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12 FORSCHUNG forsch 1/2002 universität bonn Kopf frei für das Wesentliche Psychologie-Studie zur Bedeutung von Klischees Mathematiker sind weltfremd, Biologen tierlieb, Frauen sensibel und Männer durchsetzungsstark: Klischees bestimmen unsere Vorstellung, oft sogar mehr, als uns lieb ist. Was aber, wenn es ein junges Mädchen ist, das den Banküberfall verübt, oder ein gefährlich aussehen- der Punk, der der alten Dame über die Straße hilft? Solche „unerwarteten“ Informationen merken wir uns besonders gut, hat Katja Ehrenberg, Psychologin an der Universität Bonn, in einer jetzt abgeschlossenen Studie festgestellt. Unser Gehirn ist so vermutlich in der Lage, neue Informationen effizienter zu verarbeiten. Robert ist Skinhead, Stefan Sozialpäd- agoge, und beide haben etwas gemein- sam: Sie existieren nur in den krypti- schen Zeichenfolgen eines Computer- programms, mit dem Katja Ehrenberg vom Institut für Psychologie an der Universität Bonn den Sinn sogenann- ter „Stereotypen“ untersucht. Am Bildschirm hat die Doktorandin zum Klischee passende Portraitfotos gebastelt – Robert kahlgeschoren, bul- lig, mit kalten Augen, Stefan mit ge- scheitelter Mähne und einem offenen Lächeln auf dem Gesicht. Außerdem hat sich Ehrenberg zu ihren beiden Protagonisten eine Reihe von Aussa- gen einfallen lassen, positive und ne- gative: zum Beispiel, daß Skin Ro- bert seinen Freunden hilft, wo er kann, seinen Müll trennt und keine Auslän- der mag. Oder daß Stefan für Bettler nie eine Mark übrig hat, grundsätz- lich nicht sein Auto verleiht, aber ein guter Zuhörer ist und gut mit Kin- dern umgehen kann. Insgesamt 460 Versuchspersonen ha- ben Robert und Stefan inzwischen kennengelernt, mitsamt ihren positi- ven und negativen Eigenschaften. Soll- ten sie nach dem Experiment die ein- zelnen Aussagen wieder der richtigen Person zuordnen, so gelang ihnen das wesentlich häufiger, wenn die ent- sprechende Eigenschaft im Wider- spruch zur Erwartungshaltung gestan- den hatte: Daran, daß Stefan Bettlern kein Geld gibt, erinnerten sich mehr Versuchs- personen als daran, daß er gut zuhö- ren kann. Dieser Effekt verstärkte sich, wenn die Probanden während des Experiments abgelenkt waren - nebenbei „mit einem Ohr“ aufge- schnappte Informationen prägt man sich vor allem dann ein, wenn sie über- raschend sind. „Daß wir uns vor allem Abweichun- gen von der erlernten Norm merken, ist durchaus sinnvoll“, ist die Mitar- beiterin der Arbeitsgruppe Sozial- und Persönlichkeitspsychologie von Pro- fessor Dr. Karl Christoph Klauer über- zeugt. „In der Regel fahren wir damit nicht schlecht: Alles, was nicht zu unseren Erfahrungen paßt, merken wir uns, und ansonsten orientieren wir uns an den Stereotypen. Ohne diese Stra- tegie wären wir angesichts der Infor- mationsfülle, die täglich auf uns her- einprasselt, völlig überfordert.“ Die Klischeebilder dienen uns sozusagen als Schablone, zu der wir nur noch die Abweichungen registrieren. So kann unser Gehirn die zu verarbeitende Datenmenge auf ein erträgliches Maß reduzieren, indem es alles, was uns nicht überrascht, vergißt und bei Be- darf aus dem Klischeebild rekonstru- iert. Nach einem ähnlichen Prinzip funk- tionieren übrigens auch DVD-Filme: Da die unkomprimierte Filmversion zu groß ist für die silberne Scheibe, merken sich DVDs – vereinfacht ge- sprochen – nur den Unterschied zwi- schen den aufeinanderfolgenden Vi- deobildern, und das fast ohne sicht- bare Qualitätseinbußen. Ohne diesen Trick würde auf die DVD nur ein Kurzfilm passen. FL/FORSCH Skinheads sind fies, Sozialarbeiter sympa- thisch: Klischeebilder wie diese haben eine wichtige Funktion.

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FORSCHUNG

forsch 1/2002 universität bonn

Kopf frei für das WesentlichePsychologie-Studie zur Bedeutung von Klischees

Mathematiker sind weltfremd, Biologen tierlieb, Frauensensibel und Männer durchsetzungsstark: Klischeesbestimmen unsere Vorstellung, oft sogar mehr, als unslieb ist. Was aber, wenn es ein junges Mädchen ist, dasden Banküberfall verübt, oder ein gefährlich aussehen-der Punk, der der alten Dame über die Straße hilft?Solche „unerwarteten“ Informationen merken wir unsbesonders gut, hat Katja Ehrenberg, Psychologin an derUniversität Bonn, in einer jetzt abgeschlossenen Studiefestgestellt. Unser Gehirn ist so vermutlich in der Lage,neue Informationen effizienter zu verarbeiten.

Robert ist Skinhead, Stefan Sozialpäd-agoge, und beide haben etwas gemein-sam: Sie existieren nur in den krypti-schen Zeichenfolgen eines Computer-programms, mit dem Katja Ehrenbergvom Institut für Psychologie an derUniversität Bonn den Sinn sogenann-ter „Stereotypen“ untersucht.Am Bildschirm hat die Doktorandinzum Klischee passende Portraitfotosgebastelt – Robert kahlgeschoren, bul-lig, mit kalten Augen, Stefan mit ge-scheitelter Mähne und einem offenenLächeln auf dem Gesicht. Außerdemhat sich Ehrenberg zu ihren beidenProtagonisten eine Reihe von Aussa-gen einfallen lassen, positive und ne-gative: zum Beispiel, daß Skin Ro-bert seinen Freunden hilft, wo er kann,

seinen Müll trennt und keine Auslän-der mag. Oder daß Stefan für Bettlernie eine Mark übrig hat, grundsätz-lich nicht sein Auto verleiht, aber einguter Zuhörer ist und gut mit Kin-dern umgehen kann.Insgesamt 460 Versuchspersonen ha-ben Robert und Stefan inzwischenkennengelernt, mitsamt ihren positi-ven und negativen Eigenschaften. Soll-ten sie nach dem Experiment die ein-zelnen Aussagen wieder der richtigenPerson zuordnen, so gelang ihnen daswesentlich häufiger, wenn die ent-sprechende Eigenschaft im Wider-spruch zur Erwartungshaltung gestan-den hatte:Daran, daß Stefan Bettlern kein Geldgibt, erinnerten sich mehr Versuchs-personen als daran, daß er gut zuhö-ren kann. Dieser Effekt verstärktesich, wenn die Probanden währenddes Experiments abgelenkt waren -nebenbei „mit einem Ohr“ aufge-schnappte Informationen prägt mansich vor allem dann ein, wenn sie über-raschend sind.„Daß wir uns vor allem Abweichun-gen von der erlernten Norm merken,ist durchaus sinnvoll“, ist die Mitar-beiterin der Arbeitsgruppe Sozial- und

Persönlichkeitspsychologie von Pro-fessor Dr. Karl Christoph Klauer über-zeugt. „In der Regel fahren wir damitnicht schlecht: Alles, was nicht zuunseren Erfahrungen paßt, merken wiruns, und ansonsten orientieren wir unsan den Stereotypen. Ohne diese Stra-tegie wären wir angesichts der Infor-mationsfülle, die täglich auf uns her-einprasselt, völlig überfordert.“ DieKlischeebilder dienen uns sozusagenals Schablone, zu der wir nur noch dieAbweichungen registrieren. So kannunser Gehirn die zu verarbeitendeDatenmenge auf ein erträgliches Maßreduzieren, indem es alles, was unsnicht überrascht, vergißt und bei Be-darf aus dem Klischeebild rekonstru-iert.Nach einem ähnlichen Prinzip funk-tionieren übrigens auch DVD-Filme:Da die unkomprimierte Filmversionzu groß ist für die silberne Scheibe,merken sich DVDs – vereinfacht ge-sprochen – nur den Unterschied zwi-schen den aufeinanderfolgenden Vi-deobildern, und das fast ohne sicht-bare Qualitätseinbußen. Ohne diesenTrick würde auf die DVD nur einKurzfilm passen.

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Skinheads sind fies,Sozialarbeiter sympa-thisch: Klischeebilderwie diese haben eine

wichtige Funktion.

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Urkunden-Fälscher im frühen MittelalterBonner Historiker untersucht Dokumente aus der Merowinger-Zeit

Die Urkunden der merowingischen Könige sind wichtige Zeugendes Übergangs von der Spätantike zum Mittelalter. Insgesamt 196Texte sind überliefert, davon 38 Originale, der Rest Abschriften.Professor Dr. Theo Kölzer, Historiker an der Universität Bonn, hatdie Schriftstücke in 20jähriger Detektivarbeit unter die Lupegenommen und nun in Form einer fast 1000seitigen kommentier-ten Edition veröffentlicht. Ergebnis: Zwei Drittel der Urkundensind gefälscht.

