KONSTRUKT

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KONSTRUKT #1 SENSATION & LÜGE

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Konstrukt. Ein Begriff. Sechs Kategorien. Sechs Ausgaben. Diesmal: die Lüge. Sensation — was bedeutet dieser Begriff? Was war jemals sensationell und was ist es heute? Sehen wir die Sensation als ein Konstrukt mit sechs Seiten, wie die eines Würfels. Jede Seite eröffnet einen neuen Blickwinkel auf die Sensation und hilft dabei, das Konstrukt zu begreifen und zu interpretieren. In dieser Ausgabe liegt die Lüge oben. Blanka Bopp, Stefanie Jellen, Martha Richter

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KONSTRUKT #1

SeNSaTiON & Lüge

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Verrückt – wie viele Worte man tagtäglich in den

Mund nimmt, ohne sich ihrer Bedeutung bewusst zu

sein ! So ging es uns mit einem Begriff, der alles sagt

und doch wieder nichts – der Sensation.

Was macht sie aus ? Wie entsteht sie ? Und was ist

heutzutage noch sensationell ?

Sehen wir die Sensation als ein Konstrukt mit sechs

Seiten, wie die eines Würfels. Jede Seite eröffnet

einen neuen Blickwinkel auf die Sensation und hilft

dabei, das Konstrukt zu begreifen und zu interpre-

tieren. In dieser Ausgabe liegt die Lüge oben.

Wie diese mit der Sensation in Zusammenhang steht,

erfahrt ihr auf der folgenden Seite. Außerdem er-

warten euch ein Gespräch mit Ai Weiwei über die

Propaganda in China, eine Religionsanalyse des

Mentiologen Peter Stiegnitz und eine kleine Liebes-

erklärung an die Werbelüge. Am besten, ihr macht

euch selbst ein Bild.

Wir wünschen euch viel Vergnügen beim Lesen.

Die KONSTRUKT Redaktion

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Sensation ! Das bedeutet : Etwas ist nicht mehr so, wie es vorher war. Etwas hat sich verschoben.Sensationen sind gesellschaftliche Phänomene. Eine Sensation be-nötigt den Konsens, dass sie tatsächlich eine Sensation ist. Wenn ein Prokrastinations-Profi den 8:43 Uhr -Bus noch bekommen hat, obwohl er erst um 8:40 Uhr von zu Hause aufgebrochen ist, ist das für ihn vielleicht sensationell. Für andere besitzt dieser Fakt vermut-lich den Sensationsgehalt des sprichwörtlichen umfallenden Sacks mit asiatischer Sättigungsbeilage.Die Sensation ist immer gelogen, voll und ganz oder ein wenig. Das ist schon ihrem namen zu entnehmen. Mit den darin zentral erhal-tenen Sinneseindrücken hat sie nichts zu tun. Wir erfahren von ihr indirekt und in berichteter Form, durch Fernsehen, Radio, Internet oder persönliche Kommunikation : » hast du schon von ... gehört ? «Dabei erreicht die Zahl der vermittelnden Instanzen völlig problem-los ein niveau, auf dem statt Wahrheit im besten Falle eben nur ein Stille-Post-Effekt zustande kommen kann. Vom Augenzeugen zum Reporter in die nachrichten zu nachrichtensehern, die dann ihren Freunden und Bekannten berichten, das ist der Weg, den ein Ereig-nis auf dem Weg zur Sensation mindestens zurückzulegen hat. Mit jedem Schritt und jedem Folgebericht entfernt sich das Berichtete weiter vom Ursprungsereignis, akkumuliert dabei aber seinen Sen-sationscharakter.Die Lüge ist in die Sensation also eingebaut, bewusst oder unbewusst. Diese Lüge kann, muss aber nicht immer böse sein, wie das vorlie-gende heft uns zeigt. Wahrheitsverzerrungen, sich selbst ein wenig beschummeln oder beschummeln lassen – das gehört zur Sensation und zum Leben eben dazu.So zeigt beispielsweise der Placebo-Effekt, wie allein der Glaube an ein Medikament dessen Wirkung auszulösen vermag. Aktivierung der Selbstheilungskräfte durch eine charmante Lüge : Wer mag da schon Spielverderber sein?

In diesem Sinne viel Vergnügen mit KONSTRUKT.

SchnittStelle

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08 — 11 Lügen wie gedruckt Die größten Medienschwindel

12 — 19 Ai Weiwei : An diese Propaganda glaubt

niemand mehr 20 — 25 Back to the Future

26 — 27 Rehabilitation des Lügners

28 — 33 You Shall Not Dr. Peter Stiegnitz über die

Bedeutung der Religion

34 — 35 Fake !

37 — 48 mentir sans rougir

50 — 55 Die Medizin des Glaubens Über den Placeboeffekt

56 — 57 WhAt IF ? Roswell 07/08/1947

58 — 67 Catch Me If You Can Die tricks des Frank Abagnale

68 — 71 Optical Art

72 — 73 Du darfst ! Wissenswertes zum Arbeitsrecht

74 — 75 Do It Lügendetektor

76 — 77 GLoSSE Ein aufrichtiges Statement

79 EMPFEhLUnGEn

80 — 81 ÜBERBLICK

82 ContRIBUtoRS & IMPRESSUM

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lügen wie gedrucktMit ein bisschen Fantasie kommt man in den Medien garantiert groß raus

BARBAReN GeGeN BABYSIn Kriegszeiten wurden Medien schon immer mit Falschmeldungen versorgt, um nieder-lagen zu Siegen und andere Länder zu Feinden zu machen. Vor dem Beginn des Zweiten Golfkriegs stand 1990 zum Beispiel eine aufgewühlte junge Kuwaiterin vor dem Menschenrechtsausschuss des US-Kongres- ses und berichtete von unfassbaren Gräuel-taten. Irakische Soldaten hätten in einem kuwaitischen Krankenhaus Babys aus Brut-kästen gerissen und auf dem Boden sterben lassen. Erst nach dem Einmarsch der Ame-rikaner kam heraus, dass der Auftritt der Frau von der PR-Agentur hill & Knowlton inszeniert worden war.

KINDeR AUF DROGe (TeIL 1)1980 rührte die Geschichte des achtjähri-gen heroinabhängigen Jimmy die Leser der » Washington Post « zu tränen. Die junge Autorin Janet Cooke schrieb: » Seine baby-weiche haut ist von den Einstichen der nadeln perforiert. « Jimmy erzählte der Re- porterin, er passe nur in Mathe auf, er wolle mal ein großer Dealer werden und dafür müsse man rechnen können. Auch der Bür- germeister war bewegt von diesem schwe-ren Schicksal. Er ließ die ganze Stadt nach dem Jungen durchforsten, doch keiner seiner Polizisten konnte ihn finden. erst nachdem Janet Cooke auf Vorschlag des Starjourna-listen Bob Woodward mit ihrem text den Pulitzer-Preis (die höchste Auszeichnung für amerikanische Journalisten) gewonnen hatte, kam heraus, dass Jimmy nie existierte.

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ÜBER DEn WoLKEnEdgar Allen Poe war ein begnadeter Schrift- steller – aber kein besonders guter Journa-list. Im Jahr 1844 berichtete er in der » New York Sun « von der ersten Atlantiküberquer- ung im heißluftballon. Kurz nach dem Er-scheinen der Geschichte musste die Zeitung einräumen, dass Poe sich alles ausgedacht hatte. Es war nicht das erste Mal, dass die » New York Sun « mit einem Fälscher zusam-mengearbeitet hatte. Knapp zehn Jahre zuvor veröffentlichte sie eine Artikelserie über » behaarte Mondbewohner « mit » kup-ferfarbenem haar «.

MACh MIR KEInEn KUMMERDer berühmteste Print-Fälscher des deutschen Sprachraums verdient heute sein Geld mit Paddle-tennisstunden in L.A. – zumindest behauptet er das. Was nicht besonders viel heißt, denn tom Kummer hat Zeitungen und Magazine auch noch mit Lügengeschichten versorgt, als er schon längst aufgeflogen war. tom Kummer verwurstete Groschenro-mane zu abenteuerlichen Reportagen, seine Spezialität aber waren fiktive Prominenten- geschichten. Für das » SZ-Magazin « und andere Medien fabrizierte er Interviews mit Sharon Stone, Brad Pitt, Kim Basinger und vielen anderen. Courtney Love » verriet « ihm einmal : » Ich spiele mit meinen Brüsten, um so eine Art Ekel zu demonstrieren, nicht um zu protzen. «

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10 Lügen wie gedruckt

KRötEn ZUM ABLECKEnMichael Born hatte immer den heißesten Stoff für Magazine wie » SPIEGEL tV « und » stern tV « auf Lager : Menschen mit ange- klebten Bärten, die Katzen jagen, ein geheimes Ku-Klux-Klan-treffen in der Eifel, Drogenpartys mit Kröten zum Ablecken. Die Szenen spielten Freunde und Bekannte, seine Mutter nähte die Kostüme. 1996 ver- urteilte ein Gericht Michael Born zu vier Jahren haft – nicht wegen Medienfälschung, sondern unter anderem wegen Volksverhet-zung und Vortäuschen einer Straftat. Der damalige stern tV-Chefredakteur Günther Jauch behauptete, er sei » im Grunde noch nie in einem Schneideraum gewesen « und kam ohne Verurteilung davon.

nEUES Von hItLER1983 verkaufte der Kunstmaler Konrad Kujau dem Magazin » stern « für 9,3 Millio- nen Mark Adolf hitlers geheime tagebücher, die angeblich aus einem abgestürzten Flug- zeug geborgen worden waren. Am 28.4. 1983 veröffentlichte der » stern «, bei dem offenbar sämtliche redaktionellen Kontroll- mechanismen versagt hatten, seine vermeint- lich » historische Weltsensation «. Am 6. Mai entlarvte das Bundesarchiv die Fälschung und stürzte das Magazin in eine tiefe Krise.

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KINDeR AUF DROGe (TeIL 2)es war 1996, als das ARD-Boulevardmaga- zin » Brisant « einen Beitrag über eine Gruppe von Jugendlichen ausstrahlte, die offenbar ein schwer destruktives Sozialver-halten entwickelt hatten : Statt in die Schule zu gehen, kauften sie in einem Supermarkt Bowle und betranken sich gemeinsam auf dem Berliner Alexanderplatz. Dazu hörte man den Sprecher : » Zielstrebig geht es in die nächste Kaufhalle, denn hier finden sie das, was sie brauchen, um die nächste Stunde zu überstehen : Alkohol. « Erst als die Eltern der Jugendlichen bei der » taz « an-riefen, kam heraus, dass das Kamerateam ihnen den Alkohol besorgt und sie mit 50 Mark bestochen hatte.

ZEItGEISt UntERWAnDERtIm Jahr 2008 fiel das ARD-Zeitgeist-Magazin » Polylux « auf einen Schauspieler herein, der vorgab, mithilfe der Droge Speed ab- nehmen zu wollen. Ein paar tage später tauchte im Internet ein entfernt an islamisti-sche Bekennervideos erinnernder Clip auf, in dem vermummte Aktivisten der » hedo- nistischen Internationalen « sich zu der Fäl- schung bekannten und verkündeten : » Erschreckend, wie einfach es ist, selbst ge- wählte Inhalte in Massenmedien zu platzie-ren und so gesellschaftliche Realität werden zu lassen. «

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ai WeiWei

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»Diese Propaganda glaubt niemand mehr«

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16 Diese Propaganda glaubt niemand mehr

Die » Documenta 2007 « machte ihn weltbekannt,

für die Olympischen Spiele in Peking 2008 ge-

staltete er das » Vogelnest « mit. Im Interview mit

Christian Ewers sprach der chinesische Künstler

Ai Weiwei im August 2008 Klartext und erklärte,

wieso die Chinesen olympia nur als Seifenoper

betrachtet haben und warum er überzeugt ist, dass

sich in China bald etwas ändern wird.

