Kolonial- und Immigrationsgeschichte Frankreichs...Afrika wird Teil der Weltwirtschaft Afrika wurde...

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1 Kolonial- und Immigrationsgeschichte Frankreichs Mag. a Cécile Undreiner Kolonisierung und Immigration sind zwei Themen, die in Frankreich sehr kontrovers diskutiert werden und viele Verflechtungen vorweisen. Vor allem wenn man sich mit der Situation von MigrantInnen und Nachfahren von MigrantInnen befasst, ist es wichtig, diese Verflechtungen nicht aus den Augen zu verlieren. Zum Beispiel hat die in Europa verbreitete Anti-Islam Stimmung in Frankreich Wurzeln in der Kolonialzeit, insbesondere im Unabhängigkeitskrieg Algeriens. Frankreichs Kolonialgeschichte geht bis ins 16. Jhdt. zurück. In den fünf Jahrhunderten hat Frankreich Territorien überall auf der Welt besessen. Manche waren Siedlerkolonien, andere nur Handelsstützpunkte, Territorien wurden gewonnen und wieder verloren. Bis heute sind ein paar Überseegebieten unter französischer Verwaltung geblieben. Diese Expansionsbestrebungen hatten für die Menschen weitgehende Konsequenzen: FranzösInnen ließen sich kurz- oder langfristig in Überseegebieten nieder; Kolonisierte mussten in benachbarte Länder oder in die Metropole, meistens unter Zwang, auswandern. In diesem Artikel werden wir uns vor allem die Verflechtungen Frankreichs mit dem afrikanischen Kontinent anschauen, sowohl mit Nordafrika, wie auch mit dem subsaharischen Afrika. 1. Koloniale Geschichte Frankreichs Für europäische Länder kann man zwischen zwei großen Kolonisierungsperioden unterscheiden, die auch für Frankreich gelten. Die Erste im Zuge der Expansionsbestrebungen des 15. bis 18. Jhdt. Die Zweite im Zuge der imperialistischen Expansionen im 19. und 20. Jhdt. Die heutige Periode der formalen Unabhängigkeit wird mit Begriffen wie Neokolonialismus, Postkolonialismus oder Dritte Kolonisierung gekennzeichnet. Hierin wird das Nachwirken der kolonialen Prägung deutlich. 1.1. Erste Kolonisierung: 15. bis 18. Jahrhundert Im 15. Jhdt. versuchten europäische Mächte, einen Zugang nach Asien zu finden, um die Vorherrschaft des osmanischen Reiches über den Gewürzhandel zu umgehen. Weitere Gründe waren der Wettbewerb zwischen Monarchien, die religiösen Missionierungen und die wissenschaftlichen Entdeckungsreisen. Der Weg führte nach Amerika und Asien. Portugal und Spanien waren Vorreiter. Andere europäische Mächte folgten nach und nach; sogar Österreich kontrollierte im 18. Jhdt. einzelne Stützpunkte in Südasien und Ostafrika, die es wieder verlor.

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Kolonial- und Immigrationsgeschichte Frankreichs

Mag.a Cécile Undreiner

Kolonisierung und Immigration sind zwei Themen, die in Frankreich sehr kontrovers diskutiert werden und viele Verflechtungen vorweisen. Vor allem wenn man sich mit der Situation von MigrantInnen und Nachfahren von MigrantInnen befasst, ist es wichtig, diese Verflechtungen nicht aus den Augen zu verlieren. Zum Beispiel hat die in Europa verbreitete Anti-Islam Stimmung in Frankreich Wurzeln in der Kolonialzeit, insbesondere im Unabhängigkeitskrieg Algeriens. Frankreichs Kolonialgeschichte geht bis ins 16. Jhdt. zurück. In den fünf Jahrhunderten hat Frankreich Territorien überall auf der Welt besessen. Manche waren Siedlerkolonien, andere nur Handelsstützpunkte, Territorien wurden gewonnen und wieder verloren. Bis heute sind ein paar Überseegebieten unter französischer Verwaltung geblieben. Diese Expansionsbestrebungen hatten für die Menschen weitgehende Konsequenzen: FranzösInnen ließen sich kurz- oder langfristig in Überseegebieten nieder; Kolonisierte mussten in benachbarte Länder oder in die Metropole, meistens unter Zwang, auswandern. In diesem Artikel werden wir uns vor allem die Verflechtungen Frankreichs mit dem afrikanischen Kontinent anschauen, sowohl mit Nordafrika, wie auch mit dem subsaharischen Afrika. 1. Koloniale Geschichte Frankreichs Für europäische Länder kann man zwischen zwei großen Kolonisierungsperioden unterscheiden, die auch für Frankreich gelten. Die Erste im Zuge der Expansionsbestrebungen des 15. bis 18. Jhdt. Die Zweite im Zuge der imperialistischen Expansionen im 19. und 20. Jhdt. Die heutige Periode der formalen Unabhängigkeit wird mit Begriffen wie Neokolonialismus, Postkolonialismus oder Dritte Kolonisierung gekennzeichnet. Hierin wird das Nachwirken der kolonialen Prägung deutlich. 1.1. Erste Kolonisierung: 15. bis 18. Jahrhundert Im 15. Jhdt. versuchten europäische Mächte, einen Zugang nach Asien zu finden, um die Vorherrschaft des osmanischen Reiches über den Gewürzhandel zu umgehen. Weitere Gründe waren der Wettbewerb zwischen Monarchien, die religiösen Missionierungen und die wissenschaftlichen Entdeckungsreisen. Der Weg führte nach Amerika und Asien. Portugal und Spanien waren Vorreiter. Andere europäische Mächte folgten nach und nach; sogar Österreich kontrollierte im 18. Jhdt. einzelne Stützpunkte in Südasien und Ostafrika, die es wieder verlor.

