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Bachelor Ökologie kompakt von Wolfgang Nentwig, Sven Bacher, Roland Brandl, Martin Lay 2. Aufl. Ökologie kompakt – Nentwig / Bacher / Brandl / et al. schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG Thematische Gliederung: Ökologie Spektrum Akademischer Verlag 2009 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 8274 2304 7

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3.1 Nahrungserwerb

Alle Lebewesen entnehmen ihrer Umwelt Produkte, die sie zum Wachstum, zurUnterhaltung ihres Stoffwechsels und zur Fortpflanzung benötigen. Man teilt dieLebewesen nach ihrer Ernährungsweise anhand der Herkunft ihrer Energie- (chemo-oder phototroph) und Kohlenstoffquelle (auto- oder heterotroph) in vier Gruppenein (� Tab. 3.1). Während die Prokaryoten in allen vier Gruppen vertreten sind,haben sich die Eukaryoten auf zwei Ernährungsweisen spezialisiert: die photoauto-trophen Pflanzen und die chemoheterotrophen Pilze und Tiere.

3.1.1 Spezialisierung

Die Qualität der Nahrung hat nicht für alle Organismen die gleiche Bedeutung, denndie Lebewesen haben sich unterschiedlich spezialisiert. Solche Nahrungsspezialisie-rungen gehen noch viel weiter als die Herkunft von Energie und Kohlenstoff und sindbesonders im Tierreich vielfältig ausgeprägt. Dort gibt es von extremen Nahrungs-spezialisten, wie z. B. der Bohrfliege Urophora cardui, die in Mitteleuropa ihre Gallennur in den Stängeln der Ackerkratzdistel (Cirsium arvense) erzeugt, bis zu extremenGeneralisten, wie dem Menschen, der sich von einer Vielzahl tierischer und pflanz-licher Produkte ernährt, alle Übergangsstufen. Pflanzen haben dagegen im Unter-schied zu Tieren recht ähnliche Ansprüche an ihre Nahrung; sie benötigen CO2 ausder Luft und einige Nährstoffe (hauptsächlich Stickstoff, Phosphor und Kalium) undWasser aus dem Boden (bei aquatischen Pflanzen aus dem Gewässer). Gärtnermachen sich dies zu Nutze und ziehen eine Vielzahl verschiedenster Pflanzenarten inder gleichen Erde und unter ähnlichen Lichtverhältnissen auf.

In welchen Fällen wir von einem Generalisten und ab welchem Grad der Speziali-sierung wir von einem Spezialisten sprechen, ist nicht einheitlich definiert. Bei phy-tophagen oder auch herbivoren (= pflanzenfressenden) Insekten, die etwa 25 % allerbekannten Arten ausmachen und zu einem großen Teil spezialisiert sind, spricht manin der Regel von monophagen Arten, wenn sie sich von einer Pflanzenart ernähren,von oligophagen, wenn sie von Arten einer Gattung, und von polyphagen Arten,wenn sie von Pflanzen verschiedener Gattungen leben. Pflanzenfresser werden häufigauch Herbivoren genannt, Fleischfresser Carnivoren und Allesfresser Omnivoren.Auch wenn eine Art ein breites Nahrungsspektrum hat und somit als Generalist gilt,haben häufig die einzelnen Populationen oder sogar Individuen ein relativ enges Nah-rungsspektrum und neigen somit zur Spezialisierung (composite generalist). Unterden Menschen gibt es z. B. viele Vegetarier, und Inuits in Grönland stellen ihre Nah-

3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten96

Tabelle 3.1: Einteilung der Lebewesen nach ihrer Ernährungsweise.

Energiequelle Kohlenstoff aus CO2 Kohlenstoff aus organischer Substanz

Licht photoautotroph photoheterotroph(z. B. Cyanobakterien, Pflanzen) (z. B. Purpurbakterien)

chemische Verbindungen chemoautotroph chemoheterotroph(z. B. Schwefelbakterien) (z. B. Pilze, Tiere, die meisten Bakterienarten)

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rung anders zusammen als asiatische Reisbauern. Beim Guppy (Poecilia reticulata)fressen einige Individuen im Wahlversuch bevorzugt Röhrenwürmer (Tubifex), wäh-rend andere Taufliegenlarven (Drosophila sp.) vorziehen, obwohl beides in gleichenMengenverhältnissen angeboten wurde (� Abb. 3.1). Die ganze Population verhieltsich also wie ein Generalist, während sich die Individuen durchaus spezialisiert haben.

Allgemein besteht der Nahrungserwerb aus zwei Phasen: dem Suchen von Nahrungund der Handhabung (Überwältigen, Fressen, unter Umständen auch Verdauen undsich hinterher Putzen; handling). Wichtig ist sich klar zu machen, dass ein Tier wäh-rend der Handhabung einer Beute keine andere, sich vielleicht lohnendere Beutesuchen kann. Ein Räuber sollte sich also vor einer Attacke überlegen, ob er nicht in derZeit, die er mit der Handhabung dieser Beute verbringt, eine lohnendere Beute findenkann („Prinzip der verpassten Chance“).