Herr Ai, China hat bei den Sommerspielen groß abgeräumt. 51 mal Gold – mit großem Abstand vor den USA. Darf sich deshalb auch die Kommunistische Partei, die Ihr Land autoritär führt, als Sieger fühlen ?Die Partei hat die einmalige Chance verpasst, unser Land modern, liberal und weltoffen darzustellen. Sie hat Protestparks eingerich-tet. Leider durfte dort nur niemand protestieren. Darüber hat sich die Welt kaputt gelacht. In den Stadien saßen meist nur Claqueure, brave Partei-Kader. Die Partei hat Angst vor Menschen, sie wollte totale Kontrolle und hat dabei nicht bemerkt, wie ihr die Spiele entglitten sind.

Aber was ist mit den Milliarden Menschen in aller Welt, die die Spiele vor dem Fernseher verfolgt haben ? Sie haben ein starkes, übermächtiges China erlebt.Ein beängstigend übermächtiges, ja. Bloß ist die Wirkung der Spiele in unserem Land selbst eine andere. Die Chinesen haben die Spiele geschaut wie eine Soap-opera, wie eine Vorabendserie. Man hat sich kurz gefreut über die Medaillen und dann wieder alles vergessen.

Warum ?Wir sind eben ein seltsames Volk. nehmen Sie das schwere Erd- beben in der Provinz Sichuan im Mai. Es gab tausende tote – auch weil gepfuscht und geschmiert worden war, beim Bau von Schulen zum Beispiel. nach ein paar tagen hat niemand mehr darüber gesprochen. Wer in China nach der Vergangenheit fragt, wird für verrückt gehalten. Bei uns muss es immer nur vorwärts, vorwärts, vorwärts gehen.

Ai Weiwei, 1957 in Peking gebo-ren, ist Konzept- und Performancekünstler,

Architekt und Kurator. In seinen Arbeiten

reflektiert er Kunst und den Bezug zur Rea-

lität. Stets vergegen-wärtigt er dabei die

kulturellen traditionen Chinas, indem er sie

metaphorisch zerstört und manipuliert. Durch

sein politisches und gesellschaftliches

Engagement hat er in der Kulturszene Chinas bereits den Status eines

Übervaters. Regelmäßig wird er

durch Repressalien der chinesischen Behörden

traktiert, die er über twitter und seinen Blog weltweit dokumentiert.

Die Installation » remembering « soll

an die opfer des Erdbebens erinnern.

(siehe einleger)

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Ein Volk, das seine Vergangenheit vergisst und nicht daraus lernt, macht es seiner Regierung sehr leicht. Wird Olympia tatsächlich folgenlos bleiben für die Bür-ger – immerhin hatten die Spiele eine kleine Öffnung erzwungen. Beispielsweise wurde das Pressegesetz für die ausländischen Medien gelockert.Kurzfristig werden die Spiele nichts bewirken in unserem Land. Mit- telfristig schon. Die Regierung hat bemerkt, dass sie vom Ausland sehr genau beobachtet wird. Und sie hat kapiert, dass sie ihr eige-nes Volk nicht länger anlügen darf. An die staatliche Propaganda glaubt eh niemand mehr in China. Es gibt das Internet und dort steht oft das Gegenteil dessen, was unsere Medien so verbreiten.

Ist das nicht ein kleiner, intellektueller Kreis, der sich in ausländischen Medien über das eigene Land informiert ?Dieser Kreis wächst von tag zu tag und niemand wird das stoppen können. Die Menschen spüren aber auch ohne das Internet, dass etwas nicht stimmt, dass Propaganda und Realität zwei verschiedene Paar Schuhe sind. » one world, one dream « lautete das Motto der Sommerspiele – für viele Chinesen aber war es ein Alptraum. Wenn jemand von einem Vorort zum nationalstadion wollte, wurde er auf dem Weg in die Stadt drei Mal kontrolliert, und jedes Mal stand ein Polizist mit Maschinengewehr vor ihm. So viel Militär haben die Menschen seit der Invasion der Japaner vor einem halben Jahrhun-dert nicht mehr erlebt.

Ist es rückblickend ein Fehler gewesen, die Spiele nach China zu vergeben ?Nein. es ist sinnlos, ein Volk von 1,3 Milliarden Menschen isolieren zu wollen. Wir brauchen den Dialog mit dem Westen für unsere Entwicklung. Bloß sollte der Westen nicht so tun, als sei olympia ein großzügiges Geschenk gewesen. In Wahrheit war es ein giganti- sches Geschäft für internationale Großkonzerne, die den chinesi-schen Markt erobern wollen.

Müssen Sie sich nicht vorwerfen, an diesem Business beteiligt gewesen zu sein ? Immerhin haben sie das » Vogelnest «, das Wahrzeichen der Spiele, mitgestaltet.Das wird immer missverstanden. Ich habe mich nicht dem team Chinas angeschlossen, sondern den Schweizer Architekten herzog & de Meuron. Sie haben mich eingeladen. Ich habe mich den Schwei- zern im Zuge der Ausschreibung angeschlossen. Als wir dann den Wettbewerb gewonnen hatten, bin ich dabei geblieben, weil das Stadion exzellent ist für das Stadtbild. Darum ging es mir. Die olympischen Spiele, das Big Business und das Regime haben damit nichts zu tun. China hat herzog & de Meuron das Stadion abgekauft wie einen BMW. Mehr war da nicht.

Ai Weiwei betrachtet das Internet als wich-tigstes Instrument, um gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. In seinem Blog doku- mentiert er seine Aktivitäten und künst-lerischen Projekte, fordert immer wieder Meinungs- und Presse-freiheit und ruft zu Kritik und unabhängi-ger Urteilsbildung auf. In den letzten Mona- ten wurde der Blog immer wieder zensiert oder komplett geschlos- sen. Jedes Mal, wenn das geschah, öffnete Ai Weiwei an anderer Stelle einen neuen.

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18 Diese Propaganda glaubt niemand mehr

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Wie würden Sie Ihr Verhältnis zum Regime beschreiben ?Die Partei hat mich bislang in Ruhe gelassen. Vielleicht sollte ich Angst haben, mit ausländischen Reportern zu sprechen. Mag sein, dass ich meine Lage falsch einschätze. Ich glaube, die Partei rechnet mich der Anti-China-Fraktion zu und weiß, dass ich vorwiegend im Aus- land gehört werde. So lange mein einfluss im Inland nicht zu groß ist, können sie wohl damit leben. Mein Blog wird ja nur von ein paar tausend Menschen gelesen, das ist für chinesische Verhältnisse nicht viel.

Wird es die Kommunistische Partei auch in zehn oder zwanzig Jahren noch geben?Im Prinzip hätte ich nichts dagegen. Bloß sollte sie alle Menschen gleich behandeln und aufhören, das eigene Volk zu betrügen. Die Partei will jetzt die Gesellschaft in die Moderne führen, aber die Politik soll die alte bleiben. Das kann nicht funktionieren. Es gibt nicht eine Person von ganz oben im System bis zur Basis, die noch an den Kommunismus glaubt. Aber viele wollen sich bereichern. Sie tun alles, um an der Macht zu bleiben. Die Partei wollte nicht, dass die Spiele zu einem Wendepunkt werden.

Sie sind ein international renommierter Künstler und haben mehr als zehn Jahre in New York gelebt. Warum ist China aller Probleme zum Trotz noch immer Ihr Lebensmittelpunkt ?Weil mein Leben einen Sinn haben soll. Ich bin Chinese und will, dass sich in diesem Land irgendwann etwas ändert. Meine Feinde machen mein Leben lebenswert. Deshalb bin ich hier.

Auf seinem deutschen Blog kommentierte Ai Weiwei den geplanten Rückzug von Google aus China wie folgt : » Durch seine heutige Ankündigung hat Google der Meinung vieler Leute Ausdruck verliehen, und das wird natürlich nicht nur China beeinflussen, sondern die ganze Welt. Die Diskussion über das Recht auf Privatsphäre und auf persönliche Rede- und Ausdrucksfreiheit ist meiner Meinung nach von größter Wichtigkeit. « (15.01.2010)

Ai Weiwei im netz :aiweiwei.comaiweiwei.blog.hausderkunst.deblog.aiweiwei.com (chin.)twitter: aiww (chin.)

In der nacht vom 12.08.2009 wurde Ai Weiwei in sei-nem hotelzimmer in Chengdu von Polizisten überrascht und zusam-mengeschlagen. In Chengdu sollte er als Zeuge für den Umwelt- aktivisten und Schrift-steller tan Zuoren aussagen, der sich für die Aufklärung des Erdbebens in Sichuan eingesetzt hatte. Ai Weiwei wehrte sich auf seine Art : Er zückte die Kamera und fotogra-fierte, wie er von den Polizisten abgeführt wurde. Alle Welt sollte dieses Bild sehen.

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Rehabilitation des lügners

Die Lüge hat eine Schwester, die in besserem Anse-hen steht als sie selbst : die List. Diese steht promi- nent am Anfang der abendländischen Literaturge-schichte. Odysseus, genannt der » Listenreiche «, ver- sucht durch Verstellung der Kriegspflicht zu entge-hen, ermöglicht mit seinem legendärem Täuschungs-manöver die völlige Zerstörung Trojas und entgeht durch vielfache Verstellung zwanzig Jahre lang den Strafen der Götter. Doch Odysseus, der zuletzt in die Arme der schönen Penelope zurückkehrt, ist keine Sympathiefigur – seine Lügen haben vielen Men-schen den Tod gebracht.

Die moralische Indifferenz eines Erzählers ist in der Literaturgeschichte nicht die Regel. Vor allem die europäische Erzählliteratur hält sich seit dem 15. Jahrhundert an einen Grundsatz, der ihren didakti-schen Aspekt offen legt : Lügen, die der Selbstberei-cherung dienen, werden bestraft. Erlaubt ist höchs-tens die Notlüge (sie ist ja oft der einzige Weg, um einer hungrigen Hexe zu entkommen). Nun gibt es viele Gründe zu lügen. Zum Beispiel schlichte Ar- beitsscheu (Till Eulenspiegel), unbändige Herrsch-sucht (Macbeth), oder noch schlimmer : brennende Lust auf liebreizende Bürgerstöchter (Don Juan). Lügen aus solchen Motiven stehen unter dem Gesetz der » poetischen Gerechtigkeit «, einem Erzählprin-zip, das Verbrechen und Strafe logisch eng verknüpft und – um es vorsichtig zu sagen – die Literatur do-miniert. Am Ende der Erzählungen warten stets die Strafen, mal harmlos, mal drastisch : Eulenspiegel er- hält kein amtliches Begräbnis, Macbeth wird ent-hauptet und Don Juan fährt zur Hölle. Der kommer-zielle Literaturbetrieb des 18. Jahrhunderts bringt

die » Moralischen Erzählungen « und das bürgerliche Trauerspiel hervor. Ungemein eng ist die Verschrän-kung von Kunst und Moral, welche List und Lüge in einen moralischen Begriff zusammen zieht und auf die typischen Antagonisten abschiebt : Räuber, Ver-führer, Tyrannen. Und alle sieht man sie jämmerlich zu Grunde gehen.

Während das 18. Jahrhundert mit Freuden die Geschichte der versuchten, jedoch scheiternden Ver-führung hört, ändert sich die funktionale Stellung des Erzählmotivs » Lüge « im 19. Jahrhundert grund-legend. Und zwar in zweifacher Weise.

Erstens, die großen Romane des 19. Jahrhun-derts sind Geschichten über geglückte Verführun-gen, nämlich sagenhaft dicke Ehebruchromane, bei deren Heldinnen es sich allesamt um gefallene Frau-en handelt, wie etwa Tolstois Anna Karenina, Flau-berts Madame Bovary und Fontanes Effi Briest. Ihre Lügen sind Ausdruck eines überlebensnotwendigen Verschleierungszwangs, der Reparaturversuch eines geglückten Ehebruchs. Der Zwang zur Lüge neutra-lisiert moralisch ihre Verwendung – sie steht völlig im Schatten einer anderen moralischen Katastrophe. Wir hören auf tausend Seiten von Frauen auf dem Gipfel ihrer Kunst, dem Lügen, und denken uns : Tja, aber was soll man machen ?

