Kritik des Interventionismus

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Ludwig von Mises

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Untersuchungen zur Wirtschaftspolitik und

 Wirtschaftsideologie derGegenwart

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Dieser Nachdruck basiert auf einer Neuauflage von “Kritik des Interventionismus“, die die Wis-

enschaftliche Buchgesellschaftshg

Darmstadt 1976erausgegeben hat, und die wiederum ein repro-rafischer Nachdruck der Ausgabe Jena 1929 ist.

Bibliografische Information der Deutschen Nati-onalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet die-se Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-grafie; detaillierte bibliografische Daten sind imInternet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2013 H. Akston Verlags GmbH, München

Foto Umschlagseite: Mises Institute, Auburn, US Alabama

ISBN: 978-3-9816008-0-3

 Alle Rechte vorbehalten.

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Inhaltsverzeichnis Seite

 Vorwort von Thorsten Polleit ......................................9

 Vorwort von Ludwig von Mises .................................19

Interventionismus

I. Der Interventionismus als Wirtschaftssystem ......21II. Das Wesen der Eingriffe .......................................23III. Die produktionspolitischen Eingriffe ..................28IV. Die preispolitischen Eingriffe ..............................32 V. Destruktion als Ergebnis derInterventionspolitik ...................................................41 VI. Die Doktrin des Interventionismus .....................49 VII. Das historische und das praktische Argument fürden Interventionismus ...............................................58 VIII. Neue Schriften über Probleme desInterventionismus ......................................................62

Gebundene Wirtschaft

I. Die herrschende Lehre von der gebundenen Wirtschaft ...................................................................77II. Schmalenbachs These ...........................................86

Sozialliberalismus

Einleitung ...................................................................94I. Der Kathedersozialismus .......................................97II. Liberalismus und Sozialliberalismus ..................104III. Macht oder ökonomisches Gesetz? ....................112IV. Der Methodenstreit .............................................117 V. Die nationalökonomischen Doktrinen des

Sozialliberalismus ....................................................123

 VI. Der Begriff der Sozialpolitik und die Krise

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 Vorwort

Ludwig von Mises (1881 – 1973) ist der herausra-gende Vertreter der Österreichischen Schule der Nati-onalökonomie. Diese Stellung kommt ihm vor allemdurch seine vier (Haupt-)Werke zu: die Habilitations-schrift Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel (1912); das umfangreiche Werk  Gemeinwirtschaft.Untersuchungen über den Sozialismus (1922); seinMagnum Opus  Nationalökonomie. Theorie des Han-delns und Wirtschaftens (1940), das im Jahr 1949 inüberarbeiteter Form in englischer Sprache mit demTitel  Human Action, A Treatise on Economics er-schien; und Theory and History. An Interpretation of  Social and Economic Evolution (1957). Eine ganz besonders beeindruckende Leistung ist, dass Mises diephilosophische und erkenntnistheoretische (epistemo-logische) Basis der Wirtschaftswissenschaften ab-schließend er- und geklärt hat: Mises rekonstruiertedie Wirtschaftswissenschaft als aprioristische oderaxiomatisch-deduktive Wissenschaft: als  Logik desmenschlichen Handelns, die er als  Praxeologie be-zeichnete.1

Mises zeigte, dass die Wirtschaftswissenschaftnicht etwa eine Erfahrungswissenschaft  ist, sonderndass ihre Aussagen a priori, also von der Erfahrungunabhängig sind. Alle grundlegenden ökonomischenTheoreme können, so Mises, aus einem einzigen Axi-om, dem Axiom des menschlichen Handelns, abgelei-tet werden. Dieses Axiom ist von besonderer Art: Eslässt sich nicht widerlegen, es ist unzweifelhaft oder

1 Siehe hierzu Hoppe, H.-H. (1993), Einführung: Lud-

 wig von Mises und der Liberalismus, sowie vor allem Hüls-mann, J. G. (2007), The Last Knight of Liberalism; zur Me-thode von Mises siehe Hoppe, H.-H. (2007), EconomicScience and the Austrian Method.

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apodiktisch wahr. Man kann nicht widerlegen, dassder Mensch handelt. Wer so argumentiert, handelt –und widerspricht damit seiner Aussage, der Menschkönne nicht handeln. Das Axiom des menschlichenHandelns ist folglich eine wahre, nicht-hypothetische Aussage. Von ihr lassen sich auf logisch-deduktivem Wege (unter Zuhilfenahme empirischer Annahmen) Aussagen ableiten, die wiederum unbestreitbar wahr

sind: Aussagen, die immer und überall, unabhängig von Ort und Zeit, Allgemeingültigkeit besitzen.

Mises arbeitete heraus, dass zum Beispiel diefolgenden Kategorien im Axiom des menschlichenHandelns enthalten sind beziehungsweise in diesem Axiom mitgedacht  werden: Mittel, Zweck, Kosten,Gewinn, Verlust, Zeit, Zeitpräferenz, Unsicherheit,Knappheit, Ursache-Wirkungsbeziehung (Kausalität). Auch das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen, dasheute allgemein als Grundlage der Preis- und Wert-theorie anerkannt ist, lässt sich logisch-deduktiv vom Axiom des menschlichen Handelns ableiten. Mises‘ wissenschaftstheoretische beziehungsweise praxeolo-

gische Erkenntnisse sind keine intellektuelle Spielerei.Sie haben einen ganz konkreten, relevanten Bezug zurmenschlichen Lebensrealität. So lassen sich zum Bei-spiel – ausgehend vom Axiom des menschlichen Han-delns – folgende Aussagen formulieren, die unzwei-felhaft wahr sind: Freiwilliger Tausch ist für die amTausch beteiligten Personen vorteilhaft; bei Besteue-rung wird der Besteuerte zu Gunsten des Steueremp-fängers schlechter gestellt; ein Mindestlohn, der höherist als der markträumende Lohn, führt zur (Zwangs-)Arbeitslosigkeit; ein Ausweiten der Geldmenge senktden Tauschwert der Geldeinheit ab (und zwar not- wendigerweise unter das Niveau, das bestehen würde,

 wenn die Geldmenge unverändert bliebe); ein Auswei-ten der Geldmenge ist niemals neutral : es bereichertden Erstempfänger des neuen Geldes zu Lasten derje-nigen, die das neue Geld erst zu einem späteren Zeit-

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punkt erhalten oder gar nichts davon abbekommen.Die praktisch-politischen Folgerungen, die sich ausMises‘ praxeologischem Lehr- und Forschungsansatzableiten lassen, sind überaus weitreichend, vor allemauch in (wirtschafts-)politischer Hinsicht.

Denn sie entzaubern so manch wohlklingendesPolitikversprechen als falsch – so etwa die These, dassdie Marktwirtschaft, die freiwillige Tauschwirtschaft,

„ungerecht“ sei; dass Mindestlöhne „gerecht“ seienund die Realeinkommen aller Arbeitnehmer erhöhen;dass ein Ausweiten der Geldmenge notwendig sei,damit die Volkswirtschaft überhaupt wachsen könne;dass eine Erhöhung der Geldmenge den Tauschwertdes Geldes nicht verringere und keinen Einfluss auf die Einkommens- und Vermögensteilung nehme. Alldiese Behauptungen können, ausgehend vom Axiomdes menschlichen Handelns, mittels logisch-deduktiver Schlussfolgerungen als unwahr zurückge- wiesen werden. Man muss derartige Heilsverspre-chungen auch nicht in der Praxis ausprobieren („tes-ten“), um zu erkunden, ob sie wahr sind, ob sich also

die versprochenen Wirkungen tatsächlich erreichenlassen. Die Antworten sind aus praxeologischer Sicht vielmehr mit Gewissheit im Voraus bekannt.

Eine solche Wirtschaftswissenschaft war natürlichmit dem Zeitgeist des 20. Jahrhunderts unvereinbar,ein Zeitalter, in dem unfreiheitliche, staatsallmächtigeSysteme vorherrschten: Kommunismus, Sozialismus,Faschismus, Nationalsozialismus und nachfolgendsozialdemokratischer Sozialismus. Vor allem aufgrundMises‘ kritischer Haltung gegenüber dem Staat – Mi-ses sprach sich für ein enges Beschränken der Staats-funktion auf den Erhalt des Privateigentums und derPrivatrechtsordnung aus – konnte sich sein Lehr- und

Forschungsansatz in den staatlich beherrschten Bil-dungsstätten, von der Schule angefangen bis hin zurUniversitätsausbildung, nur schwer oder gar nicht verbreiten. Dieser „Ausschluss“ der Österreicher vom

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Bildungsbetrieb dürfte sich mit der Fortentwicklungund der logisch-konsistenten „Radikalisierung“ derPraxeologie durch seinen Schüler Murray N. Rothbard(1926 – 1995) noch verstärkt haben. Bis heute ist Mi-ses‘ Praxeologie daher eine wissenschaftstheoretischeRanderscheinung geblieben, spielt im wirtschaftswis-senschaftlichen Betrieb meist keine Rolle, ja ist viel-fach sogar gänzlich unbekannt.

Im Jahr 1929 veröffentliche Mises die Aufsatz-sammlung  Kritik des Interventionismus. Untersu-chungen zur Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsideo-logie der Gegenwart .2 Was genau versteht Mises un-ter Interventionismus? Um diese Frage zu beantwor-ten, bietet es sich zunächst an, sich in Erinnerung zurufen, was Sozialismus und Kapitalismus im Kernausmacht.  Sozialismus, so Mises, ist das Gemeinei-gentum der Produktionsmittel: Es gibt kein Privatei-gentum, über die Produktionsmittel verfügt das Kol-lektivs. Kapitalismus ist ein System, in dem Sonderei-gentum an den Produktionsmitteln herrscht: EinzelnePersonen sind Eigentümer der Produktionsmittel.

 Interventionismus ist für Mises ein „Mischsystem“,„ein System des durch Eingriffe der Regierung undanderer gesellschaftlicher Zwangsmächte (z. B. derGewerkschaften) beschränkten, geregelten und gelei-teten Sondereigentums. Die Wirtschaftspolitik, diediesem Ideal zustrebt, nennen wir Interventionismus,das System selbst die Gebundene Wirtschaft.“ FürMises ist der Interventionismus folglich ein System, indem das Privateigentum zwar nominell besteht, der

2 Mises veröffentlichte von 1928 bis 1931 Artikel zu den

erkenntnistheoretischen Grundlagen der Wirtschaftswissen-schaft. 1933 erschienen diese Beiträge in dem Buch  Proble-me der Nationalökonomie (nachdem Mises Kapitel eins undsieben hinzugefügt hatte). Es erschien als englischsprachigeÜbersetzung 1960 mit dem Titel  Epistemological Problemsof Economics.

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Staat aber in das Marktgeschehen eingreift, um „wün-schenswerte(re)“ Ergebnisse zu erzielen.

Mises bahnbrechende Einsicht war nun, dass jeder Markteingriff des Staates kontraproduktiv ist.Der Interventionismus kann nämlich die Ziele, dieseine Befürworter mit ihm vorgeben erreichen zu wol-len, nicht realisieren. Er zwingt die Menschen, sich ineiner Weise zu verhalten, wie sie sich aus wohlver-

standenem Eigeninteresse nicht verhalten wollen.Folglich versuchen die Betroffenen, sich dem auf sieausgeübten Zwang zu entziehen. Führt der Staat zumBeispiel einen Höchstpreis für Milch ein, um dieMilchversorgung zu verbessern, und liegt dieserHöchstpreis unterhalb des markträumenden Preises,so nimmt das Milchangebot ab. Die Versorgung mitMilch verschlechtert sich, weil die weniger produkti- ven Milchproduzenten aus dem Markt ausscheidenmüssen; ihre Leistungsfähigkeit reicht nicht aus, beimMindestpreis rentabel produzieren zu können. DieTatsache, dass der Interventionismus seine Ziele nichterreicht, überzeugt seine Befürworter jedoch nicht

etwa von seiner Unmöglichkeit. Es bestärkt sie viel-mehr in ihrem Eifer: Sie fordern „weitergehende“,„bessere“ und „innovativere“ Interventionen: „Daß dasSystem schlecht funktioniert, schreibt er ausschließ-lich dem Umstande zu, daß die Gesetze nicht weitgenug gehen und daß ihre Durchführung durch Kor-ruption behindert wird. Gerade der Mißerfolg derInterventionspolitik bestärkt ihn in der Überzeugung,daß das Sondereigentum durch strenge Gesetze kon-trolliert werden müsse. Die Korruption der mit der Ausführung der Staatsaufsicht betrauten Organe er-schüttert nicht sein blindes Vertrauen in die Unfehl- barkeit und Makellosigkeit des Staates; sie erfüllt ihn

nur mit moralischem Abscheu gegenüber den Unter-

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nehmern und Kapitalisten.“3 Um im obigen Beispielder Milchpreiskontrolle zu sprechen: Sinkt das Milch-angebot aufgrund des Mindestpreises, müsste derStaat, der ja die Milchversorgung zu niedrigeren Prei-sen sicherstellen will, zum Beispiel die Produktions-kosten der Milchproduzenten senken – etwa durchHöchstpreise für Tierfutter und agrarische Landflä-chen. Eine Interventionismusspirale gerät so in Gang,

durch die das System der freien Märkte immer weiterzerstört und in letzter Konsequenz durch eine Staats-und Befehlswirtschaft ersetzt wird.

In  Kritik des Interventionismus zeigt Mises auf,dass ein „dritter Weg“ der gesellschaftlichen- wirtschaftlichen Organisation, der versucht, sich zwi-schen Sozialismus und Kapitalismus zu bewegen –heute würde man im deutschsprachigen Raum „sozia-le Marktwirtschaft“ dazu sagen – notwendigerweisescheitern muss. Denn, so Mises, das Bestreben, das„Gute“ und „Wünschenswerte“ von Kapitalismus undSozialismus zu nutzen und gleichzeitig das „Schlechte“und „Unwünschenswerte“ dieser Systeme auszuschal-

ten – wie es der Interventionismus anstrebt –, ist un-möglich. Der Interventionismus ist keine dauerhafteOrganisationsform gesellschaftlicher Kooperation.Eine Gesellschaft, die sich auf den Interventionismuseinlässt, wird, wenn sie an ihm festhält, früher oderspäter in einem sozialistisch-totalitären System en-den; oder sie lässt vom Interventionismus ab, dannaber muss sie sich dem Kapitalismus zuwenden – demSystem des unbedingten Respekts des Privateigen-tums. Ein Mittelweg zwischen Sozialismus und Kapi-talismus ist dauerhaft eben nicht möglich.

 Wohl in keinem anderen Bereich lassen sich diedestruktiven Konsequenzen des Interventionismus so

deutlich erkennen wie im staatlich beherrschten Geld-

3 Mises, L. v. (1976), Interventionismus, S. 15.

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system. Die staatliche Monopolisierung der Geldpro-duktion und das Verwenden von Papier- oder „Fiat“-Geld, das durch Bankkredite in Umlauf gebracht wird,die nicht durch echte Ersparnisse gedeckt sind, führtnicht nur zu Inflation und einer nicht-marktkonformen (Um-)Verteilung. Es führt auch zuFehlinvestitionen, Kapitalaufzehrung, „Boom-und-Bust“-Zyklen, wachsender Überschuldung und vor

allem zu einem sich immer weiter ausdehnendenStaatsapparat zu Lasten der Privatwirtschaft. DasFiat-Geld ist nicht nur eine Schöpfung des Interventi-onismus, es dient ihm geradezu als Katalysator – undtreibt damit Entwicklungen voran, die großes Übel mitsich bringen: Zerrüttung oder gar Zerstörung der frei-heitlichen Ordnung, vor allem auch durch Geldwert-zerstörung. Bereits 1922 schrieb Mises: „Die destruk-tionistische Politik des Interventionismus und Sozia-lismus hat die Welt in schwere Not gestürzt. Ratlosstehen die Politiker der Krise gegenüber, die sie he-raufbeschworen haben. Und sie wissen keinen ande-ren Ausweg zu empfehlen als neue Inflation, oder, wie

man in der jüngsten Zeit zu sagen pflegt, Re-Deflation.Die Wirtschaft soll „angekurbelt“ werden durch neuezusätzliche Bankkredite (…).“4

Mit seinem praxeologischen Ansatz konnte Miseszeigen, dass ein (Schein-)Aufschwung, angetriebendurch ein Ausweiten der Zirkulationskredit- und Fiat-Geldmenge, früher oder später zusammenbrechenmuss, und mit ihm auch die Wirtschafts- und Gesell-schaftsstruktur, die sich im Zuge eines solchen „Kre-dit-Booms“ aufgebaut hat. Denn „endlos hätte manden Aufschwung der Konjunktur durch Festhalten ander Kreditausweitung nicht verlängern können. Frü-her oder später muss es zum Zusammenbruch des

durch die Kreditausweitung ausgelösten Aufschwungs4 Mises, L. v. (2007), Gemeinwirtschaft. Untersuchun-

gen über den Sozialismus, S. 461.

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kommen, und der Anpassungsprozess, den man Nie-dergang der Konjunktur nennt, wird umso schmerzli-cher sein und umso mehr Zeit beanspruchen, je längerdie Kreditausweitung fortgesetzt worden war und jegrösser der Umfang der durch sie bewirkten Kapital-fehlleitung gewesen ist.”5 Mises Worte finden in derinternationalen Finanz- und Wirtschaftskrise, die seitMitte 2007 nahezu alle großen Volkswirtschaften der

 Welt ergriffen hat und die unmittelbare Folge desInterventionismus ist, ihre aktuelle Entsprechung.

Der Jahrzehnte währende Interventionismus hatmittlerweile alle Wirtschafts- und Gesellschaftsberei-che erfasst und durchdrungen – sei es das Bildungs- wesen, das Gesundheitswesen, die Altersvorsorge, dieGerichtsbarkeit, die innere Sicherheit oder das Geld-und Kreditsystem. Er hat dabei einen „SozialismusLight“ hervorgebracht, dem das gleichen Schicksal beschieden ist wie den sozialistisch-kommunistischenRegimen Osteuropas gegen Ende der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts – eine Einsicht, die Misesunmissverständlich bereits in  Kritik des Interventio-

nismus formuliert hat. Mises Schrift könnte also aktu-eller nicht sein. Sie kann die Ursache der aktuellen wirtschaftlichen Missstände zweifelsfrei erklären: dasEingreifen des Staates in das Marktgefüge. Und siezeigt auch den einzigen gangbaren Ausweg aus derMisere auf: die Rückkehr zu einem System der freienMärkte. Dass Mises‘ Kritik des Interventionismus nun wieder als Buch erhältlich ist, sollte nicht nur ein pro-duktiver Beitrag zur Bewältigung der aktuellen Krisesein, in der sich die meisten Volkswirtschaften heute wiederfinden. Es könnte vor allem auch helfen, dasInteresse an Mises wissenschaftstheoretischen Arbei-ten wiederzubeleben, der Praxeologie, und damit eine

intellektuell überzeugende (Auf-)Lösung der „Krise

5 Mises, L. v. (1940), Nationalökonomie, S. 524.

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der Wirtschaftswissenschaften“ zu ermöglichen. Dassdas Buch neu erscheinen kann, ist vor allem das Ver-dienst von Andreas Marquart, Vorstand des Ludwig von Mises Institut Deutschland. Ihm ist an dieserStelle für seine Tatkraft und sein besonderes Engage-ment zu danken.

Thorsten Polleit

Präsident des Ludwig von Mises Institut Deutschland München, Mai 2013

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 Vorwort des Verfassers

Die Kämpfe, die zwischen Völkern und Staatenund innerhalb der einzelnen Völker und Staaten vonParteien, Kliquen und Koterien ausgetragen werden,nehmen unsere Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch,daß wir darüber übersehen, daß alle Streitteile, unge-achtet der Erbitterung, mit der sie sich befehden, heu-te dieselben wirtschaftspolitischen Grundsätze befol-gen. Selbst die Befürworter der Vergesellschaftung derProduktionsmittel sind da nicht auszunehmen, seit sie– zuerst die Anhänger der zweiten Internationale,dann aber auch die Anhänger der dritten Internat-ionale durch den Übergang zum Nep-System – zu-mindest für die Gegenwart und die nächste Zukunftauf die Durchführung ihres Sozialisierungsprogramms verzichtet haben. Nahezu allen Schriftstellern, die sichmit den Problemen der Wirtschaftspolitik befassen,und nahezu allen Staatsmännern und Parteiführernschwebt als Ideal ein System vor, das, wie sie glauben, weder kapitalistisch noch sozialistisch, weder Sonder-eigentum an den Produktionsmitteln noch Gemeinei-gentum an den Produktionsmitteln ist: ein System desdurch Eingriffe der Regierung und anderer gesell-schaftlicher Zwangsmächte (z. B. der Gewerkschaften) beschränkten, geregelten und geleiteten Sondereigen-tums. Die Wirtschaftspolitik, die diesem Ideal zu-strebt, nennen wir Interventionismus, das Systemselbst die Gebundene Wirtschaft.

In der Bejahung dieses Programms begegnensich Moskau und der Faszismus, stimmen die christli-chen Kirchen und Sekten aller Spielarten untereinan-der und mit den Mohammedanern Angoras und In-diens, mit Hindus, Buddhisten und Anhängern deranderen asiatischen Kultgemeinschaften überein. Und

 wer die Programme und die Handlungen der politi-schen Parteien Deutschlands, Englands und der Ver-

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einigten Staaten betrachtet, wird finden, daß Unter-schiede zwischen ihnen nur in bezug auf das Wie,nicht auch in bezug auf das Ob des Interventionismus bestehen.

Die fünf folgenden Abhandlungen und Aufsätze bilden in ihrer Gesamtheit eine Kritik der interventio-nistischen Wirtschaftspolitik und der ihr zugrundelie-genden Ideologien. Vier von ihnen habe ich im Laufe

der letzten Jahre – drei in Zeitschriften, einen imHandwörterbuch der Staatswissenschaften – veröf-fentlicht. Der zweite Aufsatz, der sich unter anderemauch mit den vor Jahresfrist veröffentlichten TheorienSchmalenbachs befaßt, erscheint hier zum erstenmal.

 Wien, im Juni 1929.Ludwig von Mises

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Interventionismus6

I. Der Interventionismus als Wirtschafts-system.

Seit die Bolschewiken ihren Versuch, das sozialisti-sche Gesellschaftsideal mit einem Schlag in Rußland

zu verwirklichen, aufgegeben haben und an die Stelleihrer ursprünglichen Politik die »neue Wirtschaftspo-litik«, die »Nep«, haben treten lassen, ist in der gan-zen Welt nur noch ein System praktischer Wirt-schaftspolitik am Werke: das System des Interventio-nismus. Ein Teil der Anhänger und Befürworter desInterventionismus hält ihn nur für ein vorläufigesSystem der Wirtschaftspolitik, das nach einer be-stimmten – längeren oder kürzeren – Zeit einem an-deren, und zwar dem Sozialismus irgendeiner Spiel-art, Platz machen soll; hierher gehören alle marxisti-schen Sozialisten, einschließlich der Bolschewiken,aber auch die konservativen Sozialisten der verschie-

denen Richtungen. Andere wieder sind der Meinung,daß wir es mit dem Interventionismus mit einem auf die Dauer berechneten System zu tun haben. Diese Verschiedenheit in der Beurteilung der zeitlichen Gel-tung der interventionistischen Politik hat aber für dieGegenwart nur akademische Bedeutung. Denn alleseine Anhänger und Befürworter sind doch darin ei-nig, daß er für die nächsten Jahrzehnte und vielleichtauch Menschenalter die richtige Politik sei. Sie sehenmithin im Interventionismus eine Wirtschaftspolitik,die zumindest eine gewisse Zeit hindurch zu bestehen vermag. Der Interventionismus will das Sondereigen-tum an den Produktionsmitteln beibehalten, dabei

 jedoch das Handeln der Eigentümer der Produkti-6 Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 56.