Die Fälscher stellten sich geschicktan: Sie klebten Papyrus-Stücke mitden beschriebenen Seiten aufeinan-der. Auf den leeren Rückseiten hiel-ten sie dann in Amtslatein fest, wel-che Rechte der König ihrem Klosterrund 400 Jahre zuvor angeblich zu-gestanden hatte. Das Resultat sah aufden ersten Blick aus, als stamme esaus der Feder eines königlichen No-tars der Merowinger-Zeit. Mitte des19. Jahrhunderts wurden die Schrift-

stücke an der Klebefläche getrennt,aber Schriftspuren blieben am ande-ren Dokument haften. Von da an gin-gen die malträtierten Urkunden ge-trennte Wege.Vor zwei Jahren dann untersuchteProfessor Dr. Theo Kölzer vom Hi-storischen Seminar eine Urkunde derMerowinger, auf der große Teile derSchrift fehlten – Schäden an jahrhun-dertealten Dokumenten sind leidernicht selten. Etwa zur gleichen Zeit

entdeckte ein französischer Histori-ker auf einem Schriftstück aus einerganz anderen Epoche Zeichen, die erfür merowingisch hielt. Der Fundmachte ihn neugierig; er schickte da-her eine Durchpause an seinen Bon-ner Kollegen.„Das war ein Glücksfall“, urteilt Pro-fessor Kölzer heute. Schnell erkann-te er, daß die spiegelverkehrtenSchriftzeichen, die sein Kollege ge-funden hatte, die Lücken in „seiner“Urkunde füllten. Einem MarburgerFotografen gelang es dann, mit Hilfemoderner Bildbearbeitungs-Technikdas Originaldokument im Computer„virtuell“ zu rekonstruieren – das äl-teste Original einer abendländischenKönigsurkunde.So stolz Professor Kölzer auch die Ge-schichte von den Papyrus-Fragmen-

Vampire beißen nicht!Bonner Balkanologe korrigiert altes Klischee

Ein jeder weiß, was einen richtigen Vampir auszeichnet: Nebenden obligatorischen langen, spitzen Eckzähnen und der Angst vorHolzpflöcken und Knoblauch darf auch nicht die passende Gruftfehlen. Aber was hat Bram Stokers Dracula eigentlich mit demVampir des Volksglaubens gemein? Dieser und anderen Fragengeht der Bonner Historiker und Balkanologe Dr. Peter MarioKreuter in seiner Dissertation „Der Vampirglaube in Südosteuropa“auf den Grund. Sein Fazit: Viele Klischees sind Ausschmückungender Buchautoren oder Filmregisseure.

Vor dem kalten und fahlen Licht desMondes zeichnet sich das auf einerFelsenklippe errichtete alte Schloß inscharfen Umrissen ab. Nur das Heu-len der Wölfe zerschneidet die Stilleder Nacht. Eine Fledermaus flattertaus einem Fenster des Schlosses undverwandelt sich in eine der gefürch-tetsten Gestalten, die man sich vor-stellen kann: einen Vampir. Er hülltsein vor Angst gelähmtes Opfer inseinen Umhang und entzieht ihm miteinem Biß in den Hals sein Lebenseli-xier.Leider muß Balkanologe Dr. Kreuterdiese Vorstellungen enttäuschen: „DerVampir, den der Kinogänger zu se-hen bekommt, reduziert sich nur aufwenige Klischees und hat mit demVampir des Volksglaubens nicht viel

zu tun. Vieles wurde dem Vampir erstspäter angedichtet.“ So wird zumBeispiel vom Markenzeichen des

Vampirs – dem Biß in den Hals – inkeiner historischen oder volkskund-lichen Quelle berichtet. Vielmehrschien er seinen Opfern das Blut aufmagische Weise aus der Distanz zuentziehen. Stattdessen wird demVampir im Volksglauben eine beson-

dere Gabe zur Verwandlung nachge-sagt: Neben der Gestalt bestimmterTiere könne der Vampir auch dieForm verschiedener Gegenstände an-nehmen, so der Balkanologe.Einen besonderen Schwerpunkt legtKreuter in seiner Arbeit auf die Be-antwortung der Frage, warum derVampirglaube in Südosteuropa sostark verwurzelt ist. Kreu-ters Erklärungsansatzzielt auf die Lücken imchristlich-orthodoxenWeltbild, welches be-sonders dem Totenkultkaum Beachtungschenkt . „Diese Lückenfüllten die Menschenmit Versatzstücken ausdem viel älteren Volks-glauben, da sich die or-thodoxen Kirchen kaummit Sterben und Tod aus-einandersetzen“, erklärtKreuter. Gegenwärtigspielt der Vampirglaubein den Balkanländern je-doch kaum noch eine Rol-le, aber, so Kreuter weiter:„Noch zu Beginn der 80er Jah-re wurde aus einer rumänischen Stadtberichtet, daß ein vampirähnlichesWesen umging und das Öl von Fahr-radketten leckte.“

CHRISTIAN KLEINERT/FORSCH

Wer etwas mehr über die wahreWesensart des Vampirs erfahrenmöchte, kann die Dissertation„Der Vampirglaube in Südosteu-ropa“, erschienen im Weidler-Buchverlag, auch in der Univer-sitäts-Bibliothek entleihen.

Titelbild vonKreuters Dissertation„Der Vampirglaube inSüdosteuropa“

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ten erzählt – solch spektakulären Er-gebnisse sind in seinem Arbeitsgebietselten. Der Historiker untersucht dieKönigsurkunden der fränkischen Me-rowinger (ca. 450 - 751), der Vorgän-ger der Karolinger. In diesen amtlichenDokumenten werden z.B. bestimmteSonderrechte verliehen oder Besitzun-gen geschenkt; oft handelt es sich umden ältesten Beleg für das begünstigteKloster oder den verliehenen Rechts-titel, weshalb die Urkunden auch fürKirchen-, Rechts- und Wirtschaftshi-storiker von Belang sind. Vor kurzemhat Kölzer auf rund 1000 Seiten einekommentierte Edition aller erhaltenen196 Merowinger-Urkunden herausge-geben, von denen allerdings zwei Drit-tel als Fälschungen betrachtet werdenmüssen. An der Authentizität der 38

überlieferten Origi-nale zweifelt Profes-sor Kölzer dagegennicht.„Diese Dokumenteerweisen sich alswichtige ‚Leitfossi-lien’ für den Über-gang von der Spät-antike zum Mittel-alter. Die römischeSpätantike kannteeinen ausgeprägtenBehördenapparat,der die Rechtstiteldes einzelnen ak-tenkundig machteund schützte. Erst

der Untergang dieser Verwaltungs-struktur machte die Aufbewahrungurkundlicher Rechtstitel durch die Be-günstigten selbst erforderlich.“ Ent-stehungszeiten undFundorte der Mero-winger-Urkunden do-kumentieren diesenWandel: „Spätestensum 600 war nördlichder Loire die Spätan-tike zu Ende, die dieHumanisten schonmit der Völkerwande-rung, andere erst durch das Vordrin-gen des Islam hatten untergehen se-hen.“ Diese Einsicht hält ProfessorKölzer für das wichtigste allgemein-historische Ergebnis der Edition, dasneue Fragen nach sich zieht.

Was aber, wenn beispielsweise in ei-nem Kloster für ein beanspruchtesRecht keine Urkunde existierte? Insolchen Fällen griffen die Betroffe-nen häufig selbst zu Federkiel undPergament – „seit dem 12. Jahrhun-dert war nämlich ohne besiegelte Ur-kunden nichts zu machen“, betontder Historiker . Mit kriminalistischemSpürsinn kam er den Imitationen aufdie Spur. „Die Fälscher benutztenz.B. meist ein anderes Vokabular, alszur Merowinger-Zeit üblich war“,erklärt er. „Häufig stolpere ich zu-nächst über auffällige Begriffe oderBetreffe. Wenn ich dann genauer hin-schaue, entdecke ich meist weitereIndizien, die mich in meinem Urteilbestärken.“ Deshalb sei es wichtig,daß man sich permanent wundere –„aber man benötigt schon ein umfang-reiches Hintergrundwissen, damit

man sich wundernkann.“Nicht immer aber gin-gen die Fälscher mitso viel Bedacht vorwie im Anfangs ge-schilderten Beispiel.Manchmal seienschon einfache histo-rische Fakten entlar-

vend, schmunzelt der Bonner Histo-riker. „Da stammt dann die Urkundebeispielsweise von einem König, derzur Zeit der Ausstellung bereits seitJahren tot war.“

FL/FORSCH

Professor Kölzer miteiner Reproduktion der

ältesten erhaltenenMerowinger-Urkunde

Das Karagandinsker ArbeitslagerStudie zur Geschichte des Lagers, seiner Häftlinge und Bewacher

Die GULag-Forschung hat sich bislang nur einzelnenAspekten der sowjetischen „Besserungsarbeitslager“widmen können, da der Archivzugang weitgehendeingeschränkt war. Das Seminar für OsteuropäischeGeschichte erhielt mit Unterstützung der deutschenBotschaft in Kasachstan die Erlaubnis des Generalstaats-anwaltes der Republik Kasachstan, das bisher derForschung nicht zugängliche vollständig erhalteneAktenmaterial einsehen und auswerten zu dürfen. Eineauf Originalmaterial beruhende Studie über ein einzelnesLager bzw. Lagersystem liegt bisher weder im europäi-schen noch im amerikanischen Sprachraum vor undstellt ein wissenschaftliches Novum dar.