Zweitens, ein anderer Figurtypus wird aus der moralischen Verurteilung entlassen : der Listenrei-che, dessen Feder sich mächtiger als jedes Schwert erweist. Im Drama des 18. Jahrhunderts ist er noch Höfling des Fürsten, ein Intrigenschmied und Em-porkömmling der übelsten Sorte. Im 19. Jahrhundert übernimmt der Listenreiche andere Professionen : Er

Eine freihändige Literaturgeschichte

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ist nun Meister-dieb, Meisterde-tektiv Meisterlieb-haber und so fort. Er hat Manieren, ob- wohl von geringer Her- kunft, pflegt einen mon-dänen Lebenstil und be-sitzt die Macht der Rede. Mühelos erzeugt er Fiktionen, die ihm seinen Weg ebnen. Mühe-los durchschaut er die Fiktionen seiner Gegner – ebenso wie Odysseus besitzt er das Doppeltalent von Verstellung und Entlarvung. Leicht nimmt er andere Rollen an und spielt klangvoll die soziale Klaviatur über acht Oktaven. Unser Erzähl-universum bevölkern seitdem zahlreiche Hochstap-ler (Thomas Mann : Felix Krull), wandelbare Mörder (Patricia Highsmith : Thomas Ripley), Meisterdiebe (Maurice Leblanc : Arsène Lupin), Meisterdetektive (Edgar Allen Poe : C. Auguste Dupin), und ihre Er-ben. Auch im Film (die Femme Fatale im Film Noir, Spione, Agenten) und Fernsehen (How I Met Your Mother : Barney Stinson) gibt es kein Entkommen

vor ihnen und ih-rem Charme.

Eine moderne Welt, die vom My-

thos lebt, dass das Le-ben an einem anderen,

angenehmeren Punkt in der Gesellschaft enden

kann, als es begonnen hat, muss eine Stärke darin erken-

nen, soziale Barrieren zu über-winden. Das Vehikel, um ungehindert

überall zu wandeln und Erfolg zu haben, ist die Anpassung, die List, die Lüge. In der Hand ei-nes Könners verwandelt sie sich von der Grobheit in eine Kunst. Die Literatur erkennt in der Lüge seit dem 19. Jahrhundert immer mehr eine » Form der Intelligenz « (Roger Willemsen) und so hören, lesen und sehen wir mit glänzenden Augen von eleganten Berufslügnern und -lügnerinnen. Figuren wie Dan-ny Ocean (Soderbergh : Ocean s̓ Eleven), Meister-dieb und Charismat, werden nicht allzu schnell aus der Mode kommen, denn die Lust, einem Lügner bei der Arbeit zuzusehen, hat Konjunktur.

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Auch wenn die Zahl gläubiger Christen in Europa

stetig sinkt, so bleibt unsere Kultur doch geprägt

von den moralischen Grundsätzen der Religion.

Die Zehn Gebote nennt heute kaum noch jemand

beim namen, doch sie bilden die Grundlage für

die Regeln der Gesellschaft und erleben teilweise

sogar ihre Renaissance – beispielsweise im hin-

blick auf den steigenden Stellenwert der treue für

junge Leute. Dr. Peter Stiegnitz, der Begründer der

Mentiologie – der Lehre von der Lüge – hat den

Umgang mit dieser im Christentum, Judentum und

Islam für KONSTRUKT zusammengefasst.

Die kulturspezifische Bedeutung der Lüge wird zwar maßgeblich, doch nicht ausschließlich von der Religion bestimmt. Auch andere Faktoren, wie Erziehung und Erfahrung, sowie die jeweilige poli- tische tradition spielen eine nicht unwesentliche Rolle. Während die anderen Faktoren allerdings spezifisch und individuell, also nicht hochrechnungsfähig sind, ist die Religion allgemein gültig. Das 8. Gebot » Du sollst nicht falsch gegen einen anderen aussagen « und nicht » Du sollst nicht lügen! « ist ein Gerichtsgebot und gilt, mit den anderen neun Geboten, als ethische Grundlage aller drei monotheistischen Religionen. Dementsprechend wird die bewusste Lüge, ohne Lebensgefahr, verboten. Allerdings : Die Praxis sieht etwas anders aus.

Dr. Peter Stiegnitz, 1936 in Budapest ge-boren, verdankt sein

Leben einer Lüge : Auf die Frage eines

NS-Schergen 1944 an den damals 8-Jähri-

gen, ob er » ein Jude « sei, antwortete er mit

» nein « und konnte dem transport nach

Auschwitz entkommen.

An der Universität Wien studierte Dr. Stiegnitz

Soziologie, Psychologie, Philosophie und Ethno-

logie. Er begründete die Mentiologie – die

Lehre von der Lüge, war Gastprofessor an der Universität Buda-

pest und schrieb zahl-reiche Bücher.

(siehe » empfehlungen «)

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Bereits Thomas von Aquin hat den phi-losophisch-theologischen Begriff der » Wahrheit « hinter der leicht definier-baren » Wahrhaftigkeit « (Identität zwi-schen Denken und Handeln) versteckt. Da sehen wir bereits die Relativität der Themenbehandlung. Obwohl Thomas die Lüge eindeutig verurteilt (» malum ex genere «), zeigt er auch Verständnis dafür, dass die meisten Menschen in Todesangst lieber lügen. Diese Linie wird in der theologischen Auseinan-dersetzung bis in unsere Gegenwart weiter geführt. So akzeptiert der rö-mische Jesuit Arthur Vermeersch die Falschaussage im kritischen Moment aller Menschen in höchster Not.

Dazu die Praxis : Bedingt durch die häufige Möglichkeit der Beichte, wird die ernst gemeinte Lügen-Ent-schuldigung voll akzeptiert. Deshalb und bedingt durch den barocken Cha-rakter des Katholizismus geht man in diesen Ländern mit der Lüge leichter um als in protestantischen Ländern.*

Zur protestantischen Ethik : Bereits Martin Luther hat dem Landgrafen Philipp von Hessen, angesichts seiner » Nebenehe «, zur Notlüge geraten. Luther ging noch einen Schritt weiter : Er erlaubte sogar » Scherzlügen «, also solche ohne Schädigungsabsicht. Ge-nau auf diese praktische Anwendung der evangelischen Theologie beruft sich auch die Mentiologie (» Lügen ohne Schädigungsabsicht ist erlaubt und auch notwendig, um das soziale Leben überhaupt zu ermöglichen «).

* Anm. d. Redaktion : Dr. Peter Stiegnitz gab am telefon hierzu ein

interessantes Beispiel : Die heftige Reaktion

der US-Amerikaner auf die Clinton-Affäre sei

durch die calvinistische Prägung des Landes zu

begründen. etwa 52% der Bevölke-rung bezeichnen sich,

laut einer Studie der City University of new

York von 2001, als protestantische Christen. Da es bei Protestanten keine Möglichkeit zur Beichte gibt, werden

Lüge und hintergehen stark verurteilt.

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Im Alten Testament wird die Lüge ein- deutig zurückgewiesen. Obwohl Juden als ihre Bibel nur die » Fünf Bücher Mose « (plus: » Schriften « und » Pro-pheten «) akzeptieren, berufe ich mich hier nur auf das Alte Testament. Be-reits die Lüge der biblischen Schlan-ge (» Ihr werdet wie Gott «, Gen. 3,5) wird hier zwar verurteilt, doch » histo-risch « ermöglicht. Die psychologische Charakterisierung dieser Szene (Eva und Adam wollten mehr als nur Mensch sein) zeigt sowohl die Ver-fälschung der Wirklichkeit, deshalb stellt die Mentiologie die Wirklichkeit und nicht die Wahrheit als Gegenpol zur Lüge auf, als auch die psycholo-gische Verständnis-Neigung jüdischen Geistes.

Dementsprechend unterscheiden wir in der Mentiologie, was die Lüge betrifft, zwischen orthodoxen und re- formierten liberalen jüdischen Ge-meinden. Während die ersten die Lü-ge, wie fromme Katholiken, ablehnen und diese nur in wirklichen Notsitua-tionen anwenden, gehen die liberalen Juden, da sie weltoffen sind, auch mit der Lüge etwas » lockerer « um, ohne dabei die moralische Grenze der be-wussten Schädigungsabsicht zu über-schreiten. Die orthodoxen Juden beru-fen sich häufig auf die Psalmen und auf die Propheten.

Im Prinzip verneint der Islam die Lüge. Doch auch hier erleben wir eine unter-schiedliche Deutung. Im Islam geht es um die so genannte » Taqiyya « (» Vor-sicht «, » Furcht «, » Verkleidung «). Die Encyclopedia of Islam definiert den Begriff als Erlaubnis, gegen die Pflich-ten des Islam zu verstoßen, etwa den Glauben zu verheimlichen, wenn der Gläubige dazu gezwungen wird oder seine Existenz sonst bedroht wäre.

Die Schiiten berufen sich dabei auf drei Koranstellen : In Notsituation-en (Sure 16, Vers 106), die vordergrün-dige Freundschaft mit den Feinden des Islams (Sure 3, Vers 28) und den Ge-nuss verbotener Speisen (Sure 6, Vers 119). Hinter diesen drei Auslegungen steht jeweils eine » Lügen-Erlaubnis «.

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Fake!

Popstar, Model, Chefausstatter des Cirque du Soleil – wovon man-che ein Leben lang träumen, das hat Juan Isidro Casilla bereits erreicht – wenn auch nicht legal. Der notorische Lügner steht gerne im Mittelpunkt und überschreitet dafür, ohne mit der Wimper zu zucken, so manche Grenzen. Er gab sich bereits als Latino-Sänger Chayanne aus – verteilte Poster mit seinem Bild, sowie CDs mit ge-fälschtem Booklet und verbreitete nachgedrehte Musikvideos im netz. Bei einem Schweizer textilunternehmen stellte er sich als John Gallagher, den Requisitenchef des Cirque du Soleil, vor und bestell- te für 2000 Schweizer Franken Jacken mit Zirkus-Logo. Der bekannteste Clou aber gelang ihm mit der Fälschung einer Gucci- Anzeige, die es im Februar 2007 sowohl in die Schweizer Gratis- zeitung » heute «, als auch in die » SonntagsZeitung «, mit der da- maligen Auflage von 202 000 Stück, geschafft hat. Der Preis für die Anzeige auf einer Doppelseite der » SonntagsZeitung « : ungefähr 60 000 Schweizer Franken. Die Inserate schaltete Juan selbst, als PR-Product-Manager von Gucci International in Zürich – die Rechnung ließ er selbstverständlich an Gucci liefern. Im Mai 2007 sprach Juan, der auch gerne unter dem Pseudonym » Watson «, dem treuen helfer des berühmten Detektivs Sherlock holmes, auftritt, mit Martina Kix über seine » Geschichte «.

So könnte es gewesen sein : Juan Isidro Casilla

wurde in der Domini- kanischen Republik ge- boren. Als seine Mutter

sich neu verheiratete, zogen die beiden zu

seinem künftigen Stief- vater in die Schweiz.

Dieser mochte ihn nicht. Juan war schwul,

es gab Ärger in der Schule, er kam in ein

heim. Fortan lebte er in seinen träumen als jemand anderes. Juan

begann eine Lehre zum Koch in der Kantine von IBM in Zürich,

jedoch kam er immer zu spät und flog. Juan

verbrachte Zeit mit seinem Vater und lebte

in New York. er hatte verschiedene Jobs, doch

keiner dauerte lange. Durch gefälschte

Gucci-Anzeigen wurde er weltbekannt. heute arbeitet Juan als pro-

fessionelles Model und ist in psychischer

Behandlung.

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Wie ist es zu der Gucci-Anzeige gekommen ?Ich habe viele Freunde, die in der Modebran- che arbeiten und die Magazine gestalten. Die haben mich gefragt, ob ich mal kurz für sie als Model posen könnte. Das war schön und angenehm. Dann hatte ich die Idee, das selbst in die hand zu nehmen. Ich habe einen Freund in New York, der mir die Gucci Logos besorgt hat. So ist die Werbung entstanden. nach Anzeigenschluss habe ich eine E-Mail an die Züricher SonntagsZeitung geschrieben, mit den Größenangaben und der Bitte, die Anzeige noch mit in die näch- ste Ausgabe zu nehmen. Als Rechnungsad-resse habe ich Gucci angegeben. Drei tage später war die Anzeige in der Zeitung.

