stromste hingerichtet wird - eine Frhform des elektrischen Stuhls - oder um die notwendig inszenierte Kpfung der Mary Stuart von Schott-land, diese Filme verweisen auf einen Zusammenhang, der sich nicht einfach in die Lust am Tten auflsen lt, die sich hier Bahn breche. Deutlich tritt noch eine andere Komponente mit hinzu, die aus dem kalten Beobachten

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    der grausamen Akte generiert wird. Am deuichsten wird dies an einem fr-hen Beispiel, Histoire d'un Crime (1901, Abb. gegenber), in dem ein Straf-gefangener kurz vor seiner eigenen Hinrichtung trumt. Whrend er schlft, sehen wir auf der Wand ber ihm die Traumszenen.

    Der hier zu beobachtende bergang von Leben und Traum, Traum und Tod, die Auffcherung der Rume bis zur Hinrichtungsszene, ist geradezu kanonisch fr die vielen Hinrichtungsszenen, die in der Filmgeschichte noch folgen sollten: Am Beginn steht ein Innehalten bei der Person, - inszenierte mentale Bilder wie die der Trume eines Trumers oder subjektive Perspekti-ven wie in Dishonoured (1931), einem Sternberg Film mit Marlene Dietrich, wo sie sich als Spionin vor der militrisch durchgefhrten Hinrichtung im glnzenden Stahl des Sbels eines schmucken Militrs noch ein letztes Mal ihres Spiegelbildes versichert, oder wie zuletzt gesehen in Lars von Triers Dancer in the Dark in der Tanzeinlage, die der Ttung vorhergeht ( Abb. nchste Seite).

    Das Changieren zwischen kalter Beobachtung einer Ttung und einfhl-samer Identifikation mit einem Sterbenden scheint eine Art Urszene abzuge-ben, die ich an dieser Stelle nicht einer naheliegenden psychoanalytischen Betrachtung unterziehen mchte, obgleich diese mehr als naheliegt. Denn gerade die generell unser Gefhlsleben bezeichnende Ambivalenz zwischen Aggression und Zuwendung tritt an diesen Szenen hervor.

    Die Macht des Ttungsverbots, das der jdisch-christliche Monotheismus errichtet hat, entsteht im Namen der Ebenbildlichkeit zu Gott, denn, was Gott in seinem Namen und nach seinem Bilde geschaffen hat, soll der Mensch sich nicht anmaen zu tten. Dieses Moment der Selbstreferenz, das in den beschriebenen Hinrichtungsszenen in der Doppelung von Aggression und Einfhlung enthalten ist, - es wird nicht nur ein Krper gettet, sondern ein ganzes Leben beendet - , enthlt, das ist kurz gesagt meine These, ein stheti-sches Moment, das weder reiner Zynismus voyeuristischer Mehrwerterpressung ist noch reine moralische Anstalt kathartischen Durchlebens und -leidens. In der hartnckig wiederkehrenden Szene wird das zum subkutanen Thema, was Adorno gerne die Urgeschichte der Subjektivitt nennt und was in der har-ten Whrung der Zivilisierung strflicher Neigungen ausgezahlt wird. Adornos Gewhrsmann ist der reisende Odysseus, der es so trefflich verstand, allen Fhrnissen zu widerstehen, in dem er mal klug, mal drakonisch die eigene Selbsterhaltung gegen den Untergang in der Lust hochhielt. Beispielhaft und in eben diesem Sinne als frhe Symbolisierung sthetischen Genusses im Straf-raum der Zivilisation gilt seine Kunst der Selbstfesselung. In Gefahr, den Ge-sngen der Sirenen zu erliegen, die ahnungslose Schiffer anlocken, um sie dann zu verschlingen, beschlo der listige Odysseus den folgenden Plan: Whrend der Fahrt durch die gefhrliche Region, in der die Sirenen ihr Un-

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    wesen treiben, lie er die rudernden Sklaven ihre Ohren mit Wachspfropfen verschlieen und befahl, ihn selbst an den Schiffsmast zu binden, so da er die Sirenen zwar hren, sich aber nicht ihnen entgegenwerfen konnte. So wurde der listige Odysseus zum ersten Rezipienten, der zwischen Kunst und Leben streng getrennt hatte. Damit entging er dem Tod und der lustvollen Hingabe gleichzeitig und wurde der erste, der die Sirenen ausschlielich >ge-hrt< hatte. Ein sthetisches Ereignis, das zwischen Tod und Leben, Hingabe und Askese tritt und damit die unvershnlichen Extreme ebenso markiert wie aufzuheben trachtet. So steckt im sthetischen Impuls ein paradoxer Im-perativ. Was Adorno einmal, sicher zu Unrecht, in einem Apercu ber briti-sche Prostituierte als ethnic joke erzhlt, da nmlich in deren Aufmachung die Strafe fr die Snde gleich mitgeliefert werde, gilt in umgekehrtem Sinne fr die Sirenen der Kunst, ihre Unberhrbarkeit ist der Preis fr die Lust, die sie im Hrer erzeugen.

    Freilich ist Odysseus nicht die einzige antike Figur, in der sich der skular gewordene Monotheismus das Jenseits von Gut und BseDialektik der Aufklrung< oder die Barbarei in der Zivilisation ausgedeutet hat. Der Grie-chentraum vom dionysischen Bild und die Alptrume von dipalen Trag-dien der Blindheit, die ins Leben bertreten, umreien die Spannbreite der Kontinuitt, in der antike sthetiken als Bildkonzept und Handlungsgefge im modernen Massenmedium Kino aufweisbar sind. Die Auseinandersetzung mit der Antike ragt weit aus dem neunzehnten Jahrhundert mit dem Historis-mus ins zwanzigste hinein. Die Strategien der Selbstlegitimierung des Kinos, das sich gegen die etablierten und kanonisierten sthetiken der Vorlufer durchsetzen mute, griffen in teils recht populrer Form auf die Mythen zu-rck, zu denen man wohl auch den Griechentraum rechnen darf.

    Insbesondere das antike Drama, aber auch die griechisch-rmische My-thologie der Epen, wird dabei unterschiedlich plaziert: als elitres Bildungs-gut, das erst in einer reiterativen Wiederaneignung zum populren Mythos werden kann - und als mythische Urgeschichte des >Ungeheuers Mensch, die uns als Gattungsgeschichte heimsucht, wie sie in Freuds Metapsychologie aufscheint, der diese selbst bekanntlich als Mythologie bezeichnete. Beide Aspekte lassen sich von ihrer eigenen Theoretisierung nicht trennen, in bei-den werden sowohl historische Annahmen ber die Antike wie auch ber die Gegenwart aktiviert.

    Der Traum vom Dionysischen: Was haben die, was wir nicht haben?

    Die mythischen Erzhlungen aus der Antike handeln von bergngen, ber-schreitungen, Metamorphosen, die in den Ovidschen Fassungen oft zwischen Strafe und Rettung schwanken. Die enorme Plastizitt, die diese gegenstnd-

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    liehe, mimet ische Welt in unse ren Vorstel lungen a n g e n o m m e n hat, ist im Kino weitergegeben w o r d e n ; nicht n u r auf de r Ebene de r Wiedererzhlung mythischer Charaktere u n d Szenen, sonde rn m e h r noch im Gestus e iner Mi-mesis de r Anverwandlung im filmischen Bewegungsbild, das im Modus des ident ischen Rekurses ode r a n d e r e r Montageformen, Objektwelten ineinan-derschieben kann , die in de r na tr l ichen Welt nichts mi te inander zu tun ha-ben . Es erscheint mi r kein Zufall, da zur selben Zeit, in de r im Kino die Perfektion e iner solchen Anverwandlung s tarrer Einzelbilder zu bewegten Folgen be r den Schnitt hinweg zum Ideal wird, in de r Malerei die Reflexion de r Gegenstndl ichkei t radikalisiert wird. Der Maler Barnet t Newman wurde du rch seine radikale Verweigerung j e d e r Gegenstndl ichkei t in de r Malerei zum Begrnder e iner Genera t ion , die wie kaum eine a n d e r e zuvor den Zwei-fel kognitiver u n d sthet ischer Art gegenbe r den t radier ten Systemen der Reprsenta t ion genhr t hat. Die radikale M o n o c h r o m i e de r g roen in sich v ibr ierenden u n d s c h i m m e r n d e n Farbflchen wurde zur Anti these der ge-genstndl ichen Malerei u n d ihrer Prob leme. 1948 schreibt Newman un te r d e m Titel The objeet a n d the image in e iner amer ikanischen Zeitschrift:

    Griechenland kannte Form und Inhalt; die ideale Form - Schnheit, den idealen Inhalt - Tragdie.

    Interessant: wenn heute der Griechentraum getrumt wird, sehnt sich der eu-ropische Knser nach den alten Formen, in der Hoffnung, die Tragdie vollen-den zu knnen, wenn er nur seinen Kummer und sein Selbstmitleid ber den Verlust der wohlproportionierten Sulen und klassischen Profile genau beschreibt. Aber diese Wehmut, dieses In-Schnheit-Sterben ber den griechischen Vorbil-dern ist immer berzchtet. Alles ist ja so hochkultiviert.

    Der Knstler in Amerika wirkt im Vergleich dazu wie ein Barbar. Er hat nicht diese berentwickelte Empfnglichkeit fr das Vorbild, die das europische Emp-finden beherrscht. Er hat ja nicht einmal die Vorbilder.

    Und das genau ist unsere Chance: unbelastet von dein ganzen anken Kram nher an den Ursprung des tragischen Gefhls heranzukommen. Sollten wir als Knser nicht neue Vorbilder ausfindig machen - fr dessen Bild?'

    In Barnet t Newmans Bemerkungen stecken einige starke A n n a h m e n , die er in e inem Vergleich von Kulturen narrativ verhllt. Denn natrl ich ist Newman selbst tief im europ ischen Erbe verstrickt u n d a l le rhand >alten Sachen ver-b u n d e n - >seine< Antike ist d e n n o c h e ine a n d e r e als die e ine r polytheisti-schen Bilderwelt, die das Abbild, die mgliche Reprsentat ion der vielen Gt ter durch wirklichkeitsnahe Statuen selbst nie in Zweifel gezogen hat te . Dagegen setzen Newman u n d die radikalen Abstraktionisten an de r Tradi t ion des jd i -

    1 Newman, Barnett. The Objeet and the Image. The Tigers Eye No. 3, Mrz 1948. Zitiert nach Glozer, Laszlo. Westkunst - Zettgenssische Kunst seit 1939. (Ausstellungskatalog) Kln 1981, 126.

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    sehen Bilderverbots an, das gerade die hnlichkeit der Statuen als verbotene Gtzendienerei ahndete. Newmans uerungen beziehen sich also auf einen Bilderstreit, der mindestens zweitausend Jahre alt und dennoch zu keinem Ende gekommen ist.