Das Karagandinsker Lager ist sowohlvon seiner Struktur- und Verwaltungs-geschichte, vom Haftregime, dem Pro-duktionsprofil und seinem kontinu-

ierlichen Bestehen von 1931 bis 1957sowie der Anzahl der während dieserZeit inhaftierten Häftlinge – ca.800.000 – ein für den GULag reprä-sentatives Lager. Dieses Besserungs-arbeitslager ging 1931 aus demSowchos „Gigant“ hervor und warzunächst eine Arbeitskolonie derOGPU, der sowjetischen PolitischenPolizei. Nach der Bildung der Haupt-verwaltung Lager im Jahr 1934 ist die-se Kolonie als „KAR-Lag“ in denGULag integriert worden. Das Terri-torium des Lagers erstreckte sich vonNord nach Süd über 260 km und vonOst nach West über 130 km. Auf ei-ner Gesamtfläche von 16.600 km2

befanden sich verschiedene „Lager-

struktureinheiten“, die der Verwaltungdes KAR-Lag mit Sitz in Dolinka,rund 30 km von Karaganda entfernt,unterstanden und von ihr kontrolliertwurden.

Trotz fehlender ZäuneFlucht kein Ausweg

Anfang 1940 existierten über 22Hauptlager, die als „Abteilungen“ be-zeichnet wurden. Zudem gab es eine„Landwirtschaftliche Versuchsstati-on“ sowie ein „Invalidenlager“ inSpassk. Die Hauptlager waren, umden Ansprüchen der Produktion bzw.Zwangsarbeit gerecht zu werden, in„Lager-Punkte“, „Abschnitte“, „Ko-

‚Leitfossilien’für den Über-gang von der

Spätantike zumMittelalter

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lonnen“ und andere Formen von Aus-senstellen unterteilt. Annähernd 200größere Produktionspunkte existier-ten im KAR-Lag Anfang der 1950erJahre. Aufgrund der Zergliederung desLagers und materieller Versorgungs-probleme war die Lageradminstrationnicht in der Lage, alle Außenstellenund Feldstützpunkte entsprechendden Befehlen der Moskauer Haupt-verwaltung zu umzäunen, so daß Ende

1939 mehr als die Hälfte der Lager-außenstellen über keinerlei Umzäu-nung verfügten. 1951 lebten und ar-beiteten mehr als 15.000 Häftlinge auf92 Abschnitten und Farmen, die nicht

umzäunt waren. Aufgrund der großenEntfernungen, des Klimas, des dich-ten Kontrollnetzes auf Eisenbahnsta-tionen und vor allem der fast unmög-lichen Legalisierung als Strafgefange-ne im Sowjetalltag sah die übergroßeMehrheit der Häftlinge in einer Fluchtkeinen Ausweg.

Hierarchien in Häftlings-und Bewachergesellschaft

Eine Studie über das KAR-Lag ge-stattet Rückschlüsse auf das so-wjetische System der „Besse-rungsarbeitslager“ insgesamt. Zu-stande kam das von der Deut-schen Forschungsgemeinschaft(DFG) zunächst für zwei Jahrefinanzierte Forschungsprojektdes Teams um Professor Dr. Ditt-mar Dahlmann über Kontakte füreine vergleichende Studie überFrauen in deutschen und sowje-tischen Lagern, die ProfessorDahlmann – noch in seiner Hei-delberger Zeit – federführend be-treute.Das aktuelle Projekt widmet sichzwei Schwerpunkten. Untersu-chungen zur historischen Ent-wicklung des KAR-Lag beschäf-tigen sich mit der Struktur- und

Verwaltungsgeschichte, dem Haftre-gime für die Gefangenen, der Organi-sation und Ausbeutung der Zwangs-arbeit, den „Umerziehungs“-ambitio-nen der Lageradministration sowie der

Mortalität und seinen Ursachen. Stu-dien zu den Häftlingen und Bewacherndes KAR-Lag untersuchen das Häft-lingsspektrum unter Politischen undKriminellen sowie Rangordnung unddas differenzierte Agieren innerhalbder „Häftlingsgesellschaft“ und dasdemographisch-soziologische Profildes Lagerpersonals, seinen Verhal-tenskanon sowie die Hierarchie unddas Agieren der „Kader“ innerhalb der„Bewachergesellschaft“.Die Realisierung des Projektes erfolgtin enger Kooperation mit dem Archivdes KAR-Lag in Karaganda, RepublikKasachstan. Hier sind u.a. 15.000 Ak-teneinheiten der Lagerverwaltung,45.000 Kaderakten ehemaliger Mitar-beiter, 71.000 persönliche Häftlings-akten sowie 800.000 Karteikarten vonallen ehemaligen Häftlingen des KAR-Lag überliefert. Erstmals kann einewissenschaftliche Untersuchung zumGULag auf einer derart umfassendenAktengrundlage vorgenommen wer-den. Natürlich sind die beiden Auto-ren, die zeitweise vor Ort sind, undeine Werkvertragskraft vor Ort nichtin der Lage, jede einzelne Akte einse-hen. Daher werden nach dem Zufalls-prinzip 1.000 Akten über Häftlinge unddieselbe Anzahl über ihre Bewacherausgewertet. Die wissenschaftlichenErträge des Projektes werden in einerMonographie und in einer Edition vonDokumenten des KAR-Lag vorgelegt.

DR. MEINHARD STARK,

DR. WLADISLAW HEDELER

Oben: Haftfoto derRussin Maria Nikonowa,geboren 1907, alsGläubige wegenangeblicher „antisowje-tischer Agitation“1953 zu 25 JahrenHaft verurteilt,entlassen 1955.Links: Haftfoto desRussen AlexejTsygankow, geboren1885, wegen angebli-cher „antisowjetischerAgitation“ 1940 zufünf Jahren Haftverurteilt, 1943 imLager gestorben.

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#3 Forschungshandbuch (185*128 mm)

Max-Planck-Preis für Bonner ProfessorMathematiker Felix Otto findet Formeln für Vorgänge in der Natur

Wie stark sprudelt eine Ölquelle?Das Verhalten einer Zweiphasen-Strömung (eines Gemischs aus Ölund Wasser) in einem porösenMedium (Gestein, Erdreich) ist ei-ner der äußerst komplexen physi-kalischen Prozesse, den der Ma-thematiker Professor Felix Otto inGleichungen packen und berech-nen kann. Für seine herausragen-den Arbeiten auf dem Gebiet derpartiellen Differentialgleichungenwurde Professor Otto im Novem-ber in Berlin der mit 250.000 Markdotierte Max-Planck-Preis verlie-hen, mit der außerdem sieben wei-tere deutsche Wissenschaftler undvier Forscher aus dem Ausland fürbesonders herausragende, interna-tional anerkannte wissenschaftli-che Leistungen geehrt wurden.Verliehen wird der Preis von derAlexander von Humboldt-Stiftungund der Max-Planck-Gesellschaft;gestiftet wurde er vom Bundesmi-

nisterium für Bildung und For-schung.Felix Ottos Spezialität ist die mathe-matische Behandlung von Modellenaus den Naturwissenschaften: Wie

gut reproduzieren diese Modelle dieexperimentellen Beobachtungen? Wiekönnen die Modellvorhersagen effi-zient berechnet werden? Zu seinen

Arbeitsgebieten gehören insbesonde-re die Musterbildung im Mikroma-gnetismus und komplexe Strömungs-vorgänge. Das Verhalten von extremdünnen Magnetplättchen spielt beimDesign leistungsstarker digitaler Spei-chermedien eine Rolle, und die Zwei-phasen-Strömung in porösen Medi-en ist bei der Erdölförderung wichtig.Mathematiker fassen diese Modellein so genannte partielle Differential-gleichungen; diese Gleichungen unter-sucht Professor Ottos Arbeitsgrup-pe theoretisch (mit Papier und Blei-stift) und numerisch (mit dem Com-puter).Felix Otto wurde 1966 in Münchengeboren. Er studierte Mathematik ander Universität Bonn und ging alsPostdoktorand nach New York. Vorzwei Jahren gab er seine Professur inKalifornien auf und folgte einem Rufan das Institut für angewandte Ma-thematik der Bonner Universität.

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Groß und Klein in der NaturNeuer Sonderforschungsbereich an der Universität Bonn

Viele Phänomene in der Natur findennicht nur im Großen statt, sondernwerden vor allem auch durch die Zu-sammenhänge im Kleinen bestimmt.So muß man für die exakte Beschrei-bung des Wetters neben der Bewe-gung der Luft in der Atmosphäre auchberücksichtigen, wie die einzelnenMoleküle der Luft miteinander inWechselwirkung stehen. Ein anderesBeispiel ist die Funktionsweise der

Fischen in molekularen BibliothekenMichael Famulok mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet

Die Universität Bonn hat zum neuen Jahr einen weiteren Sonder-forschungsbereich erhalten. Das Projekt wird zunächst für dreiJahre mit rund 3,7 Million Euro gefördert. Damit fördert dieDeutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) an der Universität Bonninsgesamt acht Sonderforschungsbereiche. Unter dem Titel„Singuläre Phänomene und Skalierung in mathematischen Model-len“ untersucht der neue Sonderforschungsbereich in 19 Projek-ten, wie Naturphänomene, die sich in unterschiedlichen Größen-ordnungen abspielen, zusammenhängen und wie man sie mathe-matisch beschreiben kann. Federführend ist Professor Dr. FelixOtto, der kürzlich mit dem Max-Planck-Forschungspreis ausgezeich-net wurde (siehe nebenstehenden Kasten).

menschlichen Lunge; ohne Kenntnisüber die Vorgänge an der Zelloberflä-che in den Lungenbläschen wäre sienicht zu erklären. Wissenschaftlerversuchen diese Vorgänge in Formelnzu fassen. In der Praxis – von denMaterial- bis zu den Lebenswissen-schaften – spielt dabei das Wissenüber die Zusammenhänge der unter-schiedlichen Skalen eine immer grö-ßere Rolle.