Warum hast du das gemacht ? Ich hatte schon eine schwere Kindheit. Meine Mutter hat mich verstoßen und danach war ich mit meinem Vater unterwegs. Aber mein Vater war auch nie da, er hatte viel zu tun. Ich war immer nur auf mich gestellt. Mit 15 hatte ich alleine eine Wohnung in New York. Ich habe in einem goldenen Käfig gelebt. Ich hatte alles – außer Liebe und Zuneigung. Ich wollte immer Aufmerksamkeit – von je- dem. Dann habe ich mich für so etwas ent- schieden … Ich bin inzwischen in therapie bei einem Psychologen. Der ist aber zur Zeit im Urlaub.

Du hast ja mehrere Anzeigen gemacht … Pepe Jeans zum Beispiel …Stopp ! Die Pepe Jeans-Anzeige, ich weiß nicht, woher die Leute das haben. Das Foto war schon ein paar Mal online, aber ich habe die Anzeige nie veröffentlicht. Ich habe nur eine weitere Anzeige in einem Style Magazin in der Schweiz veröffentlicht. Das war aber Armani. Die Anzeige für Pepe Jeans hat jemand anderes gemacht. Der wollte das Schlimmste für mich und hat mich

quasi verraten. Jeder kannte mich hier in Zürich von meiner tour, die ich als Latin-Sänger Chayanne gemacht habe.

Also hast du den Künstlernamen gefaked ! Chayanne gibt es doch schon.nEIn, gefaked habe ich gar nichts. Ich bin kein » Gucci-Schwindler «. Ich habe mich jetzt geändert. Und meine Freunde akzep-tieren mich, wie ich bin. Ich habe ja meine Identität, ich habe einen Pass und ein Ge-burtsdatum und ich bereue, was war. Aber ich bin mir sicher, dass ich in Zukunft nichts mehr bereuen werde.

Warum Gucci ?Es kam einfach nur Gucci in Frage. nach meiner Werbung ist Gucci jetzt top und die nummer Eins. Vorher hat man nichts von Gucci gehört. Jetzt auf einmal wieder.

Durch dich ist Gucci bekannt geworden ?Ja, die Verkaufszahlen haben sich gesteigert.

Dann müsste Gucci sich ja bei dir bedanken !Ich habe keine einzige Anzeige bekommen, auch nicht von Armani. Ich habe mich ent- schuldigt und das war es. Jetzt arbeite ich wirklich als Model. Meine Anzeige publizie-ren sie überall. Von Brasilien über die USA bis Kanada war die Anzeige als richtige Werbung, mit mir als Model, gelaufen.

Hast du durch die ganzen Aktionen zu dir selbst gefunden ? Und wer ist das dann ?Ich bin neutral, direkt und offen. Ich bin ein Latino, aber kein typischer Latino – ich bin einfach ich. Die Leute, die mich kennen, wissen, wer ich bin. Ich weiß jetzt auch, wer ich bin. Das wusste ich vorher schon ein bisschen, aber durch die Aufmerksamkeit fühle ich mich sehr gut. Beser als jetzt, geht es nicht.

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mentir sans rougir

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na, hast du es bemerkt ? Du wurdest gerade gnadenlos belogen – zumindest sprechen alle Körpermerkmale Viktorias dafür. Sie schaut ausweichend nach rechts, hat eine übertriebene Mimik, spielt mit ihrer Unterlippe, verschränkt die Arme, kratzt sich verlegen im Gesicht, meidet den Blickkontakt und schwitzt grundlos. Zugege-ben, diese Lügen-Merkmale sind bekannt und leicht zu durchschauen. Doch auch die winzigste Gestik in unse-ren Gesichtszügen könnte uns als Lügner überführen, da die Mimik eng mit unseren Emotionen verbunden ist und diese unbewusst nach außen trägt.Emotionsforscher am Forschungszentrum für affektive Wissenschaften an der Universität Genf haben sich da- rauf spezialisiert, diese » ehrlichen « Gesichtsausdrücke zu lesen. Anhand eines Mimik-Wörterbuches analysie- ren sie jede noch so kleine Bewegung, die über das Gesicht vermeintlicher Lügner huscht. Für eine eindeuti- ge Lügendetektion reichen diese Analysen laut Dr. Klaus Scherer, dem Leiter des Forschungszentrums, jedoch nicht aus. Zum einen sei eine Lüge aufgrund unbekann- ter tatsachen nur schwer zu bestimmen und zum anderen würden viele täuschungen nicht willentlich begangen werden.

Wir danken Viktoria und dem Fotostudio Roger Richter

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vas-y !

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Die Medizin des Glaubens

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Kann dies das erhoffte Wunder sein? Ist die Heilung von Marie-Simon Pierre jene übernatürliche Bege-benheit, die zur Heiligsprechung von Papst Johannes Paul II. notwendig ist? Vier Jahre lang hatte die fran-zösische Nonne von der Kongregation der Kleinen Schwestern bei Aix-en-Provence an ihrer Parkinson-krankheit gelitten – bis plötzlich, am 2. Juni 2005, die Symptome auf wundersame Weise verschwan-den. Marie-Simon Pierre ist überzeugt : Geholfen ha- ben die Gebete ihrer Mitschwestern und ihr uner-schütterlicher Glaube an Papst Johannes Paul II.

Als dieser am 2. April 2005 starb, sei es ihr zu-nächst von Tag zu Tag schlechter gegangen, erzählt die Nonne. Doch viele Gebete und exakt zwei Mona-te später, so berichtete die Katholikin auf einer Pres-sekonferenz, seien alle Schmerzen verschwunden ge- wesen. Sie habe ihre Medikamente abgesetzt und einige Tage später ihren Neurologen aufgesucht, der » mit Erstaunen das Verschwinden aller Anzeichen « der Parkinsonkrankheit diagnostizierte.

Nun wird Marie-Simon Pierres Genesungsbe-richt im Vatikan geprüft als ernsthaftester Kandidat für jenes Wunder, das zur Heiligsprechung notwen-dig ist. Dazu muss es laut Definition des zweiten Konzils die » Bestätigung der Gegenwart von Gottes Reich auf der Erde « sein, auf den Einfluss des Ver-storbenen hindeuten und im Rahmen der derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnis nicht erklärt werden können. Doch vielleicht sollten sich die Wunderprü-fer mit ihrer Arbeit beeilen; denn der Rahmen der derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnis ändert sich gerade auf diesem ureigensten Gebiet der Kir-che rasant.

Zunehmend weisen Neurologen, Mediziner und Psychologen nach, wie stark Glaubensvorstellungen

den Heilungsprozess von Krankheiten beeinflussen. Pure Überzeugung kann Schmerzen lindern, Asth-ma bessern oder Allergien mindern. Und gerade Parkinson ist eines der Leiden, das besonders stark auf Placebobehandlungen anspricht : Mit Scheinthe-rapien lassen sich erstaunliche Erfolge erzielen. Was dabei wirkt, ist allein die Erwartungshaltung der Patienten.

Diese Macht der Erwartung wiesen amerikani-sche Forscher nach, die vor einigen Jahren Parkin-son-Patienten zum Schein operierten. Ihre 30 Pro-banden teilten sie in zwei Gruppen und klärten sie darüber auf, nur ein Teil von ihnen bekäme neue fötale Zellen ins Gehirn gespritzt. Alle Patienten wurden in den Operationssaal geschoben, betäubt und bekamen ihre Schädeldecke (zumindest ein we-nig) angebohrt. Als die Psychologin Cynthia McRae die Behandelten ein Jahr später nach dem Erfolg be-fragte, stellte sie erstaunt fest : Für das Wohlergehen der Patienten war es unerheblich, ob sie tatsächlich operiert worden waren oder nicht. Wichtig war ein-zig und allein, zu welcher Gruppe die Kranken zu gehören glaubten.

Für Forscher, die solche Phänomene studieren, ist der biblische Hinweis auf die Berge versetzende Kraft des Glaubens kein frommer Wunsch, sondern ein medizinischer Effekt, der eine rationale Grund-lage hat. » Wunderheilungen sind kein Voodoo, das können wir erklären «, ist Manfred Schedlowski überzeugt. » Eine starke Erwartungshaltung verän-dert die Gehirnchemie, Botenstoffe werden aus-geschüttet, und diese Veränderungen werden über das Nervensystem an den Körper weitergeleitet, wo sie häufig genau die gewünschten Wirkungen in Gang setzen «, sagt der Direktor des Instituts für

Die Kraft der Vorstellung kann Schmerzen lindern und Krankheiten

kurieren. Auch die Religion kann zum Placebo werden.

Die Wissenschaft erklärt, warum Jesus der perfekte heiler war :

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Medizinische Psychologie und Verhaltensimmunbio- logie am Universitätsklinikum Essen.

Um solche Mechanismen genauer aufzuklären, hat Schedlowski Ende November Forscher aus aller Welt zum bisher größten Treffen der Placebo-Zunft zusammengeführt. Gefördert von der VW-Stiftung, diskutierten sie in der Evangelischen Akademie Tutzing bei München drei Tage lang die wundersa-men Effekte der Placebomedizin. Das bekannteste, immer wieder zitierte Beispiel ist die Beobachtung

des amerikanischen Anästhesisten Hen-ry Beecher, der im Zweiten Welt-

krieg in einem Lazarett an der Front arbeitete. Als ihm das

schmerzlindernde Morphin ausging, spritzte er in sei-ner Not simple Koch-salzlösung – worauf viele Kranke erleich-tert von Besserung be-richteten. Unter dem Titel » The Powerful Placebo « veröffentlich-

te Beecher 1955 die erste wissenschaftliche Arbeit

über das Phänomen. Doch lange galt diese Art der » Glau-

bensmedizin « unter Medizinern als wenig seriös. Der Begriff Placebo (latei-

nisch : Ich werde gefallen) wurde meist abwertend ge-braucht, weil er eine unspezifische Wirkung bezeich-nete, die im Klinikalltag schwer zu packen war und den Pharmafirmen ihre Medikamentenstudien ver-fälschte. Seit einigen Jahren ändert sich diese Wahr-nehmung. Neurowissenschaftler können mit bild- gebenden Verfahren die Placebo-Wirkung immer besser verfolgen. Und in ausgeklügelten Studien zei-gen sich ständig neue Anwendungsfelder für eine ge-zielte Nutzung des Glaubens.

Kapseln wirken besser als tabletten und Sprit- zen besser als oral ein-genommene Arzneien.

Grüne und blaue Pillen wirken eher beruhigend, während weiße tablet-

ten eher Schmerzen lindern. Rote Placebos stimulieren, gelbe eig-

nen sich eher dazu, De- pressionen zu dämpfen.

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Einige der frappierendsten Beispiele stellte der ital- ienische Neurologe Fabrizio Benedetti vor. Er zeig-te, wie sich mit purem Nichts die Leistungsfähigkeit von Sportlern verbessern lässt. Um die oft schmerz-hafte Wettkampfsituation zu simulieren, ließ er seine Probanden einen Handex-pander drücken – und schnürte ihnen zugleich die Blutzufuhr zur Hand ab. Nach 15 Minuten wurde bei den meisten Versuchspersonen der Schmerz so unerträglich, dass sie aufgaben. In der zweiten Pha-se gab Benedetti ihnen ein star-kes Schmerzmittel, worauf sie 23 Minuten lang durchhielten. Eine Woche später wurde der Versuch wiederholt – diesmal mit wir-kungslosem Kochsalz. Doch die Überzeugung, es sei ein Schmerzmittel, beflügelte die Sportler derart, dass sie rund 20 Minuten überstanden. » Es ist also möglich, dopingähnliche Effekte ohne Doping zu erzie-len «, schließt Benedetti. Rad-sportler, aufgepasst!