    Whrend in der griechischen und rmischen Antike zwischen Himmel und Erde bekannich reger Verkehr bestand, der zur Beflgelung der Erde und Bevlkerung des Himmels mit allerhand hybriden Wesen fhrte, von denen die Mythologie so beredt zu berichten wei - ist der jdische Monotheismus auf die strenge Trennung aus. (Nicht zufllig fhrt das Christentum die Idee der unbefleckten Empfngnis ein.) Der jdische Monotheismus dient in die-ser kulturhistorischen Begrndungsstrategie als Voraussetzung einer Bild-sthetik, die sich ganz vom Problem der Abbildung und Reprsentation zu trennen versucht und in eine zu Zeichen verknappte Abstraktion bergeht, in der die Bilder eher als Schrift verstanden werden. Eine Tradition, die sich bei Benjamin und vielen Filmtheoretikern wiederfinden lt.2

    Aber natrlich lt sich der heimliche Kampf mit den Bilderwelten der Antike, >dem ganzen alten Kram, auch dann nicht so schnell beiseite legen, wenn die Antike historisiert und ad acta gelegt worden ist. Die Kritik an der Macht der Bilder, den Stars als den neuheidnischen Gttern, die kultische Verehrung genieen und geheime Krfte ihr eigen nennen, des Kinos als dem Erben circensischer Vergngungen sowohl wie als Kultsttten, an denen den neuen Gttern geopfert wird in ornamentaler Ausstattung, speist sich zu groen Stcken aus der Tradition, Kritik am Gtzen, am Fetisch zu ben, der sich wie das Goldene Kalb zwischen den verborgenen Gott des Monotheismus und seine Geschpfe drngt. Nietzsches Verdikt ber den Schuldkomplex der monotheistischen (vor allem der christlichen) Kulturen, die dem dionysi-schen Taumel des Vergessens, von dem die Antike noch gewut habe, den Zula verwehren, hat gerade in der Kino- und Filmtheorie zu einer eifrigen Belobigung des Kinos gefhrt, in dem Vergessen und Rausch, eine Horde sinnlich verfhrerischer Halbgtter und ein Publikum ohne Reue und Schuld ins Paradies der Bilder zurckgefhrt oder vorangefhrt wird.

    Die technisch vermittelte Fertigkeit des Kinoapparats zur perfekten Abbil-dung zeigt den Menschen zum Halbgott der Vollkommenheit stilisiert. Nicht

    2 Vgl. hierzu u. a. die Arbeiten von Hansen, Miriam. Babel and Babylon. Spectatorship in American Silent Film. Harvard University Press, Cambridge 1991 und Koch, Gertrud. Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Judentums. Frankfurt a. M. 1992. Sergej Ejzenstejn macht sich bereits das Schreiben in Hieroglyphen als Analogon zur 'intellektuellen Monta-ge in den zwanziger Jahren zueigen. Dabei geht er nicht auf die gyptischen Schreibweisen zurck, sondern auf die japanische Zeichenschrift. Interessant ist das weniger als schrifthi-storisches Argument, das als solches eher fragwrdig ist, sondern im Versuch einer Vermei-dung ontologischer Reprsentationskonzepte von Dingen.

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    mehr ist der Mensch im Angesicht Gottes gestaltet, sondern er selbst wird Anla zur Darstellung von Gttern. Das Kino, so knnte man im Anschlu an die Zeitgleichheit mit Nietzsches Kulturkritik konstatieren, scheint sich gera-de wegen seiner Reproduktionsfhigkeiten fr diese Projektionen auf einen antiken Taumel anzubieten. Freilich war Nietzsche klug genug, sich nicht ganz antikisch-archaischen Ruschen anheimgeben zu wollen, er hlt es mit der Tragdie, und auch mit ihr hat man immer wieder Filmsthetik begrn-den wollen:

    Ein weiterer Traumdeuter, Friedrich Nietzsche, hat den Gott des Films erfunden, Apollon. Sein Reich, nmlich der schne Schein der Traumwelten, sei der Ur-sprung aller bildenden Kunst. Die erste Bedeutung des Scheinbegriffes, der Grund-kategorie klassischer sthetik, ist das Scheinen, Apollon ist der Scheinende, der Gott des Lichtes und damit der Lichtkunst, des Films. Dieser Schein ist schn, er bringt den Glanz und die schillernden Farben in die Welt. Zweitens meint Schein Fiktion oder Illusion. Nicht-Wirklichkeit, Nicht-Wesen. So weist er zu-gleich auch auf das hin, was er nicht ist: auf die Wirklichkeit und das Wesen. Apollon ist der Gott der ungeheuren Fhigkeit des Menschen, sich mit der Erfindung phan-tastischer Bildwelten zu illusionieren, und gleichzeitig ist er Traum-Deuter, er wei um die Wahrheit, die er verhllt. Und indem er sie verhllt, schickt er schlielich noch die Trume als heilende Krfte.3

    Die Lesart vom Kino als dionysischer Kultsttte bedarf also der apollinischen Konturierung seiner Begrndung im >Schein, in der 'Illusion. Hinter dieser Lesart verbirgt sich aber auch ein anderer Apollon; er ist auch der Ahne eines Theaters des Schreckens und der Grausamkeit, dessen Genu er bedeutet. Es war neben Zeus (bzw. Jupiter) Apollon, der die mythischen Strafen verhngt hat, unter denen wir noch immer leiden und die als Strafen ewig gedacht waren: Thantalus soll wie Sisyphos immer leiden, so wie der aufs brennende Rad geflochtene Ixion auf immer am Himmel kreisen sollte. Schon in diesen Darstellungen des Ixion findet sich ein bildimmanenter Betrachter, der im doppelten Sinne als Instanz zu sehen ist, er macht vor, wie das Bild zu sehen ist und er garantiert fr die moralisch richtige Auslegung der Bestrafung. Der Betrachter wird also in den richtigen Abstand zum Geschehen gebracht.

    Burkhard Fehr hat diesen Zusammenhang in einem Aufsatz erhellt.4 Am Eingang eines antiken Theaters findet sich eine bildliche Darstellung des Mythos von Marsyas, wie er, an einem Baum gefesselt von Skythen gehutet wird, whrend Apollon als Betrachter der Szene dargestellt wird.

    3 Fink-Eitel, Hinrith. Lust und Weisheit des Scheines - Die Alptraumwelt Alfred Hitchcocks Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 43/1995. 546.

    4 Fehr, Burkhard. ber den Umgang mit Feinden der Zivilisation in Griechenland und Rom. Hephaistos 1991, 89-104.

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    Apollon, der im musikalischen Wettstreit gegen den Satyr Marsyas und sein Fltenspiel gewonnen hat, weil er zur Lyra sang und damit dem hherstufigen Wort zum ethischen Sieg verholfen hatte, wird in diesen Darstellungen zum Betrachter einer Szene, die er selbst entworfen hat. Denn Apollon hatte kei-nen Zweifel daran, da er der Sieger im Wettstreit sein wrde. Nur Hybris konnte Marsyas dazu verleiten, ihn herauszufordern.

    Apollo und Marsyas im Wettstreit, 330 v. Chr. - Nationalmuseum Athen

    Diese theatralische Komponente setzt einen Betrachter in Szene, der als Vor-bild fr den Betrachter der Darstellung selber genommen werden sollte. Diese Figur des bildimmanenten Betrachters als Identifikationsfigur fr den, der sie sieht, ist natrlich nicht nur aus der Antike bekannt, sondern durchzieht die gesamte Kunstgeschichte. Auch zu Beginn des Films gab es diese Art von dritten Figuren, die den Zuschauern Sehhilfen fr das neue Medium auf den Weg gaben. Der direkte Blick in die Kamera als direkte Adressierung der Zu-schauer lt sich im frhen Film als eine solche Strategie des Blickkontakts zum Zuschauer und dessen direkte Lenkung verstehen. Innerhalb der Marsyas-Darstellungen ist diese Konstellation vor allem deshalb interessant, weil sie in der Regel die apollinische Perspektive bernimmt und dadurch die platoni-sche Hherstellung des pythagoreischen Musikkonzepts ber das Absolute betreibt.

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    In se inem Vergleich de r griechischen mit d e n rmischen Darstel lungen des Mythos zieht Burkhard Fehr die Theatra l is ierung de r H in r i ch tung zum ffendichen Schauspiel (rmisch) gegenber d e r Ausstoung des Delinquen-ten aus de r Gemeinschaft de r Polis, seine V e r b a n n u n g o d e r nchtlich-heimli-che T t u n g d u r c h Hinabwerfen in eine anonyme Grube (griechisch) als Er-k l rungsh in te rg rund mit h e r a n . Dem entspr icht , da in d e r gr iechischen Antike sehen u n d leben identisch gesetzt wurden . U m zu leben, mu te man sehen k n n e n u n d von allen gesehen werden ; wer d e n Blicken der ande ren entzogen wird, stirbt.5

    Offenbar lassen sich die Darstellungen als Kulturkampf verstehen, de r meist nackte Marsyas ist de r Feind de r Zivilisation, die sich ge rade dadu rch aus-zeichnet, da sie Krper u n d Knste beher rsch t u n d in die O r d n u n g e inpat :

    In der lteren italischen Ikonographie der Bestrafung des Marsyas haben wir also, hnlich wie bei den Darstellungen des Ixion, einen bildimmanenten Betrachter, der den Betrachter vor dem Bild zum Nachdenken auffordern soll. Auf den spte-ren rmischen Darstellungen der Marsyassage sehen wir durchgngig Apollon in dieser Rolle. Die Gegenberstellung Betrachter Apollon/Delinquent Marsyas ist dort in dem von Apuleius so beredt geschilderten Kontext zu sehen: hier der un-gebildete, hliche, halbtierische Satyr aus dem phrygischen Barbarenland, dort der gepflegte, wohlgestaltete und -erzogene, gebildete Musengott, Vertreter des kultivierten, geordneten Lebens. [...]

    Am Verhalten Apollons im Bild soll sich aber auch der rmische Betrachter vor dem Bild orientieren: der Rmer, der sich selbst und sein Gesellschaftssystem als Garant und Verteidiger der Zivilisation versteht. Welche Perversion in diesem Bild-typus und dem damit verbundenen Appell liegt, bedarf keiner langen Erluterun-gen. Diese Perversion kann auch dadurch nicht verdeckt werden, da der gtiche Voyeur Apollon das schmutzige Geschft der Exekution einem angeblichen Ver-treter barbarischer Unkultur, dem Skythen, berlt.6

    Fehrs bemerkenswer ter Beitrag arbeitet vor allem die kul turel len Fundamen-te heraus, die sich mit mythischen Darstellungen u n d den Hinrichtungsri tualen legitimatorisch ve rbunden haben . Da die H in r i ch tungen in Rom ffendich waren, ein groes Staatsschauspiel sozusagen, verwunder t es nach Fehr nicht, da sich e ine Marsyas Darstel lung auch am Eingang zum Amph i thea t e r von

    5 Vgl. hierzu auch Vemant, Jean-Pierre. Einfhrung. Ders. (Hg.). Der Mensch der griechischen Antike. Frankfurt a. M. 1993, 2of: Denn da die Sonnejedes Ding beleuchtet, ist sie ein Auge am Himmel, das alles sieht; und wenn unser Auge schaut, dann strahlt es ein Licht aus, das dem der Sonne vergleichbar ist. Der Lichtstrahl, der von einem Objekt ausgeht und dieses sichtbar macht, ist von der gleichen Natur wie der optische Strahl, den das Auge aussendet und der es zum Sehen befhigt. Die Vorstellung, da das Auge wie ein Scheinwerfer ausge-stattet sei, der selber einen Lichtstrahl auf die erblickten Gegenstnde wirft, wird noch be-gleitet von der Idee, da dieser Lichtstrahl die Empfindungen, die beim Sehen im Psychi-schen entstehen, mit auf das Objekt des Blickes bertragen.

    6 Fehr (Anm. 4) 97 f.

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    Skythe beim Messerschleifen - Rmische Kopie aus dem i.i. v. Chr., Firenze Ufzii

    Capua gefunden hat. Soviel ber die Tradition eines Theaters der Grausam-keit. Zumindest gibt uns Fehr damit einen Hinweis, da die Visualisierung, die Zurschaustellung den Krper als Spektakel, als rohes enthutetes Fleisch zeigt. Im brigen werden gerade die tierischen Zge des Satyrs, seine Haa-rigkeit und Nacktheit dem geformten Haar, dem stilisierten Krper Apollons gegenbergestellt.