Bd., 1926.

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onsmittel durch obrigkeitliche Gebote, vor allem aberdurch obrigkeitliche Verbote, regulieren. Wenn dieseobrigkeitliche Leitung des Handelns der Eigentümerder Produktionsmittel und der mit Zustimmung derEigentümer über sie verfügenden Unternehmer so weit geht, daß alle wesentlichen Verfügungen auf Grund obrigkeitlicher Weisung vorgenommen wer-den, so daß nicht mehr das Gewinnstreben der

Grundeigentümer, Kapitalisten und Unternehmer,sondern die Staatsräson darüber entscheidet, was und wie produziert wird, dann haben wir Sozialismus voruns, mag auch der Name des Sondereigentums erhal-ten bleiben. Sehr richtig sagt Spann von einem soeingerichteten Gemeinwesen, daß es dort zwar »for-mell Privateigentum, der Sache nach aber nur Ge-meineigentum gibt«7. Gemeineigentum an den Pro-duktionsmitteln ist aber nichts anderes als Sozialis-mus, als Kommunismus.

Doch der Interventionismus will eben, und dasgerade kennzeichnet ihn, nicht so weit gehen. Er willdas Sondereigentum an den Produktionsmitteln nicht

aufheben, sondern nur einschränken. Er erklärt einer-seits, daß das uneingeschränkte Sondereigentum anden Produktionsmitteln der Gesellschaft schädlich sei,aber er hält anderseits das Gemeineigentum an denProduktionsmitteln, den Sozialismus, entweder über-haupt oder doch wenigstens für den Augenblick fürundurchführbar. Und so will er etwas Drittes schaffen:einen Gesellschaftszustand, der in der Mitte zwischenSondereigentum an den Produktionsmitteln auf dereinen Seite und gesellschaftlichem Eigentum an denProduktionsmitteln auf der anderen Seite liegt. Damitsollen die »Auswüchse« und Schäden des Kapitalis-mus vermieden werden und doch die Vorteile freier

7 Vgl. Spann, Der wahre Staat, Leipzig 1921, S. 249.

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Initiative und Regsamkeit gewahrt bleiben, die derSozialismus nicht gewähren kann.

Das, was die Vorkämpfer dieses Systems einesdurch den Staat und andere Faktoren der gesellschaft-lichen Organisation geleiteten, regulierten und kon-trollierten Sondereigentums hier verlangen, ist vonden politischen Machthabern und von den Massenstets angestrebt worden. Als es noch keine Wissen-

schaft der Nationalökonomie gab, als man noch nichtentdeckt hatte, daß die Preise nicht willkürlich »ge-macht« werden, daß sie vielmehr durch die Lage desMarktes innerhalb sehr enger Grenzen festgelegt sind,suchte man durch behördliche Befehle den Gang der Wirtschaft zu regeln. Erst das System der klassischenNationalökonomie zeigte, daß alle derartigen Eingriffein das Getriebe des Marktes niemals den Erfolg erzie-len können, den die Obrigkeit mit ihnen zu erreichen beabsichtigt. Der alte Liberalismus, die auf den Leh-ren der klassischen Nationalökonomie aufgebaute Wirtschaftspolitik, lehnt daher alle diese Eingriffegrundsätzlich ab. Laissez faire et laissez passer! Aber

auch der marxistische Sozialismus hat dem Interven-tionismus gegenüber keine andere Haltung einge-nommen als die Liberalen. Er hat sich bemüht, die Widersinnigkeit aller interventionistischen Vorschlä-ge, die er verächtlich mit dem Ausdruck »kleinbürger-lich« belegte, darzutun. Die Ideologie; die heute die Welt beherrscht, empfiehlt aber gerade das vom Libe-ralismus und vom älteren Marxismus abgelehnte Sys-tem der Wirtschaftspolitik.

II. Das Wesen der »Eingriffe«.

Das Problem des Interventionismus darf nicht mit

dem des Sozialismus vermengt werden. Nicht darumhandelt es sich hier, ob ein sozialistisches Gemeinwe-sen in irgendeiner Form denkbar und durchführbar

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ist. Die Beantwortung der Frage, ob die menschlicheGesellschaft auf dem Gemeineigentum an den Pro-duktionsmitteln aufgebaut werden kann oder nicht, isteine besondere Aufgabe, die uns hier nicht beschäfti-gen soll. Das Problem, das wir vor Augen haben, istdas: Welche Wirkungen haben obrigkeitliche undandere Machteingriffe in einer auf dem Sondereigen-tum an den Produktionsmitteln aufgebauten Gesell-

schaftsordnung? Können derartige Eingriffe den Er-folg erzielen, den sie anstreben?

Hier kommt es natürlich auf eine genaue Um-schreibung des Begriffes »Eingriff« an.

1. Maßnahmen, die zum Zwecke der Aufrechter-haltung und Sicherung des Sondereigentums an denProduktionsmitteln getroffen werden, sind keine Ein-griffe in unserem Sinne. Das ist so selbstverständlich,daß man es eigentlich gar nicht besonders hervorhe- ben müßte. Wenn es doch nicht ganz überflüssig ist,so ist daran der Umstand schuld, daß man unserProblem häufig mit dem Problem des Anarchismus zu vermengen pflegt. Man argumentiert folgendermaßen:

 Wenn Tätigkeit des Staates zum Schutze des Sonder-eigentums als notwendig angesehen wird, dann seinicht abzusehen, warum nicht auch darüber hinaus-gehendes Eingreifen des Staates zulässig sein sollte.Der Anarchist, der jede wie immer geartete Staatstä-tigkeit ablehnt, denke folgerichtig. Wer aber in richti-ger Erkenntnis der Undurchführbarkeit des Anar-chismus staatliche Organisation mit einem Zwangs-apparat für notwendig hält, um die gesellschaftlicheKooperation der Individuen zu sichern, sei inkonse-quent, wenn er diese Staatstätigkeit auf ein enges Ge- biet beschränken will. Es ist klar, daß dieser Gedan-kengang ganz und gar verfehlt ist. Wir erörtern ja gar

nicht die Frage, ob man im gesellschaftlichen Zusam-menleben der Menschen ohne den organisiertenZwangsapparat, den man Staat oder Regierung nennt,auszukommen vermag oder nicht. Was wir untersu-

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chen, ist allein das, ob es – vom Syndikalismus abge-sehen – nur zwei denkbare Möglichkeiten für die Or-ganisation der arbeitsteiligen Gesellschaft gibt: näm-lich entweder Gemeineigentum oder Sondereigentuman den Produktionsmitteln, oder ob es zwischen die-sen – wie der Interventionismus annimmt – noch eindrittes System: das des durch obrigkeitliche Eingrifferegulierten Sondereigentums geben kann. Übrigens ist

die Frage, ob staatliche Organisation notwendig seioder nicht, von der Frage, auf welchen Gebieten undin welcher Weise sich die Staatsgewalt zu betätigenhabe, scharf zu sondern. So wenig aus der Tatsache,daß der staatliche Zwangsapparat im gesellschaftli-chen Leben nicht entbehrt werden kann, gefolgert werden darf, daß nun auch Gewissenszwang, Bücher-zensur und ähnliche Maßnahmen ersprießlich seien,so wenig kann auch gefolgert werden, daß bestimmteMaßnahmen wirtschaftspolitischer Natur notwendig,nützlich oder auch nur möglich seien.

Zur Aufrechterhaltung des Sondereigentums anden Produktionsmitteln gehören aber die zum Schutze

des Wettbewerbes getroffenen Verfügungen keines- wegs. Ein weitverbreiteter Irrtum sieht in der Konkur-renz zwischen mehreren Erzeugern desselben Artikelsdas Wesentliche der dem Ideal des Liberalismus ent-sprechenden Wirtschaftsordnung. Doch das Wesendes Liberalismus liegt im Sondereigentum, nicht inder – übrigens mißverstandenen – Konzeption desfreien Wettbewerbes. Nicht daß es viele Grammo-phonfabriken gibt, sondern daß die Produktionsmittelder Grammophonerzeugung nicht im Eigentum derGesellschaft, sondern in dem Privater stehen, ist dasEntscheidende. Teils von diesem Mißverstehen, teils von einer durch naturrechtliche Theorien beeinflußten

 Auslegung des Freiheitsbegriffes ausgehend, hat man versucht, die Entwicklung zum Großbetrieb durchGesetze gegen Kartelle und Trusts aufzuhalten. Es istnicht hier der Ort, über die Ersprießlichkeit solcher

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Politik zu urteilen. Nur das ist festzustellen: Nichtskann für die Erkenntnis der volkswirtschaftlichenFunktion einer konkreten Maßnahme weniger wichtigsein als ihre Rechtfertigung oder Verwerfung durchirgendeine juristische Theorie. Die Rechts- wissenschaft, die Staatslehre und die wissenschaftli-che Disziplin der Politik können uns nichts sagen, wasals Grundlage zur Entscheidung über das Für und

 Wider einer bestimmten Politik verwertet werdenkönnte. Und ganz bedeutungslos ist es, ob dies oder jenes den Bestimmungen irgendeines Gesetzes oderirgendeiner Verfassungsurkunde entspricht, mag die-se auch so ehrwürdig und berühmt sein wie die Kon-stitution der Vereinigten Staaten von Amerika. Wennmenschliche Satzung sich als zweckwidrig erweist,dann muß sie geändert werden; niemals kann man esdaher in der Erörterung der Zweckmäßigkeit einerPolitik als Argument gelten lassen, daß sie gesetz-,rechts- oder verfassungswidrig sei. Auch das ist übri-gens so selbstverständlich, daß man es gar nicht ersterwähnen müßte, wenn es nicht immer wieder in Ver-

gessenheit geraten würde. Wie man einst versucht hat,die deutsche Sozialpolitik aus dem Wesen des preußi-schen Staates und des »sozialen Königtums« abzulei-ten, so sucht man in den Vereinigten Staaten in der wirtschaftspolitischen Diskussion mit Argumenten zuarbeiten, die aus der Verfassung oder aus der Ausle-gung der Begriffe Freiheit und Demokratie geholtsind. Eine sehr beachtenswerte Theorie des Interven-tionismus, die Lehre von Professor Commons, dieauch praktisch größte Bedeutung hat, weil sie die Phi-losophie der La Folette-Partei und der Politik von Wisconsin darstellt, ist zu einem guten Teil auf diesenGedankengängen aufgebaut. Die Autorität der ameri-

kanischen Verfassung ist auf das Gebiet der Union beschränkt. Die Geltung der Ideale Demokratie, Frei-heit und Gleichheit ist örtlich unbegrenzt, und überallsehen wir, wie in ihrem Namen die Forderung bald

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nach Beseitigung, bald nach »Einschränkung« desSondereigentums erhoben wird. Alles dies ist für dieBehandlung unseres Problems ohne jede Bedeutungund muß daher hier außer acht gelassen werden.

2. Sozialisierung eines Teiles der Produktionsmit-tel ist kein Eingriff in unserem Sinne. Der Begriff desEingriffs hat zur Voraussetzung, daß das Sondereigen-tum der Einzelnen nicht aufgehoben wird, daß es

 vielmehr nicht nur dem Namen, sondern auch derSache nach bestehen bleibt. Verstaatlichung einerEisenbahnlinie ist kein Eingriff, wohl aber ist ein Ein-griff ein Befehl, der einer Eisenbahnunternehmung vorschreibt, niedrigere Frachtsätze einzuheben als sieeinheben würde, wenn sie frei schalten könnte.

3. Nicht unter den Begriff des Eingriffs fallenHandlungen der Obrigkeit, die mit den Mitteln desMarktes arbeiten, d. h. solche, die Nachfrage oder Angebot durch Veränderung der Marktfaktoren zu beeinflussen suchen. Wenn die Obrigkeit Milch auf dem Markte kauft, um sie billig an arme Mütter zu verkaufen oder gar unentgeltlich zu verteilen, oder

 wenn sie Bildungsanstalten als Zuschußbetriebe führt,liegt kein Eingriff vor. (Über die Frage, ob der Weg,auf dem sich die Obrigkeit die Mittel zu diesem Vor-gehen verschafft, als »Eingriff« anzusehen ist, wirdnoch gesprochen werden.) Dagegen wäre eine Vor-schreibung von Höchstpreisen für Milch ein Eingriff.

Der Eingriff ist ein von einer gesellschaftlichenGewalt ausgehender isolierter Befehl, der die Eigen-tümer der Produktionsmittel und die Unternehmerzwingt, die Produktionsmittel anders zu verwenden,als sie es sonst tun würden. »Isolierter Befehl« bedeu-tet, daß der Befehl nicht Teil eines Systems von Befeh-len bildet, das die ganze Produktion und Verteilung

regelt und damit das Sondereigentum an den Produk-tionsmitteln beseitigt und an seine Stelle das Gemein-eigentum an den Produktionsmitteln, den Sozialis-mus, setzt. Die Befehle, die wir im Auge haben, mögen

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sich noch so sehr häufen; solange sie nicht planmäßigdarauf ausgehen, das Ganze der Wirtschaft zu lenkenund an Stelle des Gewinnstrebens der Individuen all-gemein den Gehorsam zur Triebfeder des Handelns zumachen, sind sie als isolierte Befehle anzusehen. Un-ter »Produktionsmittel« sind alle Güter höherer Ord-nung, also alle noch nicht beim Konsumenten zumGebrauch oder Verbrauch bereitliegenden Güter zu

 verstehen, so daß auch die bei den Händlern vorräti-gen, im kaufmännischen Sinn als »gebrauchsreif« bezeichneten Waren inbegriffen sind.

 Wir haben zwei Gruppen solcher Befehle zu un-terscheiden: die einen hemmen oder erschweren un-mittelbar die Produktion (im weitesten Sinne des Wortes, so daß darunter auch die Ortsveränderung von wirtschaftlichen Gütern zu verstehen ist), die an-dern suchen die Preise anders zu bestimmen, als derMarkt sie bilden würde. Jene wollen wir die produkti-onspolitischen Eingriffe nennen; diese, die allgemeinunter der Bezeichnung Preistaxen bekannt sind, wol-len wir die preispolitischen Eingriffe nennen8.

III. Die produktionspolitischen Eingriffe.

Über die unmittelbare Wirkung der produktions-politischen Eingriffe ist vom nationalökonomischenStandpunkt nicht viel zu sagen. Das, was die Obrigkeit

8 Man könnte im Zweifel darüber sein, ob es nicht

zweckmäßig wäre, noch eine dritte Gruppe zu unterschei-den: die steuerpolitischen Eingriffe, das sind die Eingriffe,die in der Enteignung eines Teiles des Vermögens oder Ein-kommens bestehen. Wenn wir dies nicht tun, dann magman dies damit rechtfertigen, daß die Wirkungen dieserEingriffe teils denen der produktionspolitischen Eingriffegleichkommen, teils darin bestehen, daß die Verteilung desProduktionsertrages beeinflußt wird, ohne daß die Produk-tion selbst von ihren Bahnen abgelenkt wird.

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oder die den Eingriff setzende Gewaltorganisationzunächst erreichen will, kann sie durch den Eingriff erreichen. Ob sie damit auch die ferneren Ziele er-reicht, die sie mit dem Eingriff mittelbar erreichen will, ist eine andere Frage. Und besonders ist noch zu beurteilen, ob der Erfolg auch die Kosten wert ist, d. h.ob die den Eingriff setzende Stelle den Eingriff auchdann setzen würde, wenn sie genau wüßte, was er

kostet. Ein Zoll z. B. ist gewiß durchführbar, und derunmittelbare und nächste Erfolg des Zolles mag dementsprechen, was die Regierung durch ihn angestrebthat. Damit ist aber noch lange nicht gesagt, daß das, was die Regierung in letzter Linie mit ihm anstrebt,auch wirklich durch ihn erreicht werden kann. Hiersetzt die Kritik der Nationalökonomen ein; die Theo-retiker des Freihandels haben nicht zeigen wollen, daßZölle nicht möglich oder daß sie schädlich sind, son-dern das, daß sie Folgen haben, die nicht gewollt wa-ren, und daß sie das, was sie nach Meinung ihrer Be-fürworter leisten sollen, nicht leisten und nicht leistenkönnen. Von noch größerer Bedeutung aber ist die

Feststellung der Freihandelsschule, daß der Zollschutz– und dasselbe gilt von allen produktionspolitischenEingriffen – die Ergiebigkeit der gesellschaftlichen Arbeit herabsetzt. Ob nun durch Zollschutz bewirkt wird, daß Getreide auf weniger fruchtbaren Äckerngebaut wird, während fruchtbarere brach liegen, oderob durch Maßnahmen der gewerblichen Mittelstands-politik (etwa Befähigungsnachweis für die Ausübung bestimmter Gewerbe wie in Österreich, oder steuerpo-litische Bevorzugung der kleineren Betriebe) bewirkt wird, daß weniger leistungsfähige Betriebe auf Kostender leistungsfähigeren gefördert werden, oder obdurch Beschränkung der Dauer der Arbeitszeit und

der Vorwendung bestimmter Arbeiterkategorien(Frauen, Jugendliche) die Menge der zur Verfügungstehenden Arbeit vermindert wird, immer ist der Er-folg der, daß weniger mit dem gleichen Aufwand von

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Kapital und Arbeit erzeugt wird, als erzeugt worden wäre, wenn man den Eingriff unterlassen hätte, oderdaß schon von Vornherein weniger Kapital und Arbeitfür die Erzeugung zur Verfügung gestellt wird. Es magsein, daß man auch in voller Kenntnis der Folgen denEingriff vorgenommen hatte, weil man der Meinungist, daß durch ihn andere – nicht rein wirtschaftliche– Ziele erreicht werden, die für wichtiger gehalten

 werden als der zu gewärtigende Ausfall an Produkten.Es ist freilich sehr zu bezweifeln, ob dieser Fall eintre-ten könnte. Denn alle produktionspolitischen Eingrif-fe werden entweder ausschließlich oder doch zum Teildurch Argumente befürwortet, die erweisen sollen,daß sie die Produktivität nicht hemmen, ja daß sie siesogar heben. Selbst die gesetzlichen Maßnahmen zurBeschränkung der Arbeit der Frauen, der Jugendli-chen und der Kinder wurden nur darum durchgeführt, weil man der Meinung war, daß durch sie allein denUnternehmern und Kapitalisten ein Nachteil zugefügt werde und daß den geschützten Arbeitergruppen Vor-teil daraus erwachsen könne, weil sie nun weniger

arbeiten müßten.Man hat mit vollem Recht in der Kritik der Arbei-

ten der kathedersozialistischen Richtung darauf hin-gewiesen, daß es einen in letzter Hinsicht objektivenBegriff der Produktivität nicht geben könne, und daßalle Urteile über das Ziel des wirtschaftlichen Hand-elns subjektiv sind. Doch wenn wir davon sprechen,daß die produktionspolitischen Eingriffe die Produkti- vität der Arbeit herabsetzen, begeben wir uns noch garnicht auf jenes Gebiet, auf dem die Verschiedenheitdes subjektiven Werturteils Aussagen über die Zieleund über die Mittel des Handelns verbietet. Wenndurch die Bildung von möglichst autarken Wirt-

schaftsgebieten die internationale Arbeitsteilung un-terbunden und die Ausnützung der Vorteile der spezi-alisierten Produktion im großen Maßstab und der Arbeit auf den besten Standorten unmöglich gemacht

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 wird, dann wird ein Erfolg herbeigeführt, über dessenUnerwünschtheit die Meinungen der weitaus über- wiegenden Anzahl der Erdenbewohner nicht geteiltsein dürften. Es mag, wie gesagt, manchen scheinen,daß die Vorteile, die die Autarkie bringt, die Nachteile,die mit ihr verbunden sind, übersteigen. Doch schondie Tatsache, daß man gewöhnlich in der Erörterungdes Für und Wider solcher Maßnahmen entweder

kühn behauptet, daß sie die Menge und Beschaffen-heit der erzeugten Güter nicht vermindern, oder dochzumindest über diesen Punkt nicht mit voller Offen-heit und Klarheit spricht, zeigt, daß man sich darübernicht im Zweifel befindet, daß die Propaganda zu-gunsten dieser Maßnahmen wenig aussichtsreich wä-re, wenn sie die volle Wahrheit über ihre Wirkungenzugeben würde.

 Alle produktionspolitischen Eingriffe hemmenunmittelbar in irgendeiner Richtung die Produktiondadurch, daß sie aus dem Kreis der zur Verfügungstehenden Verwendungsmöglichkeiten für Güter hö-herer Ordnung (Boden, Kapital, Arbeit) bestimmte

 Verwendungsmöglichkeiten ausschalten. Es ist derObrigkeit naturgemäß nicht gegeben, durch ein »Es werde« etwas zu schaffen, was nicht schon dagewesenist. Nur der naive Inflationismus konnte glauben, daßder Staat durch ein »fiat money« die Menschheit rei-cher machen könnte. Die Obrigkeit kann nicht er-schaffen, sie kann aber durch ihren Befehl Vorhande-nes zwar nicht aus der Welt des Seins, doch aber ausder Welt des Erlaubten tilgen. Sie kann nicht reicher,aber sie kann ärmer machen.

Das liegt bei der Mehrzahl der produktionspoliti-schen Eingriffe so klar zutage, daß ihre Urheber es nurnoch selten wagen, sich ihrer offen zu rühmen. Ganze

Schriftstellergenerationen haben sich vergebens be-müht, den Nachweis zu erbringen, daß das Ergebnisdieser Eingriffe ein anderes sein könnte als das, dieMenge und Beschaffenheit des mit dem gleichen Auf-

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 wand Erzeugten zu vermindern. Es steht nicht dafür,sich mit den Argumenten, die etwa zugunsten desSchutzzolls vom rein wirtschaftlichen Standpunkte vorgebracht wurden, neuerdings auseinanderzuset-zen. Alles was zugunsten von Schutzzöllen angeführt werden kann, ist nur das, daß die Opfer, die sie aufer-legen, durch andere, nicht rein wirtschaftliche Vorteileaufgewogen werden könnten, z. B. daß es nationalpoli-

tisch oder militärisch erwünscht sein könnte, sich vom Auslande mehr oder weniger abzuschließen9.

Daß der Erfolg der produktionspolitischen Ein-griffe immer nur in der Herabsetzung der Ergiebigkeitder gesellschaftlichen Arbeit und mithin auch derSozialdividende bestehen kann, ist so schwer zu ver-kennen, daß man es nicht wagt, sie als ein besonderesSystem der Wirtschaftspolitik zu verteidigen. Sie wer-den – wenigstens von der Mehrzahl ihrer Befürworter– heute nur noch zur Ergänzung der preispolitischenEingriffe anempfohlen. Auf den preispolitischen, nichtauf den produktionspolitischen Eingriffen ruht dasSchwergewicht des Systems des Interventionismus.

IV. Die preispolitischen Eingriffe.

Die preispolitischen Eingriffe gehen darauf aus,Preise von Gütern oder Dienstleistungen anders fest-zusetzen, als der unbehinderte Markt sie bilden wür-de.

Bei dem Preisstande, der sich auf dem unbehin-derten Markte bildet oder, falls nicht die Obrigkeit dieFreiheit der Preisbildung unterbunden hätte, bilden würde, werden die Produktionskosten durch den Erlös

9Zur Kritik dieser Behauptungen vgl. mein Buch: Nati-on, Staat und Wirtschaft, Wien 1919, S. 56 ff. (insbesondereauch im Hinblick auf die deutsche Politik seit dem Ende der70er Jahre).