Zur Beschreibung von Vorgängen in derNatur stehen der Mathematik eineReihe von Lösungswegen zur Verfü-gung, darunter analytische, numerischeund stochastische Methoden. Die andem neuen Sonderforschungsbereichbeteiligten Wissenschaftler repräsen-tieren diese verschiedenen mathemati-schen Arbeitsweisen. Durch ihre Zu-sammenarbeit über Disziplingrenzenhinweg wollen die Wissenschaftler inden nächsten Jahren zu neuen Lö-sungsansätzen finden, um natürlicheVorgänge künftig noch exakter be-schreiben zu können und damit letzt-lich vorhersagbarer zu machen.An dem neuen Sonderforschungsbe-reich wirken zwölf Arbeitsgruppenaus der Mathematik und eine aus derBiologie mit. In zwei Teilprojektenkooperiert der Forscherverbund mitWissenschaftlern des Forschungszen-trums caesar.

ARC/FORSCH

Sie könnten eine neue Rundeim Kampf gegen Krankheitenwie Krebs oder AIDS einläuten:Medikamente aus synthetischhergestellten Nukleinsäure-ketten. Für die Erforschungdieser sogenannten Aptamerewurde der Bonner BiochemikerProfessor Dr. Michael Famulok imDezember mit dem Leibniz-Preisausgezeichnet – der höchst-dotierten Ehrung, die inDeutschland regelmäßig anWissenschaftler vergeben wird.

Nukleinsäuren kommen in der Naturin zwei verschiedenen Varianten vor:der Desoxyribonukleinsäure DNS, die– abgesehen von manchen Viren – al-len Lebewesen als Speicher für Erbin-formationen dient, und der Ribonu-kleinsäure RNS. Die DNS ist gewis-sermaßen die Bibliothek, die alle In-formationen für den Aufbau der Le-bewesen enthält. Aus der Bibliothekdarf aber nichts entliehen werden –die Benutzer müssen die benötigten

Informationen kopieren. Und dieseKopien bestehen aus RNS.Die RNS kann aber noch mehr: Jenach Abfolge der in ihr gespeichertenBuchstaben faltet sie sich in ganz cha-rakteristischer Weise und nimmt so

eine bestimmte dreidimensionaleStruktur an. Manche RNS-Molekülekönnen aufgrund ihrer Gestalt Verbin-dungen mit anderen Zellbestandteileneingehen und sie so an ihrer Funktionhindern. Sie werden auch Aptamere

ProfessorMichaelFamulok fischtin molekularenBibliothekennach mögli-chen neuenMedikamenten.

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Wir arbeiten mitNukleinsäure-

Bibliotheken, die biszu eine Billiarde

verschiedene RNS-Fäden enthalten

können.

genannt (aptus: passen; meros: Teil).So bilden Krebszellen einen Boten-stoff, der für das Wachstum neuerBlutgefäße sorgt, über die sich die Tu-moren mit Nährstoffen versorgen. Be-reits 1995 wurde ein Aptamer gefun-

den, das den Boten-stoff gewisserma-ßen neutralisiert.Mit Hilfe andererAptamere lassensich Gene ganz ge-zielt an- oder ab-schalten. Auf dieseWeise könnte manin Zukunft vielleichtPflanzen konstruie-ren, die im FrühjahrGiftstoffe gegen

Schädlinge bilden, zur Zeit der Erntejedoch die Giftproduktion einstellen.Aptamere mit der gewünschten Funk-tion sind aber nicht einfach zu finden– so vielfältig sind die Möglichkeiten,in denen sich die RNS-Fäden falten

können, daß eine Nadel im Heuhau-fen leichter aufzuspüren wäre.Der Biochemiker Professor MichaelFamulok nutzt daher ausgeklügelteMethoden, mit denen man geeigneteAptamere gezielt aus Gemischen ei-ner großen Zahl unterschiedlicherRNS-Moleküle herausfischen kann.„Wir arbeiten mit künstlich hergestell-ten Nukleinsäure-Bibliotheken, die biszu eine Billiarde verschiedene RNS-Fäden enthalten können“, erklärt Pro-fessor Famulok. Diese RNS-Brühe las-sen die Wissenschaftler über ein Trä-germaterial laufen, an das beispielswei-se der oben erwähnte Blutgefäß-Bo-tenstoff gebunden ist. Passend geform-te Aptamere bleiben an dem Boten-stoff-Molekül hängen, die anderenRNS-Fäden werden abgewaschen.Danach werden die hängengebliebenenAptamere – meist immer noch vieleTausende verschiedener Sorten – in ei-nem zweiten Waschgang gelöst und imReagenzglas durch Zugabe bestimm-

ter Zell-Enzyme vermehrt. „DiesenSchritt wiederholen wir so lange, biswir eine Handvoll Aptamere, die be-sonders stark am Botenstoff-Molekülkleben, angereichert haben“, erläutertder Biochemiker.Die Suche nach geeigneten Kandidatenist aber nur ein erster Schritt. „Danachmüssen wir im Reagenzglas oder in Zell-kulturen testen, ob die gefundenen Ap-tamere auch die gewünschte Wirkungzeigen“ – und selbst dann ist es bis zueinem möglichen Medikament noch einweiter Weg. Daß Experten ihn nichtnur für gangbar halten, sondern auchviel Hoffnung in die kleinen RNS-Fä-den setzen, beweist die Verleihung desmit 1,53 Millionen Euro dotiertenLeibniz-Preises an den Bonner Wis-senschaftler. Die von der DeutschenForschungsgemeinschaft (DFG) verlie-hene Auszeichnung ist der höchstdo-tierte regelmäßig verliehene Wissen-schaftspreis Deutschlands.

FL/FORSCH

Ein Meilenstein der GedächtnisforschungBonner Forscher sind der Erinnerung auf der Spur

Die anatomischen Strukturen, die überErinnern oder Vergessen entscheiden,liegen in der Tiefe des Schläfenlappens:der sogenannte „Hippokampus“ undder „rhinale Kortex“. Die Regionen, dielediglich 15 Millimeter auseinander lie-gen, spielen bei der Gedächtnisbildungeine bedeutende Rolle: Wird eine derbeiden Strukturen verletzt, kann diebetroffene Person keine neuen Erinne-rungen speichern.Dr. Jürgen Fell und seine Kollegen vonder Arbeitsgruppe für kognitive Neu-rophysiologie unter Leitung von Dr.

Wer kennt das nicht: Auf einer Party werden uns eineReihe von Personen vorgestellt, doch im Gedächtnisbleiben uns nur zwei oder drei Namen – der Rest ist fürunser Gehirn „Schall und Rauch“. Aber was muß inunserem Kopf passieren, damit wir uns später an einenNamen, eine Telefonnummer oder ein Gesicht erinnernund es nicht sofort wieder vergessen? Bonner Wissen-schaftler sind der Antwort auf diese Frage einenbedeutenden Schritt näher gekommen. Sie untersuch-ten bei Epilepsie-Patienten die elektrische Aktivitätzweier benachbarter Hirnregionen. Ergebnis: Wenn wiruns später erinnern sollen, müssen die beiden ArealeHand in Hand arbeiten. Die Studie wurde kürzlich in derrenommierten Fachzeitschrift Nature Neuroscienceveröffentlicht.

Guillén Fernández nahmen daher diese„Gedächtnis-Regionen“ genauer un-ter die Lupe. Normalerweise klebendie Mediziner bei derartigen Unter-suchungen ihren VersuchspersonenElektroden auf die Schädeldecke, mitderen Hilfe sie die elektrische Aktivi-tät messen können. Der geringe Ab-stand von Hippokampus und rhina-

lem Kortex macht jedoch getrennteMessungen mit Hilfe solcher „Ober-flächen-Elektroden“ unmöglich.Bei Patienten mit schweren Epilepsi-en implantiert man jedoch aus medizi-nischen Gründen Elektroden direkt indas Gehirn und versucht so, die „Fall-sucht“ in den Griff zu bekommen. Fellund Fernández untersuchten eine

Dr. Guillén Fernándezmit einem Epilepsie-

Patienten. Überimplantierte Elektro-

den können dieWissenschaftler die

Hirnströme in denverschiedenen Hirn-

regionen aufzeichnen.

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FORSCHUNG

Gruppe von neun Epilepsie-Patienten,denen derartige „Tiefenelektroden“ inden mittleren Schläfenlappen implan-tiert worden waren. Den Wissenschaft-lern gelang es so, das Hirnstrom-Mu-ster der beiden Gedächtnis-Regionenaufzuzeichnen. Währenddessen prä-sentierten sie den Versuchspersoneneine Reihe von Wörtern, die sie sicheinprägen sollten. Waren die Hirnströ-me in den beiden untersuchten Regio-nen für wenige hundert Millisekundengenau im Gleichtakt, also synchroni-siert, konnten die Probanden sich spä-

Schweres Erbe im menschlichen GenomBonner Forscher lokalisieren Gen für manische Depression

Gestern himmelhoch jauchzend, heute zu Tode betrübt: Manisch-Depressive leiden unter extremen Stimmungsschwankungen; vieleErkrankte nehmen sich während einer depressiven Phase dasLeben. Einer interdisziplinären Arbeitsgruppe unter Führung desInstituts für Humangenetik der Universität Bonn ist es gelungen,ein Gen zu lokalisieren, das die manisch-depressive Krankheit mitauslöst. Die Ergebnisse wurden kürzlich in der Zeitschrift „HumanMolecular Genetics“ veröffentlicht.