    Fehrs These, die ich hier vertrete, ist nicht unumstritten und ich verwende sie hier als Interpretament eines kulturellen Bezuges von Strafe und stheti-schem Genu und nicht als historische Behauptung, deren Stichhaltigkeit ich nicht berprfen kann. blicherweise werden die Hinrichtungen in den rmischen Amphitheatern vorrangig als regelrecht inszenierte Spiele aufge-fat. Mythische Auffhrungen, in denen die Delinquenten kostbare Kostme trugen und Bhnenbilder und -aufbauten das Spiel komplettierten. So schil-dert Raimund Wnsche in lebhaften Farben diese Spiele:

    Der Bezug dieses Bildmotivs (Marsyas - G. K)zum Ort der Abringung ist evident: In den Amphitheatern fanden die ffentlichen Hinrichtungen statt. [...]

    Besonders bizarr muten uns heute die Hinrichtungen an, die in Form mytholo-gischer Auffhrungen inszeniert wurden. Zu diesen theatralischen Vorstellungen

  • 2 2 GERTRUD KOCH

    wurden die Verurteilten wie Schauspieler zuvor eingebt: Sie durften z. B. in pracht-vollen Gewndern auftreten, die so behandelt waren, da sie leicht entflammten. Der grausame rmische Volkswitz nannte diese Gewnder tunica molesta - das lstige Untergewand und bestaunte, wie die Elenden darin verbrannten. Diese Art der Hinrichtung sollte an die griechische Sage von Medea erinnern.7

    Die tdlichen Kleider, die Medea der zweiten Frau ihres untreuen Gatten schenkte, wurden in der Inszenierungsfreude des Hinrichtungstheaters von vielen mythischen Gestalten getragen. Ein zum Spielen des Herkules Verdamm-ter fand den Flammentod auf dem Berge Oeta, ebenso wie ein Ikarus vor den Fen Neros zerschellte. Bevor der Orpheusdarsteller von einem Bren zer-rissen wurde, war die gesamte Arena von den Maschinisten ausgestaltet wor-den, so da Orpheus von Vgeln und Tieren umlagert wurde. Aus all diesen angefhrten Darstellungen folgert Wnsche: Und so knnen wir getrost annehmen, obwohl zuflligerweise literarisch nicht berliefert, da man auch die Hutung des Marsyas spielte.8 Ausgehend von der These, da die ge-spielten mythischen Figuren nicht nach Strafgesichtspunkten ausgesucht wurden, sondern sowohl positive Helden der Tugend wie auch Schurken zur Auffhrung kamen, folgert Wnsche, da Fehrs These vom Marsyas als Feind der Zivilisation haltlos sei. Allerdings erscheint mir die Fehrsche Interpreta-tion insoweit interessant, als sie ja gerade die Apollon/Marsyas Szene als Leitszene der Asthetisierung von Strafe als Spiel ansieht. Gerade ihre stheti-sche Anordnung in einen erfindenden Betrachter und einen im Spiel Geop-ferten, macht diese Szene ja so bedeutsam als Deutungsfigur am Eingang ei-nes Theaters. Ob diese Szene selber auch als Hinrichtungsszene gespielt wur-de am lebenden Opfer, ist dabei nicht das Entscheidende.

    Der kunsthistorische Streit, ob das Marsyas Motiv im Theater, die aufflli-ge Prsenz Apollons den Mythos zu einem macht, in dem die antiken Kultu-ren sich die Barbaren als Feinde der Zivilisation schufen oder ob sie in den Mythen beliebige Spielvorlagen sahen, die keine selbstreferentiellen Bezge hatten, in dem Sinne, da Apollon als Identifikationsfigur gegen die Barba-ren anzusehen sei, kann ich nicht entscheiden. Allerdings finde ich die kultur-wissenschaftliche Deutung im Lichte ihrer spteren Rezeptionsgeschichte uerst interessant. Die Kontinuitt, die die Marsyas Mythe schlielich ange-nommen hat, wird durch zahllose Objekte belegt, von denen ich hier nur einige in Erinnerung rufen mchte.

    7 Wnsche, Raimund. Marsyas in der antiken Kunst. Baumstark, Reinhold u. Peter Volk (Hg.). Apoll schindet Marsyas. ber das Schreckliche in der Kunst. Katalog des Bayerischen Natio-nalmuseums. Mnchen 1995, 45.

    8 Ebd.

  • STRAFE UND ZIVILISATION 3

  • *4

    Pier Paolo Pasolini hat in seinem rtselhaften Film nach de Sade, Sal o le 120 giornate di Sodoma, (Italien 1975, * Abb. vorige Seite), an diese Szenen angeschlossen. Die vier Herren, im aktuellen Gewnde der italienischen Faschisten der von Mussolini ausgerufenen Republik von Sal am Gardasee, wechseln die Rollen von Folterer und Voyeur: Whrend einer, von zwei weite-ren Folterern assistiert, ttet, schaut der vierte jeweils zu. Von einem Thron aus durchs geffnete Fenster und mit einem Opernglas, das spielerisch mal zum Heranholen mal zum Zurckdrngen der Ttungsszene im Hof gewen-det wird. (Gegen die apollinischen Herren des Genusses, die Nietzsche und Blanchot, Baudelaire und Klossowski, Dostoevskij und Benn zitieren, steht im filmischen Werk Pasolinis mit seinen zahllosen Antiken-Referenzen die Bar-barin Medea, (Italien 1969), die Hexe, die ihr Glck verraten sieht und blutig rcht, indem sie die eigenen Kinder dem treulosen Gatten ermordet.)

    Ein Nachklang dieses Bildes vom grausamen Voyeur, der auf das Schau-spiel der Folter mit Genu und in der Pose des berlegenen Siegers blickt, bietet vollends der moderne Kinozuschauer, der im vollen Bewutsein der berlegenheit ber die Fiktion sich dem Genu somatischen Schreckens und dionysischem Gelchter preisgeben kann. Ein Genu, den Pasolini mit der Grausamkeit, die er aus ihrer Betrachtung zieht, gleichsetzt. So desavouiert Pasolini in der Umkehrung der apollinischen Szene des geschndeten Marsyas mit dem Fascismo zugleich eine bestimmte sthetik der Attraktion. Insofern lt sich Pasolinis Film nicht nur als politische Kritik an der Republik von Sal lesen, sondern auch als Teil einer Krperpolitik, die auf der Wiederkehr des Krpers im Schmerz beharrt. Es drfte einer der ganz wenigen Filme sein, in dem Gewaltdarstellung und die Massenhinrichtungen im wrdichen Sinne unertrglich sind und von keiner spektatorialen Geste mehr eingebun-den werden in den schnen Schein. Das Qulen und Tten der Krper mu hier auskommen ohne die Aureole gerechter Strafe, aber auch ohne die Zer-dehnung des Sterbens als Akt des Lebens, die in vielen Filmen den Tod an den Kitsch bindet.

    Die Abbildungen auf S. 19 und 21 stammen aus Baumstark und Volk (Anm. 7).

  • Katharsis und Kunstlosigkeit Von der Publikumsherrschaft zur Anarchie der Kunst

    Von Ludger Schwarte

    Alles prfe der Mensch, sagen die Himmlischen, Da er, krftig genhrt, danken fr Alles lern',

    Und verstehe die Freiheit, Aufzubrechen, wohin er will.

    (F. Hlderlin, Lebenslauf)

    0 Kunst als Strafe

    Um zu klren, ob Strafe und Kunst wesentlich zusammengehren oder ob sie sich nur in wenigen gesellschafdichen Formationen berschneiden, knnte kulturvergleichend vorgegangen werden. Unsere versteckte Strafpraxis knnte beispielsweise der besonderen Situation des Alten Rom entgegengehalten werden. Im rmischen Imperium waren Kunst und Exekutive kaum zu tren-nen. Die Gerichtshoheit des Volkes lebte als Schein in den Exekutionsspielen der Amphitheater fort. Die Inszenierung der Politik mute um so spektakul-rer werden,je weniger das Wahlvolk tatschlich an Gesetzgebungs- und Recht-sprechungsprozessen beteiligt war. Mit dieser Kennzeichnung der rmischen Straf kulturindustrie habe ich allerdings schon ein Vergleichskriterium ins Spiel gebracht, nmlich die Theorie der Entscheidung, die Machtfrage, welche mir gestattet, das Verhltnis von Kunst und Strafe in einer philosophischen Eng-fhrung zu errtern.

    0.1 Macht

    Eine Vororientierung dieser drei Begriffe mag hier ntzlich sein. Die Macht bestimmt sich aus dem Vermgen und dem Knnen, aus der Mglichkeit

  • 26 LUDGER SCHWARTE

    und der Kraft, aus der Verweigerung und der Herrschaft ebenso wie aus dem Machen und dem Mgen. Diese Bereiche greifen ineinander, um Macht her-vorzubringen : Talent und Technik, Architektur und Handlung, Entscheidung und Ereignis, Poiesis und eben jenes Mgen, das von der Motivation hin zu der Lust reicht tun zu knnen, was man mag. Um diese Bestimmung der Macht genauer zu fassen, wre es sinnvoll, sich Techniken der Ermchtigung und der Entmachtung anzusehen. Damit htten wir allerdings schon vorausge-setzt, da es Techniken geben kann, vor, auerhalb und nach der Macht, was nicht nur einer traditionellen Kennzeichnung der Technik zuwider liefe, son-dern auch der Vorstellung, Macht sei unumgnglich und alles Machen strebe nur auf Machtsteigerung. Oft ist es aber nicht der Zufall, sondern eine Ab-sicht, etwa der geschickte Einsatz einer Illusion, wodurch Positionen und Fel-der der Macht zu allererst umrissen werden. Vielleicht ist Macht systematisch von Illusionen umstellt. Technik wre auerhalb der Macht die Kunst, einzu-setzen und zu vollziehen, ohne dazu schon befugt zu sein, ohne diesen Vor-gang zu beherrschen, ohne da dies schon mglich wre. Damit aber die Tech-nik greifen kann, mu sie in den Bereich der Mglichkeit eingerumt sein.

    0.2 Kunst

    Die Kunst kann als Ermglichung und spezifischer in unserem Fragehorizont als Ermchtigung im Sinne der unbeherrschten Erzeugung von Macht gefat werden. Unter welchen Umstnden ist die Ermchtigung eine Strafe? Ich werde die Frage dahingehend zu beantworten suchen, da ich danach frage, wen die Kunst wozu ermchtigt. Inwiefern ist Strafe nicht eine Wirkung der Macht, sondern - etwa als Illusion - Erschleichung von Macht? Dies wre etwa der Fall, wenn der eigentliche Souvern sich unbefugt, grundlos strafen und die Herrschaft aus der Hand nehmen lt. Etwa, wenn er sich vorschrei-ben liee, dies magst du zwar, aber jenes mut du tun. Dieses Mssen, als Zwang, Sollen oder Notwendigkeit, unterbindet die Wahl, indem es sich nicht als illusorische Gegenmacht zu erkennen gibt, sondern im Souvern ein Un-vermgen erzeugt.

    0.3 Strafe

    Strafe dient, Piaton zufolge (Nomoi IX, 853c), der Strafvorbeugung (durch drohende gesetzliche Bestimmungen) und der Ahndung von Vergehen. Vom Standpunkt der idealen Verfassung besehen sei Strafe zwar eine Schande, aber dennoch angesichts menschlicher Schwche und psychischer Rigiditt notwendig. Unter welchen Umstnden kann ich aber berhaupt straffllig werden?