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gedeckt. Wird von der Obrigkeit ein niedrigerer Preisanbefohlen, dann bleibt der Erlös hinter den Kostenzurück. Die Händler und Erzeuger werden daher, wenn es sich nicht um Waren handelt, die durch die Aufbewahrung eine schnelle Wertverminderung er-leiden, vom Verkauf absehen, um die Ware für günsti-gere Zeiten aufzubewahren, etwa in der Erwartung,daß die obrigkeitliche Verfügung bald wieder rück-

gängig gemacht wird. Will die Obrigkeit nicht, daß derErfolg ihrer Verfügung der sei, daß die betroffene Wa-re überhaupt aus dem Verkehr verschwindet, dannkann sie sich nicht darauf beschränken, den Preisfestzusetzen; sie muß gleichzeitig auch schon verfü-gen, daß alle vorhandenen Vorräte zum vorgeschrie- benen Preis verkauft werden.

 Aber auch das genügt nicht. Zu dem ideellenMarktpreis hätten Angebot und Nachfrage sich ge-deckt. Nun da durch obrigkeitliche Verfügung derPreis niedriger festgelegt wurde, ist die Nachfragegestiegen, während das Angebot unverändert blieb.Die vorhandenen Vorräte reichen nicht aus, um alle,

die den vorgeschriebenen Preis aufzuwenden bereitsind, voll zu befriedigen. Ein Teil der Nachfrage wirdunbefriedigt bleiben. Der Marktmechanismus, dersonst Nachfrage und Angebot durch Veränderung desPreisstandes zur Deckung bringt, spielt nicht mehr.Nun müssen Personen, die bereit wären, den von derObrigkeit vorgeschriebenen Preis auszulegen, unver-richteter Dinge den Markt verlassen. Diejenigen, diefrüher am Platze waren oder irgendwelche persönlicheBeziehungen zu den Verkäufern auszunützen verste-hen, haben bereits den ganzen Vorrat erworben; dieanderen haben das Nachsehen. Will die Obrigkeitdiese Folge ihres Eingriffes, die doch ihren Absichten

zuwiderläuft, vermeiden, dann muß sie zur Preistaxeund zum Verkaufszwang auch noch die Rationierunghinzufügen. Eine obrigkeitliche Vorschrift bestimmt,

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.

 wieviel Ware an jeden einzelnen Bewerber zum vorge-schriebenen Preis abgegeben werden darf.

Doch sind die im Augenblick des Eingriffs derObrigkeit schon vorhandenen Vorräte einmal aufge- braucht, dann ergibt sich ein ungleich schwierigeresProblem. Da die Erzeugung bei Verkauf zu dem vonder Obrigkeit vorgeschriebenen Preis nicht mehr rent-abel ist, wird sie eingeschränkt oder ganz eingestellt.

 Will die Obrigkeit die Erzeugung weiter fortsetzenlassen, dann muß sie die Produzenten verpflichten, zuerzeugen, sie muß zu diesem Zwecke auch die Preiseder Rohstoffe und der Halbfabrikate und die Arbeits-löhne festlegen. Diese Verfügungen dürfen sich abernicht nur auf den einen oder die wenigen Produkti-onszweige beschränken, die man regeln will, weil manihre Produkte für besonders wichtig erachtet. Sie müs-sen alle Produktionszweige umfassen, sie müssen diePreise aller Güter und jeglichen Arbeitslohn, das Ver-halten aller Unternehmer, Kapitalisten, Grundbesitzerund Arbeiter regeln. Würden sie einige Produktions-zweige freilassen, so würden Kapital und Arbeit in sie

abströmen und das Ziel, das die Obrigkeit mit ihremersten Eingriff erreichen wollte, würde verfehlt wer-den. Die Obrigkeit will doch, daß gerade der Produkti-onszweig, den sie wegen der Wichtigkeit, die sie sei-nen Erzeugnissen beilegt, mit der besonderen Rege-lung bedacht hat, auch reichlich besetzt werde. Esläuft ihrer Absicht durchaus zuwider, daß man ihn –gerade infolge des Eingriffes – vernachlässigensollte10

10 Darüber; inwiefern Preistaxen gegenüber Monopol-

preisen wirksam werden können, vgl. meinen Artikel »Theo-rie der Preistaxen« im »Handwörterbuch der Staatswissen-schaften«, 4. Auflage, 6. Band, S. 1061 f. (weiter unten alsletztes Stück dieser Sammlung). Um die Bedeutung, die dengegen Monopolpreise gerichteten Preistaxen in der Gegen-

 wart zukommt, richtig zu beurteilen, darf man sich nicht an

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Zweige der Produktion umfassen. Es gibt eben keineandere Wahl als die: entweder von isolierten Eingrif-fen in das Spiel des Marktes abzusehen oder aber diegesamte Leitung der Produktion und der Verteilungan die Obrigkeit zu übertragen. Entweder Kapitalis-mus oder Sozialismus; ein Mittelding gibt es nicht.

Nehmen wir noch ein Beispiel: den Mindestlohn,die Lohntaxe. Es ist dabei ohne Belang, ob die Obrig-

keit selbst die Lohntaxe unmittelbar verfügt oder obsie duldet, daß die Gewerkschaften unter Androhungoder Anwendung von physischem Zwang es dem Un-ternehmer unmöglich machen, Arbeiter einzustellen,die für einen niedrigeren Lohn arbeiten wollten11

. Mitden Löhnen müssen die Produktionskosten und damitauch die Preise steigen. Würden als Verbraucher (alsKäufer der Endprodukte) nur Lohnempfänger in Be-tracht kommen, dann würden auf diesem Wege Erhö-hungen des Reallohnes undenkbar sein. Was die Ar- beiter als Lohnempfänger gewinnen, müßten sie alsKonsumenten verlieren. Nun gibt es aber neben denKonsumenten, die Lohnempfänger sind, auch solche,

deren Einkommen aus Besitz und aus Unternehmertä-tigkeit fließt. Deren Einkommen wird durch die Lohn-

11Man beachte, daß es sich hier nicht um das Problem

handelt, ob durch den gewerkschaftlichen Zusammenschlußder Arbeiter eine dauernde und allgemeine Hebung desLohnniveaus erreicht werden kann, sondern darum, welche

 Wirkungen die durch die Anwendung physischen Zwangeskünstlich erreichte allgemeine Lohnerhöhung haben muß.Um die geldtheoretische Schwierigkeit, daß eine allgemeinePreissteigerung ohne Verschiebung des Verhältnisses zwi-schen Geldvorrat und Geldbedarf unmöglich ist, kommtman durch die Annahme herum, daß gleichlaufend mit derErhöhung der Löhne eine entsprechende Verminderung desGeldbedarfes durch Herabsetzung der Kassenhaltung (z. B.im Gefolge einer Vermehrung der Lohnauszahlungstermine)

 vor sich geht.

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erhöhung nicht erhöht; sie können die erhöhten Prei-se nicht bezahlen und müssen ihren Verbrauch ein-schränken. Der Rückgang des Absatzes führt zu Arbei-terentlassungen. Wäre der Zwang der Gewerkschaftennicht wirksam, dann müßte der Druck, den die Ar- beitslosen auf den Markt ausüben, den künstlich indie Höhe getriebenen Lohn wieder auf den natürli-chen Marktsatz herabdrücken. Nun aber gibt es diesen

 Ausweg nicht mehr. Die Arbeitslosigkeit – in der un- behinderten kapitalistischen Gesellschaftsordnungeine Friktionserscheinung, die immer wieder ver-schwindet – wird im Interventionismus zur ständigenEinrichtung.

Die Obrigkeit, die diesen Zustand ja nicht wollte,muß also wieder eingreifen. Sie zwingt die Unterneh-mer, entweder die entlassenen Arbeiter wieder einzu-stellen und zu dem vorgeschriebenen Satz zu entloh-nen oder Abgaben zu leisten, von deren Ertrag an die Arbeitslosen Unterstützungen gezahlt werden. Durchdiese Belastung wird das Einkommen der Besitzer undder Unternehmer aufgezehrt oder doch stark vermin-

dert; es ist sogar nicht unberechtigt, anzunehmen, daßdie Last von den Unternehmern und Besitzern nichtmehr aus dem Einkommen getragen werden kann,sondern nur aus dem Vermögensstamm. Aber selbst wenn wir nur damit rechnen wollten, daß das nichtaus Lohnarbeit herrührende Einkommen durch dieseLasten erschöpft wird, ohne daß schon zu ihrer Be-streitung Kapital angegriffen werden müßte, erkennen wir, daß es zu Kapitalsaufzehrung kommen muß. Ka-pitalisten und Unternehmer wollen auch leben undkonsumieren, wenn sie kein Einkommen erzielt ha- ben; sie werden dann Kapital aufzehren. Es ist eben –in dem Sinne, von dem wir oben sprachen – zweck-

und sinnwidrig, den Unternehmern, Kapitalisten undGrundbesitzern das Einkommen zu nehmen und ih-nen die Verfügung über die Produktionsmittel zu be-lassen; daß Kapitalsaufzehrung schließlich die Löhne

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 wieder herabdrücken muß, ist klar. Will man dieLohnbildung des Marktes nicht hinnehmen, dannmuß man das ganze System des Sondereigentums beseitigen; durch Lohntaxen kann man das Lohnni- veau nur vorübergehend und nur um den Preis künfti-ger Lohnreduktionen heben.

Das Problem der Lohntaxen hat für die Gegen- wart so ungeheure Bedeutung, daß wir es noch an

einem zweiten Schema erörtern müssen, das die Ver-hältnisse des internationalen Güteraustausches be-rücksichtigt. Zwei Länder, Atlantis und Thule, stehenim wechselseitigen Güteraustausch. Atlantis liefertIndustrieerzeugnisse, Thule Bodenfrüchte. Nun findetThule – man verehrt dort List – es für notwendig, eineeigene Industrie durch Schutzzölle ins Leben zu rufen.Der Enderfolg der (durch den Schutzzoll künstlich bewirkten) Industrialisierung Thules muß der sein,daß nun weniger Industrieprodukte aus Atlantis bezo-gen, dagegen aber auch weniger Bodenerzeugnissenach Atlantis geliefert werden. Beide Länder be-friedigen ihre Bedürfnisse nun in höherem Maße un-

mittelbar durch die inländische Erzeugung, wobeifreilich, weil nun unter weniger günstigen Bedingun-gen produziert wird, das Sozialprodukt kleiner ist alsfrüher.

Zu diesem Endergebnis kommt es auf folgendem Wege: Auf die Zollbelastung ihrer Produkte in Thuleantwortet die atlantische Industrie durch Herabset-zung der Löhne. Doch es ist nicht möglich, die ganzeZollbelastung durch Lohnreduktion wettzumachen.Denn in dem Augenblicke, in dem die Löhne zu sinken beginnen, wird für die Urproduktion die Erweiterungdes Anbaus rentabel. Anderseits wird der Rückgangdes Absatzes der thuleanischen Bodenerzeugnisse in

 Atlantis den Lohn in der Urproduktion in Thule sen-ken und der Industrie Thules die Möglichkeit bieten,mit Hilfe der verbilligten Arbeitskraft der atlantischenIndustrie Konkurrenz zu machen. Daß – neben dem

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Rückgange des Ertrages der in der Industrie von At-lantis investierten Kapitalien und der Grundrente inThule – in beiden Ländern auch der Arbeitslohn sin-ken muß, leuchtet ohne weiteres ein. Dem Rückgangdes Sozialprodukts entspricht die Schmälerung desEinkommens.

Nun aber ist Atlantis ein »sozialer« Staat. DieGewerkschaften verhindern die Ermäßigung der Löh-

ne. Die Produktionskosten der atlantischen Industrie bleiben daher so hoch, wie sie vor Einführung desZolles in Thule waren. Doch da der Absatz in Thulezurückgeht, muß es in Atlantis zu Arbeiterentlassun-gen in der Industrie kommen. Das Abströmen derEntlassenen in die Landwirtschaft wird durch Arbeits-losenunterstützungen verhindert. So wird die Arbeits-losigkeit zu einer dauernden Einrichtung12.

Englands ausländischer Kohlenabsatz ist zurück-gegangen. Soweit die dadurch überzählig gewordenenBergleute nicht abwandern dürfen, weil man sie inanderen Ländern nicht aufnehmen will, müssen sie in jene englischen Produktionszweige übergeleitet wer-

den, die ihre Produktion erweitern, um den Ausfall,der durch den Rückgang der Ausfuhr in der Einfuhrentstehen muß, zu bedecken. Der Weg, auf dem es zudiesem Ergebnis kommt, ist die Lohnsenkung im Koh-lenbergbau. Gewerkschaftliche Lohnbildung und Ar- beitslosenunterstützung hemmen diesen unausweich-lichen Prozeß wenn auch für Jahre, so doch nur vorü- bergehend. Denn endlich muß das Ergebnis der Rück-

12Darüber, inwieweit durch den gewerkschaftlichen Zu-

sammenschluß der Arbeiter der Lohn vorübergehend geho- ben werden kann, vgl. meinen Aufsatz: Die allgemeine Teue-rung im Lichte der theoretischen Nationalökonomie imXXXVII. Band dieses Archivs, S. 570 f. – Über die Ursachender Arbeitslosigkeit vgl. C. A. Verrijn Stuart, Die heutige

 Arbeitslosigkeit im Lichte der Weltwirtschaftslage, Jena1922, S. 1 ff.; Robbins, Wages, London 1926, S. 58 ff.

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 bildung der internationalen Arbeitsteilung eine Sen-kung der Lebenshaltung der Massen sein, und dieseSenkung wird um so größer sein, je mehr Kapital inder Zwischenzeit durch die »soziale« Interventionaufgezehrt wurde. Die Industrie Österreichs leidetdarunter, daß in den Ländern, die ihr Absatzgebiet bilden, immerfort die Zölle erhöht und andere Hin-dernisse (z. B. durch die Devisenpolitik) der Einfuhr

neu entgegengestellt werden. Sie kann auf Zollerhö-hungen – wenn ihr nicht die Steuern ermäßigt werden– nur durch Herabsetzung der Löhne antworten. Alleanderen Produktionsfaktoren sind unbeweglich. Roh-stoffe und Halbfabrikate müssen auf dem Weltmarkteeingekauft werden, Unternehmergewinn und Kapital-zins müssen – in Österreich ist ausländisches Kapitalin stärkerem Maße investiert als österreichisches Ka-pital im Auslande – den Verhältnissen des Weltmark-tes entsprechen. Nur der Lohn ist national bedingt, weil Abwanderung der Arbeiter in größerem Umfang -infolge der »sozialen« Politik des Auslandes – unmög-lich ist. Nur der Lohn könnte daher sinken. Die Poli-

tik, die den Lohn künstlich hoch hält und Arbeitslo-senunterstützungen gewährt, schafft nur Arbeitslosig-keit.

Es ist unsinnig, aus der Tatsache, daß die Löhnein den Vereinigten Staaten höher sind als in Europa,zu folgern, daß man die europäischen Löhne erhöhenmuß. Würden die Einwanderungsbeschränkungen inden Vereinigten Staaten, in Australien usf. fallen,dann könnten europäische Arbeiter abwandern, wo-durch dann allmählich eine internationale Anglei-chung des Lohnniveaus angebahnt werden könnte.

Die Arbeitslosigkeit von Hunderttausenden undMillionen als Dauererscheinung auf der einen Seite

und die Kapitalaufzehrung auf der andern Seite sinddie Folgen des Interventionismus: der künstlichenHochhaltung der Löhne durch die Gewerkschaftenund der Arbeitslosenunterstützung.

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 V. Destruktion als Ergebnis der Interventions-politik.

Nur wenn man die Wirkung der dargestelltenEingriffe in den Ablauf der Wirtschaftsvorgänge einerauf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln

 beruhenden Gesellschaftsordnung erkannt hat, kannman die Geschichte der letzten Jahrzehnte verstehen.

Denn diese Eingriffe stellen seit der Überwindung desLiberalismus das Um und Auf der Politik in allen Staa-ten Europas und Amerikas dar.

Der nationalökonomisch nicht gebildete Beurtei-ler der Ereignisse sieht nur, daß die »Interessenten«doch immer wieder Auswege finden, um den Vor-schriften der Gesetze zu entgehen. Daß das Systemschlecht funktioniert, schreibt er ausschließlich demUmstande zu, daß die Gesetze nicht weit genug gehenund daß ihre Durchführung durch Korruption behin-dert wird. Gerade der Mißerfolg der Interventionspoli-tik bestärkt ihn in der Überzeugung, daß das Sonder-eigentum durch strenge Gesetze kontrolliert werden

müsse. Die Korruption der mit der Ausführung derStaatsaufsicht betrauten Organe erschüttert nicht sein

 blindes Vertrauen in die Unfehlbarkeit und Makello-sigkeit des Staates; sie erfüllt ihn nur mit moralischem

 Abscheu gegenüber den Unternehmern und Kapita-listen.

Die Übertretung der Gesetze ist aber nicht, wie von den Etatisten naiv gelehrt wird, ein in der schwerausrottbaren menschlichen Schwäche gelegener Übel-stand, den man nur auszumerzen braucht, um dasParadies auf Erden zu schaffen. Würden die interven-tionistischen Gesetze wirklich beachtet werden, dannmüßten sie sich in der kürzesten Zeit ad absurdum

führen. Alle Räder würden stillstehen, weil der starke Arm des Staates ihnen zu nahe gekommen ist.In den Augen unserer Zeitgenossen erscheint die

Sache etwa so: Die Landwirte und die Milchhändler

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haben sich verschworen, um den Milchpreis zu erhö-hen. Da kommt – das Allgemeininteresse gegen dieSonderinteressen, die volkswirtschaftlichen Gesichts-punkte gegen die privatwirtschaftlichen ausspielend –der Wohltäter Staat, um Abhilfe zu schaffen. Ersprengt das »Milchkartell«, er setzt Höchstpreise fürMilch fest und verfolgt strafgerichtlich die Übertreterder erlassenen Vorschriften. Daß die Milch dadurch

nicht so wohlfeil wurde, als man es als Verbraucher wünschen würde, ist nur darauf zurückzuführen, daßdie Gesetze nicht scharf genug sind und daß man sienicht mit der erforderlichen Strenge durchführt. Es seieben nicht leicht, gegen das die Allgemeinheit schädi-gende Profitstreben der Interessenten anzukämpfen.Die Gesetze müßten noch schärfer werden und rück-sichtslos und ohne Erbarmen gehandhabt werden.

In Wahrheit verhalten sich die Dinge ganz anders. Würden die Preissatzungen wirklich durchgeführt werden, dann würden die Milchproduktion und dieZufuhr der Milch in die Städte stocken. Es stündenicht mehr, sondern weniger Milch oder überhaupt

keine Milch mehr zur Verfügung. Nur weil die Vor-schriften umgangen werden, gibt es noch Milch fürden Verbraucher. Wenn man die ganz unzulänglicheund verkehrte etatistische Gegenüberstellung von volkswirtschaftlichem und privatwirtschaftlichemInteresse schon gelten lassen wollte, müßte man sa-gen: der Milchhändler, der dem Gesetz entgegenhan-delt, dient dem Gemeinwohl, der Beamte, der diePreistaxe durchführen will, gefährdet es.

Selbstverständlich leitet den Geschäftsmann, derdie Gesetze und Verordnungen der Obrigkeit übertritt,um ungeachtet der vom Staate aufgerichteten Hinder-nisse doch zu produzieren, nicht die Rücksicht auf das

Gemeinwohl, das die Vorkämpfer des Interventio-nismus immerfort im Munde führen, sondern die Absicht, Gewinne zu erzielen, oder zumindest dasBestreben, die Verluste zu vermeiden, die ihm aus der

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Beachtung der Vorschriften erwachsen würden. Dieöffentliche Meinung, die sich ob der Niedrigkeit sol-cher Gesinnung und der Verwerflichkeit solchen Tunsentrüstet, begreift es nicht, daß ohne diese systemati-sche Mißachtung der obrigkeitlichen Gebote und Ver- bote die Undurchführbarkeit der Interventionspolitik  bald zu einer Katastrophe treiben müßte. Sie erwartetalles Heil von der strengen Beachtung der vom Staate

»zum Schutze der Schwachen« erlassenen Verfügun-gen und tadelt die Obrigkeit nur, weil sie nicht stark genug sei, um alles Erforderliche zu verfügen, und weil sie die Durchführung der Normen nicht fähigerenund unbestechlicheren Personen übertrage. Diegrundsätzlichen Probleme des Interventionismus werden überhaupt nicht erörtert. Wer auch nurschüchtern das »ob« der Beschränkung der Verfü-gungsgewalt der Kapitalisten und Unternehmer zu bezweifeln wagt, wird als Söldling im Dienste von derGesamtheit schädlichen Sonderinteressen geächtetoder im günstigsten Falle mit stillschweigender Ver-achtung gestraft. Selbst in der Erörterung des »wie«

des Interventionismus muß, wer nicht sein Ansehenund vor allem seine Karriere gefährden will, sehr vor-sichtig sein. Nur allzu leicht kann man in den Ver-dacht geraten, dem »Kapital« zu dienen; wer in derDiskussion nationalökonomische Argumente ge- braucht, wird diesem Verdacht nie entgehen können.

 Wenn die öffentliche Meinung im interventio-nistischen Staatswesen überall Korruption wittert, istsie freilich nicht im Unrecht. Die Bestechlichkeit derPolitiker, der Parlamentarier und der Beamten ist jadas Fundament, das allein das System zu tragen ver-mag; ohne sie müßte es zusammenbrechen und ent- weder durch Sozialismus oder durch Kapitalismus

ersetzt werden. Für den Liberalismus galten die Ge-setze als die besten, die dem Ermessen der mit ihrerDurchführung betrauten Organe den engsten Spiel-raum boten, um Willkür und Mißbrauch möglichst

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auszuschließen. Der moderne Staat sucht die diskreti-onäre Gewalt seiner Organe zu stärken. Alles soll demfreien Ermessen der Beamten überlassen werden.

Die Rückwirkung der Korruption auf die öffentli-che Moral kann hier nicht dargestellt werden. Selbst- verständlich haben weder die Bestechenden noch dieBestochenen eine Vorstellung davon, daß ihr Handelnder Erhaltung des von der ganzen öffentlichen Mei-

nung und auch von ihnen selbst als richtig angesehe-nen Systems gilt. Sie verletzen die Gesetze und habendabei das Bewußtsein, das Gemeinwohl zu schädigen.Und weil sie nun allmählich die Gewohnheit anneh-men, sich gegen Strafgesetze und gegen Moralvor-schriften zu vergehen, verlieren sie schließlich ganzdas Vermögen, zwischen Recht und Unrecht, Gut undBöse zu unterscheiden. Wenn kaum irgendeine Wareerzeugt oder umgesetzt werden kann, ohne daß manirgendwelchen Vorschriften zuwiderhandelt, dannhält man es schließlich für eine leidige Begleiterschei-nung des »Lebens«, gegen Gesetz und Moral zu sün-digen, und verspottet als »Theoretiker« die, die es

anders haben wollen. Der Kaufmann, der damit be-gonnen hatte, Devisenvorschriften, Ein- und Ausfuhr- verbote, Höchstpreissatzungen u. dgl. zu übertreten,gelangte bald dazu, auch seine Vertragspartner zu betrügen. Der Verfall der Geschäftsmoral, den man als»Inflationsfolge« bezeichnet, ist die notwendige Be-gleiterscheinung der zur Inflationszeit erlassenen,Handel und Wandel »regulierenden« Vorschriftengewesen.

Man hört mitunter die Behauptung vertreten, daßdas System des Interventionismus durch die Laxheitder Durchführung ganz erträglich geworden sei. Selbstdie preispolitischen Eingriffe würden von der Volks-

 wirtschaft nicht mehr als allzugroße Störung emp-funden, wenn die Unternehmer es sich durch Geldund gute Worte »richten« könnten. Es sei zwar nichtzu bestreiten, daß es ohne diese Eingriffe besser wäre,

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doch man müsse eben der öffentlichen Meinung ent-gegenkommen. Der Interventionismus sei ein Tribut,den man der Demokratie bringen müsse, um das Sys-tem des Kapitalismus lebensfähig zu erhalten.