Charles Burgess Fry gilt als einer dergrößten Sportler, den England je her-vorgebracht hat. Doch nebenbei warder Kapitän der englischen Kricket-mannschaft, Fußball- und Rugbyspie-ler sowie Autor mehrerer Kricket-Bücher auch ein hervorragender Alt-philologe, dessen Hobby es war, eng-lische Hymnen ins Griechische zuübersetzen. Der gerngesehene Party-gast und berüchtigte Lebemann lehn-te 1919 die albanische Krone ab – an-geblich, weil es für diese Position keinGehalt gab. Doch bis zu seinem Todeim Jahr 1956 wechselten sich bei ihmPhasen ungewöhnlicher Hyperaktivi-tät mit Episoden tiefer Niedergeschla-genheit ab: Fry zeigte viele Merkmaleeiner manisch-depressiven Erkran-kung.

Genetische Faktoren spieleneine Rolle

Etwa ein Prozent aller Menschen er-kranken im Laufe ihres Lebens an die-ser „bipolaren affektiven Störung“ –und das in allen bislang untersuchtenKulturkreisen. Die Ursachen sindnoch unbekannt; dementsprechendschwierig gestaltet sich die Behand-lung. Viele Betroffene nehmen sich imLaufe der Erkrankung das Leben.

Inzwischen ist bekannt, daß geneti-sche Faktoren zur Krankheit beitra-gen. Träger der entsprechenden Erb-anlagen, haben Zwillingsstudien er-geben, erkranken mit einer Wahr-scheinlichkeit von 70 bis 80 Prozent.„Wir haben daher vor zwölf Jahrendamit begonnen, nach den beteiligtenGenen zu suchen“, erklärt der Bon-ner Humangenetiker Professor Dr.Peter Propping. Gemeinsam mit Wis-senschaftlern aus der Klinik fürPsychiatrie und dem Institut für Bio-metrie sowie anderen Nervenklinikenhaben sie insgesamt 75 Familien mit445 Personen untersucht – 275 vonihnen waren manisch-depressiv. DieSisyphus-Arbeit, die von der Deut-schen Forschungsgemeinschaft(DFG) gefördert wurde, könnteFrüchte tragen: „Die Entdeckung derbeteiligten Gene kann zur Entwick-lung neuer Behandlungsverfahren füh-ren.“Nach der Entschlüsselung desmenschlichen Genoms stehen dieGenetiker vor einer ähnlichen Situa-tion wie ein Linguist, der ein umfang-reiches Werk aus einer völlig unbe-kannten Sprache ins Deutsche über-setzen soll: Sie müssen herausfinden,welchen Sinn die einzelnen Wörter im23-bändigen Genom-Lexikon haben –

dabei wissen sie noch nicht einmal,wo ein Wort anfängt oder endet. Er-schwerend kommt noch hinzu, daßzwischen wichtigen Informationenganz unvermittelt sinnloser Buchsta-bensalat auftauchen kann.Jeder Mensch bekommt bei seinerGeburt zwei dieser „Genom-Lexika“mit – eines von der Mutter, das zwei-te vom Vater –, die er in jeder seinerKörperzellen mit sich herumträgt. Füralle vererbbaren Merkmale enthalten

Um Erbkrankheiten aufdie Spur zu kommen,sind Humangenetikerauf möglichst gutdokumentierte Stamm-bäume betroffenerFamilien angewiesen.

ter an das zu dieser Zeit gezeigte Worterinnern.Nach Ansicht der Bonner Wissen-schaftler spricht die Synchronisationder Hirnströme für eine Zusammen-arbeit von rhinalem Kortex und Hip-pokampus. Man nimmt heute an, daßverschiedene Aspekte eines Sinnes-eindrucks in unterschiedlichen Hirn-regionen verarbeitet werden: Betrach-tet man beispielsweise einen grünenBall, so wird die Information für dieFarbe „grün“ von anderen Nervenzel-len ausgewertet als die Information

für die Form „Kugel“. Im rhinalenKortex werden die verschiedenenAspekte wieder zusammengefügt undim Zusammenspiel mit dem Hippo-kampus ins Gedächtnis überführt.Bei ihren amerikanischen Fachkolle-gen ernteten die Bonner Hirnforscherbereits höchstes Lob für ihre Studien:Der Hirnforscher Anthony Wagnervom Massachusetts Institute of Tech-nology (M.I.T.) bezeichnet die Ergeb-nisse als „Meilenstein“ in der Ge-dächtnisforschung.

FL/FORSCH

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FORSCHUNG

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die Zellen also zwei genetische Infor-mationen. Bei der Produktion der Ei-oder Samenzellen wirft der Körper diedoppelt vorhandenen Informationenüber Bord und mischt nach dem Zu-

fallsprinzip aus dem mütterlichen undväterlichen Genom-Lexikon eine neueEnzyklopädie zusammen, in der dieHälfte der Einträge vom Vater, dieandere Hälfte aber von der Mutterstammen. Benachbarte Einträge kom-men dabei häufig vom selben Eltern-teil – eine Regel, die Genomforscherbei ihrer Suche nach den Erbanlagenausnutzen.Hat beispielsweise ein Kind das Genfür die Blutgruppe „A“ von seinemVater geerbt, stammen die Gene in derNachbarschaft mit großer Wahrschein-lichkeit ebenfalls vom Vater. Ge-schwister, die beide die Blutgruppe„A“ haben, haben daher rund um dasBlutgruppen-Gen häufig ebenfalls diegleiche genetische Information. Pro-fessor Propping und seine Mitarbei-ter haben nun bei Geschwistern, dieunter der manisch-depressivenKrankheit leiden, untersucht, an wel-chen Stellen sich auf ihren Chromo-somen die Erbinformationen beson-ders stark ähneln. Dazu haben sie 400kurze Genom-Abschnitte unter dieLupe genommen. Resultat: Einige die-

ser Abschnitte sind bei den krankenGeschwistern besonders häufig iden-tisch – in ihrer Nähe könnte sich einGen befinden, das zum Ausbruch derKrankheit beiträgt.Zwei Abschnitte – einer auf dem lan-gen Arm von Chromosom 8, der zwei-te auf Chromosom 10 – scheinen da-bei besonders heiße Anwärter zu sein.Beide bestehen aber noch aus vielenMillionen „Buchstaben“ und sind da-her viel zu groß, als daß man sie direktsequenzieren und die Sequenz vonKranken und Gesunden miteinandervergleichen könnte. „Als nächstenSchritt planen wir daher, uns mit an-deren Methoden noch weiter an dasmögliche Gen heranzutasten“, erklärtProfessor Propping und vergleichtsich mit dem Bewohner eines frem-den Planeten, der versucht, mit demFernrohr auf der Erde die Stadt Bonnzu finden. „Inzwischen weiß er im-merhin, daß er in Deutschland suchenmuß – aber immer noch nicht, ob imRheinland oder in der schwäbischenAlb.“

FL/FORSCH

Seit zwölfJahren schon

suchen dieBonner Wissen-schaftler – hier

Propping-Mitarbeiter

JohannesSchumacher –

nach denErbanlagen für

die manisch-depressiveKrankheit.

#21 Aventis Pharma (185*128 mm)

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Erfolg in der Stammzell-ForschungMenschliche embryonale Stammzellen reifen in Mäuse-Hirnen

In der Petrischale können sich menschliche embryonale Stamm-zellen (ES-Zellen) zu Vorläufern vieler verschiedener Gewebetypenentwickeln. Amerikanischen Wissenschaftlern ist es nun in Koopera-tion mit dem Neurowissenschaftler Professor Dr. Oliver Brüstle vonder Universität Bonn gelungen, aus humanen ES-Zellen gewonneneneurale Vorläuferzellen im Gehirn zur Ausreifung zu bringen. DieBefunde stellen einen wichtigen Schritt in Richtung einer therapeu-tischen Nutzung embryonaler Stammzellen für die Behandlungneurologischer Erkrankungen dar. Das Ergebnis ist kürzlich in derrenommierten Zeitschrift „nature biotechnology“ erschienen.

Die US-amerikanische Arbeitsgrup-pe um Professor James Thomsonhatte aus Stammzellkulturen neuraleVorläufer isoliert. Diese Vorläuferzel-len können Nerven- und Gliazellenbilden – die beiden Zelltypen, diebeim Menschen fast die gesamte Hirn-substanz ausmachen. Die Forscherimplantierten diese Zellen in neuge-borene Mäuse und schickten das Ge-webe anschließend auf die weite Reisenach Bonn.Professor Brüstle und sein Mitarbei-ter Dr. Marius Wernig haben die fi-xierten Gehirne dann untersucht. Er-gebnis: Die transplantierten Zellenwaren mit der Zeit in verschiedeneGehirnregionen eingewandert und dortzu Glia- und Nervenzellen ausgereift.„In keinem einzigen Fall hatten sichaus den Fremdzellen Tumoren gebil-det“, betont Professor Brüstle eineweitere wichtige Beobachtung seinerArbeitsgruppe. Da sich ES-Zellen be-liebig häufig teilen können, sehen

Mediziner die Gefahr, daß sich dieZellen im Organismus unkontrolliertvermehren könnten.Der Neurowissenschaftler hatte be-reits 1999 ähnliche Experimente mitES-Zellen der Maus durchgeführt –

ebenfalls mit weltweit beachtetemErfolg. Obwohl die aktuellen Ergeb-nisse das Potential EmbryonalerStammzellen eindrucksvoll unter-mauern, betont Professor Brüstle, erwolle in jedem Fall die Entscheidungder Bundesregierung und der Deut-schen Forschungsgemeinschaft zumStammzell-Import abwarten, bevorer selbst ES-Zellen zu Versuchs-zwecken importiere. „Momentan istes uns leider nur unter großen Ein-schränkungen möglich, an internatio-nalen Stammzell-Projekten mitzuar-beiten“, bedauert der Mediziner undhofft nun auf eine baldige positiveEntscheidung zum Import bereitsbestehender ES-Zelllinien nachDeutschland. Bei Drucklegung der„forsch“ stand die für Ende Januarerwartete Entscheidung des Bundes-tags noch nicht fest.