  • KATHARSIS UND KUNSTLOSIGKEIT ^7

    0.4 Schnheit der Strafe

    Wenn ich souvern bin, besitzen meine Handlungen gesetzgebende Kraft und knnen nicht illegal sein. Piaton wei um das Tyrannische jeder Strafe und versucht daher, den Einklang von Schnheit und Gerechtigkeit zu erweisen. Schnheit des Charakters und der Handlungen knne das physisch Unsch-ne berstrahlen. In demselben Sinne knnen Strafen, die an sich hlich erscheinen mgen, wenn sie zum Guten des Ganzen ausgefhrt sind, als schn gelten. Piaton zufolge besteht der Sinn der Strafe darin, eine Krankheit der Seele zu heilen. Die bsartigste Krankheit sei hochmtiges Unwissen. Hoch-mtig unwissend ist jemand, der sich ein Urteil anmat, zu dem er weder befugt noch ausgebildet ist. Wenn ich vermeine souvern zu sein, nur weil ich den Sinn der bestehenden Gesetze nicht verstehe, den Sinn ihrer Einschrn-kung meiner Souvernitt nmlich, mae ich mir ein Urteil ber die Gesetze an. Nur hochmtiges Unwissen fhrt zu vorstzlichem bertreten der Geset-ze. In anderen Fllen, nmlich bei Unabsichichkeit, will Piaton nur von Scha-den sprechen, welcher auszugleichen sei, um Freundschaft zwischen den Parteien wieder herzustellen. Weil die Strafe sich folglich gerade gegen die Schamlosigkeit zu richten hat, operieren die physischen Strafen immer mit der Zufgung von Scham. Strafen mssen also nicht nur den Gesetzesbre-cher in seine Schranken weisen, sondern mssen zudem noch sein Unwissen blostellen. Am Ende mu die Einsicht stehen. Der Unterschied von Schdi-gung und Verbrechen bedingt, da das Strafen als Ahnden nie blo Kompen-sation und Vorbeugung ist: Strafen ist das Belehren. Die Strafe soll den Ver-brecher und die ffentlichkeit so lange ber die Natur des Verbrechens, nmlich ber die Schamlosigkeit, belehren, bis diese ihm verhat ist und er einsieht, da seine eigene Exekution den Staat von der Last der beltat be-freit und der ffentlichkeit schamvoll ein Beispiel gibt, nicht ebenfalls ver-brecherisch zu handeln.

    Mag dies nun ein Gesetzgeber durch Taten oder Worte, unter Anwendung von Lust oder von Schmerz, von Ehre oder Schande, von Geldbuen oder Geldbeloh-nungen, oder auf welche Weise immer zu Stande bringen, da er Dem welcher fehlte das Verbrechen und Unrecht verhat macht und ihm Liebe zur Gerechtig-keit einflt, oder wenigstens seine Abneigung gegen dieselbe benimmt, - immer wird ein gutes (Straf-)Gesetz hierin seine Aufgabe zu suchen haben. (Nomoi 82d)

    In diesem Sinne nennt Piaton den Gesetzgeber auch den trefflichsten und besten Dichter (Nomoi 858c). Das Strafen ist das ffendich belehrende Ant-litz dessen, was in seinen Augen die beste Kunst ist, nmlich die verfas-sungsgeme Einrichtung des Staatswesens.

  • 28 LUDGER SCHWARTE

    0.5 sthetik als Beschmung

    Hauptgrund fr verbrecherische Schamlosigkeit ist Piaton zufolge Gottlo-sigkeit, denn die Einhaltung der Gesetze ist nur da gewhrleistet, wo die Men-schen gottesfrchtig sind. Sonst htten sie lediglich ein Interesse daran, der Strafverfolgung zu entgehen. Sobald Gesetze aber nicht mehr als heilig ange-sehen, sondern Spielball der Auseinandersetzung zwischen Ttern und Op-fern werden, geht ihr Sinn verloren. Das eigene Interesse mu der Einhal-tung des Gesetzes unterworfen werden, damit dieses seine vorzgliche Wirkung nmlich als Regel entfalten kann. Strafen scheiden das Schlechte mit den Mitteln der sthetik aus, um die Gesetze als gtdich zu instaurieren. Dabei mu selbstverstndlich der Gesetzgeber so unsichtbar bleiben, da die Men-schen die Gesetze als Ausdruck ihres ureigensten Interesses erfahren.

    Wichtigste Methode der Widerlegung des Materialismus ist es nmlich, den Menschen zu zeigen, da die Seele ursprnglicher ist als der Krper und da die Selbstbewegung, die Vernunft und die Kunst Grundlage der Natur, des Krpers und seiner Vernderung sind. Dem Menschen mu vor-gefhrt werden, da er sich nicht unterwerfen soll, sondern bereits immer schon hheren Prinzipien unterworfen ist. Strafen sind Operationen am Krper, die in ihm seelische Regungen auslsen, doch so, da der Krper sich zugleich als Produkt des Geistes, der Sprache, erfhrt. Diese Operation der Unterwerfung ist nun um so effizienter, j e mehr der Krper auf Intelligi-bles anspricht und die Strafe nicht als ueren Anspruch, sondern als Erl-sung, Befreiung seiner Innerlichkeit auffat. Wenn es gelingt, die ureigen-sten, intimsten Empfindungen durch offenbare Illusion auszulsen, wird der Krper in einen Sinnzusammenhang eingeordnet. Die Sprache bemch-tigt sich der Sinne. So knnen Menschen durch Zeichen regiert werden.

    1 Mimesis und Materialitt: Kritik der modernen sthetik

    Diese Diskreditierung des Sinnlichen als bloen Widerstand gegen die Regel setzt voraus, da ich das, was mir begegnet und was mich zu steuern beginnt, als Absicht erfahre. Wie ein Spiegelbild scheint das Zeichen an sich selbst nichts zu sein, sondern lediglich auf anderes zu verweisen; es ist ein sinnlich-bersinnliches Ding.

    Aus der Einfhrung und Durchsetzung der Kategorie der Nachahmung, Mimesis, zur Kennzeichnung von Kunstwerken zieht die Philosophie einen doppelten Nutzen. Denn sie kann nun die Kunstobjekte als Zeichen behan-deln, Gemlde etwa als referentielle Bilder, und sie zugleich als solche in einem bedeutenden Abstand zu dem als originr gesetzten Reellen halten, da es nur Bilder sind. Dieser auf Piaton zurckgefhrte Mimesisbegriff wird

  • KATHARSIS UND KUNSTLOSIGKEIT 29

    von der modernen sthetik1 beschuldigt, die Kunstwerke durch die Beschrn-kung auf die Reprsentationsfunktion jeder Wahrhe i t -und nicht jeder Lust! - beraubt zu haben. Abbilder kennzeichne ein Mangel an Wahrheit, wel-cher es verhindere, sie als vollstndig verstehen zu wollen. Die moderne sthetik richtet ihre Aufmerksamkeit auf die materielle Gestaltung des Spie-gels, auf die Zeichentrger. Mimesis sei gerade die Funktion, welche die Anerkennung der Originalitt des Kunstwerkes verhindere. Die Definition der Kunst als Mimesis sei die notwendige Bedingung der Selbstermchtigung der Philosophie. Piatons Diskurs fingiere ein Bild des Kunstwerkes, welches die Existenzbedingungen der Philosophie rechtfertige. Die Unterstellung der platonischen Wahrheitstheorie diene zur Verurteilung der Lust. Der Nachweis des materiellen Korrelates der platonischen Scheinwelt verbleibt aber immer noch in der Dichotomie von Wahrheit und Lust. Um zu zeigen, was das Kunstwerk in Wahrheit ist und das Sinnenspiel der Richtigkeit sei-ner blo materiellen Gestaltung unterzuordnen, rekurriert die Selbstbe-grndung moderner sthetik immer noch auf jenen Satz in Piatonszen, der explizit sagt, nachahmende Kunstwerke drften niemals nach der Lust und dem Genu, sondern nur nach der Richtigkeit und Wahrheit beurteilt werden (Nomoi II, 66y-668a).2 Insofern Piaton Malerei und Rhe-torik analog als Komplizen bei der Provokation bestimmter Effekte durch Reprsentationstechniken behandelt, kann er sie nach Magabe des Erkennt-nisproblems analysieren. Der Privilegierung der Erkenntnisfunktion unter-liegt die berzeugung, die korrekte Darstellung habe eine bessernde Wir-kung. Die bessernde Spiegelung des Wirklichen hat ihn schon frh zu einer Einteilung der Textformen angestiftet: Es gebe die einfache Erzhlung, die unmittelbare Darstellung sowie ein Gemisch aus beiden, also den Hymnus, das Drama und das Epos. Die dramatischen Darstellung und die epische Mischung von Bericht und direkter Rede sollen gnzlich verworfen und nur die schlichte Erzhlung zugelassen werden im Sinne gesinnungsertchti-gender Zweckpoesie (Fuhrmann). Die Besserung ist die Formung einer

    1 Ich beziehe mich hier exemplarisch auf Theodor W. Adorno, Jacques Derrida und Gilles Deleuze sowie insbesondere in der poststrukturalistischen Diskussion der klassischen sthe-tik auf Jacqueline Lichtenstein. La Couleur eloquente, Rhetorique et Peinture lge classique. Paris 1989. Im folgenden kennzeichne ich jene Stellen, an denen nachmoderne sthetiken noch in diesem Sinne modern sind.

    2 Die Bestimmung der Kunst ber die Nachahmung sieht allerdings eine eigentmliche Ver-quickung von Zeichen, Zeichentrger und Bezeichnetem vor, was zu dem vielleicht nicht ganz so abstrusen Gedanken fhrt, das Drama msse verboten werden, weil sich niemand als Dichter oder Schauspieler mit verschiedenen und schlechten Rollen identifizieren drfe. Die Nachahmung schlechter Handlungen frbe auf den Charakter des Nachahmenden ab (Politeia III 392d-3g8b; Nomoi 11652 a; VII 801 b). Ich zitiere Piaton in der bersetzung von Schleiermacher/Susemihl. Frankfurt a. M. 1991.

  • $o LUDGER SCHWARTE

    schnen Seele. Diese Aufgabe steht bei Piaton unter dem Schlagschatten eines jenseitigen Gerichts. So spielt der Schlumythos des Gorgias leibliche und seelische Schnheit gegeneinander aus: whrend sich irdische Richter durch schne Leiber bestechen lieen, beurteile das Totengericht die Ver-storbenen nach ihrer wahren Beschaffenheit, nach ihrer seelischen Schn-heit oder Hlichkeit (Gorgias 523a~526b).Diesem Motiv der platonischen sthetik war eine betrchtliche Wirkung beschieden; es gelangte ber Plotin zu Augustin und anderen christlichen Denkern, denen das Hliche zum Signum der Diesseitigkeit wurde.

    Die Zufgung von Unschnem durch Anblick oder Gespr soll Scham-gefhle auslsen. Dieser sthetische Akt der Strafe wird bei Piaton als Besse-rung des Ganzen gerechtfertigt. Das Strafen als schne Kunst verhilft einer durch ein berirdisches Gericht gesttzten Wahrheit der Form zu ihrem Recht. Die moderne sthetik kritisiert zwar Piatons Zurichtung der Kunst auf die Reprsentation der Wahrheit. Allerdings kritisiert sie die Mimesis nicht, um die Lust an der Kunst zu rechtfertigen oder zu erhhen. Die mo-derne sthetik will lediglich den Anteil der Lust an der Wahrheitsproduktion zu Bewutsein kommen lassen. Erst die Anerkennung der Originalitt lasse die Wahrheit der Kunst verstehen. Das Anerkennen der Originalitt der Kunst als Wahrheit impliziert denselben Dressurmechanismus, den Piaton Strafe nennt.3 Das Dressiertwerden soll als Teilhabe an der Macht erlebt werden, und zwar durch den Genu der eigenen Beherrschung im Durchschauen des Scheins.