Aus diesen Betrachtungen haben MacArthur und Pianka (1966) folgende Schluss-folgerungen gezogen: Räuber mit relativ zu ihren Suchzeiten kurzen Handhabungs-zeiten sollten ein breites Spektrum an Beutearten akzeptieren, denn die kurze Zeit, diesie mit der Handhabung bereits gefundener Beute verbringen, hat nur einen geringenEinfluss auf die gesamte Suchzeit. Meisen (Parus sp.) z. B., die auf der Suche nachInsekten durch die Vegetation streifen, verbringen einen Großteil ihrer Zeit mit derSuche nach Beute, während die Handhabungszeit gefundener Beute vernachlässigbarist. Im Einklang mit den Vorhersagen haben Meisen (wie übrigens auch viele andereinsektenfressende Vögel) ein breites Beutespektrum. Im Gegensatz dazu leben z. B.Löwen (Panthera leo) mehr oder weniger in ständiger Sichtweite ihrer Beute, verbrin-gen daher kaum Zeit mit der Suche. Bei ihnen würde die Theorie eine Spezialisierungauf besonders lohnende Beutetypen voraussagen, denn wenn sie eine weniger profi-table Beute ignorieren, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie innerhalb kurzer Zeiteine profitablere Beute finden. Tatsächlich spezialisieren sich Löwen auf Beute, die miteinem relativ geringen Energieaufwand überwältigt werden kann (kranke, junge undalte Beutetiere).

3.1 Nahrungserwerb 97

Anteil Drosophila in der Nahrung

Anz

ahlF

isch

e

01,0

2

4

6

8

0,500,250,0 0,75

Muschellänge (mm)

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0

2

4

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4030200

Energie

100

2

4

5

3

1 Anz

ahlp

roTa

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sene

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usch

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3.1 Links: Häufigkeitsverteilung der Nahrungszusammensetzung von Guppys, denen jeweils gleiche Anzahlenvon Taufliegenlarven und Röhrenwürmern angeboten wurden. Die Individuen haben sich mehr oder wenigerauf eine der beiden angebotenen Beutearten spezialisiert, jedoch haben sich die einzelnen Tiere auf unter-schiedliche Beutearten spezialisiert: manche auf Taufliegenlarven andere auf Röhrenwürmer. Nach Murdoch etal. (1975). Rechts: Nahrungswahl von Strandkrabben (Carcinus maenas). Die Tiere bevorzugen die Muschelgröße,die den größten Energiegewinn verspricht. Nach Elner und Hughes (1978).

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Eines der Hauptargumente für eine Spezialisierung ist, dass nicht jede Nahrunggleich effizient physiologisch genutzt werden kann und daher eine Spezialisierung aufNahrung, die leichter umgesetzt werden kann, vorteilhaft ist, weil sie die Fitness maxi-miert (physiologische Effizienzhypothese, physiological efficiency hypothesis). DiesesArgument leuchtet intuitiv ein, denn da verschiedene Pflanzenarten (und auch Indi-viduen) sich in ihren chemischen und physikalischen Eigenschaften sowie ihrer Ver-breitung und Phänologie unterscheiden, ist es unwahrscheinlich, dass Insekten an diemeisten ihrer Nichtwirtpflanzen angepasst sind. Die Selektion sollte also eine Bevor-zugung gut geeigneter Wirtspflanzen fördern.

Obwohl diese auf den ersten Blick einleuchtende Hypothese häufig im Zusammen-hang mit Nahrungsspezialisierung genannt wird, ist sie keineswegs durch experimen-telle Untersuchungen breit abgesichert. Eine der Vorhersagen, die sich aus dieserHypothese ergeben, ist, dass eine stärkere evolutionäre Anpassung der Performance(z. B. Wachstum, Überleben, Fekundität) der Nachkommen an eine Pflanzenart einereduzierte Anpassung gegenüber anderen Pflanzenarten nach sich zieht. Einfach aus-gedrückt heißt das, wenn man bestimmte Pflanzen besonders gut nutzen kann, kannman andere schlechter verarbeiten (ein so genannter trade-off, S. 73). ExperimentelleHinweise für einen solchen trade-off hat man in vielen Fällen gesucht, aber in derRegel keine derartige negative genetische Korrelation gefunden (für eine der wenigenBestätigungen der Hypothese bei Spinnmilben siehe z. B. Agrawal 2000).

Ebenso sagt die physiologische Effizienzhypothese voraus, dass Spezialisten ihreWirtspflanze effektiver nutzen sollten als Generalisten. Mit anderen Worten, wennGeneralisten auf der gleichen Pflanzenart wie ihre spezialisierten Verwandten aufgezo-gen werden, sollten sie sich schlechter entwickeln oder eine geringere Fekundität habenals die Spezialisten. Doch auch diese Vorhersage hat sich in den meisten Experimentennicht bestätigt. Ebenfalls aus dieser Theorie hervorgegangen ist eine dritte Argumenta-tion, die zu erklären versucht, dass Generalisten ihr breites Nahrungsspektrum beibe-halten und verschiedene Nahrungstypen mischen, um eine balancierte Nährstoffauf-nahme zu gewährleisten (Pulliam 1975, Rapport 1980). Bei Wirbeltieren gibt es hierzueinige klassische Beispiele. Elche (Alces alces) suchen ihre Nahrung in zwei unter-schiedlichen Habitaten, zwischen denen sie regelmäßig wechseln. Im Wald fressen sieBlätter von Laubbäumen, während sie in Teichen Pflanzen unter Wasser abweiden. DieLaubblätter haben einen hohen Energie-, aber einen geringen Kochsalzgehalt, währendes bei den Wasserpflanzen genau umgekehrt ist. Da Elche beides benötigen, müssen sieeine gemischte Nahrung zu sich nehmen (Belovsky 1978).