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Frankreich besaß große Teile Nordamerikas, Inseln in der Karibik (Guadeloupe und Martinique, die heute noch französische Territorien sind), Stützpunkte in Indien, Senegal, Guinea sowie Inseln im indischen Ozean. 1754 erreichte das erste französische Kolonialreich seine größte Ausdehnung mit 10 Millionen Quadratkilometer und 30 Millionen EinwohnerInnen (Larousse o.J.). Frankreich verlor bald wieder den Großteil seiner Kolonien zugunsten Englands oder Spaniens. Aus dieser ersten Kolonisierung blieben Ende des 19. Jahrhunderts lediglich die Senegalküste und ein paar Inseln. 1. Karte: Das Französisch Kolonialreich bis 1830 (Quelle Fuchs/Henseke)

Afrika wird Teil der Weltwirtschaft Afrika wurde ab dem 15. Jahrhundert langsam in ein Weltsystem integriert, das sein Zentrum in Westeuropa hatte (Schicho 2010: 41). 1 Der Kontinent wurde schon im 15. Jhdt. von europäischen Mächten besiedelt, zuerst von Portugal (Kap der Guten Hoffnung an der Südspitze sowie das heutige Mozambique und Angola). Zu dieser Zeit wurde in Afrika keine Besiedlung des Landesinneren angestrebt, die Handelsstützpunkte reichten. Frankreich errichtete Handelsstützpunkte an der Küste Senegals und Guineas, v.a. um SklavInnenhandel zu betreiben. Die territoriale Ausdehnung war zwar gering, aber die Nachfrage nach Luxusgütern und später Rohstoffen stieg massiv. Dies hatte eine Intensivierung des innerafrikanischen Handels zur Folge. Insofern prägten europäische Stützpunkte auch die Wirtschaft innerhalb Afrikas. 1 Laut Weltsystemtheorie und Dependenztheorie besteht das kapitalistische Weltsystem aus Zentrum und Peripherie und wird dadurch gekennzeichnet, dass das Zentrum die Peripherie ausbeutet.

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„Die wirtschaftliche Kolonisierung [Afrikas] erfasste ebenso wirksam die Export- wie die Importseite“ (Schicho 2010: 60). Kaurischnecken wurden massiv nach Europa exportiert. Dadurch wurde diese in Afrika wichtigste Form von Geld mit europäischer Währung ersetzt. Textilien aus Europa und Indien vertrieben die qualitativ hochwertige afrikanische Produktion. Importierte Werkzeuge führten zum Niedergang der Schmiedeproduktion. Diese Schwächung der afrikanischen Wirtschaften bereitete das Terrain für die politische Machtübernahme europäischer Staaten im 19. Jhdt. (vgl. Schicho 2010). Der Transatlantische Dreieckshandel Im 17. Jhdt. lief der transatlantische Dreieckshandel schon auf vollen Touren; zuerst nahm England teil, Frankreich stieg später ein. Ausgangspunkt waren die westeuropäischen Häfen. Europäische Produkte (Kleidung, Waffen, Pferde, Alkohol) wurden nach Afrika gebracht, dort gegen SklavInnen (aber auch Elfenbein und Nahrungsmittel) getauscht. Diese wurden in die Amerikas gebracht (viele SklavInnen überlebten die Schiffsreise nicht). Dort wurden die Tropenprodukte (Zucker, Rum, Kaffee, Baumwolle) geladen und nach Europa gebracht. Diese Produkte wurden im Zuge der industriellen Entwicklung Europas immer wichtiger. 2. Schema/Karte: Transatlantischer Dreieckshandel (Quelle: sommaire_atlas_historique)

Sklaverei gab es nach heutigem Wissensstand in den meisten komplexen Gesellschaften der Welt, auch in Afrika (das ähnlich feudale Strukturen wie Europa aufwies). Der transatlantische Handel bewirkte dennoch, dass der SklavInnenhandel in Afrika immer größer und gewalttätiger wurde. Ab 1650, mit der Einführung der Plantagenwirtschaft in Amerika, explodierte der SklavInnenhandel (man schätzt insgesamt die Opfer des atlantischen SklavInnenhandels auf 11-14 Millionen). Dieser dauerte bis Ende des 19. Jahrhunderts, obwohl er weitgehend Anfang des 19. Jahrhunderts verboten