    1.1 Metapher und Modell

    So wird Aristoteles in aller Regel dafr von modernen sthetikern gelobt, da er dem Kunstwerk die Mglichkeit zuschreibt, sowohl Erkenntnis- als auch Lustobjekt zu sein. Weil es zugleich die Dinge, die es darstellt, und die Grn-de, welche die Darstellung beherrschen, sichtbar macht, erfllt das Kunst-werk die doppelte Funktion von Metapher und Modell. Wenn es notwendig

    3 Der rhetorische Aspekt der Malerei, die Illusionsmacht, die Verfhrungskraft liegt in ihrem Wesen, nmlich im Farbspiel. Malen ist zunchst Frben. Die Malerei ist eine von Linien und Farben bedeckte Oberflche, bevor die Idee der Nachahmung sie zu einem logischen Bild organisiert. Diese Organisation obliegt zunchst der Linie und richtet sich gegen den Farbfleck, der immer ein Moment des Zufalls bleibt. An sich selbst betrachtet ist die Farbe berflssiges Zierrat, bedeutungsloses Ornament, whrend die Linie der Beginn einer Figur ist. Durch diesen logischen Parforceritt kann die Farbe nichts anderes sein als Zeichnung und das Bild nichts anderes als eine Inschrift, eine Inschrift nichts anderes als ein Portrt und dieses ist ein Wort. Da der Gesetzgeber die Benennungen nach dem Urbild der Dinge unter Aufsicht des Dialektikers vornimmt, ist trotz aller Vernderung die ideale Entspre-chung der Welt und der Wrter gesichert (Kratylos 431 c-43aa; 439b).

  • KATHARSIS U N D K U N S T L O S I G K E I T 51

    ist, u m e ine Metapher herzustel len, gut das Gleiche zu sehen (Poetik 22, 5 9 a 8 ) , da nmlich die gute Metapher diejenige ist, welche mittels des Typs e ine Erkenntn i s vermittelt (Rhetorik III, 10, 1410a) , so ist das Vergngen , Bilder zu sehen nichts anderes als die doppe l t e Bewegung de r Identifikation.

    Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude mglichst getreue Abbildungen, z. B. Darstellungen von uerst unansehn-lichen Tieren und von Leichen. Ursache hiervon ist folgendes: Das Lernen berei-tet nicht nur den Philosophen grtes Vergngen, sondern in hnlicher Weise auch den brigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb ber den Anblick von Bildern, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschlieen suchen, was ein jedes sei, z. B. da diese Gestalt den und den darstelle (Poetik 4, 1448b 15).

    Das Vergngen basiert h ier in erster Linie auf d e m Wiede re rkennen . N u n ist es keineswegs so, da Aristoteles den mater ialen Widerpar t de r Form als Lust-faktor d e m Wiedere rkennen entgegenstellt . Vielmehr richtet er die Lust zweck-haft e in u n d o rdne t , wie spter die Baumgar tensche sthetik ausfhren wird, das Spiel de r Sinnlichkeit wiederum de r Erkenn tn i s sphre zu, i n d e m das Materiale auch dort , wo die Form nicht herausgesehen werden kann, nu r als Gestaltetes relevant sein soll. Aristoteles fhrt fort:

    Wenn man indes den dargestellten Gegenstand noch nie erblickt hat, dann berei-tet das Werk nicht als Nachahmung Vergngen, sondern wegen der Ausfhrung oder der Farbe oder einer anderen derartigen Eigenschaft (Poetik ebd.).

    1.2 Verfhrung und Exekution

    Das re ine S innenvergngen wird als Randbere ich des Wiede re rkennens von dargestel l ten Gegens tnden gefat, solange das Vergngen d e m A n e r k e n n e n de r regelmigen Ausfhrung u n d dami t d e m Durchschauen der Scheinhaf-tigkeit des Materiellen entspr ingt . Die sthetische Quali tt erarbei tet dami t die Mglichkeit de r hnlichkei tsbeziehung. Die zweckhafte Einr ichtung des Werks verfgt b e r die Sinne des Zuschauers. Das Vergngen b t die Aner-k e n n u n g planvoller Exekution ein.4 Das Schauspiel dieser Ausfhrung er-greift, es ist aufregend, verfhrerisch (psychaggikon, Poetik 1450b 16), in d e m Mae, wie es etwas Kont ingentes (Anfang) in etwas Notwendiges, Regel-miges (ebd., 1450b 29) berfhr t u n d du rch das Vergngen der Seherfah-r u n g von de r Beher r schung de r Mglichkeit d u r c h bes t immte Gre u n d A n o r d n u n g Erkenntn is induziert . Das Material bleibt zwangslufig e iner ko-n o m i e e ingeschr ieben, in de r es als berschu , als Zusatz, als Verausgabung

    4 Vgl. Halliwell, Stephen. Aristotle's Poetics. London 1986, 62ff.

  • 3 LUDGER SCHWARTE

    die Lust an ihre Grenzen fhrt. Denn kunstfertig ist eine Ausfhrung, den Aristotelischen Annahmen gem, erst dann, wenn sie mehr ist als eine mi-metische Verdoppelung des Reellen, wenn sie ihr Modell im Besseren, nm-lich wesentlich und typisch zeigt, wenn sie also nicht nur den Kriterien der hnlichkeit, sondern denen der Angemessenheit gengt. Erst durch diese reicht das Wiedererkennen ber das Anerkennen einer blo empirischen hnlichkeitsbeziehung hinaus zur Erkenntnis des Wesendichen. Dieser Un-terschied, welcher den Wert der Reprsentation ausmacht, rhrt aus einer formellen Sichtbarmachung der Zeichnung, der Figur, der Form her, aus der Identifikation der Lust mit dem Begrenzenden. Die kunstvolle Reprsentati-on zeigt somit durch die Zeichnung zugleich ihr eigenes Wesen und das der Dinge, sobald der Betrachter sich an diesem Werk als Doppelwesen erfhrt. Der Zurichtung der Farbe auf die Zeichnung, des Materials auf die Bezeich-nungsfunktion entspricht in der Sicht der modernen sthetik das Ideal eines kontrollierten Krpers, eines geffneten, fleischlosen Krpers. Versucht sie dieser Zurichtung nun aber die Erfahrung des Krpers als ursprngliche s-thetische Erfahrung entgegenzusetzen, dreht sie die aristotelische Methodik keineswegs um, sondern vollzieht nur den ersten Schritt der Auslieferung und Unterwerfung. Das Phantasma des kontrollierbaren Krpers, welcher das Objekt der guten Lust ist, die sich nur um Erkenntnis sorgt, brennt sich dem Betrachter ein, indem er sich zunchst in der Gefhlsproduktion des Werkes verliert.

    Die Lust wird sich folglich genau dann nicht in den Tiefenschichten des Sinnlichen, in den unvordenklichen Freuden des Unfrmigen verlie-ren, wenn die Intelligenz im Sinne der Kontrolliertheit des Werkes den Hhepunkt der Lusterfahrung darstellt, und zwar als krperliche berra-schung, und weniger als logische Schlufolgerung/1

    1.3 Schauspiel und freie Versammlung

    In der aristotelischen Hierarchie liegt die Ausfhrung der Farbe im Gemlde auf der selben Ebene wie in der poetischen Kunst das Schauspiel. Diese Opsis mu der Stringenz des dramatischen Textes untergeordnet sein. Unter dem blo Spektakulren versteht Aristoteles alles, was die Wirkungen der Stimme und der Geste, die Qualitten der Elokution und der Interpretation, sowie die Bedingungen des Sichtbar- und Hrbarmachens eines Textes betrifft. Der aristotelischen Poetik gem mu das Wesendiche sich schon bei der bloen Lektre des Dramentextes mitteilen. Die dramatische Wirkung, die Aristote-les das Technische, Kunsthafte nennt, darf nicht abhngen von den Zufllen

    5 Siehe Poetik 16, 1455315-20.

  • KATHARSIS UND KUNSTLOSIGKEIT 53

    der Inszenierung und vom Talent der Schauspieler, sondern einzig und allein von der Organisation des Diskurses. Diese Privilegierung der technischen gegenber der spektakulren Performativitt lt sich nur mit Blick auf die Situierung des Kunstereignisses erklren. Die Privilegierung der sthetischen Performativitt ist der Rhetorik endehnt, wo Aristoteles technische und auertechnische Beweise unterscheidet. Technische Beweise nennt er all diejenigen, welche durch die Methode und unsere persnlichen Mittel erbracht werden, auertechnisch sind die Beweismittel, welche zuvor schon gegeben waren, wie die Zeugenaussagen, die Gestndnisse unter Folter, die Schriftstcke und andere Indizien derselben Art. Diese Beweismittel zeigen nur, weisen hin, aber beweisen nichts; sie sind dem Diskurs uerlich, und beziehen sich nicht oder nur indirekt auf die Sache, direkt aber auf den Richter und seine Empfindung (Rhetorik I, 2, 1355b). Eher als ihn zu berzeugen sind diese Beweismittel geeignet, ihn gefangen zu nehmen, indem sie in ihm Leidenschaften produzieren, Mideid, Verdacht oder Wut. Wenn Aristoteles nun das Schauspiel nach dem Muster der Gerichtsverhandlung begreift und das Publikum mit der Position des Richters vergleicht, so ist seine Forderung, auch im Schauspiel mten die technischen Mittel der berzeugung die Oberhand bewahren ber die ueren Mittel, welche Leidenschaften produzieren, als Hinweis darauf zu verstehen, da derjenige, welcher solche Leidenschaften an sich entdeckt, sich als Richter disqualifiziert. Interessanterweise rumt Aristoteles nmlich ein, da die auertechnischen Beweisstcke in einer freien Versammlung gar keine Rolle spielen knnen, sondern nur dort, wo ein Richter mit einer ihm fremden Sache betraut ist. Da sie unter dieser Voraussetzung der Logik der Sache uerlich sind, hngt ihre Verwendung nur von einer Pragmatik der Eloquenz ab, die sich von der Logik der Sache bestimmt zeigen mu. Die Leidenschaft mu also, Aristoteles zufolge, von den technischen Beweismitteln hervorgerufen werden, um legitim zu sein. Das Ausma des Einsatzes von extratechnischen Beweismitteln hngt vom Auditorium ab; im Gerichtssaal sei ihr Einsatz nicht zu vermeiden. Richtet sich eine freie Rede an eine Versammlung, die ber eine Frage befinden mu, die sie selbst betrifft, so wird die Versammlung kaum von diesen hinzugefgten Mitteln zu korrumpieren sein. Ein Richter aber, so Aristoteles, mu ber eine ihm fremde Angelegenheit befinden. Wie sollte seine Entscheidung nicht von jenen ueren Emotionen beeinflut sein? Aristoteles verurteilt die Prsentation, die gespielte Handlung (Hypokrisis, Rhetorik III, 1403 b), in allen politischen Debatten; und interessanterweise macht er den mglichen Stellenwert dieser Sprachregister zum Kriterium fr eine gute Staatsform: In einer fehlerhaften Verfassung sei das berflssige, die Handlung, die Schauspielerei, mchtiger als die eigendiche Demonstration.