Bei phytophagen Insekten gibt es bislang nur bei Heuschrecken Beispiele für einenVorteil vom Mischen verschiedener Pflanzenarten (Bernays und Bright 1993). Beianderen Insekten (Schmetterlingen, Fliegen, Wanzen) scheint eine gemischte Ernäh-rung nicht generell vorteilhaft zu sein (Singer 2001). Die Theorie stimmt also offen-sichtlich nicht immer mit der Natur überein, ist aber trotzdem nicht unbedingt falsch.Wenn man berücksichtigt, dass auch andere Faktoren eine Rolle bei der Nahrungs-auswahl spielen können, erkennt man bald, dass die Qualität der Nahrung unterUmständen gegen andere Faktoren abgewogen werden muss. Dieses wird im Folgen-den ausführlicher diskutiert.

Insektenlarven können sich, besonders wenn sie noch klein sind, häufig nicht weitfortbewegen. Viele phytophage Insekten leben als Larve sogar innerhalb der Pflanze

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(Minierer oder Gallbildner). Die Larven wählen daher in der Regel ihre Wirtspflanzenicht selbst aus, sondern sind an die Pflanze gebunden, auf die das Weibchen ihre Eierabgelegt hat. Die Weibchen wählen also die Wirtspflanze für ihre Nachkommen aus.Nach unserer Theorie sollte bei Insekten also die Präferenz der Weibchen für gewisseWirtspflanzen mit der Performance der Larven korreliert sein (Präferenz-Perfor-mance-Hypothese, preference-performance hypothesis). In Experimenten, in denenPflanzen verwendet wurden, die relativ nahe mit den natürlichen Wirtspflanzen derInsekten verwandt oder ihnen chemisch ähnlich waren, gab es allerdings häufig nureine schlechte Korrelation zwischen Eiablagepräferenz der Weibchen und der Perfor-mance der Nachkommen. Weibchen des Schwalbenschwanzfalters (Papilio machaon)legen z. B. überhaupt keine Eier auf einige Pflanzenarten, die praktisch ebenso geeig-net für ihre Larven sind wie ihre normalen Wirtspflanzen (Wiklund 1975). AndereInsekten wiederum legen Eier auf Pflanzen, die nahezu ungeeignet als Nahrung fürdie schlüpfenden Larven sind. Die Weibchen verhalten sich also auch hier in vielenFällen nicht so, wie es die Theorie vorhersagt. Es gibt inner- und zwischenartlicheGründe, warum Weibchen nicht immer das offensichtlich Beste für ihre Nachkom-men tun, z. B. wenn es ihnen selbst schadet und ihre Fitness herabsetzt.

Interaktionen mit anderen Arten können ebenfalls verhindern, dass eine ansonstengut geeignete Pflanzenart von den Weibchen als Wirtspflanze akzeptiert wird. Dieskönnen entweder Konkurrenten (S. 119) oder natürliche Feinde (S. 127) sein. Wenneine konkurrenzüberlegene Art auf einer ansonsten bevorzugten Wirtspflanze vor-kommt, kann dies zur Verdrängung der unterlegenen Art und schließlich zur Mei-dung dieser Wirtspflanze führen, auch wenn die Weibchen die Pflanze eigentlichanderen Wirtsarten vorziehen würden. Doch auch die natürlichen Feinde einesInsekts können dessen Wirtswahl beeinflussen. So variiert bei vielen Insektenarten dieAnfälligkeit gegenüber ihren natürlichen Feinden mit der Pflanzenart, auf der ihreLarven fressen. Auf einigen Wirtspflanzenarten ist die Mortalität durch Feinde dem-entsprechend höher als auf anderen. Experimente mit Minierfliegen (Agromyzidae),die gezwungen wurden, sich auf verschiedenen Pflanzenarten zu entwickeln, vondenen einige normalerweise nicht genutzt werden, haben gezeigt, dass spezialisierteSchlupfwespen (Parasitoide) höhere Parasitierungsraten der Fliegen verursachen,wenn sich diese auf bekannten, normalen Wirtspflanzenarten befinden, als wenn siesich auf neuen Wirten entwickeln (Gratton und Welter 1999). Solch ein Schutz vorFeinden (oder allgemeiner: feindfreier Raum, enemy free space), der durch die Pflanzevermittelt wird, kann zur Spezialisierung führen, wenn Anpassung an eine Wirts-pflanzenart die Fitness auf anderen Pflanzenarten reduziert. Dies wird deutlich amBeispiel der Krypsis (S. 128 und 239). Larven, die auf einer Pflanzenart schwer zu ent-decken sind, weil sie z. B. in Form und Farbe einem Zweig dieser Pflanze ähneln, kön-nen auf anderen Pflanzenarten, die ein anderes Aussehen haben, leicht entdeckt wer-den. Auf der ersten Art sind die Larven also vor ihren Feinden getarnt (kryptisch) undüberleben besser als auf den anderen Arten, wo ihr Überleben, und damit ihre Fitness,reduziert sind.