» Und es geht sogar ohne Medikamente «, weiß Benedetti. Zum Beispiel, indem man Sport-lern im Fitnessstudio einen angeblich leistungsteigernden Drink reicht, während ein As-sistent heimlich die Gewichtslast verringert. Den scheinbaren Kraft-zuwachs schreiben die Trainierenden logischerweise dem Getränk zu. Wieder-holt man dies einige Male, sind die Sportler ir-gendwann von dem » Kraftdrink « so überzeugt, dass sie ihre Leistung tatsächlich erhöhen.

In all diesen Fällen wirken stets mehrere Mechanis-men zusammen. Zum einen hilft es, die Probanden auf den Erfolg einer Behandlung zu konditionieren. Hat jemand mehrfach die heilsame Wirkung einer

Substanz oder Therapie erlebt, reicht al-lein die Aussicht darauf, um die ent-

sprechenden körperlichen Funktio- nen in Gang zu setzen. Am dra-matischsten hat dies Manfred Schedlowski demonstriert. Er verabreichte Ratten zunächst eine Zuckerlösung, gekoppelt mit einem starken Medikament zur Unterdrückung des körper-eigenen Abwehrsystems. Nach einigen Wiederholungen reichte schon die Zuckerlösung, um die immunsuppressive Wirkung zu erzielen. Der Schlüsselreiz setz-te die Hormonkaskade derart in Gang, dass das eingepflanzte Herz einer fremden Ratte nicht mehr abgestoßen wurde, sondern bis zu 100 Tage überlebte. Viel-leicht, so hofft Schedlowski, ließe sich auf diese Weise auch beim Menschen die Gabe im-munsuppressiver Medikamente verringern.

Ebenso wichtig für die » Glaubensmedizin « scheint die Erwartungshaltung eines Patien-ten zu sein. Wer felsenfest an den

Erfolg einer Behandlung glaubt, setzt damit schon jene Selbsthei-

lungskräfte in Gang, die ihm letztlich Linderung verschaffen. Diese neurochemische

Wirkung lässt sich bei Parkinsonkranken sogar in bildgebenden Verfahren nachweisen.

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Ausgelöst wird Parkinson durch das Absterben von Zellen in der Substantia nigra, die den Botenstoff Dopamin herstellt. Der daraus resultierende Man-gel an Dopamin führt zu den bekannten Par-kinson-Symptomen – Muskelzittern, Starre bis hin zur Lähmung. Zur Behandlung des neurologischen Leidens wird häufig der dopaminähnliche Wirkstoff L-Dopa verordnet. Allerdings kann man die körpereigene Dopa-minproduktion auch anders ankurbeln : und zwar, indem man direkt das soge-nannte Belohnungszentrum im Hirn anregt. Denn in diesem Bereich um den Nucleus accumbens finden sich beson-ders viele Dopaminrezeptoren.

Die Parkinsonforscher Raúl de la Fu-ente-Fernández und A. Jon Stoessl mach-ten ihre Patienten glauben, ein wirksames Arzneimittel zu erhalten, und spritzten in Wahrheit Kochsalzlösung. Nach der Nicht-therapie fühlten sich einige Patienten prompt erheblich besser. Zugleich zeigte sich, dass in ihrem Gehirn vermehrt Dopamin aus- geschüttet wurde, und zwar gerade im Be-lohnungszentrum. Allein die Aussicht auf eine Belohnung hatte die entsprechenden Hirnzentren derart angeregt, dass sie jene Botenstoffe freisetzten, die schließlich den gewünschten Effekt bewirkten.

Offenbar kannte auch der größte Heiler der Christenheit diesen Mechanismus. Denn wann immer Jesus in der Bibel einen Kranken heil-te, etwa die » blutflüssige Frau « (Luk. 8.48) oder den Blinden (Luk. 18.42), spricht er die magische Formel : » Dein Glaube hat dir geholfen « (und nicht etwa : » Gott hat geholfen «).

Wirkt bei einer religiös Gläubigen – wie der Nonne Marie-Simon Pierre – also dieselbe Biolo-gie wie bei einem erwartungsfrohen Patienten, der an einer Zuckerpille gesundet ? Wer solche Fragen

auf der Tagung in Tutzing stellte, blickte meist in leicht gequälte Gesichter. Natürlich gebe es einen Zusammenhang, sagt Raúl de la Fuente-Fernández.

Aber es sei heikel, über solche Verbindungen zu spekulieren. Zu groß die Gefahr, dass sich Gläubige in ihren tiefsten Empfindun-

gen verletzt fühlen. Der Parkinsonforscher hat zwar eine ganze Menge Material über Religion und Placeboforschung gesammelt.

Zum Beispiel darüber, dass Alzheimer-Patienten meist sowohl das Interesse an Religion verlieren, als auch auf die Placebowirkung nicht mehr an-

sprechen (denn mit der Degeneration der neurochemischen Regelkreise um das Be- lohnungszentrum kommt ihnen jegliche Er-wartungshaltung abhanden). Aber über sol-che Zusammenhänge will Fuente-Fernández » nur im kleinen Kreis « reden.

So kommt es, dass die Religion in Tut-zing allenfalls in den abendlichen Gesprä-chen an der Bar eine Rolle spielt. Dort lässt sich Fabrizio Benedetti immerhin zu der Be-merkung hinreißen, dass beim Placeboeffekt ja die Erwartungshaltung eine entscheidende Rolle spiele – » und welche Erwartung könn-te größer sein, als der Glaube an die Erlö-sung im Himmel? «.

Ähnlich wie die Religion kann die Pla- cebogabe aber auch erhebliche Nebenwir-kungen haben. Als » Nocebo-Effekt « bezei-

chnen die Forscher die schädlichen Effekte eines negativen Glaubens. Wer etwa überzeugt ist, Han-dystrahlen verursachten Kopfweh, kann davon tat-sächlich Schmerzen bekommen – auch wenn das Mobiltelefon gar nicht strahlt. Das konnten norwe-gische Forscher kürzlich in einer Studie belegen, in der die Probanden verschiedenen Testsituationen ausgesetzt wurden. In 68 Prozent aller Fälle klagten

sie über Beschwerden – allerdings erwies es sich als

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unerheblich, ob die Telefone ein- oder ausgeschaltet waren. Die Symptome, schlussfolgerte die Physike-rin Gunnhild Oftedal, würden wohl nur » von negati-ven Erwartungen hervorgerufen «. Aus solchen Gründen werden auch Medikamenttests von Teilnehmern abgebrochen, die ein wirkungslo-ses Placebo erhalten haben – und dennoch über unerträgliche Nebenwirkungen klagen.

So gewaltig die Macht des Glaubens aber scheint – unbeschränkt ist sie nicht. Denn das Prinzip Hoffnung funk-tioniert nicht bei jedem in gleichem Maße. Im Mittel beträgt die Place-bowirkung 20 bis 50 Pro-zent – bei Einzelnen kann sie allerdings auch sehr viel höher oder niedriger liegen. Was die » Placebo-Sensitiven « von den » Nichtsensiti-ven « unterscheidet, ist weitgehend ungeklärt. Frauen reagieren im Allgemeinen nicht stärker als Männer, Ingenieure nicht anders als Haus-frauen, selbst der religiöse Glaube scheint kei-ne entscheidende Rolle zu spielen. Klar ist nur : Die individuellen Differenzen sind enorm.

Außerdem scheinen manche Leiden für die Heilkraft des Glaubens geradezu prädesti-niert; dazu gehören Parkinson, das Reizdarm-Syndrom, Allergien, Rückenbeschwerden und andere Schmerzerkrankungen – alles Leiden, bei denen die Psyche eine große Rolle spielt. Bei Krankheiten wie etwa Krebs dagegen hilft eine positive Erwartungshaltung vorwiegend bei der Bewältigung; das Tumorwachstum selbst lässt sich mit Placeboeffekten kaum be-einflussen.

Und nicht zuletzt scheint die Persönlichkeit des behandelnden Arztes einen enormen Einfluss zu ha-ben. Manche vermögen schon allein durch ihre Aus-strahlung beim Patienten heilende Kräfte in Gang zu setzen. Im gegenwärtigen Gesundheitssystem

wird dieses Arzt-Patienten-Verhältnis, wozu auch genügend Zeit für ein hilfreiches Gespräch gehört, allerdings kaum honoriert. Außerdem verbietet den

Ärzten ihre Aufklärungspflicht, den Glauben der Patienten auszunutzen. Zwar verschreiben sie in harmlosen Fällen gern mal ein » leich-tes pflanzliches Mittel «, doch bei ernsteren Fällen versagt dieses Placebo-Prinzip. Zum Schein therapieren dürfen Mediziner eben nur, wenn die Teilnehmer zumindest prinzi-

piell zugestimmt haben. Solche Einschränkungen machen es den Ärzten schwer, im Alltag öfter mal Placebo-Prozeduren

auszuprobieren – auch wenn deren Wirkungen mitunter über der einer biomedizinisch aner-kannten Therapie liegen können.

In diese Lücke stoßen Homöopathen, Akupunkteure und all die anderen Vertreter der Alternativmedizin, deren (oft unbestreit-bare) Behandlungserfolge zum großen Teil darauf beruhen, dass sie in ihren Patienten den rettenden Heilungsglauben wecken. Dass die Heilpraktiker allerdings entschieden darauf beharren müssen, es seien ihre Globuli (oder Nadeln oder Auratherapien), die da wirkten, wird im Lichte der Placeboforschung auch verständlich : Nur wer wirklich daran glaubt, kann schließlich die notwendige positive Er-wartungshaltung aufbauen.

Ähnliches gilt übrigens auch für die Re-ligion : Hätte etwa Marie-Simon Pierre nicht so ein festes Papst- und Gottvertrauen gehabt,

wäre ihre Parkinsonkrankheit wohl nie geheilt wor-den. Und vielleicht ist es ein Glück, dass sie die neu-robiologischen Mechanismen der Placebowirkung nicht kannte; sonst hätten sie womöglich nicht ge-wirkt. So gesehen, darf man die Genesung in Aix-en-Provence getrost als Wunder bezeichnen.

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Roswell07/08/1947Captain Bowman rieb sich den Schlaf aus den Au-gen und starrte auf sein eingefallenes, beinahe grau wirkendes Gesicht. Wenig hatte er geschlafen in den letzten zehn Stunden, die Ruhephasen in der Schwe-relosigkeit machten ihm noch immer zu schaffen. Seit er nach Cydonia beordert war, jenem Ort auf dem Mars, welcher seit 1948 den einzigen Außenpos-ten der Menschheit jenseits der Erde bildete, stand er unter ständiger Anspannung. Zuhause in der Heimat dachten alle, er sei nach Singapur gereist um einen Großauftrag für internetfähige Radiowecker zu ver-handeln. In Wirklichkeit befand er sich auf seiner dritten Marsreise, diesmal um mit den dort lebenden Außerirdischen vom Volk der Sarl den interstellaren Hochgeschwindigkeitsantrieb weiterzuentwickeln, der die Menschheit bis weit über die Grenzen des eigenen Sonnensystems reisen lassen würde.

Das kleine Shuttle landete unweit der großen Marsianischen Pyramiden und Bowman wurde durch das unterirdische Schnelltransportsystem innerhalb weniger Minuten zum subterranen Forschungskom-plex gebracht. Hier wurden seit den späten sechziger Jahren all die Errungenschaften entwickelt, welche der irdischen Menschheit in kleinen Häppchen als technologische Meilensteine verkauft wurden. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht als er an den Mi-krochip dachte, dank außerirdischer Entwicklungs-hilfe mehr als ein Jahrhundert vor seiner Zeit im Besitz der Menschheit. Es ging seit vielen Jahrzehn-ten nicht mehr darum, den Fortschritt zu beschleuni-gen – vielmehr bestand die größte Herausforderung darin, der Erdbevölkerung glaubhaft zu versichern diesen Fortschritt eigenhändig erreicht zu haben. Gentechnik, Hyperschallantriebe und Solarzellen — die Spitze des Eisbergs. Seit jenem verhängnisvollen Dienstag im Juli vor mehr als sechzig Jahren war die

Menschheit in zwei voneinander völlig unterschied-liche Gruppen gespalten. Die wenigen » Wissenden « standen vielen Millionen Brüdern und Schwestern gegenüber, die nicht den blassesten Schimmer hatten, was wirklich den Lauf der Weltgeschichte steuerte. Bereits wenige Wochen nach der freiwilligen Lan-dung der Außerirdischen hatte sich eine beispiello-se Maschinerie in Gang gesetzt, welche die totale Desinformation der Menschheit zur Aufgabe hatte. Androiden, organische Roboter, besetzten seitdem jede hohe Funktionsstelle in ausnahmslos allen Re-gierungen der Welt und sorgten für einen Deckman-tel unter welchen niemand, der nicht eingeweiht war, schauen konnte. Gezielt choreografierte internatio-nale Konflikte und Katastrophen hielten die Erdbe-völkerung seitdem erfolgreich davon ab, zu sehr in jenem Heuhaufen zu stochern, in dem sich die wohl spektakulärste Nadel der Neuzeit befand. Der kalte Krieg, Korea, Vietnam – einzig und allein für diesen einzigen, diesen höheren Zweck fingiert, bezahlt mit dem echtem Blut tausender und abertausender ah-nungsloser Narren. Durch einen kurzen Gedanken-impuls schaltete er sein schlechtes Gewissen mit Hilfe des Hirnimplantates aus.