  • 34 LUDGER SCHWARTE

    1.4 Sachlichkeit und Politik

    Bevor er sein Urteil fllen kann, mu der einzelne Richter sich von sachfremden Leidenschaften befreien. Die illegitimen Leidenschaften spielen folglich nur dort eine Rolle, wo der Richter die Sachlage beurteilen mu. Dazu mu die Sachlage dem Richter als Kriterium fr Leidenschaft und Interesse entgegentreten. Mehr noch, die asymmetrische Unterscheidung zwischen innerer Organisation und uerer Inszenierung macht nur dort einen Sinn, wo der Nachvollzug die Sachlage nur besttigen oder verwerfen kann. In dem Mae, wie es dem dramatischen Text gelingt, eine strkere Wirkung zu entfalten als die Inszenierung, unterwirft er den Richter seinen Kriterien, Kriterien der Richtigkeit, nicht des Dafrhaltens. Auch die moderne Rehabilitation der Sinnlichkeit als Erfahrung setzt die Kunst weiterhin als Sprache, als Intention oder Ma. Verfolgt aber diese Indienstnahme der Lust fr die Wahrheit der Kunst nicht ganz hnliche, letztlich politische Zwecke?

    Bevor ich versuche ausfhrlicher zu beantworten, warum Mimesis und Katharsis Techniken der Entmachtung der freien Volksversammlung sind, soll die Hypothese kurz zusammengefat werden, die sich aus der Untersuchung der platonischen Definition von Strafe ergab:

    I . ) Der Sinn des Strafens ist die Anerkennung der gtdichen Macht des Gesetzes durch die Zufgung von Scham.

    2.) Die Ausarbeitung sthetischer Mittel bei Piaton und Aristoteles luft stets auf die allgemeine Anerkennung von Regeln hinaus.

    3.) Die moderne Kritik dieser sthetik setzt bei dem Unterschied zwischen sinnlichem Material und Idee an, um das zweckfreie Vergngen als das eigentliche Wahrheitspotential der Kunst qua Reflexion gegen die Zurichtung der Sinnlichkeit auf Nachahmung ins Spiel zu bringen, und stellt dabei doch weiterhin die Wahrheit der Kunst ber die Lust des Publikums.

    1.5 Leibmasse

    So schreibt Adorno:

    Die Reinigung der Affekte in der Aristotelischen Poetik bekennt sich zwar nicht mehr so unverhohlen [wie Piaton] zu Herrschaftsinteressen, wahrt sie aber doch, indem sein Ideal von Sublimierung Kunst damit beauftragt, anstelle der leibhaften Befriedigung von Instinkten und Bedrfnissen des visierten Publikums den sthetischen Schein als Ersatzbefriedigung zu instaurieren: Katharsis ist eine Reinigungsaktion gegen die Affekte, einverstanden mit Unterdrckung [...]. Die Lehre von der Katharsis imputiert eigendich der Kunst schon das Prinzip, welches am Ende

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    die Kulturindustrie in die Gewalt nimmt und verwaltet [...]. Ersatz drfte eh und je verdrckte Instinkte ausgebrtet haben.6

    Das Herrschaftsinteresse erzeugt durch die Kunst im Publikum Instinkte. Adorno setzt auf eben dieses Vorurteil des Triebs, auf affektive Leiblichkeit als Bezugsrahmen einer echten Befriedigung. Adornos Hinweis auf die Imputation lt jedoch Zweifel aufkommen an der behaupteten Authenti-zitt des Leiblichen.

    Gibt es ohne die Kunst berhaupt Affekte oder werden sie durch die Kunst, vorverurteilend, gereinigt, indem sie zugleich die Kriterien fr das, was als Affekt gilt, etabliert? Gibt es Verbrecher ohne Gefngnisse? Wird nicht das Publikum, indem man ihm durch die Kunst beweist, da in ihm zu berwindende Affekte schlummern, wie durch Folter zu einem Gestndnis gebracht? Die Lust wird weiterhin gegen den Sinn ausgespielt, und zwar als nachvollziehende Besttigung vorgngiger Einrichtung, solange das Merk-mal des falschen Bedrfnisses seine Berechenbarkeit und damit seine methodische, wenn auch fiktive Befriedigung im sthetischen Erlebnis ist. Eingebunden in das Spiel von objektivierten Reizen und verdinglichter Sub-jektivitt wird auch die Prsentation des Neuen und Heteronomen nur als Hlle des Immergleichen sichtbar. Dieses Nachahmen ist nichts anderes als die Fiktion und damit Neutralisierung nicht vorhandener Gefhle. Kitsch produziert die Katharsis. Adornos Gegenkonzept: Kunst achtet die Mas-sen, indem sie ihnen gegenbertritt als dem, was sie sein knnten, anstatt ihnen in ihrer entwrdigten Gestalt sich anzupassen.7 Wird aber das Publi-kum nicht gerade dadurch zur Masse, da die Kunst es disqualifiziert? Unse-re moderne Welt ist zugepflastert von Ersatzlust. Das Vulgre ist ebenso wie das Edle Kitsch. Doch der Grund dafr ist nicht der schlechte Geschmack des Publikums, sondern, wie Adorno an der selben Stelle sagt, die fortdau-ernde Unterdrckung inmitten von Demokratie. So kann man schon in Adornos findiger Dialektik spren, da die Frage des Kitsches eine Frage der Macht ist. Auch die sthetische Theorie denkt Kunst noch als Strafe: Kunst achtet die Masse als Masse, indem sie ihr als ihr Gegenteil entgegen-tritt. Adornos sthetik findet ohne, gegen das Publikum statt. Auch diese Kunst ist Unterdrckung inmitten der Demokratie, denn auch sie ist in ih-rer Unterscheidung von Richtigem und Falschem am Erlebnis orientiert.

    6 Adorno fhrt fort: Noch die Kategorie des Neuen, die im Kunstwerk reprsentiert, was noch nicht gewesen ist und wodurch es transzendiert, trgt das Mal des Immergleichen un-ter stets neuer Hlle. Das bis heute gefesselte Bewutsein ist wohl des Neuen nicht einmal im Bilde mchtig Adorno. sthetische Theorie. Frankfurt a. M. 1970, 354. Hier wird die Lust des Odysseus mit dem Nichterkennen des Neuen durch die Zwnge der Reprsentation verbun-den.

    7 E b d - 355/ 6 -

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    1.6 Sprachdroge

    Wie in der medizinischen Therapie ist das Wichtigste am Erlebnis die Bere-chenbarkeit seines Verlaufes, seine Methodik. Das Erlebnis macht die Men-schen abhngig von einem (politischen) System, das sie selbst nicht entwor-fen oder zu verantworten haben, indem es sie durch das Ausstoen und wieder Einverleiben dressiert, ihm die Entscheidung zu abzutreten. Hier liegt der politische Unterschied zwischen Heroin und Methadon: Ich mu lernen zu wollen, da man mir ein Erlebnis verabreicht. Da die Einrichtung einer psychagogischen Kunstpolitik effizienter ist als die offene gewaltsame Unter-drckung hat keineswegs erst die Moderne entdeckt. Piaton nutzt die Sprach-macht und Schnheit der Kunst zu einer Rckbindung der Lust an die Ho-heit der Institution.

    Diesen Schritt vollzieht Piaton zwischen der Republik und den Geset-zen. Da er dabei explizit die Kunst als Entstehungsgrund des demokrati-schen Freiheitsgedankens beschreibt, ist bislang kaum gengend beachtet worden. Ich will im folgenden diese Beschreibung benutzen, um gegen die moderne sthetik einen radikaldemokratischen Kunstbegriff ins Feld zu fhren.

    2 Der Kreissaal der Demokratie

    In den Nomoi spricht Piaton nmlich davon, da es Kunstwerke gibt, die nicht als kunstvolle Reprsentation, sondern als Auseinandersetzung, als berra-schung, als Ereignis konzipiert sind. Diese Kunstwerke sind zunchst durch ihre Rumlichkeit, nmlich als Theater, gekennzeichnet. Hier nmlich, im Theater, erfhrt sich das Publikum als Teil der Auffhrung. In dieser theatralen Situation kommt den Inszenierungselementen eine grere Rolle zu, aber auch die Reaktion des Publikums gewinnt Einflu auf die Wirkung des ge-samten knstlerischen Ereignisses. Dies gefhrdete die Stellung der Kunst-kenner. Zunchst war noch alles in Ordnung: Gesnge waren streng nach Gattungen aufgeteilte Gebete in einer fein abgestimmten Hierarchie, welche die Beurteilung richtiger Darstellung zulie.

    Auch traute man die richtige Einsicht hievon nicht der Menge zu und gab die Macht nach dieser richtigen Einsicht zu urteilen und den Ungehorsamen zu be-strafen nicht ihrem Zischen und rohen Geschrei, wie heutzutage, noch auch (die Belobigung) ihrem Beifallsklatschen anheim, sondern fr die Gebildeten galt es als geziemend ihrerseits schweigend bis zu Ende zuzuhren, die Knaben nebst ih-ren Aufsehern und die groe Masse des Volkes aber wurden mittels des Polizei-knppels in Ordnung und Ruhe gehalten [...]. Spter aber wurden Dichter die ersten Urheber der Gesetz- und Geschmacklosigkeit [...], indem sie sich ganz vom Taumel der Begeisterung hinreien lieen und ber Gebhr daran hingen (ihren

  • KATHARSIS UND KUNSTLOSIGKEIT 37 Zuhrern) Genu zu bereiten [...]. [So legten sie] die falsche Ansicht an den Tag, da [die Kunst] keine feste Regel in sich selber trage, sondern da der Genu dessen, welcher sich an ihr erfreue, und zwar des Untchtigeren so gut wie des Tchtigeren, am Besten das Urteil ber sie regle. [...]. In Folge dessen ward denn das Publikum aus einem stillen ein lrmendes [... ] und es entstand in den [Kn-sten] aus einer Herrschaft der Besten eine schlimme Massenherrschaft des Publi-kums (Nomoi 7ooc~7oib).

    Das Theater ist der Kreissaal der Demokratie. Denn nachdem einmal die Mi-schung der Genres und das Ausprobieren des Mglichen die Hierarchie ins Wanken gebracht hatte, lie sich das Publikum (Frauen, Sklaven, Fremde, Kinder) nicht mehr durch Polizeigewalt zur Ruhe bringen, verlor die Scheu vor dem Urteil der Besseren. Zusehens bestimmte es mit seinem Geschmack (Genu, Freude) das, was zur Auffhrung kam. Htte das Publikum nur aus freien Mnnern bestanden, so wre es nicht schlimm gewesen; so aber hat bei uns die allgemeine Einbildung, ein Jeder verstehe sich auf Alles, und die allgemeine Verachtung der Gesetze von der musischen Kunst her ihren Ur-sprung genommen, und an sie schlo sie (erst) die [gesetzlose] Freiheit.

    2.1 ffentlichkeit als Anarchie Was letzdich zur Demokratie fhrte, wird von Piaton als Theatrokratie kri-tisiert.8 Das Publikum versteht die Vernderbarkeit von Gesetzen und gewinnt Selbstvertrauen. Dadurch verliert sich der Gehorsam gegen die Obrigkeit und die freiwillige Unterwerfung unter deren Sachverstand (Nomoi 701b).'1 Pia-ton greift die theatrale Kunst nicht als Gefahr fr die sthetischen Standards des Connoisseurs an. Die politische Wucht der Kunstwerke ist nicht ihr skan-dalser Inhalt oder die Modifikation von Standards, sondern die Tatsache, da die Auffhrung innovativer Kunst sich dem Vergleich darbietet und zu einer Entscheidung durch alle Zuschauer provoziert nach Magabe dessen, was ihnen gefllt - und nicht etwa nach verallgemeinerungsfhigen Standards. Die Theatrokratie etabliert einen vllig neuen Kunstbegriff, der sich in der Konfrontation erfllt.