3.1 Nahrungserwerb 99

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3.1.2 Optimaler Nahrungserwerb

Auch wenn viele Arten zur Spezialisierung neigen, akzeptieren die meisten dochzumindest mehrere Nahrungstypen. Selbst für monophage Arten ist nicht jedes Nah-rungsindividuum gleich gut geeignet. Ackerkratzdisteln, die Wirtspflanzen der gall-bildenden Bohrfliege Urophora cardui, unterscheiden sich z. B. in ihrem Stängel-durchmesser, ihrer Höhe oder ihrem Proteingehalt. Dünne Stängel können nur kleineGallen mit wenigen Nachkommen tragen, werden allerdings auch seltener von Fein-den (Schlupfwespen) gefunden. In einem anderen Beispiel unterscheiden sichMuscheln, die einen Hauptteil der Nahrung der Strandkrabbe (Carcinus maenas) aus-machen, in ihrer Größe. Große Muscheln geben mehr Energie, sind aber auch schwie-riger zu knacken als kleine Muscheln. Während der Nahrungssuche begegnet eineBohrfliege oder eine Strandkrabbe unterschiedlichen Wirtspflanzen oder Beuteindi-viduen. Welche sollten akzeptiert, welche abgelehnt werden? Tiere, die ihre Wirte effi-zient nutzen, erreichen gegenüber Artgenossen eine erhöhte Fitness. Die natürlicheSelektion wird diese Individuen also bevorzugen. Im Zuge der Evolution sollten sichalso Strategien zum optimalen Nahrungserwerb (optimal foraging) ausbilden. In die-sem Kapitel beschäftigen wir uns damit, wie solche Strategien aussehen können.Weiterführende Literatur zu diesem Thema gibt es bei Krebs und Davies (1997).

Präferenz oder Wechsel der Nahrung

Kommen wir noch einmal zurück zur Strandkrabbe. Wenn man Strandkrabben dieWahl zwischen verschieden großen Muscheln lässt, zeigen sie eine Präferenz für diegrößte, die den höchsten Energiegewinn pro Zeit zu versprechen scheint (� Abb. 3.1).Die größten Muscheln enthalten zwar die meiste Energie, doch benötigt die Krabbe solange, sie zu knacken, dass wiederum kleinere Muscheln mitunter einen größerenEnergiegewinn pro Zeit zu liefern scheinen. Die kleinsten Muscheln sind zwar leichtzu knacken, aber sie enthalten so wenig Energie, dass sich der Aufwand kaum lohnt.Die profitabelsten Muscheln sind also die mittelgroßen.

In der Natur werden aber eine Reihe von verschieden großen Muscheln gefressenund nicht nur die profitabelsten. Warum fressen die Krabben manchmal kleinere undmanchmal größere Muscheln? Ein möglicher Grund könnte sein, dass die Zeit, die siebrauchen, um die profitabelsten mittelgroßen Muscheln zu finden, ihre Wahl beein-flusst. Wenn es lange dauert, um eine profitable Muschel zu finden, dann kann dieKrabbe eine höhere Energieaufnahme pro Zeit erreichen, wenn sie weniger profitableMuscheln frisst, die leichter zu finden sind, als wenn sie länger nach den bestenMuscheln sucht.

Kasten 3.1 zeigt ein einfaches Modell, mit dem man quantifizieren kann, wievieleIndividuen von jedem Beutetyp gefressen werden, wenn ein Räuber die Wahl zwi-schen zwei Beutetypen mit unterschiedlichem Energiegehalt hat (Charnov 1976). DasModell sagt voraus, dass, wenn der profitablere Beutetyp häufig angetroffen wird, derRäuber ausschließlich diesen fressen sollte. Diese Schlussfolgerung erscheint offen-sichtlich, denn wenn eine besonders lohnende Beute leicht zu haben ist, sollte mansich nicht mit der weniger profitablen zufrieden geben. Eine weitere Vorhersage ist,dass die Entscheidung, sich auf den besseren Beutetyp zu spezialisieren, unabhängig

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von der Häufigkeit der Begegnung mit der weniger profitablen Beute ist, denn diefünfte Gleichung in Kasten 3.1 enthält nicht mehr die Variable λ2. Auch dies leuchtetein: Wenn die lohnende Beute häufig genug angetroffen wird, sodass die schlechtereBeute ignoriert werden kann, ist es unter keinen Umständen vorteilhaft, sich mit derschlechteren Beute abzugeben, selbst wenn der Räuber dieser häufig begegnet. Diedritte Vorhersage dieses Modells besagt, dass bei geringen Dichten der lohnenderenBeute beide Beutetypen gefressen werden (und zwar bei jeder Begegnung). Wenn aberdie Dichte der lohnenderen Beute steigt, sollte es einen abrupten Wechsel von keinerPräferenz (beide Beutetypen werden gefressen) zu einer absoluten Präferenz der loh-nenderen Beute (nur diese wird gefressen, die schlechtere wird immer ignoriert)geben. Diese Vorhersage wird auch die Alles-oder-Nichts-Regel (zero-one rule)genannt. In der Natur findet man hingegen selten Tiere, die der Alles-oder-Nichts-Regel entsprechen, also keine komplette, sondern eine teilweise Präferenz (partialpreference) für bevorzugte Nahrungstypen zeigen. Einige Tiere lehnen in manchen

3.1 Nahrungserwerb 101

Nehmen wir an, ein Räuber sucht während Ts Se-kunden Beute (Ts = Suchzeit). Er begegnet dabeizwei Beutetypen mit den jeweiligen Begegnungs-raten λ1 und λ2 (Begegnungen pro Sekunde). DieBeutetypen enthalten jeweils E1 und E2 Kilojoulepro Individuum Energie und der Räuber benötigth1 und h2 Sekunden, die Beute zu handhaben(überwältigen, fressen, verdauen), bevor er wie-der neue Beute suchen kann. Die Profitabilität derBeute, also der Energiegewinn des Räubers proZeit, während er die jeweilige Beute frisst, istdemnach E1/h1 und E2/h2.Wenn der Räuber beide Beutetypen frisst, nimmter folgende Energie zu sich:

E = Ts(λ1E1 + λ2E2)

Die gesamte Zeit T, die er dazu benötigt, ist dieSuchzeit Ts und die Handhabungszeit Th(Th = Tsλ1h1 + Tsλ2h2) zusammen.