Bowman befand sich nun im Cerberus-Kom-plex, jenem Bereich der Anlage, in der durch fort-schrittlichste Alien-Technologie hybridische Le-bensformen kreiert wurden, die die unglaublichen Strapazen eines Raum-Zeit-Sprungs bei Bewusst-sein überstehen konnten. Dolly, das erste Klon-Schaf sah gegen diese völlige Neukonstruktion an genetischem Code aus wie eine Schiefertafel gegen ein, heute auf der Erde so beliebtes, LCD-Display. In wenigen Jahren würden die seit langem bekannten, besiedelbaren Planeten außerhalb des Sonnensys-tems erreichbar sein. Würden sie dann auf eigenen

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Beinen stehen können? Würden die Menschen dann erfahren, was sie seit Jahrzehnten nicht einmal ahn-ten ? Er bezweifelte es. Sie waren unfähig ihrem ei-genen genetischen Code zuwider zu handeln. Das Recht des Stärkeren und der Wille zur Macht hatte sie zu dem gemacht was sie waren. Nahm man der Menschheit dieses evolutionäre Erbe, würden sie zu etwas anderem werden, und dessen wollte sich nie-mand schuldig machen. Sie würden ahnungslos blei-ben, aus purem Schutz vor sich selbst.

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Catch Me if You Can

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Die Geschichte Frank William Abagnales Jr. erzählt zwar vorder- gründig von einem jungen Hochstapler, der in wenigen Jahren den Erfahrungsschatz eines ganzen Lebens aufbaut, überschreitet aber den Rahmen einer Biographie als bloßer Wegbeschreibung, inso-fern sie dem anrüchigen Status von Täuschung und Lüge deren Ef-fektivität in der Lebensbewältigung gegenüberstellt.

Frank William Abagnale gelingt es, sich ohne eine besondere Aus-bildung Positionen anheischig zu machen, die ohne spezifische Kenntnisse und angelernte Fähigkeiten erfahrungsgemäß nicht zu bewältigen sind. Als Frank eines Tages auf der Straße einen Piloten der Panam mit seiner Entourage im Hotel absteigen sieht, hört man eben diesen Piloten zu einem Jungen, der ihn angesichts seiner Erscheinung und seines Status um ein Autogramm bittet, sagen : » Willst du mal Pilot werden ? – Dann sei schön fleißig in der Schule ! « – Als sei dies der Königsweg zu seiner Position. Ei-nige Szenen später wird der Zuschauer Zeuge, wie Frank Abagnale ihn Lügen straft. Die administrative Organisation der Panam zu nutzen wissend, beschafft er sich die Uniform eines Kopiloten und fliegt in dieser Maskerade von Küste zu Küste. Mit Charme und einem Gespür für das richtige Auftreten besorgt Frank sich genau die Auskünfte und Informationen, die er für seinen Schwindel be- nötigt. Man könnte fast annehmen, Frank Abagnale sei in die Schule von Maurice Joly gegangen, der sich in seinem Handbuch für Aufsteiger eben dieser Thematik annimmt :

» ... denn erfolgreich ist man : 1. Weil man Eigenschaften

» Catch Me If You Can « orientiert sich an

der Biographie Frank William Abagnales,

der sich in den Jahren zwischen 1963

und 1969 – noch vor seinem einundzwan-

zigsten Lebensjahr – als Kopilot, Arzt und

Anwalt durchs Leben mogelte und diesen

Lebensstil mit umfangreichem Scheckbe-

trug finanzierte.

Die Geschichte des Frank W. Abagnales

beruht auf einer wahren Begebenheit. Er wurde

am 27. April 1948 in Bronxville, New York, geboren. nachdem er

wegen hochstapelei und Scheckfälschung verhaftet wurde und

mehrere Jahre im Ge- fängnis saß, bot ihm

1974 die US-amerika-nische Regierung die

vorzeitige Freilassung gegen seine Koopera-

tion bei der Verbre-chensbekämpfung an.

heute ist er mit seinem Unternehmen

Abagnale & Associates vor allem in Sachen

Scheckbetrug und Dokumentenfälschung

als Berater diverser Banken, hotels,

Fluglinien und anderer Unternehmen tätig.

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Mimikry. Eine Form der Schutzanpassung : nachahmung eines ungenießbaren oder wehrhaften Vorbildes durch Signalfälschung

Batesische Mimikry : Ein ungeschütztes tier ahmt ein geschütztes (wehrhaftes) Tier nach

Müllersche Mimikry : Mehrere geschützte (wehrhafte oder unge- nießbare) Tiere ähneln sich

besitzt, die Einfluss auf die Gesellschaft und die Menschen besit-zen. 2. Weil die Umstände einem zu Hilfe kommen. Man scheitert jedoch, wenn das Gegenteil der Fall ist. ... Da das Geheimnis des Erfolges lediglich in der Kunst besteht, die Menschen so weit zu bringen, dass sie dem Gelingen unserer Absichten dienen, muss man zuerst sehen, wie die Menschen in die Elemente des Kalküls [eines erfolgreichen Werdegangs] Eingang finden. ... Menschen, die andere benötigen, haben nur eine Möglichkeit, diese so weit zu bringen, dass sie ihren Interessen dienstbar werden, nämlich ihnen zu gefallen. «

Jede Profession bringt zwei Aspekte mit sich : die Tätigkeit an sich und das damit verbundene Image in der Gesellschaft. Frank Ab-agnale geht es um letzteres. Man darf hinsichtlich des ersten As- pektes allerdings nicht vergessen, dass die meisten Berufe nicht im stillen Kämmerlein ausgeübt werden. Man ist zumeist in arbeitstei-lige Prozesse eingebunden und insofern wesentlich vom Wohlwol-len und den Interessen der daran Beteiligten abhängig.

Wenn wir dem Bekenntnis Jolys Wahrheit unterstellen, sind fachliche Fertigkeiten bestenfalls eine notwendige Bedingung für Erfolg, und erst zusammen mit dem gekonnten Umgang mit ande-ren werden sie hinreichend. Den Anteil jeder dieser beiden Kom-ponenten am Erfolg wird man am ehesten gewahr, wenn man sie isoliert betrachtet, reine fachliche Kompetenz auf einer Seite und den Menschenkenner auf der anderen. Und diese Trennung der Charaktere finden wir in Catch Me If You Can vor. Die Geschichte bietet zwei Figuren auf, die die in Rede stehende Teilung verkör-pern : Frank William Abagnale Jr. und Carl Hanratty. Der eine lan-ciert mit einnehmender Wesensart und ohne einschlägige Ausbil-dung gleich mehrere Karrieren als Kopilot, Arzt und Anwalt, der andere folgt in kalkulatorischer Manier seinem Auftrag, akkurat und nüchtern wie ein Schachspieler, getragen von dem Apparat einer Behörde und so nicht darauf angewiesen, sich erfolgverspre-chend zu verkaufen.

Abagnale und Hanratty sind trotz augenfälliger Gemeinsam-keiten – Hanratty ist wie Frank ein Einzelgänger und Außenseiter, von seinen Kollegen ob seiner Humorlosigkeit und verbissenen Ge-wissenhaftigkeit abgelehnt – Antipoden.

Man beachte, dass Frank betont höflich auftritt, ja, geradezu char-mant daherkommt, immer darauf bedacht, bei seinem Gegenüber ein Wohlempfinden (für ihn) zu erzeugen. Hat er sich erst eine

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Position erlogen, gelingt es ihm, sich dort durch Imitation der ty-pischen Verhaltensweisen (angelernt durch extensives Studium von Fernsehserien) und geschicktes Deligieren (» Sind Sie d’accord ? «) eine Zeit lang zu halten. Hanratty hingegen wirkt im zwischenmen- schlichen Kontakt ausgesprochen spröde, zur Gänze auf die Sache konzentriert. Er käme nie auf den Gedanken gefallen zu wollen, nur um seinen Zielen näher zu kommen; müsste er seinen Lebens-unterhalt als Handlungsreisender verdienen, er würde in kürzester Zeit verhungern. Hanratty verfolgt seine Angelegenheiten mit ei-ner Zuverlässigkeit, wie eine informationsverarbeitende Maschine es täte, wenn man sie entsprechend programmierte. Er gehört zu jener Spezies Mensch, die, wie man so schön sagt, zum Lachen in den Keller geht.

Hanratty setzt auf wahre Worte, Frank setzt auf schöne Worte. Er hat gelernt : Schmeicheleien sind Falschgeld, das ohne die Eitelkeit der Adressaten keinen Kurswert hätte. Hanrattys Credo lautet : Es kommt im Leben darauf an, wer du bist. Franks Credo hält dem entgegen : Es kommt im Leben darauf an, wie du wahrgenommen wirst. Frank nutzt den Umstand, dass der Orden an der Jacke und nicht an der Brust hängt. Seine einnehmende Art ist gleichsam der Katalysator für die Wirksamkeit seiner Täuschungsmanöver. Letztlich reduziert sich alles auf Täuschung : Was sonst ist die Kunst zu gefallen als die Kunst zu täuschen.

Franks Existenz entwickelt sich im Lauf der Zeit zu einer einzigen Camouflage. Als er merkt, dass er mit seinen kleinen Gaunereien, Lügen und Täuschungsmanövern durchkommt, wird er zusehends dreister und selbstsicherer; und was für Frank als ein Durchla-vieren durchs Leben beginnt, nimmt für ihn mehr und mehr die Leichtigkeit und Nonchalance eines Spiels an.

Seinen ersten signifikanten Auftritt als Hochstapler unternimmt Frank als ihn seine Mutter, der nach der Scheidung das Sorge-recht zugesprochen wurde, nach einem Schulwechsel zum College bringt. Bedingt durch Habitus und Kleidung hebt Frank sich von den anderen Jugendlichen seines Alters ab. Das grenzt ihn aus, aber er beherrscht das Kunststück, diese Ausgegrenztheit in den Augen der anderen in eine exponierte Position umzudeuten. Als er von einem Mitschüler absichtlich angerempelt wird und zudem erfährt, dass er mit dem Rüpel den gleichen Kurs besucht, schlägt er instinktiv mit seinen ureigenen Waffen zurück : gekonnte

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Hochstapelei. Frank gibt sich kurzerhand als Aushilfslehrer des Kurses aus. Bereits bei dieser Premiere offenbart Frank die Qua-litäten des erfolgreichen con artist bzw. con man, wie es im an-gelsächsischen Sprachraum heißt. Er tritt in seiner Rolle souverän und bestimmt auf ohne die leiseste Unsicherheit oder Schwäche erkennen zu lassen. Als die richtige Lehrerin aufkreuzt, behält er die Nerven und hält sein Trugbild aufrecht. Franks Chuzpe wird belohnt, die Dame zieht empört ob der anscheinend desolaten Ko-ordination des Dienstplans wieder ab. Erst nach einigen Wochen fliegt der Schwindel auf und seine Eltern werden zur Schulleitung zitiert. Die vom Schuldirektor erhoffte Folge – eine erzieherische Maßnahme durch die Eltern – bleibt jedoch aus : vor allem Franks Vater betrachtet die Caprice seines Sohnes weniger als Verfehlung denn als Erfolg.