Diese Argumentation ist vom Standpunkte desmarxistisch-sozialistisch oder staatssozialistisch den-kenden Unternehmers und Kapitalisten verständlich.Ihm erscheint das Sondereigentum an den Produkti-

onsmitteln als eine die Interessen der Gesamtheitschädigende Einrichtung zugunsten der Bodenbesit-zer, Kapitalisten und Unternehmer. Die Aufrechthal-tung des Sondereigentums liegt ausschließlich imSonderinteresse der besitzenden Klassen.

 Wenn nun diese Klassen das allein ihnen nützli-che, die Gesamtheit und alle anderen Klassen schädi-gende Institut durch einige Zugeständnisse zu retten vermögen, die ihnen keine allzu großen Opfer auferle-gen, dann wäre es töricht von ihnen, starrsinnig dieZugeständnisse zu verweigern und damit den Fortbe-stand der Gesellschaftsordnung, die ihnen allein Vor-teile bringt, zu gefährden.

 Wer diesen Standpunkt der Vertreter »bürgerli-cher« Interessen nicht teilt, wird jene Argumentationnicht gelten lassen können. Es ist nicht einzusehen, warum man die Produktivität der volks- wirtschaftlichen Arbeit durch irgendwelche verkehrteMaßnahmen vermindern soll. Hält man das Sonderei-gentum an den Produktionsmitteln für eine Einrich-tung zugunsten eines Teiles und zum Schaden desandern Teiles der Gesellschaft, dann schaffe man esab. Wenn man aber erkannt hat, daß es allen nützt,und daß die arbeitteilende menschliche Gesellschaftanders gar nicht organisiert werden könnte, dann mußman es so aufrechterhalten, daß es seine Funktion

auch möglichst gut erfüllen kann. Von der Verwirrungaller Moralbegriffe, die entstehen muß, wenn Gesetzund Sittenkodex etwas verwerfen oder doch wenigs-tens als anrüchig erscheinen lassen, was man als

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Grundlage des gesellschaftlichen Lebens erhaltenmuß, sei gar nicht gesprochen. Doch welchen Zweck sollte es haben, etwas in der Erwartung zu verbieten,daß das Verbot doch in der Mehrzahl der Fälle um-gangen werden wird?

Die, die den Interventionismus mit solchen Ar-gumenten verteidigen, geben sich auch einer schwerenTäuschung über das Ausmaß der Produktivitätsmin-

derung hin, das aus den Eingriffen des Staates er- wächst. Es ist richtig, daß die Anpassungsfähigkeit derkapitalistischen Wirtschaft über viele Hindernisse, dieder Betätigung des Unternehmers in den Weg gelegt wurden, gesiegt hat. Wir sehen täglich, daß es Unter-nehmern gelingt, ungeachtet aller Schwierigkeiten, dieGesetz und Verwaltung ihnen bereiten, die Beschi-ckung des Marktes mit Gütern und Diensten in Aus-maß und Beschaffenheit zu heben. Doch wir könnennicht berechnen, um wie viel besser wir heute ohnegrößeren Arbeitsaufwand versorgt wären, wenn nichtdas Um und Auf der Staatstätigkeit die Verschlechte-rung der Versorgung zum – freilich in letzter Linie

nicht gewollten – Ziel hätte. Man denke doch an dieFolgen aller handelspolitischen Eingriffe, über derenproduktivitätsmindernde Wirkung doch wohl die An-schauungen nicht geteilt sein können. Man denkedaran, wie die fortschreitende Rationalisierung derBetriebsführung durch den Kampf gegen die Kartelleund Trusts behindert wurde. Man denke an die Folgender preispolitischen Eingriffe. Man denke daran, wiedie künstliche Hochhaltung der Löhne durch den Koa-litionszwang und die Verweigerung des Schutzes der Arbeitswilligen auf der einen Seite und durch die Ar- beitslosenunterstützung auf der andern Seite undschließlich die Aufhebung der Freizügigkeit im zwisch-

enstaatlichen Verkehr das Feiern von Millionen Arbei-tern geradezu zu einer ständigen Erscheinung ge-macht haben.

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 werkschaften und durch die Arbeitslosenunt-erstützung über dem Stande erhalten werden, den sieauf dem unbehinderten Markte einnehmen würden. Würden keine Arbeitslosenunterstützungen gezahlt werden und würden die Gewerkschaften nicht dieMacht haben, ein Unterbieten der von ihnen geforder-ten Löhne durch arbeitswillige Nichtmitglieder zu verhindern, dann würde der Druck des Angebotes den

Lohn auf jenen Stand bringen, bei dem alle Hände Verwendung finden. Man mag diese Folge der antili- beralen und antikapitalistischen Politik mehrererJahrzehnte bedauern, aber man kann es nicht ändern.Nur durch Einschränkung des Konsums und durch Arbeit können die verlorenen Kapitalien wieder er-setzt werden, und nur durch Bildung von neuem Kapi-tal kann die Grenzproduktivität der Arbeit und damitder Lohnsatz gehoben werden.

Man kann das Übel nicht damit bekämpfen, daßman an die Arbeitslosen Unterstützungen ausbezahlt. Auf diesem Wege schiebt man die letzten Endes un- vermeidliche Anpassung des Lohnes an die gesunkene

Grenzproduktivität der Arbeit nur hinaus. Und da dieUnterstützungen in der Regel aus dem Kapital undnicht aus dem Einkommen herstammen, wird immermehr Kapital aufgezehrt und so die künftige Grenz-produktivität der Arbeit herabgesetzt.

Man darf sich freilich nicht vorstellen, daß selbsteine sofortige Beseitigung der das Funktionieren derkapitalistischen Wirtschaftsordnung behinderndenSchranken mit einem Schlage die Folgen jahrzehn-telanger Interventionspolitik auslöschen könnte. Un-geheure Mengen von Produktivgütern sind vernichtet worden, noch größere sind durch die Zollpolitik undandere merkantilistische Maßnahmen in Verwendun-

gen festgelegt worden, in denen sie überhaupt nichtoder nur mit geringem Erfolg genutzt werden können.Die Ausschaltung großer und fruchtbarster Teile der Welt (wie Rußland und Sibirien) aus der internationa-

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len Tauschgesellschaft zwingt zu unproduktiver Um-stellung in jedem Zweige von Urproduktion und Ver-arbeitung. Jahre würden selbst unter den günstigstenUmständen vergehen, bis es möglich wäre, die Spurender verkehrten Politik der letzten Jahrzehnte zu tilgen. Aber: es gibt keinen andern Weg zu steigendem Wohlstand für alle.

 VI. Die Doktrin des Interventionismus.

Dem vorwissenschaftlichen Denken erschien diemenschliche, auf dem Sondereigentum an den Pro-duktionsmitteln aufgebaute Gesellschaft als von Naturaus chaotisch. Ordnung könne in sie nur gebracht werden durch von außen herkommende Gebote derMoral und des Rechts. Nur wenn Käufer und Verkäu-fer sich an Gerechtigkeit und Billigkeit halten, kanndie Gesellschaft bestehen. Um zu verhindern, daßdurch willkürliches Abgehen vom »gerechten Preis«Unheil entstehe, habe die Obrigkeit einzugreifen. Die-se Auffassung beherrscht alle Äußerungen über Dinge

des gesellschaftlichen Lebens bis ins 18. Jahrhundert;sie tritt zum letztenmal in aller Naivität in den Schrif-ten der Merkantilisten zutage.

Das 18. Jahrhundert macht dann eine – in man-chen älteren Schriften über Geld und Preise schon vorbereitete – Entdeckung, die mit einem Schlage andie Stelle der Sammlung von Sittensprüchen, derkompendienartigen Zusammenstellung von Polizei-maßregeln und aphoristischer Bemerkungen überihren Erfolg oder Mißerfolg eine Wissenschaft vomÖkonomischen treten läßt. Man erkennt, daß die Prei-se nicht willkürlich bestimmt werden, sondern durchdie Lage des Marktes innerhalb so enger Schranken

festgelegt sind, daß man für alle praktischen Probleme von ihrer eindeutigen Bestimmtheit reden kann. Manerkennt, daß die Unternehmer und die Besitzer derProduktionsmittel durch das Gesetz des Marktes in

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den Dienst der Verbraucher gestellt werden, und daßin ihrem Tun und Lassen nicht Willkür, sondern not- wendige Anpassung an gegebene Verhältnisse waltet.Diese Tatsachen allein sind es, die eine Wissenschaftder Nationalökonomie und ein System der Katallaktik möglich machen. Wo die älteren Schriftsteller nur Willkür und Zufall sehen, sah man nun Notwendigkeitund Einheit. So konnte man an Stelle der Erörterung

 von Polizeivorschriften Wissenschaft und System tre-ten lassen.

Der klassischen Nationalökonomie fehlt noch dieklare Erkenntnis, daß das Sondereigentum an denProduktionsmitteln allein imstande sei, die Grundlageeiner arbeitsteiligen Gesellschaft abzugeben, und daßdas Gemeineigentum an den Produktionsmitteln un-durchführbar ist. Sie hat, indem sie, vom Merkanti-lismus beeinflußt, Produktivität und Rentabilität ge-genübergestellt, den Weg betreten, auf dem es zurErörterung der Frage kommen mußte, ob denn nichtdie sozialistische Gesellschaftsordnung der kapitalisti-schen vorzuziehen sei. Aber sie hat klar erkannt, daß

es – vom Syndikalismus, an den sie nicht dachte, ab-gesehen – nur die Alternative Kapitalismus oder Sozi-alismus gibt, und daß die »Eingriffe« in das Spiel derauf dem Sondereigentum an den Produktionsmittelnaufgebauten Wirtschaftsordnung, die die Stimme des Volkes fordert und die Regierungen gerne verfügen,das Ziel verfehlen.

Die antiliberalen Schriftsteller führen immer wie-der aus, daß die Ideen der klassischen Nationalöko-nomie den »Interessen« der «Bourgeoisie« gedienthätten und daß sie deswegen einerseits selbst Erfolgerzielt, anderseits dem Bürgertum zu seinen Erfolgen verholfen hätten. Nun kann wohl kein Zweifel darüber

 bestehen, daß nur die vom Liberalismus geschaffeneFreiheit den Raum für die unerhörte Entwicklung derProduktivkräfte geboten hat, die die letzten Men-schenalter gezeitigt haben. Doch wer glaubt, daß der

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Sieg des Liberalismus irgendwie durch seine Stellungzu den »Eingriffen« erleichtert worden sei, befindetsich in einem schweren Irrtum. Gegen den Liberalis-mus standen die Interessen aller durch das System derobrigkeitlichen Vielgeschäftigkeit Geschützten, Be- vorzugten und Bevorrechteten. Daß der Liberalismussich trotzdem durchsetzen konnte, war seinem geisti-gen Siege zuzuschreiben, der die Verteidiger der Privi-

legien matt setzte. Daß die durch die Privilegien Ge-schädigten sich für ihre Abschaffung einsetzten, warnichts Neues. Neu war bloß, daß der Angriff auf dasSystem, das Privilegien zuließ, Erfolg hatte, und das war ausschließlich dem geistigen Sieg des Liberalis-mus zu danken.

Der Liberalismus hatte mit der Nationalökonomiegesiegt und durch sie. Keine andere wirtschaftspoliti-sche Ideologie läßt sich mit der Wissenschaft der Ka-tallaktik irgendwie vereinbaren. Man hat in Englandin den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigenJahrhunderts den Versuch unternommen, an derHand der Nationalökonomie zu zeigen, daß die kapita-

listische Gesellschaftsordnung nicht befriedigendfunktioniere und daß sie ungerecht sei; Marx hat danndaraus seinen »wissenschaftlichen« Sozialismus ge-macht. Aber selbst wenn es diesen Literaten gelungen wäre, zu beweisen, was sie der kapitalistischen Wirt-schaft vorwerfen, so hätten sie erst den weiteren Be- weis zu erbringen gehabt, daß eine andere Gesell-schaftsordnung – etwa die sozialistische – besser wäreals der Kapitalismus. Das aber haben sie nicht nurnicht getan; sie haben nicht einmal den Beweis zuerbringen vermocht, daß eine auf dem Gemeineigen-tum an den Produktionsmitteln beruhende Gesell-schaftsordnung durchführbar wäre. Damit, daß man –

 wie der Marxismus – jede Erörterung der Problemeeiner sozialistischen Gesellschaft als »utopisch« abtutund ächtet, hat man das Problem selbstverständlichnicht gelöst.

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Von der »Gerechtigkeit« einer gesellschaftlichenEinrichtung oder einer Gesellschaftsordnung zu spre-chen, ist überhaupt mit den Mitteln der Wissenschaftnicht möglich. Man mag immerhin nach Belieben diesoder jenes als »ungerecht« und »unsittlich« ansehen;kann man an Stelle des Verurteilten nichts anderessetzen, dann lohnt es nicht, darüber auch nur ein Wort zu verlieren.

Aber das alles geht uns hier nichts an. Für uns istallein das von Bedeutung: Nie ist es gelungen, zu zei-gen, daß – den Syndikalismus wollen wir außer achtlassen – zwischen oder neben der auf dem Sonderei-gentum an den Produktionsmitteln beruhenden Ge-sellschaftsordnung und der auf dem Gemeineigentuman den Produktionsmitteln beruhenden noch einedritte Gesellschaftsordnung denkbar und möglich sei.Das zwischen beiden vermittelnde System des durchobrigkeitliche Maßnahmen beschränkten, geleitetenund regulierten Eigentums einzelner ist in sich selbst widerspruchsvoll und sinnwidrig; jeder Versuch, esernstlich durchzuführen, muß zu einer Krise führen,

aus der dann entweder Sozialismus oder Kapitalismusallein den Ausweg geben können.

Das ist ein Ergebnis der nationalökonomischen Wissenschaft, an dem nicht gerüttelt werden kannund an dem auch niemand zu rütteln versucht hat. Wer jene dritte Gesellschaftsordnung des reguliertenPrivateigentums empfehlen will, dem bleibt nichtsanderes übrig, als die Möglichkeit wissenschaftlicherErkenntnis auf dem Gebiete des Ökonomischenrundweg zu bestreiten, wie es die historische Schule inDeutschland getan hat und wie es die Institut-ionalisten in den Vereinigten Staaten heute tun. Andie Stelle der Nationalökonomie, die feierlich abge-

schafft und verboten wird, tritt die Staats- und Poli-zeiwissenschaft, die registriert, was die Obrigkeit ver-fügt hat, und Vorschläge darüber macht, was noch zu verfügen wäre. Man knüpft mit vollem Bewußtsein an

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die Merkantilisten, oder gar an die kanonistische Leh-re vom gerechten Preis an und wirft die ganze Arbeitder Nationalökonomie zum alten Eisen.

Die deutsche historische Schule und die vielen Anhänger, die sie außerhalb Deutschlands gefundenhat, haben nie das Bedürfnis empfunden, sich grund-sätzlich mit den Problemen der Katallaktik auseinan-derzusetzen. Ihnen genügten vollauf die Argumente,

die Schmoller und einige seiner Jünger, z. B. Hasbach,im berühmten Methodenstreite vorgebracht hatten.Nur drei Männer haben in den Jahrzehnten, die zwi-schen dem preußischen Verfassungskonflikt und der Weimarer Verfassung liegen, die Problematik desPrinzips der Sozialreform empfunden: Philippovich,Stolzmann und Max Weber. Von diesen drei hat abernur Philippovich von dem Wesen und dem Inhalt dertheoretischen Nationalökonomie Kenntnis gehabt. Inseinem System stehen Katallaktik und Interventio-nismus unvermittelt nebeneinander, keine Brückeführt von jener zu diesem und für die Lösung des gro-ßen Problems wird nichts versucht. Stolzmann sucht

das, was Schmoller und Brentano nur ungenügendangedeutet haben, grundsätzlich durchzuführen. Daßsein Unternehmen mißlingen mußte, war notwendig;peinlich ist nur die Feststellung, daß der einzige Ver-treter der Schule, der an das Problem wirklich heran-getreten ist, von dem, was die von ihm befehdeteRichtung wollte, kaum eine Ahnung hatte. Max Weber blieb auf halbem Wege stehen, weil er – mit ganz an-dern Dingen beschäftigt – der theoretischen National-ökonomie fern stand; vielleicht wäre er weiter ge-kommen, wenn ihn nicht ein allzufrüher Tod hinge-rafft hätte.

Seit mehreren Jahren spricht man von einem

 Wiedererwachen des Interesses für die theoretischeNationalökonomie an den deutschen Hochschulen.Man hat dabei eine Reihe von Schriftstellern im Auge,die wie Liefmann, Oppenheimer, Gottl u. a. m. in heft-

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igster Weise gegen das System der modernen subjek-tivistischen Nationalökonomie, von dem sie nur die»Österreicher« kennen, losziehen. Es ist hier nicht derPlatz, über die Frage der Berechtigung dieser Angriffezu sprechen. Uns interessiert nur die Wirkung, die sieauf die Erörterung der Möglichkeit jenes Systemseines durch obrigkeitliche Eingriffe regulierten Son-dereigentums ausüben. Indem jeder einzelne von die-

sen Schriftstellern alles, was die theoretische Natio-nalökonomie – Physiokraten, Klassiker, Moderne – bisher geleistet hat, als ganz verfehlt abtut, dabei be-sonders die Arbeit der modernen Nationalökonomen, vor allem der »Österreicher«, als unbegreifliche Verir-rung des menschlichen Geistes hinstellt und daraufhinein, wie er meint, originales System der theoretischenNationalökonomie mit dem Anspruch vorträgt, damitalle Zweifel zu beheben und alle Probleme endgültigzu lösen, wird beim Publikum der Anschein erweckt,daß auf dem Gebiete dieser Wissenschaft schlechter-dings alles unsicher und problematisch sei und daß estheoretische Nationalökonomie nur als individuelle

 Ansicht einzelner Gelehrter gebe. Man konnte überdem Aufsehen, das die Bücher dieser Schriftsteller imdeutschen Sprachgebiet erweckten, verkennen, daß eseine Wissenschaft der theoretischen Nationalökono-mie gibt, deren System – von Abweichungen in Ein-zelheiten und ganz besonders auch in der Ausdrucks- weise abgesehen – sich bei allen Freunden der Wis-senschaft gleichen Ansehens erfreut, und dem, imGrunde genommen, trotz aller Kritik und aller Vorbe-halte auch diese Schriftsteller selbst in den ent-scheidenden Fragen zustimmen. Und weil man diesnicht erfaßte, konnte man nicht die Notwendigkeit begreifen, das herrschende System der Wirtschaftspo-

litik an der Hand der nationalökonomischen Erkennt-nisse zu prüfen.Dazu kam überdies noch die Wirkung des Streites

über die Zulässigkeit des Werturteils in der Wissen-

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schaft. In den Händen der historischen Schule war dieUniversitätsdisziplin der Staatswissenschaften zueiner Kunstlehre für den Staatsmann und Politikergeworden. In den Hörsälen und in den Lehrbüchern wurden wirtschaftspolitische Forderungen erhobenund als »Wissenschaft« verkündet. Die »Wissen-schaft« verdammte den Kapitalismus als unsittlichund ungerecht, lehnte die vom marxistischen Sozia-

lismus vorgeschlagene Lösung als zu »radikal« ab undempfahl entweder Staatssozialismus oder eben dasSystem des durch obrigkeitliche Eingriffe reguliertenSondereigentums. Nationalökonomie war nicht mehreine Sache des Wissens und des Könnens, sondern derguten Gesinnung. Diese Verquickung von Universi-tätslehre und Politik begann man besonders seit demBeginn des zweiten Jahrzehnts unseres Jahrhundertsals anstößig zu empfinden. Die Mißachtung, in die dieoffiziellen Vertreter der Wissenschaft beim Publikumdadurch gekommen waren, daß sie es als ihre Aufgabeansahen, den parteipolitischen Programmen ihrerFreunde die Weihe der »Wissenschaft« zu geben, und

das Ärgernis, daß jede Partei sich auf das für sie spre-chende Urteil der »Wissenschaft«, d. h. der in ihremGefolge einherschreitenden Inhaber von Lehrstühlen,zu berufen für berechtigt hielt, konnten nicht längerohne Widerspruch ertragen werden. Als nun Max Weber und einige seiner Freunde die Forderung auf-stellten, die »Wissenschaft« habe darauf zu verzich-ten, Werturteile auszusprechen, und die Kathederdürften nicht länger zur Propaganda für wirtschafts-politische Ideen mißbraucht werden, fanden sie fastallgemeine Zustimmung.

Unter denen, die Max Weber zustimmten oderzumindest nicht zu widersprechen wagten, befanden

sich auch manche, deren ganze Vergangenheit demGrundsatze der Objektivität widersprach und derenliterarische Leistung nichts anderes als die Paraphrase bestimmter wirtschaftspolitischer Programme dar-

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stellte. Sie verstanden freilich die »Freiheit vom Werturteils in besonderer Weise. Ludwig Pohle und Adolf Weber hatten das Grundproblem des Interven-tionismus durch Untersuchung der lohnpolitischen Wirksamkeit der Arbeitervereine zur Erörterung ge-stellt. Die Anhänger der herrschenden Brentano- Webbschen Gewerkvereinsdoktrin waren nicht im-stande, diesen Ausführungen irgend etwas Stich-

haltiges zu entgegnen. Aus der Verlegenheit, in die siedadurch geraten waren, schien sie das neue Postulat»werturteilsfreie Wissenschaft« zu befreien. Sie konn-ten über alles, was ihnen nicht paßte, hochmütig mitder Bemerkung zur Tagesordnung übergehen, daß esmit der Würde der Wissenschaft nicht vereinbar sei,sich in das Gezänk der Parteien einzumengen. So wurde der Grundsatz der Wertfreiheit, den Max We- ber im besten Glauben zur Wiederaufnahme wissen-schaftlicher Behandlung der Probleme des Gesell-schaftslebens vertreten hatte, dazu verwendet, um dieDoktrinen der historisch-realistisch-sozialpolitischenSchule gegen die Kritik der theoretischen National-

ökonomie zu schützen.Man verkennt – vielleicht nicht ohne Absicht –

immer wieder den Unterschied, der zwischen der Un-tersuchung nationalökonomischer Probleme und der Aufstellung wirtschaftspolitischer Postulate besteht. Wenn man z. B. die Wirkung von Preistaxen unter-sucht, stellt man fest, daß man durch die Anordnungeines unter dem Preise, der sich auf dem unbeeinfluß-ten Markte bilden würde, liegenden Höchstpreises das Angebot ceteris paribus vermindert, und daraus fol-gert, daß die Preistaxe den Zweck, den die Obrigkeitmit ihr erreichen will, verfehlt, daß sie daher als Teue-rungspolitik sinnwidrig ist, so heißt das nicht, Wertur-

teile zu setzen. Auch wenn der Physiologe feststellt,daß der Genuß von Blausäure das menschliche Lebenzerstört und daß daher ein »Ernährungssystem«, dasBlausäure verwendet, sinnwidrig ist, so liegt darin

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kein Werturteil. Ob man ernähren oder töten will odersoll, das wird von der Physiologie nicht beantwortet;sie stellt nur fest, was aufbaut und was zerstört, wasder Ernährer und was der Mörder tun muß, um sei-nem Sinne gemäß zu handeln. Wenn ich sage, daßPreistaxen sinnwidrig sind, so ist damit gemeint: sieerreichen nicht den Zweck, den man durch sie ge- wöhnlich erreichen will. Wenn etwa ein Bolschewik 

sagen wollte: »Gerade darum, weil ihre Wirkungennur in der Unterbindung des Funktionierens desMarktmechanismus bestehen, gerade weil sie diemenschliche Gesellschaft in ein »sinnloses« Chaos verwandeln, wünsche ich sie, um so schneller zu mei-nem Ideal des Kommunismus zu gelangen«, so kannman ihm vom Standpunkte der Theorie der Preistaxenso wenig etwas entgegnen wie vom Standpunkte derPhysiologie einem Manne, der mit Blausäure töten will. Wenn in ähnlicher Weise die Sinnwidrigkeit desSyndikalismus und die Undurchführbarkeit des Sozia-lismus gezeigt wird, so hat das mit Werturteilen nichtdas mindeste zu tun.