T = Ts + Ts(λ1h1 + λ2h2) = Ts(1 + λ1h1 + λ2h2)

Die Rate, mit der der Räuber Energie zu sichnimmt ist demnach

(die Suchzeit Ts kürzt sich heraus)ET

E Eh h

=λ1 1 2 2

1 1 2 21+

+ +λ

λ λ

Nehmen wir an, dass der Beutetyp 1 den höherenEnergiegewinn pro Zeit verspricht. Wenn der Räu-ber den gesamten Energiegewinn pro Zeit E/T ma-ximieren will, sollte er sich auf Beutetyp 1 spezia-lisieren, wenn der Energiegewinn vom alleinigenFressen der Beute 1 grösser ist als der Energiege-winn vom Fressen beider Beutetypen. Oder ma-thematisch

Aufgelöst ergibt diese Gleichung

(λ2 hat sich weggekürzt)

1/λ1 ist die durchschnittliche Suchzeit, die der Räu-ber benötigt, um den Beutetyp 1 zu finden. DieEntscheidung, ob ein Räuber nur den profitable-ren oder beide Beutetypen fressen soll, ist unab-hängig von der Häufigkeit, mit der er die schlech-tere Beute antrifft. Das heißt, auch wenn die we-niger profitable Beute sehr häufig ist, sollte er sienicht fressen, wenn die profitable häufig genugist.

1

1

1

22 1λ

< −EE

h h

λλ

λ λλ λ

1 1

1 1

1 1 2 2

1 1 2 21 1E

hE E

h h+> +

+ +

Kasten 3.1 Modell der Beutewahl zweier unterschiedlich profitablerBeutetypen

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Fällen normalerweise bevorzugte Nahrungstypen ab, während andere wiederumNahrung akzeptieren, die in der Regel abgelehnt wird.

Wie sich ein Räuber entscheidet, eine bestimmte Nahrung zu akzeptieren oderabzulehnen, hängt stark von der individuellen Erfahrung (oder genauer: Einschät-zung) des Räubers ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit er wohl bessere Nahrung inabsehbarer Zeit finden würde. Weiterhin bestimmt auch sein Hungerzustand (oderEiablagedruck bei Tieren, die Wirte für ihre Nachkommen suchen) seine Entschei-dung. Ein hungriger Räuber wird eher eine weniger geeignete Beute akzeptieren alsein satter. Basierend auf der Alles-oder-Nichts-Regel haben Courtney et al. (1989) einallgemeines Modell aufgestellt, das die Nahrungswahl veranschaulicht und auch diein der Natur beobachteten partiellen Präferenzen erklärt (Hierarchie-Schwellen-wert-Modell, hierarchy-threshold model; � Abb. 3.2). Sie nehmen an, dass ein Räuber(immer noch im weitesten Sinn) seine möglichen Beutetypen anhand ihrer Profitabi-lität hierarchisch in einer Rangliste anordnen kann. Die Profitabilität korreliert imModell mit der Präferenz; die Tiere wissen also, was gut für sie ist. Da sich die Profita-bilität der Nahrung in der Regel nicht ändert, bleibt diese Rangliste gleich. Nun hatder Räuber einen Schwellenwert, anhand dessen er entscheidet, ob er eine Beute beieiner Begegnung ablehnt oder akzeptiert: Beutetypen, deren Rang über dem Schwel-lenwert liegt, werden akzeptiert, andere abgelehnt. Während die Rangfolge der Beute-typen gleich bleibt, ändert sich der Schwellenwert mit dem Hungerzustand des Räu-bers und dessen Einschätzung der Häufigkeit der Beute. Wenn der Räuber z. B. in derletzten Zeit nur Beute von schlechter Qualität (also unter dem Schwellenwert) ange-troffen hat, wachsen sowohl sein Hunger als auch seine Einschätzung, dass qualitativhochwertige Beute wohl eher selten ist. Dies muss nicht unbedingt richtig sein; erkann einfach Pech gehabt haben und nur zufällig in letzter Zeit auf schlechte Beutegestoßen sein. Seine ablehnende Haltung gegenüber qualitativ schlechter Beute wirdsinken und damit der Schwellenwert. Jetzt liegen Beutetypen über dem Schwellenwert(und würden bei der nächsten Begegnung akzeptiert werden), die vorher abgelehntwurden. Wenn der Räuber nach der nächsten Mahlzeit satt ist, steigt der Schwellen-wert wieder und der Räuber wird erneut wählerischer.

Dichteabhängigkeit: Funktionelle Reaktion

Nicht alle Räuber haben eine klare Hierarchie in der Präferenz ihrer Nahrung. Man-che Beutetypen mögen gleich beliebt sein. Diese werden dann, wenn sie in gleichenAnteilen in der Umgebung vorkommen und gleich leicht gefunden werden können,auch zu gleichen Anteilen gefressen. Ein Beispiel zeigt Abbildung 3.2. Wenn Rücken-schwimmern (Notonecta glauca) als Beute Wasserasseln (Asellus aquaticus) und Ein-tagsfliegenlarven (Cloeon dipterum) in gleichen Anteilen angeboten wurden, habensie auch beide Beutetypen gleich häufig gefressen. Wurden aber ungleiche Anteileangeboten, haben sie die häufigere Art bevorzugt. Die Tiere haben sich somit immerauf die Art spezialisiert, die momentan häufiger war. Die Nahrungspräferenz kannalso auch von der relativen Häufigkeit der Beute abhängen.