FL/FORSCH

Das Medien-Interessean der Stamm-zellforschung undihrem prominentestenProtagonisten Profes-sor Oliver Brüstle istmomentan riesig.

Pillenaus LauchKnoblauch gilt als wahrer Tau-sendsassa der Naturheilkunde:Die geruchsintensive Zehe stärktdas Immunsystem, hilft gegenerhöhte Cholesterinwerte und sollsogar Darmkrebserkrankungenvorbeugen. Ob auch andereLauchgewächse pharmazeutischwirksam sind, untersuchen Wis-senschaftler am Institut für Phar-mazeutische Biologie der Univer-sität Bonn zusammen mit Kollegenaus Mittelasien. Das Projekt wirdvon der Volkswagenstiftung mit337.000 Euro unterstützt.Dr. Michael Keusgen und seinTeam richten ihren Blick damit aufeine Pflanzenfamilie, deren Ver-treter schon seit Menschengeden-ken als Arznei, Gewürz oder Ge-müse verwendet werden – die se-gensreichen Wirkungen des Knob-lauchs waren bereits Aristotelesund Plinius bekannt. Über die inSüdwestasien bis in die mittel-asiatischen Berggebiete verbrei-teten Lauchgewächse weiß manjedoch nur wenig; die Forscherwollen auch die einheimische Be-völkerung nach ihrem Wissenüber diese Arten befragen.

FL/FORSCH

Im Januar hat Dr. Oliver Brüstleden Ruf auf die Professur für

„Rekonstruktive Neurobiologie“angenommen. Die Gemeinnützi-ge Hertie-Stiftung hatte denLehrstuhl im vergangenen Jahrgemeinsam mit der UniversitätBonn eingerichtet. Damit wurdediese medizinische Forschungs-richtung erstmals an einer deut-schen Universität verankert.Professor Brüstle reizt beson-ders die Aufgabe, „den völligneuen Forschungsbereich derrekonstruktiven Neurobio-logie inBonn aufzubauen und der Biolo-gie der Stammzellen ihre Geheim-nisse zu entlocken“.

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Saurierausgrabung in Texas geplantBonner Paläontologie-Doktoranden suchen noch Sponsoren

Sie heißen „Klapperschlangen-Canyon“ (Rattle SnakeCanyon) oder „Bachlauf der Dornbüsche“ (Briar Creek),und sie beherbergen einen riesigen Schatz uralterWirbeltier-Fossilien: Die Grabungsstätten imnordtexanischen Archer County. In den letzten 30Jahren sind die Fundstellen kaum erforscht worden;selbst eine detailgenaue Kartierung steht noch aus.Wissenschaftler der Universität Bonn planen nun inKooperation mit der University of Texas und der ArcherCounty Historical Comission, die Fossilfundstellen genau-er unter die Lupe zu nehmen, und hoffen auch aufspektakuläre Neufunde. Doch bevor die sechswöchigeSuche im kommenden Herbst beginnen kann, müssendie Paläontologen noch Sponsoren finden.

Organisiert wird die Expedition vonden Paläontologie-Doktoranden Ni-cole Klein und Oliver Wings zusam-men mit dem Diplomanden LarsSchmitz unter wissenschaftlicher Be-ratung von Dr. Otto Sander. Im kom-menden September wollen die dreizusammen vor Ort eine detaillierte Er-hebung durchführen. Um die sechs-wöchige Untersuchung finanzieren zukönnen, suchen die Paläontologen nunnach Sponsoren, denen sie im Gegen-zug Vorträge oder Berichte anbieten.Bereits 1878 entdeckte Jacob Boll dieersten Wirbeltier-Fossilien in Nord-texas; in den zwanziger Jahren desletzten Jahrhunderts machten Wis-senschaftler dann spektakuläre Fun-de von riesigen Amphibien und säu-getierähnlichen Reptilien. Auf 280

Millionen Jahre schätzen Wissen-schaftler das Alter der Knochenfun-de; die Fossilvorkommen sind welt-weit einzigartig. Weitere Bedeutung

erhalten die Fossil-Stätten dadurch,daß sie einen Einblick in das erste voll-ständige Land-Ökosystem der Erd-geschichte ermöglichen.

Halbvergessene Fundorte

Die Bonner Paläontologen wollen vorallem die Grabungsstätten genauerkartieren und dazu auch das satelli-tenbasierte Ortungssystem GPSnutzen. Bislang droht das Wissen umdie genauen Fundorte verloren zu ge-hen: Die schriftlichen Aufzeichnun-

gen sind ungenau, Personen, die dieGrabungsstätten kennen, meistschon jenseits der 70 oder bereitsverstorben. Doch die Forscher hof-

fen auch, neue Fundstellen zu ent-decken: „Wir rechnen mit gut erhal-tenen Fossilien, die Aufschluß überLebensbedingungen und Todesum-stände der Tiere geben“, erklärt Oli-ver Wings vom Institut für Paläon-tologie. Ein Teil der neu entdecktenKnochen soll später die Bonner Lehr-sammlung ergänzen.Die Bonner Paläontologen haben be-reits 1999 eine Exkursion zu den nord-texanischen Grabungsstätten unter-nommen und davon einige gut erhal-tene Überreste aus der Vorzeit mit nachBonn gebracht. Bei der geplanten Ex-pedition werden sie sowohl von derUniversität von Austin, Texas, alsauch von örtlichen Landbesitzern un-terstützt. Sollte die Forschungsreisedie Erwartungen erfüllen, planen dieBonner eventuell eine größere wissen-schaftliche Ausgrabung und studenti-sche Exkursionen.

FL/FORSCH

Wer die Ausgrabung unterstüt-zen möchte, kann sich mit demInstitut für Paläontologie in Ver-bindung setzen. Ansprechpart-ner: Oliver Wings, Institut fürPaläontologie, Tel: 0228/73-4683, Fax: 0228/73-3509, E-Mail:[email protected], oder Dr.Otto Sander, Tel.: 0228/73-3105,E-Mail: [email protected]

oben: Skelett vonEdaphosaurus,

Harvard University

rechts: Bereits imJahr 1999 veran-

staltete das Institutfür Paläontologie

eine Exkursion zumBriar Creek

Bonebed.

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Bisher sind dieexistierendenLaufroboter

ziemlich trägeund störanfällig.

Der Tanz auf der KugelBonner Biologen wollen einem Roboter das Gehen beibringen

Spinnen, Krebse und Skorpione zählen sicherlich nicht zu denintelligentesten Bewohnern unserer Erde. Mit ihren zahlreichenBeinen können sich diese „Krabbeltiere“ aber eleganter fortbewe-gen als die kompliziertesten Roboter, die Ingenieure bisher gebauthaben. Neurobiologen der Universität Bonn wollen herausfinden,wie Gliedertiere unwegsame Gebiete erkunden, und beratenWissenschaftler vom Fraunhofer Institut aus Sankt Augustin beimBau eines Laufroboters.

Das Ding sieht aus wie ein Sandwich-Toaster aus glänzendem Edelstahl, anden irgendein Daniel Düsentrieb achtstaksige Beine geschraubt hat. Zumin-dest, bis es sich bewegt – dann wirddeutlich: Der Toaster läuft wie einSkorpion. Vorsichtig hebt er ein Vor-derbein und bewegt es nach vorne.Sobald es festen Stand hat, wird derKörper ein Stück nach vorne ge-stemmt. Dann dieselbe Prozedur mitdem zweiten Bein, und so pflanzt sichdie Bewegung bis zum hinteren Bein-paar fort.„Das Ding bewegt sich schon nichtschlecht“, konstatiert der BonnerNeurobiologe Dr. Hartmut Böhm,„aber an sein natürliches Vorbildkommt es noch bei weitem nicht her-an.“ Die Wissenschaftler um Profes-sor Dr. Hans-Georg Heinzel liefernihren Kollegen Professor Dr. ThomasChristaller und Dr. Frank Kirchnervom Fraunhofer-Institut für Autono-me Intelligente Systeme in Sankt Au-gustin die Datengrundlagen für dieKonstruktion einer autonomen Lauf-maschine – und schauen dabei imwahrsten Sinne des Wortes der Naturauf die Finger. Oder besser noch auf

die „Tarsen“ – so nennt man die End-glieder der Skorpionbeine, und Skor-pione stehen den Forschern bei derKonstruktion des autonomen Robo-ters Pate.Autonome Laufroboter sind vor allemin unwegsamem Gelände gefragt – bei-spielsweise in Wüsten oder auf Ge-röllfeldern. Skorpione haben für sol-che Herausforderungen der Umge-bung, die auch das geländegängigsteAuto überfordern, nur ein müdes Lä-cheln übrig. ProfessorHeinzel und seine Mit-arbeiter untersuchen,wie der Spaltenskorpi-on Hadogenes bicolorderartig menschenfeind-liche Gebiete erobernkann. Dieses Know-how ließe sich bei-spielsweise für die Kon-struktion einer autono-men Marssonde einsetzen, die Befeh-le aus dem Kontrollzentrum selbsttä-tig ausführt wie: „Gehe zwei Kilome-ter nach Westen und entnehme dabeiregelmäßig Bodenproben. Dann kehrezurück zum Ausgangspunkt.“ Der gut19 Millionen Euro teure Marsrover