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wurde. SklavInnenjäger, die aus Europa importierte Pferde und Gewehre dafür nutzten, kamen bis zum Schluss vorwiegend aus afrikanischen Ländern. Dies hatte weitreichende Konsequenzen für diese Gesellschaften, unter anderem weil sie zu politischen Systemen wurden, in denen dieser große Profit nur der Bereicherung einer kleinen Oberschicht diente (Schicho 2010). 1.2. Zweite Kolonisierung - der französische Imperialismus: 19. und 20. Jahrhundert Der französische Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts ist für uns von besonderem Interesse. Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts wurde Frankreich zur zweitgrößten Kolonialmacht nach England. Industrielle Revolution Seit Mitte des 18. Jahrhundert erfolgte die industrielle Revolution, zuerst in England, dann in ganz Westeuropa. Die Überseegebiete waren dabei von großer Bedeutung: vor allem als Rohstofflieferanten aber auch als Absatzmärkte für die Fertigprodukte. Der Import von Kaffee und Zucker war für die Entwicklung des Kapitalismus in Europa unabdingbar, denn sie trugen dazu bei, dass ArbeiterInnen die schwierigen Arbeitsbedingungen aushielten. Der Zugang zu Rohstoffen und der Abbau von Edelmetallen wurden für die angehenden Industrieländer immer wichtiger. Europäische Mächte versuchten, direkten Zugang zu erlangen, um die Kosten zu reduzieren. Die Infrastruktur musste ausgebaut werden, um Rohstoffe in die Häfen zu transportieren. LohnarbeiterInnen mussten für diese Tätigkeiten gewonnen werden. Dadurch wurde es notwendig, die formelle Besetzung der Überseeterritorien durchzuführen (Becker 2004). Durch formale Herrschaft gab es die Möglichkeit, die lokale Bevölkerung in die Lohnarbeit zu zwingen. Dies erfolgte einerseits mit der Einführung einer Kopfsteuer – die Einführung von Geld zwang LandarbeiterInnen ihr Land aufzugeben, um eine bezahlte Tätigkeit einzugehen – andererseits durch Zwangsarbeit (Becker 2004). Die französische imperialistische Expansion wurde 1830 mit einem Feldzug in Algerien eingeleitet. Dann wurden weitere Handelsstützpunkte an der westafrikanischen Küste eingerichtet, von denen aus ins Landesinnere fortgeschritten werden konnte. Nach und nach wurden Territorien in Afrika, aber auch auf anderen Kontinenten besetzt. Ab den 1880er kämpften alle europäischen Großmächte um Afrika (Scramble for Africa). Die Berliner Konferenz wurde 1884 einberufen, um die territorialen Konflikte zwischen den europäischen Mächten zu lösen. Diese teilten sich Afrika regelrecht untereinander auf. Grenzen wurden willkürlich mit dem Lineal gezogen. Die meisten bestehen bis heute fort.

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Die Ära des Hochimperialismus Nach dem formellen Aufteilen mussten die Territorien tatsächlich besetzt werden. Dies erfolgte durch Gewalt und Betrug. Bis in die 1920er Jahre war die Ära des Hochimperialismus: Sicherstellung der Herrschaft und Entwicklung der Wirtschaft, Enteignungen und Zwangsarbeit (Sonderegger 2011: 246). Die lokale Wirtschaft wurde auf dem Export von Rohstoffen nach Frankreich ausgebaut. Es wurden tendenziell Monokulturen errichtet. Die lokale Verarbeitung von Rohstoffen (z.B. Textilverarbeitung im Senegal) wurde verhindert, um die Konkurrenz mit europäischen Produkten zu verhindern - schließlich musste Afrika auch als Absatzmarkt für europäische Produkte fungieren (Schicho 2010: 85). Die aus den afrikanischen Kolonien nach Frankreich exportierten Rohstoffe waren z.B. Holz, Baumwolle, Sisal, Erdnüsse, Kakao, Kaffee, Tee, Kautschuk und Palmöl. Der Abbau von Metallen (Gold, Diamanten, Kupfer, Zinn, Eisen, Kohle, Phosphate) konnte erst mit der politischen Kolonisierung systematisch organisiert werden. Auf Plantagen, Feldern und in Minen wurden AfrikanerInnen als LohnarbeiterInnen eingesetzt. Aus rohstoffarmen Ländern wie Obervolta (heutiges Burkina Faso) wurden vor allem Arbeitskräfte in Küstenländer wie die Elfenbeinküste exportiert. Insofern waren Migrationsbewegungen, unter direktem oder indirektem Zwang, dem Kolonialsystem innewohnend. Auch für die Kolonial- und Weltkriege wurden AfrikanerInnen herangezogen (vgl. Schicho 2010: 85-86). Nach dem 1. Weltkrieg erreichte das zweite französische Kolonialreich seine größte Ausdehnung mit 12,5 Millionen Quadratkilometern und 65 Millionen EinwohnerInnen (Larousse o.J.). 3. Karte: französische Kolonien von 1830 bis 1945 (Quelle Fuchs/Henseke)