Ein wichtiger Parameter bei der Nahrungsaufnahme ist die Prädationsrate, also dieAnzahl Nahrungsobjekte, die ein Tier in einer bestimmten Zeit zu sich nimmt. DiePrädationsrate wurde ursprünglich für Räuber definiert, gilt aber vom Prinzip für

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jede Form der Nahrungsaufnahme, also auch für z. B. Herbivoren. Sie kann ebenfallsauf die Eiablage von Parasitoiden und phytophagen Insekten angewendet werden. DerEinfachheit halber werden wir im Folgenden von Räuber und Beute reden.

Die Anzahl Beutetiere, die von einem Räuber in einer bestimmten Zeit gefressenwird, hängt von der Häufigkeit oder Dichte der Beutetiere ab. Diese Abhängigkeitnennt man funktionelle Reaktion (functional response). Warum sollte die AnzahlBeutetiere, die ein Räuber frisst, von der Beutedichte abhängen? Nehmen wir einmalan, ein Räuber würde, wenn er könnte, jeden Tag eine bestimmte konstante AnzahlBeutetiere fressen, um satt zu werden. Wenn genügend Beutetiere vorhanden sind,also bei hoher Beutedichte, kann er dies wohl erreichen, nicht aber, wenn die Beute-dichte gering ist.

Der Nahrungserwerb besteht wie bereits auf Seite 97 erwähnt aus dem Suchen undder Handhabung der Beute (handling). Wichtig ist, dass während der Handhabung in

3.1 Nahrungserwerb 103

A B C D

X

Y

Akz

epta

nzde

sW

irtes

Asellus in der Umwelt (%)

Asel

lus

inde

rN

ahru

ng(%

)

080

25

50

75

100

6040200 100

Erwartung ohnePräferenzwechsel

3.2 Oben: Das Hierarchie-Schwellenwert-Modell erklärt partielle Präferenz für bevorzugteNahrungstypen. Tiere haben eine feste Rangfolge der Präferenz der verschiedenen Nah-rungstypen (A – D). Die Tiere X und Y legen aufgrund ihres Hungerzustands einen Schwel-lenwert (horizontale Linien) fest, der entscheidet, ob ein Nahrungstyp bei einer Begegnungakzeptiert oder ignoriert wird. Da sich der Hungerzustand der Tiere mit der Zeit ändert,liegt dieser Schwellenwert mal tiefer (bei einem hungrigen Tier; Y) und mal höher (beieinem satten Tier; X). Ein hungriges Tier würde daher auch Nahrungstypen akzeptieren, dieein sattes Tier ablehnen würde. Während das satte Tier X nur den Nahrungstyp A akzeptie-ren würde, akzeptiert das hungrige Tier Y zusätzlich auch B. Unten: Spezialisierung vonRückenschwimmern (Notonecta glauca) auf jeweils den Beutetyp, der momentan häufigist. Die Rückenschwimmer wurden mit einer Mischung aus Wasserasseln und Eintagsflie-genlarven (Cloeon sp.) gefüttert, wobei die Gesamtdichte konstant gehalten wurde. NachLawton et al. (1974).

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der Regel keine weitere Beutesuche möglich ist. Bei geringer Beutedichte verbringt einRäuber den Großteil seiner Zeit mit der Suche nach Beute. Die Anzahl Beutetiere, dieein Räuber frisst, ist also bei geringer Beutedichte durch die Suchzeit limitiert. Andersist die Situation bei hoher Beutedichte, denn ein Räuber muss nur wenig Zeit für dieSuche aufwenden. Bei hoher Beutedichte ist die Anzahl Beutetiere, die gefressen wird,durch die Handhabungszeit oder den Sättigungsgrad der Räuber limitiert.

Holling (1959) hat als Erster ein mechanistisches Modell für funktionelle Reakti-onen aufgestellt, bei dem die Anzahl der von einem Räuber gefressenen Beutetiere Nein einem bestimmten Zeitintervall T von dessen Angriffsrate a, der HandhabungszeitTh und der Beutedichte N abhängig ist. Die bekannteste und bis heute meist benutzteGleichung von Holling wird häufig Scheibengleichung (disc equation) genannt(� Kasten 3.2), weil in den ursprünglichen Experimenten Menschen mit verbunde-nen Augen (Räuber) auf einer Tischfläche nach runden Scheiben aus Sandpapier(Beute) suchen mussten.

Die durch die Scheibengleichung beschriebene funktionelle Reaktion (� Abb. 3.3b)sagt voraus, dass ein Räuber bei geringen Beutedichten nahezu seine gesamte Zeit mitdem Suchen von Beute verbringt. Die Anzahl gefressener Beutetiere Ne ist bei gerin-gen Beutedichten praktisch proportional zur Angriffsrate a, steigt also anfangs linear.Mit zunehmender Beutedichte spielt jedoch die Handhabung eine immer stärkereRolle, sodass die Kurve abknickt und sich bei hoher Beutedichte einem Plateau annä-hert. Bei hoher Beutedichte verbringt der Räuber fast die gesamte Zeit mit der Hand-habung von Beute. Die maximale Anzahl Beutetiere, die vom Räuber gefressen wer-den können (das Plateau), ist durch T/Th gegeben. Eine solche funktionelle Reaktion