„Sojourner“, der im Juli 1997 währendder Pathfinder-Mission den Boden desRoten Planeten untersuchte, hatte da-gegen nur einen Aktionsradius vonwenigen Metern.„Bisher sind die existierenden Lauf-roboter ziemlich träge und störanfäl-lig“, gibt Professor Heinzel zu, „siefunktionieren nur, wenn nichts Un-gewöhnliches in ihrer Umgebung vor-kommt, auf das sie reagieren müs-sten.“ Der Skorpion ist da wesent-lich flexibler: Klettert er beispielsweiseeinen steilen Sandhügel hoch und re-gistriert, daß der Grund unter ihm insRutschen gerät, ändert er seinen Lauf-stil: Er schlägt seine Scheren abwech-selnd in den Boden und robbt voran –ähnlich wie ein amerikanischer Mari-ne-Soldat im Trainingslager. „Dazubrauchen die Tiere natürlich passen-

de Sensoren, mit denensie spüren können, daßder Boden nachgibt“,betont der Neurobiolo-ge.Was die Sensoren zurErfassung der Umge-bung anbelangt, ist derSkorpion aus Südafrikaseinem High-Tech-Pen-dant aus dem rheini-

schen Sankt Augustin meilenweitüberlegen. Während der nur über einpaar Dutzend Meßfühler verfügt, fin-den sich beim Spaltenskorpion alleinan jeder Schere 182 Sinneshaare.Schon mit Hilfe dieses Vibrations-sinns nimmt das wenige Zentimeter

Der Natur abgeschaut:Der Roboter und seinVorbild

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große Tier deutlich mehr von seinerUmgebung wahr als sein gut 200malso schwerer Klon. Ganz abgesehenvon den acht Augen und den bis heutegeheimnisvollen, skorpionstypischenKammorganen, den Pecten, derenFunktion immer noch nicht richtigverstanden ist.Eine der Hauptaufgaben der Neuro-biologen ist es daher, herauszufinden,welche Sinne für den Geländelaufwichtig sind und wie sich der Laufstilbei ihrer Reizung verändert. Dazumarkieren die Biologen die Gelenkealler Körperglieder mit leuchtend gel-ben und grünen Punkten und filmenmit zwei Videokameras den Lauf desTiers in einer mit feinem Sand gefüll-ten Plexiglasröhre. Über Flaschenzü-ge verändern sie die Neigung des zweiMeter langen Rohrs, um zu untersu-chen, wie der Skorpion einen Sand-hang hoch oder herunter läuft. Wäh-rend des Experiments kann der Com-puter in den beiden simultanen Video-aufnahmen die Markierungen verfol-gen und errechnet dann nicht nur eindreidimensionales Bild der Schreitbe-wegungen aller Laufbeine, sondernauch das Bewegungsmuster der ande-ren markierten Körperteile, zum Bei-spiel der Scheren.Ganz besonders stolz sind die Wis-senschaftler auf eine schwarze Kugelvom Umfang eines großen Medizin-balls. Wird der Skorpion auf dieseKugel gesetzt und läuft los, registrierteine dritte Kamera seine Bewegungs-richtung und gibt sie an einen Bewe-gungskompensator weiter. Der drehtdaraufhin die Kugel so, daß der Skor-pion immer oben bleibt – auch, wennihm die Forscher Hindernisse in denWeg legen. „Der Skorpion bleibt im-mer im Fokus der beiden Videokame-ras, egal, wohin er gehen möchte“,erklärt Professor Heinzel. „Außerdemkönnen wir ihn stundenlang laufenlassen, während ein Computer die

Richtungsände-rungen registriertund uns nachheranzeigt.“„Ingenieure kön-nen von natürli-chen Vorbildernviel lernen“, meintsein Kollege Dr.Hartmut Böhm,„schließlich ste-hen die Tiere seitJahrmillionen un-ter dem evoluti-ven Druck, sich an

die Umgebung möglichst optimal an-passen zu müssen. Ein menschlicherKonstrukteur würde häufig zu ganzanderen Lösungen kommen – auf denersten Blick vielleicht auch zu besse-ren – aber es könnte bestimmt eineMenge kostenintensiver Entwick-lungarbeit gespart werden, wenn Vor-

bilder aus der Biologie stärker berück-sichtigt würden.“In der Kooperation mit dem Institutfür Autonome Intelligente Systemesehen beide den Beleg, daß sich Infor-mationstechnologie und Biologie ge-genseitig befruchten können. Profes-sor Heinzel: „Wir sind Biologen undbauen keine Roboter. Wir können aberunseren Kollegen Tips geben, wie ihreRoboter besser werden – wenn sie aufuns hören.“Angst vor den stachelbewehrten Glie-derfüßlern haben die Forscher übrigensnicht. „Es gibt da so eine Faustregel“,schmunzelt Dr. Böhm: „Je größer sei-ne Scheren, desto ungiftiger der Skor-pion.“ Das Tier, das auf der Laufkugeldahin schreitet, besteht zu einem gu-ten Drittel aus Scheren. „Der ist kaumgiftiger als eine Biene. Aber wenn erzukneift, wird es schmerzhaft.“

FL/FORSCH

Grünalgen geben GasGen für Wasserstoffproduktion identifiziert

Ob in Form von Brötchen, als Knusperflocken oder „Spaghetti alPesto di Mare“: Die Nahrungsmittelindustrie ist auf dem „Algen-Trip“ und verkauft die Wasserpflanzen als leckere Energiespenderan gesundheitsbewußte Verbraucher. Doch auch in andererHinsicht könnten Algen unsere Energie-Probleme lösen helfen:Einige von ihnen können Wasserstoff produzieren, mit dessenHilfe in Zukunft Autos angetrieben oder Laptops mit Stromversorgt werden sollen. Wissenschaftler der Universität Bonnhaben nun aus Grünalgen das Gen für die Wasserstoffproduktionisoliert – und einen Algenstamm gentechnisch so verändert, daßer mehr als doppelt so viel Wasserstoff erzeugen kann wie zuvor.

„Wasserstoff ist ein guter Energie-speicher“, erklärt Dr. Thomas Hap-pe aus dem Botanischen Institut derUniversität Bonn, „für die Algen be-deutet es daher einen Energieverlust,Wasserstoff an die Umwelt abzuge-ben.“ Verschiedene Grünalgen machendas denn auch nur, wenn man sie dazuzwingt: Die kalifornische Firma Me-lis Energy, mit der die Bonner For-scher kooperieren, hat sie zu diesemZweck auf Schwefeldiät gesetzt –Schwefel ist Bestandteil vieler lebens-wichtiger Zelleiweiße. Die Alge schal-tet darauf ihren Stoffwechsel aufSparflamme, ein Teil der Photosyn-these läuft aber weiter auf Hochtou-ren und erzeugt große Mengen ener-giereicher Verbindungen, die die Zel-len gar nicht verwerten können. Sie„entsorgen“ schließlich die über-

schüssige Energie in Form von Was-serstoff.Das farblose, ungiftige Gas könntebald ganz groß herauskommen: Ex-perten sehen in ihmden Energieträger derZukunft, der Autosund Busse antreibenoder Digitalkameras,Handys und Lap-tops über Stundenmit Strom versorgensoll. Möglich wirddie Revolutiondurch die Weiterent-wicklung der Brenn-stoffzelle. In ihr rea-giert Wasserstoff mitdem Sauerstoff derLuft zu Wasser underzeugt dabei Strom

Wolfgang Braun ausder Feinmechanischen

Werkstatt stellt mitseinen Kollegen vieleder Apparaturen her,

die die Skorpionfor-scher für ihre Experi-

mente benötigen.

