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KRISEN&KATASTROPHEN Schließungen - Kürzungen - sechsstelliges Haushaltsdefizit Bericht zur kritischen Lage der Bielefelder Soziologie Die gescheiterte Apokalypse Eine Anleitung zum Vorhersagen des Weltuntergangs und zum Überstehen des Irrtums "Katastrophen sind immer soziale Katastrophen" Interview mit Daniel F. Lorenz von der Katastrophen- forschungsstelle der FU Berlin

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Bist du nicht in Bielefeld und möchtest in den Genuss der gedrucktensozusagen kommen? Dann schick uns einen mit 1,45€ frankierten DinA4Briefumschlag und wir schicken dir die aktuelle Ausgabe gerne zu.

sozusagen RedaktionPostfach Nr. 100131Universität Bielefeld,Fakultät für SoziologieUniversitätsstr. 2533615 Bielefeld

Editorial„Lasst mich durch, ich bin Soziologe*!“ – Ein Satz, den man angesichts derzum Teil schrägen Gesellschaftsdiagnosen dieser Tage öftersherausschreien möchte, es aber doch eher selten tut. Dabei würde derSoziologie etwas mehr Selbstvertrauen gut stehen, schließlich wird dieseauch als „Krisenwissenschaft“ bezeichnet. Ihr begriffliches Instrumentariumdürfte somit in Zeiten von Euro-Dauerkrise und Katastrophenalarmismusnützlich sein. Mit dieser Intention haben wir Bielefelder Studierende undLehrende zu den Themen „Krisen und Katastrophen“ zu Wort kommenlassen, wobei vielfältige Perspektiven und Herangehensweisen entstandensind.

So bietet diese Ausgabe unter anderem einen Einblick in die Krise desöffentlichen Raumes, welche unter dem Aspekt der Street-Art thematisiertwird sowie unterhaltsame soziologische Karikaturen und eine „Anleitung“für die Gründung von Weltuntergangsgruppen. Lesenswert insbesondere füralle, die am 21.12. des letzten Jahres enttäuscht wurden, aber den Glaubenan den Weltuntergang nicht aufgeben wollen.

Außerdem haben wir die Lehrenden der Fakultät gefragt, ob und in welcherHinsicht Krisen und Katastrophen in ihrer Forschung vorkommen, was einenbreiten Blick auf die Bielefelder Forschung bietet. In diesem Zusammenhangauch interessant: Was sagt eigentlich Luhmanns Zettelkasten zu diesenThemen? Die Antwort darauf ist im „Bericht aus dem Zettelkasten“ zufinden. Spannendes aus der deutschen Katastrophenforschung findet ihr ineinem Interview mit der Katastrophenforschungsstelle in Berlin.

Zudem gibt es natürlich die neuesten Informationen aus derHochschulpolitik, Kommentare zu aktuellen Entwicklungen und dastraditionelle „Autopoesiealbum“, in dem sich Lehrende der Fakultätpräsentieren. Dieses Mal haben wir Andreas Pöge darum gebeten, unsereFragen zu beantworten.

Wir möchten an dieser Stelle auch schon einmal für unseren Call for Paperswerben: Die nächste Ausgabe widmet sich dem Thema „Klassenkampf?!“.Wer nun irritiert ist oder denkt, dass hierzu bereits alles verhandelt wurde,dem sei ein Blick auf unseren Call for Papers angeraten. Dort finden sichzahlreiche Anregungen, denn das Thema führt viele spannende und auchaktuelle Fragen mit sich.

Wer außerdem Lust hat, uns bei der kommenden Ausgabe auch redaktionellzu unterstützen, kann sich gerne bei uns melden – redaktionelleVorerfahrungen sind nicht nötig. Alles was ihr braucht, lernt ihr bei uns.

Wir wünschen euch jetzt erst einmal viel Spaß mit der aktuellen Ausgabeund freuen uns auf eure Zusendungen zum nächsten Heft!

Die Redaktion.

*Gendering:In der sozusagen wird es jedem Autor und jeder Autorin selbst überlassen, ob und in welcherForm er oder sie seine oder ihre Sprache gendern möchte. Aus diesem Grund werdet ihr aufden folgenden Seiten keine einheitliche Form finden.

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NewsNachrichten aus der Fakultät

von Sophia Cramer & Lukas Daubner

HochschulpolitikKrisengeschüttelt etwas anders

Bericht zur Lage der Bielefelder Soziologievon Sophia Cramer & Lukas Daubner

Zur Situation der FakultätKommentar vonSophia Cramer & Lukas Daubner

Die Noten an deutschen Universitätenwerden immer besserKolumne von Rainald Manthe

Modell SprachschuleDie Effekte der neuen Mode derKompetenzorientierung an den HochschulenGastbeitrag von Stefan Kühl

AuflockerndesPrahlen mit ZahlenKarikaturen

von Magdalena Aue & Tobias Conradi

EssaysDie gescheiterte Apokalypse

Wie man den Weltuntergang vorhersagt undden Irrtum übersteht – eine Anleitungvon Alexander Engemann

Krisen, geschütteltGastbeitrag von Dirk Bathen

Street Art als Krise der verwalteten Stadtvon Simon Schaupp

Den Krieg sortierenThesen zur Beobachtung von Kriegenvon Sophia Stockmann

BerichteKrisen und Katastrophen – Kein Thema für

Niklas Luhmann?Bericht aus dem ZettelkastenGastbeitrag von Johannes Schmidt

36. Kongress der Deutschen Gesellschaftfür SoziologieEin Kongressberichtvon Anja Jahnel & Jana Schäfer

ForschungWirtschaftskrise, Krisenkonstruktion

oder KriegAktuelle Forschungsprojekte zu Krisen undKatastrophen an der Fakultät für Soziologievon Sophia Cramer & Finn-Rasmus Bull

Interview„Wenn man über Katastrophen

nachdenkt, dann sind das immersoziale Katastrophen.“Interview mit Daniel F. Lorenz

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TutoriumDie Eurokrise und die Kategorisierungen

des SozialenGastbeitrag von Barbara Kuchler

AutopoesiealbumAndreas Pöge

Soziologisches DuettWozu und wie Krisen und Katastrophen

soziologisch erforschen?Hendrik Vollmer und Sven Kette antworten

AutopoetischesApokalypsen und andere Katastrophen

Gedichte von Tobias Hauffe

RezensionLeseempfehlungDie Kunst des professionellen Schreibensvon Alexander Engemann

ImpressumLeserbriefe

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Highlights Zum Ende des Jahres 2012

musste das Institut für Wissen-schafts- und Technikforschung(IWT) seinen Betrieb einstel-len.

Master-Reform Soziologie: Derneue Master ist im WS 12/13angelaufen, dennoch nicht alleVerbesserungsvorschläge ein-gearbeitet.

Panne: Internationale Studie-rende können nicht alle Veran-staltungen imSoziologie-Master auf Englischbesuchen

Kein CHE-Ranking mehr für diesoziologische Fakultät in Biele-feld bis die Erhebungsmethodeverbessert ist.

HochschulpolitikNeuzugänge

Viele kennen Tomke König viel-leicht schon. Sie war bisher die Ver-tretungsprofessorin für Ursula Müllerim Bereich sozialwissenschaftlicheFrauen- und Geschlechterforschung.Seit diesem Wintersemester ist sieauf die Professur Geschlechtersozio-logie berufen. Frau Königs unter an-derem durch die kritische Theoriegeprägter Hintergrund wird dasSpektrum der Lehre sicherlich berei-chern. Die sozusagen wünscht allesGute!

VerlusteSowohl für den Vorstand als auch

für das Dekanat kam die Nachrichtüberraschend: Zum Ende des Jahres2012 musste das Institut für Wissen-schafts- und Technikforschung (IWT)seinen Betrieb einstellen. Schon seitlangem rumorte es dort. Dreimalkonnte die Professur Wissenssoziolo-gie nicht besetzt werden, da dasRektorat und der IWT-Vorstand sichnicht auf einen Kandidaten einigenkonnten. Wie es mit dem IWT undseinen Mitarbeitern und Mitarbeite-rinnen weitergeht, wird momentan

beraten. Warum das Rektorat aberletzten Endes diese drastische Ent-scheidung getroffen hat, können wirnicht ergründen.

StudiengängeMaster Soziologie

Nachdem wir schon in den letztenbeiden Ausgaben über die Reformdes Masters berichtet hatten undauch verkündeten, dass dieser imWintersemester 2012/13 anläuft,können wir freudig berichten: ja, dieerste Kohorte ist eingeschrieben undes scheint bisher keine großartigenSchwierigkeiten zu geben. Das Be-sondere an der neuen Studienord-nung ist die maximal hoheWahlfreiheit der Seminare und dieAbkehr von einer hohen Prüfungs-dichte. Die sozusagen beglück-wünscht die Fakultät zur Umsetzungdieses neuen Master-Modells. Stu-dierende des alten Masters Soziolo-gie, die sich umschreibenwollen, können sich auf der Homepa-ge des Prüfungsamtes und in denSprechstunden desselben über dienötigen Schritte informieren.

Lob am Konzept im Wettbewerb„Unigestalten“

Das Master-Konzept gewann zwarnicht den im Wettbewerb „Unigestal-ten“ ausgelobten Preis, wurde aberin einer Publikation des Stifterver-bandes für die Deutsche Wissen-schaft und der Jungen Akademiebesonders gewürdigt. Das in einerReihe von Workshops von Studieren-den der Fachschaften und Vertre-ter_innen der Lehrenden erarbeiteteKonzept wurde besonders für seineWahl- und gleichzeitigen Profilbil-dungsmöglichkeiten in den For-schungsschwerpunkten gelobt. Esstärke so die Verknüpfung von For-schung und Lehre.

Ein Wermutstropfen bleibt...Leider, und das ist sehr ärgerlich,

sind einige Verbesserungsvorschlä-ge, die seitens der Studierendenver-treter_innen kurz vor Verab-

schiedung eingereicht wurden, vonder Fakultätskonferenz nicht berück-sichtigt worden. Die Vorschläge be-zogen sich auf die Integration auchnicht-fachlicher Veranstaltungen wieSprachkurse, auf eine Pluralisierungder Prüfungsformen neben der einzigvorgesehenen Hausarbeit und aufdie Anrechnung der Lehrforschungaus der alten Studienordnung alsgroße Lehrforschung beim Wechselin die neue Studienordnung. Für dieZukunft erhoffen sich dieStudierendenvertreter_innen, dassein konstruktiver Dialog mit den Ver-antwortlichen möglich sein wird.

M.A. Politische KommunikationSchon seit einigen Jahren war die

Zukunft des Masters Politische Kom-munikation unsicher. Dringlicherwurde die Frage, wie es mit Pol-Komm weitergeht, mit der Emeritie-rung von Klaus Peter Japp. Soll derrelativ kleine Master in den neuenMaster Soziologie integriert werden?Oder möchte und kann sich die Fa-kultät diesen speziellen Master er-halten? Auf der Fakultätskonferenzam 17.10.2012 wurde beschlossen:PolKomm bleibt. Der Master wirdjetzt vom StudiengangsbeauftragtenBoris Holzer und dessen MitarbeiterJan Fuhse an die neue Situation an-gepasst und trägt somit hoffentlichzu einem attraktiven Lehrangebot ander Fakultät bei.

International in BielefeldBei der diesjährigen Zulassung von

Studierenden in den MA-Soziologieist augenscheinlich eine Panne ge-schehen: Obwohl sie nicht oderkaum Deutsch können, sind einigeinternational Studierende zugelassenworden. Diese stehen jetzt vor demProblem, dass sie im Rahmen desInternational Tracks nur ca. 70% derVeranstaltungen auf Englisch absol-vieren können. Grund für dieses Pro-blem scheint mangelndeKommunikation zwischen den für dieZulassung zuständigen Stellen zusein. Zudem war das Informations-material auf der Homepage der Fa-kultät und des International Office

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NACHRICHTEN AUS DERFAKULTÄT

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irreführend. Es bleibt zu hoffen, dassso eine Situation nicht wieder ein-tritt. Zweifel bleiben allerdings: dieSituation verschärft sich dadurch,dass die bisherige Koordinationsstel-le ab 2013 eingespart wird.

DGS-Kongress"Vielfalt & Zusammenhalt"

Alle (zwei) Jahre wieder: Der Kon-gress der Deutschen Gesellschaft fürSoziologie (DGS) fand im Oktober inBochum und Dortmund statt. Die 36.Auflage des Kongresses stand unterdem Motto „Vielfalt und Zusammen-halt“. Vom 1. bis zum 5. Oktober dis-kutierten die über 2000Soziologinnen und Soziologen dieGesellschaft und ihre vielfältigen Fa-cetten. Ein Erfahrungsbericht vonBielefelder Studierenden findet ihrauf den Seiten 28 & 29.

AuszeichnungAuf dem DGS-Kongress wurde der

lange in Bielefeld lehrende ProfessorDr. Franz-Xaver Kaufmann für seinherausragendes wissenschaftlichesLebenswerk ausgezeichnet. Kauf-mann, der von 1969 bis 1997 Pro-fessor an unserer Fakultät war, hatdiese mitbegründet und durch sein

Wirken geprägt.

CHE-RankingWissenschaftliche Evaluation Ja- CHE-Ranking Nein

Seit diesem Semester beteiligt sichauch unsere Fakultät an dem Mora-torium des CHE-Rankings. Das be-deutet, dass die Teilnahme an demRanking solange ausgesetzt wird, bisdas Centrum für Hochschulentwick-lung (CHE) seine Methodik sinnvollüberarbeitet hat. Diese Maßnahmehatte die Deutsche Gesellschaft fürSoziologie (DGS) allen soziologischenuniversitären Einrichtungen empfoh-len. Die diesbezüglichen Stellung-nahmen der DGS und des CHEfinden sich auf deren jeweiligen Ho-mepages.

Doch worum geht es? Das Rankingwird schon länger für seine mangel-hafte Methodik kritisiert. Die Aussa-gen sehr weniger Studierender undLehrender werden verallgemeinertund von insgesamt mindestens 18Indikatoren werden in der Printversi-on nur 5 bis 6 angezeigt. Auch dieOperationalisierung der Indikatorenist bisweilen fragwürdig. Die Publika-tionsleistung und –qualität einer Fa-kultät wird beispielsweise quantitativ

durch Anzahl der Publikationen undderen Gewichtung nach Seitenlängeermittelt; die Art der Publikation istvöllig unerheblich. In der Darstellungträgt das Ampelsystem zusätzlich zurVereinfachung bei. So verschleiert esdie Dürftigkeit der Datenbasis, sowiedie methodischen Mängel und führtin die Irre. Grün signalisiert super gutund exzellent; rot bis 2011 letztesLoch, geht da nicht hin. Auf den letz-ten Kritikpunkt hatte das CHE 'inno-vativ' reagiert: es werden nicht mehrdie Ampelfarben Grün, Gelb, Rot ver-wandt, sondern Grün, Gelb, Blau. Obdas aber etwas an der Signalwirkungändert?

Aus diesen Gründen soll das beiSchülerinnen, Schülern und Studie-renden sowie deren Eltern, allseitsbeliebte Ranking des CHEs - bis Bes-serung in Sicht ist - boykottiert wer-den. Die DGS hat das geschickt - undim Prinzip ganz im Einklang mit derFunktionsweise des Rankings - ein-gefädelt: Auf deren Website ist ein-sehbar, welche Unis und Fakultätensich schon am Moratorium des CHE-Rankings beteiligen. Auf diese Weisesteigt der Druck auf die noch verblie-benen sich mit dem Thema einge-hend zu beschäftigen und Stellungdazu zu beziehen.Sophia Cramer & Lukas Daubner

LESERMEINUNGENVielen Dank für die positiven Rückmeldungen zur letzten Ausgabe! Besonders gefreut haben wir uns überIhre und Eure zahlreichen Kommentare zum Namenskonzept-Artikel und dem Poster mit unserem „Alter-nativvorschlag“ (einige gedruckte Ausgaben gibt es immer noch in den Fachschaften und im Praktikums-büro). Überrascht waren wir über einen Leserbrief aus den Niederlanden, der zudem sehr interessant ist,da er einen klugen Hinweis in Bezug auf den Umgang mit Namenskonzepten enthält: Man kann sie ein-fach ignorieren! (Mehr zum Bielefelder Namenskonzept gibt es auch auf unserem Blog: sozusagen-blog.wordpress.com)Wir freuen uns immer über kritische und positive Rückmeldungen bezüglich der Artikel in der sozusagen– ob als Mail oder per Post – und drucken diese (bei Genehmigung) zukünftig in dieser Kategorie ab.

Hallo Herr Grothe-Hammer,

letzte Woche waren wir auf ‚Forschungsferien‘ in der Studiermaschine von Bielefeld. Jedes Jahr machen wir das zwei-mal um in aller Ruhe schreiben zu können. In der Kantine haben wir ein Exemplar von sozusagen mitgenommen –wirklich ein sehr tolles und interessantes Magazin! Mit vielem Vergnügen haben wir Ihren Beitrag Teuer, peinlich, un-durchdacht über das Namenskonzept für den Campus Bielefeld gelesen. Interessanterweise hat sich auch auf unsererUniversitätscampus (Universität Twente in Enschede) so eine Debatte gegeben mit neuen Gebäudenamen zur Folge(Siehe:http://www.utwente.nl/download/plattegrond.pdf). Fast zehn Jahre nach der Namensänderung benutzen vieleLeute noch immer die alten Namen der Gebäude… In jedem Fall haben wir uns sehr gefreut auf Ihre Analyse und da-bei auch einige neue tolle Wörter gelernt, wie ‚verschaukeln‘ und ‚Gerüchteküche‘.

Viele Grüsse aus den Niederlanden,Peter Timmerman & Gert-Jan Hospers

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In den letzten Monaten häuftensich die negativen Nachrichten,die die Fakultät für Soziologiebetreffen. Das Institut für Wis-senschafts- und Technikfor-schung (IWT) wird vom Rektoratgeschlossen, der Haushalt desInstituts für Weltgesellschaft(IW) um 50% vom Dekanat ge-kürzt. Das sind nur zwei prägnan-te Beispiele einer Entwicklung,an deren Ende die Fakultät deut-lich an inhaltlicher Vielfalt einge-büßt haben könnte. DieserBeitrag versucht, die wichtigstenEntwicklungen zusammenzufas-sen und dabei sowohl die Rolleder Fakultät, als auch die desRektorats zu berücksichtigen.

Seit einigen Semestern hat die Fa-kultät mit einem strukturellen Haus-haltsdefizit im hohen sechsstelligenBereich zu kämpfen. Das schränktihren Handlungsspielraum stark ein.Neue Mitarbeiter/innenstellen, diebeispielsweise in Bereichen wie So-ziologische Theorien, Methoden oderMediensoziologie helfen könnten,den hohen Studierendenansturmdurch ein größeres Lehrangebot zubewältigen, können nicht eingerich-tet werden. Im Gegenteil ist die Neu-besetzung von frei werdendenStellen jeweils für ein Semester ge-sperrt, um so Kosten einzusparen.Wo immer möglich werden Kürzun-gen vorgenommen, so zum Beispielam Topf der Forschungsfördergelderder Forschungskommission, am In-stitut für Weltgesellschaft oder ander Stelle für Internationalisierung.Stand hier bisher eine 50% Stelle füreine/n wissenschaftliche/n Mitarbei-ter/in zur Verfügung, wird es künftig

nur noch eine Hilfskraftstelle geben.Durch die Emeritierung Jörg Berg-manns ist die Professur für qualitati-ve Methoden frei geworden. Ehemalsals W3-Stelle ausgewiesen, wird sienun nur noch als W2-Professur be-setzt. Die allgemeine Stellenpolitikder Fakultät vor allem zur Gewähr-leistung der Lehre folgt dem allge-meinen Trend, befristete Verträge(teilweise nur für ein Jahr) mit einemhohen Lehrdeputat von bis zu 13 Se-mesterwochenstunden (SWS) anzu-bieten, in denen Forschung nichtmehr vorgesehen ist. Das ist deutlichgünstiger als beispielsweise eine Mit-arbeiterstelle an einem Lehrstuhl miteinem Deputat von vier SWS. Durchgroße Drittmittelprojekte, d.h. mit Fi-nanzierung z.B. durch die DeutscheForschungsgesellschaft (DFG), wiedem Sonderforschungsbereich „VonHeterogenitäten zu Ungleichheiten“nehmen hingegen die Projektstellenohne Lehrverpflichtung zu. Die Fakul-tät leistet zusätzlich einen Beitragzum SFB durch die Bereitstellung vonSachmitteln und Personal, der nichtvollständig durch die Mittel der DFGgedeckt ist und so einen Teil zumoben genannten Haushaltsdefizitbeiträgt. Eine potentielle Verschlech-terung der Haushaltssituation kannaus den bevorstehenden doppeltenAbiturjahrgängen resultieren. Die Fa-kultät wird zum Wintersemester2013/14 deutlich mehr Studierendeaufnehmen müssen. Ob die von derLandesregierung NRW zusätzlich be-reitgestellten Mittel für kompensie-rende Stellen ausreichen werden, istnoch nicht abzusehen.

Doch nicht nur das strukturelleHaushaltsdefizit schränkt den Hand-lungsspielraum der Fakultät ein. Hin-zu kommen Uneinigkeiten zwischenihren Mitgliedern. Zum Beispiel gabes immer Stimmen, die die Relevanzdes in Deutschland einmaligen Insti-tuts für Weltgesellschaft bezweifel-ten. Dass dessen Mittel nun um 50%gekürzt wurden, ist eine Folge davon.

Ein anderes Beispiel sind Bestrebun-gen von Mitgliedern des SFBs, die-sen als zentrale wissenschaftlicheEinrichtung zu etablieren und damitdem Zugriff der Fakultät zu entzie-hen. Eindrucksvoll zeigten sich dieseUneinigkeiten auch an den Ausein-andersetzungen zur Neubesetzungder Professur für Wissenschaftsso-ziologie (ehemals prominent besetztvon Peter Weingart). Zwei Berufungs-kommissionen für eine W3-Professurscheiterten, da im ersten Fall dasRektorat die vorgeschlagenen Kandi-datInnen nicht akzeptierte und mansich im zweiten Fall nicht auf eine/nKandidat/in einigen konnte. In einerdritten Berufungskommission, dies-mal nur für eine Juniorprofessur,konnte sich die Fakultät noch immernicht auf eine Berufungsliste einigen.Das nahm das Rektorat im letztenQuartal des Jahres 2012 zum An-lass, nicht nur die für die Fakultätehemals wichtige Professur zu strei-chen, sondern das IWT, an dem dieProfessur angesiedelt war, gleichganz zu schließen. Die daran ange-schlossenen Professuren Hochschul-forschung und Technikfolgen-abschätzung bleiben mit künftigneuer Denomination erhalten. Allesonstigen Stellen für wissenschaftli-che und nicht-wissenschaftlicheStellen laufen aber, teilweise mit Wir-kung zu diesem Jahresbeginn, ausoder sind mit einem Sperrvermerkbelegt, d.h. sie können mit Auslaufender Verträge nicht neu besetzt wer-den.

Die Streichung der Professur fürWissenschaftssoziologie und dieSchließung des IWTs erzeugt denEindruck, dass die Fakultät die Un-terstützung des Rektorats verliert.1Das war in der Zeit der Vorbereitungder Anträge im Rahmen der zweiten

KRISENGESCHÜTTELTETWAS ANDERS

Bericht zur Lage der Bielefelder Soziologie

Ehemals als W3-Stelleausgewiesen, wird sie nun nur

noch als W2-Professur besetzt.

Seit einigen Semestern hat dieFakultät mit einem

strukturellen Haushaltsdefizitim hohen sechsstelligen

Bereich zu kämpfen.

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Ausschreibung der Exzellenzinitiativenoch anders. Das IWT galt als zentra-ler Bestandteil des von der Universi-tät eingereichten Zukunfts- konzepts.Zudem war die Fakultät für Soziolo-gie gemeinsam mit der Fakultät fürGeschichtswissenschaft, Philosophieund Theologie mit dem Cluster-An-trag „Communicating Comparisons“beteiligt. Ohne die Unterstützung desRektorats wäre das nicht möglich ge-wesen, da es als Repräsentant derUniversität die Anträge zum eineneinreicht und zum anderen finanziel-le und beratende Unterstützung bie-tet. Die Vorbereitungen für denCluster-Antrag wurden begleitet vonvielfältigen Überlegungen zur zukünf-tigen inhaltlichen Ausrichtung der Fa-kultät. Man vergegenwärtigte sichseine thematischen Stärken und ent-wickelte Pläne für die Einrichtungvon Forschungsbereichen, wie Fi-nanzsoziologie, Soziologie der Welt-gesellschaft oder Soziologie derMenschenrechte – Bereiche, die an-derswo, zumindest in der deutschenSoziologie, nur schwer zu findensind. Das Zukunftskonzept der Uni-versität scheiterte bereits nach derVorantragsphase. Für das Clustersollte ein Hauptantrag gestellt wer-den. Auch wenn die Rückmeldungender Gutachter von DFG und Wissen-

schaftsrat insgesamt sehr positiv wa-ren, wurde der Hauptantrag im Juni2012 nicht bewilligt.2 Neben derSchließung des IWTs in der Folge dergescheiterten Anträge in der Exzel-lenzinitiative plant das Rektorat, dieFakultät einer externen „Beratung“durch englischsprachige Gutachterzu unterziehen. Auf diese Weise sol-len „erfolgreiche“ von „weniger er-folgreichen“ Bereichen unter-schieden und so weitere möglicheKürzungspotentiale identifiziert wer-den.

Aber auch schon länger zurücklie-gende Maßnahmen des Rektoratswirken sich auf die Fakultäten insge-samt und damit auch auf die Soziolo-gie aus. Die Kosten für dieEinrichtung von 23 unbefristetenVerwaltungsstellen auf Rektorat-sebene wurden auf die Fakultätenumgelegt und belasten so derenHaushalte. Ebenso sollen die Fakul-täten künftig ihre Heizkosten, die bis-her aus dem Haushalt des Rektorats

finanziert wurden, aus ihren eigenenBudgets bestreiten. Der schwierigeAbstimmungsprozess zwischen Rek-torat und Fakultät zur Reform desMA-Studiengangs für Soziologie zeig-te zudem, wie wenig Freiraum derFakultät in der Entwicklung einesfachlich und didaktisch angemesse-nen Studiengangs zugestanden wird.

Durch das Auslaufen der For-schungsförderung aus der Exzellen-zinitiative im Jahr 2017 ist in denkommenden Jahren zudem mit wei-teren, vor allem finanziell einschrän-kenden, Maßnahmen durch dasRektorat zu rechnen. Mit der Bewilli-gung des Clusters CITEC und derGraduateschool BGHS ist die Univer-sität eine Nachhaltigkeitsverpflich-tung eingegangen. Das bedeutet,dass sie verpflichtet ist, die mit denMitteln aus der Exzellenzinitiativeaufgebauten Strukturen, d.h. vor al-lem Stellen, zu erhalten. Diese wer-den absehbar nicht aus zusätzlichenMittel von der Landesregierung fi-nanziert werden. Das Rektorat mussalso finanzielle Umverteilungsprozes-se innerhalb der Universität, vor al-lem zugunsten des CITECs,vornehmen, das über ein vielfachesgrößeres Stellenkontingent verfügt,als die BGHS.

Unsere Vermutung ist, dass davonauch die Fakultät für Soziologie be-troffen sein wird. Einen Hinweis dar-auf gibt bereits das oben genannteRektoratsvorhaben, die Fakultät ei-ner Beratung zu unterziehen. Zu-sammen mit dem vorhandenenstrukturellen Haushaltsdefizit undden beobachtbaren Uneinigkeitenunter den Fakultätsmitgliedern er-schwert diese Entwicklung den Spiel-raum der Fakultät für angemesseneEntscheidungen zum Erhalt einervielfältigen Lehre und Forschung.Sophia Cramer & Lukas Daubner

­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­

[1] Die Unterstützung des Rektorats ist des-halb wichtig, weil das Rektorat durch das seiteinigen Jahren wirksame Hochschulfreiheits-gesetz umfängliche Entscheidungskompeten-zen und Zugriffsmöglichkeiten auf dieFakultäten gewonnen hat. Fällt dessen Unter-stützung in Form von Stellen- und Mittelzuwei-sungen weg, schränkt das die Arbeit derFakultäten stark ein.[2] Die Wiederanträge des ExzellenzclustersCITEC und der Graduate-School BGHS wurdenbewilligt.