    8 Die Entmachtung der Gesetze hngt implizit mit der Entmachtung des Areopags zusammen (Nomoi 700a). Beides fat Piaton als Schamlosigkeit.

    9 Plato kontrastiert hier Genu und Korrektheit, wobei er sich fr eine besonders strikte Hymnenform ausspricht, die dem Buch seinen Namen gegeben haben: Nomoi sind nicht primr Verfassungsgesetze, sondern musikalische Regeln und insbesondere ein Genre, die kitharodischen Nomoi (Nomoi 700b), die feierlich zur Kithara gesungen wurden. Piatos Buch endet mit der Idee, da das langsame Singen seiner verfassungstheoretischen berle-gungen die beste Methode wre, den Geist der Gesetze und den Geist der Gerechtigkeit zu integrieren, d. h. diejenige Mentalitt aufzubauen, die das Funktionieren des darin beschrie-benen Staates voraussetzt. So sind Piatons Nomoi ein Konkurrenzunternehmen zum Thea-ter.

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    Das bessere Urteil im sthetischen basiert natrlich nur zum Teil auf Bildung, Wohlstand und Erfahrung. Wichtiger noch ist die institutionelle Sicherung der Tradition als dessen, was Regel und Methode auszeichnet. Dies entspricht Piatons Forderung, da die Regierung in der Hand derjeni-gen sein sollte, die dazu erzogen und eingesetzt worden sind. Zwar war die Theatrokratie, die Piaton angreift, im alten Athen niemals so machtvoll, die Brgerschaft auch auf Frauen, Fremde und Sklaven auszudehnen, die doch diese ffentlichkeit bilden. Und doch war es die Existenz dieser f-fentlichkeit, welche offenbar die Demokratie erst ermglichte. Der Haupt-fehler der als gesetzlos kritisierten Demokratie liegt in Piatons Augen hier, in der Theatrokratie. Es ist die Erfahrung, da die ffentlichkeit mit ihren spontanen Ausdrucksformen der Grund ist, weshalb Regeln erfunden, aus-gefhrt oder abgeschafft werden. Der Fehler der Demokratie ist folglich, da nicht nur das Staatsvolk, in diesem Fall die freien mnnlichen Brger Athens, regieren, sondern da ein Geist regiert, in dem all diejenigen, wel-che weder Funktionstrger noch auch nur Brger sind, einen wesentlichen Einflu auf die Entscheidungen ausben knnen, nicht zuletzt durch knst-lerische Auffhrungen. So ist die Sichtbarkeit und die Abstimmung des Pu-blikums im Theater ein knserisches Mittel, politische Grenzen zu ber-schreiten.

    2.2 Recht ist, was alle sprechen

    Dieser Vorgang scheint eine Entsprechung in der Mediengeschichte des Rechts zu haben. Wenn es zuvor die Rolle des Knigs gewesen war, das Gesetz zu sprechen, so fhrt die Ausweitung der Schrift, des Schreibensknnens, dazu, da die Gesetze, die geschriebenen Gesetze, ein Allgemeingut wurden. Wie f. P. Vernant in seinem Ursfrrung des griechischen Denkens zeigt, fhrt diese Ver-ffendichung der Gesetze nicht nur dazu, da sie auf jeden gleich ange-wendet werden knnen, sondern vor allem, da sie durch jeden angewen-det werden knnen. Mit dem Verstndnis fr die vernderbare Materialitt ndert sich der Rechtsbegriff, denn sobald klar wird, da die Gesetze durch einen kommunalen Krper sehr unterschiedlich angewendet werden kn-nen, wird deudich, da auch die Standards der Gerechtigkeit nicht ein fr alle Mal vom traditionellen (kniglichen) Recht fixiert werden sollten.

    Dieses Bewutsein fhrt nun, wie Plato bezeugt, das Theater vor. Wichtig im Hinblick auf sein Verstndnis der disziplinarischen Funktion von Kunst ist es festzuhalten, da das Theater durch das Wechselspiel zwischen innova-tiver Dramatik und der Artikulation des Publikums eine Gegenwart konstru-iert. Aus dieser gebauten Disposition geht die Eleutheria hervor. Deswegen ist es fr die sthetische Disziplinierung so wichtig, mgliche Strungen der

  • KATHARSIS UND KUNSTLOSIGKEIT 39

    Auffhrung durch innere Gliederung, durch Sitzordnungen und notfalls durch Polizeigewalt zu unterbinden.

    2.3 sthetik und Verfassungstreue So darf Piatons Publikum sich wohl sthetisch beeindrucken lassen, wird aber vom Urteil als dem Entwurf dessen, was an der Wirkung regelmig ist, ausgeschlossen. Die sthetische Kunst erzwingt technisch den Gehorsam des Publikums. Seine Reaktion mu auf der Ebene des Affekts verbleiben und bindet es an die Wirkungsmacht der Sprache als Institution. Der Sprache gegenber wird das Publikum zur Leibmasse. Es erlebt seine Affekte als Unfhigkeit zu sachlichem Urteil und damit als Einverstndnis mit regulierenden Umstnden, mit einem ueren Mssen, das dem Subjekt seine Regeln oktroyiert. Die sthetische Kunst ist ein Spiel mit der Gefahr, ein Vorfhren der eigenen Unfhigkeit zu urteilen durch die Einsicht in die Inkommensurabilitt des Erlebnisses. Piaton will in den Gesetzen das Theater in dem Mae zulassen, wie es ein berechenbares Erlebnis auslst. Die Rekreationsinstrumente des Idealstaates dienen dann dazu, den Brgern den Geist der Verfassung einzupflanzen. So wird, im Vergleich zur zeitgenssischen athenischen Demokratie, Gesetzesstabilitt dank der Entmachtung des Publikums, der Selbstzensur bzw. der kenntnisreichen Auswahl der Kunst etabliert.

    Piatons Nomoi (653 d) sprechen wie Perikles in der Grabrede davon, da die Menschen Erholungen von ihren Anstrengungen ntig haben. Im Gegensatz zur freudlosen Stadtverwaltungsperfektion seiner Politeia sind diese Zugestndnisse auf zwei Ziele gerichtet: Erstens auf die Selbsterkenntnis aus dem Umgang mit fremden Genssen (Reaffirmation des Subjekts durch das Erlebnis), und zweitens auf die innere Einheit der Stadt dadurch, da sich die Brger einander zeigen, wie sie sind (738c). Trunkenheit und offene Rume werden zur Produktion des stabilen transparenten Selbst eingesetzt.

    Kunst als Strafe und Strafe als Kunst basieren auf der Annahme, da ein Staat funktioniert, solange die Gesetze als evidente Wahrheiten betrachtet werden. Piaton rumt in den Nomoi durchaus ein, da diese Gesetze nichts bernatrliches sind, sondern nur durch Funktionieren ihre Gltigkeit beweisen, d. h. wenn sie angenommen werden, als ob sie gottgegeben wren. Die Einhaltung der Gesetze, die Selbsterhaltung des Staates ist bei Piaton Selbstzweck. Er ist sich sehr wohl bewut, da rechtiiche Autoritt letztlich nicht auf Wissen oder Geschmack basiert, sondern schlicht auf Macht und Position. Die Schnheit des Ganzen resultiert aus der performativen Durchsetzung von Machtstrukturen. Ein Richter sollte nicht sein Urteil dem Publikum ablernen, noch sich von der lrmenden Masse oder seiner eigenen

  • 4 LUDGER SCHWARTE

    Unwissenheit betuben lassen, sondern nur seiner berzeugung gem urteilen, denn der Richter sitzt dort nicht als Student, sondern als Lehrer der Zuschauer, schreibt Piaton. Was den Richter vom Publikum folglich un-terscheidet, ist weniger seine Bildung als seine Position. Der Richter mu sich denen entgegenstellen, die unziemliche Vergngen bieten, ganz an-ders als wie jetzt die Sitte in Sizilien und Italien der Masse der Zuschauer die Entscheidung berlt und durch Aufheben der Hnde den Sieger ernennt (Nomoi 659b). '" Die ffendiche Meinung (die Alle enthlt, Sklaven und Freie, Weiber und Kinder, ebd. 838d) msse mglichst mit dem Ziel der Staatserhaltung bereingebracht werden. Aus Piatons und Adornos Sicht ist das Publikum den Gesetzen anzupassen (nicht umgekehrt).

    2.4 Ermunterung durch Entmndigung

    Das Publikum ist beeindruckt und erleichtert, gerade weil es die Klaviatur der sthetischen Macht verkrpert. Indem es den Schein geniet, vermeint es zu kontrollieren und, indem es teilhat, zu besitzen. Piaton sieht ein gut gefhr-tes Theater daher als ein brauchbares DisziplinierungsinstrumenL Die Gesetze sind keine Zwangsanstalt mehr. Wie moderne wesdiche Republiken sieht die-ses zweite platonische Modell eine Agora, bacchantische Festspiele, Musik, Tanz, Tragdien und Komdien vor. Dafr werden im Text drei Grnde ge-nannt: 1.) Diese Kulturelemente sind effektive Sozialisationsinstrumente. Sie knnen eine dauerhafte Bindung der Brger an den Geist der Verfassung ausprgen. 2.) Wie die ffentlichen Trinkgelage, so dienen auch die Kunst-formen den Brgern dazu herauszufinden, was gut ist, um ansthetisch den Verfhrungskrften zu strotzen und um so unbedingtere Waffen einer star-ken und wachsamen Republik zu sein. Solange die Brger den Eindruck ha-ben, es gebe Exze und Kritik, werden sie sich nicht daran stren, da dies nur ffendich inszeniert ist und die Kritik also eine Form der Zensur ist. 3.) Ein dritter Grund der Vorfhrung klingt allerdings ebenso in Piatons Text an: Bestrafung! Um die sinnlichen Lste zu besiegen, mu die Menge ge-zgelt werden, von Kindesbeinen an, durch Mrchen und Sagen, durch Ge-dichte und Gesnge (Nomoi VIII, 849c). Ist die Entmndigung durch stheti-sche Bildung einmal halbwegs geglckt, kann gestraft werden durch Auffh-rungen, bei denen der Verurteilte unehrenvolle Sitze oder auch Stehpltze (ebd., 855b) einnehmen mu. Die Auffhrungen sind ein Instrument der Deklassierung.

    10 Die Festspiele krten - soviel zu Standards - Aischylos, Sophokles und Euripides zu Gewin-nern.

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    Die Entspannungsbungen geschehen unter medizinischer Aufsicht, in Dosierungen, die von den Nchternen vorgeschrieben werden. Diese Zugestndnisse an Urbanitt sind jedoch im strikten Sinne staatiich, offiziell, keineswegs ffendich. Es gibt keinen freien ffentlichen Raum, in dem mit verschiedenen Formen der Ordnung und Unordnung experimentiert werden knnte. Die weisen Staatsoberhupter, modern gesprochen: die Politiker, lassen sich knsderische Programme vorfhren und befinden ber deren Sinn. Gelingt die gesinnungsertchtigende Entspannung, so verluft die Innovation und berprfung in geregelten, gesetzeskonformen Bahnen. Offenbar wird aber der Grund fr das Funktionieren des Staates weniger als noch in der Republik in der Bedrfnisbefriedigung und der sozialen Gerechtigkeit gesehen. Vielmehr besteht die Grundlage in den Nomoi darin, da jeder jeden kennt und vor allem sich selbst und seine Lste, durch die regelmige Wahrnehmung artistischer Unordnung, von Rhythmus und Harmonie, in Festen, Gelagen und musischen Festspielen.