3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten104

Ein Räuber auf Nahrungserwerb verbringt seinegesamte Zeit T mit Suchen und Handhaben vonBeute:

T = Tsuchen + Thandhaben

Nehmen wir an, dass der Räuber in der gesamtenihm zur Verfügung stehenden Zeit T eine be-stimmte Anzahl Beutetiere Ne fängt. Wenn dieHandhabungszeit für ein Beutetier Th ist, dann istdie gesamte Handhabungszeit des Räubers

Thandhaben = ThNe

Während des Suchens durchstreift der Räuber proZeiteinheit durchschnittlich eine Fläche a undfrisst sämtliche Beutetiere auf dieser Fläche. DerParameter a wird auch häufig Angriffsrate oder

Sucheffizienz (searching efficiency) genannt.Während der gesamten Suchzeit Tsuchen durch-streift der Räuber die Fläche aTsuchen und frisstNe = aNTsuchen Beutetiere, wobei N die Beutedichtepro Fläche ist. Oder umgeformt:

Nun können wir das Zeitbudget ausgleichen:

Aufgelöst nach der Anzahl Beutetiere Ne, die derRäuber während T gefressen hat (� Abb. 3.3), re-sultiert Hollings Scheibengleichung:

N aTNaT Ne

h1=

+

T T TNaN

T N= + = +suchen handhabene

h e

TNaNsuchen

e=

Kasten 3.2 Herleitung der Scheibengleichung für funktionelle Reaktioneneines Räubers nach Holling (1959)

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ist im Tierreich häufig. Eine wichtige Voraussetzung für eine derartige funktionelleReaktion ist, dass sich Such- und Handhabungszeit gegenseitig ausschließen, d. h.während ein Räuber Beute handhabt, kann er nicht nach neuer Beute suchen.

Generell werden anhand der Form der funktionellen Reaktion drei Typen unter-schieden (� Abb. 3.3). Hollings Scheibengleichung gehört zum Typ 2. Der Typ 1 istdurch einen linearen Anstieg der Anzahl gefressener Beutetiere Ne gegenüber der Beu-tedichte N gekennzeichnet (� Abb. 3.3a). Die funktionelle Reaktion von Typ 1 tritt beiRäubern auf, bei denen das Aufspüren der Beute und deren Handhabung entkoppeltsind. Dies ist der Fall bei Räubern, die passiv Beute fangen, z. B. Filtrierern oder Netz-spinnen. Wasserflöhe (Daphnia sp.) filtern mit ihrem Reusenapparat Plankton ausdem Wasser. Die vom Reusenapparat aus dem Wasser gefilterte Beute wird auf Wim-perbändern bis zum Mund transportiert. Der Reusenapparat erzeugt einen konstan-

3.1 Nahrungserwerb 105

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Anzahl angebotene Beutetiere N Anzahl angebotene Beutetiere N

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3.3 Typen von funktionellen Reaktionen. In der linken Spalte ist die Anzahl gefressenerBeutetiere Ne gegenüber der Anzahl angebotener Beutetiere N dargestellt, in der rechtenSpalte die Prädationsrate, d. h. der Quotient aus der Anzahl gefressener Beutetiere zurAnzahl angebotener Beutetiere Ne/N gegenüber der Anzahl angebotener Beutetiere N dar-gestellt. a) Typ 1: linearer Anstieg der funktionellen Reaktion. Die Prädationsrate bleibt inweiten Bereichen konstant (dichteunabhängig). b) Typ 2: eine Kurve, die sich asymptotischeinem Schwellenwert annähert, der durch die Handhabungszeit der Beute oder den Sätti-gungsgrad der Räuber bestimmt wird (z. B. Hollings Scheibengleichung). Die Prädations-rate sinkt stetig (negativ dichteabhängig). c) Typ 3: eine sigmoide funktionelle Reaktions-kurve, bei der die Räuber bei niedrigen Beutedichten ineffizient die Beute aufspürenund/oder überwältigen. Mit zunehmend höheren Beutedichten steigt die Prädationsrate,weil die Räuber zunehmend effizienter werden (positiv dichteabhängig).

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ten Durchfluss einer bestimmten Menge Wasser pro Zeit, sodass die Beute (Plankton)proportional zu ihrer Konzentration im Wasser (Dichte) aufgenommen wird. Das-selbe gilt auch für Netzspinnen, die ebenfalls Beute in ihrem Netz proportional zurDichte in der Umgebung fangen und fressen (das Netz darf dabei weder anlockendnoch abstoßend wirken und auch bei hoher Beutedichte nicht zerstört werden). Beihoher Beutedichte wird allerdings mehr Beute vom Reusenapparat oder Netz gefan-gen, als der Räuber handhaben kann. Bei der Spinne wird das Töten und Aussaugenlimitierend, beim Wasserfloh das Schlucken. Der Übergang vom linearen Anstieg zumPlateau geschieht relativ abrupt, denn schon wenn die Anzahl gefangener Beuteob-jekte geringfügig die Handhabungskapazität des Räubers übersteigt, tritt ein Beute-stau im Fangapparat ein. Zu beachten bei funktionellen Reaktionen von Typ 1 ist,dass, während der Räuber die Beute überwältigt (z. B. im Reusenapparat), verschluckt(Transport auf Cilien zum Mund) und verdaut, unvermindert weiter nach Beutegesucht werden kann (Durchstrom von Wasser). Die Fangapparate einiger fleisch-fressender Pflanzen fangen ihre Beute passiv (d. h. sie locken sie nicht an; z. B. Was-serschlauch Utricularia sp., aber nicht Sonnentau, Drosera sp.), analog zu den Netzender Netzspinnen. Diese Pflanzen sind daher ebenfalls Filtrierer im weitesten Sinn. Tat-sächlich zeigen auch sie in der Regel eine funktionelle Reaktion von Typ 1.