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Die französische Herrschaft wurde im Gegensatz zu Großbritannien direkt ausgeübt. Die Verwaltung wurde zentralistisch aus Paris kontrolliert. Einen Teil der Kolonialverwaltung stellten französische Kolonialherren. Einen Teil übernahm eine auserwählte Elite aus der einheimischen Bevölkerung, die dafür genau ausgebildet wurde. Diese wurden les évolués (die Entwickelten) genannt. Diese Oberschicht bildete die Basis für spätere Unabhängigkeits- und Nationalbewegungen. Die französische Sprache und Kultur prägt ehemalige Kolonialländer bis heute stark. MissionarInnen und Entdeckungsreisende Katholische MissionarInnen begleiteten die Franzosen in ihrer Expansion. Mitte des 19. Jhdt. entstand der Orden der Weißen Väter (Pères Blancs), der zum Ziel die Bekehrung Afrikas hatte. Dessen Aufgabe war auch die Sicherung von Einflussgebieten gegenüber Briten und Protestanten. MissionarInnen hatten zwar geistliche Ziele und handelten aus Interesse für die Menschen. Nichtdestotrotz waren sie von ihrer Überlegenheit überzeugt. Dies gilt auch für die wissenschaftlichen Entdeckungsreisenden. Alles in allem fungierten diese EuropäerInnen als PionierInnen des Imperialismus. Später spielten progressive Geistliche eine wichtige Rolle in Unabhängigkeitsbestrebungen. Frauen und Kolonisierung Mit der Kolonisierung wurde das Leben afrikanischer Frauen tendenziell schwieriger. Die meisten afrikanischen Gesellschaften wiesen eine differenzierte Arbeitsaufteilung nach Geschlechtern auf, wobei Frauen meistens – mit Ausnahmen weniger Gesellschaften – eine minderwertige Rolle zugesprochen wurde. Der Kapitalismus brachte neue Hierarchien, in dem z.B. die Kolonialherren nur Männer als Ansprechpartner akzeptierten und somit auch die von Frauen dominierten Bereiche zerstörten (vgl. Grau 2003: 138ff). Widerstand Es gab immer wieder Widerstand in der afrikanischen Bevölkerung gegen Eingriffe von außen. In den 1920 und 1930er Jahren wurden die antikolonialen Bestrebungen deutlicher, in den Städten stärker als am Land (Schicho 2010: 106). Vor allem Organisationen von ausgewanderten MigrantInnen in Frankreich erhoben politische Forderungen, allen voran algerische Organisationen, die mit französischen Linken in Kontakt traten. Durch das Erleben des ersten und zweiten Weltkrieges wuchs in den Kolonien das Bewusstsein, dass die Kolonialmächte nicht so unschlagbar waren wie sie vorgaben. Der Weg in die Unabhängigkeit Frankreich versuchte auf diese Bestrebungen zu antworten, in dem es den lokalen Bevölkerungen mehr Rechte einräumte. Die „Union Française“ ermöglichte ab 1946 die Partizipation afrikanischer PolitikerInnen an der kolonialen Politik in der Metropole. Dadurch waren die subsaharischen Kolonien im Westen und