Es heißt der Nationalökonomie den Boden ent-ziehen, wenn man alle diese Untersuchungen als un-zulässig bezeichnet. Wir sehen heute, wie viele jungeKräfte, die sich unter anderen Umständen mit natio-nalökonomischen Problemen befaßt hätten, sich in Arbeiten erschöpfen, die ihrer Veranlagung nicht ent-sprechen und daher der Wissenschaft nur wenig för-derlich sind, weil sie, in den geschilderten Irrtümern befangen, es scheuen, sich den wissenschaftlich be-langreichen Aufgaben zu widmen.

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 VII. Das historische und das praktische Argu-ment für den Interventionismus.

Durch die Kritik der Nationalökonomie in dieEnge getrieben, berufen sich die Vertreter der histo-risch-realistischen Schule schließlich auf die »Tatsa-chen«. Es könne nicht bestritten werden, daß alle dieEingriffe, die die Theorie als sinnwidrig erklärt, vorge-

nommen wurden und noch vorgenommen werden.Man könne nicht annehmen, daß ihre angeblicheZweckwidrigkeit von der Praxis nicht bemerkt worden wäre. Daß sich die interventionistischen Normendurch Jahrhunderte hindurch erhalten hätten, daß die Welt seit dem Verschwinden des Liberalismus wiedermit Interventionismus regiert werde, sei Beweis ge-nug, daß das System durchführbar und erfolgreichund keineswegs sinnwidrig sei. Die reiche Literatur, inder die historisch-realistische Schule die Geschichteder Wirtschaftspolitik dargestellt hat, bestätige vollauf die Doktrinen des Interventionismus13.

Die Tatsache, daß bestimmte Maßnahmen ergrif-

fen und immer wieder von Neuem ergriffen wurden, beweist nichts dafür, daß sie nicht sinnwidrig wären.Sie beweist nur, daß die, von denen sie ausgingen, ihreSinnwidrigkeit nicht erkannt haben; das aber soll garnicht bestritten werden. Es ist nämlich nicht so leicht,die Bedeutung einer wirtschaftspolitischen Maßregelzu erfassen, wie es die »Empiriker« glauben. OhneEinblick in den Zusammenhang des Ablaufs der gan-zen Wirtschaft, d. h. ohne umfassende Theorie geht esüberhaupt nicht. Die Verfasser von wirtschaftsge-schichtlichen, wirtschaftsbeschreibenden, wirt-schaftspolitischen und wirtschaftsstatistischen Arbei-ten gehen gewöhnlich viel zu leichtfertig vor. Ohne die

13 Vgl. Zwiedineck-Südenhorst, Macht oder ökonomi-

sches Gesetz (Schmollers Jahrbuch, 49. Jahrgang), S. 278 ff.

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erforderlichen Kenntnisse auf dem Gebiete der Theo-rie wagen sie sich an Aufgaben, zu deren Behandlungsie ganz ungenügend geschult sind. Was nicht schonden Verfassern ihres Quellenmaterials aufgefallen ist,pflegt in der Regel auch ihrer Aufmerksamkeit zu ent-gehen. Wenn sie eine wirtschaftspolitische Verfügung besprechen, sind sie selten geneigt, mit der gebotenenSorgfalt zu prüfen, ob und wie sie ausgeführt wurde,

ob die beabsichtigte Wirkung auch erreicht wurde,und ob sie, falls sie eintrat, der besprochenen Maß-nahme oder andern Ursachen zuzuschreiben ist. DieFähigkeit, die weiter reichenden – vom Standpunkteihrer Urheber erwünschten oder unerwünschten – Wirkungen zu erkennen, geht ihnen schon vollendsab. Daß aus der großen Menge dieser Arbeiten ein Teilder geldgeschichtlichen sich durch höhere Qualitätheraushebt, hat seinen Grund in dem Umstand, daßihre Verfasser mit einem gewissen Stock geldtheoreti-scher Kenntnisse (Greshamsches Gesetz, Quantitäts-theorie) ausgerüstet und daher ihren Aufgaben bessergewachsen waren als der Durchschnitt.

Das Wichtigste, das ein Bearbeiter wirtschaftli-cher »Tatsachen« mitbringen muß, ist vollkommeneBeherrschung der nationalökonomischen Theorie.Seine Aufgabe ist es dann, das Material, das sich ihm bietet, an der Hand der Theorie zu deuten. Gelingtihm dies nicht oder nicht in einer ihn voll befriedigen-den Weise, dann hat er den kritischen Punkt genauaufzuzeigen und das der theoretischen Erklärung hiererwachsende Problem zu formulieren. Andere mögen versuchen, die Aufgabe zu lösen, an der er gescheitertist. Denn das, um was es sich hier handelt, ist ein Ver-sagen des Bearbeiters, nicht ein Versagen der Theorie.Mit einer Theorie kann man alles erklären. Theorien

 versagen nicht an einzelnen Problemen, sondern ander Unzulänglichkeit ihres Ganzen. Und wer eineTheorie durch eine andere ersetzen will, muß sie ent- weder in das gegebene System einfügen oder ein neu-

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es System aufstellen, in dem sie Platz findet. Es istganz und gar unwissenschaftlich, von einer »Tatsa-che«, die man gerade vor Augen hat, ausgehend, das Versagen der »Theorie« und des Systems zu verkün-den. Das Genie, dem es gegeben ist, die Wissenschaftdurch neue Erkenntnis zu fördern, kann aus der Beob-achtung des kleinsten und für andere unscheinbarsten Vorganges zur tiefsten Erkenntnis geführt werden;

sein Geist entzündet sich an jedem Gegenstand. Aberder Neuerer verdrängt das Alte durch ein Neues, nichtdurch bloße Verneinung; er ist immer Theoretiker miteinem auf das Ganze und auf das System gerichtetenBlick.

Auf die tiefere erkenntnistheoretische Frage des Widerstreites der Systeme haben wir hier nicht einzu-gehen. Denn für uns steht ja nicht eine Vielheit sich bekämpfender Systeme zur Erörterung. Wir haben, wenn wir das Problem des Interventionismus unter-suchen, in der Nationalökonomie auf der einen Seitedas System der modernen Nationalökonomie und mitihm ausnahmslos auch alle ältere natio-

nalökonomische Theorie, und auf der andern Seite dieSystem- und Theorieleugner, mögen sie nun in derBestreitung der Möglichkeit theoretischer Erkenntnismehr oder weniger vorsichtige Ausdrücke verwenden.Ihnen hat man einfach zu antworten: Versuchet einSystem theoretischer Erklärung aufzustellen, das euchmehr befriedigt als unseres: Dann wollen wir erst weiter reden.

Alles, was die Bekämpfer der theoretischen Nati-onalökonomie in ihren Arbeiten vorbringen, ist natür-lich auch »Theorie«. Ja, sie schreiben heute selbst»Theorien der Volkswirtschaft« und halten Vorlesun-gen über »Theoretische Nationalökonomie«. Was ihr

Beginnen aber als unzulänglich erscheinen läßt, ist derUmstand, daß sie es unterlassen, die einzelnen Sätzeihrer »Theorie« zu einem System, zu einer Gesamt-theorie der Katallaktik zusammenzuschließen. Nur

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durch das System und im System wird ein theo-retischer Satz zur Theorie. Es ist sehr leicht, überLohn, Rente und Zins verschiedenes zu sagen. Voneiner Theorie kann man aber nur dort sprechen, wodie einzelnen Aussagen zu einer Gesamterklärungaller Marktvorgänge verbunden werden.

Die Naturwissenschaften können im Experimentalle störenden Einflüsse ausschalten und die Folgen

der Veränderung eines Faktors caeteris paribus beo- bachten. Läßt sich das Ergebnis des Versuchs nicht befriedigend in das gegebene System der Theorie ein-ordnen, dann mag daraus die Anregung zu einer Aus-gestaltung des Systems oder gar zu seinem Ersatzdurch ein neues erwachsen. Doch man würde jeden verlachen, der aus dem Ergebnis eines Versuchs fol-gern wollte, es könne keine theoretische Erkenntnisgeben. Den Gesellschaftswissenschaften fehlt das Ex-periment. Sie können die Wirkung eines Faktors niecaeteris paribus beobachten. Und dennoch wagt manes; ohne weiteres aus irgendeiner »Tatsache« zu fol-gern, die Theorie oder gar alle Theorie sei widerlegt.

 Was soll man gar sagen, wenn man allgemeineSätze hört, wie die: »Englands industrielle Suprematieim 18. und I9. Jahrhundert war die Folge der merkan-tilistischen Politik der früheren Jahrhunderte«, oder:»Das Steigen des Reallohnes in den letzten Jahrzehn-ten des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts istden Gewerkschaften zu danken«, oder: »Die Boden-spekulation verteuert die Mieten«. Diejenigen, diediese Sätze verkünden, glauben sie unmittelbar ausder Erfahrung gezogen zu haben. Das wäre, meintman, nicht graue Theorie, sondern Frucht vom grünenBaume des Lebens. Und hartnäckig sträubt man sichdagegen, dem Theoretiker Aufmerksamkeit zu schen-

ken, wenn er die einzelnen Sätze »der praktischenErfahrung« dadurch zu prüfen sucht, daß er sie bisans Ende denkt und sie zu einem systematischen Ge-füge zusammenzufassen sucht.

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Alle Argumente, die die empirisch-realistischeSchule vorzubringen gewußt hat, ersetzen nicht denMangel eines geschlossenen theoretischen Systems.

 VIII. Neue Schriften über Probleme desInterventionismus.

In Deutschland, dem klassischen Lande des In-terventionismus, wurde die Notwendigkeit, sich ernst-lich mit der Kritik auseinanderzusetzen, die die Nati-onalökonomie am Interventionismus geübt hatte,kaum empfunden. Der Interventionismus kam kampf-los zur Herrschaft. Er durfte die von Engländern undFranzosen geschaffene Wissenschaft der Nationalöko-nomie, die schon List als den Interessen des deut-schen Volkes abträglich gebrandmarkt hatte, unbe-achtet lassen. Von den wenigen deutschen National-ökonomen war Gossen ganz, Thünen nahezu unbe-kannt, Hermann und Mangold ohne tieferen Einflußgeblieben. Menger wurde dann im Methodenstreit

»erledigt«. Um das, was seit dem Beginne der 70erJahre des 19. Jahrhunderts in der Nationalökonomiegeschaffen wurde, kümmerte sich die offizielle Wis-senschaft im Deutschen Reich nicht mehr. Alle Ein- wände, die gegen sie erhoben wurden, tat sie damit ab,daß sie sie als Vertretung der Sonderinteressen derUntnehmer und Kapitalisten brandmarkte14. In den Vereinigten Staaten, auf die jetzt die Führung im In-terventionismus überzugehen scheint, liegen die Din-ge doch anders. In dem Lande, in dem J. B. Clark,Taussig, Fetter, Davenport, Young, Seligman wirken,geht es nicht an, sich wortlos über alles hinwegzuset-zen, was die Nationalökonomie geleistet hat. Es war

14 Vgl. die zutreffende Charakterisierung dieses Verfah-rens bei Pohle, Die gegenwärtige Krisis in der deutschen

 Volkswirtschaftslehre, 2. Ausgabe, Leipzig 1921, S. 115 ff.

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daher zu erwarten, daß in den Vereinigten Staaten der Versuch unternommen werden wird, die Durchführ- barkeit und Sinnhaftigkeit des Interventionismus zu beweisen. John Maurice Clark, früher Professor derUniversität von Chicago, seit Herbst 1926 wie frühersein großer Vater, John Bates Clark, Professor an derColumbia University in New York, hat sich dieser Ar- beit unterzogen15.

Es ist freilich sehr zu bedauern, daß in dem um-fangreichen Werke nur ein einziges, leider nur wenigeSeiten umfassendes Kapitel sich mit dem Grundprob-leme des Interventionismus befaßt.

Clark unterscheidet zwei Arten der staatlichen(gesellschaftlichen) Regelung der wirtschaftlichenHandlungen: Regelung der nebensächlichen Dinge(those in which the state is dealing with matters whichare incidental to the main transaction) und Regelungder wesentlichen Dinge (those in which the »heart of the contract« is at stake and the state presumes to fixthe terms of the exchange and dictate theconsideration in money or in goods, or to say that the

exchange shall not take place at all)16. Diese Unter-scheidung deckt sich so ziemlich mit der von uns vor-genommenen, die die produktionspolitischen und diepreispolitischen Eingriffe unterscheidet. Es ist ja klar,daß eine nationalökonomische Betrachtung des Inter- ventionssystems gar nicht anders vorgehen kann.

 Auch in der Beurteilung der Regelung der neben-sächlichen Dinge der Geschäfte (control of mattersincidental to the contract) gelangt Clark zu keinem

15 Vgl. J. M. Clark, Social Control of Business. The

University of Chicago Press 1926.16 Vgl. Clark, a. a. O., S. 450. - Um jedes Mißverständnis

zu vermeiden, bemerke ich ausdrücklich, daß diese Unter-scheidung mit der gemeinrechtlichen Unterscheidung deressentialia, naturalia und accidentalia negotii nichts zu tunhat.

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andern Ergebnis als wir in der Beurteilung der pro-duktionspolitischen Eingriffe. Auch er kann nichtumhin, festzustellen, daß sie nur produktionshem-mend und produktionshindernd wirken können (suchregulations impose some burdens on industry) 17. Dasist alles, was uns an seinen Ausführungen interessiert.Die Erörterung des politischen Für und Wider solcherEingriffe ist für unser Problem bedeutungslos.

In der Besprechung der Regelung der wesentli-chen Dinge der Geschäfte (control of the »heart of thecontract«), der unsere Kategorie der preispolitischenEingriffe ungefähr entspricht, erwähnt Clark zunächstdie amerikanischen Zinstaxen. Sie würden, meint er,durch Aufrechnung von Nebengebühren umgangen,die den Darlehensnehmer über den nominellen Zins-satz hinaus belasten. Für kleine Darlehen an Konsu-menten habe sich ein illegaler Geschäftsverkehr ent- wickelt. Da anständige Leute solche Geschäfte nichtmachen, seien sie die Domäne skrupelloser Elemente.Da solche Geschäfte das Licht der Öffentlichkeitscheuen müssen, würden enorme Zinssätze verlangt

und gewährt, die weit das übersteigen, das verlangtund gewährt werden würde, wenn es keine Zinstaxengeben würde. Charges equivalent to several hundredper cent per year are the common thing. The law mul-tiplies the evil of extortion tenfold18.

Nichtsdestoweniger hält Clark Zinstaxen nicht fürsinnwidrig. Man soll den Darlehensmarkt auch fürdiese Kategorie von Darlehen an kleine Leute zu Kon-sumzwecken zwar im übrigen frei gewähren lassen,aber durch Gesetz verbieten, höhere Zinsvergütung zufordern, als der Marktlage entspricht. (The law… may render a great service in preventing the exaction of charges which are materially above the true market

17Ebendort S. 451.18Ebendort S. 453 f.

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rate.) Der einfachste Weg zur Erreichung dieses Zielssei to fix a legal rate for this class of loans whichliberally covers all costs and necessary inducements,and to forbid all charges in excess of this rate19.

Nun freilich, wenn die Zinstaxe die Zinssätze desMarktes als zulässig erklärt oder gar über sie freigebighinausgeht, dann kann sie nicht schaden; sie ist nurunnütz und überflüssig. Bleibt sie aber hinter dem

Satze, der sich auf dem unbehinderten Markte bilden würde, zurück, dann treten alle jene Folgen ein, dieClark selbst treffend in den angeführten Stellen ge-kennzeichnet hat. Was soll also die Zinstaxe? Darauf antwortet Clark: sie ist notwendig, um unfair discri-minations zu verhindern20.

Der Begriff der unfair discriminations (auch un-due discriminations) stammt aus dem Gebiete derMonopole her21. Ist der Monopolist als Verkäufer inder Lage, die Kauflustigen ihrer Kaufkraft und Kauf-lust nach in Schichten zu sondern, denen er dieselbe Ware oder Leistung zu verschiedenen Bedingungenanbietet, dann fährt er besser als bei Erstellung eines

einheitlichen Preises. Diese Voraussetzungen sind bei Verkehrsanstalten, Beleuchtungs- und Kraftwerkenund ähnlichen Betrieben in der Mehrzahl der Fällegegeben. Die Frachttarife der Eisenbahnen stellengeradezu den klassischen Fall solcher Differenzierungdar. Sie »ungerechtfertigt« zu nennen, geht wohl nichtso ohne weiteres an, wie der Interventionist naiv und voll von Ressentiment gegen den Monopolisten an-nimmt. Doch wir haben uns um die Frage der ethi-

19Ebendort S. 454.20Ebendort S. 454.21 Vgl. aus der großen amerikanischen Literatur: Nash,

The Economics of Public Utilities, New York 1925, S. 97,371; Wherry, Public Utilities and the Law, New York 1925, S.3 ff., 82 ff., 174. Vgl. auch Clark, a. a. O., S. 398 ff.

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schen Berechtigung eines Eingriffes nicht zu küm-mern. Was wir vom Standpunkte der Wissenschaftallein festzustellen haben, ist das eine, daß dem Mo-nopol gegenüber Raum für Eingriffe der Staatsgewaltgegeben ist.

Es gibt aber auch differentielle Behandlung ver-schiedener Käuferschichten gegen das Interesse desMonopolunternehmens. Das ist natürlich bewußt nur

dort möglich, wo das Monopolunternehmen als Gliedeines größeren Ganzen geführt wird, in dessen Rah-men es noch andern Zwecken dienstbar gemacht wirdals dem der größten Rentabilität. Wir übergehen dieFälle, in denen es sich dabei um die Erreichung be-stimmter nationalpolitischer, militärpolitischer odersozialpolitischer Ziele u. dgl. m. durch Monopolistenhandelt, die entweder selbst öffentliche Zwangsver- bände sind oder unter ihrem Einflusse stehen. Bei-spiele wären etwa die Erstellung von Frachtsätzennach handelspolitischen Gesichtspunkten oder dieDifferenzierung der Preise in Gemeindebetrieben nachdem Einkommen des Käufers. In diesen Fällen erfolgt

die Differenzierung im Sinne der Interventionistenund wird von ihnen gebilligt. Für uns können nur jeneFälle von Bedeutung sein, in denen der Monopolisteine Differenzierung gegen das Rentabilitätsinteressedes Unternehmens durchführt, weil er auf die Interes-sen seines andern Unternehmens, die ihm wichtigererscheinen, Rücksicht nimmt, oder weil er den Ab-nehmer aus persönlichen Gründen oder um ihn zuirgendeiner Handlung oder Unterlassung zu nötigen,ungünstiger stellen will. In den Vereinigten Staatenhaben Eisenbahnunternehmungen durch Einräumung von billigeren Frachtsätzen einzelne Verfrachter, dieihrer Leitung nahestanden, im Wettbewerb gefördert

und ihre Konkurrenten dadurch nicht selten genötigt,ihre Betriebe aufzulassen oder um einen niedrigenPreis abzutreten. Man hat diese Vorfälle überaus ab-fällig beurteilt, weil sie die Konzentration der Unter-

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nehmungen und der Betriebe und die Bildung vomMonopolen befördert haben und die öffentliche Mei-nung in dem Verschwinden der Konkurrenz innerhalb jedes einzelnen Produktionszweiges ein Übel sehen wollte. Man verkannte eben, daß der Wettbewerb vonseiten der Produzenten und Verkäufer sich nicht nurinnerhalb der einzelnen Produktionszweige, sondernzwischen allen konsumverwandten Gütern – und kon-

sumverwandt sind im weiteren Sinne alle Güter –abspielt und daß die Folgen der durch die wenigenechten Monopole – der Bergwerksproduktion undähnlicher Zweige der Urproduktion – bewirkten Er-höhung des Preises vom Konkurrenzpreis auf denMonopolpreis durchaus nicht so unzweifelhaft für dasGanze nachteilig sind, wie die naive Monopolgegner-schaft anzunehmen bereit ist22.

Doch in dem von Clark behandelten Fall des Dar-lehensmarktes für kleinere Kredite an Konsumenten,Kleinbauern, Kleinhändler und Handwerker ist voneiner Monopolisierung nicht die Rede. Wie sollte esmöglich sein, hier unfair discriminations zu machen?

 Wenn das Darlehen von einer Seite nicht zum Markt-satze gewährt wird, wendet sich der Kreditsuchendeeinfach an einen andern Geldgeber. Daß freilich je-dermann – und ganz besonders in den Kreisen derKreditbedürftigen dieser untersten Kategorie – leichtgeneigt ist, seine eigene Bonität zu hoch einzuschätzenund die vom Kreditor geforderten Sätze als zu hoch zu bezeichnen, soll nicht bestritten werden.

 Von den Zinstaxen geht Clark zur Besprechungder Mindestlohnsatzungen über. Eine »künstliche«Lohnerhöhung, meint er, führt zu Arbeitslosigkeit. DieLohnsteigerung erhöhe nämlich die Produktionskos-ten und damit den Preis der Produkte, die dann vom

22 Vgl. darüber meine Gemeinwirtschaft, Jena 1922, S.

382 f. und meinen Liberalismus, Jena 1927, S. 80 ff.

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Markt nicht mehr in der Menge, die zum niedrigerenPreis abgesetzt wurde, aufgenommen werden. So gebees dann auf der einen Seite unbefriedigte Kauflustige,die die Waren billiger, als sie auf dem Markt nun zuhaben sind, erstehen möchten, und auf der andernSeite Arbeitslose, die bereit wären, um einen niedrige-ren Lohn, als der Tarif ihn festgelegt hat, zu arbeiten;schließlich fänden sich Unternehmer, die diese poten-

tielle Nachfrage und dieses potentielle Angebot zu-sammenzubringen bereit wären23.

Soweit könnte man Clark wieder zustimmen.Doch nun kommt eine Behauptung, die durchaus fehlgeht. Clark meint nämlich, auch die regulations affec-ting the incidental conditions of employment müßtendieselben Folgen nach sich ziehen, da auch sie dieProduktionskosten steigern24. Das ist eben nicht rich-tig. Wird die Lohnbildung auf dem Arbeitsmarkte freigelassen, dann bedeuten Eingriffe, wie Kürzung der Arbeitszeit, Zwangsversicherung der Arbeiter auf Kos-ten der Unternehmer, Vorschriften über die Ein-richtung der Betriebe, über Urlaub der Arbeiter bei

Fortbezug des Lohnes u. dgl. m. keine Steigerung desLohnes über den Marktsatz hinaus. Alle diese Lasten werden auf den Lohn überwälzt, werden vom Arbeitergetragen. Man konnte das übersehen, weil diese soz-ialpolitischen Eingriffe in erster Linie in einer Epochesteigender Reallöhne und sinkender Kaufkraft desGeldes zur Einführung gelangten, so daß die Netto-löhne, die an den Arbeiter bar ausgezahlt wurden, imGeldausdruck und im Naturalwert noch immer stie-gen, trotzdem sie immer stärker durch Anrechnungsolcher dem Unternehmer erwachsenden Spesen be-lastet wurden. In der Kalkulation des Unternehmers wird nicht bloß der Lohn des Arbeiters verrechnet,

23 Vgl. Clark, a. a. O., S. 454.24 Vgl. Clark, a. a. O., S. 455.

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sondern alle aus der Verwendung eines Arbeiters ent-stehenden Kosten.