Die funktionelle Reaktion vom Typ 3 hat eine sigmoide Form (� Abb. 3.3 c), d. h.mit steigender Beutedichte steigt die Anzahl gefressener Beutetiere stärker als linearan, der Räuber wird also mit zunehmender Beutedichte effektiver. Diese Form derfunktionellen Reaktion kann entstehen, wenn der Räuber lernt, effektiver mit derBeute umzugehen. Sigmoide funktionelle Reaktionen werden häufig Räubern mithochentwickeltem Gehirn zugeschrieben, in erster Linie also Wirbeltieren, sind aberauch im Insektenreich anzutreffen. Populationen der Feldwespe Polistes dominulusreagieren auf die Dichte eines ihrer Beutetiere, Larven vom Distelschildkäfer Cassidarubiginosa, in Form einer sigmoiden funktionellen Reaktion (Schenk und Bacher2002). Da die Wespe ein Generalist ist und verschiedene Beutetypen nutzt, entstehtdie sigmoide funktionelle Reaktion wahrscheinlich häufig durch eine Spezialisierungder Räuber auf das momentan häufige Auftreten dieser Beute (S. 102). Tatsächlichsollten solche Spezialisierungen auf momentan häufige Beute fast zwangsläufig zufunktionellen Reaktionen von Typ 3 führen (Murdoch und Oaten 1975).

Da bei höherer Beutedichte der Räuber effektiver im Umgang mit seiner Beutewird, haben Hassell et al. (1977) vorgeschlagen, dass bei sigmoiden funktionellenReaktionen die Angriffsrate a oder die Handhabungszeit Th selbst eine Funktion derBeutedichte ist. Eine realistische Funktion, die die Angriffsrate in Abhängigkeit derBeutedichte modelliert, hat eine ähnliche Form wie eine funktionelle Reaktion vonTyp 2: Während die Angriffsrate a bei niedriger Beutedichte ansteigt, wird sie beihoher Beutedichte nicht mehr wesentlich gesteigert werden können und sich einemPlateau annähern.

(3.1)

Setzen wir dies in die Scheibengleichung ein, ergibt sich die sigmoide funktionelleReaktion:

a =bN+ cN1

3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten106

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(3.2)

mit b, c und d als Konstanten.

Dichteabhängigkeit: Numerische Reaktion

Unter einer numerischen Reaktion verstehen wir die Umsetzung von Nahrung inNachkommen. Je mehr Beutetiere ein Räuber frisst, desto mehr Energie kann er inReproduktion investieren, desto mehr Nachkommen kann er erzeugen. Eine Erhö-hung der Beutepopulation führt also zu einer Erhöhung der Räuberpopulation. Wiewir im vorigen Abschnitt gesehen haben, ist die Anzahl gefressener Beutetiere über diefunktionelle Reaktion f(N) eines Räubers von der Beutedichte (und unter Umständenauch von der Räuberdichte selbst; f(N,P)) abhängig. Die numerische Reaktion g istalso über die funktionelle Reaktion f ebenfalls von der Beutedichte abhängig (g(N)).Die Effizienz der Konvertierung von Nahrung in Nachkommen wird trophische Effi-zienz (trophic efficiency) oder Konvertierungseffizienz e genannt (S. 221). Eine Reihevon Arbeiten hat bei einer Vielzahl von Tierarten gezeigt, dass die Anzahl gefressenerBeutetiere in der Regel proportional zur Anzahl produzierter Nachkommen ist, d. h.die Konvertierungseffizienz e ist eine Konstante (0 < e < 1).

(3.3)

Die Räuberdichte kann die numerische Reaktion auf zweierlei Art beeinflussen:über die funktionelle Reaktion und durch direkte Interaktion der Räuber untereinan-der. Bei hohen Räuberdichten bringen die einzelnen Räuber z. B. wegen Verletzungenbei aggressiven Auseinandersetzungen oder wegen Dichtestress weniger Nachkom-men zur Welt.

(3.4)

Der Parameter h ist ein Maß für die Stärke der direkten Beeinträchtigung der Räu-ber untereinander.

Die numerische Reaktion eines Räubers kann nach oben begrenzt sein. Wenn z. B.die Anzahl Territorien oder Nistplätze begrenzt ist, kann ein Räuber auch bei genü-gender Nahrungsversorgung nur eine begrenzte Anzahl Nachkommen zur Welt brin-gen. Andererseits kann die numerische Reaktion auch nach unten begrenzt sein,sodass trotz genügender Nahrungsversorgung nicht die durch die Nahrungsmengegegebene Anzahl Nachkommen erreicht wird. Dies wird der Allee-Effekt (S. 59 und278) genannt. Bei geringer Räuberdichte haben die einzelnen Räuber mitunter Mühe,Partner zu finden, oder es können sich bei kleinen Populationen über einen längerenZeitraum durch Inzucht Letalmutationen anreichern, sodass diese Populationengenetisch verarmen. Beide Effekte führen dazu, dass die Anzahl Nachkommen, die einIndividuum produziert, sinkt.

g N = e f N hP( ) ( )⋅ −

g N = e f N( ) ( )⋅

N = bTNdN bT Ne

h

2

21+ +

3.1 Nahrungserwerb 107

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