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Zentralafrika für Frankreich zu der Zeit kein Problem (Schicho 2010: 113). In dieser Zeit stieg die Zahl der SiedlerInnen aus Frankreich in Afrika und die wirtschaftlichen Interessen wurden gefestigt. Ende der 1950er Jahre wurde den Kolonialmächten klar, dass die formelle Herrschaft über die Überseegebiete nicht mehr notwendig war. Die formelle politische Unabhängigkeit der meisten afrikanischen Länder war somit kein Dorn mehr im Auge des europäischen Kapitalismus. Das Land war weitgehend im europäischen Besitz, die Infrastruktur war ausgebaut und nicht zuletzt waren die billigen LohnarbeiterInnen gesichert. Außerdem gab es schon immer antikoloniale Stimmen in Frankreich, die die Kosten der Kolonisierung kritisierten. Heute ist die These weitgehend akzeptiert, dass die Kolonien sich für den französischen Staat wirtschaftlich nicht rentierten (dafür war für bestimmte Kapitalgruppen das Kolonialgeschäft höchst lukrativ). In den 1960er Jahren wurde der Großteil der afrikanischen Kolonien Frankreichs formal unabhängig. Algerien und Indochina errangen ihre Unabhängigkeit erst nach langen Kriegen. Algerien Algerien ist besonders interessant, weil es die einzige französische Siedlerkolonie in Afrika war, noch dazu zu einer Zeit, in der diese Art von kolonialem Projekt überholt war. 800.000 Personen aus Frankreich siedelten sich um 1930 in Algerien an. Dieser Prozess ging grausamst vor sich. Algerien wurde schon 1848 als Region Frankreichs eingebunden. Die aufgebaute Gesellschaft war sehr ungleich (Schicho 2010: 13). In Siedlerkolonien wie Algerien ging die Unabhängigkeit viel schwieriger als in anderen afrikanischen Ländern vonstatten, da viele französische SiedlerInnen im Land waren und bleiben wollten. Die sogenannten Pieds Noirs (schwarze Füße), BewohnerInnen Algeriens europäischer Herkunft kämpften hart und rücksichtslos, um Algerien als französische Region beizubehalten und ihre Anwesenheit und Privilegien vor Ort sicherzustellen. Nachdem Frankreich den Krieg 1962 für verloren erklärt hatte, mussten so gut wie alle nach Frankreich – ein für sie fremdes Land – auswandern. Der Algerienkrieg stellte für Frankreich eine Traumatisierung dar und ist gleichzeitig die Grundlage für die Weiterentwicklung von rechtsextremen Bewegungen. Jean-Marie Le Pen, Gründer des Front National in den 1970er Jahren, war selber im Algerienkrieg tätig, bei dem er ein Auge verlor, und bediente sich ärgstem anti-arabischen Diskurs. 1.3. Unabhängigkeiten und postkoloniale Kontinuitäten Die Unabhängigkeit galt zunächst in formal-politischer Hinsicht. In Wirklichkeit bestanden und bestehen immer noch asymmetrische politische und wirtschaftliche Verflechtungen zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien. Die jahrelang nach außen gerichtete Wirtschaft der kolonisierten Länder konnte nicht geändert werden (die Folge: hohe Auslandsverschuldung, Abhängigkeit von Entwicklungshilfe und europäischer Wirtschaft).

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Für das Netzwerk aus politischen und wirtschaftlichen Interessen der französischen und afrikanischen Eliten gibt es einen Begriff, die Françafrique. Das ist ein Wortspiel mit „Afrique“ (Afrika) und „à fric“ (umgangssprachlich „des Geldes“). Dieser Begriff ist heute noch sehr wichtig. Manche Netzwerke sind offene Beziehungen, wirtschaftlich wie politisch. Vieles wird insgeheim betrieben und wurde in den letzten 30 Jahren mehr und mehr aufgedeckt. Um seine Interessen zu sichern scheut Frankreich nicht, Diktatoren zu unterstützen. Dies führte sogar zur Mitverantwortung am Genozid der Tutsis in Rwanda Anfang der 1990er Jahre (Schmid 2010). Der sprachliche und kulturelle Einfluss Frankreichs besteht heutzutage nicht zuletzt durch die Francophonie fort. Diese internationale Organisation umfasst 75 Staaten (http://www.francophonie.org/). Die Eliten der ehemaligen Kolonialländer studieren nach wie vor im Ausland, viele davon in Frankreich. Doch Frankreich muss seinen Einfluss in Afrika nun mit anderen Mächten teilen, wie den USA oder China. Manche behaupten, dass die Françafrique zerfallen ist. Dies ist eher als ein Versuch, aktuelle Interessen Frankreichs in Afrika zu verschleiern, zu werten (Schmid 2010). Es gab Zeiten, in denen die geschichtliche Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit Frankreichs nicht vorhanden war. Heute ist sie wieder präsent und wird kontrovers diskutiert. In den letzten Jahren versuchten Regierende die positiven Aspekte herauszustreichen – mit den üblichen Argumenten der Zivilisierung und der wirtschaftlichen Entwicklung, die schon zu Beginn der imperialistischen Expansionen als Vorwand verwendet wurden. Die Frage, ob die Kolonisierung eine positive oder negative Bilanz aufweist, sollte nicht so plakativ gestellt werden (Coquery-Vidrovitch 2009). Tatsache ist dennoch:

„Zu den traumatischen Erfahrungen [afrikanischer Gesellschaften] zählen Unterdrückung und Entrechtung, die für die koloniale Fremdherrschaft konstitutiv waren und deren Herrschaftsinstrumente und Formen der Machtausübung an den postkolonialen Staat übergingen“ (Sonderegger 2011: 251)

Heute besitzt Frankreich noch ein paar Überseegebiete. Guadeloupe, Martinique, Réunion, Mayotte, französische Guyana sind sogar Departements. Ein paar Inseln in Nordamerika und im Südpazifik (z.B. Neukaledonien und franz. Polynesien) stehen auch noch mehr oder weniger unter formellem französischen Einfluss.