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Das IWT galt als zentralerBestandteil des von der

Universität eingereichtenZukunftskonzepts.

Illustration von Tobias Conradi

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Kommt man der Sonne zu nah, soder Mythos, ist der Absturz nicht

fern. In unserem Fall ist die Sonnedie Exzellenzinitiative des Bundes.Unsere Fakultät hätte sich zu gernenoch mehr im warmen Geldsegengesonnt. Allerdings wurde der Antragauf das Exzellenzcluster „Communi-cating Comparisons“ abgelehnt undder darauf folgende Fall – trotz derWeiterförderung der BGHS - scheinttief. Die Pläne waren ambitioniert.Neue – für Deutschland teilweiseeinmalige – Forschungsfelder solltenbearbeitet werden, die zusätzlichenMillionen versprachen die Haushalts-probleme zu lindern.

Jetzt ist die Ablehnung des Clus-ters ein halbes Jahr her und die Er-nüchterung in der Fakultät istdeutlich spürbar. Anstatt neue Stel-len und Bereiche einzurichten, wer-den bestehende gestrichen. Undeine Verbesserung der finanziellenSituation ist auch nicht in Sicht –ganz im Gegenteil. Die Liste mit denProblemen, die die Fakultät für So-ziologie plagen, ist lang. Einige sindselbst verschuldet, andere nicht.Aber nicht nur die Probleme sindvielfältig, auch die Vorzüge der Fakul-tät sind es: ein unvergleichliches viel-fältiges Lehrangebot, größtenteilsgut konzipierte Studiengänge und er-folgreiche Forschungsprogramme.Diese Vorzüge muss man bei der Be-trachtung der Probleme im Hinter-kopf behalten, will man nicht einallzu düsteres Bild zeichnen.

Die größte Bedrohung geht derzeitvon einem hohen strukturellen Defi-zit aus. Man möchte schon fordern,die Strategie großer Finanzinstitutezu übernehmen: einfach hoffen,dass man gerettet wird, wenn dieSchuldenlast zu groß wird. Denn,was soll passieren? Kann eine Fakul-tät Pleite gehen?

Der momentane Umgang mit demDefizit scheint auf jeden Fall nichtder bestmögliche. Es wird um jedenEuro gefeilscht, Kürzungsentschei-dungen scheinen wahl- und konzept-los. Gerade ist diese „Strategie“

beim Institut für Weltgesellschaft zubeobachten. Nicht mehr lange, und„Kaputtsparen“ ist eine adäquateBeschreibung der Situation. Eine dereindeutigen Stärken der Fakultät istdie Vielfalt der Forschung und Lehre.Durch die Beschneidung etwa derWeltgesellschaftsforschung, aberauch der Qualitativen Methoden, istdiese Vielfalt in Gefahr. Es brauchtjetzt eine ausgewogene Strategie,um die benötigten Kürzungen nach-haltig zu gestalten. Zugegeben: dieHandlungsspielräume sind klein.Kürzen um jeden Preis richtet abermittel- und langfristig mehr Schadenan, als es zunächst Nutzen durchschnelle Einsparungen bringt.

Im Rektorat hat man augenschein-lich kein Problem damit, wenn dieFakultät kleiner wird. Auch einen dro-henden Bedeutungsverlust scheintman dort verkraften zu können. Daswäre wohl bei einem Zuschlag fürdas Cluster anders gewesen. DasRektorat kann oder will die finanziel-le Lage der Fakultät jedenfalls nichtverbessern – wird das Geld doch fürdie „exzellenten“ Einrichtungen derUniversität benötigt. Alleine für dasCITEC müssen in den kommendenJahren bis zu 40 Stellen aus andernFakultäten abgezogen werden. Dabietet die Größe unserer Fakultät ei-ne Menge Einsparungspotential. Diejetzt angestrebte externe „Beratung“ist in diesem Zusammenhang an Ab-surdität kaum zu überbieten. Warummüssen die Berater_innen englisch-sprachig sein? Ist englischsprachigeExpertise gewichtiger als etwa spani-sche? Und gibt es nichtOrganisationssoziologinnen undHochschulforscherinnen an der Fa-kultät? Warum werden diese nicht indie Diskussion mit einbezogen.Günstiger wäre deren Expertise alle-mal.

Ein anderer Punkt, der die Fakultätschwächt, ist die Uneinigkeit überverschiedenste wichtige Entschei-dungen. Verschiedene Lager sind an-gesichts der Lage nicht bereit,Grabenkämpfe zu überwinden, umnach außen hin geschlossen mit ge-

meinsamen Zielen aufzutreten. Wasdie Folgen von diesem Verhaltensind, ist am Fall des IWT zu beobach-ten. Unter anderem die Querelen indrei Berufungskommissionen zurWiederbesetzung der Professur fürWissenschaftssoziologie haben zuderen Streichung geführt. Der letzteHöhepunkt in Sachen fakultärerStreitigkeiten, war der Versuch desSFBs, sich der Kontrolle der Fakultätzu entziehen – Solidarität, vor allemin einer schwierigen Situation, siehtanders aus. Offene Streitigkeiten öff-nen Tür und Tor für externe Ein- undAngriffe. Allerdings soll unser Plädoy-er für Geschlossenheit nicht falschverstanden werden. Die Fakultätslei-tung darf die Notwendigkeit des Zu-sammenhalts jetzt nicht für ihreZwecke missbrauchen und mit die-sem Argument jede Kritik an ihremHandeln zurückweisen.

Einzelne Lehrende scheinen dieZeichen der Zeit bereits erkannt zuhaben und nehmen Angebote ausanderen Universitäten an oder haltennach diesen zumindest Ausschau. Esbleibt zu hoffen, dass das nicht viru-lent wird. Denn rufen wir uns dieoben erwähnten Stärken hervor, gibtes viel Potential, weiterhin auch sehrgute Soziologie in Bielefeld zu betrei-ben.

Verschlechtern sich aber Umfangund Qualität der Forschung an derFakultät, ist anzunehmen, dass dar-unter auch die Lehre leiden wird: we-niger Vielfalt bei der Kurswahl,weniger spannende Themen, Leh-rende mit prekären Verträgen.

Der Fakultät stehen schwere Zei-ten bevor. Ob sie ihren bisherigenStellenwert dabei behalten wird, istzumindest fraglich. Wie auch immer,muss zumindest offen und offensivüber verschiedene Zukunftsszenari-en diskutiert und beraten werden. Sokann eine von allen Fakultätsmit-gliedern unterstützte Position entwi-ckelt werden, die man auchstandhaft nach außen, z.B. in kom-menden Kürzungsverhandlungen mitdem Rektorat, vertreten kann!

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ZUR SITUATION DER FAKULTÄTEin Kommentar von Sophia Cramer & Lukas Daubner

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Der Wissenschaftsrat bemängeltin einer neuen Studie, dass deut-sche Hochschulen zu viele guteNoten vergeben. Unternehmenkönnten die Leistungen von Ab-solventen nicht mehr objektivvergleichen. Doch das Problemliegt woanders.

Berlin. Das alte Lamento: Es verän-dert sich etwas, und das ist nichtgut. Die Noten an deutschen Hoch-schulen, hat der Wissenschaftsratherausgefunden, sind in den letztenJahren immer besser geworden. Vorallem im oberen Notenspektrum wer-den zu viele Noten vergeben. Eine„Aufweichung der Bewertungsstan-dards“ und eine „schleichende No-teninflation“ werden konstatiert.Auch bemerkt der Wissenschaftsrat,scheinbar von sich selbst überrascht,unterschiedliche Traditionen der No-tenvergabe in den verschiedenenFachkulturen. Als wäre es völlig neu,dass Juristen seltener sehr gute No-ten vergeben als Erziehungswissen-schaftler. Dadurch seien die Notenfür Arbeitgeber nicht mehr vergleich-

bar, die Notenvergabe in Deutsch-land nicht mehr objektiv.

Wie der Wissenschaftsrat daraufkommt, dass Noten jemals objektivund vergleichbar waren, ist nichtklar. Warum sich dieser Zustand derVergleichbarkeit und Objektivität(sic!) geändert haben soll, weil dieNoten insgesamt besser gewordensind, ist allerdings völlig unverständ-lich. Unternehmen können sichebenso daran orientieren, dass heu-te Absolventen eine 1,7 haben, dievor zehn Jahren eine 2,0 hatten.1 Ei-ne Verschiebung nach oben ist nureine Verschiebung – keine Inflation.

Bezeichnend ist auch, dass einFaktor gar nicht in Betracht gezogenwird: Dass sich die Ausbildungsbe-dingungen an den Universitäten soverbessert haben könnten, dass esden Studierenden möglich wird, bes-ser abzuschneiden. Das wundertumso mehr, als der Wissenschaftsratvor allem die unterschiedliche Noten-vergabe an verschiedenen Hoch-schulen im selben Fach bemängelt.

Mit so etwas rechnet man – zu Recht– nicht (mehr). Das Abendland istschon beinahe untergegangen, esbleibt nur noch der Appell an die öf-fentliche Moral.

Die wahren Probleme liegen woan-ders – und zwar bei den Studieren-den: Nur sehr gute Notenermöglichen oft den Übergang in dengewünschten Masterstudiengang.Durch das frühe Erlernen der Selbst-ausbeutung bereits im Bachelorstu-diengang – früher begann mandamit erst mit dem Eintritt ins Ar-beitsleben – wird um jede Nachkom-mastelle für die Abschlussnotegekämpft. Dies beginnt bereits imersten Semester, welches keines-wegs zur Orientierung dient: Studie-rende sind sich sehr bewusstdarüber, dass sie sich in jeder Veran-staltung, jeder Klausur und jederHausarbeit bewähren müssen, umweiter studieren zu können. Dadurchentstehen Konkurrenzsituationen,die es so bis vor ein paar Jahrennoch nicht gab: Die Studierendenhelfen sich kaum noch gegenseitig.Das kann man als Marginalie verbu-chen – oder fragen: Zu was für einerGesellschaft werden wir dadurch?

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[1] Liest man die vielen Artikel in Wirtschafts-blättern zur Frage, was Unternehmen an Ab-solventen interessiert, so wird unisono daraufverwiesen, dass dies sowieso nicht Noten sei-en, sondern „soft skills“, Auslandserfahrung,Engagement und sonstige Dinge, die die Be-werber von anderen abheben.

DIE NOTEN AN DEUTSCHENUNIVERSITÄTEN WERDEN

IMMER BESSERDie Kolumne von Rainald Manthe

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Rainald Manthe ist der Berlinkorre-spondent der sozusagen. Er hat So-ziologie studiert und schreibt für diesozusagen über die ewige Wieder-kehr des Unterganges des Abendlan-des.

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Kompetenzorientierung ist dasneue Schlagwort an den Univer-

sitäten und Fachhochschulen. Bil-dungsplaner plädieren dafür, dassman sich bei der Gestaltung von Stu-diengängen zuerst darüber Gedan-ken machen sollte, welcheKompetenzen während eines Studi-ums erworben werden sollen underst dann daraus ableiten sollte, wel-che Inhalte Studierenden vermitteltwerden müssen. Bei Akkreditierun-gen von Studiengängen wird inzwi-schen gefordert, dass nicht nur fürjeden einzelnen Studiengang, son-dern für jedes einzelne Modul detail-liert beschrieben werden soll, welcheKompetenzen dort erworben werdensollten.

Wie bei allen wohlklingendenSchlagworten – man denke nur anInnovationsfähigkeit oder Flexibili-tätsorientierung – werden auch beidem Schlagwort Kompetenzorientie-rung kritische Anfragen entmutigt,weil es sich bei all diesen Begriffenum allgemein geteilte Werte handelt.Man kann sich schließlich als Profes-sor schlecht für eine Inkompetenzori-entierung an den Hochschulenaussprechen. Und es ließe sich auchschwerlich begründen, weswegen esein Misserfolg sein soll, wenn Studie-rende am Ende ihres Studiums Kom-petenzen erworben haben. DasProblem liegt also nicht so sehr imWort Kompetenz, sondern vielmehran dem Bildungsideal, das zurzeitmit dem Begriff der Kompetenzorien-tierung verkauft wird.1

Die Vision einer Kompetenzkas-kade

Die Idee des unter dem Begriff derKompetenzorientierung propagiertenBildungsideals ist, dass man sichgrundlegend darüber Gedanken ma-chen solle, welche Kompetenzen inwelcher Lernphase eines Lebens er-worben werden sollen. Mit viel Pa-thos wird ein grundlegenderParadigmenwechsel von einer Input-zu einer Outputorientierung verkün-det. Statt sich wie bisher primär Ge-danken darüber zu machen, welcheInhalte Studierende lernen, welcheTheorien und Methoden sie kennenoder welche schriftlichen und münd-lichen Präsentationsformen sie nut-zen sollen, müsse man definieren,welche Fach-, Sozial- und Selbstkom-petenzen Studierende am Ende zubeherrschen haben.2 Dabei gibt eskeinen Masterplan zur Umsetzungdieses Paradigmenwechsels, son-dern mehrere Initiativen von Bil-dungspolitikern und Bildungsplanerngreifen - manchmal eher zufällig -in-einander.

Im Rahmen der internationalenHarmonisierung der Bildungsab-schlüsse hat die europäische Kom-mission einen sogenanntenEuropäischen Qualifikationsrahmenentwickeln lassen, in dem von derVorschule bis zur Promotion definiertwird, welche Kompetenzen man sichauf jeder Qualifikationsstufe anzu-eignen hat. Während es auf der Nive-austufe eins um Kompetenzen zur„Erfüllung einfacher Anforderungen“geht, soll es auf der Niveaustufe fünfum Kompetenzen zur „Erfüllung ein-facher Anforderungen in einem über-schaubaren und stabil strukturiertenLern- und Arbeitsbereich“ gehen. AufNiveaustufe sechs – dem Bachelor-niveau – geht es dann um „Kompe-tenzen zur Planung, Bearbeitung undAuswertung von umfassenden Aufga-ben- und Problemsteuerungen“ inTeilbereichen eines wissenschaftli-chen Faches, während auf der Nive-austufe sieben – dem Masterniveau

– diese Kompetenzen für ein wissen-schaftliches Fach oder für ein Be-rufsfeld erlernt werden.3

Dieser Europäische Qualifikations-rahmen wird von den beteiligten Län-dern seit einigen Jahren in NationaleQualifikationsrahmen heruntergebro-chen. Natürlich schreibt man auchhier, wie schon beim EuropäischenQualifikationsrahmen, wieder gernedas Adjektiv, das die regionalenGrenzen des Qualifikationsrahmensbezeichnet, mit einem Großbuchsta-ben, um den Konzepten eine ent-sprechende Bedeutung zu geben.Die Vorstellung ist, dass durch diesenationalen Qualifikationsrahmen –oder besser Nationalen Qualifikati-onsrahmen - die abstrakten Kompe-tenzbestimmungen, auf die man sichauf europäischer Ebene geeinigt hat,mit konkreten nationalen Bildungs-abschlüssen verknüpft werden. Dasdeutsche Abitur – so die Vorstellung -soll dann beispielsweise der europäi-schen Niveaustufe fünf zugeordnetwerden, und den Abiturienten solldamit europaweit ermöglicht werden,Studien oder Ausbildungen auf derNiveaustufe sechs zu beginnen.

Es reicht für die Gestaltung einesStudiengangs jedoch nicht aus, wennbeispielsweise allgemein für einenBachelor definiert wird, dass Studie-rende über „breites und integriertesWissen“ verfügen, ein „sehr breitesSpektrum an Konzepten zur Bearbei-tung komplexer Probleme“ beherr-schen, in „Expertenteams

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MODELL SPRACHSCHULEDie Effekte der neuen Mode der Kompetenzorientierung an den

HochschulenEin Gastbeitrag von Stefan Kühl

Das Problem liegt also nichtso sehr im Wort Kompetenz,

sondern vielmehr an demBildungsideal, das zurzeit

mit dem Begriff derKompetenzorientierung

verkauft wird.

Man kann vergleichen, wieunterschiedlich erfolgreich

Hochschulen in Spanien,Großbritannien und

Deutschland dabei sind,Studierende auf eineeinheitlich definierte

Niveaustufe zu heben.

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verantwortlich arbeiten können“„Gruppen oder Organisationen ver-antwortlich leiten“ und „Ziele fürLern- und Arbeitsprozesse definie-ren, reflektieren und bewerten“ kön-nen.4 Die allgemeinenFormulierungen müssen – so dieVorstellung der Bildungsplaner – mit-telfristig für jedes einzelne Studien-fach verbindlich spezifiziert werden.Die dann von den Fachverbändendefinierten Standards für einen Ba-chelor und Master sollen als Orien-tierungspunkt für die Gestaltung derjeweiligen Studiengänge an den ein-zelnen Hochschulen dienen.5

Damit aber nicht genug. Aus denBeschreibungen der Kompetenzenfür jeden einzelnen Studiengang sol-len dann die Kompetenzen abgelei-tet werden, die die Studierenden injedem einzelnen Modul erlangen.Statt die Studierenden mit den vonden Lehrenden häufig beliebig ge-wählten Inhalten von Seminaren zufüttern, komme es darauf an, für je-des Modul vorab genaue Lernziele –„learning outcomes“ – zu definierenund die Seminare, Übungen und Vor-lesungen, aber auch die Selbstlern-phasen systematisch auf diese Zieleauszurichten. So sollen sich dannbeispielsweise die in dreißig unter-schiedlichen Modulen erworbenenverschiedenen Kompetenzen zu denvorher definierten Gesamtkompeten-zen eines Bachelorabschlusses ad-dieren.

An dieser Kompetenzkaskade wirdan verschiedenen Stellen gearbeitet,sie stellt noch eine abstrakte Visionder Bildungsplaner dar.6 An der Defi-nition von hochschulübergreifendenKompetenzprofilen beispielsweisefür ein Bachelorstudium der Biologie,der Soziologie oder der Romanistikwird bisher lediglich in Pilotprojektengearbeitet. Die an den Universitätenund Fachhochschulen angefertigtenKompetenzbeschreibungen für Ein-zelmodule eines Studiengangs erge-ben in ihrer Summe nicht unbedingt

genau die Kompetenzen, die in ei-nem deutschen Qualifikationsrah-men für einen Studiengangvorgesehen sind. Aber es besteht dieHoffnung, dass sich die verschiede-nen Initiativen zur Kompetenzorien-tierung in einer stringenten Formaufeinander beziehen lassen.

Sprachschulen als Leitbild dermodernen Hochschule

Als Vorbild für eine solche Kompe-tenzkaskade scheint das Modell derKompetenzvermittlung an Sprach-schulen zu dienen.7 Für Sprachschu-len – oder besser fürSprachvermittlung allgemein – istunter Federführung des Europaratesin den letzten Jahrzehnten ein um-fassender Referenzrahmen erarbei-tet worden. In diesemReferenzrahmen wird versucht, ne-ben Kriterien für die linguistischeKompetenz – also dem Wissen überGrammatik, Aussprache und Ortho-graphie – auch eindeutige Kriterienfür soziolinguistische Kompetenzenbezüglich der Sprachverwendungund für pragmatische Kompetenzenbezüglich des Einsatzes der Sprachein der Praxis zu definieren. Auf dieserBasis werden dann verschiedene Ni-veaustufen festgelegt, die markieren,ob jemand über eine elementare,selbstständige oder kompetenteSprachverwendung verfügt. Die Nive-austufen werden im Rahmen des Re-ferenzrahmens in weitereUnterstufen zerlegt, die Anforderun-gen auf jeder Stufe genau definiertund dann für jede Sprache bis aufdie Anzahl der zu beherrschendenVokabeln spezifiziert.

Durch diesen Referenzrahmen soll- so die Vorstellung von Bildungspla-nern - eine zeitliche und inhaltlicheSynchronisierung von Bildungspro-zessen erreicht werden.8 Wenn manin einem Spanischkurs an seinerdeutschen Sprachschule die Fähig-keit erworben hat, zum Beispielmündlich einfache Beschreibungenvon Menschen, Lebens- und Arbeits-bedingungen oder Alltagsroutinenanzufertigen und damit die Anforde-rungen für die Niveaustufe A1 undA2 des Europäischen Referenzrah-mens erfüllt, soll man danach einBlockseminar an einer spanischenSprachschule erfüllen können, indem man in den Niveaustufen B1und B2 lernt, Sachverhalte klar undsystematisch zu beschreiben, um

dann für den Erwerb der NiveaustufeC1 und C2 seine Studien an einerSprachschule in Argentinien fortzu-setzen.

Die Standardisierung bietet eineVielzahl von Vergleichsmöglichkeiten.Man kann evaluieren, ob Sprach-schüler in einer Sprachschule aufMalta genau das Gleiche Lernen wiein einer Realschule in Deutschland.Man kann vergleichen, wie unter-schiedlich erfolgreich Hochschulen inSpanien, Großbritannien undDeutschland dabei sind, Studierendeauf eine einheitlich definierte Nive-austufe zu heben. Man kann nach-forschen, wie hoch jeweils derfinanzielle Aufwand an den Unis inBonn, Oxford und Madrid ist, um ihreStudierenden von der Niveaustufesechs auf die Niveaustufe sieben zubringen. Durch die Produktion ein-heitlicher Kompetenzkriterien wer-den dann nicht nur neue Vergleichs-,sondern auch bisher noch nicht ge-nutzte Rationalisierungsmöglichkei-ten geschaffen.

Das Technologiedefizit der Erzie-hung

In dem „Modell Sprachschule“ wirddie Erziehung von Studierendenletztlich wie eine Technologie behan-delt, die zur Erreichung vorher defi-nierter Ziele – der Kompetenzen –eingesetzt wird. Genauso wie bei derProduktion eines Automobils defi-niert wird, was der Pkw am Endekann, soll auch für Studierende überein vorher genau zu erarbeitendesKompetenzprofil festgelegt werden,wie die Studierenden am Ende aus-sehen sollen. Und ähnlich wie bei derFertigung und Montage eines Fahr-zeuges wird davon ausgegangen,dass es auch in der Erziehung Tech-niken gibt, mit denen Personendurch kalkulierbare Prozesse in einvorher definiertes Bildungsproduktumgeformt werden können.9 Letzt-lich werden Lernende wie Trivialma-schinen behandelt, die - wenn mandie richtigen Inputs eingibt - die ge-

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Letztlich werden Lernende wieTrivialmaschinen behandelt,

die - wenn man dierichtigen Inputs eingibt -

die gewünschten(Kompetenz-)resultate liefern.

Es gibt keine Möglichkeitenfestzustellen, wie viel Zeit

vonnöten ist, um beiStudierenden eine vorher

definierte Kompetenzzu produzieren.

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wünschten (Kompetenz-)resultate lie-fern.10

Die Forschung hat jedoch gezeigt,dass Erziehung, ob nun in der Schuleoder in der Hochschule, nicht nacheinem solchen technologischen Ver-ständnis funktioniert. Der eine Mas-terstudent erwirbt ein „umfassendes,detailliertes und spezialisiertes Wis-sen auf dem neuesten Stand in ei-nem wissenschaftlichen Fach“,indem er in Pflichtveranstaltungendas Wissen häppchenweise vermit-telt bekommt, der andere dadurch,dass er sich das Wissen in Bibliothe-ken selbstständig aneignet, und wie-derum eine andere Studentindadurch, dass sie in Cafés mit ihrenKommilitonen darüber diskutiert. Esgibt keine Möglichkeiten festzustel-len, wie viel Zeit vonnöten ist, um beiStudierenden eine vorher definierteKompetenz zu produzieren, und mankann auch nicht sicher davon ausge-hen, dass die Addition von dreißig inModulen erworbenen Einzelkompe-tenzen am Ende die übergreifend be-schriebene Kompetenz einesStudiums ergibt.

Der Soziologe Niklas Luhmann undder Erziehungswissenschaftler KarlEberhard Schorr bezeichnen dieseSchwierigkeit, eine erfolgssichereKausalverbindung zwischen einerPerson in einer spezifischen Aus-gangssituation – z.B. auf der Kompe-tenzstufe sechs – in einengewünschten Endzustand – z.B. aufder Stufe sieben – umzuformen, als„Technologiedefizit.“11 Lernprozesselassen sich nicht, so die These, wieder Produktionsprozess eines Auto-mobils in Form einer bewährtenTechnologie erfolgssicher gestalten.

Die Entkopplung von Lehrpla-nung und Lehre

Angesichts des Technologiedefizitskönnte man die Beteiligung von Bil-dungsplanern, Fachvertretern undWissenschaftspolitikern an der Kon-struktion einer Kompetenzkaskadeals eine „Beschäftigungstherapie fürTechnokraten“ bezeichnen, von derkeine Auswirkung auf die praktischeBildung zu erwarten ist.12 Man könn-te die Bildungsbürokratien auf minis-terieller, universitärer oder fakultärerEbene an Kompetenzprofilen, Kom-petenzmatrizen und Kompetenzkon-zepten arbeiten lassen, wissend,dass solche Planungsvorstellungen

in den Lernprozessen der einzelnenStudierenden sowieso keine Spurenhinterlassen.

Das Aufsetzen von Projekten zurKompetenzbestimmung, die Einrich-tung von Stellen für Lerntechnokratieoder die Entsendung von Professo-ren in nationale oder internationaleKompetenzharmonisierungskommis-sionen kann für Universitäten undFachhochschulen sehr wohl Sinn ma-chen. Gerade gegenüber den Lan-desministerien stehen dieHochschulen unter Druck, Initiativenzur Verbesserung der Lehre nachzu-weisen. Die über ein zeremoniellesBekenntnis hinausgehende Mitarbeitan den Kompetenzkaskaden kannals Signal an die Ministerien verstan-den werden, dass man die Lehre ander Hochschule ernst nimmt. So wirdder Politik gegenüber Legitimität pro-duziert, ohne dass aber die Kerntä-tigkeiten in der Lehre davon berührtwerden.

Der Effekt ist, dass die Lehrpla-nung und die Lehre voneinander ent-koppelt werden. In der Planung derLehre – also beispielsweise der For-mulierung von Akkreditierungsanträ-gen oder der Beschreibung vonModulen – bedient man sich desmodernen Kompetenzvokabularsund fabuliert über Anforderungs-strukturen, Beurteilungsfähigkeits-kompetenzen, instrumentale undsystemische Fertigkeiten, Führungs-fähigkeitsunterschiede oder Ni-veauindikatoren. In der konkretenLehre wurschtelt sich dann jederLehrende durch, experimentiert mitTexten und Lehrkonzepten herumund passt, je nach seinen Erfahrun-gen in Vorlesungen und Seminaren,die Erwartungen an. Für den konkre-ten Austausch über diese individuel-len Erfahrungen und Erwartungenbleibt dann aber keine Kraft mehr,weil man bei den Sitzungen mit demAusfüllen der von oben erwartendenKompetenzmatrizen beschäftigt ist.