Ein solches Husarenstück gelingt Frank bei anderer Gelegenheit noch einmal : als es Carl Hanratty, seinem strategischen und exis-tentiellen Antagonisten, endlich gelingt, ihn in einem Hotel in Los Angeles aufzuspüren, mimt Frank geistesgegenwärtig einen Agenten des Secret Service, der angeblich an demselben Fall ar-beitet. Selbst unter vorgehaltener Waffe Hanrattys gelingt es ihm, seinen ausgesprochen argwöhnischen Verfolger von seiner Mimi-kry zu überzeugen. Das verschafft Frank den nötigen Freiraum zur Flucht.

Dieses Duell in dem ungleichen Katz-und-Maus-Spiel entscheidet Frank Abagnale bravourös für sich, wiewohl er à la long nicht ent-kommen kann : Hanratty kann sich Fehler leisten, Frank kosten sie den Kopf, wenn er sie macht.

Frank verinnerlicht ein Grundprinzip des sozialen Aufstiegs, das ihm sein Vater ans Herz gelegt hat : Um in der Gesellschaft Fuß zu fassen, unternehme man alles, um zu scheinen, als ob man in ihr schon Fuß gefasst hätte, sei es durch Kleidung, Auftreten, passende Verbindungen, wie eine Mitgliedschaft im Rotary-Club, oder sons-tige sichtbare Insignien des arrivierten Mannes.

Ausgestattet mit seinen Talenten, Neigungen und Vaters Rat-schlägen versucht Frank sich durchs Leben zu schlagen. » Lieber Paps, du hast einmal gesagt, dass ein ehrlicher Mensch nichts zu fürchten hat. Also versuche ich keine Angst zu haben. « Vaters Ma-xime, eigentlich als Lektion gedacht, dass ein ruhiges Gewissen nur mit Ehrlichkeit zu haben ist, wendet Frank zu seinen Gunsten :

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aus » Wenn du nur ehrlich bist, dann brauchst du nichts zu fürch-ten «, macht er » Solange du keine Angst erkennen lässt, unterstellt man dir Wahrhaftigkeit «, was, nebenbei bemerkt, korrekt aus Va-ters Lektion gefolgert ist.

In einem Telefongespräch an Heiligabend, nachdem Frank Carl im Büro angerufen hat, thematisieren sie, wie es Frank bei ihrem ers-ten Treffen in Los Angeles erfolgreich gelingen konnte, den Agen-ten vorzuspielen.

» Ich wusste, dass Sie es sind ! Ich habe Sie nicht zur Strecke gebracht [seinerzeit im Hotelzimmer], aber ich wusste, dass Sie es sind ! « behauptet Hanratty wenig überzeugend. Dem entgegnet Frank mit einer Bemerkung, deren Wahrheit nicht zu leugnen ist:

» Die Leute wissen immer nur, was sie gesagt bekommen. «» Dann sagen Sie mir eins : Woher haben Sie gewusst, dass

ich nicht in Ihre Brieftasche sehe ? « (Frank hat Hanratty seiner-zeit im besagten Hotelzimmer seine Brieftasche übergeben mit der Aufforderung, sich selbst von seiner Identität als Agent des Secret Service zu überzeugen; allerdings in der Erwartung, dass Hanratty von der bloßen Geste der Übergabe schon überzeugt genug sei, was auch funktioniert hat.)

» Aus demselben Grund, aus dem die New York Yankees im-mer gewinnen : Der Gegner lässt sich von den Nadelstreifen-Tri-kots ablenken. « erklärt Frank.

Hanratty verneint seiner Überzeugung folgend mit dem Hin-weis auf den Star der Mannschaft, Micky Mantle, sprich, überlege-ne Spielstärke (fachliche Kompetenz !).

Ohne den Streit zwischen den beiden Auffassungen von er-folgsträchtigem Tun an dieser Stelle entscheiden zu wollen, sei ver-merkt, dass die Wirkung richtig gewählter Theatralik, nicht nur im Sport, keine bloße Hypothese ist. Letztlich ist Franks Entkommen Beweis genug für die Wirksamkeit seiner Mittel.

Nun könnte man dem entgegenhalten, dass Frank am Ende, sprich langfristig, doch gescheitert ist und den von Hanratty reprä-sentierten Leistungsprinzipien unterlegen ist. Allerdings scheitert Frank am Ende nicht, weil seine » Methode « nicht (mehr) funkti-oniert, sondern weil er es zu weit treibt. Einer der beiden maßgeb-lichen Fehler, die Frank sich leistet und die letztlich sein Scheitern bewirken, fußt auf dem Umstand, dass er die Grenze des gesetzlich Erlaubten überschreitet; der andere besteht darin, dass er gegen eine Grundregel des Risikomanagements (wie es im Neudeutsch

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heißt) verstößt : man muss den richtigen Zeitpunkt abpassen, wann man seine Gewinne in Sicherheit bringt. In seinem Handorakel no-tiert Baltasar Gracian dazu:

» So machen es alle Spieler von Ruf. Ein schöner Rückzug ist ebenso viel wert als ein kühner Angriff. Man bringe seine Taten, wenn ihrer genug, wenn ihrer viele sind, in Sicherheit. Ein lange anhaltendes Glück ist allemal verdächtig : das unterbrochene ist sicherer und das süßsaure desselben sogar dem Geschmack ange-nehmer. Je mehr sich Glück auf Glück häuft, desto mehr Gefahr laufen sie auszugleiten und alle miteinander niederzustürzen. Die Höhe der Gunst wird oft durch die Kürze ihrer Dauer aufgewo-gen; das Glück wird es müde, einen so lange auf den Schultern zu tragen. «

So ergeht es auch Frank. Das Gesamtvolumen seiner getürkten Schecks nimmt ebenso zu wie die Mannstärke der Einsatzkräfte, die ihm auf den Fersen sind. Er überspannt den Bogen. Als Frank dann auch noch zu allem Überfluss sein Herz an Brenda verliert, eine Krankenschwester in einem Hospital, in das er sich als Ober-arzt eingeschlichen hat, gerät er in eine Lage, die ihn mit einer neuen Situation konfrontiert : bislang hat er gänzlich unabhängig operiert, mit anderen Worten er hat sich an nichts gehängt, wovon er sich nicht im Handumdrehen trennen konnte, wenn er merkte, dass ihm der Boden zu heiß wurde.

Durch Brenda ist plötzlich eine Abhängigkeit entstanden, die seine Bewegungsfreiheit erheblich einschränkt. In einem Anflug von Verzweiflung und Naivität fleht er Hanratty am Telefon an, al-les zu vergessen, was bisher geschah und im Gegenzug mit seinen Gaunereien aufzuhören. Hanratty erteilt ihm erwartungsgemäß eine Absage.

Franks Beziehung zu Brenda zieht noch weitere Kalamitäten nach sich. Er ist jetzt genötigt gegenüber Brendas Eltern eine erlo-gene Existenz aufrecht zu erhalten. Bislang hat Frank nur Fremde belogen, Menschen, denen er nur ein, zwei Male begegnet ist; jetzt ist er gezwungen, Menschen zu belügen, die ihm nahe stehen.

In einem Gespräch unter vier Augen bringt Brendas Vater, selbst erfolgreicher Jurist, Frank gegenüber sein Erstaunen über eine derartig exorbitante Karriere zum Ausdruck : » Anwalt, Arzt, Lu-theraner ? Wer sind Sie, Frank ? Da ich davon ausgehe, dass Sie um die Hand meiner Tochter anhalten, habe ich ein Recht, das zu

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erfahren. «, » Was zu erfahren, Sir ? « – » Die Wahrheit ! «. Wäh-rend Brendas Vater mit dieser Frage auf den Menschen hinter die-sem Werdegang anspielt, ohne die Authentizität der vorgespielten Existenz in Zweifel zu ziehen, interpretiert Frank diesen Vorstoß als Enttarnung und offenbart sich : Anwalt, Arzt, Lutheraner, ... alles gelogen ! Doch Brendas Vater reagiert auf Franks Beichte an-ders als man zunächst erwarten möchte : er deutet das Geständnis so, dass die Fassade, die Frank aufgezogen hat, keinen Schaden nimmt. Er tut dies nicht, weil er Franks Identität als Täuschung ak-zeptiert und entschuldigt, nein, Frank hat sich bereits in sein Herz geschlichen. Es ist eine landläufige Gewissheit, dass wir alles, was einen uns sympathischen Menschen betrifft (von einem geliebten Menschen ganz zu schweigen), zu seinen Gunsten auslegen. Was wir von einem Menschen denken, hängt davon ab, was wir für ihn empfinden. Werfen wir noch einen Blick in Gracians Handorakel.

» Das Wesentliche in den Dingen ist nicht ausreichend, auch die begleitenden Umstände sind erfordert. Eine schlechte Art verdirbt alles, sogar Recht und Vernunft; die gute Art hingegen kann alles ersetzen, vergoldet das Nein, versüßt die Wahrheit und schminkt das Alter selbst. Das Wie tut gar viel zur Sachen, die artige Ma-nier ist ein Taschendieb der Herzen. Ein schönes Benehmen ist der Schmuck des Lebens, und jeder angenehme Ausdruck hilft wun-dervoll von der Stelle. «

Frank William Abagnale, ein Taschendieb der Herzen ...

Mimikry :

62 orginal : Vespula vulgaris63 fake : Sesia apiformis, Clytus arietis, Syrphus ribesii

64 orginal : Canthigaster valentini65 fake : Paraluteres prionurus

66 orginal : Micrurus tener67 fake : Lampropeltis triangulum

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Amauris ochlea hypolimnas deceptor

Danaus chrysippus hypolimnas misippus

Amauris albimaculata Pseudacraea lucretia tarquinia

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ob Arbeitslosigkeit, Krankheit oder gar Ge- fängnisaufenthalt – ein Lebenslauf kann viele Schwachpunkte haben, die Personal-chefs besser nicht sehen. Das müssen sie auch nicht. Denn in bestimmten Situationen gibt es ein » Recht zur Lüge «, erläutert die Rechtsanwältin Verena Rottmann.Die Wahrheit lasse sich in vielen Fällen be- schönigen, ohne die lediglich in einigen Fällen geltende Wahrheitspflicht zu verletzen. » nur wer weiß, was ein Personalchef hören will, bekommt den Job «, ermuntert die Ar-beitsrechtlerin zur Kreativität im Lebenslauf.Grundsätzlich muss ein Bewerber nur solche Dinge von sich offenbaren, die für die in Aussicht genommene Arbeit von Bedeutung sind. Lücken im Lebenslauf sollten durchaus mit erfundenen, allerdings nicht nachprüf-baren tätigkeiten ausgefüllt werden.

Arbeitslose Väter mit Kindern im betreuungs- bedürftigen Alter könnten die Phase der Arbeitslosigkeit im Lebenslauf durchaus als Familienpause angeben. Bei längeren Krank- heiten oder therapien, etwa wegen Alkohol- oder Drogenproblemen, sollten Lücken in der Vita möglichst mit tätigkeiten ausgefüllt werden, die eine sinnvolle Ergänzung zur bisherigen beruflichen Laufbahn darstellen.Denn : » Es ist Ihr gutes Recht, eine bezwun-gene Sucht zu verheimlichen «, erklärt die Expertin. Als Beispiel für Lückenfüller nennt sie Fortbildungen oder die Ausübung einer selbstständigen tätigkeit.Ebenso sollten kürzere Gefängnisaufent-halte im Lebenslauf möglichst verheimlicht werden. Bei mehrjährigen haftstrafen sei dies zwar schwierig, allerdings sollten Be- werber hier eher von längeren Auslands-

Darf man unangenehme Etappen im Lebenslauf vertuschen ?

Und wenn ja, wie ? Welche Fragen sind im Vorstellungsgespräch

zulässig, welche unzulässig und wie reagiert man am besten

auf provokative Fragen ?

Antworten darauf gibt es und sie sind gesetzlich geregelt.