 Wenn Clark dann weiter meint, Lohnerhöhungen wie andere Eingriffe zugunsten der Arbeiter may prove self-sustaining through raising the level of personal efficiency, through furnishing an addedstimulus to the employer’s search for improvedmethods, and through hastening the elimination of 

the least efficient employers and transfering their business to those who will conduct it moreefficiently 25, so hat das mit unserem Problem garnichts mehr zu tun. All das kann man auch von einemErdbeben oder von einer andern Elementarkatastro-phe behaupten.

Clark ist zu gut geschult in der Theorie und zuscharfsinnig, um nicht zu merken, wie unhaltbar seineganze Beweisführung ist. Er schließt sie daher mit den

 Worten, die Frage, ob ein bestimmter Eingriff eine»violation of economic law« wäre, sei im Grunde aquestion of degree; in letzter Linie komme in Betracht,

 wie groß die durch ihn bewirkten Veränderungen der

Kosten oder Marktwerte seien. Das Gesetz von Ange- bot und Nachfrage sei kein thing of precision and ine-xorable rigidity. Oft habe eine kleine Veränderung derProduktionskosten (a small change in costs of produc-tion) überhaupt keinen Einfluß auf den Endpreis, woz. B. der Preis in runden Beträgen festgelegt zu werdenpflegt und die Händler kleine Veränderungen derKosten oder der Großhandelspreise auf sich nehmen.Und dann folgt Clarks letztes Wort. Starke Lohnstei-gerungen ziehen die geschilderten Folgen nach sich,

 bei kleinen mag es anders sein26.

25Ebendort.26 A large increase in wage rates may be a »violation of 

economic law«, in the sense in which we are using the term, where a small increase would not be (ebendort S. 455).

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Betrachten wir es genau, so gibt Clark damit alleszu, was diejenigen behaupten, die den Interventio-nismus als zweck- und sinnwidrig bezeichnen. Daß dieFolgen eines Eingriffes in ihrer Quantität von seinerStärke abhängen, ist selbstverständlich und nie bestritten worden. Ein kleines Erdbeben zerstört we-niger als ein großes, und ganz schwache Erdbebenhinterlassen überhaupt keine merklichen Spuren.

Es ist ganz und gar unwesentlich, daß Clark trotzalledem daran festhält, daß man solche Eingriffe vor-nehmen könne und sie befürwortet. Er muß zugeben,daß es dann notwendig sei, noch besondere Maßnah-men zu ergreifen, um ihre Folgen zu beseitigen. Wer-den z. B. Preistaxen verfügt, so müsse man, um dieDiskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage zu be-seitigen, rationieren. Und man müsse dafür sorgen,daß die Produktion, weil der gewöhnliche Antriebgeschwunden sei, should be directly stimulated27. Hier bricht Clark seine Ausführungen leider ab. Hätte er sie weiter fortgesetzt, dann hätte er notwendigerweise zurErkenntnis gelangen müssen, daß es nur zwei Alterna-

tiven gibt: entweder von allen Eingriffen abzusehenoder aber, wenn man davon nicht lassen will, zur Be-hebung der discrepancy between supply and demand which the public policy has created soweit in immerneuen Eingriffen fortzuschreiten, bis die gesamte Pro-duktion und Verteilung der Leitung des gesellschaftli-chen Zwangsapparates unterstellt wird, also bis zur Vergesellschaftung der Verfügung über die Produkti-onsmittel, bis zum Sozialismus.

Es ist eine ganz unbefriedigende Lösung, wennClark für den Fall der Mindestlohnsatzungen emp-fiehlt, die durch sie arbeitslos Gewordenen durch öf-fentliche Arbeiten zu beschäftigen28. Und wenn er auf 

27Ebendort S. 456.28Ebendort S. 456.

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energy, intelligence and loyalty hinweist, die alle Ein-griffe erfordern, so ist das nichts als ein Ausdruck der Verlegenheit29.

Government, sagt Clark im vorletzten Satze desdiesen grundsätzlichen Erörterungen gewidmetenKapitels seines Buches, can do a great deal of good by merely seeing to it that everyone gets the benefit of themarket rate, whatever that is, and thus preventing the

ignorant from being exploited on account of theirignorance30. Das stimmt ganz mit der Auffassung desLiberalismus überein: die Regierung soll nichts ande-res tun als durch Schutz des Sondereigentums undBeseitigung aller seiner Auswirkung entgegenstehen-den Hemmnisse verhindern, daß einzelnen oder gan-zen Gruppen der freie Zutritt zum Markte verwehrt

 werde. Das ist nichts anderes, als eine Umschreibungdes Grundsatzes: Laissez faire, laissez passer. Es istohne besondere Bedeutung, ob man, wie es Clark of-fenbar tut, zur Erreichung dieses Zweckes eine beson-dere Aufklärungsarbeit für erforderlich hält odernicht. Unkenntnis der Marktlage allein kann nicht der

Umstand sein, der Kauflustige oder Arbeitsuchendean der Ausnützung der Konjunktur behindert; wenndie Verkäufer und die Unternehmer in der Aufsu-chung der Kunden und der Arbeitswilligen nicht ge-stört werden, wird ihr Wettbewerb die Preise ermäßi-gen und die Löhne erhöhen, bis der der Marktlageentsprechende Satz sich einstellt. Doch wie dem auchsei, es stünde mit dem liberalen Prinzip durchausnicht in Widerspruch, wenn die Regierung für Veröf-fentlichung aller für die Marktpreisbildung belangrei-chen Angaben fortlaufend Sorge tragen wollte.

Das Ergebnis der Untersuchungen, die Clark un-serem Problem gewidmet hat, steht mithin mit dem,

29Ebendort S. 457.30Ebendort S. 459.

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 was in den vorangehenden Abschnitten unserer Ab-handlung ausgeführt wurde, nicht im Widerspruch.Trotz des Eifers, den Clark dem Nachweis gewidmethat, daß die vielberufenen »Eingriffe« nicht zweck-und sinnwidrig sind, ist es ihm nicht gelungen, mehrdarzutun als das, daß die Eingriffe unter Umständen,nämlich dann, wenn sie quantitativ unbedeutend sind,auch nur unbedeutende Folgen nach sich ziehen, und

daß quantitativ bedeutendere Eingriffe unerwünschteFolgen nach sich ziehen, denen man durch besondereMaßnahmen entgegenwirken müsse. Die Darstellungdieser besonderen Maßnahmen aber hat Clark leider vorzeitig abgebrochen; hätte er sie, wie er es hätte tunmüssen, bis ans Ende geführt, dann hätte auch seineDarlegung klar gezeigt, daß es keine andere Wahl ge- ben kann, als entweder das Sondereigentum an denProduktionsmitteln frei gewähren lassen oder aber die Verfügung über die Produktionsmittel der organisier-ten Gesellschaft – ihrem Zwangsapparat, dem Staat –ganz zu übertragen, daß es also keine andere Alterna-tive geben kann als die: Sozialismus oder Kapitalis-

mus.So kann denn auch das Werk von Clark, das der

letzte und vollkommenste Ausdruck des amerikani-schen Interventionismus ist, dort, wo es sich mit dengrundsätzlichen Fragen des Interventionismus ausei-nandersetzt, zu keinem andern Ergebnis gelangen alszu dem, daß der Interventionismus ein in sich wider-spruchsvolles und im Sinne seiner Urheber selbstzweckwidriges System ist, das sich folgerichtig nichtdurchführen läßt und dessen Anwendung in jedemeinzelnen Fall nichts anderes bewirken kann als Stö-rungen im Ablaufe des Mechanismus der auf demSondereigentum an den Produktionsmitteln beruhen-

den Gesellschaftsordnung. Auch Richard Strigl, ein der »österreichischen«Schule angehöriger Nationalökonom, dem wir die jüngste deutsche Behandlung unserer Probleme ver-

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danken, steht, wenn auch nicht so ausgesprochen wieClark, mit seinen persönlichen Sympathien auf derSeite des Interventionismus. Aus jeder Zeile seiner Arbeit, die den Versuch unternimmt, die lohntheoreti-schen Probleme des Intervent-ionismus systematischzu untersuchen31, spricht deutlich das Bestreben, derSozialpolitik im allgemeinen und der gewerkschaftli-chen Politik im besonderen so viel Gutes nachzurüh-

men als nur irgendwie möglich ist. Alles, was Strig1 vorbringt, wird vorsichtig verklausuliert, so etwa wiein früheren Jahrhunderten Schriftsteller vorsichtigihre Worte setzten, um nicht der Inquisition oder derZensur zu verfallen32. Aber alle Konzessionen, die seinHerz der interventionistischen Denkungsart macht, betreffen nur Nebendinge und die Einkleidung, in dersich die Lehre vorstellt. In der Sache selbst gelangtStrigl auf Grund scharfsinniger Untersuchung zu kei-nem andern Ergebnis als zu dem, das eine national-ökonomische Untersuchung des Interventionismusallein zeitigen kann. Man kann den Kern seiner Lehreaus dem Satze erkennen: »je mehr der Arbeiter leisten

kann, desto mehr wird er, wenn diese Leistung voneiner Art ist, die in der Wirtschaft gebraucht wird, verdienen können, ganz gleich, ob der Lohn auf demfreien Markte sich bildet oder im Vertrage festgelegt wird«33. Es bereitet Strigl offensichtlich Kummer, daßdem so ist; aber er kann es nicht und will es nicht bestreiten.

Strigl legt das Hauptgewicht darauf, daß durchdie künstliche Erhöhung des Lohnes Arbeitslosigkeit

31 Vgl. Strigl, Angewandte Lohntheorie, Untersuchun-

gen über die wirtschaftlichen Grundlagen der Sozialpolitik.Leipzig und Wien 1926.

32Besonders charakteristisch a. a. O., S. 71 ff.33 A. a. O., S. 106.

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geschaffen wird34). Das ist unzweifelhaft richtig fürden Fall, daß die Löhne nur in einzelnen Zweigen derProduktion oder nur in einzelnen Ländern erhöht werden oder daß die Erhöhung in den verschiedenenBranchen und Ländern ungleichmäßig erfolgt, oderdaß von der Geldseite her der allgemeinen Preissteige-rung entgegengewirkt wird. Der von Strigl untersuchteFall ist unzweifelhaft für die Erkenntnis dessen, was

heute vorgeht, wichtig. Doch für die grundsätzlicheErfassung der Probleme muß man auch noch eineandere Annahme zugrunde legen. Nur wenn man da- von ausgeht, daß die Lohnsteigerung gleichmäßig undgleichzeitig in den verschiedenen Produktionszweigenund in den verschiedenen Ländern erfolgt und wennman die geldtheoretischen Einwendungen durchzweckentsprechende Annahmen ausschaltet, wird dasErgebnis der Untersuchung jene allgemeine Gültigkeit besitzen, die wir benötigen, um den Interventionismusganz zu verstehen.

 Von den interventionistischen Maßnahmen wirdim Deutschen Reiche und in Österreich heute kaum

eine andere so sehr angegriffen wie der Achtstunden-tag. Man vertritt vielfach die Ansicht, daß es keinenandern Weg zur Behebung der wirtschaftlichen Notla-ge gebe als den, die gesetzliche Begrenzung des Ar- beitstages mit 8 Stunden zu beseitigen; mehr undintensivere Arbeit wird gefordert. Dabei wird alsselbstverständlich vorausgesetzt, daß mit der Verlän-gerung der Arbeitszeit und der Erhöhung der Arbeits-leistung keine Steigerung des Lohnes erfolgen oderdaß zumindest die Lohnsteigerung hinter der Steige-rung der Arbeitsleistung zurückbleiben soll, so daß die Arbeit billiger wird. Gleichzeitig wird Erleichterungder »sozialen Lasten« jeglicher Art – in Österreich

auch Beseitigung der vom Unternehmer zu entrich-

34 A. a. O., S. 65 ff., S. 116 f.

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tenden Lohnsummenabgabe (»Fürsorgeabgabe«) –gefordert, wobei ebenfalls stillschweigend vorausge-setzt wird, daß die Ersparnis dem Unternehmer verbleiben soll. In dieser indirekten Weise wird eine Verbilligung der Arbeitskraft angestrebt. Den Bemü-hungen, die unmittelbar eine Lohnherabsetzung an-streben, kommt gegenwärtig nur geringe Bedeutungzu.

In der Erörterung der Probleme des Achtstunden-tages und der Arbeitsintensität in den sozialpoliti-schen Fachblättern und in der wirtschaftspolitischenLiteratur kann man nun einen langsamen, aber dochstetigen Fortschritt zur Erfassung der nationalökono-mischen Seite der Frage erkennen. Selbst Schriftstel-ler, die ihre Vorliebe für den Interventionismus nicht verhehlen, geben die Richtigkeit der wichtigsten gegenden Interventionismus vorgebrachten Argumente zu.Nur selten begegnet man noch jener Blindheit in dergrundsätzlichen Beurteilung dieser Dinge, die dasSchrifttum vor dem Kriege kennzeichnete.

Die Herrschaft der interventionistischen Schule

ist freilich heute noch nicht gebrochen. Von Schmol-lers Staatssozialismus und Etatismus und von Mar-xens egalitärem Sozialismus und Kommunismus sindim politischen Leben der Völker heute nur noch dieNamen übrig geblieben; das sozialistische Ideal selbsthat aufgehört, unmittelbare politische Wirkung zuüben; seine eigenen Anhänger – selbst die, die zu sei-ner Durchsetzung noch vor wenigen Jahren Ströme von Blut vergossen haben – haben es aufgegeben oderdoch wenigstens vorläufig zurückgestellt. Doch derInterventionismus, den sowohl Schmoller als auchMarx – jener als Gegner jeder »Theorie« ganz unbe-denklich, dieser in unlösbarem Widerspruch zu allen

seinen theoretischen Lehren mit schlechtem Gewissen– neben ihrem Sozialismus und in Widerspruch zuihm vertreten haben, beherrscht heute die Geister.

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Ob die politischen Voraussetzungen für eine Ab-kehr des deutschen Volkes und der andern führenden Völker von der interventionistischen Politik gegebensind, soll hier nicht geprüft werden. Wer unbefangendie Dinge betrachtet, wird eher den Eindruck gewin-nen, daß der Interventionismus noch im Vordringen begriffen ist; für England und die Vereinigten Staatendürfte dies kaum zu bestreiten sein. Sicher aber ist,

daß die Versuche, den Interventionismus vom Stand-punkte der theoretischen Nationalökonomie – nicht vom Standpunkte irgendeines bestimmten Systems,sondern überhaupt vom Standpunkt eines beliebigenSystems – als sinnvoll erscheinen zu lassen, heuteebenso vergeblich sind, wie sie es stets waren. Von derNationalökonomie führt kein Weg zum Interventio-nismus. Alle Erfolge des Interventionismus in derpraktischen Politik waren »Siege über die National-ökonomie«.

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Gebundene Wirtschaft

I. Die herrschende Lehre von dergebundenen Wirtschaft.

Mit wenigen Ausnahmen treten heute alle, diesich in Wort und Schrift zu den wirtschaftspolitischenFragen der Gegenwart äußern, für interventionistischeEingriffe ein. Diese Einmütigkeit bedeutet aber kei-neswegs etwa, daß die interventionistischen Maßnah-men der Regierungen und der übrigen gesellschaftli-chen Zwangsmächte gebilligt werden. Interventio-nistische Maßnahmen werden von den Verfassern wirtschaftspolitischer Bücher und Abhandlungen, vonden Journalisten und von den politischen Parteiengefordert, ehe sie getroffen wurden; sind sie aber ein-mal verfügt worden, dann ist niemand mit ihnen ein- verstanden, dann bezeichnet sie jedermann – in derRegel selbst die Machthaber, die für sie verantwortlichsind – als ungenügend und unzulänglich. Und allge-mein wird dann die Forderung erhoben, daß an Stelleder unbefriedigenden Eingriffe andere, zweckmäßige-re gesetzt werden sollen. Sind dann die neuen Forde-rungen erfüllt worden, dann beginnt wieder dasselbeSpiel. So allgemein das Verlangen ist, am interventio-nistischen System festzuhalten, so allgemein ist auchdie Ablehnung aller konkreten Maßnahmen der inter- ventionistischen Politik.

Freilich, so oft die vollständige oder teilweise Aufhebung eines bestimmten Eingriffes erörtert wird,treten auch Stimmen auf, die vorschlagen, an dem Verfügten nicht zu rütteln. Doch da handelt es sichkaum jemals um Billigung der getroffenen Maßnah-me, vielmehr um die Abwehr von Maßnahmen, die alsdas größere Übel angesehen werden. Die Viehzüchterz. B. sind kaum jemals und irgendwo durch die Zölleund durch die veterinärpolizeilichen Bestimmungen,

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die zur Behinderung der Einfuhr von Vieh, Fleischund Fett aus dem Ausland getroffen wurden, zufrie-dengestellt worden. Wird aber von den Verbraucherndie Beseitigung oder Milderung dieser Vorschriften verlangt, dann setzen sie sich begreiflicherweise fürihre Beibehaltung ein. Die Vorkämpfer des gesetzli-chen Arbeiterschutzes haben noch jede der bishergetroffenen Verfügungen als ungenügendes Stückwerk 

 bezeichnet, das man höchstens als Abschlagszahlunghinnehmen könne; erst wenn eine dieser Verfügungen– wie heute etwa die gesetzliche Beschränkung dertäglichen Arbeitszeit auf 8 Stunden – rückgängig ge-macht werden soll, treten sie zu ihrer Verteidigung auf den Plan.

 Wer einmal erkannt hat, daß interventionistischePolitik notwendigerweise sinn- und zweckwidrig ist, weil sie niemals das erreichen kann, was ihre Befür- worter und Urheber durch sie zu erreichen hoffen, der wird diese Stellungnahme zu den konkreten Eingriffendurchaus verstehen. Auffallend ist allein das, daß manungeachtet der unbefriedigenden Erfolge der inter-

 ventionistischen Politik und ungeachtet des Umstan-des, daß kein Versuch, sie theoretisch als sinnvoll zuerweisen, gelingen konnte, dennoch hartnäckig an ihrfestzuhalten sucht. Der Gedanke, man könnte wiederzu liberaler Wirtschaftspolitik zurückkehren, erscheintden meisten so absurd, daß sie sich kaum die Mühegeben, sich mit ihm zu beschäftigen.

Die Verteidiger des Interventionismus pflegensich mitunter darauf zu berufen, daß der Liberalismuseiner vergangenen Geschichtsepoche angehöre. Jetztaber sei das Zeitalter »konstruktiver Wirtschaftspoli-tik«, nämlich des Interventionismus, angebrochen.Man könne das Rad der Geschichte nicht zurückdre-

hen und das, was einmal dahingeschwunden ist, zu-rückbringen. Wer heute Liberalismus fordert unddamit die Losung »zurück zu Adam Smith« verkünde, verlange Unmögliches.

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Nun ist es durchaus nicht richtig, daß der Libera-lismus von heute mit dem der englischen Liberalendes 18. und 19. Jahrhunderts identisch ist. Der mo-derne Liberalismus baut sich wohl auf den großenIdeen auf, die Hume, Adam Smith, Ricardo, Benthamund Wilhelm Humboldt verkündet haben. Doch derLiberalismus ist keine abgeschlossene Lehre und keinstarres Dogma; er ist Anwendung der Lehren der Wis-

senschaft auf das gesellschaftliche Leben der Men-schen, auf die Politik. Nationalökonomie und Gesell-schaftslehre haben seit den Tagen der Begründung derliberalen Lehre große Fortschritte gemacht, und somußte sich auch der Liberalismus, mag auch derGrundgedanke unverändert geblieben sein, wandeln. Wer sich die Mühe gibt, den modernen Liberalismuszu studieren, wird bald finden, worin sich dieser vondem älteren Liberalismus unterscheidet, und erken-nen, daß es heute doch wohl nicht angeht, die Kennt-nis des Liberalismus allein aus Adam Smith zu schöp-fen oder zu behaupten, die Forderung nach Aufhe- bung der interventionistischen Eingriffe sei identisch

mit dem Rufe: zurück zu Adam Smith.Der moderne Liberalismus unterscheidet sich

 vom Liberalismus der Wende des 18. und des 19.Jahrhunderts mindestens so sehr wie der moderneInterventionismus vom Merkantilismus des 17. unddes 18. Jahrhunderts. Es ist nicht folgerichtig, dieRückkehr zum Freihandel als Anachronismus zu be-zeichnen, wenn man in der Rückkehr zum Schutz-und Prohibitivsystem keinen Anachronismus erbli-cken will.

Ganz besonders genügsam in den Anforderungen,die man an eine wissenschaftliche Erklärung des In-terventionismus zu stellen hat, zeigen sich jene, die

den Wandel der Wirtschaftspolitik einfach auf denZeitgeist zurückführen. Der kapitalistische Geist seinun durch den Geist der gebundenen Wirtschaft abge-löst worden. Der Kapitalismus sei alt geworden und

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müsse darum dem jungen Neuen weichen, und diesesNeue sei eben die durch staatliche und andere Eingrif-fe gebundene Wirtschaft. Wer ernstlich glaubt, daßman mit solchen Behauptungen die Folgerungen zu widerlegen vermag, zu denen die nationalökonomi-sche Lehre von den Wirkungen der Zölle oder von den Wirkungen der Preistaxen gelangen muß, dem ist wohl nicht zu helfen.

Eine andere weitverbreitete Lehre arbeitet mitdem mißverstandenen Begriffe der »freien Konkur-renz«. Man stellt zunächst nach Art der naturrechtli-chen Postulate ein Ideal freien und unter gleichenBedingungen vorsichgehenden Wettbewerbs auf undfindet dann, daß die auf dem Sondereigentum an denProduktionsmitteln beruhende Wirtschaftsordnungdiesem Ideal durchaus nicht entspricht. Da man nundie Verwirklichung des Postulates »wirklich freier undunter gleichen Bedingungen vorsichgehender Konkur-renz« stillschweigend als höchstes Ziel der Wirt-schaftspolitik ansieht, werden verschiedene Reformen vorgeschlagen; im Namen dieses Ideals fordern die

einen Sozialismus, den sie »liberal« nennen, weil sieoffenbar das Wesen des Liberalismus in jenem Idealerblicken, fordern andere wieder verschiedenartigeinterventionistische Maßnahmen. Doch die Wirtschaftist kein Wettspiel um einen Ehrenpreis, zu dem dieBewerber unter den durch die Spielregeln umschrie- benen Bedingungen antreten. Will man feststellen, welches Pferd eine bestimmte Strecke in der kürzestenZeit zurückzulegen vermag, dann wird man die Bedin-gungen, unter denen die Pferde rennen, möglichstgleichzumachen trachten. Ist etwa die Wirtschaft eineLeistungsprüfung, in der festgestellt werden soll, wel-cher Bewerber unter gleichen Bedingungen am billigs-

ten erzeugen könnte?Die Konkurrenz als gesellschaftliche Erscheinunghat mit der Konkurrenz im Spiel nichts zu tun. Es istBegriffsverwirrung, das Postulat der »Gleichheit der

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Bedingungen« aus den Spielregeln des Sports oderaus der Anordnung wissenschaftlicher und technolo-gischer Laboratoriumsversuche auf die Wirtschaftspo-litik zu übertragen. In der Gesellschaft besteht zwi-schen den Menschen Wettbewerb, und zwar in jederdenkbaren Gesellschaftsordnung, nicht etwa nur inder kapitalistischen. Die Gesellschafts- und Wirt-schaftslehre der Soziologen und Nationalökonomen

des 18. und des 19. Jahrhunderts hat nun gezeigt, wiedie Konkurrenz in der auf dem Sondereigentum anden Produktionsmitteln beruhenden Gesellschaftsver-fassung wirkt; das war ein wesentlicher Teil ihrer Kri-tik der interventionistischen Wirtschaftspolitik desmerkantilistischen Polizei- und Wohlfahrtsstaates.Durch diese Untersuchung gelangten sie zur Erkennt-nis der Sinn- und Zweckwidrigkeit der interventio-nistischen Maßnahmen und in weiterem Fortschreitenzur Einsicht, daß die den wirtschaftlichen Zielen derMenschen am besten entsprechende Wirtschaftsord-nung die auf dem Sondereigentum beruhende ist. DenMerkantilisten, die fragten, wie sich die Versorgung

des Volkes gestalten würde, wenn die Obrigkeit denDingen freien Lauf ließe, antworteten sie, die Konkur-renz der Unternehmer werde schon für die Beschi-ckung der Märkte mit den von den Verbrauchern be-nötigten Waren unter den günstigsten Bedingungensorgen. Ganz allgemein pflegten sie vielfach die For-derung nach Beseitigung der interventionistischenEingriffe in die Worte zu kleiden: man möge die Frei-heit des Wettbewerbes nicht beschränken. Mit demSchlagwort »freie Konkurrenz« traten sie dafür ein,daß man die gesellschaftliche Funktion des Sonderei-gentums an den Produktionsmitteln nicht durch Ein-griffe der Regierung beeinträchtigen möge. So konnte

das Mißverständnis entstehen, daß nicht im Sonderei-gentum, sondern in der »freien« Konkurrenz das We-sen des liberalen Programms zu suchen sei. Gesell-schaftskritiker begannen einem nebelhaften Phantom

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»wirklich freier Konkurrenz« nachzujagen, das nichts war als ein Gebilde der ungenügenden Durcharbei-tung der Probleme und der Befangenheit in Schlag- worten35.