Literatur:DQR (2011): Deutscher Qualifikationsrah-men für lebenslanges Lernen, verabschiedetvom Arbeitskreis Deutscher Qualifikationsrah-men. Bonn: AK DQR am 22. März 2011.Dreeben, Robert (1970): The Nature of Tea-ching: Schools and the Work of Teachers.Glenview, Ill: Scott Foresman.Hilbert, Richard A. (1982): Competency-Ba-sed Teacher Education Versus the Real World:

Some Natural Limitations to Bureaucratic Re-form. In: Urban Education, Jg. 16, S. 379-398.Hilbert, Richard A. (1987): Bureaucracy asBelief, Rationalization as Repair: Max Weberin a Functionalist Age. In: Sociological Theory,Jg. 5, S. 70-86.Höhne, Thomas (2010): Im Sog der ökono-mischen Globalisierung. Kompetenzorientie-rung als Rationalisierungsstrategie. In:Forschung & Lehre, H. 12/2010, S. 870-872.Klieme, Eckhard et al. (2007): Zur Entwick-lung nationaler Bildungsstandards. Expertise.Berlin: BMBF.Luhmann, Niklas (2002): Das Erziehungs-system der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhr-kamp.Luhmann, Niklas; Karl Eberhard Schorr(1979): Reflektionsprobleme im Erziehungs-system. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.Luhmann, Niklas; Karl Eberhard Schorr(1982): Das Technologiedefizit der Erziehungund die Pädagogik. In: Luhmann, Niklas; KarlEberhard Schorr (Hg.): Zwischen Technologieund Selbstreferenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp,S. 11-40.Müller-Ruckwitt, Anne (2008): „Kompetenz“Bildungstheoretische Untersuchung zu einemaktuellen Begriff. Würzburg: Ergon.Sidler, Fredy (2007): Vom Nationalen Qualifi-kationsrahmen (NQR) zu Learning Outcomes(LO) eines Studiengangs. Oldenburg: Präsen-tation auf dem Workshop zu Learning Outco-mes an der Universität Oldenburg.

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[1] In der Literatur der Bildungsplaner wird sogetan, als wenn man genau wüsste, was mitKompetenz gemeint ist. Inzwischen sind meh-rere internationale Expertenkommissionendamit beschäftigt, sich auf ein einheitlichesVerständnis von Kompetenz zu verständigenund diesen Begriff dann von anderen Begrif-fen wie Know-how, Fähigkeit, Qualifikationoder Lernziel abzugrenzen, und am Ende die-ser Studien stehen regelmäßig mehrseitigeDefinitionen, die suggerieren, dass man je-weils weiß, wovon man spricht. Ob dabei je-mals ein einheitliches Verständnis vonKompetenzorientierung erzielt wird, mag da-hingestellt sein, wichtiger scheint zu sein,dass über diesen Begriff der Kompetenzorien-tierung versucht wird, ein bestimmtes Ver-ständnis von Bildung an den Hochschulen zuetablieren. Gerade die von staatlichen Stellenin Auftrag gegebenen nationalen und interna-tionalen Studien suggerieren, dass mit ge-nauen Begriffen gearbeitet wird. Zu denProblemen bei den Definitionen siehe abernur die Studie von Müller-Ruckwitt (2008).[2] Dass man sich auch schon im vermeintlichveralteten Modell Gedanken über Lernziele –und damit auch über Kompetenzen – Gedan-ken gemacht hat, wird dabei gerne verschwie-gen.

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Der Bierkonsum ist in der Krise!Der Verbrauch sank von 117,8 Li-tern pro Kopf 2003 auf 107,2 Literin 2011 und damit um fast 9%.1Außerdem sank die Anzahl derBrauereien von ca. 12.000 um1900 auf nur noch ca. 1.500heute. Aber nicht nur Brauereienwerden weniger, auch die Anzahl derProfessuren für Soziologie nimmt ab.Dieses Jahr waren es 47 weniger alsim Vorjahr. Im Kontrast dazu stehendem Gerücht nach 400 neue Pro-fessuren im Bereich Wirtschaftswis-senschaften. Wenn das stimmt,muss man sich fragen: Wo soll dasnur hinführen?!2 Neben Bier und so-ziologischen Lehrkapazitäten wirdauch Wasser verbraucht. Dieser Ver-brauch verteilt sich allerdings nichtzeitlich oder zwischen unterschiedli-chen Disziplinen, sondern geogra-phisch sehr unterschiedlich: DerWasserverbrauch in Indien liegt bei25 Litern pro Tag und Kopf, inDeutschland bei 129 Litern. Weitvorne liegt Dubai mit ganzen 500(!) Litern.3

Aber nicht nur Wasser, Bier undSoziologie sind wichtig, auch Nah-rungsmittel sind ein existenziellerBestandteil des menschlichen Le-bens und zudem stark von Krisenbeeinflusst. Folgt man der Welthun-gerhilfe, ist die Zahl derjenigen, diedurch sie im Jahr

2010 versorgt werden mussten,sehr hoch. Mit einem Etat von 3,82Milliarden Dollar unterstützte dieWelthungerhilfe ca. 99 Millio-nen Menschen. Darunter 82,9Millionen Frauen, 23,2 Millio-nen Kinder bei Schulspeisungen,15,1 Millionen Binnenvertriebe-ne und 2,6 Millionen Flüchtlingein 75 Ländern.4 Dem gegenüber lagdas Kreditvolumen der EFSF (Euro-pean Financial Stability Facility) bei780 Milliarden Euro und war da-mit gut 200-mal so hoch.5

Gut, dass es da den internationa-len Tag zur Katastrophenvorbeugunggibt – immer der 2.Mittwoch im Okto-ber!6 Dieser Tag müsste in Deutsch-land eigentlich prominent gefeiertwerden. Sind die Deutschen doch fürihre Sehnsucht nach Sicherheit be-kannt. Nirgendwo sonst sind so vieleMenschen Helfer bei Rettungskräf-ten: Etwa 1,8 Millionen Men-schen sind ehrenamtlich bei derfreiwilligen Feuerwehr, dem RotenKreuz, dem Technischem Hilfswerk,dem Arbeiter-Samariter-Bund, derBerg- und Wasserwacht und vielenanderen Organisationen aktiv.7

Bei so viel Unterstützung ist eswichtig, dass alles seine Ordnunghat. Die Normen DIN 13050 undDIN 14011 legen fest, wann eineKatastrophe eingetroffen ist undwann nicht: Das Oderhochwasser

1997 mit 0 Toten in Deutschlandwar demnach eine, das ICE-Unglückvon Eschede 1998 dagegen keine –dort starben 101 Menschen.8 Hierwird deutlich, die Verwendung vonZahlen selbst ist krisenhaft. Wo sieSicherheit und Ordnung vermittelnsollen, bergen sie auf den zweitenBlick zweifelhafte Vergleichsmomen-te. Die rational wirkende Ordnung derZahlenwelt verliert sich bei nähererBetrachtung im Relativen.

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[1] Informationszentrum für Landwirtschaft:http://www.proplanta.de/Agrar-Nachrich-ten/Verbraucher/Bierkonsum-ruecklaeu-fig_article1335873610.html[2] Anderea Maurer auf dem DGS Kongress[3] Weltwassertag:http://weltwassertag.com/wieviel-wasser-braucht-der-mensch.html[4] World Food Program:http://de.wfp.org/%C3%BCber-wfp/zahlen-und-fakten[5] EFSF:http://www.efsf.europa.eu/attach-ments/faq_en.pdf[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_-Gedenk-_und_Aktionstagen[7] Krisenvorrat - Sicherheit in der Krise:http://www.krisenvorrat.de/verhalten-im-ka-tastrophenfall.html[8] http://de.wikipedia.org/wiki/Katastro-phe#Katastrophenmanagement

[3] Die Zitate stammen aus dem DQR (2011:7ff.), in denen vielfach die Formulierungendes EQR übernommen wurden.[4]So die Formulierung im „Deutschen Qualifi-kationsrahmen für lebenslanges Lernen“(DQR 2011: 12).[5] Siehe zu solchen Vorstellungen zum Bei-spiel die Präsentation des Generalsekretärsder Rektorenkonferenz der Fachhochschulender Schweiz, Sidler 2007.[6] Eine Vision, die aber in der Bildungspla-nung schon viele Umsetzungsversuche gese-hen hat. Siehe nur dazu den Versuch in denUSA, eine Competency-Based Teacher Educa-tion (CBTE) zu entwickeln (dazu ausführlichHilbert 1982 und überblicksartig Hilbert1987).[7] Welchen Einfluss die Arbeiten am „Ge-meinsamen Europäischen Referenzrahmen

für Sprachen“ auf die Gestaltung des „Euro-päischen Qualifikationsrahmens“ gehabt ha-ben, ist meines Wissens noch nichtuntersucht worden. Siehe aber die Darstellungdes Referenzrahmens in der Expertise für dasBMBF zur „Entwicklung nationaler Bildungs-standards“ (Klieme et al. 2007).[8] Siehe dazu Höhne 2010: 870.[9] Siehe zur Bestimmung von TechnologienLuhmann/Schorr 1979: 119 und Luhmann1982: 14.[10] Ich paraphrasiere hier im Hinblick aufden Kompetenzdiskurs Luhmann (2002: 157),der davon schreibt, dass „weder die Individu-en noch das Interaktionssystem des Unter-richts ... Trivialmaschinen [sind], die, wennman den richtigen Input eingibt, die ge-wünschten Resultate liefern.“[11] Das Konzept geht auf Dreeben (1970) zu-

rück. Eine ausführliche Darstellung des Tech-nologiedefizits findet sich beiLuhmann/Schorr 1982.[12] So der Deutsche Hochschulverband in ei-ner Stellungnahme zum Deutschen Qualifika-tionsrahmen (Grigat 2010: 252).

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über den Autor:Dr. Stefan Kühl ist Professor für Orga-nisationssoziologie an der UniversitätBielefeld. Während seiner Studienzeitan der Universität Bielefeld war erAsta-Pressesprecher, Mitbegründerder Vorläuferzeitung der sozusagen„Agilprop“ und studentisches Mitgliedim Senat der Universität.

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von Magdalena Aue

Illustration vonTobias Conradi

Im Heft verteilt findet ihr die-ses Mal mehrere Illustratio-nen von Tobias Conradi zumThema "Moderne Weltunter-gangsvorstellungen".

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„Ich habe mich vertan…“ (Helge Schneider)

Weltuntergangsprophezeiungen scheitern bislang mithundertprozentiger Wahrscheinlichkeit, zuletzt ist

es am 21. Dezember 2012 mal wieder nichts gewesen.Solche offensichtlichen Irrtümer ändern jedoch nichtsdaran, dass immer wieder aufs Neue Versuche unter-nommen werden, Apokalypsen vorauszusagen. Schautman in die „Chronik der (verpassten) Weltuntergänge“1,staunt man über die reiche Tradition gescheiterter Unter-gangsprophezeiungen: Ganze 119 Fälle werden dort do-kumentiert und die Liste ist längst nicht vollständig.Zudem sind dort lediglich konkrete Prophezeiungen mitDatum berücksichtigt (mindestens mit Jahreszahl). Alleinder Reformator Martin Luther soll drei Mal den Weltun-tergang angekündigt haben und die Zeugen Jehovas sindals Institution in der Disziplin „Irren bei Weltuntergangs-terminen“ rekordverdächtig.

Da drängt sich die erste grundlegende Frage auf, dieman klären muss, wenn man sich den praktischenGrundlagen der Apokalypsenpropheterie zuwendenmöchte: Wie kann man nach einer über zweitausend Jah-re langen Chronik von Irrtümern in Sachen Weltunter-gang immer noch Menschen vom baldigen Endeüberzeugen?

Die banalste Antwort vorweg: Viele Menschen wollen

ganz einfach an das Ende der Welt glauben, besondersdann, wenn man ihnen verspricht, dass hinterher allesbesser wird (sofern sie denn zu den „Auserwählten“ zäh-len). Wissenschaftler sprechen von der Faszination derApokalypse, denn diese „verspricht nicht eine bloße Ver-besserung der Verhältnisse, sondern eine radikale Ver-wandlung der Wirklichkeit. Sie verspricht Erlösung durchVernichtung der alten, unvollkommenen und verdorbenenWelt“ (Vondung 2008: 177). Aber eine bloße Faszinationist natürlich nur der Anfang. Solche apokalyptischen Pro-phezeiungen ordnen auch die Welt und helfen, sie zudeuten, und zwar auf ihre ganz eigene Art und Weise: als„religiöse Krisenrethorik“ (vgl. Nagel et al. 2008). Siesprechen vom Anfang und natürlich insbesondere vomEnde, teilen die Welt in Gut und Böse und stellen gut eta-blierte Möglichkeiten dar, Krisen und Katastrophen Sinnzu geben. Selbst im vermeintlich säkularen Deutschlandkann man ungenutztes Potenzial vermuten: Apocalypsesells! Der Weltuntergangsfilm „2012“ von Roland Emme-rich spielte weltweit in nur vier Tagen sein Budget wiederein und Bücher mit entsprechenden apokalyptischenThemen verkaufen sich ebenfalls bestens.

Wie gründet man einen Weltuntergangskult?Doch die Apokalypse fasziniert die Menschen nicht nur

als fiktiver Stoff. Es gibt religiöse und esoterische Grup-pen, die wirklich an das nahe Ende der Welt glauben undimmer wieder vergeblich versuchen, dieses Ende vorher-zusagen. Was überrascht: Nicht wenige dieser religiösenGruppen sind nach dem Scheitern ihrer Prophezeiungen– trotz aller Enttäuschung – sogar noch aktiver und über-zeugter von ihrem Glauben als vorher (für einen Über-blick vgl. Dawson 1999). Wie funktioniert das? Wie lässtsich eine Apokalypse vorhersagen, ohne dass man beiNichteintreten als Prophet hinterher ans Kreuz genageltwird und die Gruppe sofort auseinanderbricht?

Die Frage stellt sich insbesondere dann, wenn mankonkret plant, Prophet oder Prophetin zu werden und ei-ne eigene kleine Weltuntergangsgruppe zu gründen.Warum man das tun sollte? Es lohnt sich! Folgt man ei-nem leidenschaftlichen Plädoyer in der ZEIT – „Werdensie Guru!“ – sind „erstklassige Berufsaussichten“ zu er-warten (Straßmann 1998). Religiöse Gruppen sind zu-dem „minimalistische Organisationen“ – das heißt, sielassen sich ohne großes Startkapital gründen und auchin Krisenzeiten erhalten, da sie hervorragend auf dieRessourcen ihrer Mitglieder zurückgreifen können (vgl.Anderson 2008). Aber so einfach ist das natürlich nicht;es gibt einiges zu berücksichtigen. Es ist im Falle einesentsprechenden Vorhabens daher empfehlenswert, denHinweisen auf den nächsten Seiten zu folgen.

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DIE GESCHEITERTEAPOKALYPSE.

Wie man den Weltuntergang vorhersagt und den Irrtum übersteht –eine Anleitung.

Illustration von Tobias Conradi

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Das Fundament: Die WeltuntergangsgeschichteErfolgreiche Propheten sind in der Regel gute Ge-

schichtenerzähler. Man braucht eine Geschichte, dieüber die kommende Apokalypse informiert, überzeugendist und sich nicht ohne weiteres widerlegen lässt. Kern-element einer solchen Geschichte ist die düstere Gegen-wartsdiagnose: Die Welt ist schlecht und alle Zeichenstehen auf Untergang. Dabei darf man nicht vergessen,seine Anhänger mit zahlreichen Deutungsmustern zu ver-sorgen, mittels derer in möglichst vielen Ereignissen „ein-deutige“ Zeichen für die Endzeit erkannt werden können.

Das ist nicht so schwer: Katastrophen und andereschlimme Ereignisse gibt es genug in der Welt und dassder Mensch schlecht ist, wissen wir doch ohnehin alle.Die Realität bietet eine hervorragende Plausibilisierungs-grundlage für Dystopien und Weltuntergangsphantasien.Optimal ist es natürlich, wenn es in der unmittelbaren Er-fahrungswelt der Anhänger Katastrophen gab, die zu ver-arbeiten sind, denn wie bereits erwähnt, könnenapokalyptische Erzählungen auch als Sinngeber bei Kri-sen und Katastrophen dienen.

Dies, verpackt in dogmatischer Form, mit einer klaren

gut/böse Differenz und einer apokalyptischen Ästhetik(Vondung 2008: 187), bildet die ideologische Grundlagefür eine solche Gruppe. Anregungen gibt es zahlreiche inder reichhaltigen apokalyptischen Literaturtradition, so-dass man gar nicht erst die Bibel aufschlagen muss. EinBlick in das alte Buch lohnt jedoch sehr, denn vertrauteMuster ziehen immer. Falls man Evangelikale oder dieZeugen Jehovas jedoch nicht unter seinen Anhängern se-hen möchte, sollte man das mit der Bibel und diesemGott da eher bleiben lassen und sich stattdessen einenneuen Gott, eine fetzige Außerirdischen-Story oder etwasanderes ausdenken. Literarisches Talent ist dabei vonVorteil: Der Scientology-Gründer L. Ron Hubbard warauch fleißiger Romanautor und kann als ausdrücklichesVorbild dienen.

Vorsichtige und phantasielose Untergangsprophetenbegnügen sich mit der Ankündigung eines „großen Ereig-nisses“ und verzichten z.B. auf die konkrete Ausarbeitungdes da Kommenden. Besser ist hingegen ein „Wechsel-spiel von vagen und eindeutigen Aussagen“ (Krech 2008:223, vgl. auch Dawson 1999: 73). Einerseits muss mankonkret genug werden, um Spannung zu erzeugen undum Aufmerksamkeit der Anhänger zu fokussieren (kon-krete Untergangstermine sind hier sehr effektiv). Ande-rerseits muss man vage genug sein, um sich später ausder Affäre ziehen zu können und um dem Entstehen gra-vierender kognitiver Dissonanzen vorzubeugen. Eine Her-ausforderung, die Geschick verlangt. Aber sie gelingt, wieman sieht, immer wieder.

Schließlich spielen bei der Weltuntergansgeschichteauch die Quellen eine wichtige Rolle, aus der man seineProphezeiungen zieht. Ob es Eingebung ist, die Erschei-nung eines göttlichen Boten, Signale aus dem Weltall, dieDeutung einer alten Schrift, automatisches Schreiben:Die Deutungshoheit über diese Quellen ist entscheidend!Wer sich diese streitig machen lässt, gefährdet seine Au-torität.

Die richtigen Mitglieder rekrutierenDie Rekrutierung der richtigen Anhänger ist eine eben-

so zentrale Aufgabe wie das Erfinden einer knackigenWeltuntergangsgeschichte. Ein ausgewogenes Ge-schlechterverhältnis ist unabdingbar, sonst wird es unterden neuen Anhängern schnell langweilig. Und ein unver-krampfter Umgang mit Sexualität kann zudem ein zusätz-licher Mitgliedschaftsanreiz sein.

Personen mit eigener Familie, gutem Job und vielenFreunden in erreichbarer Nähe sind die damit verbunde-nen Mühen meist nicht wert, es sei denn, man hat einbegnadetes Charisma und Erfahrungen als Handyverkäu-fer, dann erreicht man ohnehin alles. Unabhängig von derZielgruppe, die man ansprechen will, sind daher sozialAusgegrenzte empfehlenswert oder neu in die Stadt Ge-zogene. Also: Solche die aus welchen Gründen auch im-mer in kein stabiles soziales Netzwerk eingebunden sind,sich fremd fühlen und/oder diskriminiert werden. Dashat viele Vorteile. Einerseits sind die Verwandten undFreunde, die einem die Anhänger streitig machen, dannein kleineres Problem. Andererseits sind Weltuntergangs-geschichten für solche Menschen oft besonders plausi-bel und das Versprechen der Erlösung amWeltuntergangstermin zusätzlich attraktiv. Bedenken

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sollte man jedoch immer, dass man es mit diesen Typenauch über einen längeren Zeitraum aushalten muss. WG-Erfahrungen können ein hilfreiches Mitgliedskriteriumsein.

Isolation, Hohe Beitrittskosten und bindende Hand-lungen

Wo wir schon beim Punkt WG-Erfahrung sind: Nützlichist die Isolation der Mitglieder einer solchen Gruppe.Kontakte zu Nicht-Mitgliedern sollten unterbunden wer-den oder nur unter Aufsicht/in Gemeinschaft stattfinden.Das verstärkt den Graben zwischen der Gruppe und derAußenwelt und kommt den eventuellen Kontrollabsichtengelegen. Prima, wenn auch mit etwas Aufwand verbun-den, klappt das im Kontext von Weltuntergängen mitselbstgebauten Bunkern. Doch auch abgelegene Häusereignen sich, um die Sekte nicht nur ideologisch von derAußenwelt abzuschotten, sondern auch räumlich. Mobil-telefone sind natürlich tabu – Technik ist ein Werk desTeufels – ebenso wie Fernsehen, Internet und Radio. Al-lenfalls findet sich letzteres im Gemach des Propheten,sodass dieser Nachrichten aus der Außenwelt erfindenbzw. selektiv weitergeben kann, was äußerst praktischist. Auf diese Weise kann man sogar eine Zeit lang denUntergang der Zivilisation vorgaukeln.

Um Trittbrettfahrer auszusieben und eine Unterwande-rung seiner Sekte durch wissbegierige Soziologen zu ver-meiden, sollte man zudem einige Vorkehrungen treffen.Effektiv sind hohe Beitritts-Kosten und kostspielige Initia-lisierungsriten. Gleichzeitig helfen solche Mechanismen,eine starke Gemeinschaft mit hohen Kollektivgütern auf-zubauen und Mitglieder zu binden (Iannaccone 1994).Wer viel investiert, gibt seinen Glauben auch nicht so

schnell auf. Am besten bringt man seine Anhänger undAnhängerinnen zu radikalen, besonders endgültigenHandlungen im Namen des Glaubens. Ein Beispiel guterPraxis ist der UFO-Kult um die Amerikanerin Dorothy Mar-tin (vgl. dazu Festinger 1956): Sie brachte ihre Anhängerdazu, ihren Besitz, ihr bisheriges Privatleben sowie ihreJobs aufzugeben und man zog sich in der Überzeugungzurück, trotz befürchteter Sintflut, rechtzeitig von einemUFO gerettet zu werden. Zwar hat das die Unterwande-rung durch Feldforscher nicht verhindert, doch führtendiese endgültigen Handlungen zu einer hohen Bindungder Anhänger an die Gruppe und zu Enttäuschungsresis-tenz. Womit wir beim nächsten Thema wären.

Die Krise der nicht erfüllten Prophezeiung – wieman sich darauf vorbereitet und damit umgeht

Ein entscheidender Punkt wurde bisher nur angedeu-tet: Was tun, wenn die Welt – Überraschung! – doch nichtuntergeht? Wie mit der Krise umgehen, die nun eintritt?Die schlechte Nachricht: Es ist damit zu rechnen, dass inder nächsten Zeit einige die Gruppe enttäuscht verlassenwerden. Die gute Nachricht: Viele Gruppen überstehentrotz allem gescheiterte Prophezeiungen für eine beacht-liche Zeit, meistens bleibt mindestens ein harter Kernübrig, der sich enttäuschungsresistent erweist. So kommtDawson in einer Metastudie zu dem Ergebnis, dass vondreizehn untersuchten Gruppen ganze zwölf mindestensfür eine Zeit lang weiterbestanden und fünf davon sogar„ziemlich gut“ darin waren, den Glauben trotz gescheiter-ter Prophezeiung zu wahren (Dawson 1999).

Die interessanteste konkrete Umgangsweise von Grup-pen mit der Enttäuschung ist die, dass die Anhänger zumissionieren beginnen bzw. diese Tätigkeiten intensivie-ren. Dies gilt in der Psychologie als Kompensationsstra-

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tegie, klingt komisch, passiert aber gar nicht so selten.Aus dieser Beobachtung im bereits erwähnten Fall desUFO-Kultes um Dorothy Martin ist das klassische psycho-logische Konzept der „kognitiven Dissonanz“ entstanden(Festinger 1956). Aber es gibt viel grundlegendere Stra-tegien. Viel erreicht man schon durch gegenseitige sozia-le Unterstützung und Bekräftigung, dass man imrichtigen Team spielt. Man sollte am Weltuntergangsda-tum also eng zusammenrücken, am besten eine derIdeologie angemessene, rituell gerahmte Situation eta-blieren und die Anhänger mit ihren Zweifeln nicht alleinelassen. Enttäuschungen lassen sich schließlich am bes-ten in der Gruppe verarbeiten und abweichende Meinun-gen („man hat uns betrogen“) lassen sich so am bestenunterdrücken.

Die Rationalisierung einer gescheiterten Prophe-zeiung

In solchen ritualisierten, unterstützendenden Kontex-ten lassen sich dann hervorragend Rationalisierungenimplementieren. In der konkreten Situation, in der daserwartete Ereignis nicht eintritt, zählt das Rationalisieren,Reinterpretieren bis hin zum Abstreiten des Scheiternsder Prophezeiung. Dass die Weltuntergangsgeschichte al-ternative Interpretationsmöglichkeiten zulässt bzw. vageist, wird nun entscheidend. Die Initiative dazu muss nichteinmal vom Anführer selbst kommen – oft suchen dieAnhänger selbst nach Erklärungen. Unterscheiden kannman diverse Strategien (Dawson 1999: 64ff):

Die Spiritualisierung. Die Logik der Spiritualisierungeines Ereignisses ist: Es hat stattgefunden, nur auf ei-ner anderen, eben spirituellen Ebene. Die Vagheit ei-ner Prophezeiung ist besonders für diese Methodegrundlegend, denn Spiritualisierung funktioniertschlecht, wenn man das Ereignis ganz konkret vorher-gesagt hat. Man kann ja z.B. das Ende der Welt „wiewir sie kennen“ vorhersagen und dann spüren, dasssich etwas grundlegend geändert hat oder eine wich-tige Entscheidung im Himmel etc. gefällt wurde.

Der Glaubenstest ist eine weitere, sehr beliebte Ratio-nalisierung: „Das war ein Test unseres Glaubens!“oder: „Unsere Gebete wurden erhört!“. Die Welt istzwar nicht untergegangen, aber es ist immerhin dasVerdienst der Gruppe. Halleluja!

Besonders beliebt: Der Verweis auf menschliche Feh-ler, ob in den Berechnungen, im richtigen Deuten derZeichen, im Interpretieren der göttlichen Botschaftenist eine weitere naheliegende Strategie. Man kannden Weltuntergang dann einfach verschieben. Prak-tisch: So kann man seine Anhänger noch ein wenigbehalten und hat noch einmal Glück gehabt. Jederhat schließlich eine zweite (und dritte) Chance ver-dient, oder nicht?

Statt den Fehler bei sich selbst zu suchen, kann manauch einfach seine Anhänger der moralischen Unan-gemessenheit schuldig sprechen und diesen z.B. vor-werfen, nicht bereit gewesen zu sein. Das funktioniertgut, wenn man in seiner Weltuntergangsgeschichteauf den Messias oder andere Erlöser wartet, denndieser kann ja jederzeit umentscheiden und den Welt-untergang verschieben – bis seine Anhänger so weit

sind. In esoterischen Kreisen können auch negativeEmotionen einen weltweiten Bewusstseinswandel imWege stehen oder zu geringe kognitive Signale verhin-dern, dass Außerirdische die Erde finden, die Auser-wählten retten und den Planeten zerstören. Falls mannicht die eigenen Anhänger beschuldigen möchte,kann man sich natürlich wahlweise auch andere, ex-terne Sündenböcke für diesen Spaß aussuchen.

Panik: Wie sich helfen, wenn nichts hilft?Eine nicht empfehlenswerte Option im Umgang mit ei-

ner sich andeutenden Krise ist der (kollektive) Selbst-mord, die „letale Apokalypse“ als Selbsterlösung (Krech2008). Das kommt zwar vor, wie in den berüchtigten Fäl-len des Heavens Gate-Kultes oder der Bewegung für dieWiedereinsetzung der Zehn Gebote Gottes, ist aber alsNotfallplan ziemlich perfide.

Da es aber in Gruppen und ihrer eigentümlichen Dyna-mik trotz allem mitunter wirklich ungemütlich werdenkann und der Unmut der Anhänger möglich ist, kann esfür den Notfall ratsam sein, einen Plan B zu haben. Einekleine versteckte Hütte im Wald, zum Beispiel – oder ei-ne zweite Identität.