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2. Immigration und Integration in Frankreich Ein wichtiger Teil der französischen Bevölkerung, wahrscheinlich mehr als ein Drittel, wenn man bis zur dritten Generation zurückgeht, stammt aus der Immigration. Ein erheblicher Teil der Migrationen kommt aus ehemaligen Kolonien. 2.1. Immigrationsgeschichte Die Immigration nach Frankreich war immer den Bedürfnissen der industriellen Entwicklung untergeordnet. Frankreich ermöglichte seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Perioden der wirtschaftlichen Prosperität Masseneinwanderung. In Krisenzeiten wurde die legale Immigration gestoppt. Zusätzlich wurden während den zwei Weltkriegen viele BewohnerInnen der Kolonien entweder als Soldaten oder als Ersatzarbeitskräfte für den französischen Kriegsdienst mobilisiert. Die Gastarbeiterperiode ab 1945 bzw. systematisch ab 1963 Im Zuge des Wiederaufbaus der westeuropäischen Länder nach dem zweiten Weltkrieg setzte die Hauptphase der nordafrikanischen Arbeitsmigration ein. Es war eine staatlich organisierte, auf bilateralen Abkommen basierende Süd-Nord-Wanderung. Die Auswanderung war oft die Fortsetzung der Binnenmigrationen: arme Bauern wanderten in die Stadt, wo sie dann unter schlechten Bedingungen leben und arbeiten mussten. Aus diesem Grund wanderten sie auf der weiteren Suche nach einer besseren Situation auf die andere Seite des Mittelmeers. Diese organisierte Migration war ursprünglich als temporäre Rotationsmigration konzipiert. In der Tat wurden die Verträge immer wieder mit denselben Arbeitsmigranten verlängert und die zeitbegrenzten Aufenthaltstitel erhielten einen immer stärkeren Langzeitcharakter (Stacher/Demel 2000). Die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung waren schlecht. Die Gastarbeiter waren in einer unsicheren Arbeitssituation (es war vorgesehen, dass sie flexibel und je nach Bedarf eingesetzt wurden). Aus diesen Gründen und wegen des Ausschlusses von sozialen Sicherungssystemen, waren die Gastarbeiter gezwungen, eine Rücksicherung im Herkunftsland aufrechtzuerhalten. Zudem war oft ein Teil der Familie von den finanziellen Rückflüssen abhängig. Somit entwickelte sich die Gastarbeiterbevölkerung zur ärmsten Schicht Frankreichs (ebd.). In dieser Periode der organisierten und assistierten Einwanderung wurden die Arbeitsmigranten meist in schlecht ausgestatteten oder ungesunden, dazu überbelegten Wohnungen untergebracht (Slums, möblierte Zimmer). Die Konzentration von Gastarbeitern in einer Gegend führte oft zum Wegzug der einheimischen Bevölkerung, was wiederum zu einer Ghettoisierung führte. Erst am Ende der offiziellen Einwanderungsphase, in den 1970er Jahren, erhielten die Arbeitsmigranten Anspruch auf Sozialwohnungen und sozialstaatliche Leistungen. Sie bekamen aber aus dem Sozialwohnungsbestand veraltete Wohnungen in den

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am wenigsten attraktiven Gegenden. Daher setzte sich das Phänomen der Ghettobildung fort (Stacher/Demel 2000; Simon 2003). Die restriktive Periode (ab 1974): neue Formen der Immigration Ab ca. 1974 gab es im Wesentlichen nur mehr hauptsächlich drei Möglichkeiten der Immigration nach Frankreich: Familienzusammenführung, Asylantrag und illegale Immigration. Nach der "Ölkrise" (1973) und der daraus resultierenden Massenarbeitslosigkeit traf Frankreich Maßnahmen zur Reduzierung der Gastarbeiterzahl: die Rekrutierung von Arbeitsmigranten wurde gestoppt und eine restriktive Einwanderungspolitik beschlossen. Darüber hinaus wurden Rückkehrprogramme und Abschiebungen in die Herkunftsländer organisiert (Stacher/Demel 2000). Wegen den Familienzusammenführungen stieg trotzdem tendenziell die Zahl der MigrantInnen. Diese waren in den 1970er Jahren begonnen worden und wurden immer stärker von Frankreich gefördert. Sie führte einerseits zu einer weiteren relevanten Steigerung der Anzahl an ImmigrantInnen und anderseits zu einer Feminisierung und einer Verjüngung der ausländischen Bevölkerung. Die Kinder der ImmigrantInnen bildeten die sogenannte zweite Generation. Während der 1980er verfolgte Frankreich zum ersten Mal eine entschiedene Politik der Integration, insbesondere der zweiten Generation. Ab den 1990er Jahren konnten die in Frankreich geborenen Kinder mit 18 Jahren die französische Staatsbürgerschaft erwerben, bzw. erhielten die meisten die doppelte Staatsbürgerschaft (Stacher/Demel 2000). Ab den 1990er Jahren wurden die Zuwanderungskontrolle und der Kampf gegen illegale Einwanderung zum Hauptziel der Migrationspolitik westeuropäischer Länder. Mit der Schengen-Konvention im Jahre 1990 fiel die Zahl der bewilligten Visa drastisch. Migration hat sich seit den 1960er Jahren von einer organisierten und legalen Migration zu einer eher illegalen Migration entwickelt. Die soziale und geographische Herkunft der MigrantInnen ist heterogener geworden. 2.2. Integration von ImmigrantInnen Das republikanische Integrationskonzept Das republikanische Integrationskonzept hat seine Wurzeln in den Werten der französischen Revolution. Gemäß den republikanischen Werten der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind alle StaatsbürgerInnen gleichgestellt, ohne Unterschied hinsichtlich der ethnischen Herkunft, der Religion usw. Darüber hinaus herrscht seit Ende des 19. Jhdts. der Jus Soli, der die Staatsbürgerschaft mit dem Aufenthalt verbindet, was die rasche Einbürgerung von ImmigrantInnen fördert (Noiriel 2002: 5).