Man macht sich die Apologie des Interventionis-mus und die Widerlegung der von der nationalöko-nomischen Theorie am Interventionismus geübtenKritik denn doch zu leicht, wenn man, wie Lampe,

 behauptet, diese Kritik »wäre erst dann begründet, wenn gleichzeitig nachgewiesen werden könnte, daßdie bestehende Wirtschaftsordnung dem Idealbild derfreien Konkurrenz entspricht. Nur unter dieser Vor-aussetzung müßte notwendig jeder Staatseingriff einerMinderung der Wirtschaftlichkeit gleichkommen. Voneiner solchen prästabilierten Harmonie der Wirt-schaft, wie sie sich die Klassiker der Nationalökono-mie und ihre optimistisch-liberalistischen Epigonen vorstellten, wird heute kein ernster Sozialwissen-schaftler mehr zu reden wagen. Dem Preismechanis-mus der Marktwirtschaft sind allerdings Tendenzenimmanent, welche auf einen Ausgleich gestörter Wirt-

schaftsbeziehungen abzielen. Diese Kräfte setzen sichaber dort nur ‚auf die Dauer’ durch, während der Ab-lauf des Wirtschaftsprozesses zu diesem Ziel hin ...... von mehr oder minder heftigen ‚Friktionen’ unterbro-chen wird. Daraus ergeben sich Situationen, in denenEingriffe der ‚gesellschaftlichen Gewalt’ nicht nurpolitisch notwendig, sondern wirtschaftlich zweckmä-ßig werden können ...... vorausgesetzt, daß der öffent-lichen Macht der sachliche Rat streng wissenschaftli-cher Untersuchung zur Seite steht und daß er befolgt wird!«36. Das Merkwürdige an diesen Ausführungen

35 Vgl. zur Kritik dieser Irrtümer Halm, Die Konkur-

renz, München und Leipzig 1929, besonders S. 131 ff.36 Vgl. Lampe, Notstandsarbeiten oder Lohnabbau? Je-

na 1927, S. 104 f.

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ist, daß sie nicht etwa in den 70er oder 80er Jahrendes vorigen Jahrhunderts geschrieben wurden, als dieKathedersozialisten nicht müde wurden, der hohenObrigkeit immer wieder ihre unfehlbaren Mittel zurLösung der sozialen Frage und Herbeiführung herrli-cher Zeiten anzuempfehlen, sondern 1927. Lampesieht noch immer nicht, daß die wissenschaftlicheKritik des Interventionismus nichts mit einem »Ideal-

 bild der freien Konkurrenz« und nichts mit »prästabi-lierter Harmonie«37 zu tun hat. Wer den Interventio-nismus wissenschaftlich kritisiert, behauptet nicht,daß die von Eingriffen nicht behinderte Wirtschaft inirgendeinem Sinne ideal, gut oder frei von Friktionen wäre; er behauptet auch gar nicht, daß jederStaatseingriff »einer Minderung der Wirtschaftlichkeitgleichkomme«. Seine Kritik weist lediglich nach, daßmit den »Eingriffen« jene Ziele, die ihre Urheber undBefürworter durch sie erreichen wollen, nicht erreicht werden können, daß dagegen durch die Eingriffe Wir-kungen erzielt werden, die auch ihre Urheber undBefürworter nicht wollen, die vielmehr ihren Absich-

ten geradezu zuwiderlaufen. Darauf hätten die Apolo-geten des Interventionismus in ihrer Antikritik zuantworten. Sie können freilich darauf nichts antwor-ten.

Lampe stellt ein Programm des »produktivenInterventionismus« auf, das drei Punkte umfaßt38.Die öffentliche Gewalt »muß sich nach Möglichkeitdafür einsetzen, daß der Abbau des Lohnniveaus lang-sam vonstatten geht«, lautet der erste Punkt. Daß dieBestrebungen der »öffentlichen Gewalt«, das Lohnni- veau über dem zu halten, das sich auf dem unbehin-derten Markte bilden würde, Arbeitslosigkeit bewir-

37Über „die prästabilierte Harmonie“ vgl. weiter untenS. 96 f.

38Ebendort S. 127 f.

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ken, bestreitet auch Lampe nicht. Er hätte daher nicht verkennen dürfen, daß sein Vorschlag darauf hinaus-läuft, die von ihm als zweckwidrig erkannten Eingrif-fe, wenn auch in geringerem Ausmaße und mit zeitli-cher Begrenzung, vorzunehmen. Gegenüber solcherHalbheit und Unklarheit haben die Befürworter derganzen Maßnahmen doch zumindest den Vorzug derKonsequenz. Lampe wirft mir vor, ich kümmerte mich

nicht darum, wie lange die Arbeitslosigkeit infolge vonÜbergangs- und Reibungserscheinungen dauern und wie groß sie werden kann39. Nun, wenn es keine In-terventionen gibt, wird sie gewiß weder lang dauern,noch beträchtlichen Umfang annehmen. Die Durch-führung von Lampes Vorschlägen kann aber ohneZweifel – auch Lampe wird es im Sinne seiner übrigen Ausführungen nicht bestreiten können – keinen an-dern Erfolg zeitigen als den, daß die Dauer der Ar- beitslosigkeit verlängert und ihr Umfang erweitert wird.

Es soll übrigens zur Vermeidung von Miß- verständnissen festgestellt werden, daß die Kritik des

Interventionismus nicht übersieht, daß durch die Be-seitigung mancher produktionspolitischer EingriffeFriktionen besonderer Art hervorgerufen werden. Würde man z. B. heute alle Zollschranken mit einemMale fallen lassen, dann würde das wohl im Augen- blick zu den größten Schwierigkeiten führen, obwohlder Enderfolg in einer unerhörten Steigerung der Er-giebigkeit der menschlichen Arbeit bestehen muß.Man kann diese unvermeidlichen Friktionen nichtmildern, wenn man den Abbau des Protektionismusplanmäßig auf längere Zeit verteilt; man verschärft sieaber dadurch auch nicht immer. Bei den preispoliti-schen Eingriffen – und zu diesen gehört die »künstli-

che« Hochhaltung des Lohnniveaus, von der Lampe

39Ebendort S. 105.

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spricht – hätte aber der langsame und schrittweise Abbau gegenüber der sofortigen vollständigen Beseiti-gung nur den Erfolg, daß die Zeit, in der die nichtgewollten Folgen des Eingriffs wirken, verlängert wird.

Die übrigen beiden Punkte des Lampeschen»produktiven Interventionismus« fordern zu keiner besonderen Kritik heraus; der eine ist nämlich nicht

interventionistisch, der andere zielt geradezu auf Be-seitigung von Interventionen hin. Wenn nämlichLampe als Punkt 2 seines Programms verlangt, dieöffentliche Gewalt möge die mannigfachen äußerenHindernisse beseitigen, die die berufliche und örtli-che Beweglichkeit der Arbeitskräfte hemmen, dannheißt dies doch nichts anderes als Beseitigung aller jener Maßnahmen, durch die Regierungen und Ge- werkschaften die Freizügigkeit hemmen, das ist imGrunde die alte Forderung laissez passer, das Geg-enteil von Interventionismus. Und wenn Lampe imPunkt 3 verlangt, die zentrale politische Gewalt mögesich »einen möglichst schnellen und zuverlässigen

Überblick über die Gesamtlage der Wirtschaft ver-schaffen«, so ist das gewiß kein Interventionismus.Überblick über die Wirtschaftslage kann jedermann von Nutzen sein, auch Regierungen, wenn sie aus die-ser Kenntnis die Folgerung ziehen, Eingriffe zu unter-lassen.

Vergleicht man Lampes interventionistischesProgramm mit dem, was noch vor wenigen Jahren vonden Vorkämpfern des Interventionismus gefordert wurde, so erkennt man, um wieviel bescheidener heu-te die Ansprüche dieser Schule geworden sind. Das istein Erfolg, auf den die Kritik des Interventionismusstolz sein darf.

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II. Schmalenbachs These.

Angesichts der trostlosen Gedankenarmut undUnfruchtbarkeit nahezu aller Schriften und Abhand-lungen, die der Rechtfertigung des Interventionismusdienen, erscheint ein Versuch Schmalenbachs, dieUnentrinnbarkeit der »gebundenen Wirtschaft« nach-zuweisen, besonders bemerkenswert.

Schmalenbach geht davon aus, daß die Kapitalin-tensität der Industrie ständig wächst. Das wirke sichdahin aus, daß die fixen Kosten immer mehr an Be-deutung gewinnen und die proportionalen Kostenimmer mehr an Bedeutung verlieren. »Diese Tatsache,daß ein immer größerer Anteil der Produktionskostenfix wird, läßt die alte Epoche der freien Wirtschaftihrem Ende entgegengehen und eine neue Epoche dergebundenen Wirtschaft beginnen. Die Eigentümlich-keit der proportionalen Kosten ist es, daß sie mit je-dem erzeugten Stück, jeder geförderten Tonne tat-sächlich entstehen....... Gehen die Preise unter dieSelbstkosten herunter, dann schränkt man die Pro-

duktion ein und spart ein entsprechendes Stück derproportionalen Kosten. Ist aber der wesentlichste Teilder Selbstkosten fix, dann bringt eine Verringerungder Produktion die Kosten nicht entsprechend herun-ter. Und wenn bei dieser Sachlage die Preise fallen,dann hat es keinen Zweck, diesen Preisfall durch Pro-duktionsverminderung auszugleichen. Es ist billiger,unter den durchschnittlichen Selbstkosten weiter zuproduzieren. Zwar arbeitet der Betrieb fortan mit Verlust, aber der Verlust ist kleiner, als er sein würde, wenn man die Produktion verringern würde undtrotzdem fast die vollen bisherigen Kosten tragen würde. Und so ist die moderne Wirtschaft mit ihren

hohen fixen Kosten des Heilmittels beraubt, dasselbsttätig Produktion und Konsumtion in Einklang bringt und so das wirtschaftliche Gleichgewicht her-stellt. Weil die proportionalen Kosten in so großem

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Umfange fix geworden sind, fehlt der Wirtschaft dieFähigkeit der Anpassung der Produktion an die Kon-sumtion«40. Diese »Verschiebung der Produktions-kosten innerhalb des Betriebes« sei es »fast aus-schließlich«, die »uns die alte Wirtschaftsform verlas-sen und in die neue hineinsteuern läßt«. Denn: »diealte, die große Epoche des 19. Jahrhunderts, die Epo-che der freien Wirtschaft, war nur möglich, wenn die

Produktionskosten im wesentlichen proportionalerNatur waren. Sie war nicht mehr möglich, als der An-teil der fixen Kosten immer beträchtlicher wurde«. Dadas Steigen der fixen Kosten noch nicht abgeschlossensei und ihr Wachstum noch immer anhalte und vor-aussichtlich noch lange anhalten werde, müsse manerkennen, daß »es völlig hoffnungslos ist, auf die Wie-derkehr der freien Wirtschaft zu rechnen41

Schmalenbach beweist das Ansteigen des Anteilsder fixen Kosten zunächst mit dem Hinweis darauf,daß mit fortgesetzter Steigerung der Betriebsgröße»notwendigerweise ein Wachsen, sogar ein relatives

 Wachsen desjenigen Betriebsorgans, das man als Kopf 

dieses Wirtschaftskörpers bezeichnen kann, verbun-den« sei42. Ich bezweifle das. Die Überlegenheit desgrößeren Betriebs liegt unter anderem auch darin, daßin ihm die Leitungskosten verhältnismäßig geringersind als im kleineren Betrieb; dasselbe gilt übrigens

 vom kaufmännischen Apparat, insbesondere von der Verkaufsorganisation.

Schmalenbach hat natürlich vollkommen recht, wenn er hervorhebt, daß die Kosten der Leitung und

40 Vgl. Schmalenbach, Die Betriebswirtschaftslehre an

der Schwelle der neuen Wirtschaftsverfassung (Zeitschrift

für Handelswissenschaftliche Forschung, 22. Jahrgang,1928) S. 244 f.

41Ebendort S. 242 f.42Ebendort S. 243.

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manche andere Generalunkosten selbst dann nicht wesentlich herabgemindert werden können, wenn derBetrieb nur mit dem halben oder mit dem vierten Teilseiner Kapazität arbeitet. Doch da die Größe der Lei-tungskosten, auf die Mengeneinheit des Produktesgerechnet, mit der wachsenden Größe der Unterneh-mungen und Betriebe sinkt, kommt diesem Umstandeim Zeitalter der Großunternehmungen und Großbe-

triebe geringere Bedeutung zu als früher im Zeitalterkleinerer Verhältnisse.

Doch das Entscheidende liegt nach Schmalenbachnicht hier, sondern in der Steigerung der Kapitalin-tensität. Schmalenbach ist der Meinung, daß man ausder – in der kapitalistischen Wirtschaft zweifellosgegebenen – fortschreitenden Bildung von neuemKapital und fortschreitenden Ausgestaltung der ma-schinellen Ausstattung des Produktionsapparatesohne weiteres darauf schließen könne, daß der Anteilder fixen Kosten steigt. Daß das für die ganze Wirt-schaft, nicht etwa für einzelne Betriebe wirklich zu-trifft, müßte aber doch erst erwiesen werden. Denn die

fortschreitende Kapitalansammlung führt zu einemRückgang der Grenzproduktivität des Kapitals und zueiner Erhöhung der Grenzproduktivität der Arbeit;der Anteil des Kapitals am Ertrag fällt, der der Löhnesteigt. Das hat Schmalenbach nicht beachtet, so daßschon die Voraussetzung seiner These nicht zu haltenist43.

Doch wir wollen auch davon ganz absehen und,um Schma1enbachs Lehre immanent zu prüfen, unsfragen, ob ein Steigen des Anteils der fixen Kostentatsächlich die Unternehmer zu einem Verhalten ver-anlassen könnte, das die Wirtschaft der Fähigkeit beraubt, die Produktion an den Bedarf anzupassen.

43 Vgl. Adolf Weber, Das Ende des Kapitalismus? Mün-

chen 1929, S. 19.

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Wir betrachten einen Betrieb, der entweder von vornherein oder infolge einer eingetretenen Verände-rung der Verhältnisse den Erwartungen nicht ent-spricht, die bei seiner Anlage gehegt wurden. Als manihn errichtete, rechnete man damit, daß das Anlage-kapital sich nicht nur amortisieren und landesüblich verzinsen werde, sondern daß noch darüber hinausein Gewinn werde erzielt werden können. Nun ist es

anders gekommen. Der Preis des Produktes ist sostark zurückgegangen, daß er nur noch einen Teil derSelbstkosten (auch abgesehen von den Kosten der Verzinsung und Amortisation der Anlagen) deckt.Eine Einschränkung des Produktionsumfanges kanndem Unternehmer keine Hilfe bringen, kann seinenBetrieb nicht erträgnisreich machen. Denn je wenigererzeugt wird, desto größer werden die Erzeugungskos-ten der Produkteinheit, desto größer wird (unserer Annahme zufolge, daß die fixen Kosten, auch abgese-hen von den Kosten der Verzinsung und Amortisationdes Anlagekapitals, im Verhältnis zu den proportiona-len sehr hoch sind) der Verlust, der mit dem Verkauf 

 jeder Einheit eintritt. Es gibt hier nur einen Ausweg:den Betrieb ganz einzustellen; nur dann können wei-tere Verluste vermieden werden. Nun liegen die Ver-hältnisse nicht immer so einfach. Man hofft vielleicht,daß der Preis des Produktes wieder steigen wird, und will den Betrieb unterdes nicht einstellen, da man dieNachteile, die aus einer Unterbrechung der Erzeugungentstehen müssen, schwerer achtet als die Verluste,die ihre Fortführung während der ungünstigen Zeitmit sich bringt. In dieser Lage befanden sich bis in die jüngste Zeit, da Kraftwagen und Flugzeug in den Wettbewerb traten, die meisten nicht rentierendenEisenbahnunternehmungen; sie rechneten damit, daß

der Verkehr steigen werde, so daß sie doch spätereinmal Erträgnisse erzielen könnten. Wo aber derarti-ge besondere Umstände nicht vorliegen, kommt es zurBetriebseinstellung. Die unter weniger günstigen Be-

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dingungen arbeitenden Betriebe verschwinden, und so wird das Gleichgewicht zwischen Produktion und Be-darf hergestellt.

Schmalenbachs Irrtum liegt darin, daß er glaubt,die Einschränkung der Erzeugung, die das Sinken derPreise auslöst, müßte sich durch gleichmäßige Be-triebseinschränkung aller bestehenden Werke vollzie-hen; er vergißt, daß es noch einen zweiten Weg gibt,

nämlich den, daß die unter ungünstigeren Bedingun-gen arbeitenden Anlagen den Betrieb ganz einstellen, weil sie den Wettbewerb mit den billiger produzieren-den nicht mehr länger durchhalten können. Das ist vor allem in der Industrie der Rohstoffe und der Sta-pelgüter der Fall. In der Fertigindustrie, in der dereinzelne Betrieb gewöhnlich verschiedene Artikel er-zeugt, für die die Erzeugungs- und Marktverhältnisseganz verschieden liegen mögen, wird Einschränkungdes Betriebsumfanges durch Beschränkung der Pro-duktion auf die besser rentierenden Artikel eintreten.

So liegen die Dinge in der freien, d. i. in der durchEingriffe der Regierung nicht beeinflußten Wirtschaft.

Es ist mithin ganz und gar unrichtig, zu behaupten,daß ein Ansteigen der fixen Kosten dieser Wirtschaftdie Fähigkeit nehmen könnte, die Erzeugung an denBedarf anzupassen.

Greift freilich die Regierung in diese Dinge durchSchaffung eines Schutzzolles von entsprechender Hö-he ein, dann entsteht eine neue Möglichkeit für dieProduzenten: sie können ein Kartell bilden, um – beiEinschränkung der Erzeugung – Monopolgewinne zuerzielen. Die Bildung des Kartells ist da nicht Folgeirgendwelcher in der freien Wirtschaft aus ihrer eige-nen Entwicklung heraus entstandenen Verhältnisse,sondern Folge der Intervention der Regierung, des

Zolles. Bei Kohle und Ziegeln mögen unter Umstän-den die im Verhältnis zum Werte hohen Verfrach-tungskosten die Bildung von Kartellen mit örtlich begrenzter Wirksamkeit auch ohne Regierungsinter-

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 vention gestatten; einige Metalle sind auf so wenigeFundstätten beschränkt, daß ein Weltkartell der Er-zeuger auch in der freien Wirtschaft versucht werdenkönnte. Alle anderen Kartellbildungen verdanken –und das kann nicht genug oft betont werden – ihrBestehen nicht einer in der freien Wirtschaft liegen-den Tendenz, sondern der Intervention. Auch die in-ternationalen Kartelle konnten in der Regel nur gebil-

det werden, weil vom Weltmarkt wichtige Produkti-ons- und Verbrauchsgebiete durch die Zollmauernabgegrenzt worden waren.

Die Entstehung der Kartelle hat nichts mit dem Verhältnis der fixen und der proportionalen Kosten zuschaffen. Daß die Kartellbildung in der Fertigindustrielangsamer vor sich geht als in der Stapelindustrie istnicht, wie Schmalenbach meint44, auf die langsamereEntwicklung der fixen Kosten zurückzuführen, son-dern darauf, daß die vielgestaltige und in Vereinba-rungen nur schwer erfaßbare Erzeugung gebrauchs-näherer Güter, die überdies in zahlreichen Betriebenzersplittert ist und leichter durch Außenseiter konkur-

renziert werden kann, der Kartellbildung viel größereSchwierigkeiten bietet.

Die fixen Kosten, meint Schmalenbach weiter,drängen den Betrieb zugleich dazu, sich trotz man-gelnder Nachfrage zu vergrößern. In jedem Betriebegibt es eine Reihe von Anlagen, die besonders schwachausgenützt werden; sie arbeiten selbst bei voller Be-schäftigung des Betriebes mit degressiven Kosten. Umauch diese Anlagen besser auszunützen, werde derBetrieb vergrößert. »Und so dehnen ganze Industrie-zweige ihre Kapazität aus, ohne daß ihnen ein Steigender Nachfrage dazu Veranlassung gibt« 45. Daß dies indem Europa der interventionistischen Wirtschaftspo-

44Ebendort S. 246.45Ebendort S. 245.

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litik von heute und ganz besonders in dem hochinter- ventionistischen Deutschen Reich der Fall ist, mußman zugeben; da wird die Produktion nicht im Hin- blick auf den Markt, sondern im Hinblick auf die Neu-aufteilung der Kartellquoten und ähnliche Dinge er- weitert. Doch wir haben hier wieder eine Folgeer-scheinung des Interventionismus vor uns, nicht einenFaktor, der zum Interventionismus drängt.

Selbst Schmalenbach, dessen Denken zum Unter-schied von anderen Beobachtern dieser Problemenationalökonomisch gerichtet ist, hat sich eben vondem Fehler nicht freihalten können, in den das deut-sche wirtschaftspolitische Schrifttum ganz allgemein verfallen ist, den Fehler, die Entwicklung, die sich inEuropa und besonders im Deutschen Reiche unter derEinwirkung des Hochschutzzolles und anderer Ein-griffe vollzogen hat, als Ausfluß von in der freien Wirt-schaft wirkenden Kräften anzusehen. Man kann dem-gegenüber nicht oft und nachdrücklich genug hervor-heben, daß die deutsche Eisen-, Kohlen- und Kaliwirt-schaft doch in stärkstem Maße unter der Einwirkung

der Zollpolitik und – bei Kohle und Kali – von Staats-gesetzen steht, die die Syndikatsbildung erzwingen,und daß es ganz und gar unzulässig ist, aus dem, wasdort vorgeht, auf die freie Wirtschaft zu schließen. Die»permanente Unwirtschaftlichkeit« der Syndikate, dieSchmalenbach scharf kritisiert46, ist nicht Unwirt-schaftlichkeit der freien Wirtschaft, sondern Unwirt-schaftlichkeit der gebundenen Wirtschaft. Die »neue Wirtschaftsform« ist das Ergebnis des Interventio-nismus.