Doch wenn man sich gut vorbereitet hat und sich hin-terher entschuldigt oder eine Erklärung liefert, sollte esgar nicht erst dazu kommen. Selbst der amerikanischeRadioprediger Harold Camping („The bible guaranteesit!“), der mindestens 3 Mal den Weltuntergang vorherge-sagt hat und jedes Mal gescheitert ist, ist nach wie vorunter den Lebenden. Obwohl er seinen Anhängern meh-rere Millionen Dollar aus den Taschen gezogen hat. Somacht man das!Alexander Engemann

Literatur:Anderson, Shawna, L.; Martinez, Jessica Hamar; Hoegeman, Catheri-ne; Adler, Gary and Chaves, Mark (2008): Dearly Departed: How OftenDo Congregations Close? Journal for the Scientific Study of Religion,Vol. 47, Issue 2, S. 321-328.Dawson, Lorne L. (1999): When Prophecy Fails and Faith Persists, in:Nova Religio: The Journal of Alternative and Emergent Religions, Vol. 3,No. 1., S. 60-82.Festinger, Leon; Riecken, Henry W./Schlachter, Stanley (1956): WhenProphecy Fails. A Social and Psychological Study of a Modern Groupthat Predicted the Destruction of the World, New York.Iannaccone, Lawrence R. (1994): Why Strict Churches Are Strong, in:American Journal of Sociology, Vol. 99, No. 5, S. 1180-1211.Krech, Volkhard (2008): Wer glaub wird Selik? Enttäuschungsresis-tenz und letale Apokalypse, in: Nagel, Alexander K.; Schipper, Bernd U.;Weymann, Ansgar (Hrsg.): Apokalypse. Zur Soziologie und Geschichtereligiöser Krisenrhetorik, Frankfurt/M, S. 217-236.Nagel, Alexander K.; Schipper, Bernd U.; Weymann, Ansgar (2008)(Hrsg): Apokalypse. Zur Soziologie und Geschichte religiöser Krisenrhe-torik, Frankfurt/M.Straßmann, Burkhard (1998): Werden sie Guru! Eine Geschäftsidee,in: Die ZEIT, vom 23. Januar 1998.Vondung, Klaus (2008): Die Faszination der Apokalypse, in: Nagel,Alexander K.; Schipper, Bernd U.; Weymann, Ansgar (Hrsg.): Apokalyp-se. Zur Soziologie und Geschichte religiöser Krisenrhetorik, Frank-furt/M, 177-196.

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[1] http://www.unmoralische.de/weltuntergang.htm

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Liebe Freunde routinierter Krisenbewältigung.

Die Tage werden kürzer. Bald stolpern wir wieder durchden Herbst. Zeit, mal über Krisen zu sprechen. Und damitmeine ich nicht die durch die dunkle Jahreszeit motivier-te Schieflage der Seele. Erwartet daher bitte kein Depri-Säuseln. Ich meine die Krisen, die in den sogenanntenMassenmedien seit Jahren die Tagesneuigkeiten domi-nieren. Die Art von Krisen, die von 20.00 Uhr bis 20.14Uhr, eine durchschnittliche Tagesschau mit Inhalten füllt.Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Eurokrise, Staatsschulden-krise, Klimakrise und so weiter. Neben diesen Meta-Kri-sen gibt es noch viele kleinere Kriselchen, nicht mindergefährlich aber nur temporär medienpräsent, kleineWunderkerzen in der Krisenwelt. So wie im letzten JahrEHEC und Fukushima. Erinnert sich noch jemand? Nichtzu vergessen die persönlichen Krisen, unsere treuen Be-gleiter im Alltag: Beziehungskrisen, Identitätskrisen,Sinnkrisen, Formkrisen, Jobkrisen, Motivationskrisen.Was vergessen?

Ich finde die jeweiligen Krisen eigentlich gar nicht sospannend. Viel interessanter finde ich, sich mal damit zubeschäftigen, was Krisen eigentlich sind, wofür sie dasind, wie wir damit umgehen und vor allem: warum es inletzter Zeit so viele gibt? Ganz im Sinne des Medienwis-senschaftlers Marshall McLuhan, der einmal gesagt hat:„Nicht, dass ich etwas gegen aktuelle Ereignisse hätte,aber in letzter Zeit hat es so viele davon gegeben.“

Es gibt so viele Krisen, dass die Normalität verschwin-det. Oder andersherum: Dauerkrisen sind die neue Nor-malität. Das Wort Krise kann als Begriff nur bestehen,wenn es einen Normalzustand gibt, der sich von einemKrisenzustand absetzt. Aber den gibt es nicht mehr. LautOnline-Schwarmwörterbuch versteht man unter Krise ei-ne „mit einem Wendepunkt verknüpfte Entscheidungssi-tuation“. Krisen sind Brüche: Ereignisse, die unszwingen, unser Handeln zu überdenken und neu auszu-richten. In Krisenzeiten wird das Bisherige infrage gestelltund neu verhandelt. Krisen sind die Zeit der persönlichenRoutinebrüche und der gesellschaftlichen Strukturbrü-che.

Was aber, wenn es keine Strukturen mehr gibt? Wennalles möglich ist und multioptional wabert? Wenn sichdie Welt so schnell dreht, dass sie morgen mit der „Sinn-folie“ von heute nicht mehr funktioniert? Wenn vormalsfeste Strukturen zu fluiden Prozessen werden und ausdem „Sein“ ein „Werden“ wird? Wenn es nur noch Mög-lichkeiten gibt und keine Verlässlichkeiten? Dann habenwir eine Dauerkrise. Heute gibt es kein Gleichgewichtmehr; jede Balance ist nur eine Übergangsphase von ei-ner Störung zur nächsten.

In Krisenzeiten – also eigentlich immer – wird von denMenschen besonders viel gefordert: den Gürtel engerschnallen, noch mehr leisten, die Zähne zusammenbei-ßen, sich selbst optimieren. Augen zu und durch. In der

Hoffnung auf ein besseres Morgen zittern wir uns durchdie Tage. Das sogenannte Selbstmanagement, von dembevorzugt diejenigen reden, die gerne andere managen,dieses ganze ökonomisch motivierte Gedudel von Eigen-verantwortung, Flexibilisierung und Selbstoptimierung istnichts anderes, als eine Verherrlichung permanenter Kri-senbewältigung. Resilienz ist das Stichwort: Wider-standsfähigkeit. Die Eigenschaft, an den Härten desLebens zu wachsen anstatt zu zerbrechen. Das ist gutund schön. Aber es ist Ideologie! Beziehungsweise Hege-monie. Ein Muskel kann auch nur im Zusammenspiel vonKontraktion und Entspannung gestärkt werden. Immernur Entspannung macht labberig, aber nur Kontraktionführt auch nicht zur Muskelstärkung, sondern auf direk-tem Weg in die Erschöpfung. Wer also von Wachstumspricht, darf nicht nur Anspannung fordern, sondernmuss auch Entspannung mitdenken. Macht aber keiner.Weil es fortschrittsfeindlich ist. In Dauerkrisen ist Ent-spannung tödlich. Stillstand ist Rückschritt. Das ist leiderKonsens, obwohl wir alle darunter leiden.

Das ist jetzt mal ein Problem. Und wie kommen wir daraus? Ich habe keine Ahnung, nur ein Gefühl. Einmal tiefeinatmen, Yin und Yang auf unsere Schultern setzen unduns beim Ausatmen der fernöstlichen Doppelbedeutungdes Wortes "Krise" bewusst werden. Soweit ich aus mög-licherweise gut informierten Sekundärquellen weiß, be-steht das Wort im Chinesischen aus zwei Zeichen: einesbedeutet Gefahr, das andere bedeutet Möglichkeit. Dasist doch mal ein Anfang. Und was heißt das für uns? Kri-se als Chance? Das sagt sich so leicht. Und klingt einbisschen zynisch. Anderer Vorschlag. Wenn alle vonSelbstoptimierung und Selbstmanagement sprechen,antworten wir einfach mit: Selbstnormalisierung. Wennum uns herum alles bricht und das „Nicht-Normale“ zumNormalzustand wird, dann müssen wir uns selbst norma-lisieren. Wir müssen uns mit der Übergangsgegenwartabfinden. Wir müssen die Unruhe des Alltags anhalten.Und aushalten. Fällt uns nicht leicht, denn wir sind be-gehrende Subjekte, wollen dieses und jenes und meis-tens das, was wir gerade nicht haben. Wir sind neugierig,streben nach mehr. Unruhe wohnt in uns. Der fortwäh-rende Expansionsdrang treibt die Menschen seit jeher inden Ruin. Wir sind eine einzige, fleischgewordene Dauer-krise. Damit müssen wir leben oder daran scheitern. DerLyriker Friedrich Hölderlin hat einmal gesagt: „Was küm-mert mich der Schiffbruch der Welt, ich weiß von nichtsals meiner seligen Insel.“ In diesem Sinne: Sail away! Dienächste Krise ist nur einen Windstoß entfernt.

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KRISEN, GESCHÜTTELT.Ein Gastbeitrag von Dirk Bathen.

über den Autor:Dirk Bathen arbeitet als freier Autor, Trendfor-scher und strategischer Berater in Hamburg. Von1995 bis 2001 studierte er an der Universität Bie-lefeld Soziologie. Dieser Text erschien in etwasgeänderter Fassung in seinem Blogmentalreserven.de.

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Wer die Unterführung des Bielefelder Bahnhofs inRichtung Boulevard verlässt, kann an einer grauen

Betonwand ein buntes Graffiti entdecken. Jedoch nichtauf der Wand selbst, sondern auf einem Foto, das als Teileines Hinweisschildes an jener angebracht ist. „Dasbraucht kein Mensch“, steht dort im „Deutsche-Bahn-Rot“ und darunter eine Aufforderung, Sprayer_innen an-zuzeigen. Natürlich ist es vor allem die Bahn, die dieGraffiti hier nicht braucht – oder vielmehr nicht will, stel-len sie doch einen Eingriff in ihre „Corporate Identity“dar. Tatsächlich ist es das, was Street Art ausmacht, wasdas Empörende an ihr ist: Die Anmaßung einer Mitgestal-tung in einem Bereich, in dem das Recht der Gestaltungmonopolisiert und der Eingriff somit illegal ist. So fasseich auch in diesem Artikel unter dem Begriff „Street Art“in grober Vereinfachung all die verschiedenartigen Stileund Methoden von Graffiti über „Tags“ (schnelle Schrift-züge, die einer Unterschrift ähneln) und „Cut Outs“ (aus-geschnittene Bilder, die an Wände geklebt werden) biszum „Guerilla Gardening“ (nicht autorisiertes Bepflanzenöffentlicher Räume) zusammen und verstehe daruntervor allem einen unerlaubten gestalterischen Eingriff inden öffentlichen Raum. Von diesem Blickwinkel aus kanndie Betrachtung von „Street Art“ einen Ausgangspunktbilden für eine Soziologie der postfordistischen1 städti-schen Lebenswelt. Dabei kann es nicht um die üblicheFrage gehen, ob „Street Art“ das „Art“ in ihrem Namenverdient oder vielmehr bloße Schmiererei ist. Genausowenig fruchtbar erscheint es, in die kryptischen Buchsta-benfolgen des Graffitis eine politische Aussage oder gareine Forderung hineinzuinterpretieren. Vielmehr möchteich den Regelbruch oder die Grenzüberschreitung, die„Street Art“ stets darstellt, dazu nutzen, mich an ebendiese Grenzen heranzutasten, die das städtische Lebenbestimmen. Damit orientiere ich mich grob an einer Me-thode Foucaults, die er wie folgt beschreibt: „Eine Kulturnach ihren Grenzerfahrungen zu fragen, heißt sie in denGrenzen der Geschichte nach einer Zerrissenheit zu be-

fragen, die gleichsam die eigentliche Entstehung ihrerGeschichte ist.“ (Foucault 2005: 10). Ähnlich wie Garfin-kel geht Foucault also davon aus, dass soziale Strukturenin den Momenten ihrer Krisen klarer hervortreten. DieStrukturen der verwalteten Stadt, um die es hier gehenwird, sind jedoch so vielfältig, dass sie jeweils nur kurzangeschnitten werden können. So will dieser Artikel aucheher zum Weiterdenken anregen, als eine spezielle Inter-pretationsweise von Street Art zu untermauern.

Physische Räume wie Zimmer, Häuser, Plätze sind im-mer auch soziale Räume, die nicht nur funktionale Ein-heiten sondern auch Kommunikationsmedien sind. Alssolche sind sie gewissermaßen eine bildhauerische Ge-samtdarstellung der gesellschaftlichen Machtverhältnis-se. Egal ob sie in Form der Repräsentativbauten derModerne aus in Stahl und Beton gegossener Einschüch-terung besteht oder die Dominanz der Macht in derScheinharmonisierung der Postmoderne mit spieleri-schen Elementen „verhübscht“ und „bedeckmäntelt“wird: Die Architektur der Stadt repräsentiert vor allem die(monumentalen) Entscheidungen der Mächtigen und dieIrrelevanz der Massen (Vgl. Blissett/Brünzels 2001). Sowerden die Stadtbewohner_innen immer wieder auf ihreRolle im ökonomischen System verwiesen, die aus Pro-duzieren und Konsumieren, nicht aus Mitgestalten oder-bestimmen besteht. Baudrillard sieht darin den Kern-punkt der städtischen Hegemonie und schreibt: „Der Un-terschied zwischen Sendern und Empfängern, zwischenProduzenten und Konsumenten von Zeichen muß totalbleiben, denn in ihm liegt heute die wirkliche Form dergesellschaftlichen Herrschaft.“ (Baudrillard 1978: 23).Daraus destilliert er den Begriff der „Semiokratie“, derHerrschaft der Zeichen, als zentralen Mechanismus vonHerrschaft in der Postmoderne. „Street Art“ wird vonBaudrillard als Krise dieser Herrschaft interpretiert. Tat-sächlich avanciert sie sogar zu einem zentralen Momentin seiner politischen Theorie, in der „nur das [p]olitisch

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STREET ART ALS KRISE DERVERWALTETEN STADT

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wirklich von Belang ist […], was heute diese Semiokratie,diese neue Form des Wertgesetzes attackiert.“ (ebd.).Gerade die kryptische Aneinanderreihung von Buchsta-ben der Graffiti oder mehr noch der Tags seien als „leereSignifikante“ dazu geeignet, die „Semiokratie“ der ver-walteten Stadt in eine Krise zu stürzen.

Neben dem diskursiven Aspekt der architektonischenHegemonie, die jedem Raum die Perspektive der Mächti-gen aufzwingt (Vgl. Zukin 1993: 16), hat die verwalteteStadt jedoch auch unmittelbarere praktische Auswirkun-gen: So ist das Verschwinden frei nutzbarer öffentlicherRäume bereits ein stadtsoziologischer Allgemeinplatz ge-worden. Private Sicherheitsdienste kontrollieren nichtmehr nur Verkaufsräume, sondern auch die angrenzen-den Straßen, spezielle „Behinderungsmöblierung“, dieHinsetzen oder -legen unmöglich macht, setzt die Normdes Laufens und Kaufens durch. Jeder Raum ist verwal-tet und kontrolliert und wird von allen Elementen berei-nigt, die nicht zu seiner Funktionalität als Zelle desökonomischen Systems gehört (dazu z.B. Davis 1992).

Durch diese Privatisierung und Funktionalisierung öf-fentlicher Räume wird deren Aneignung durch die Sub-jekte, deren Lebenswelt sie bilden, unmöglich gemacht.Genau diese Aneignung der (menschengemachten) ge-genständlichen Umwelt ist jedoch für die Kritische Psy-chologie nach Leontjew die Grundlage derSubjektwerdung. Da sich in der menschengemachtenUmwelt die gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln, wirddurch ihre Aneignung gesellschaftliches Erleben möglich(Leontjew 1973). Spätere Untersuchungen legen nahe,dass eine zentrale Voraussetzung für die Aneignung derUmwelt deren prinzipielle Umnutzbarkeit ist. Diese Um-nutzbarkeit wird jedoch in den Städten des Postfordis-mus durch menschliche und architektonische„Raumwärter_innen“ gezielt verhindert (Vgl. Deinet,2011: 41 ff.): „Herumlungern“2 ist in den Bahnhöfen derAktiengesellschaft Deutsche Bahn genauso verboten, wiedas Besprühen der Wände. Die Krise, die der verwaltetenStadt durch „Street Art“ zugefügt wird, offenbart alsoMachtstrukturen, die Ausdruck eines Kampfes um dieAneignung der städtischen Umwelt sind. Dabei könnenjedoch mit dem Begriff des Kampfes nicht wie üblich be-wusst handelnde Akteur_innen verbunden werden, dader gesamte Prozess der Aneignung üblicherweise unbe-wusst abläuft.

Dieter Baacke (1984) stellte sich die Aneignung derLebenswelt noch als größer werdende Kreise um die ei-gene Wohnung vor. Die öffentlichen und privaten Institu-tionen, die das Leben von Stadtmenschen prägen, sindjedoch weder um die eigene Wohnung herum angeordnetnoch lassen sie eine Aneignung zu: das Krankenhaus, indem der Stadtmensch geboren wird, die Schule, in der ererzogen wird, die Universität, in der er studiert, die Fa-brik, in der er arbeitet, das Pflegeheim, in dem er stirbt;sie alle bestimmen sein Leben und doch hat er meistkeinen Einfluss auf sie. Diese Tatsache spiegelt sich inihrer Gestaltung wieder: Wenn das Kind am Morgen indie Schule kommt, wurde der Baum, der noch gestern imHof stand, gefällt, ohne dass es gefragt oder auch nurüber den Grund informiert wurde. Die alte Frau wird in ih-rem Rollstuhl aus dem Zimmer im Pflegeheim gescho-ben, in dem sie jeden Tag verbringt, damit es einenneuen Anstrich bekommt, in einer Farbe die sie nichtausgesucht hat.

Unter dem Eindruck der völlig verwalteten und funktio-nalisierten postfordistischen Stadt, wurde das Kreis-Mo-dell durch das sogenannte Inselmodell ersetzt. Diesesgeht davon aus, dass die städtische Lebenswelt jenseitsder eigenen Wohnung nicht mehr zusammenhängendangeeignet werden kann, sondern sich aus vereinzeltenInseln zusammensetzt, mit denen jeweils spezifischeFunktionen verbunden sind (Deinet 2011: 48). Aber auchdieses Modell unterstellt die (Eigentums-)Wohnung alsHeimat und Prototyp der angeeigneten Lebenswelt undhinkt damit hinter der Realität der Mietwohnungen her,die die räumliche Fremdbestimmung bis ins Schlafzim-mer fortsetzt, an dem schon die kleinsten Veränderungenuntersagt sind oder zumindest der Genehmigung bedür-fen. Selbst der eigene Körper kann als völlig angeeigne-ter Raum in Frage gestellt werden, zeichnet sich derPostfordismus doch gerade durch die Produktion einesProduktes aus: Dem des pseudoindividuellen„Lifestyles“, der von der Form der Schuhe bis zur Formder Nase alles unter seiner Kontrolle hat. „Was wir in derÖffentlichkeit spazieren tragen, sind immer weniger indi-viduelle und immer mehr virtuelle Körper, die nicht mehruns, sondern Nike und Adidas gehören.“ (Waldvogel2006: 64).

Insgesamt erscheinen deshalb die Dualismen von an-geeigneter vs. fremdbestimmter Lebenswelt, Macht vs.

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Herrschaftsfreiheit und Raumgestaltung vs. „Street Art“,unterkomplex. Baudrillards „revolutionäre Intuition“ de_rSprayer_in, die die „leere Signifikante“, die auf keinerleiInhaltsebene mehr verweist, der „bürgerlichen Identität“gegenüberstellt (Baudrillard 1978), scheitert an einer we-niger romantischen Realität. Nichts könnten „Tags“ weni-ger sein als „leere Signifikante“, die jenseits einerIdentität stehen. Tatsächlich bezieht sich jeder „Tag“ aufeinen anderen, ist Ausdruck eines Kampfes um Statusderer, die nirgends als auf Hauswänden mehr unter-schreiben können – und unterschrieben wird fast jedeArbeit der „Street Art", vielleicht in der Hoffnung aufRuhm, vielleicht auch in der Hoffnung 'entdeckt' zu wer-den, so wie der zum Popstar avancierte „Street Artist“Banksy, der sein Marketing inzwischen über eine PR-Agentur organisiert, dessen Arbeiten in Hunderttausen-der-Marken gehandelt und in Form von Postkarten undKalendern in fast jedem Schreibwarenladen verkauftwerden. Die 'Anonymität' und das Rätselraten um seineIdentität können als Teil seiner „Corporate Identity“ inter-pretiert werden. Es soll hier jedoch keineswegs darumgehen, Banksy als Verräter der 'eigentlich' subversivenStreet Art zu denunzieren, wie es bereits oft geschehenist. Stattdessen kann der Fall Banksy als Veranschauli-chung des Differenzkapitalismus dienen, der sich geradedadurch am Leben erhält, dass er das Aufbegehren inWarenform präsentiert und so das Aufbegehren gegendie Warenform selbst verhindert. Aber auch darüber hin-aus gilt es die Debatte um den politischen Charakter der„Street Art“ aus den bereits beschriebenen Dualismenvon Macht und Herrschaftsfreiheit, Ware und Widerstandetc. herauszuheben.

Damit kann abschließend wieder der Bogen zu Fou-cault geschlagen werden. Denn Foucaults Methode derBefragung einer Kultur – hier der postfordistischen städ-tischen Lebenswelt – nach ihren Grenzerfahrungen of-fenbart Machtstrukturen, die komplexer sind als einVerhältnis von Mächtigen zu Unterdrückten. Stattdessenkönnen die Kämpfe um die Aneignung der städtischenLebenswelt in Anlehnung an Foucault als zirkuläreMachtbeziehungen interpretiert werden. Dabei ist dieMacht nicht bei einigen Individuen lokalisiert und wirdauf andere angewendet, sondern bildet vielmehr das Me-dium oder die Arena des Kampfes, in der sich die Indivi-duen bewegen (Vgl. Foucault 2005: 114). So wird wederdas widerständige Potential negiert, das jedem Angriffauf die gestalterische Herrschaft über städtischen Rauminnewohnt, noch die Machtförmigkeit dieses Angriffsselbst. Denn „Street Art“ benutzt nicht nur dieselben Flä-chen wie beispielsweise die Werbung, sondern auch die-selbe machtförmige Methode des ungefragten Eingriffsin fremde Lebenswelten. Ja, „Street Art“ kann eine kriti-sche, widerständige Praxis sein, aber sie existiert, mitFoucault gesprochen, „nur im Verhältnis zu etwas ande-rem als sie selbst: Sie ist Instrument, Mittel zu einer Zu-kunft oder zu einer Wahrheit, die sie weder kennen nochsein wird, sie ist ein Blick auf einen Bereich, in dem sieals Polizei auftreten will, nicht aber ihr Gesetz durchset-zen kann.“ (Foucault 1992: 9). So kann die „Street Art“wohl als eine Gegenmacht bezeichnet werden, aber auchGegenmacht ist eine Macht. So wie der Kapitalismus un-abwendbar wiederkehrende Krisen mit sich bringt, bringtauch die Verwaltung des städtischen Lebensraumszwangsläufig die Krisen der „Schmierereien“ mit sich. Da

diese wie jene gesellschaftlichen Strukturen in den Mo-menten ihrer Krisen besonders deutlich werden, liegt indiesen Momenten ein Potential zur Erkenntnis ihrer De-struktivität – und damit auch eine Hoffnung auf Verände-rung.Simon Schaupp

Literatur:Baudrillard, Jean (1978): „Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen“,BerlinBlissett, Luther /Brünzels, Sonja (2001): „Handbuch der Kommunika-tionsguerilla“, BerlinDavis, Mike (1992): „City of Quartz“, LondonDeinet, Ulrich (2011): „Sozialräumliche Jugendarbeit“, WiesbadenFoucault, Michel (1992): „Was ist Kritik?“, BerlinFoucault, Michel (2005): „Analytik der Macht“, Frankfurt a. M.Leontjew, A. N. (1973): „Probleme der Entwicklung des Psychischen“Waldvogel, Florian (2006): „Reclaim the Streets. Der 'öffentliche Kör-per'“ in Krause, Daniela / Heinicke, Christian (Hrsg.): „Street Art. DieStadt als Spielplatz“Zukin, Sharon (1993): „Landscapes of Power“, Berkeley

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[1] Der Begriff des Postfordismus oder auch des Differenzkapitalismusbeschreibt das gegenwärtige Stadium kapitalistischerWirtschaftsordnung. Während der Fordismus vor allem durchstandardisierte Massenproduktion und Disziplinierung charakterisiertwar, sind die Hauptmerkmale des Postfordismus Flexibilität und dieBejahung von Differenzen als Innovationen innerhalb der Marktlogik.[2] So heißt es in der Hausordnung, die in jedem Bahnhof inmehrfacher Ausfertigung zu sehen ist.

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Street Art in Washington D.C.: Aufgenommen 2005

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In der letzten Ausgabe (SoSe 2012) berichteten wir ausführlich über Niklas Luhmanns Zettelkasten, derseit einiger Zeit an unserer Fakultät ist und nun endlich erschlossen werden kann. Nun gibt es bereitserste Ergebnisse. Der Zettelkastenexperte Johannes Schmidt hat den Zettelkasten unter anderem nachden Themen „Krisen und Katastrophen“ befragt und die Ergebnisse für die Sozusagen zusammengefasstund kommentiert. Soviel vorweg: Krisen und Katastrophen sind bislang offenbar so etwas wie „Baustel-len“ in Luhmanns Systemtheorie. Die Entwicklung eines systemtheoretischen Verständnisses dieser Kon-zepte ist somit sicher ein mögliches Thema für die eine oder andere Abschlussarbeit, immerhin dieAnsätze für ein solches Projekt findet man verstreut im Zettelkasten.

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Bericht aus dem Zettelkasten

KRISEN UND KATASTROPHEN– KEIN THEMA FÜRNIKLAS LUHMANN?

Von Johannes Schmidt

Wenn man den Zettelkasten Ni-klas Luhmanns zu den Themen

„Krise“ und „Katastrophe“ befragtund zu diesem Zweck die 1250 bzw.3200 Stichworte umfassendeSchlagwortregister der beidenSammlungen konsultiert, so ergibtsich ein eher ernüchternder Befund.

Den Begriff „Krise“ kennen die Re-gister nicht – was hinsichtlich derfrühen, eher philosophisch orientier-ten Sammlung (ca. 1950-1963)schon überrascht, da hier die Hus-serl-Bezüge mit dem Konzept der Le-benswelt, das in dessenKrisis-Aufsatz entwickelt worden ist,unübersehbar sind. In der zweiten,neueren und genuin soziologischenSammlung (ca. 1963-1996) werdenfür „Krisentheorie“ immerhin vierSystemstellen benannt, von denenallerdings nur eine überhaupt einennennenswerten Umfang erreicht.Diese 43 Zettel umfassende Abtei-lung „532/14 Krisentheorie“ befin-det sich im Kontext des ca. 2000Zettel umfassenden Themenblocks„532 Soziale Ordnung / SozialesSystem“, der sich primär mit der Or-ganisation beschäftigt und den Luh-mann größtenteils bereits bis Mitteder 1960er Jahre erstellt habendürfte. Entsprechend wird Krise hierprimär als ein Strukturänderungspro-blem in Organisationen verstanden,auch wenn der Begriff zunächst andas allgemeine System/Umwelt-Mo-dell, wie es für den damaligen Ent-wicklungsstand der LuhmannschenTheorie charakteristisch war, ange-

passt wird:

[Zettel 532/14 / nl-zkII-10-523_14]

„KrisentheorieKrisen sind heikle Situationen inSystem/Umwelt-Beziehungen, dieden Bestand des Systems in Fra-ge stellen.Die Krisenlehre ist, weil sie einenExtremfall behandelt, für Struk-turfragen in besonderem Sinneaufschlussreich. Sie ergibt sich inihrer Problemdarstellung und inihren Bezugsbegriffen aus der all-gemeinen System/Umwelt-Theo-rie.“

Daran anschließende weiterfüh-rende sozialtheoretische Überlegun-gen finden sich aber nicht,abgesehen von einigen wenigen Ver-weisen auf andere Stellen im Kasten,so darauf, dass die Krise in einemengen Zusammenhang mit der Theo-rie struktureller Änderungen gesehenwerden müsse. Dabei wird auf dieAbteilung „21/8 Struktur/Funktion“verwiesen, in der es auch einige Zet-tel zu Strukturänderung gibt, die hierzunächst primär als Strukturanpas-sung verstanden wird, wobei Luh-mann zwischen Strukturänderung

durch Entscheidung und durch Ver-gessen unterscheidet (21/8o14i). Ei-ne weitere Verweisstelle führt zumBlock „21/10 Funktionalismus/Sta-bilität“: Stabilität versteht Luhmannals die Reproduzierbarkeit von Pro-blemlösungen durch entsprechendeSystemstrukturen (21/10e). Instabi-lität als „Unsicherheit des Anschluss-wertes von Ereignissen“ (21/10h5)wird zwar in ihrer Funktionalität an-erkannt, aber sofort wieder auf Sta-bilität bezogen: „Instabilitäteneröffnen weiterreichende Kausal-chancen, weil nahezu alles herange-zogen werden kann, um Stabilität zuerreichen“ (21/10h2). Die Frage, in-wieweit Systeme spezialisierte Struk-turen ausarbeiten, um mitInstabilitäten umzugehen, wird abernicht weiter vertieft.