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Das Modell wird als „Schmelztiegel“ beschrieben, in dem die eigene Kultur und Geschichte jedes Staatsbürgers und jeder Staatsbürgerin zur gemeinsamen Kultur verschmilzt. Wichtig dabei ist die Laizität, die strenge Trennung von Kirche und Staat, die Anfang des 20. Jhdts. eingeführt wurde und heute besonders aktuell ist (vgl. Demel/Stacher 2000; Noiriel 2002). Das republikanische Modell wurde als Zwangsassimilation kritisiert, zunehmend hat man sich ein wenig davon distanziert. Dennoch prägt es die Diskussion um Integration noch immer stark. In Frankreich ist die Idee verbreitet, dass das republikanische Integrationsmodell hundert Jahre lang erfolgreich war und erst seit kurzer Zeit eine Krise erlebt. Dagegen bringt Noiriel (2002: 2-3) drei Argumente: Erstens ist der Gebrauch des Wortes „Modell“ irreführend, denn es gab eigentlich kein politisches Projekt über Integration bis in die 1970er/1980er Jahre. Weiters muss man festhalten, dass die meisten nach Frankreich eingewanderten AusländerInnen nicht blieben. Für Noirel artikulierten sie mit ihrer Weitermigration ihre (ablehnende) Meinung zum republikanischen Modell. Schließlich zeigt ein Vergleich zwischen den USA und Frankreich keinen bedeutenden Unterschied bei der Integration ihrer ImmigrantInnen – gemessen unter anderem an der sozialen Mobilität, der Religionsausübung und dem Gebrauch der Herkunftssprache – obwohl die Modelle gegensätzlich sind. Das zeigt, dass – unabhängig vom Integrationsmodel – ImmigrantInnen die ersten AkteurInnen ihrer Integration sind. Das „republikanische Integrationsmodell“ beruht auf der Vorstellung der französischen Republik als ein für AusländerInnen gastfreundliches Land, das ihren Zugang zu Bürgerrechten und Gleichheit fördert. Ob diese Vorstellung ein Mythos ist und wie sehr sich Frankreich dieser Vorstellung entsprechend tatsächlich in der Geschichte verhalten hat, werden wir nachstehend betrachten. Ausländische Arbeitskräfte ersetzten inländisches Proletariat

Das politische Projekt der III. Republik (1870 bis 1940) spielte in der Geschichte der Integration von MigrantInnen eine grundsätzliche Rolle. Ende des 19. Jhdt. wurde der Akzent auf die Integration der unteren Bevölkerungsschichten in den Nationalstaat gelegt. Die Teilnahme am politischen Leben wurde gefördert. ArbeiterInnen und BäuerInnen – zunehmend auch Frauen – gewannen eine kollektive Macht, die es ihnen ermöglichte, im öffentlichen Leben zu intervenieren und soziale Rechte einzufordern. Nach Noiriel (2002) war die Entwicklung der Immigration eine direkte Konsequenz dieser Demokratisierung. Bis dahin war die größte Kluft in der Gesellschaft zwischen den oberen Schichten, die alle Rechte hatten, und den arbeitenden Schichten, die keine hatten. Ab 1870 galt es, eine neue Schicht zu organisieren, die keine Rechte hatte: die AusländerInnen. Die neue Trennlinie verlief folglich und verläuft immer noch zwischen StaatsbürgerInnen und AusländerInnen. Französische Staatsbürgerschaft und AusländerInnendiskriminierung

Das Gesetz von 1889 definierte die großen Linien, die bis heute gelten. Es erleichterte ImmigrantInnen den Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft. Dennoch kann man nicht von einer Politik der Integration sprechen. Es herrschte

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zwar zu dieser Zeit die Idee, dass eine Nation umso stärker war, je mehr sie BürgerInnen besaß. Eingebürgerte ImmigrantInnen mussten aber zehn Jahre warten – eine Art Probezeit – bis sie die volle Staatsbürgerschaft erhielten, d.h. bis sie dieselben Rechte wie „Einheimische“ genießen konnten. Diese Diskriminierung gemäß der nationalen Herkunft dauerte bis in die 1980er Jahre, sie ermöglichte z.B. die fremdfeindliche und antisemitische Politik der Vichy Regierung im Zweiten Weltkrieg (Noiriel 2002). Diskriminierungen wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend weniger, aber sie verschwanden nicht. Heutige Problematik