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– etwa für den Antrieb von Elek-tromotoren. Vorteil: Wasser läßtsich unter Verbrauch von Energiewieder in Sauerstoff und Wasser-stoff spalten. Nutzt man die Kraftder Sonne, um diesen Kreislaufaufrechtzuerhalten, fallen theore-tisch nicht einmal Schadstoffe an.Und im Gegensatz zu elektrischerEnergie, wie sie Solarzellen erzeu-gen, läßt sich Wasserstoff ohnegroße Probleme speichern – nurso ist gewährleistet, daß die ent-sprechenden Geräte auch dann ar-beiten, wenn mal nicht die Sonnescheint.Seit sechzig Jahren weiß man, daßGrünalgen im Prinzip aus WasserSauerstoff und Wasserstoff produ-zieren können. Dabei hilft ihnen einZelleiweiß, das Enzym Hydrogen-ase; die nötige Energie liefert die Pho-tosynthese. Dr. Happe und seinenMitarbeitern ist es gelungen, das Genmit dem Bauplan der Hydrogenase ausverschiedenen Grünalgen zu isolieren.Nun versuchen die Wissenschaftler, dieräumliche Struktur desEnzyms zu entschlüs-seln. So hoffen sie zu er-kennen, wo genau sichdie Reaktionspartner andas Eiweiß anlagern undwie es die Wasserstoff-bildung katalysiert. DieExperimente dazu sindaufwendig – bislang ar-beiten die Bonner For-scher daher mit Computerbildern, dieder Realität schon ziemlich nahe kom-men.„Unsere Hydrogenase ist sehr einfachaufgebaut“, erklärt der Biochemiker,„und das macht es natürlich leichter,ihre Wirkungsweise zu verstehen.“Daher ist ihr Fund auch weltweit aufgroßes Interesse gestoßen – zumal das

Enzym in großen Mengen Wasser-stoff produziert. In einem internatio-nalem Projekt, das von dem japani-

schen Energieministeri-um gefördert wird, ver-suchen die Forschernun, sowohl die Pho-tosynthese-Systemeals auch die Hydrogen-ase aus Blau- und Grün-algen zu isolieren undan künstlichen Mem-branen zu befestigen.Bei Sonneneinstrah-

lung, so ihr Kalkül, könnte eine sol-che – vergleichsweise wartungsarme– „biochemische Batterie“ Wasser-stoff herstellen.Einfacher ist es, die Grünalgen direktfür die Energieproduktion einzuspan-nen – gewissermaßen als einzellige„Galeerensklaven“. Die Wasserstoff-Synthese ist für Grünalgen allerdings

ein Schutzmechanismus, der nur in„Hungerzeiten“ zum Tragen kommt.Dementsprechend niedrig ist norma-lerweise die Hydrogenase-Konzentra-tion in den Algen-Zellen – und je we-niger Hydrogenase vorhanden ist, de-sto weniger Wasserstoff entsteht. DieBonner Wissenschaftler haben demHydrogenase-Gen daher einen Turbovorgeschaltet, der dafür sorgt, daß dieErbinformation häufiger abgelesenwird und die Alge entsprechend mehrEnzym produziert. Mit Erfolg: DieAlge mit dem Turbolader produziertdie zwei- bis dreifache Menge des be-gehrten Gases wie ihre Verwandtenaus der freien Wildbahn. „Wir müs-sen nun die Mutante genauer gene-tisch untersuchen“, erklärt Dr. Hap-pe. „Wir betrachten diesen Erfolg aberals ersten Schritt zur großtechnischenProduktion von Wasserstoff.“

FL/FORSCH

Erster Schrittzur groß-

technischenProduktion von

Wasserstoff

Aus Licht wird Gas wirdStrom: Anja Hemsche-meier demonstriert imLabor, was in Zukunftvielleicht auch groß-technisch funktioniert.

Kulturen von gen-technisch verändertenGrünalgen auf einemNährboden – verglichenmit ihren Verwandtenaus der freien Wild-bahn produzieren siedie zwei- bis dreifacheWasserstoffmenge.

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Muntermacher für müde BödenSchmetterlingsblütler verbessern Reiserträge

Den Ackerböden Westafrikas verlangt der Mensch vielab: Steigende Bevölkerungszahlen und schrumpfendeAnbaugebiete haben dazu geführt, daß die Erholungs-perioden für die Felder immer kürzer werden – mitnegativen Folgen für den Ertrag. Einen Ausweg sehenWissenschaftler der Universität Bonn in dem Anbau vonBrachepflanzen, die dem Boden in kurzer Zeit besondersviele Nährstoffe zuführen.

Asche ist ein guter Dünger – das wis-sen auch die Kleinbauern in Westafri-ka. Seit Jahrhunderten machen sie ihreFelder mittels Brandrodung für denAnbau von Trockenreis nutzbar: Sieschlagen den Waldbestand ab, verbren-nen das Holz und führen mit derAsche den Reispflanzen viele wichti-ge Nährstoffe zu. Auf eine Anbaupe-riode folgte früher eine Brachezeit von12 bis 15 Jahren, in der der Wald dasFeld zurückerobern konnte. Doch dieWaldbestände werden rar, und die Fel-der müssen immer mehr Münder sattmachen. Folge: Heute wird das selbeStück Land alle zwei bis sechs Jahrewieder bepflanzt. In dieser Spannekann sich der Boden nur ungenügendregenerieren, Unkräuter breiten sichaus, der Reisertrag geht zurück.„Wir sind daher auf die Idee gekom-men, die Qualität der Brache zu ver-bessern“, erklärt Professor Dr. Ma-thias Becker vom Institut für Pflan-zenernährung in den Tropen und Sub-tropen. Das Prinzip ist einfach: Zie-hen die Landwirte während der kur-zen Regenerationsphasen Pflanzenheran, die besonders viele essentielle

Nährstoffe an den ausgelaugten Bo-den abgeben, sollten sie auch bei kur-zen Brachezeiten höhere Reiserträgeerzielen. „Wir haben 160 Pflanzenunter die Lupe genommen, von denenwir wußten, daß sie vielleicht in Fra-ge kommen“, erläutert Professor Bek-ker, „und zwar alle aus der Gruppeder Leguminosen.“Zu diesen „Schmetterlingsblütlern“gehören beispielsweise Erbsen oderBohnen. Fast alle Schmetterlingsblüt-ler besitzen die Fähigkeit, Stickstoffaus der Luft zum Aufbau von Zell-material zu nutzen. Den Luftstick-stoff können sie aber nicht selbstsammeln – dazu sind sie auf die Hilfevon Bakterien angewiesen, die sichan ihren Wurzeln ansiedeln und dortknotige Verdickungen bilden: dieKnöllchenbakterien. Werden diePflanzen verbrannt, bleibt eine Mi-schung aus Asche und stickstoffhal-tigen Pflanzenresten zurück – ein ef-fektiver natürlicher Dünger.„Zusätzlich sollten die Pflanzen aberauch gegen Unkräuter wirken“, erklärtProfessor Becker: Die Fläche, die einLandwirt mit seiner Frau bewirtschaf-ten kann, wird vor allem durch denArbeitsaufwand begrenzt, der für dieEntfernung von Unkräutern aufge-wendet werden muß. Viele Pflanzenwehren sich gegen unliebsame Kon-kurrenz – „beispielsweise, indem sieüber die Wurzeln sogenannte Allelo-chemikalien an den Boden abgeben,die andere Arten am Wachstum hin-dern.“ Die Bonner Wissenschaftlerhaben die Wirkung der 160 Legumi-nosen gegen Unkrautbefall überprüft– und zwar in der trockenen Sahel-Zone, in der halbtrockenen Savanneund im Regenwald. Insgesamt zwölfSorten blieben übrig, die schnell wach-sen, viel Stickstoff fixieren und gleich-zeitig Unkräuter fern halten.Doch damit noch nicht genug: Nunmußten sich die Kandidaten im Pra-xistest bewähren. „Wir haben ortsan-sässige Landwirte gebeten, die Pflan-zen in der Brachezeit anzubauen –auch um zu sehen, welche sie am be-sten akzeptieren“, erläutert der Agrar-wissenschaftler. Interessantes Resul-tat: In der Praxis entscheiden häufigNebenaspekte über Akzeptanz oderNichtakzeptanz, an die die Forschergar nicht gedacht hatten. So halten

viele Bauern in der Savanne zusätz-lich Vieh – die Brachpflanzen solltensich daher auch als Tierfutter eignen.„Im Standort Wald dagegen suchtendie Männer vor allem nach hoch undgerade wachsenden Brachepflanzen,weil sie aus den Stengeln Zäune gegenBuschratten bauen.“ Für den Waldgenügten nur noch vier Kandidatendiesen Anforderungen. „Und von de-nen waren drei entweder zu hart fürdie Machete oder brannten schlecht.“Da die einzige übriggebliebene Pflan-ze, die Crotalaria, auch den Bewuchsmit waldspezifischen Unkräutern un-terdrückte, konnte sie auch die Frau-en überzeugen, die traditionell für dasJäten der Felder zuständig sind.Als Brachepflanze war die Crotalariaein großer Erfolg. „Wir haben sie ansechs Pilotfarmen verteilt und damitErtragssteigerungen von bis zu 40 Pro-zent erzielt“, so Professor Becker. Ei-ner der Landwirte hatte sogar die Bra-che auf wenige Monate verkürzt undauf demselben Stück Land jedes JahrTrockenreis angebaut – mit ähnlichenErträgen, wie sie früher nur bei einerBracheperiode von zehn bis zwölf Jah-ren zu erzielen waren. „Zumindestkurzfristig scheint das sehr gut zu funk-tionieren. Aber auf Dauer werden dieLandwirte ohne Zudüngung nicht aus-kommen, sonst sind die Phosphatre-serven im Boden schnell erschöpft.“Doch auch für dieses Problem ist eineLösung in Sicht: Viele westafrikani-sche Länder verfügen über große Vor-kommen von Rohphosphaten, die, dasie unter normalen Bedingungenschlecht löslich sind, bislang meistnach Frankreich exportiert und dortveredelt werden. Ein Reimport ist fürdie Erzeugerländer aber zu teuer, da-her fördert die Weltbank vermehrt dieNutzung des Rohphosphats als Dün-ger vor Ort. „Weil die Böden in West-afrika sehr sauer sind, könnte das auchfunktionieren“, hofft Professor Bek-ker. In saurer Umgebung lösen sichdie Phosphate besser. „Einer meinerDoktoranden untersucht momentan,wie sich die Zudüngung bei gleichzei-tigem Anbau unserer Brachepflanzenauf den Ertrag auswirkt.“ Erste Erfol-ge zeichnen sich bereits ab: „Die Er-träge sind noch höher, als sie es ohneDüngung waren.“

FL/FORSCH

Durchgeeignete

Brache-pflanzen

läßt sich derReisertrag

in denTropen und

Subtropenerheblichsteigern.