Die weiteren Überlegungen im o.g.Block 532/14 bewegen sich dannprimär im organisationssoziologi-schen Kontext. Krisen als „nicht-rou-tinemäßig einplanbare Änderungen“(542/14a) werden dabei der organi-sationalen Routine gegenüberge-stellt und in enger Anlehnung anMichel Crozier primär in ihrer Funk-tionalität gesehen als ein „unent-behrliches und dahersystemwichtiges Anpassungsverhal-ten …, in dem für kurze Zeit eine ArtAusnahmerecht gilt“ (532/14b): An-passung durch Abweichung also. MitBlick auf einen modaltheoretischenBegriff der Bedingungen der Mög-lichkeit betont Luhmann, dass eineentsprechende Krisentheorie zu-

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nächst die Bedingungen der Substi-tuierbarkeit zu klären hätte und no-tiert: „Eine Krise könnte dann(jeweils im Bezug auf ein bestimmtesSystem) definiert werden als Über-gang zu ungewöhnlichen Bedingun-gen der Substituierbarkeit“(532/14j).

Ein gesellschaftstheoretischer Zu-griff, wie er für die Krisentheorie derneueren Soziologie eigentlich üblichist, wird in diesem Abschnitt allen-falls angedeutet. So findet man dieBemerkung, dass die Krisenanfällig-keit der Gesellschaft sich durch ihrefunktionale Ausdifferenzierung erhö-he (532/14p1) und Krisen für dasGesellschaftssystem als Zuspitzun-gen verstanden werden können, „dieauf eine Änderung der Form von Sys-temdifferenzierung hinauslaufen“(532/14r). Beide Bemerkungen ste-hen aber deutlich isoliert und wer-den auch nicht durch entsprechendeVerweise mit anderen Bereichen derSammlung verbunden, wie generellder gesamte Block eher Forschungs-fragen formuliert, die nicht wiederaufgenommen werden.

Für „Katastrophe“ weisen die Re-gister je eine Fundstelle in der frühenund eine in der späteren Sammlungaus. In der frühen Sammlung be-schäftigt sich der nur sechs Zettelumfassende Abschnitt 22,4 unterdem Titel „ Ausnahmesituationen –insbes. Katastrophen (disaster)“ imKontext sinntheoretischer Überlegun-gen mit der Frage nach der Bedeu-tung von „Führung imEntscheidungsprozess“ mit dem The-ma: Ein Bedürfnis nach Führung imSinne einer „raschen Kommunikati-on fester Erwartungen“ ergebe sichinsbesondere in Ausnahmesituatio-nen, wofür die Katastrophe paradig-matisch steht:

[Zettel 22,4a / nl-zkI-2-22,4a]„Die Katastrophe wird nicht alsbeziehungsloses Ereignis, als iso-lierter Einbruch in die sonst ge-ordnete Welt hingenommen,

sondern sie wird mit dem Norma-litätshintergrund verbunden. Dasgeschieht insb. durch Erklärun-gen, Zurechnung zu bestimmtenUrsachen, evtl. Feststellung desSchuldigen.[…]Die Einheit der Welt aufrechtzuer-halten, ist offenbar ein zwingen-des Bedürfnis; sie duldet keinegänzlich aus dem Rahmen fallen-den Ausnahmen.Völlig isolierte Ausnahmen wärenim Übrigen gar nicht sinnhaftidentifizierbar, da alle Identifikati-on durch den Horizont typischerOrdnung bedingt ist. […]“

Wie schon beim Krisenverständnisdominiert dann auch hier wieder ei-ne Perspektive, die Ordnung in denVordergrund stellt, das Modell abernicht weiter ausarbeitet:

[Zettel 22,4c / nl-zkI-22,4c]„Bezeichnend für die Ausnahme-situation insb. der Katastrophe istdie Verletzung, der am normalenorientierten Erwartungen […], da-durch verursacht ein Schreckenund das anschliessende Bedürf-nis, die entsprechenden Erwar-tungen nachzuholen, dieSituation nachträglich zu ord-nen.“

Die zu „Katastrophe“ im Schlag-wortregister der zweiten Sammlunggenannte Systemstelle knüpft andiese vorläufigen Überlegungen inder ersten Sammlung nicht an. Manfindet die wenigen Zettel unter derNummer 7/94 in der Abteilung 7, dieim Unterschied zu den übrigen zehnGroßabteilungen der zweiten Samm-lung Luhmanns nicht einem größe-ren thematischen Zusammenhanggewidmet ist (wie etwa Funktion oderErwartung), der dann innerhalb die-ses Blockes eine umfangreiche unddiversifizierende, teilweise vom ur-sprünglichen Thema weit wegführen-de Ausarbeitung erfährt (s.sozusagen SoSe 2012). Vielmehrstellt dieser Block eher so etwas wieeine Restetruhe dar, in denen sicheine Ansammlung von über 100 di-versen Themen befindet (so stehtder Abschnitt zu „Katastrophe“ zwi-schen „Unbewußtes“ und „Feminis-

mus“), die häufig nur mit wenigenNotizen bedacht werden und die inauffälliger Weise kaum mit der übri-gen Zettelsammlung durch Verweiseverbunden sind. Dies gilt auch für dieZettel zum Katastrophenbegriff. Eshandelt sich um eine kleine Abtei-lung mit nur sieben Zetteln. Letztlichbietet die Abteilung nicht mehr alseine erste Begriffsannäherung:

[Zettel 7/94 / nl-zkII-15-7_94]„KatastropheDer Begriff muss von den Prä-missen der mathematischenTheorie abgelöst, er kann jeden-falls unabhängig von ihnen for-muliert werden.Zusammenhang mit dem Begriffder Entropie.Katastrophe ist eine Alternative,ein anderer schnellerer Weg zurEntropie.Katastrophe: eine zu schnelleHerstellung von Gleichheit“

Diese vom üblichen Begriffsver-ständnis differierende und insofernluhmanntypisch abstraktere Be-griffsfassung wird aber nicht weiter-verfolgt, sondern nur noch durch dieAndeutung einer gesellschaftstheo-retischen Interpretation ergänzt, dieletztlich zum o.g. Krisenverständniszurückführt: „Evolutionäre Verände-rungen des Differenzierungsprinzipsals Katastrophen“ (7/94b), eine Les-art, die allerdings wieder zum ma-thematischen Verständnis vonKatastrophe als sprunghafter Sys-temveränderung zurückzuführenscheint und die man in gleicher Kür-ze dann auch in „Die Gesellschaftder Gesellschaft“ (1997, 655, 677)wiederfindet. In der entsprechendenAbteilung zur Evolutionstheorie in derzweiten Sammlung, die immerhin andie tausend Zettel umfasst, wird –soweit man das beim jetzigen Standder Exploration des Kastens sagenkann – der Begriff aber nicht wiederaufgegriffen. Zwar gibt es einen Ver-weis auf die Zettel zu den Evolutions-mechanismen Variation, Selektionund Stabilisierung, als einen eigenenVariationsmechanismus im Sinne ei-

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nes Erzeugungsmechanismus einesÜberschusses von Möglichkeiten ver-steht Luhmann die Katastrophe abernicht – vermutlich, da sein Interesseprimär auf systematische Variations-formen gerichtet war, d.h. auf dieFrage, wie ein System systematischAbweichungen organisiert (klassisch:Sprache als Variationsmechanis-mus). Katastrophe ist dagegen einsinguläres Ereignis, das nicht vorher-sehbar ist und insofern als eine Va-riation keine Folgen für das Systemhat, d.h. nicht selektiert und stabili-siert wird, auch wenn natürlich imEvolutionsmodell der Faktor Zufallzentral ist: „Die Evolutionstheorieinsgesamt kann beschrieben werdenals eine Theorie, die erklärt, wie „Zu-fall“ zu strukturellen Änderungenführt, bzw. zur Erklärung oder zurHerbeiführung struktureller Änderun-gen benutzt werden kann.“(54/14k4e4) Entsprechend führtauch eine Suche in den thematischeventuell einschlägigen Bereichender Abteilung „21/3d5b11w19 funk-tionale Differenzierung“, die sich mitder Änderung der Differenzierungs-form oder den Folgeproblemen funk-tionaler Differenzierung beschäftigt,zu keinem anderen Ergebnis.

In der o.g. Abteilung 7/94 zum Ka-tastrophenbegriff gibt es dann nocheinen kurzen Verweis auf einen „an-deren Katastrophenbegriff“ im Zu-sammenhang mit Risikokalkulation,der in der dortigen, recht umfangrei-chen Abteilung zum Risikobegriff(21/3d18c60o9), die größtenteils imRahmen der Vorbereitungen zur „So-ziologie des Risikos“ Ende der1980er Jahre erstellt worden ist,aber ebenfalls völlig isoliert steht:

[Zettel 21/3d18c60o26 / nl-zkII-2-21_3d18c60o26]

„Katastrophe – als Begriff für dieSchwelle, von der man eine Risi-kokalkulation mit quantitativ-ver-gleichenden Methoden ablehnt– was nicht als irrational bezeich-net werden kann.Vielmehr ein klassischer Fall vonsafety first“

Mehr hatte Luhmann dazu in die-sem Kontext nicht zu notieren.

Die geschilderten Befunde schei-nen es nahe zu legen, den schon ge-genüber der ParsonsianischenTheorie immer wieder geäußertenVerdacht des Strukturkonservatis-mus auch für die Luhmannsche Fas-sung der Systemtheorie geltend zumachen, die dysfunktionale Entwick-lungen, wie sie Krisen und Katastro-phen im ersten Zugriff darzustellenscheinen, nicht systematisch zu be-rücksichtigen in der Lage ist. Dassdie Fehlanzeige dagegen nur ein In-dikator für ein nicht wirklich gut ge-führtes Schlagwortregister sowie einnicht konsequent durchgeführtesVerweisungssystem sein könnte,dem Luhmann in der Selbstbeschrei-bung seines Zettelkastens (1981)doch eine ganz wesentliche Bedeu-tung zugewiesen hat, um thematischeinschlägige Zettel auch dann findenzu können, wenn sie im Schlagwort-register nicht genannt werden, er-scheint angesichts der Tatsache,dass die Begriffe auch in den Luh-mannschen Publikationen allenfallsein randständiges Interesse erfahrenhaben, wenig plausibel. Eine alterna-tive Einschätzung könnte deshalb zudem Schluss kommen, dass Luh-mann den Begriffen einfach keingroßes theoretisches Entwicklungs-potential zugetraut hat. Dies gilt aufjeden Fall für den Krisenbegriff, überden man u.a. in „Die Gesellschaftder Gesellschaft“ (1997, 1116f) le-sen kann, dass er zu nahe an der

Beschreibung der Gesellschaft alseiner guten Gesellschaft gebaut sei,als dass er in einer Theorie Verwen-dung finden könnte, die sich der Re-lativität ihres eigenenBeobachterstandpunkts bewusst ist.Das Interesse für den Katastrophen-begriff kam offensichtlich zu spät,als dass er systematisch Eingang inden Zettelkasten hätte finden kön-nen, sodass es bei einer einfachenÜbernahme der üblichen risikosozio-logischen Verwendung geblieben ist,obwohl Luhmanns zeit- und ent-scheidungstheoretische Perspektiveauf einen konstruktivistisch verstan-denen Begriff mit der zentralen The-se einer Risiko/Gefahr-Dualität hiergenügend Ansatzmöglichkeiten ge-boten hätte.

Am Ende steht also der Befund:Bei Krisen und Katastrophen erweistsich der Zettelkasten als ein ehereinsilbiger Gesprächspartner.

Literatur:Luhmann, Niklas (1981): Kommunikation mitZettelkästen. Ein Erfahrungsbericht, in:Horst Baier/Hans Matthias Kepplinger/KurtReumann (Hg.), Öffentliche Meinung undsozialer Wandel. Für Elisabeth Noelle-Neumann. Wiesbaden: Westdt. Verlag, 222-228.Luhmann, Niklas (1991): Soziologie des Ri-sikos. Berlin/New York: de GruyterLuhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaftder Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

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Vom 01. bis 05. Oktober 2012tagte der alle zwei Jahre stattfin-

dende Kongress der Deutschen Ge-sellschaft für Soziologie (DGS)1,diesmal an der Ruhr-Universität Bo-chum und der TU Dortmund. Derauch als Soziologentag firmierendeKongress bietet Soziolog*innen dieMöglichkeit, aktuelle Forschung zupräsentieren, Ideen auszutesten,Feedback zu erhalten, sich im Feldzu positionieren und zu netzwerken.Aber auch die Geschichte der Sozio-logie erfährt durch das zeitlich undräumlich verdichtete Zusammentref-fen häufig fachgeschichtliche Schü-be. Es stellt einen Raum dar, in demsich die Geister nicht nur treffen,sondern auch scheiden – man denkeetwa an den Positivismusstreit zwi-schen der kritischen Theorie unddem kritischen Rationalismus in den1960er Jahren. Die Aufgeregtheit,die DGS-Kongresse mithin ereilenkann, hat durchaus Tradition. Diegroße Dichte an kollegialem Publi-kum trägt häufiger zu disziplinhisto-risch bedeutsamen Zäsuren oderNeuerungen bei.

Diesmal fand der Kongress unterdem Thema „Vielfalt und Zusammen-halt“ statt, was uns dazu veranlassthat, nicht nur einen allgemeinenBlick auf den Kongress zu werfen,sondern auch auf Zusammenhaltund Vielfalt in unseren eigenen Rei-hen zu achten. Außerdem stellt sichdie Frage, wie auch Studierende vonder Vielfalt und dem Zusammenhaltauf einem Soziologentag profitierenkönnen.

In einem neueren sozusagen-Bei-trag schrieb Thomas Hoebel sinnge-mäß die Themen für potentielleHausarbeiten lägen quasi auf derStraße. Nicht dort, aber etwa in derTram vom Bochumer Hauptbahnhofzur Universität hätte man ganz leichtein paar Themen finden können, et-

wa: „Soziologische Selbstbeschrei-bung. Eine Bahnfahrt unterSoziolog*innen“ oder im Foyer desAudimax der Ruhr-Universität: „EineSoziologie des Caterings. Sozio-log*innen als free-raidendeMundräuber“. Wir überspitzen Ho-ebels Beitrag hier ein wenig, abertatsächlich gewinnt man auf diesenNebenschauplätzen des Kongressesmanchmal soziologisch wertvollereEinsichten als bei so manchem Vor-trag und lernt die eigene Zunft voneiner ganz anderen, vielleicht auchschrulligeren, Seite kennen als imVorlesungssaal. Neben einem Sam-melsurium an Vorträgen und Podi-umsdiskussionen bot der Kongresszudem eine fantastische Informati-onsbörse für viele Studierende: hierkonnte man sich über andere Unis,andere Fachbereiche, zukünftige Ar-beitgeber*innen oder auch potentiel-le Doktormütter oder -väterunterrichten. Auf dem Kongress kön-nen darüber hinaus ein soziologi-scher Habitus eingeübt, ersteNetzwerke gesponnen und vielleichtsogar mit eigenen Vorträgen in Nach-wuchsforen debütiert werden.

Als organisatorisch problematischstellte sich dann leider die großeVielfalt an parallel stattfindendenVeranstaltungen heraus, von denenman gerne mehrere gleichzeitig be-sucht hätte. Obwohl nur eine Aus-wahl an Forschungsgebieten derSoziologie präsent war, konnte mansich ohne zugespitzte Präferenzset-zung auf dem riesigen Campusgelän-de schon sehr freshmeneskvorkommen. Wenigstens dauerte eseine Weile, bis wir uns in den mons-trösen Gebäudekomplexen zurecht-fanden. Orientieren konnte man sichan Veranstaltungen der Kommili-ton*innen bzw. Kolleg*innen, an deneigenen Forschungsinteressen oderman ließ einfach den Zufall entschei-den. Von den Veranstalter*innen

herausstechend platziert und des-halb viel gesehen waren Keynote-Speaker, die zumindest etwas inter-nationales Flair auf den Kongressbrachten.

Bedauerlich ist, dass einige Vortra-gende wie Hartmut Rosa, aber auchRichard Sennett, Thomas Schwinn,Theresa Wobbe und andere demKongress fern blieben. Gerade nachdem Schlagabtausch zwischen Rosaund Armin Nassehi in der Wochen-zeitung DIE ZEIT haben nicht wenigemit besonderer Spannung auf Be-gegnungen dieser Art gewartet. Ent-sprechend häufig waren dann auchdie Kommentare zu den großenMöglichkeiten und Gefahren eineröffentlichen Soziologie zu hören.Feuilletonistisches Engagement inLeitmedien kennt das Fach vor allemaus vergangenen Zeiten: Etwa dieschillernde Luhmann-Habermas-De-batte der 1970er Jahre oder AdornosRadiobeiträge. Nachdem Sozio-log*innen in den 1980er Jahren wei-testgehend aus der öffentlichenWahrnehmung verschwanden, lieb-äugelt die aktuelle Generation nunwieder verstärkt mit den Massenme-dien. Ohne Frage besitzen diese öf-fentlichen Auseinandersetzungeneinen großen Unterhaltungswert undnötigen Autor*innen, ihre Beiträgeprägnant und verständlich zu prä-sentieren. Das Stelldichein mit denMassenmedien trägt ferner zur Le-genden- und Institutionenbildung so-wie dem allgemeinengesellschaftlichen Interesse an un-serer Disziplin bei. Jedoch wird dieSoziologie heute als eine themenplu-ralistische und multiparadigmatischeWissenschaft von ihren Vertreter*in-nen wahrgenommen – gerade hierinliegt ihre besondere Qualität und ihrMotor für Innovationen und manch-mal auch temporärer gegenseitigerBlockierung. Renate Mayntz etwawarnte vor der simplifizierenden und

36. KONGRESS DERDEUTSCHEN GESELLSCHAFT

FÜR SOZIOLOGIEEin Kongressbericht

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polarisierenden Funktionslogik derMassenmedien, die den elaboriertenAuseinandersetzungen innerhalb derWissenschaft nicht ausreichend ge-recht werden kann und unterstrichdamit die große Ambivalenz dieserprofessionspolitischen Entwicklung,die u.U. auch der Vielfalt der Soziolo-gie abträglich sein könnte. Geradeunter dem Sparzwang der Universitä-ten, dem Nutzlosigkeitsvorwurf andie Soziologie und dem Druck bzw.Drang von Nachwuchswissenschaft-ler*innen, sich zum Zweck der Pro-fessurbesteigung zu profilieren,scheint es attraktiv, sich öffentlich-keitswirksam zu platzieren. Zurück-gelassen wird man mit der Frage, obman den genannten Nachteilendurch eine reflektierte öffentlicheSoziologie – auch in Zeiten des Inter-nets – tatsächlich entgehen kann.

Als ein Highlight des Kongressesstellte sich die z.T. an den Soziolo-gentag in Jena anschließende Veran-staltung zur Verbindung vonUngleichheit, Differenzierung undKulturtheorie dar. Wohl kaum einPlenum des Kongresses war so gutbesucht wie der triadische Zusam-menschluss der Sektionen Wissens-soziologie, Soziologische Theorie undKulturtheorie. Ein beständiger Ein-und Ausfluss von Publikumsströmendrängelte sich nach jedem Vortragerneut aus dem und in den Saal. Da-bei wurde ein spannendes Angebotan Erklärungsansätzen geliefert, diedie drei Gebiete miteinander zu ver-binden versuchten – aus Bielefeldwar hier Anna Amelina vertreten. Eswird sich zeigen, ob und wie das

große Interesse in weitere Theoriean-gebote und entsprechende Studienübersetzt wird. Uns scheint jeden-falls, dass sich das Feld an konkur-rierenden Ansätzen erst noch weitersortieren bzw. klare Positionierungensich noch stärker herauskristallisie-ren müssen.

Die schönsten Momente erlebteman aber vielleicht an Orten, an de-nen man sie gar nicht gesucht hätte.Dass an Einführungs- und Abschluss-veranstaltungen nur ein kleinerBruchteil der Teilnehmer*innen er-scheint, ist nichts Außergewöhnli-ches. Dabei werden gerade dort dieritualisierten Zugehörigkeitsgefühleerzeugt, die die Disziplin am sicht-barsten zusammenhalten: In der An-sprache als Gruppe durchVertreter*innen aus der Politik, imGedenken an kürzlich verstorbeneSoziolog*innen, usw. Die Mitglieder-versammlung der DGS war hingegengut besucht. Hier konnten sich Stu-dierende unabhängig vom Status zuprominenten Soziolog*innen gesel-len, mit denen man sich vielleicht ge-rade in der Pause zuvor noch eineZigarette geteilt hatte. Gemeinsamapplaudierte man der Vergabe vonDGS-Preisen, die sehr auffällig angender-relevanten Themen ausge-richtet war. Fast rührend wirkte danndas empörte Raunen auf den Zu-schauerrängen, ausgelöst durch dieZahl der Professurverluste und -zuge-winne in Relation zu „unseren Lieb-lingsfeinden“ (Andrea Maurer2):Während die Soziologie im letztenJahr 47 Professuren verlor, gewan-nen die Wirtschaftswissenschaften

400 neue dazu. Identitäten formensich jedoch nicht nur über Skandali-sierung und Abgrenzung von anderenDisziplinen, sondern auch durch dieDiskussion um ordnungsherstellendeEmpfehlungen an die Disziplinvertre-ter*innen. Integrativ wirkte da dieBesprechung professionsstrategi-scher und konfliktbehafteter Themenwie dem verhältnismäßig geringenFrauenanteil in der DGS und demVorstand, die Förderung öffentlicherSoziologie durch die DGS, aber auchdie nachdrückliche Ermunterungdurch die Vorsitzende Martina Löw,Fördergelder zu beantragen, die füreine Weiterentwicklung Soziologi-scher Theorie notwendig sind. Es wä-re freilich vermessen, an dieserStelle über die Vielfalt und den Zu-sammenhalt der Soziologie insge-samt ein Urteil zu fällen. Aber wirmochten uns dem Soziologie-grou-pism gerne gefällig fügen, bei so vielStatusindifferenz und Kritikfähigkeiteiner Disziplin, die sich nicht in un-endlicher Selbstbeweihräucherungsuhlt, aber sich auch nicht geradeselbst zerfleischt – zumindest beider Mitgliederversammlung am Mitt-wochabend im Raum HZO 50 derRuhr-Uni.3Anja Jahnel und Jana Schäfer

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[1] Die DGS versammelt einen Großteil allerakademisch tätigen Soziolog*innen unter ih-rem Dach.[2] Zitat aus einem separaten Vortrag.[3] Wir bedanken uns ganz herzlich bei dersozusagen-Redaktion für die hilfreichen Kom-mentare.

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DGS-Kongress 2012: Das diesjährige Thema lautete Vielfalt und Zusammenhalt

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Die Redaktion der sozusagen hatin einer Umfrage die Lehrendender Fakultät dazu befragt, inwie-fern Krisen und Katastrophen inihren Forschungsprojekten anzu-treffen sind. Hierbei ging es we-niger darum, die alltäglichenKrisen des Forschungsalltageszu ermitteln, als vielmehr einenEinblick darin zu erhalten, in wel-cher Form das Thema unseresHeftes in der aktuellen For-schung unserer Fakultät vertre-ten ist. In den spannendenZusendungen, die wir euch hierpräsentieren, spiegelt sich so-wohl die Aktualität als auch dieVielfältigkeit beider Themen wi-der.

So findet sich in der Religionsfor-schung des CIRRuS (Center for Inter-disciplinary Research on Religionand Society) in zwei von HeinrichSchäfer geleiteten religionssoziolo-gischen Forschungsprojekten dieAuseinandersetzung mit der Rollevon Religion in gesellschaftlichen

Krisenzeiten. Es handelt sich um ei-ne Feldforschung in Bosnien-Herze-gowina, in der die Rolle vonreligiösen Akteuren der abrahamiti-schen Religionen im Friedensprozessuntersucht wird. Hierbei wird folgen-der Forschungsfrage nachgegangen:„In welcher Wechselwirkung stehendie öffentliche Glaubwürdigkeit religi-öser Friedensstifter, ihre habituellenund biographischen Dispositionenund der religiöse Organisiertheits-grad ihrer Initiativen und Allianzen?“Im Fokus stehen religiöse Gruppen,die vor allem im interreligiösen Dia-log engagiert sind und die – unterBerücksichtigung ihres Grades derOrganisiertheit – sowohl auf ihreFremd- als auch auf ihre Selbstzu-schreibung hin untersucht werden.

Das zweite Projekt „Religiöse Iden-titätspolitiken der Pfingstbewegung“setzt sich mit der Pfingstbewegung inLateinamerika, speziell in Guatemalaund Nicaragua, auseinander. Diesechristliche Bewegung nimmt unterBedingungen wie starker sozialer Un-gleichheit, schwachen Regierungen,

Gewalt und Unsicherheit nicht nurreligiösen, sondern auch politischenEinfluss und spielt eine zentrale Rol-le bei der Transformation dieser bei-den Felder. Dabei sind unteranderem die Hervorhebung des„Heiligen Geistes“, apokalyptischeGlaubensinhalte, aber auch dastransnationale Netzwerk der Pfingst-bewegung, Faktoren, die diese Ent-wicklung unterstützen. In beidenLändern ist die Pfingstbewegung einwichtiger Faktor sozialen Wandelsund politischer Prozesse. Im Ver-gleich resultieren hieraus allerdingsunterschiedliche Entwicklungen.1

Dass auch die Finanzwelt einigeszur Thematik der Krise zu bieten hat,ist dem Zeitungsleser und „Fernseh-schaulustigen“ in den letzten Jahrensicher aufgefallen. Dass dement-sprechend auch eine soziologischeRezeption dieses Themenkomplexesnicht ausbleibt, scheint hier nur lo-gisch. So beschäftigt sich zum Bei-spiel Konstanze Senge mit den„kognitiven Krisen“ von Finanzmark-

WIRTSCHAFTSKRISE,KRISENKONSTRUKTION

ODER KRIEGAktuelle Forschungsprojekte zu Krisen und Katastrophen

an der Fakultät für Soziologie

Krise durch zunehmende Komplexität?: Konstanze Senge untersucht "kognitive Krisen" von Finanzmarktakteuren

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takteuren. Diese entstehen durch diezunehmende Komplexität der Fi-nanzmärkte, aufgrund derer eineevaluativ kognitive Entscheidungsfin-dung mitunter nicht möglich ist. Fi-nanzmarktakteure sehen sichhierdurch der Notwendigkeit ausge-setzt, Entscheidungen aufgrund an-derer Prämissen, wie zum Beispielauf der Basis von Gefühlen, zu fäl-len. Da dies nicht dem normativenSelbstverständnis der Finanzweltentspricht, erleben die Akteure der-artige Entscheidungssituationen alsKrisensituationen.