Heutzutage ist diese Diskriminierung für die Jugendlichen der zweiten und dritten Generation verstärkt: sie sind die Kinder und Enkelkinder des Proletariats, das zwischen 1950 und 1970 im Ausland rekrutiert wurde. Daher erleben sie dieselben sozialen Probleme wie die gesamten unteren Bevölkerungsschichten: hohe Arbeitslosigkeit, Armut, unsichere Arbeitsbedingungen, städtische Gewalt, usw. Diese Phänomene betreffen verstärkt die Kategorie der 15- bis 25-jährigen, die in den sozialen Ghettos lebt. Die Medien konzentrieren sich aber nur auf einen Teil dieser Kategorie: männliche Jugendliche nordafrikanischer Herkunft. Diese werden durch ihre Religion und anhand internationaler Ereignisse - die mit ihnen gar nichts zu tun haben - stigmatisiert. Aus dieser alltäglichen Konfrontation mit Diskriminierungen, Stereotypen und Vorurteilen entstehen unter anderem Identitätskonflikte (ebd.). Die gewalttätigen Verhaltensweisen vieler Jugendlicher können nach Noiriel (2002) gleichzeitig als Protest gegen ihre Situation und als Anpassungsversuch in die direkte Umgebung gesehen werden. Ihre Situation kann mit der der zweiten Generation von ImmigrantInnen in den 1950er Jahren verglichen werden. Damals fand die Jugend in der kommunistischen Partei ein Mittel zum Protest und zur Integration. Der bedeutende Unterschied liegt darin, dass damals die Gewalt kanalisiert werden konnte und einen politischen Sinn gewann, während die heutige Gewalt eher selbstzerstörend ist, indem sie innerhalb der unteren sozialen Schichten verbleibt. Die Sprachproblematik ist in Frankreich eine ganz andere als in Österreich. Frankreich weist eine jahrhundertelange Tradition einer dominanten einheitlichen Sprachpolitk auf. Der Großteil der Gastarbeiter kam aus Ländern, deren Verwaltungssprache bereits Französisch war. In Frankreich redeten diese dann – auch in der Familie – vorwiegend Französisch. Daher können die wenigsten MigrantInnen der zweiten Generation die Herkunftssprache ihrer Eltern. Dies führt auch zu Identitätskonflikten. Kritik/Vorschläge Es gibt einen Widerspruch zwischen der Forderung nach Anpassung der ImmigrantInnen und der tatsächlichen Diskriminierung derselben. Dieser Widerspruch zwischen Diskurs und Wirklichkeit hat u. a. zu einer explosiven Situation geführt. Die französische Gesellschaft wird immer stärker polarisiert.

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Für Bouzar (2003) hat das vorherrschende System von ImmigrantInnen erwartet, dass sie ihre Religion ablegen, hat sie aber faktisch nicht als volle BürgerInnen betrachtet. Der Autorin nach muss endlich von der Dichotomie zwischen den Werten des Islams und den Werten des Westens Abstand genommen werden. Die Ausgrenzung der religiösen Zugehörigkeit und der muslimisch-arabischen Kultur aus der französischen Gesellschaft sei der Grund der Desintegration von Jugendlichen der „zweiten Generation“. Es muss möglich werden, MuslimIn und FranzösIn gleichzeitig zu sein. Die Möglichkeit der Bezugnahme auf den Islam wäre ein Mittel zur Integration. Lamchichi (1999) weist seinerseits auf die besondere Bedeutung von ethnischen sozialen Netzwerken hin. Sie können die Schwächen des aktuellen Systems kompensieren und sind gerade deshalb für ärmere und marginalisierte Bevölkerungsgruppen sehr wichtig. Darüber hinaus kann die Integration in dem ethnischen sozialen Netzwerk als eine erste Integrationsetappe gelten, die nachträglich auf die gesamte Gesellschaft übertragen werden kann. Der öffentliche, meist populistisch geführte und ressentimentgeladene Diskurs vermischt die unterschiedlichen Zielgruppen. Zugewanderte haben andere Bedürfnisse als Nachfahren von Gastarbeitern. Die sogenannte Integrationsproblematik dient vielmehr der Verschleierung tieferliegender gesellschaftlicher Missstände. Die Ermöglichung der Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand und Leben kann also nicht alleine auf dem Feld der Integrationspolitik erreicht werden, sie muss auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene gelingen. Dazu müsste aber die Bereitschaft bestehen, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten überhaupt anzuerkennen und entschieden zu bekämpfen.

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Zum Weiterlesen: Schicho, Walther (2010): Geschichte Afrikas. Theiss WissenKompakt. Schmid, Bernhard (2011): Frankreich in Afrika. Eine (Neo)Kolonialmacht in der Europäischen Union zu Anfang des 21. Jahrhundert. Münster: Unrast Verlag.