    Die Selbsterkenntnis resultiert aus Selbstberwachung, und diese aus der Impfung mit befremdenden Vergngungen. Die innere Kohsion der Stadt basiert auf der Ausstellung: Jeder Brger zeigt sich gegenber jedermann, einfach und wahr, denn es gibt kein hheres Gut fr einen Staat als wenn seine Brger genau einander kennen (Nomoi 738c). Das wre durchaus anerkennenswert, wenn Piaton nicht die Begegnung nur zur Besttigung des Eigenen vorprogrammiert htte, so wie das Gesetz Strafflle, Straftter und deren Psychologie vorprogrammiert. Tugend mu sich zeigen und beweisen knnen, um Ehrfurcht einzuflen.

    Der Hauptunterschied zwischen Piatons Idealstaat und der Athener Demokratie liegt darin, da das richtige Funktionieren als Legitimitt der Gesetze bei Piaton nicht in Frage gestellt werden darf und da es nur wenige tugendhafte Mnner mit Legislationsauthoritt geben darf. Dieser Rat der Weisen wird, im Gegensatz zur athenischen Demokratie, durch Wahlen bestimmt. Genauso wie es ihre Aufgabe ist, die ffentlichen Trinkgelage zu berwachen, so mssen sie auch in knstlerischen Belangen prsidieren und die ffendiche Meinung, welche alle umfat, Sklaven und Freie, Frauen und Kinder und die ganze Stadt (Nomoi 838d), in Einklang zur Verfassung bringen. Die ffendichkeit mu, Piaton zufolge, den Gesetzen angepat werden, indem sie die Unterwerfung unter das Gesetz als Grund ihrer Existenz erfhrt. Diese Ziele, nmlich die der Perfektionierung der Gesetze, der Rekreation des Gemeinschaft, der sthetischen Disziplinierung und der Durchsetzung eines sthetischen Ideals als Staatsziel, haben einen gemeinsamen Zug: Sie beherzigen, da es nicht ausreichend ist, ein fr alle Mal Gesetze aufgestellt zu haben und da es nicht gengt, einmal ausgebildet worden zu sein. Mit anderen Worten, sie beherzigen, im Gegensatz zur Politeia,

  • 4 LUDGER SCHWARTE

    den Einflu der Zeit. Diese Zeit soll gleichfrmig, berechenbar verlaufen, nicht disruptiv, vielschichtig, verstreut.

    Das Erlebnis wird als Freiraum genossen und erzeugt eine um so grere bereinstimmung mit den Leitlinien dieses Genusses, nmlich der Unter-ordnung. In der Theatrokratie Siziliens und Italiens aber whlte sich das Theatervolk seine Castorfs und Peymanns und Zadeks ebenso selbst und direkt, wie es keiner Bundesverfassungsrichter bedurfte, um sich erklren zu lassen, was Recht ist. Die Abstimmung durch das Publikum ist genau des-halb das relevante Unterscheidungsmerkmal, weil in dieser Artikulation des Publikums nicht nur eine gegenstrebige Architektur der Macht zum Tragen kommt, sondern ein ganz anderer, nmlich dialogischer Wahrnehmungs-begriff.

    Doch nicht nur oktroyierte Kunst ist eine Strafe. Das Disziplinieren selbst ist fr Piaton die hchste Kunst. Das Staatswesen selbst ist ein Schauspiel.'' Auch dieses Drama braucht Opfer, um sich als das beste zu erweisen. Trans-gression wird provoziert und abgestraft. Die Gesetze ziehen die Drhte der Marionette, die der Privatmann mit seinen inneren Regungen ist (Nomoi 2.645a). Erziehung, definiert als richtige Leitung von Lust und Unlust mu, in Zeiten der Erholung und des Festes zurckgewonnen werden (Nomoi 653 d). Und zwar sollen die Theaterchre die Grundstze der Verfassung dem ganzen Staate einsingen1", bis der Zuschauer seine Entmachtung als Nachvollzug des Besten und Schnsten erlebt. Die sthetische Entmndi-gung soll zu Verfassungstreue ermuntern.

    Die Kunst leistet diese Anpassung durch die Produktion von Jammer, Schaudern und Lust. Dieses Psychodrama wird von Piaton als sozialmedizi-nisches Instrument der Rechtsvollstreckung eingesetzt, gem seiner Defini-tion der Strafe als Kunst.

    3 Katharsis als Sozialmedizin und Sprachmacht

    Da die Dichtung Jammer und Schaudern erzeugt, und nicht nur darauf antwortet, ist der Kern der Katharsis-Lehre. Die durchgeformte Sprache soll die Steuerung des Krpers bis in die tiefsten Schichten des Somatischen, Schmerz und Lust, erreichen. Das Wort soll die Augen mit Trnen fllen, das Herz pochen, die Haare sich struben lassen, das Hirn mal erhitzen, dann khlen und lhmen. Aristoteles, der in der Regel fr die Katharsis-Lehre haft-bar gemacht wird, konnte seine Thesen wiederholten Hinweisen Piatons ent-nehmen. So schildert die Titelfigur des Ion, ein Rhapsode, in folgender Wei-

    11 Piaton, Nomoi 817b. 12 Ebd., 664b, 665c.

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    se die Wirkungen , die vom Vortrag der homer i schen Epen auf ihn, den Vor-t r agenden u n d sein Publ ikum ausgingen: wenn er Jammervol les (e le inn) rezitiere, so fllten sich seine Augen mit T r n e n ; ber ichte er Schreckliches (phobe rn , so s t rubten sich seine Haa re u n d sein Herz p o c h e ; ebenso pfleg-ten die Zuhre r bald zu schluchzen, bald finster dreinzubl icken (Ion 5 3 5 c -e) . Auch de r Phaidros n e n n t die be iden Wirkungskategor ien in engster Nach-barschaft: wenn man e ine Tragdie d ich ten wolle, heit es dor t , d a n n genge es nicht, jammervol le u n d schreckenerregende Reden zu verfassen; man msse sich vor allem u m den Aufbau de r H a n d l u n g k m m e r n (Phaidros 2 6 8 c - d ) . Piatons Kennze ichnung de r Effekte de r Dichtung (z. B. im Ion u n d imdros) gehen wiederum auf den Sophisten Gorgias zurck. In seiner Preisschrift Helena he i t es : Die Rede ist e ine g roe Macht, die in geringster u n d un-scheinbarster Verleibl ichung die gtt l ichen Werke vollendet. D e n n sie ver-mag Schaudern (Phobos) zu b e e n d e n u n d T raue r zu n e h m e n u n d Freude zu bewirken u n d J a m m e r (Eleos) aufwallen zu lassen. Gorgias:

    Die gtichen Beschwrungen durch Reden nmlich werden zu Freudebringern und Entfhrern von Leid; denn vereinigt sich die Macht der Beschwrung mit der Ansicht der Seele, so betrt und bekehrt und gestaltet sie die Seele um durch Zauberei. Fr Zauberei und Magie aber sind zwei Anwendungen der Kunst ausfin-dig gemacht worden [...]. Rede nmlich, die Seele-Bekehrende, zwingt stets die, die sie bekehrt, den Worten zu glauben und den Taten zuzustimmen. Wer also bekehrte, tat, weil er Zwang ausbte, Unrecht, whrend die bekehrte als durch die Rede gezwungen grundlos in schlechtem Rufe steht.'3

    Die b e r r e d e n d e Beredsamkei t (pe i th) ist die Macht des Einbruchs (Der-r ida) , de r V e r e i n n a h m u n g , de r inner l ichen Verfhrung, des uns ich tbaren Raubes.

    Der Vorgang , d e n d e r Z u h r e r u n t e r de r Wi rkung d e r D ich tung erfhrt , wird als V e r n d e r u n g de r somat ischen Verfassung beschr ieben . Gorgias sieht den Logos gewissermaen als subtilstes Hei lmi t te l :

    Die gesamte Dichtung fasse ich auf [...] als durch Mae gebundene Rede; die ihr lauschen, berkommt schreckliches Schaudern und trnenreicher Jammer und ein Drang, der den Schmerz liebt; wegen des Glckes und Migeschicks bei frem-den Begebenheiten und Menschen erfhrt durch die Worte eine in gewisser Weise eigene Erfahrung die Seele (nmlich des Zuhrers; ebd.).'4

    Der Begriff Katharsis n u n wurde seit j e h e r vorwiegend in zwei Bereichen ver-wendet . In de r Religion, im Kult bezeichnete er die Purifikation von e iner

    13 Zitiert nach Buchheim, Thomas (Hg.). Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente unden. Griech.-dt., Hamburg 1989.

    14 Helena 10-14. Vgl. Fuhrmann, Manfred. Einfhrung in die Antike Dichtungstheorie. Darmstadt 1973 92-104.

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    Befleckung; Empedokles z. B. gab seinem Lehrgedicht den Titel Katharmoi, Luterungen. Die hippokratischen Schriften hingegen gebrauchen das Wort als technischen Ausdruck fr das Ausscheiden schdlicher Substanzen bei der Purgierung.

    Die Verwendungsweise Piatons erinnert bald an den einen, bald an den anderen Bereich. Der Phaidon bezeichnet die Vernunft als Katharsis, als Lu-terung von allen Lsten und ngsten; er verweist auf die Analogie der von den Mysterien verheienen Reinigungen. Beide Bereiche, Kult und Medi-zin, berschneiden sich darin, da sie Wirkung durch Wiederholung evozie-ren.

    3.1 Wirkung durch Wiederholung

    Im Sophistes (Sophistes 226D-231 C) wird zwischen einer Katharsis, deren Ob-jekt der Krper ist, und einer, die sich auf die Seele bezieht, unterschieden. Neben der Schndlichkeit ist das grte bel der Seele die Unwissenheit. Die gefhrlichste Art der Agnoia ist das Scheinwissen. Dessen Beseitigung ist der Vollzug der Katharsis durch den Philosophen. Seine prfende Zurechtwei-sung macht aus dem Hlichen und Ungebildeten den Reinsten und Schn-sten. Philosophie ist das hchste, nmlich ein staatstragendes Spiel.'5 Dem Ausscheiden der falschen Doxai durch den Philosophen entspricht das Aus-scheiden der schdlichen Stoffe durch den Arzt (Ebd. 230BC). Eine Partie des Timaios geht ebenfalls von dem medizinischen Begriff aus; sie fat ihn allgemein als eine richtige Verteilung und Ordnung der im menschlichen Krper wirksamen Krfte (ebd. 86b2). Die Mania wird dort wiederum als Wahnsinn oder Unwissenheit unterschieden und auf bermige Lust und Schmerz bezogen, bei denen der Mensch am wenigsten zu vernnftiger ber-legung fhig sei. Diese Zustnde werden auf eine krperliche Ursache zu-rckgefhrt (ebd. 86c7), nmlich bermigen Genu. Das Ausufern wird durch die Schlaffheit der Knochen, zu groe Feuchtigkeit im Krper, Vermi-schung der Schleimarten und Sfte usw. erklrt (ebd. 86dff). Diese Mibil-dungen werden durch schlechte staatliche Einrichtungen und ffendiche Reden, nmlich Dichtungen, verstrkt. Als Gegenmittel verschreibt Piaton eine Bewegungskatharsis, deren der Krper um der richtigen Ordnung wil-len bedarf; diese Bewegungen - die aktive wie der Sport, die passive w