Doch gibt es überhaupt eine realeWirtschaftskrise oder hängt ihreExistenz von der Konstruktionsleis-tung deutungsmächtiger Akteure wieMedien und Wissenschaft ab? Kri-stoffer Klammer beschäftigt sichim Rahmen seines Promotionspro-jektes zwar nicht mit dieser, aber miteiner ganz ähnlichen Frage. Er unter-sucht Wirtschaftskrisen als diskursivhervorgebrachte Formen gesell-schaftlicher Selbstbeschreibung undfragt, wie, durch wen und mit wel-chen sprachlichen Mitteln diese kon-struiert werden. Sichtbar wird nebenden konstruierenden Mechanismendie Art und Weise, wie ein bestimm-tes Verständnis von Wirtschaftskrisezur Legitimation politischer Maßnah-men verwendet wird. Wenig überra-schend, mag der eine oder andere -die aktuellen Diskurse vor Augen -denken. Kristoffer Klammer aber un-tersucht die Konstruktion vergange-ner Krisen wie dieWeltwirtschaftskrise ab 1929, die„Wachstumsdelle“ 1966/67 und diekleine Weltwirtschaftskrise in den1970iger Jahren und entdeckt dabeiwiederkehrende „Krisen-Muster“.

Ob Sozialhilfe- und Rentensystemeeine Lösung oder doch eher ein Aus-löser von finanziellen Krisen sind, istdem jeweiligen Parteibuch des Le-sers überlassen. Dass diese Systemeaber nicht überall nach denselbenPrämissen funktionieren, ist Teil wei-terer interessanter Forschung. ImForschungsprojekt FLOOR (Financialassistance, land policy, and globalsocial rights) forscht Moritz vonGliszczynski aktuell zu diskursivenBegründungsmustern von „socialcash transfers“, einer Form von Sozi-alhilfe- und Rentensystemen im glo-balen Süden. Begründet wird derenNotwendigkeit durch eine zunehmen-de Anfälligkeit bzw. „vulnerability“,

also Verwundbarkeit gegenüber Kri-sen und Katastrophen als elementa-rer Bestandteil von Armut.Dementsprechend gelten sogenann-te „vulnerable groups“ als Zielgruppevon den Konzepten der Grundsiche-rung. Dies unterscheidet sich insbe-sondere von der klassischenBegründung für Sozialhilfe, welchesich auf „needs“, also Bedürfnissebezieht.2

Sicherheit ist natürlich nicht nur imglobalen Süden ein wichtiges Thema.Auch in unseren Breitengraden stelltsich immer öfter die Frage, was dennnun eigentlich sicherheitsrelevantsei. Dem widmet sich Andreas Vasi-lache in seiner Forschung zu Sicher-heitstheorie und -politik. Ein Aspektbesteht hierbei in Tendenzen zurAusweitung der Sicherheitspolitik inTheorie und Praxis. Ein Beispiel bil-det das Konzept der „Human Securi-ty“, das auf das Individuum abzieltund den Bereich der Sicherheitspoli-tik, entgegen ihrer klassischen Sach-und Themenbereiche, deutlich erwei-tert. Es lässt sich dabei eine gegen-ständliche, sektorielle und territorialeEntgrenzung der Sicherheitspolitikfeststellen. Solche Versicherheitli-chungstendenzen bergen Risiken,die sich vor allem in der Normalisie-rung von Krisen – alles kann plötz-lich eine Frage der Sicherheit sein –aber auch in der Herausbildungrechtlich prekärer Räume zeigen, indenen rechtliche und gesellschaftli-che Normen brüchig oder gar abge-schafft werden.3

Selbstverständlich gibt es an unse-rer Fakultät auch Forschung zu derwohl prominentesten Form der ge-sellschaftlichen Krise: dem Krieg.Was geschieht eigentlich mit einerGesellschaft, die sich im Kriegszu-stand befindet? Volker Kruse be-schäftigt sich in seinen Forschungenmit kriegsbedingten Vergesellschaf-tungsprozessen wie etwa jenen, diedurch die zwei Weltkriege in der ers-ten Hälfte des zwanzigsten Jahrhun-derts induziert wurden. Dabeiverfolgt er die These, dass großeKriege oder ihre Antizipation gesell-schaftliche Transformationen auslö-sen, deren Ergebnis dieKriegsgesellschaft ist. Diese kannbeispielsweise durch eine hierarchi-sche Struktur, zentrale Steuerungund eine despotische Spitze geprägtsein. Die Kriegsgesellschaft ist dannanalytisch ein Gesellschaftstypus,

vergleichbar mit dem Kapitalismusbei Marx oder mit der funktionalenDifferenzierung bei Luhmann. Mitder theoretischen Ausarbeitung die-ses Gesellschaftstypus verfolgt Vol-ker Kruse das Ziel, für verschiedeneEinzelforschungen zu gesellschaftli-chen Entwicklungen unter Kriegsbe-dingungen einen gemeinsamentheoretischen und idealtypischenBezugsrahmen bereitzustellen.

Einen etwas anderen Ansatz zurAnalyse von Gesellschaft und Kriegverfolgt Barbara Kuchler. Sie be-handelte in ihrer Dissertation dieFrage nach der Rolle von Krieg inverschiedenen Gesellschaftsstruktu-ren. Genauer werden die Gesell-schaftsstrukturen nach ihrenDifferenzierungsformen (segmentär,stratifikatorisch oder funktional dif-ferenziert) unterschieden, um zu un-tersuchen, in welchen Teilen derGesellschaft (Schichten und Funkti-onssysteme) Krieg aktiv betriebenwird und welche Konsequenzen dar-aus für die passiven Schichten oderTeilsysteme entstehen. Als einSchutzmechanismus kann die "Gen-fer Konvention zum Schutz von Zivi-listen in Kriegszeiten" interpretiertwerden. Sie hat die Aufgabe, die„passiven“ Gesellschaftsteile nachMöglichkeit vor den Auswirkungendes Krieges zu schützen.

Dass Kriege und Konflikte einemassive Störung für eine Gesell-schaft darstellen, ist nachvollziehbar.Wie mit diesen und anderen Störun-gen aber umgegangen wird, steht aufeinem anderen Blatt bzw. in der balderscheinenden Habilitation von Hen-drik Vollmer. In dieser untersucht erdie Entstehung, Weitergabe und Fol-gen von Störungen. Er fragt danach,wie in Situationen, Organisationenoder am Beispiel von Kriegen in grö-ßeren sozialen Zusammenhängen,Störungen verarbeitet werden undwelche Folgen wiederum daraus re-sultieren. Durch Thematisierung undKategorisierung als Unfälle, Anschlä-ge oder Naturkatastrophen werdenStörungen normalisiert. Durch dieStörungserfahrung entwickeln sichaber auch bei Teilnehmern Aufmerk-samkeiten, Erwartungen und Verhal-tensstrategien, die nicht ohneweiteres anschlussfähig an die Nor-malisierung sind. Ein Beispiel sindheimkehrende Soldaten, die sich inihrer alten Umgebung nicht mehr zu-rechtfinden. Insgesamt entwickelt er

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die These, dass sich eine Tendenzzur Verlagerung von Aufmerksamkei-ten von universalistischen, normati-ven und kognitiven Orientierungenauf Positionen, Status und Zugehö-rigkeiten anderer Teilnehmer zeigt.Dieser Effekt trägt zum Erhalt sozia-ler Ordnung bei, wenn auch in verän-derter Form. Auf gesellschaftlicherEbene führt dies etwa zur Zentrali-sierung von Netzwerken nach gewalt-tätigen Konflikten. Ein Effekt, dersich beispielsweise in der Entste-hung von Nationalstaaten zeigt.4

Doch es müssen nicht immer dieglobalen Krisen oder gesamtgesell-schaftlichen Umbrüche sein, wennes gilt, spannende Fragestellungenzu Krisen und Katastrophen in derBielefelder Forschung zu finden.Tomke König hat sich in ihrer Habi-litationsschrift beispielsweise mit ei-ner ganz alltäglichen (und damitvermutlich auf den ersten Blick un-scheinbareren) Krise auseinanderge-setzt. Sie untersuchte diegeschlechtliche Arbeitsteilung in Fa-milien und kommt in ihrer Studie„Familie heißt Arbeit teilen. Transfor-mationen der symbolischen Ge-schlechterordnung“ zu dem Schluss,dass es gegenwärtig eine Krise derReproduktionsarbeit gibt. Diese Krisezeichnet sich dadurch aus, dassnicht mehr klar ist, wer sich wann,wie und mit wessen Hilfe von allenFormen der Arbeit erholen soll. Vorallem in familialen Konstellationen,in denen Frauen nicht mehr bereitsind, die Haus- und Fürsorgearbeitalleine zu erledigen und deshalbauch die Männer doppelt belastetsind, ist eine zentrale Funktion derHausarbeit nicht mehr gewährleistet:die Wiederherstellung der Arbeits-kraft.5

Arbeit und deren Tücken ist auchBestandteil der Forschung vonBastian Bredenkötter und KarlMusiol. Sie haben in einem Lehrfor-schungsprojekt vor dem Hintergrundsteigender Risiken einer zunehmendentgrenzten und unsicher werden-den Arbeitswelt die ambivalenteFunktionsweise eines Vertriebsmo-dells in der Versicherungs- brancheuntersucht. Sie wurde unter dem Ti-tel „‚Schalten Sie um auf Erfolg!‘ -Paradoxe Versprechen von Arbeitund Anerkennung im Versicherungs-Strukturvertrieb“ als Buch veröffent-licht. Das untersuchte Geschäftsmo-dell verspricht einen sicheren Weg zu

finanziellem Reichtum, persönlicherSelbst- verwirklichung und Anerken-nung. Tatsächlich handelt es sich beiden Versprechen jedoch vor allemum Mythen. Schon rechnerisch erzie-len nur wenige Mitglieder ein ausrei-chend hohes Einkommen. Mancheverschulden sich sogar. Darüber hin-aus kommt es oft auch zu persönli-chen Krisen, wie beispielsweise zurBeeinträchtigung persönlicher Bezie-hungen. Die Vertriebsorganisationlöst also neue Krisen aus, die sie ei-gentlich zu lösen verspricht.6

Auswirkungen von persönlichenKrisen, wenn auch etwas andererArt, sind der Forschungsgegenstandvon Ulrike E. Schröder. Sie analy-siert in ihrer gerade erschienen Ar-beit "Veränderung von Deutungs-mustern und Schemata der Erfah-rung: Depressive Patienten in der In-teraktion klinischer Psychotherapie"Gespräche mit Patienten in einer Kri-se, die diese zum Teil selbst als zeit-weise katastrophal beschreiben. Inder Therapie lernen die Patientenneue Fähigkeiten, mit denen sie ihreProbleme angehen und die Krise be-wältigen können. Die Autorin gehtdavon aus, dass sich soziale Deu-tungsmuster wandeln, wenn sichDenkschemata und damit das Ver-halten vieler einzelner Individuenneu formieren. Da therapeutischePraktiken auf Veränderung zielen,wird die Therapie zu einer Art "natür-lichem Labor" für die Untersuchung.Die Studie gibt einen Einblick in dieWissenskultur der Psychiatrie unduntersucht mittels Ethnomethodolo-gie und Konversationsanalyse sowieeinigen linguistischen Mitteln, unterwelchen Bedingungen Deutungs-

schemata und Verhaltensweisen mo-difiziert werden können.7Sophia Cramer &Finn-Rasmus Bull

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[1] Für weitere Informationen siehe zum erst-genannten Projekt: http://www.uni-biele-feld.de/theologie/forschung/religionsforschung/forschung/schaefer/konflikt/projek-t_ethos.htmlund zum zweiten: http://www.uni-biele-feld.de/theologie/forschung/religionsfor-schung/forschung/schaefer/pfingstbewegung/identitaet_guatemala.html.[2] Für weitere Informationen siehehttp://www.floorgroup.raumplanung.tu-dort-mund.de/joomla/index.php/research-to-pics/sct.[3] Vasilache, Andreas 2011: Human Securiti-zation: State Theory, Governmentality, and theAmbivalence of Security in Europe. In: Schuck,Christoph (Hrsg.): Security in a Changing Glo-bal Environment: Challenging the Human Se-curity Approach. Baden-Baden: Nomos,S.123-152.[4] Die Habilitation wird voraussichtlich imApril 2013 erscheinen: Vollmer, Hendrik (i.E.):The Sociology of Disruption, Disaster and So-cial Change: Punctuated Cooperation. Cam-bridge University Press.[5] König, Tomke 2012: Familie heißt Arbeitteilen: Transformationen der symbolischenGeschlechterordnung. Konstanz: UVK.[6] Bredenkötter, Bastian/Musiol, Karl 2012."Schalten Sie um auf Erfolg!": Paradoxe Ver-sprechen von Arbeit und Anerkennung im Ver-sicherungs-Strukturvertrieb. Berlin: EditionSigma.[7] Schröder, Ulrike 2012: Veränderung vonDeutungsmustern und Schemata der Erfah-rung: Depressive Patienten in der Interaktionklinischer Psychotherapie. Wiesbaden: VSVerlag.

Krise der Reproduktionsarbeit: "Familie heißt Arbeit teilen."

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sozusagen: Herr Lorenz, was sinddie zentralen Leistungen der Kata-strophenforschungsstelle?

Daniel Lorenz: Zunächst kann mansagen, dass die KFS in der Katastro-phenforschung wichtige sozialwis-senschaftliche Impulse gesetzt hat.Man muss dazu vielleicht ein biss-chen ausholen: Wenn man sich über-legt, was Katastrophenforschungüber Jahre hinweg in Deutschlandwar, fand diese v.a. in den Fahrwas-sern vom Zivilschutz und Zivilschutz-forschung statt. Das war oft einesehr technische Angelegenheit, dahat man Bunker und ähnliches zumSchutz der Bevölkerung im Verteidi-gungsfall gebaut und nebenbei auchVorsorge für den Katastrophenfallgetroffen. Man hat sich aber langeZeit nicht die Frage gestellt, was fürdie Gesellschaft Katastrophe bedeu-tet. Die Frage nach dem wirklichenVerhalten von Menschen währendKatastrophen wurde lange nicht ge-stellt. Die sozialwissenschaftlicheKatastrophenforschung hat dieseForschungsfragen im deutschenRaum aufgebracht und hat hier auchbahnbrechende Forschung geleistet.Damit hat sie Deutschland auch iminternationalen Diskurs anschlussfä-hig gemacht. Die Amerikaner warenda eigentlich immer weiter, da gab esschon andere Forschungsstellen, diesozialwissenschaftliche Katastro-

phenforschung schon länger betrie-ben haben.

Welche Definition von Katastrophewird von der KFS ins Feld geführt?Gibt es eine allgemeine Definitionoder gibt es verschiedene Definitio-nen je nach Art von Katastrophen?

Daniel Lorenz: Das ist eine schwie-rige Frage. In der Forschungsland-schaft gibt es verschiedeneDefinitionen. Lars Clausen [Professorfür Soziologie in Kiel, Gründer derKFS, lehrte auch in Bielefeld; Anm. d.R.], der auch Gründungsvater der Ka-tastrophenforschungsstelle war, hatmal – ganz soziologisch – Katastro-phe als radikalen, rapiden und magi-sierten sozialen Wandelbeschrieben. Als eine besondereForm des sozialen Wandels, der be-sonders tiefgreifend und besondersschnell stattfindet und auch be-stimmte Erklärungsmodi und Kausa-litätsvorstellungen infrage stellt. Dasist eine Definition, die in der Kata-strophenforschung wichtig ist. Es ist

weniger eine enge Definition, mit derman empirisch arbeiten kann, son-dern eine, die eher darauf abzielt,ein umfassendes Verständnis vonKatastrophe zu entwickeln. NämlichKatastrophe als radikalen Einschnittin die gesellschaftliche Alltäglichkeit,die aber trotzdem in gesellschaftli-chen Prozessen ihren Ursprung hatund etwas, was dementsprechendeine ganz andere gesellschaftlicheReorganisationen notwendig macht,wenn sich Gesellschaften in denGrundfesten ändern.

Es geht also weniger um ein alltäg-liches Katastrophenverständnis,sondern um allgemeinere Prozesse?

Genau. Katastrophen lassen sichnur verstehen, wenn man die gesell-schaftliche Praxis betrachtet. Eskommt darauf an, wie sehr sich soetwas in den Alltag integriert, wennes beispielsweise periodische Hoch-wasser gibt und die Leute sich daranangepasst haben, wird es irgend-wann schwierig, von Katastrophe zusprechen, weil der Einschnitt ins Le-ben der Menschen nicht mehr sostark ist. Gleichwohl wird über solcheEreignisse häufig medial als Kata-strophe berichtet. Dann stellt sichdie Frage: Wie ist das für die Betrof-fenen selbst? Ist das aus deren War-te eine Katastrophe? Andersherumgibt es aber auch den Fall, dass be-

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"WENN MAN ÜBER KATASTROPHENNACHDENKT, DANN SIND DAS

IMMER SOZIALE KATASTROPHEN."Ein Interview mit Daniel F. Lorenz

von der Katastrophenforschungsstelle an der FU Berlin

Beim Thema Katastrophen liegt der Gedanke an Feuerwehr und THW nicht fern. Aber auch in denSozialwissenschaften hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Diskussion um die Wahrnehmung und denUmgang mit Katastrophen entwickelt. Dieser Diskurs unterscheidet sich stark von den sehr technischenund verwaltungsnahen Katastrophenbegriffen und –verständnissen. In Deutschland führend ist hierbeidie Katastrophenforschungsstelle an der FU Berlin (KFS). Ihr Anspruch besteht darin, den gesamten„Katastrophenzyklus“, also die Entstehungs-, Verlaufs- und Bewältigungsbedingungen von Katastrophen,zu untersuchen. Dabei ist der Blick aber nicht nur auf den deutschen Raum gerichtet, auch dieWahrnehmung von und das Verhalten bei Katastrophen sowie die Gefahrenabwehr in anderen Kulturenwerden erforscht. Die Katastrophenforschung erweist sich als gutes Beispiel dafür, dass elaboriertesoziologische Theorien und deren Einsatz in der Praxis sich nicht widersprechen.

Die sozusagen hatte die Gelegenheit, mit Daniel F. Lorenz von der KFS über Katastrophensoziologie,spannende Forschungsprojekte und die vielfältigen Bezüge zu anderen Disziplinen zu sprechen.

»Wir glauben aber schon, dassSozialwissenschaftler in derKatastrophenforschung eine

ganz bedeutende Rollespielen.«

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stimmte Ereignisse eine Katastrophefür Menschen darstellen, sich abernicht in die mediale Narrative fügenund entsprechend nicht berichtetwerden. Beim Hurricane Sandy wur-de fast ausnahmslos über die USAund v.a. New York berichtet, die Aus-wirkungen in Haiti, das ohnehin dieletzten Jahre schwer getroffen wur-de, waren kaum Thema. Die jahrhun-dertelange Marginalisierung findethier ihre mediale Fortsetzung. Das,was also Katastrophe gesellschaft-lich bedeutet, ist nur im Rekurs aufallgemeinere Prozesse zu verstehen.

Katastrophendefinitionen vonSchutzbehörden sind demnach nichtrelevant für die Forschung?

Doch schon, aber weniger als lei-tende Definitionen, sondern mehr inder Form von gesellschaftlichen Me-chanismen, die dann greifen. InDeutschland ist das so: Wenn derHauptverwaltungsbeamte sagt, dielokalen Kräfte sind überfordert, wirbrauchen eine übergeordnete Struk-tur und Kräfte von außen, dann istdas verwaltungsrechtlich eine Kata-strophe und es gibt Katastrophen-alarm. Das ist eine sehr technischeund formale Anweisung. Für uns istdann interessant, welche Mechanis-men treten da ein und wie wird dieKatastrophe von der Behördenseitekonzeptualisiert und behandelt. Füruns als Forscher ist es wichtig, daauch anders drauf zu blicken und dieDifferenz zu anderen Definitionen zusehen. Wenn ein Beamter „Katastro-phe“ sagt, dann heißt das nochnicht, dass das eine Katastrophe fürden Betroffenen ist. Und umgekehrt:Was die Betroffenen als Katastropheerleben, muss für Behörden nochlange keine sein.

Würden Sie sagen, dass die For-schung, die Sie betreiben in letzterKonsequenz auch für Behörden rele-vant ist?

Wir machen schon eine recht pra-xisnahe Forschung. Es gibt andereBereiche, die sind deutlich praxisfer-ner. Wir arbeiten viel im Praxisbe-reich und versuchen auch Leute ausder Praxis in die Forschung – etwadurch Workshops – zu integrieren.Auf der anderen Seite wissen wiraber auch, dass die Übersetzung vonForschungsergebnissen in die Praxisimmer schwierig ist. Die Praxis hateine Eigenlogik, die nicht so schnell

von Forschungsseite geändert wer-den kann.

Ist es denn ein Anspruch den Sieverfolgen, dass ihre Erkenntnisse inder Praxis übernommen werden odergeht es primär um den wissenschaft-lichen Diskurs?

Es geht uns schon um den wissen-schaftlichen Diskurs und wissen-schaftliche Erkenntnisse. Abernatürlich hat unsere Arbeit auchpraktische Konsequenzen. Es kommtvor, dass aus einer informierten For-schungsperspektive auch Verände-rungsvorschläge entwickelt werden.So weist beispielsweise die For-schung schon länger darauf hin,dass Warnungen nur dann den ge-wünschten Effekt haben, wenn siean den konkreten Lebensrealitätender Betroffenen orientiert sind. Sosind für unterschiedliche Kontexte –vielleicht das Dorf in Bayern undNeukölln in Berlin – mitunter ganzandere Warnbotschaften erforder-lich. Das ist eine Erkenntnis, dieauch in der Praxis angekommen ist.So wird im BBK (Bundesamt für Be-völkerungsschutz und Katastrophen-hilfe) mittlerweile überpersonalisierte Warnungen nachge-dacht.

Bei unseren Recherchen sind wirnur auf die KFS in Berlin gestoßen,die institutionell verfasste Katastro-phenforschung betreibt. Die For-schungsstelle in Kiel wurde Anfangdes Jahres geschlossen. Gibt es au-ßer Ihrem Institut auch noch andereInstitute oder Lehrstühle, die zu die-sem Thema forschen?

In dieser sehr spezifisch sozialwis-senschaftlichen Richtung sind wir,glaube ich, schon einzigartig. Wir ha-ben den Hintergrund der Kieler KFS,deren Arbeit wir hier fortsetzen. Dortsind wir auch zum größten Teil sozia-lisiert worden.

... sie sind also die direkte Fortset-zung von der Forschungsstelle inKiel?

Genau, wir sind die direkte Fortset-zung. Die Forschung in Kiel wurdenicht mehr weiter geführt. Wir haben

Projekte aus Kiel mitgenommen,welche dort gestartet waren und inBerlin jetzt weiterlaufen. Hier gab esmehr Interesse dafür als in Kiel. DieSchwerpunktsetzung in Kiel hat sichverändert. In Kiel lief eine Landes-stelle zur Leitung der KFS aus, diefür die Anbindung der Projekte not-wendig war und es gab einen altenStrukturbeschluss von 1999, an demdie Universitätsleitung nicht rührenwollte. Dementsprechend musste dieForschung dann dort enden. Nebenanderen Universitäten interessiertesich dann die FU für die KFS. Hierfand man, dass Katastrophenfor-schung eine sehr wichtige Forschungist und man wollte diese fortsetzen.

Wir sind verwundert darüber, dasses, trotz der – zumindest gefühlten –zunehmenden Relevanz des The-mas, denkt man z.B. an diverse Fol-gen des Klimawandels, eine sogeringe Institutionalisierung in derKatastrophenforschung existiert.Selbst die KFS musste umziehen.

Es gibt natürlich auch andere For-schungseinrichtungen in Deutsch-land. Die haben dann aber keinsozialwissenschaftliches Verständnisvon Katastrophe, sondern eine zumBeispiel naturwissenschaftliche, in-genieurswissenschaftliche oder geo-graphische Ausrichtung. DasProblem ist, dass zu wenig in die Ka-tastrophenforschung investiert wird.Wenn dann was passiert, werden dieEreignisse zu Einzelfällen erklärt. Ei-ne Auseinandersetzung mit denstrukturellen Bedingungsgründenfindet zu wenig statt.

Nachdem Sie jetzt einiges Allge-meines zur Katastrophenforschunggesagt haben, kommen wir nun et-was konkreter zu Ihrer Arbeit: WelcheThemen stehen momentan bei IhrerForschung im Mittelpunkt?

Es gibt im Moment drei Projekte,die parallel laufen. Das erste heißt"Alpine Naturgefahren im Klimawan-del". Da geht es darum, wie in dreiverschiedenen Regionen in den Al-pen die Wahrnehmung von Naturge-fahren, vor dem Hintergrund desKlimawandels, sich verändert undwelche Deutungsmuster bei ver-schiedenen Akteuren – vor allemwirtschaftlichen – vorherrschen undwelche Handlungspraktiken sich dar-aus ergeben, aber auch etwas unver-mittelt parallel laufen. Da geht es um

»Panik ist ein relativseltenes Phänomen.«

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Fragen wie: Wie geht eigentlich eineForstverwaltung mit einem solchenProblem um?

Dann sind wir noch mit dem Teil-projekt "RisikoRaum" im Verbund „Si-cherheiten, Wahrnehmungen,Lagebilder, Bedingungen und Erwar-tungen – Ein Monitoring zum ThemaSicherheit in Deutschland“, beteiligt.Hier geht es um die Wahrnehmungvon Sicherheit und vor allem Unsi-cherheit durch Laien und Experten.Wie nehmen diese jeweils Sicherheitoder Gefahr im öffentlichen Raumwahr, welche Unterschiede und Ge-meinsamkeiten lassen sich finden?In Hamburg und Kiel begehen wir da-für zusammen mit Personen der Ge-fahrenabwehr, also Polizei,Feuerwehr, Amt für Katastrophen-schutz und der Sozialen Arbeit undauch „normalen“ Leuten aus der Be-völkerung, bestimmte Stadtteile undlassen uns von ihnen sagen, was ei-gentlich ihre Gefahren- und Sicher-heitswahrnehmungen sind.

Da schauen wir, wie Gefahren ver-räumlicht werden, was für Gemein-samkeiten und vor allemUnterschiede in der Wahrnehmungbestehen. Was bedeutet das für z.B.Kommunikationsprozesse? In einemanderen Teil des Projektes schauenwir dann genauer anhand sozio-demographischer Daten, wie sich ei-gentlich die Verletzlichkeit gegenüberKatastrophen auf Stadtteilebene ver-teilt. Was sagt da die bestehendeForschung vor dem Hintergrund be-stimmter soziodemographischer Da-ten? Wie lässt sich ein solcher Blick„von oben“ mit den Praxisperspekti-ven der Leute vermitteln, die direktdie Begehungen mitmachen?

Bei dem dritten Projekt geht es umExtremsituationen oder Extremver-halten im schienengebundenen öf-fentlichen Nahverkehr. Wie verhaltensich Leute eigentlich wenn sie fest-stellen, dass eine Extremsituationvorliegt und welche Verhaltensmus-ter treten da eigentlich auf?

... zum Beispiel, wenn die Klimaan-lage in einem ICE ausfällt?

Zum Beispiel so etwas. Oder auchwenn Feuer ausbricht. Da gibt esdann schnell etwa die Vorstellungvon Panik etc. Wobei die Forschunggezeigt hat, dass Panik ein relativseltenes Phänomen ist, das nur un-ter bestimmten Bedingungen auftritt.

Da geht es dann konkret darum zuschauen, welche anderen Verhal-tensweisen Menschen in Extremsi-tuationen an den Tag legen und wiesich diese dann einordnen lassen.