Viele davon lassen sich auf ein grundsätzliches Prinzip zurück-

führen – dem der Gleichberechtigung.

Du darfst !

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aufenthalten mit selbstständigen tätigkeiten sprechen, über die es keine Bescheinigun-gen gibt. Auf ein Vorstellungsgespräch sollte sich der Bewerber allerdings sehr gut vorbe-reiten, damit die Notlüge nicht auffliegt.Das » Recht zur Lüge « gibt es nach Angaben der Juristin nicht nur im Lebenslauf, sondern auch beim Vorstellungsgespräch. nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgericht muss ein Arbeitnehmer nur auf juristisch zu- lässige Fragen wahrheitsgemäß antworten. Dagegen darf er bei unzulässigen Fragen durchaus lügen, da er ansonsten wahrschein- lich im Bewerbungsverfahren den Kürzeren ziehen wird.nicht erlaubt sind beispielsweise Fragen nach der Familienplanung, einer bestehen- den Schwangerschaft, der Konfession, nach der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft,

einer Partei, nach Vorstrafen sowie nach dem Wehr- oder Ersatzdienst.Solche Fragen sind lediglich dann zulässig, wenn sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der tätigkeit stehen. Ein kirchlicher Ar- beitgeber darf durchaus nach der Konfes- sion fragen, nicht aber nach einer Abtreib- ung. Ein Arbeitgeber, der einen Bankkassie- rer sucht, kann problemlos nach vermögens-rechtlichen Straftaten fragen. Ist jedoch ein konkreter Bezug nicht zu erkennen, darf getrost gelogen werden, empfiehlt Rottmann.

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BAUtEILE :0. Platine 1. Widerstände R1-R4 2. Kondensator C1 3. Trimmpoten-tiometer P1 4. Transistoren T1-T3 5. Lötstifte 6. Leuchtdiode LD1 7. Batterieclip 8. isolierte Litzen (10cm) 9. Cent-Stücke (2) 10. 9-Volt Batterie

hoW to Löt :Man braucht Elektronik- Lötzinn » SN 60 Pb « sowie einen kleinen Lötkolben mit max. 30 Watt heizleistung. Lötzinn direkt über Bau- teildraht und Leiterbahn erwärmen und auf Ver- bindung tropfen lassen. 5 Sek. nicht bewegen. Überstehende An- schlussdrähte abschnei-den. Die Lötstelle muss silbrig glänzen und die Leiterbahnen dürfen nicht mit Zinn über-brückt sein.

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Lügen hat Auswirkungen auf den Körper, zum Beispiel die Veränderung des hautwider- standes. Der Lügendetektor stellt diese Ab- weichung fest und zeigt sie über die LED an.

Am besten man kauft einen Bausatz, wie er in jedem elektroladen zu finden ist (Bsp. von » conrad «). Zusätzlich braucht man : Batterie, Litzen, Cent-Stücke, Lötkolben und Lötzinn.

1. Widerstände : Anschlussdrähte in vorge- sehene Bohrung stecken und mit Leiterbahnen auf der Rückseite verlöten. R1=100k = braun, schwarz, gelb R2/R3 = 10k = braun, schwarz, orange R4 = 220 R = rot, rot, braun

2. Kondensator einsetzen und anlöten

3. Trimmpotentiometer in Schaltung löten.

4. transistoren : Dem Bestückungsplan ent- sprechend mit 5 mm Abstand zur Platine einsetzen und anlöten.

5. Lötstifte einsetzen und anlöten.

6. Leuchtdiode : Das kürzere Bein (Kathode) muss auf der Minus - Seite eingesteckt und angelötet werden.

7. Batterie-Clip polungsrichtig anlöten : Rot zu Plus, Schwarz zu Minus.

8. Litzen an die Lötstifte anlöten.

9. Mit den anderen enden eine Verbindung zu den Cent-Stücken herstellen.

10. 9-Volt Batterie an den Clip anschließen.

Der Lügendetektor ist fertig und kann getes- tet werden : Die Sensoren im Abstand von 3 cm in einer Hand halten. Schleifer des trimmpotentiometers so drehen, dass die LED erlischt (nach links wird es unempfindlicher). Wenn die LED leuchtet, wird gelogen!

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Echte ! Frauen ! Auf Werbeplakaten ! Für Kosmetik ! Ausgerechnet ! Damit machte die Kosmetikfirma Dove vor fünf Jahren von sich reden. Sie bewarb ihre Produkte nicht mit Models, sondern eben mit » echten Frauen « samt ihrer kleinen Makel wie Pölsterchen, Fältchen, narben oder Sommersprossen. Auf Riesenplakaten. Und alle sprachen darüber : Journalisten in sämtlichen Medien, andere echte Frauen und vielleicht sogar echte Männer an echten Stamm- tischen. Inzwischen wissen wir : sogar diese Kampagne, die ange- blich so großen Wert auf eine unverfälschte Wiedergabe der Re- alität legte, war ein Schwindel. Die » echten Frauen « stammten aus Agenturen, die sich auf » normalo-Models « spezialisiert hatten; das heißt, dass die Models zwar nicht überirdisch schön, aber doch ganz gut aussehen müssen, um dort in die Kartei zu gelangen; natürlich wurden die » echten Frauen « zuvor gecastet und natürlich wurden auch in diesem Fall die Aufnahmen von Spezialisten nach-bearbeitet, die Polster in Pölsterchen verwandelten. Und wissen Sie was ? Das finde ich völlig in Ordnung. Werbung lügt und das auf eine sehr ehrliche Art und Weise : hüftlanges, golden schimmerndes haar fällt in Slow-Motion auf elfenbeinfarbene Schu-ltern, weil : sie es sich wert ist; Elfen mit Beinen ohne Dellen und Reiterhosen räkeln sich auf Bushaltestellenplakaten in Billig-Slips von h&M, die aussehen, als würden sie siebzig Euro pro Stück kos-ten. Coole Menschen in coolen Klamotten tanzen zu cooler Musik, trinken eisgekühlte Getränke und treffen die heißeste Frau ihres Lebens; untergewichtige Schönheiten futtern Joghurtschokolade aus dem Kühlschrank und behaupten, auf diese Weise ihr Untergewicht halten zu können. Wie jeder weiß ich, dass Werbung alle möglichen Formen der Lüge nutzt : Übertreibung, Untertreibung, Euphemismen, Verschweigen, Kitsch, Extensions – und Photoshop. Wie jeder weiß ich auch, dass h&M-Slips prinzipiell nach dem dritten Waschen zerfransen und dass eine tafel Joghurtschokolade genauso viele Kalorien hat wie eine tafel nougatschokolade. Das steht sogar hinten drauf. Doch Werbung spielt mit Wünschen, träumen und hoffnungen und dieses Spiel gucke ich mir gerne an – wenn es gut gemacht ist. Denn auch ich träume gerne – vor allem beim thema Schokolade. Darum : Wer mich so ehrlich anlügt wie Werbung, dem kann ich nicht böse sein. Echt. Wahr.

ein aufrichtiges Statement

Die Journalistin Claudia Mayer hat für Pro Sieben das Sende- format Galileo mitent-wickelt und ist seit über acht Jahren Mitglied der Redaktion. Zudem schreibt sie für Zeit-schriften wie neon, SZ-Wissen sowie den Wissenschaftsteil der Süddeutschen Zeitung. Ihr Buch – Lob der Lüge – stellen wir in der Rubrik » Empfeh-lungen « vor.

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eMpfehlunGenzu dieser Ausgabe

und mehr

» Lügen – aber richtig! « von Peter Stiegnitz

» Lügen – aber richtig ! « umfasst die wichtigsten Ergebnisse aus über 30 Jahren Lügenforschung. Das Buch stellt ein komplexes Plädoyer für ein friedliches, lügen-volles Miteinander dar. ( › S. 28)edition Va Bene (2008)

» Die Vermessung des Glaubens « von Ulrich Schnabel

Was kann Glaube bewir-ken ? Ulrich Schnabel nimmt uns mit auf eine Forschungsreise, die den angestaubten Gegen- satz zwischen Wissen-schaft und Religion aus den Angeln hebt. ( › S. 50)Pantheon (2010)

» Catch Me If You Can « von Steven Spielberg

Die Geschichte Frank Abagnales, besetzt mit Leonardo DiCaprio und Tom Hanks. Abagnale selbst spielt den franzö-sischen Polizisten, der ihn am Heiligen Abend in Montrichard verhaf-tet. ( › S. 58)(2002)

» Lob der Lüge « von Claudia Mayer

Mit Humor und vielen unterhaltsamen Bei-spielen aus dem Alltag nähert sich Claudia Mayer den verschiede-nen Facetten der Lüge und erläutert, warum wir ohne sie nicht leben können. ( › S. 76)ullstein (2009)

» Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Die Weltgeschichte der Lüge « von Dieter hildebrandt und Roger Willemsen

Die beiden prominenten Kulturschaffenden för-dern Staunenswertes zu Tage. Mit der » Weltge-schichte der Lüge « standen sie 2007 zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne.Random house Audio

» 39,90 « von Frédéric Beigbeder

2001 veröffentlichte Beigbeder seinen Roman und stellte damit seine eigene Branche, die Wer- bung, bloß. Überdeut- lich zeigt die Geschich- te, wie Menschenmas-sen durch Illusionen gesteuert werden. 2007 kam der gleichnamige Film in die Kinos.Rowohlt (2001)

» the Invention of Lying « von Ricky Gervais und Matthew Robinson

Der Film spielt in einer alternativen Realität, in der es keine Lügen gibt – bis Mark ganz un- erwartet die erste Un- wahrheit der Menschheit ausspricht. Er merkt, wie viel er dadurch er- reichen kann – abge-sehen vom Herz seiner Liebsten.(2009)

Lügentour

Eine andere Stadtfüh-rung durch Berlin zum Mitdenken. Christa Saffrahn erzählt unter-wegs wichtige Fakten, Legenden, Anekdoten und Geschichten sowie frei erfundene Lügen. Die Auflösung folgt am Ende der Tour.luegentour.de

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80 ÜBERBLICK

#2

VeRgÄNgLiCHKeiT» Ich habe meiner oma das Internet erklärt ! « Über die Absurdität der Zeit

#3

MaSSe» Yes We Can ! « Über Impulse, Phänome und den Schneeballeffekt

#1

Lüge

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SenSation

#4

SUPeRLaTiV» More Drama ! « Warum sich die Welt in Extreme teilt

#5

üBeRRaSCHUNg» Jetzt darfst du kucken ! « Über Vorfreude und böses Erwachen

#6

WUNDeR» ... gibt es immer wieder « Warum das Unerklärliche so fasziniert

In den kommenden fünf KONSTRUKT Ausgaben wird

die Sensation von folgenden Seiten beleuchtet :

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82 ContRIBUtoRS & IMPRESSUM

MeRci ! Art Direction & Redaktion Blanka Bopp

Stefanie Jellen Martha Richter

texte Dr. Marcus Andreasson Ralf Beunink Fabian Dietrich Christian Ewers Martina Kix Fabian Kupper Claudia Mayer Dr. Matthias Riedel Ulrich Schnabel David Schneider Dr. Peter Stiegnitz & KonStRUKt

Bilder henk Bijsterbosch timm häneke Ramon haindl & KONSTRUKT

weitere Marie Arvieu Isabelle Diefenbach Sebastian heindorff Viktoria Lewowsky Stephan Powilat Dr. Walter Weiss Stefan Zahm

KONSTRUKT dankt allen, die das Magazin ermöglicht haben !

Ganz besonders allen Autoren, die in so kurzer Zeit und nur für Ruhm und Ehre die Ausgabe mit ihren Beiträgen bereichert haben.

Danke an Roger Richter, in dessen Foto-studio die Bildstrecke » mentir sans rougir « unter professionellen Bedingungen mit Unterstützung von Marius Brüggen und Jonas Werner entstanden ist.

Ein Dankeschön für den Lötexkurs in der Werkstatt von hartwin neumann.

Wie auch für die Unterstützung der Fach-hochschule Mainz, insbesondere durch die Foto- und Druckwerkstatt.

Und zu guter Letzt für den Einsatz aller Fotografen.

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2010