Die KFS arbeitet – der Selbstbe-schreibung nach – interdisziplinär.Können Sie erläutern, welche Diszi-plinen an den genannten Projektenbeteiligt sind?

Ja, was die Forschungsdisziplinenangeht, arbeiten wir immer wiedermit verschiedensten Disziplinen zu-sammen. Beim Klimawandelprojektsind Umwelthistoriker, die WSL [Eid-genössische Forschungsanstalt fürWald, Schnee und Landschaft; u.a.für die offizielle Lawinenwarnung inder Schweiz zuständig. Anm. d. R.],Politologen, Ethnologen und ein Phi-losoph beteiligt. Bei dem Projekt, woes um Sicherheit und Wahrnehmunggeht, sind Kriminologen, Philoso-phen, Innovationsforscher und Me-dienwissenschaftler beteiligt. Beidem Bahn-Projekt wirken zudemauch verschiedene Firmen (Softwa-reentwickler und Zugausstatter) ausBerlin mit. Eigentlich kann man sa-gen, arbeiten wir inter- und transdis-ziplinär, etwa mitTechnologieentwicklern oder Prakti-kern aus dem Katastrophenschutz.

Interdisziplinarität wird bei Ihnendemnach ernst genommen und istnicht nur Teil der Selbstbeschrei-bung?

Ja, genau. Dafür ist das For-schungsfeld dann auch zu speziell.Da kommt man – außer wenn es umTheoriebildung geht – ganz alleineauch nicht weiter. Wir glauben aberschon, dass Sozialwissenschaftler daeine bedeutende Rolle spielen, abermanchmal auch eine noch größereRolle spielen sollten. Man merkt damanchmal, welche vielleicht etwasschräge Vorstellung bei anderen Dis-ziplinen oder auch in der Praxis vor-herrscht, was Sozialwissenschaftlereigentlich leisten können. Wenn eszum Beispiel um Warnungen geht,dann sagt die technische Seite, wirentwickeln eine Technik für eineWarnung und ihr (die Sozialwissen-schaftler) müsst uns dann am Ende

nur noch sagen, wie sich das dannkonkret vermitteln lässt. Oftmals wä-re es besser, wenn die Sozialwissen-schaften viel früher eingebundenwerden würden.

Gibt es denn soziologische Theori-en, die in der Erforschung von Kata-strophen besonders leistungsfähigsind? Oder ist das je nach Projektunterschiedlich?

Man muss natürlich projektbezo-gen schauen, was passt. Es gibt aberTheorien die sehr eng mit einer so-ziologischen Katastrophenfor-schungstradition zusammenhängen.Zum Beispiel das FAKKEL-Modell vonLars Clausen, das war für uns alsStadienmodell katastrophischenWandels immer sehr wichtig, da esdie Katastrophe in der funktionalenDifferenzierung von Gesellschaft an-gelegt sieht. Allerdings ist das auf-grund des umfassendenErklärungsanspruchs in der empiri-schen Anwendung schwieriger – aberes gibt hier auch Anwendungsfälle.Es gibt aber auch gerade jüngere An-sätze zur Beschreibung von Vulnera-bilität [Verletzbarkeit,Verwundbarkeit] oder auch Resilienz[Widerstandsfähigkeit], die vielfachmit einem erweiterten Kapitalbegriffarbeiten. Diese erweisen sich alssehr bedeutsam für die Erforschungvon Katastrophen, da sie zeigen kön-nen, wie Anfälligkeit, aber auch Be-wältigungskapazitäten sozialproduziert, aber auch begrenzt wer-den. Aber natürlich spielen auchganz klassische soziologische Theo-rien eine Rolle. Die Feld- und Habi-tustheorie von Bourdieu zumBeispiel. Gerade hier wollen wir ger-ne Forschung noch intensivieren,weil wir glauben, dass da vor allemder soziologische Diskurs der Kata-strophenforschung angereichert wer-den kann.

Welche Vorteile der Soziologie ge-genüber anderen Disziplinen sehenSie?

Wenn man über Katastrophennachdenkt, dann sind das immer so-ziale Katastrophen. So etwas wie Na-turkatastrophen ist erst malbegrifflich ein Problem, weil Kata-strophe erst dann anfängt, wenn so-ziale Strukturen betroffen sind undnachhaltig beschädigt werden. DieNatur kennt keine Katastrophen.Dementsprechend ist Katastrophen-

»Die Natur kenntkeine Katastrophen.«

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forschung aus unserer Sicht schonimmer sozialwissenschaftlich, wennnicht soziologisch. Diese Sicht musseigentlich immer da sein, sonst las-sen sich Katastrophen in ihrer gesell-schaftlichen Bedeutung überhauptnicht fassen. Wenn die Hydrologeneinfach Pegelstände messen, dannerfassen sie sicherlich nicht das, wasKatastrophe gesellschaftlich bedeu-tet. Es geht also gar nicht ohne Sozi-alwissenschaften.

Vielleicht abschließend noch, wasraten Sie Studierenden in Anbetrachtder Interdisziplinarität und der Viel-falt die in diesem Gebiet herrscht,wenn sie in die Richtung Katastro-phenforschung arbeiten wollen?

Vor allem die Offenheit für die kon-krete Nutzung von Theorien in derPraxis an konkreten Phänomenen.Das Übersetzen von Theorie in diePraxis ist schon ein entscheidenderPunkt. Gerade dann, wenn manTheorien auf die Praxis anwendet, er-geben sich neue Erkenntnisse überdie zugrundeliegenden Strukturenund ablaufenden Prozesse. Hier,denke ich, könnte noch viel soziologi-sche Theorie für die Katastrophen-forschung nutzbar gemacht werden.

Herr Lorenz, vielen Dank für dasGespräch!

Die Fragen stellte Lukas Daubner

Illustration von Tobias Conradi

Daniel F. Lorenz hat Philosophie,Soziologie und Politikwissen-schaft studiert und rutschte wäh-rend seines Studiums in Kiel indie Katastrophensoziologie. Zur-zeit arbeitet er im Projekt "Risi-koraum". Hier führt er dieBegehungen in Hamburg durchund untersucht die Risiko- undSicherheitswahrnehmungen derverschiedenen Akteure.

»Das Übersetzen von Theoriein die Praxis ist schon einentscheidender Punkt.«

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Was kann man als Soziologe zur Eurokrise sagen?Man hat natürlich ebenso wenig Lösungen wie alle

anderen. Aber zumindest kann man die um die Eurokrisegeführten Debatten besser verstehen, wenn man die inder Soziologie gebräuchlichen basalen Kategorisierungendes Sozialen anlegt und die unterschiedlichen Kommen-tare zur Eurokrise daraufhin befragt, welche dieser Kate-gorisierungen sie verwenden. Es gibt im Wesentlichendrei Möglichkeiten, d.h. drei Unterscheidungen, mit de-nen der basale Schnitt durch die soziale Welt gelegt wer-den kann, in der die Eurokrise stattfindet. Man kann zumeinen unterschiedliche Nationalstaaten sehen, etwaDeutschland vs. Griechenland, die in unterschiedlicherWeise betroffen sind. Oder man kann unterschiedlicheKlassen oder Schichten sehen: Oben vs. Unten, Reich vs.Arm, die um die Lastenverteilung streiten. Oder mankann unterschiedliche Funktionsbereiche sehen, insbe-sondere Wirtschaft vs. Politik, zwischen denen komplexeWechselwirkungen vor sich gehen. Natürlich sind alle die-se Unterscheidungen und alle diese sozialen Einheitenan der Eurokrise beteiligt, aber welche man davon zuerstsieht, hängt davon ab, welche Wahrnehmungsbrille (oderwelche Gesellschaftstheorie) man aufhat. Dass es in derKrise unterschiedliche Handlungsoptionen gibt, ist aufden ersten Blick offensichtlich und wird täglich diskutiert;dass es aber, davorliegend, auch unterschiedliche Wahr-nehmungsoptionen gibt und man je nachdem, welchebasale Unterscheidung man anlegt, unterschiedlicheAspekte der Krise in den Blick bekommt, muss man sicherst klarmachen.

Erste Perspektive: UngleichheitEine erste Möglichkeit ist, das Geschehen anhand der

Achse Oben/Unten, d.h. im Rahmen der Frage nach so-zialer Ungleichheit zu betrachten. Von dieser Perspektivestellt man fest , dass die bisherigen Maßnahmen zur Eu-rorettung eine deutliche Umverteilung von Unten nachOben bedeuten: Am meisten leiden die Bezieher kleinerEinkommen und Renten, während die Kapitalanlagendes vermögenden Bevölkerungsteils gerettet werden, unddas Geld der Steuerzahler wird Banken und anderen Ein-richtungen in den Rachen geworfen. Diese können schonin wenigen Jahren wieder Milliardenprofite machen, ohnesich ihrerseits um das Wohl der kleinen Leute zu küm-mern. Privatisierung von Gewinnen, Sozialisierung vonVerlusten – das ist das Prinzip, das zugrundeliegt unddas mit massiven sozialen Schieflagen einhergeht. „Wirzahlen nicht für Eure Krise“ lautet entsprechend eine Pa-role, die bei den Protesten gegen die Sparmaßnahmen inhart betroffenen Ländern ausgegeben wird; das dominie-

rende Gefühl ist, dass „die da oben“ – in Bankvorstän-den, Ministerien und Politikerriegen – „uns“ normalenLeuten ein Problem eingebrockt haben, für das „wir“nichts können und das „wir“ jetzt auslöffeln müssen.Dass Menschen, die durch die Eurokrise in echte Exis-tenznöte geraten sind, so denken, ist nachvollziehbar.

Diese Beobachtungsweise trifft aber im Wesentlichennur die Folgen der Krise, nicht ihre Ursachen und Trieb-kräfte. Was diese Frage anbelangt, gelangt man mit derBeobachtung entlang der Achse sozialer Ungleichheitschnell an Grenzen. Nur sehr hartgesottene Marxistenund Kapitalismuskritiker würden so weit gehen zu be-haupten, dass die Eurokrise eine intentionale Maßnahmeder oberen Klassen war, um ihre Vermögenslage relativzu den unteren zu verbessern – obwohl dies doch un-zweifelhaft eine Folge davon ist. Schon eher vertretenlässt sich das Argument, dass das allgemeine Prinzip derPrivatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Ver-lusten bewusst installiert und aufrechterhalten wird, hierin Gestalt der Sankrosanktheit von Banken, die um des„Systems“ – also um aller – willen nicht pleitegehen dür-fen, womit aber gleichzeitig auch die Kapitalanlagen derVermögenden und die Jobs der Banker und Finanzjong-leure erhalten werden. Manche Marxisten vermutenschon seit längerem, dass etwa die Empfehlung der kapi-talgedeckten Altersvorsorge für die breite Bevölkerungund generell die Diffusion von Kapitalanlagen in untereSchichten hinein ein perfider Trick „des Kapitals“ ist, umder Durchschnittsbevölkerung ein Interesse an der Stabi-lität des Finanzsystems zu geben und Angriffe auf diesesSystem zu erschweren. Wenn das so wäre, wäre die Eu-rokrise ein extremer und extrem erfolgreicher Fall davon– aber diese Annahme setzt sehr hohes Vertrauen in dieWeitsicht und umwegige Klugheit „der Kapitalisten“ vor-aus.

Zweite Perspektive: Funktionale DifferenzierungWer von so viel Vertrauen überfordert ist, kann es ver-

suchsweise einmal mit der zweiten Perspektive probie-ren: der Perspektive funktionaler Differenzierung. In derEurokrise stehen offensichtlich vor allem zwei Funktions-systeme gegeneinander, nämlich Wirtschaft und Politik.Man denke nur an die Diskussion um den Einsatz von„Bazookas“, wie unbegrenzten Staatsanleihenkäufendurch die EZB oder Erteilung einer Banklizenz für denESM: Die Front, an der die Bazooka eingesetzt wird, istdie Front Politik vs. Wirtschaft, und der leitende Eindruckist: Die Politik – d.h. die Staaten – muss zusammenhal-ten, um der Wirtschaft – d.h. den Finanzmärkten – zu

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DIE EUROKRISE UND DIEKATEGORISIERUNGEN

DES SOZIALENEin Gastbeitrag von Barbara Kuchler

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zeigen, dass es keinen Sinn hat, gegen den Euro oder aufStaatsbankrotte zu spekulieren.

Aber auch tiefergehend kann die Problematik derStaatsverschuldung insgesamt nur verstanden werden,wenn man Politik und Wirtschaft als je eigenständige, ei-ner eigenen Logik folgende Bereiche sieht, die dann aberkomplexe Interdependenzen miteinander ausbilden. DieMöglichkeit extrem hoher Staatsverschuldung entstehtdadurch, dass Staaten als politische Einheiten, nämlichweil sie über das Gewaltmonopol und die Steuererhe-bungskompetenz verfügen, auch besonders qualifizierteWirtschaftsteilnehmer sind, nämlich besonders kredit-würdige Schuldner. Sie können sich als Staaten, gestütztauf ihre politische Qualität, nahezu unbegrenzt Geld lei-hen und sie können sich darin von politischen Dynami-ken – Stichworte: Demokratie und Wählerbeglückung –treiben lassen. Damit werden sie aber abhängig von denStrukturgesetzen der Finanzmärkte als wirtschaftlicherEinrichtungen, insbesondere von der Problematik desVertrauens und der Möglichkeit des plötzlichen Vertrau-ensverlustes. Ein – warum auch immer einsetzender –Vertrauensrückgang unter Anlegern wirkt selbstverstär-kend und wird zur „self-fulfilling prophecy“, auch ohnegrundlegende Änderung der Fundamentaldaten: Wenn al-le glauben, dass Griechenland seine Schulden nichtmehr wird bedienen können, dann steigen die Risikoauf-schläge auf griechische Staatsanleihen und Griechen-land kann seine Schulden tatsächlich nicht mehrstemmen. Staaten sind damit der „Irrationalität“ der Fi-nanzmärkte ausgeliefert, oder besser gesagt: Der typi-schen begrenzten Rationalität des Sozialen, in der eskeine Berechenbarkeit, Objektivität und festen Urteils-grundlagen gibt, sondern viel zirkuläre, erwartungsab-hängige oder auch zufallsabhängige Dynamiken.

Mit der Perspektive auf Funktionssysteme kann manauch den Problemaspekt besser verstehen, der oben, inder Perspektive sozialer Ungleichheit, unklar gebliebenwar. Es geht bei der Staaten- und Bankenrettung durch-aus nicht nur um die Kapitalanlagen der Reichen, auchdie Ersparnisse, Versicherungen, Altersversorgungen,Bausparverträge usw. der breiten Bevölkerung „hängen“mit drin. Aus der Funktionssystem-Perspektive ist das eineinfacher Fall von Inklusion, d.h. von Teilnahme tendenzi-ell aller Menschen an tendenziell allen Funktionsberei-chen. Genauso wie in der modernen Gesellschaft alleMenschen in die Schule gehen, alle Menschen das Wahl-recht besitzen und alle Menschen heiraten dürfen, ge-nauso sind wir alle zunächst in die Konsumseite derWirtschaft inkludiert und mittlerweile – soweit wir über ir-gendeine Art von Vermögen oder auch über Schuldenverfügen – auch in die Finanzseite der Wirtschaft. Dahin-ter steckt keine perfide Absicht irgendwelcher Kapitalis-ten, sondern die allgemeine Dynamik, dass wichtigeStrukturen der Gesellschaft zunehmend für alle Men-schen zugänglich werden.

Dritte Perspektive: NationalstaatenAls dritte Perspektive kommt die Differenz unterschied-

licher Nationalstaaten in Betracht. Obwohl die „Contai-nertheorie“ des Sozialen (Ulrich Beck), die sich Sozialesals vorrangig in den Grenzen eines Nationalstaats denktund „die Gesellschaft“ jeweils an den Grenzen eines Na-tionalstaats enden sieht, in der Soziologie mittlerweile

weitgehend überwunden ist, ist die Differenz von Natio-nalstaaten natürlich trotzdem eine wichtige Dimensiondes Sozialen, jedenfalls bei einem europäischen Pro-blem. Die Mitglieder verschiedener europäischer Staatensind offensichtlich sehr unterschiedlich von der Krise be-troffen: Während die Griechen bereits bei den letztjähri-gen Wahlen mehrheitlich in einem Zustand angekommenwaren, in dem ihnen das Argument einleuchtete, dass es„schlimmer sowieso nicht mehr werden kann“ (auchwenn das vermutlich nicht realitätsgerecht ist), erfahrendie Deutschen von der Krise immer noch überwiegendaus der Zeitung oder durch sehr indirekte und fast para-doxe, anti-zyklische Rückwirkungen. Zu beobachten sindzum Beispiel steigende Immobilienpreise, weil Südeuro-päer bei der Suche nach sicheren Anlageformen auf denKauf von Wohnungen in München oder Berlin verfallen.

Ein Großteil der Debatte zur Eurokrise findet denn auchin terms von nationalen Kategorien statt, was schon des-halb unausweichlich ist, weil die politischen Handlungs-und Entscheidungsmöglichkeiten nationalstaatlich seg-mentiert sind. Schaffen es „die Griechen“, ihren Haushaltzu sanieren, oder sind sie hoffnungslos korrupt, desSteuerzahlens entwöhnt und zu solider Haushaltspolitikunfähig? Sind „die Deutschen“ bereit, noch mehr Haf-tungsrisiko zu übernehmen, oder sollten sie lieber ihreeigene Wirtschaftsleistung und solide Haushaltspolitikanderen Völkern anempfehlen? Aber haben nicht dieDeutschen ihre wirtschaftlichen Erfolge teilweise aufKosten anderer europäischer Länder erzielt, indem siegnadenlose neoliberale Niedriglohn- und Standortpolitikbetrieben haben? usw. usf. Nationale Interessen, Parti-kularismen, Vorbehalte, Ressentiments, und umgekehrtauch die Einforderung europäischer Solidarität, werdenartikuliert. Die Eurokrise schiebt die Völker Europas we-gen des unablässigen Handlungs- und Entscheidungs-drucks enger zusammen, und damit auch weiter in ihrewechselseitigen Konflikt- und Unausstehlichkeitszonenhinein, als praktisch alle Phasen europäischer Einigungdavor.

Interessanterweise wird die nationalstaatliche Per-spektive aber nicht nur von Kommentatoren benutzt, de-nen ihr nationales Eigeninteresse am Herzen liegt,sondern auch und gerade von nicht-national und anti-na-tional Denkenden. So beobachtet der erklärte EuropäerJürgen Habermas die Urteilspraxis des Bundesverfas-sungsgerichts zu Euro-Fragen, etwa zum Parlamentsvor-behalt bei der Ausweitung der Haftungssumme des ESMmit der nationalstaatlichen Brille, weil ihm hier Kritikwür-diges in die Augen sticht. Das Verfassungsgericht sollenicht die Position eines Oberkontrolleurs Europas bean-spruchen; es vertrete tendenziell eine „nationale Per-spektive“ und eine „abschirmend-souveränitäts-versessene“ Argumentation, und es sei unklar, „ob dasGericht den Nationalstaat um der Demokratie willen odernicht doch eher die Demokratie um des Nationalstaatswillen verteidige“.1 Ähnliche Kritik kann man leicht auchgegenüber der Deutschen Bundesbank formulieren: Dassdiese sich so penetrant gegen expansive Staatsanleihen-käufe durch die EZB zur Wehr setze, kann man als natio-nal-engstirnige Politik bezeichnen, die die dringendbenötigte Entlastung klammer Staaten zugunsten desnur in Deutschland so verabsolutierten Ziels der Geld-wertstabilität hinten anstellt.

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Diese rein nationalstaatlich orientierte Beobachtunggreift aber vielleicht zu kurz, denn die als „national“ kriti-sierten Positionen sind bei näherem Hinsehen auch mitElementen der zweiten Perspektive infiziert: Sie scheinennämlich jeweils die Verhinderung eines allzu leichtenDurchgriffs der (Krisen-)Politik auf Domänen eines ande-ren Funktionsbereiches im Blick zu haben. Was das Bun-desverfassungsgericht angeht, so muss dieses nuneinmal seiner ureigensten Aufgabe nach dem Grundge-setz und die Grenzen dessen, was es zulässt, ernst neh-men, unter anderem die Frage, welche Entscheidungeneine Beteiligung des Parlamentes erfordern. Es geht hierzunächst um ein „Oben-anstellen“ des Rechts, und nuran zweiter Stelle um ein „Oben-anstellen“ dessen, wasfür Deutschland zuträglich ist. (Und das Verfassungsge-richt hat ja überhaupt nichts dagegen, dass sehr weitrei-chende Maßnahmen zur Eurorettung,Haftungsvergemeinschaftung usw. beschlossen werden,wenn der Bundestag das beschließt.) Ähnlich die Bun-desbank: Das Ziel von Geldwertstabilität und Inflations-vermeidung hängt mit dem Schutz des Geldes vor allzuleichtfüßiger Selbstbedienung des Staates, d.h. vor derMöglichkeit der Staatsfinanzierung durch Geldschöpfungzusammen. Man mag dies einseitig finden und wie Zen-tralbanken anderer Staaten, ein Zweitziel wie Konjunktur-und Beschäftigungsförderung für sinnvoll halten – dar-über kann man diskutieren. Gleichwohl sind hier abergrundsätzliche Fragen des Verhältnisses von Politik undWirtschaft involviert, und die Problemlage ist nicht vollbegriffen, wenn man sie auf nationale Partikularismenreduziert.

Aus der Krise lernenMan sieht: Die Eurokrise kann, wenn man will, auch als

Grundkurs in Soziologie, genauer in soziologischen Ge-sellschaftstheorie, benutzt werden. Die Soziologie alsprofessionelle Gesellschaftsbeobachterin verwendet oftdieselben Kategorien wie die Alltagsbeobachtung, nurstärker durchreflektiert und begrifflich kontrolliert. Umge-kehrt gesagt agieren „normale“, nicht-soziologisch aus-gebildete Teilnehmer am Sozialen als„Spontansoziologen“ (Pierre Bourdieu), wenn sie Sozialesbeobachten und kommentieren. Für Handlungsoptionen,d.h. für die Frage, welche politischen Maßnahmen nunbefürwortet oder abgelehnt werden sollen, folgt darausnichts unmittelbar. Aber immerhin findet man sich leich-ter in der Komplexität der Lage zurecht, wenn man weiß,dass es Alternativen nicht nur in den zu treffenden Maß-nahmen, sondern auch in den angelegten Beobachtungs-kategorien gibt.

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[1] Wolfgang Janisch, Das Europa der Anderen. Jürgen Habermasmeint: Das Bundesverfassungsgericht schadet der Einheit des Kontin-ents. Für Andreas Voßkuhle schützt es dagegen die Demokratie. EinStreitgespräch, in: Süddeutsche Zeitung vom 22./23. September, S. 7.

über die Autorin:Barbara Kuchler ist Wissenschaftliche Mitarbeite-rin bei Prof. Dr. André Kieserling an der UniversitätBielefeld.

Impressum

sozusagenBielefelder Studierendenmagazin

der Fakultät für SoziologieAusgabe WiSe 2012/13

(erscheint einmal pro Semester)

Redaktion:Alexander Engemann (V.i.S.d.P.)

Arne Kramer-SunderbrinkFeride Celik

Finn-Rasmus BullJohanna Springhorn

Lukas DaubnerMichael Grothe-Hammer

Rainald Manthe (Berlin-Korrespondent)Sophia Cramer

Layout-, Logo-, Covergestaltung:Michael Grothe-Hammer

Cover-Bild:Arne Kramer-Sunderbrink

Finanzen und Werbung:Alexander Engemann

Postanschrift:Universität Bielefeld

Fachschaft Soziologiesozusagen-MagazinPostfach 10013133501 Bielefeld

Druck:Druckerei WIRmachenDRUCK GmbH

Mühlweg 25/2-3, 71711 Murr

Auflage:1500

Zuschriften und Kritik an:[email protected]

Die sozusagen im Internet:http://sozusagenblog.wordpress.com/

Dank an:Das StuPa der Universität Bielefeld

und allen anderen Mithelfern!

Der Inhalt der Beiträge muss nicht unbedingt dieMeinung der Redaktion widerspiegeln, verantwortlich

sind allein die Autoren/Fotografen/Künstler. DieRechte der Beiträge liegen bei ihren jeweiligen

Inhabern. Sollten durch Zitate, Abbildungen oderandere Darstellungen Urheberrechte oder Rechte

Dritter verletzt werden, geschieht dies unbeabsichtigt.Für diesen Fall bitten wir um Mitteilung.

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Bei (fast) allen Konflikt-Darstellungen in westlicher Po-litik und westlichen Massenmedien wird eine Partei

der „Guten“, der der „Bösen“ gegenüberstellt. Es bestehtwohl kein Zweifel daran, dass Assad ein Ekel ist, der esvor allem auf den Tod syrischer Oppositioneller abgese-hen hat. Mubarak, Gaddafi oder Milosevic passen in dasgleiche Schema. Aber: Beide Seiten in den Konflikten tö-ten, sie beenden Leben. Was unterscheidet aber deneinen Tod von einem anderen, was macht den einen Todgut, den anderen schlecht? Für die Konfliktparteien be-deutet die Bewertung ihres Tötens als Gut oder Böse viel:Wie wird der Konflikt international diskutiert und behan-delt? Gibt es eine (militärische) Intervention und wenn ja,auf welcher Seite?

Für die Beteiligten – egal auf welcher Seite sie stehen– ist ein Krieg eine Krise, eine Katastrophe: „Krieg istChaos. Unzählige Menschen stecken in der Krise, produ-zieren Kadaver und versuchen, ihre eigene Haut zu ret-ten (…). Das entstehende Durcheinander ist umDimensionen zu komplex, um von irgendwem seriösüberblickt werden zu können.“ (Müller 2006, 224) Opferund Täterinnen gibt es auf beiden Seiten1. Informatio-nen, wer, wann und warum, wen getötet hat, sind kaumzu haben. Eine klare Zuweisung von „Gut“ und „Böse“wird aus dieser Sichtweise zu einer Illusion, zu einer Be-obachtungskategorie, die in der Debatte der Medien undder Politik erzeugt wird. Ich stelle hier die These auf, dassdurch die Unterscheidung Gut/Böse das Chaos des Krie-ges geordnet und erst dadurch für uns als Beobachterin-nen erfassbar und politisch verhandelbar wird.

Aus dieser Perspektive ist es aber erstaunlich, warumwir uns trotz des Kriegs-Chaos so einig sind, welche derKonfliktparteien gut und welche zu verurteilen ist.2 Daserste Argument ist, dass die Eigenlogik der Presse dasBild von Kriegen verändert. Konflikte und Verstöße gegeneine Norm (z.B. „Im Krieg werden keine Zivilistinnen getö-tet.“) haben nach Luhmann einen hohen Nachrichten-wert, insbesondere, wenn der Normverstoß mit einerBewertung eines Handelns als Gut oder Böse anreicher-bar ist (Luhmann 1999, 64f). Für Unsicherheiten, ver-schiedene Theorien und eine umfassendeBerichterstattung zu Nachrichten und deren Entstehungist in Zeitungen meist kein Platz. Bei Fernsehnachrichtenist dieser Platz noch begrenzter. Also wird vereinfacht, se-lektiert und stereotypisiert. Es entsteht eine Realität, diedurch die Eigenlogik der Medien verändert wird.

Zweitens wird ein Krieg mit Sicherheit durch die Politikthematisiert. Auch Politikerinnen haben nicht das Wis-sen, was „wirklich“ passiert und können auf dieser Basisplanen und entscheiden. Trotzdem werden von der PolitikEntscheidungen erwartet und zwar klare Entscheidungenfür oder gegen bestimmte Konfliktbehandlungen. Politi-sches Entscheiden neigt also dazu, klare Entscheidungenfür oder gegen eine Konfliktbehandlung zu treffen, ohnedabei das eigentliche Nicht-Wissen über die Situation ar-tikulieren zu können.

Eingebettet ist dies in eine übergeordnete Entwicklung:Die Wahrnehmung des „gerechten“ Krieges hat sich vonzwischenstaatlichen Kriegen zweier, zumindest formalebenbürtiger Staaten, zu einer Polizeiaktion gegenSchurken, die anerkannte völkerrechtliche Prinzipien ver-letzen, gewandelt. „Wer beansprucht, einen gerechtenKrieg zu führen, denkt die Rechtsbezüge der Kontrahen-ten von vornherein asymmetrisch: die eine Seite hat allesRecht auf ihrer Seite, die andere Seite hingegen alles Un-recht; sie wird gedacht nach dem Vorbild des Verbre-chers, der durch eine Polizeiaktion unschädlich zumachen (...) ist.“ (Münkler 2005, 56f) Als Rechtfertigun-gen für den Krieg dienen die Ahndung von Menschen-rechtsverletzungen, der Stopp von Massakern, dieVerfolgung von Verbrecherinnen, kurz: All das, was unszur Rechtfertigung der „Humanitären Interventionen“ imIrak, Afghanistan und Kosovo erzählt wurde.

Ein Beispiel, an dem gut zu erkennen ist, wie in der Be-obachtung die Konfliktparteien zu den „Guten“ und den„Bösen“ gemacht werden, ist das „Massaker von Račak“.Stell dir vor, es ist der 16. Januar 1999, du sitzt vor demFernseher und siehst die ersten Bilder, mit denen von ei-nem Vorfall in der Kleinstadt Račak im Kosovo berichtetwird. Etwa 40 kosovo-albanische Männer, Frauen undKinder wurden von serbischen Polizei- und Militäreinhei-ten hingerichtet. Am nächsten Morgen liest du in jederZeitung die gleiche Geschichte, angereichert durch dieausgesprochen blutigen Beschreibungen der Chefin der„Kosovo Verifikation Mission“ (KVM). Die Rollen sind ver-teilt: die unbewaffneten, wehrlosen, kosovo-albanischenOpfer und die brutalen serbischen Täterinnen. Erst durchdie spätere Untersuchung der Leichen durch schwedi-sche Pathologinnen kamen Zweifel an dieser Deutungauf: Die Toten wurden (wahrscheinlich) nicht hingerichtet.Es entstand die Alternativdeutung, dass die gefundenenKörper die Opfer der Kämpfe der letzten Tage waren, diein Račak zusammengetragen wurden. Was wirklich ge-schah, ist bis heute unklar. Wie aber wird aus einem un-klaren Ereignis eine eindeutige Nachricht, die schließlichbei dir ankommt?

Zunächst konkurrieren die Konfliktparteien um dieDurchsetzung ihrer Deutung der Situation. Sie zeigen be-stimmte Aspekte, inszenieren andere, machen weitereunsichtbar, verbreiten ihre Deutungen und versuchen, siedabei zu legitimieren. So leugnet die serbische Regie-rung, dass ihre Polizei und Militäreinheiten beteiligt wa-ren, kündigt eine unabhängige Untersuchung an, lässtam 16. das Dorf abriegeln und vertreibt Vertreterinnender Beobachtermission und Journalistinnen aus Račak.Geflohene Dorfbewohnerinnen berichten derweil denVertreterinnen der KVM von einem Massaker in ihremDorf.

Die Deutung der Kosovo-Albanischen Seite überwiegtschließlich. Der Chef der Beobachtermission, Walker, hatam 16. schon eine klare Position: Die Vorkommnisse sei-en ein Massaker, ein Verbrechen an der Menschlichkeit.

DEN KRIEG SORTIERENThesen zur Beobachtung von Kriegen

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über die Autorin:Barbara Kuchler ist Wissenschaftliche Mitarbeite-rin bei Prof. Dr. André Kieserling an der UniversitätBielefeld.

Zwar spricht er davon, dass die Frage der Täterschaftnoch nicht geklärt sei, er beschuldigt zumindest nichteindeutig die serbischen Truppen, das übernehmen dannaber die deutschen Medien: Für sie ist die Geschichteeindeutig ein Massaker der Serbinnen an den Kosovo-Al-banerinnen. Die Alternativdeutungen der serbischen Re-gierung werden dagegen verspottet. Am Ende steht dasBild von den bösen serbischen Truppen und die Be-schreibung als „Massaker“. Das ist das Bild, was schließ-lich bei uns ankommt: Eine Realität, die dadurchbeeinflusst wird, wie die Konfliktparteien ihre Deutung andie Frau bringen können, wer die Situation beobachtetund wie sie das weitervermittelt. Eine Realität also, diedurch die Eigenlogik der Medien erzeugt wird.

Das „Massaker von Račak“ wird zum Medienereignisund löst eine Debatte über ein Mandat für NATO-Luftan-griffe gegen Serbien aus. In Deutschland unterstützendie regierenden Parteien SPD und Grüne diese „humani-täre Intervention“, auch mit dem Hinweis auf Račak. Hierstellt sich insbesondere die Frage, warum die Grünen –zum Ersten Mal in der Regierung vertreten und eigentlichmit pazifistischen Grundsätzen ausgestattet – der Inter-vention zustimmten. Aussagen Grüner Bundestagspoliti-kerinnen, „dass 'nach dem Massaker von Racak' keinSpielraum mehr für Verzögerungen sei“, (taz,04.02.1999) legen nahe, dass die These vom Entschei-dungsdruck trotz Nicht-Wissen hier eine Rolle gespielthat.

Im März 1999 begann die NATO – ohne UN-Mandat –mit Luftangriffen gegen serbische Ziele, vor allem Bel-grad. Die Intervention wird nicht als Krieg gesehen, son-dern vielmehr als humanitäre Hilfe, als Eingreifen der„Weltpolizei“ gegen die verbrecherischen Serbinnen. Andem Beispiel von Račak bestätigt sich meine obenge-nannte These: Die westliche Beobachtung von Konfliktenreduziert das Chaos des Krieges durch die Zuordnungmoralischer Kategorien: Die guten Kosovo-Albanerinnenwerden von den bösen Serbinnen bedroht.Sophia Stockmann

Literatur:Grüne balkanpolitisch (04.02.1999) In: taz, die tageszeitungLuhmann, Niklas (1999): Die Realität der Massenmedien. 2. Aufl.Opladen: Westdt. VerlMüller, Olaf L. (2006): Chaos, Krieg und Kontrafakten. Ein erkenntnis-theoretischer Versuch gegen die humanitären Kriege. In: BarbaraBleisch und Jean-Daniel Strub (Hg.): Pazifismus. Ideengeschichte,Theorie und Praxis. 1. Aufl. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt Verlag; Haupt,S. 223–263Münkler, Herfried (2005): Die neuen Kriege. 2. Aufl. Reinbek beiHamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verl

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[1] Der Text ist in der weiblichen Form geschrieben. Über alle Anderenschreibe ich aus Prinzip nicht.[2] Wer das bezweifelt, sollte aktuell in einer Debatte über Syrien mitAssad sympathisieren und schauen, was passiert.

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Gut gegen Böse: Die Abgrenzung erscheint meist erstaunlich eindeutig

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Andreas PögeStudium/aktuelle Stelle:1994–1997: Diplomstudiengang Mathematik/Informatik in Münster1997–2002: Magisterstudiengang Soziologie, Neuere undNeueste Geschichte, Politologie an der WWU Münster2007: Promotion an der Universität TrierAktuell: Akademischer Rat auf Zeit im AB „Methoden“

Forschungs- und Interessenschwerpunkte:Methoden der empirischen SozialfoschungLängsschnittforschungWerteforschungKriminalsoziologie

Als Kind wollte ich sein wie... Colt Sievers

Meine Lieblingsband... The Faces

Im Kino habe ich zuletzt gesehen... Der gestiefelte Kater 3D

Was ich gut kann... organisieren

Mich nerven Studierende, wenn sie... mich nerven

An Soziologie besonders interessant ist... Statistik

Diese Person bewundere ich: Keith Richards

Ich nehme mir gerne Zeit für(´s)... Fußballtraining

In Bielefeld muss man unbedingt… einmal am Sonnabend auf die Königsbrüggekommen

Aus meiner Studienzeit erinnere ich mich am Liebsten an… Repetitorien auf Korsika

Am meisten bin ich stolz auf... meine Kinder

Das sollte es öfters geben: indisches Hähnchencurry in der Mensa

Mein Autopoesiealbum

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Am Forschen gefällt mir… die Freiheit das zu erforschen, was einen interessiert

Im Lehren gefällt mir… Menschen etwas Neues beizubringen

Meine Empfehlung an Erstsemester ist… nehmt Euch unbedingt die Zeit, die Ihrbraucht!

Der bedeutendste Soziologe ist… keine Ahnung, gibt ja doch einige…

Soziologie ist… spannend

Meine erste Liebe war... unerwidert

Mein Lieblingszitat… hab‘ keins

Ich stoße an meine Grenzen, wenn... ich soziologische Theorien erklären muss

Eine erste Erfahrung mit der Arbeitswelt: 6:30 Uhr Schichtbeginn in derMaschinenbaufirma

Es macht mich wütend, dass… manche Menschen unehrlich sind

Eine gute Tat, an die ich mich gerne zurückerinnere… hmm, gute Frage… ich werdenachher mal eine begehen.

Ich finde es ungerecht, dass… die Mittelbauverhältnisse an der Uni so sind, wiesie sind

Studierendenproteste sind… häufig leider unnütz

Revolution ist… mir mit zunehmendem Alter unwichtiger

Ich würde niemals... vom 10-Meter-Turm springen

Ich kann nicht so gut... geduldig sein

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Die Fragen stellte: Johanna Springhorn

Mein Autopoesiealbum

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Wenn es ein übergreifendes soziologisches Motiv fürdie Beschäftigung mit Krisen und Katastrophen gebensoll, dann wäre dies wohl das Interesse am Irregulärenund Instabilen, also ein allgemeines Interesse an dem,was soziale Ordnung stört und sie aus dem Gleichgewichtbringt. Tatsächlich finden sich in beinahe jeder Sozi-altheorie prominent platzierte Bekenntnisse zum Wertvon Ausnahmen für das Verständnis der Regelmäßigkei-ten sozialer Strukturen und Prozesse. Gleichwohl gibt eskein grundlagentheoretisches Wissen in Form eines all-gemeinen soziologischen Verständnisses über den Zu-sammenhang von Störungen und der Aufrechterhaltungsozialer Ordnung, auf das die Beschäftigung mit Krisenund Katastrophen umstandslos zurückgreifen könnte.Die gegenwärtig verfügbare soziologische Expertise überKrisen und Katastrophen fällt dementsprechend frag-mentarisch aus und speist sich aus Spezialinteressenohne gemeinsame analytische Klammer.

Die Soziologie der Krise ist in erster Linie ein Unterneh-men von zeitdiagnostisch interessierten Gesellschafts-theoretikern geblieben. Thesen über Ursachen undBegleiterscheinungen krisenhaften Wandels werden anein je nach Krisentheorie variierendes Verständnis sozia-ler Ordnung (Kapitalismus, Klassengesellschaft, Demo-kratie, funktionale Differenzierung usw. usf.) und eingleichermaßen variierendes Repertoire von Funktionser-fordernissen angeschlossen (Bedarf an Ressourcen, hier-archischer Ordnung, Legitimation, Autonomie gesell-schaftlicher Wertsphären usw. usf.). Der unbestreitbareVerdienst der Krisensoziologie liegt zum einen darin, so-ziologische Expertise in laufende Krisendiskurse einzu-bringen und sie in der Öffentlichkeit zu vertreten. Die fürdie Soziologie womöglich ungleich wichtigere Leistungkrisensoziologischer Ansätze besteht zum anderen darin,Störungen sozialtheoretisch zu endogenisieren, sie alsoals Resultat sozialer Prozesse zu thematisieren anstattals etwas, das sozialer Ordnung gewissermaßen von au-ßen zustößt. Die Endogenisierung von Störungsereignis-sen anhand des Krisenbegriffs begründet dieZuständigkeit der Soziologie als Wissenschaftsdisziplin,diese Störungen deutend zu erklären.

Die Katastrophensoziologie kämpft demgegenüber bisheute damit, sich von der Vorstellung der Katastrophe alsexterner Intervention in soziale Gleichgewichte zu befrei-en. Sie erscheint, so könnte man mit maßvoller Übertrei-bung sagen, gefangen in einer Konstruktivismusdebatte,die andere Bereiche der Disziplin lange hinter sich gelas-sen haben. Einerseits möchte sie den sozial konstruier-ten Charakter jeder Katastrophe aufzeigen und dadurchihren Gegenstand also in ähnlicher Weise wie die Krisen-soziologie auf dem Weg einer Endogenisierung für dieSoziologie reklamieren. Andererseits betont die Untersu-chung von Störungsereignissen als Katastrophen die Sin-gularität dieser Ereignisse gegenüber den von ihnen inMitleidenschaft gezogenen Strukturen und Prozessen; in-sofern ein Katastrophenereignis hierbei als unabhängigeVariable behandelt wird, muss es als externer Bestim-mungsgrund sozialer Effekte erscheinen. Der in diesem

Zusammenhang auftretende Endogenisierungsverzichtsichert in anderer Weise einen Gegenstandsbereich fürdie empirische Erforschung von Störungsereignissen:Während in der Krisensoziologie das Einzelereignis hinterTheorieapparaturen verschwinden, die das Eintreten derKrise prädestinieren (was der Theorie dann den berechti-gen Vorwurf des Determinismus einbringt), ist die Kata-strophensoziologie sensibler für die Ereignischarakter derStörung und für ihre Historizität und letztendlich offenerfür die Erfassung kausaler Zusammenhänge im Feld.

Es gibt eine ganze Reihe weiterer soziologischer Spe-zialinteressen an Störungen, die quer liegen zu den da-mit ganz grob angedeuteten Schwerpunktensoziologischer Beschäftigung mit Krisen und Katastro-phen: eine Risikosoziologie, die nach ihrer ersten Hoch-phase Ende der 80er Jahre gegenwärtig eineerstaunliche Renaissance erlebt, eine alltagssoziologi-sche Beschäftigung mit „ordinary troubles“ (Erving Goff-man), eine florierende Forschung zu Stress- undBelastungssituationen in Organisationen, Gruppen undFamilien, organisationswissenschaftliche Studien zur Un-fallträchtigkeit soziotechnischer Systeme, große interdis-ziplinäre Forschungszusammenhänge zur Anfälligkeit vonVerkehrs- und Kommunikationssystemen und vielesmehr.

Was demgegenüber fehlt, ist ein übergreifender sozio-logischer Rahmen für die Beschäftigung mit kleinen undgroßen Störungen, mit dem Effekt externer Singularitätenauf und krisenhaften Prozessen in sozialen Ordnungszu-sammenhängen. Die Sozialtheorien des Faches bietenhierfür bislang unzureichende Unterstützung. Die inter-disziplinäre Verwendung und Anschlussfähigkeit von Kri-sen-, Katastrophen- und Störungsbegriffen bietet inbesonderem Maße die Chance, von dem zu lernen, wasandere Disziplinen – evolutionäre Anthropologie, Psycho-logie, Verhaltensbiologie, Wirtschafts- und Geschichts-wissenschaften, interdisziplinäre Organisations-forschung, Soziophysik – an Erkenntnissen über die Stö-rungsanfälligkeit und Störungsverarbeitung sozialer Ord-nung anzubieten haben. In dem Maße, wie sich in derSoziologie gegenwärtig die Illusion auflöst, die Grundla-gen sozialer Ordnung in der Einsamkeit der eigenenSchreibstuben bestimmen zu können, steigen Soziologin-nen und Soziologen engagierter als bislang in interdiszi-plinäre Forschungszusammenhänge über Krisen,Katastrophen und Störungen aller Art ein. Gerade in derFortentwicklung ihres grundlagentheoretischen Kernswird die Soziologie hiervon profitieren.

Die Beschäftigung mit Krisen und Katastrophen wirdvor diesem Hintergrund weniger als eine Gelegenheit er-scheinen, die öffentliche Diskussion mit spontanen Ein-sichten auf der Basis vermeintlich gesichertensoziologischen Grundlagenwissens zu bereichern. Siebietet stattdessen eine Gelegenheit, soziologischesGrundlagenwissen zu revidieren und mittelfristig dabeiauch seine konfessionelle Fragmentierung zu überwin-den.

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Antwort von Dr. Hendrik VollmerAkademischer Oberrat & Redakteur

der Zeitschrift für Soziologie

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Herausforderungen soziologischer Forschung gibt es viele– und sie sind zunächst auch gar keine Besonderheit desThemas ‚Katastrophen’. Die soziologische Erforschung vonKatastrophen steht jedoch vor einigen besonders vertrack-ten Problemen, von denen hier ein ganz grundsätzlichesknapp behandelt werden soll: Wie lassen sich Katastropheneigentlich zum Gegenstand soziologischer Forschung ma-chen?

Die so gestellte Frage deutet schon auf eine dahinter lie-gende These hin. Dass nämlich, Katastrophen nicht zumgenuinen Gegenstandsbereich der Soziologie gehören, siealso nicht immer schon Gegenstand soziologischer For-schung sind, sondern sie stattdessen erst zu einem soziolo-gischen Gegenstand gemacht werden müssen. Wenn manSoziologie – ganz einfach – als Wissenschaft von Sozialitätund dementsprechend der zwischenmenschlichen Bezie-hungen versteht, so lassen sich Gespräche, Gruppen, Fami-lien, Organisationen bis hin zu ganzen Gesellschaften undderen Teilbereiche als mehr oder weniger komplexe, mehrkonkrete oder mehr abstrakte, mehr persönliche oder mehrversachlichte Formen zwischenmenschlicher Beziehungenauffassen und allesamt als Gegenstände der Soziologieidentifizieren. Für Katastrophen gilt dies zunächst nicht ingleicher Weise. Wie dann aber eine soziologische Perspekti-ve auf Katastrophen gewinnen?

Katastrophen sind ein wenig spezifisches Phänomen.Ganze Bücher beschäftigen sich mit der Frage: „What is adisaster?“1 Angesichts der Vielfalt dessen, was üblicherwei-se als Katastrophe behandelt wird, wundert dies nicht.Zahlreiche Naturereignisse wie Erdbeben, Tsunamis, Über-schwemmungen und Dürren, oder das Klima insgesamt,aber auch technisch bedingte Probleme, wie atomare oderchemische Verschmutzungen, Zug- oder Flugzeugunglücke,bis hin zu den Aufregern der Nahwelt (etwa die mangelndeErreichbarkeit des Telefonanbieters) – all dies hat Katastro-phenpotential. Auf den ersten Blick ist an diesen beliebigerweiterbaren Beispielen allerdings kaum etwas Allgemei-nes zu erkennen, noch erschließt sich unmittelbar, worindie Beziehungsqualität und damit die soziologische Rele-vanz liegen könnte. Es bedarf einer kurzen Vergewisserungüber Katastrophen, um einen soziologischen Zugang zu ih-nen zu gewinnen.

Man kann wohl sagen, dass Katastrophen immer dortvorliegen, wo die Folgen eines Ereignisses als katastrophalgedeutet werden. Ereignis und Folgenbewertung könnendemnach als die beiden konstitutiven Bedingungen für Ka-tastrophen verstanden werden – und sie sind zugleich dieentscheidenden Ansatzpunkte für einen soziologischen Zu-griff auf das Katastrophenthema. So ist zwar ein Wirbel-sturm kein zwischenmenschliches Ereignis, dieEvakuierung bedrohter Gebiete, die Vorhersage über den zuerwartenden Verlauf, sowie die Koordinierung von Ret-tungsmaßnahmen basieren jedoch sehr wohl auf organisa-tionalen Leistungen und damit auf einer spezifischen Formzwischenmenschlicher Beziehungen. Und die Einschätzung,ob eine Nutzung von Pflanzen zur Gewinnung von Kraftstoffnun besonders fortschrittlich oder aber katastrophal ist,

mag historisch sowie je nach Kontext variieren – ja sogarumstritten sein. In jedem Fall aber ist sie Gegenstand derzwischenmenschlichen Aushandlung einer angemessenDeutung.

Vor diesem Hintergrund wird einerseits deutlich, dass alldie persönlichen Katastrophen (verstorbene Haustiere,nicht bestandene Prüfungen, etc.) nicht Gegenstand sozio-logischer Analyse sein können, soweit sie eben persönliche,also individuell relevante, Ereignisse betreffen. Anderer-seits lassen sich nun aber auch mindestens vier Perspekti-ven benennen, die für eine soziologische Betrachtung vonKatastrophen in Frage kommen: Die erste Perspektive in-teressiert sich für das Zustandekommen der Ereignissebzw. der Folgen eines Ereignisses. Was führte dazu, dassdas Schiff sank, die Stadt auf den angekündigten Sturmnicht hinreichend vorbereitet war, die Raumfähre abstürzte,usw.? Eng mit dieser ersten Perspektive verbunden ist einezweite, die sich für die Bearbeitung der Ereignisse bzw. de-ren Folgen (also der Schäden) interessiert: Wie wurden Ret-tungseinsätze koordiniert, welche politischen Initiativenfolgten aus Unglücken in Atomkraftwerken, welche Netz-werkstrukturen kompensierten den Ausfall staatlicher Un-terstützungsstrukturen etc. Hier könnten dann auch diepersönlichen Katastrophen wieder einen Platz finden, wennman sich für gesellschaftlich institutionalisierte Formen derUnterstützung zur Bewältigung solcher Ereignisse interes-sierte. Die Analyse führte dann auf professionssoziologi-sches Terrain. Die gleichen hier auf das jeweilige Ereignisbezogenen Fragen, lassen sich auch auf die Bewertung an-wenden. Die dritte Perspektive fragt daher: Wie kommt dieBewertung eines Ereignisses als katastrophal zustande, ge-gen welche Widerstände hat sich eine solche Bewertung zubewähren, mit welchen Beschreibungen konkurriert sie,etc.? Und ebenso mag viertens interessieren, wie mit ent-sprechenden Bewertungen umgegangen wird, bzw. welcheFolgen sich aus den entsprechenden Bewertungen erge-ben: Welche Konsequenzen hat es für BP, wenn sie für dieVerschmutzung weiter Teile des Golfs von Mexiko verant-wortlich gemacht wird – und wie wird damit umgegangen?

All diese Perspektiven machen nicht ‚die’ Katastrophezum Gegenstand soziologischer Betrachtungen, sondernnutzen Katastrophen (im Sinne von als katastrophal gedeu-tete Ereignisse), um etwas über die Funktionsweise undMechanismen soziologischer Gegenstände – eben Famili-en, Netzwerke, Organisationen, Gruppen, Interaktionen, Po-litik, Medien, Wissenschaft, etc. – zu lernen. Führt mansich diese Differenz vor Augen, gelangt man einerseits zusoziologisch interessanten Fragestellungen und anderer-seits zu der Einsicht, dass von der soziologischen Katastro-phenforschung keine Theorie der Katastrophe, sondernvielmehr ein Beitrag zu den jeweiligen Theorien der Netz-werke, Organisationen, Politik, etc. zu erwarten ist.

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[1] Siehe nur Quarantelli, E.L. (Hrsg.), 1998: What is a disaster?Perspectives on the question. London: Routledge; sowie: Perry, R.W. & E.L.Quarantelli (Hrsg.), 2005: What is a disaster? New answers to oldquestions. Philadelphia, Pa.: Xlibris.

Antwort von Dr. Sven KetteWissenschaftlicher Mitarbeiterbei Prof. Dr. Tacke

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GEDICHTE

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Becker, Howard S. 2000: DieKunst des professionellenSchreibens. Ein Leitfaden für dieGeistes- und Sozialwissenschaf-ten. Frankfurt/New York: CampusVerlagISBN: 3593367106, 15,90€.

Das Schreiben wissenschaftlicherTexte ist für viele die größte Heraus-forderung im Studium und wir sindständig mit ihr konfrontiert. Hausar-beit reiht sich an Referatsausarbei-tung und dazwischen muss noch einEssay fertig werden. So verbergensich hinter den alltäglichen Klagender Mitstudierenden nicht seltenSchreibprobleme, auch wenn dar-über selten offen geredet wird. Dabeisind diese ganz normal. Ob Erstioder Professor, das Schreiben wis-senschaftlicher Texte dürfte den We-nigsten wirklich leicht fallen. Selbstmit viel Übung ist jeder Text eineneue Herausforderung. Diesen Über-legungen folgt auch der amerikani-sche Soziologe Howard Becker inseinem Ratgeber zum wissenschaft-lichen Schreiben, der in der deut-schen Übersetzung den etwaspathetischen und unpassenden Titel„Die Kunst des professionellenSchreibens“ trägt.

Das Buch liest sich schnell, ist un-terhaltsam und lässt sich gut in dasLektürepensum des Unialltags inte-grieren. Man lernt zum Beispiel,warum man im Laufe seines Studi-ums so viele komplizierte und teilsschwer verständliche Texte lesenmuss. Howard Becker führt einemdie Zwänge, Chancen und Anreize

vor Augen, denen das Schreiben imakademischen Kontext ausgesetztist: eine Soziologie des Schreibens.Er gewährt dem Leser außerdemeinen interessanten Blick auf dieHinterbühne der wissenschaftlichenTextproduktion, indem er etwa offen-legt, wie er selbst Texte schreibt –doch man findet auch interessanteErfahrungsberichte anderer Autorenund Autorinnen.

Viele Mythen des Schreibens wer-den im Buch als solche entlarvt. Soist der Irrtum verbreitet, dass guteAutoren mit einer klaren Vorstellungstarten, oft nur eine Textfassungschreiben und diese kaum umarbei-ten. Folgt man Beckers Ratschlag,müsse man jedoch, bevor man mitdem ersten Textentwurf beginnt,noch nicht einmal genau wissen, wasman schreiben will: Der erste Ent-wurf sollte nicht der Darstellung vonwissenschaftlichen Ergebnissen die-nen, sondern der Entdeckung, alsoder eigenen Aufklärung darüber, wasman eigentlich schreiben will. Es gibtsomit mehrere Phasen, in denenganz verschiedene Textfassungenentstehen, bis man schließlich einenfertigen Text hat. Zu diesem führenganz verschiedene Wege, von deneneinige aufgezeigt werden. Dadurchvermittelt Becker eine gesunde Ein-stellung dem Schreiben gegenüber,denn er korrigiert falsche Vorstellun-gen und unangemessene Erwartun-gen, die dem Schreibprozess ofthinderlich sind. Auch die kompliziertewissenschaftliche Sprache wird aufsKorn genommen und ist laut Beckerin der Regel nicht nötig. Klarheit im

Ausdruck sei immer zu bevorzugen.Zudem regt Becker die Reflexion dar-über an, was für ein Schreibtyp maneigentlich selber ist. Weitere prakti-sche Tipps beziehen sich auf den Ar-gumentations- und Textaufbau, dieErarbeitung einer gelungenen Einlei-tung und das Überarbeiten von Ent-würfen. Letzteres sollte man nichtallein machen, Becker wirbt für daswechselseitige Lektorieren von Ent-würfen. Selbst einige sprachlicheTipps findet man, auch wenn dasBuch keine Stillehre ersetzt (empfeh-lenswert ist Schneider 2005).

Die Anschaffung von Beckers Buchdürfte sich für viele lohnen und dasnicht erst zur Bachelor-Arbeit.Schließlich ist das universitäre Ange-bot zum Schreiben lernen sehr dürf-tig, dabei würde mehr davon vieleneine willkommene und hilfreiche Ab-wechslung sein. Ein vielversprechen-des Modell stellt die„Schreibwerkstatt“ dar, die von Tho-mas Hoebel im Wintersemester2012/13 zum ersten Mal angebotenwurde. Ein solches Seminar findetman hoffentlich bald in allen Fach-bereichen in ausreichender Zahl.Alexander Engemann

erwähnte Literatur:Schneider, Wolf (2005): Deutsch für Kenner:Die neue Stilkunde. München: Piper Taschen-buch, ISBN: 3492244610, 9,95€.

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LESEEMPFEHLUNG

Typische Schreibprobleme: Kann Becker Abhilfe schaffen?

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