Schmalenbach spricht die Überzeugung aus, daß wir in nicht zu ferner Zeit zu einem Zustande kommenmüssen, in dem die Monopolgebilde dieser neuen

 Wirtschaft ihr Monopol vom Staate empfangen und in

46Ebendort S. 247.

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dem der Staat »die Erhaltung der aus dem Monopolentspringenden Pflichten« überwacht47. Diese Schluß-folgerung steht, wenn man die Rückkehr zur freien Wirtschaft aus irgendwelchen Gründen ablehnt,durchaus mit dem Ergebnis, zu dem jede national-ökonomische Betrachtung der Probleme des Inter- ventionismus gelangen muß, in Einklang. Der Inter- ventionismus selbst ist als Wirtschaftssystem zweck-

und sinnwidrig, und wenn man dies einmal erkannthat, dann bleibt nur die Wahl zwischen der Beseiti-gung aller Eingriffe oder ihrer Ausgestaltung zu einemSystem, in dem die Regierung alle Schritte der Unter-nehmer leitet, in dem die Entscheidung darüber, wasund wie produziert werden soll und unter welchenBedingungen und an wen die Produkte abgegeben werden sollen, dem Staate zusteht, kurz zu einem Sys-tem des Sozialismus, in dem vom Sondereigentum anden Produktionsmitteln höchstens noch der Nameübrigblieb.

Was über die Wirtschaft eines sozialistischenGemeinwesens zu sagen ist, gehört nicht in diesen

Zusammenhang; ich habe es an anderer Stelle ge-sagt48.

47Ebendort S. 249 f.48 Vgl. Mises, Die Gemeinwirtschaft, Jena 1922, S. 94 ff.

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leistet hat.

Sozialliberalismus49

Einleitung.

Heinrich Herkner, der Vorsitzende des Vereinsfür Sozialpolitik, hat es als die Aufgabe seiner jüngsterschienenen Selbstbiographie, welcher er den Unter-titel »Der Lebenslauf eines ,Kathedersozialisten’«gegeben hat, bezeichnet, künftigen Generationen »das Verständnis für die jetzt zur Neige gehende ,katheder-sozialistische’ Periode der deutschen Nationalökono-mie« zu erleichtern50. In der Tat, es kann nicht bestritten werden, daß die kathedersozialistischeRichtung längst schon alles das gesagt hat, was sieglaubte, zu sagen zu haben, und es könnte den An-schein gewinnen, als ob auch ihre Herrschaft nun zurNeige geht. Da ist es wohl an der Zeit, zu prüfen, wassie ge

Zum siebzigsten Geburtstag Gustav Schmollershaben die hervorragendsten Mitarbeiter der histo-risch-realistischen Richtung der deutschen National-ökonomie sich zu einem Werke vereint, das die Er-gebnisse der Arbeit der deutschen Nationalökonomieim 19. Jahrhundert darstellen sollte51. Eine Zusam-menfassung dessen, was in den 40 monographischen Arbeiten dieses Werkes dargelegt wurde, ist unter- blieben. Das Vorwort erklärt ausdrücklich, daß »eseiner künftigen Arbeit überlassen bleiben muß, dieBilanz zu ziehen über die Art und Größe des Fort-

49 Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft, 81.

Band, 1926.50  Vgl. die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart in

Selbstdarstellungen, herausgegeben von Dr. Felix Meiner, I.Bd., Leipzig 1924, S. 113.

51Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehreim 19. Jahrhundert, Leipzig 1908, 2 Bände.

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schrittes, den die Wissenschaft als Ganzes erzielthat«52. Hätte man versucht, diese Bilanz zu ziehen, sie wäre zweifellos wenig erfreulich ausgefallen. Stärkernoch als in den einzelnen Arbeiten hätte in der Zu-sammenfassung hervortreten müssen, wie wenig dieSchule das erreicht hat, was sie sich zu erreichen vor-genommen hatte, und daß sie jedesmal, sobald sie angrundsätzliche Fragen herantritt, nichts anderes ma-

chen kann als das zu übernehmen, was die von ihr wenig geschätzte abstrakte Richtung zutage geförderthat. Aus jedem Beitrag, der seiner Aufgabe auch nurhalbwegs gerecht wird, leuchtet die Arbeit der Theore-tiker heraus, die der Schule fernestanden und von ihr bekämpft worden waren. So gelangt z. B. der vonBernhard verfaßte Beitrag über den Arbeitslohn zudem Schlusse, daß »die ,historisch-statistische Schule’die Hauptprobleme des Arbeitslohnes kaum berührthat«. Sie hätte nur Detailforschungen zu Wege ge- bracht, aber gegenüber den großen Fragen hätte sie»schließlich doch nur das Geständnis stammeln kön-nen: Die Vorgänge sind komplizierter als die Summe

unserer Detailforschungen. Man könnte daher zu denKernfragen des Arbeitslohnes kaum eine neuere deut-sche Forschung nennen, wenn hier nicht die soge-nannte ‚abstrakte österreichische Schule’ eingegriffenhätte«53. Wenn das schon vom Arbeitslohn gilt, einemGegenstande, mit dem sich die kathedersozialistischeSchule mit besonderer Vorliebe befaßte, um wievielmehr muß es von allen anderen Problemen gelten.

 Aus allen Sammelwerken, die die solche Veröf-fentlichungen bevorzugende Schule herausgegebenhat, gewinnt man denselben Eindruck. Im »Grundrißder Sozialökonomik« sind Dogmengeschichte und

52a. a. O., I. Bd., S. VIII.53 Vgl. Bernhard, Der Arbeitslohn (a. a. O., I. Bd., XI) S.

11 f.

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theoretische Nationalökonomie von »Österreichern« bearbeitet worden. Und aus der zehntausend Quart-seiten füllenden Materialsammlung der dritten Aufla-ge des »Handwörterbuches der Staatswissenschaften« wird wohl kaum etwas anderes auch für spätere ZeitenInteresse haben als die klassischen Beiträge von Men-ger, Böhm-Bawerk, Wieser und einigen anderen»Theoretikern«.

Nun liegt wieder eine umfangreiche Festschrift vor, die es sich zur Aufgabe gesetzt hat, das ganzeGebiet der Wissenschaft in Monographien zur Darstel-lung zu bringen. Es ist erfreulich, daß an Stelle derFestschriften, die wegen der Buntheit der darin be-handelten Probleme eine Qual für den Leser und eine Verlegenheit für den Bibliothekar waren, nunmehrallmählich solche zu treten beginnen, die einen ganzenProblemkreis zu behandeln suchen. Wenn man dieGelegenheit von Lujo Brentanos achtzigstem Ge- burtstag ergriffen hat, um die »Wirtschaftswissen-schaft nach dem Kriege« darzustellen, so kann mandies damit rechtfertigen, daß Lujo Brentano ein Füh-

rer der kathedersozialistischen Richtung in und au-ßerhalb Deutschlands gewesen ist54.

Der Wert der einzelnen Beiträge ist natürlichdurchaus verschieden. Es muß auch wohl nicht erst besonders hervorgehoben werden, daß die neunund-zwanzig Mitarbeiter jeder für sich selbständig gearbei-tet und keine Rücksicht auf die Theorien und Ideolo-

54 Vgl. Festgabe für Lujo Brentano: Die Wirtschaftswis-

senschaft nach dem Kriege. Neunundzwanzig Beiträge überdenStandderdeutschen und ausländischen sozialökonomi-schen Forschung nach dem Kriege. Herausgegeben von M.J. Bonn und M. Palyi. Erster Band: WirtschaftspolitischeIdeologien. Zweiter Band: Der Stand der Forschung, Mün-chen und Leipzig, 1925. – Die einzelnen Abhandlungendieses Werkes sind im folgenden mit dem Namen des Ver-fassers, Bandzahl und Seitenzahl zitiert.

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gien der übrigen genommen haben. Doch durch eine Anzahl von Beiträgen – und es ist anzunehmen, daß esgerade die sind, die die Herausgeber für die wichtigs-ten halten und die Brentano mit der größten Genug-tuung gelesen haben wird – geht ein gemeinsamerZug: die Absicht, das »System Brentano« zu verteidi-gen und auszugestalten. Die äußeren Voraussetzungenfür einen derartigen Versuch sind heute ungünstiger

als vor 17 Jahren. Damals, als die Schmoller-Festgabeerschien, standen Kathedersozialismus und histo-risch-realistische Nationalökonomie auf dem Höhe-punkte ihres Ansehens und ihres politischen Einflus-ses. Darin hat sich vieles geändert. Klang die Schmol-ler-Festgabe wie Fanfare, so klingt die Brentano-Festgabe wie Schamade.

I. Der Kathedersozialismus.

Der Kathedersozialismus ist keine einheitlicheIdeologie. Wie auch sonst neben der sozialistischenIdee und von ihr oft nicht deutlich unterschieden die

syndikalistische steht, so findet man ebenso im Ka-thedersozialismus zwei Richtungen: Die sozialistische(staats-sozialistische oder etatistische) und die syndi-kalistische (mitunter sozialliberal genannte).

Sozialismus und Syndikalismus sind unversöhnli-che Gegensätze, und jede der beiden Ideologien steht wieder in unversöhnlichem Gegensatz zum Liberalis-mus. Keine Gedankenkünstelei kann darüber hinweg-kommen, daß die unmittelbare Verfügung über dieProduktionsmittel nur entweder Einzelnen zustehenkann oder der Gesamtheit oder den Verbänden der inden einzelnen Produktionszweigen Tätigen. Niemalskann es der Politik gelingen, die unmittelbare Verfü-

gung über bestimmte Produktionsmittel zwischen derGesellschaft (dem Staate), den Gewerkschaften oderEinzelnen zu teilen. Eigentum als unmittelbare Verfü-gung über Produktionsmittel ist unteilbar. Wohl kann

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es eine Gesellschaftsordnung geben, in der ein Teil derProduktionsmittel im Eigentum des Staates oder an-derer gesellschaftlicher Verwaltungsgebilde, ein Teilin dem der Gewerkschaften und ein Teil in dem derEinzelnen steht. Es kann in diesem Sinne Teilsozia-lismus, Teilsyndikalismus, Teilkapitalismus geben. Aber es kann nie etwas geben, was in bezug auf diesel- ben Produktionsmittel ein Mittelding zwischen Sozia-

lismus, Liberalismus und Syndikalismus darstellt.Man hat die grundsätzliche und logische Unverträg-lichkeit dieser drei denkbaren Gesellschaftskonstruk-tionen immer wieder in der Theorie und in der politi-schen Bewegung zu verschleiern gesucht. Doch niekonnte es gelingen, einen Gesellschaftszustand zuschaffen, den man als eine Verbindung oder gar als Versöhnung der widerstreitenden Grundsätze hätte bezeichnen können.

Der Liberalismus ist die Ideologie, die im Sonder-eigentum an den Produktionsmitteln die einzig mögli-che oder zumindest die denkbar beste Grundlage derarbeitteilenden menschlichen Gesellschaft sieht. Der

Sozialismus strebt Überführung des Eigentums an denProduktionsmitteln in die Hand der organisiertenGesellschaft, des Staates, an. Der Syndikalismus willdie Verfügung über die Produktionsmittel in die Handder Verbände legen, die die in den einzelnen Zweigender Produktion Tätigen zusammenfassen55.

Der Staatssozialismus (Etatismus, auch konserva-tiver Sozialismus) und die ihm verwandten Systemedes Militärsozialismus und des kirchlichen Sozialis-

55 Der Syndikalismus als soziale Ideologie ist nicht zu

 verwechseln mit dem Syndikalismus als Taktik. Die spezi-fisch syndikalistische Taktik (die action directe der französi-schen Syndikalisten) kann auch im Dienste einer anderenIdeologie als der des Syndikalismus stehen; man kann z. B.den Sozialismus mit den Mitteln der syndikalistischen Tak-tik anstreben.

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mus streben eine Gesellschaft an, in der zwar »die Verwaltung des Eigentums den Einzelnen übertragen« wird, aber seine Verwendung von der staatlichenGanzheit dergestalt überwacht und geleitet wird, daßes zwar »formell Privateigentum, der Sache nach abernur Gemeineigentum« gibt56. Der Landwirt z. B. isthier »ein Staatsbeamter und muß das bauen, was nach

 bestem Wissen und Gewissen oder nach Staatsvor-

schrift dem Land nottut. Hat er seine Zinsen und einauskömmliches Gehalt, so hat er alles, was er verlan-gen darf«57. Ein Teil der Großbetriebe wird unmittel- bar in das Eigentum des Staates oder der Gemeindengebracht, alle anderen Unternehmungen bleiben for-mell in den Händen ihrer Eigentümer, müssen aber sogeführt werden, wie es den Absichten der staatlichenGewalt entspricht. So wird jedes Geschäft zum öffent-lichen Amt, jeder »Erwerb« zum »Beruf«.

 Als das sozialdemokratische Programm, das die vollständige Überführung aller Produktionsmittel indas formelle Eigentum der Gesellschaft forderte, nochernst genommen wurde, schien hier zwischen dem

Programm der Etatisten und dem der Sozialdemokra-ten ein beträchtlicher, wenn auch kein grundsätzli-cher, Unterschied zu bestehen. Doch heute ist auch imsozialdemokratischen Programm, zumindest in derPraxis, von unmittelbarer Verstaatlichung nur für denGroßbetrieb die Rede. Handwerk und bäuerlicherBetrieb sollen unter der Leitung und Kontrolle desStaates bestehen bleiben. In dieser Hinsicht stehen

56So im Gesellschaftsneubau Othmar Spanns (Der wah-

re Staat, Leipzig 1921, S. 249). Vgl. Honigheim, Romantischeund religiös-mystisch verankerte Wirtschaftsgesinnungen, I,S. 264.

57 So Philipp von Arnim, Ideen zu einer vollständigenlandwirtschaftlichen Buchhaltung, 1805 (zitiert bei Waltz,

 Vom Reinertrag in der Landwirtschaft, Stuttgart und Berlin1904, S. 21).

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sich Etatisten und Sozialisten heute viel näher alsnoch vor einem Dutzend Jahren.

Der charakteristische grundsätzliche Unterschiedzwischen dem Gesellschaftsideal des Etatismus unddem der Sozialdemokratie lag aber nicht hier, sondernin dem Problem der Einkommensverteilung. Für dieSozialdemokratie war es eine Selbstverständlichkeit,daß alle Unterschiede in der Höhe des Einkommens

 verschwinden müssen. Der Etatismus aber will dasEinkommen nach der »Würdigkeit« verteilen. Jedersoll soviel erhalten, als seinem Range entspricht. Auchin diesem Punkte hat sich der Abstand, der Sozialde-mokraten und Etatisten trennt, nicht unbeträchtlich verringert.

 Auch der Etatismus ist echter Sozialismus, mag ersich auch in manchen Punkten vom Sozialismus desKommunistischen Manifestes und des Erfurter Pro-gramms unterscheiden. Denn wesentlich ist allein dieStellung zum Problem des Eigentums an den Produk-tionsmitteln. Indem die Kathedersozialisten den Eta-tismus vertreten haben, indem sie Verstaatlichung von

Großbetrieben und staatliche Überwachung und Lei-tung der übrigen Betriebe forderten, haben sie sozia-listische Politik betrieben.

 Aber nicht alle, die man Kathedersozialistennennt, waren Etatisten. Lujo Brentano und seineSchule haben, wenn sie auch in vielen Fragen der Ta-gespolitik mit den übrigen Kathedersozialisten Handin Hand gingen und mit ihnen und mit den Sozialde-mokraten gemeinsam gegen den Liberalismus kämpf-ten, ein syndikalistisches Programm vertreten. Klarund unumwunden war ihr Syndikalismus freilichebensowenig wie der irgendeiner anderen syndikalis-tischen Gruppe. Das syndikalistische Programm ist so

 widerspruchsvoll und führt zu so absurden Konse-quenzen, daß es niemals gerade heraus vertreten wer-den konnte. Doch wenn auch Brentanos Syndikalis-mus nur verhüllt auftrat, so bleibt er nichtsdestoweni-

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ger Syndikalismus. Er trat in der Stellung zutage, dieBrentano und seine Schule in den Problemen des Koa-litionszwanges, des Streikzwanges und des Schutzesder Arbeitswilligen einnahmen. Wenn den Arbeit-nehmern das Recht gegeben wird, jedem Arbeitgebersolange den Betrieb seines Unternehmens unmöglichzu machen, als er die von ihnen gestellten Bedingun-gen nicht annimmt, dann ist die Verfügung über die

Produktion in letzter Linie in die Hand der Gewerk-schaften gelegt. Man darf das Problem nicht dadurch verdunkeln, daß man es mit der Frage der Koalitions-freiheit, d. h. des Rechtes der Arbeiter, sich in Ver- bänden zu organisieren, und mit dem der Straffreiheitdes vertragsbrüchigen Arbeitnehmers zusammenwirft.Bei der Frage des Schutzes der Arbeitswilligen handeltes sich um toto coelo verschiedener Dinge. Solange die Arbeitsniederlegung der in einem Betriebe oder ineinem ganzen Produktionszweig beschäftigten Arbei-ter durch Einstellung von Arbeitern aus anderen Pro-duktionszweigen oder aus einem etwa vorhandenenReservoir von Arbeitslosen unwirksam gemacht wer-

den kann, sind die Gewerkschaften nicht imstande,den Arbeitslohn über den Stand hinaufzusetzen, dener auch ohne ihr Auftreten erreicht hätte. Sobald aberdie Brachialgewalt der Arbeiterschaft unter Duldungoder Förderung durch den Staatsapparat es unmög-lich macht, die Streikenden zu ersetzen, ist es denGewerkschaften möglich, nach Belieben zu schalten.Die Arbeiter der »lebenswichtigen« Unternehmungenkönnen dann die Höhe des ihnen auszubezahlendenLohnes ganz frei bestimmen. Sie könnten ihn so hochfestsetzen, als ihnen beliebt, wenn sie nicht auf dieöffentliche Meinung und besonders auf die Stimmungder in den übrigen Produktionszweigen beschäftigten

 Arbeiter Rücksicht nehmen müßten. Aber jedenfallssind alle Gewerkschaften in der Lage, den Lohn zu-nächst über dem Stande festzulegen, der sich aus der

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Lage der Volkswirtschaft ohne ihr Eingreifen ergeben würde.

Alle diejenigen, die den Schutz der Arbeitswilligenablehnen, haben sich daher die Frage vorzulegen, auf  welche Weise einer Überspannung der Forderungender Arbeiter entgegengetreten werden könnte. Es istkeine Beantwortung dieser Frage, wenn man auf dieEinsicht der Arbeiter verweist oder wenn man paritä-

tische Kommissionen mit der Entscheidung betraut;auch in der paritätisch von Arbeitnehmern und Ar- beitgebern beschickten Kommission kann eine Eini-gung nur durch Nachgeben eines der beiden Teileerfolgen. Überträgt man aber die Entscheidung an denStaat, sei es, indem man ihm unmittelbar das Richter-amt zuweist, oder sei es, daß man in der paritätischenKommission einen Vertreter der Staatsbehörde den Ausschlag geben läßt, dann hat man wieder zur eta-tistischen Lösung gegriffen, die man ja gerade hatte vermeiden wollen.

Eine Gesellschaftsordnung, die den Schutz der Arbeitswilligen ablehnt, ist ganz und gar nicht lebens-

fähig und muß in der kürzesten Zeit der Auflösung verfallen. Darum mußten auch alle politischen Syste-me, mögen sie auch noch so sehr mit dem Gewerkve-reinswesen paktieren, schließlich dazu gelangen, denStreikzwang zu bekämpfen. Das wilhelminischeDeutschland brachte es freilich nicht dazu, den Ar- beitswilligen durch ein besonderes Gesetz den Schutzder Staatsgewalt zu gewähren; der Versuch scheitertean dem Widerstand Brentanos und seiner Schule.Doch es ist zu beachten, daß im Deutschen Reich der Vorkriegszeit ein Streik in lebenswichtigen Betriebendurch Einberufung der Ausständischen zur militäri-schen Dienstleistung unschwer hätte niedergekämpft

 werden können. Dem republikanischen Deutschlandsteht dieses Mittel nicht mehr zu Gebote. Es hat,trotzdem in ihm die sozialdemokratische Partei die Vormachtstellung inne hat, den Kampf gegen Ar-

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 beitseinstellungen in lebenswichtigen Betrieben mitErfolg auf andere Weise aufgenommen und dabei den Arbeitswilligen nachdrücklich Schutz zuteil werdenlassen. Im Rußland der Sowjets sind Arbeits-einstellungen überhaupt unmöglich. In der Erkennt-nis der Notwendigkeit, den Streik zumindest in denlebenswichtigen Betrieben durch Arbeitswillige un- wirksam machen zu lassen, stimmen Kautsky und

Lenin durchaus überein.Der Etatist vertraut auf die Weisheit und auf die

Gesinnung der Beamten. »Unsere Beamten«, sagtKnapp, »lernen früh genug, wie es mit den wirtschaft-lichen Interessenkämpfen aussieht; sie werden sichnicht mehr das Heft aus der Hand nehmen lassen,auch von parlamentarischen Mehrheiten nicht, die wir ja meisterhaft zu behandeln wissen. Keine Herrschaft wird so leicht ertragen, ja so dankbar empfunden wiedie hochsinniger und hochgebildeter Beamten. Derdeutsche Staat ist ein Beamtenstaat – hoffen wir, daßer in diesem Sinne ein Beamtenstaat bleibe! Danngelingt es ihm wohl am ersten, die Wirrsale und Ir-

rungen wirtschaftlicher Kämpfe zu überwinden«58.Brentano und seiner Schule fehlte dieses Zutrauen indie Unfehlbarkeit des Beamten; gerade darauf stützensie ihren Anspruch auf die Bezeichnung »liberal«.Doch im Laufe der Jahre ist eine starke Annäherungder beiden Richtungen erfolgt. Auch die Schule Bren-tanos ist für die Verstaatlichung und Verstadtlichungeiner Reihe von Unternehmungen eingetreten, unddie Schule Schmollers legt Gewicht auf die Tätigkeitder Gewerkschaften. Lange Zeit trennte die beidenSchulen die Stellung zur auswärtigen Handelspolitik.Brentano hat den Protektionismus, dem die Mehrzahl

58 Vgl. Knapp, Die Landarbeiter in Knechtschaft undFreiheit, 2. Aufl.; Leipzig 1909, S. 86 (jetzt auch in: Einfüh-rung in einige Hauptfragen der Nationalökonomie, Mün-chen und Leipzig, 1925 S. 1922).

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der Etatisten anhing, abgelehnt. Hier haben die Eta-tisten zum Teile nachgegeben. Die – wenn auch nichtsehr entschieden – freihändlerische Entschließung derin Stuttgart 1923 versammelten Hochschullehrer hatdies deutlich gezeigt.

Brentano selbst hat den Unterschied, der zwi-schen ihm und Schmoller in den Grundfragen derGesellschaftspolitik bestand, in folgender Weise dar-

zustellen versucht: »Wir waren beide sowohl für das Wirken freier Organisationen als auch für das Eingrei-fen des Staates, wo der sich selbst überlassene Einzel-ne zu schwach war, seine Persönlichkeit zu wahrenund seine Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen. Aberunsere Stellung zu beiden war doch wohl von Anfangan umgekehrt. Meine englischen Studien hatten michdazu geführt, die Hoffnung für das Aufsteigen derarbeitenden Klassen in erster Linie in das freie Wirkenihrer Organisationen zu setzen, während es Schmoller weit mehr darauf ankam, dem Staate die Rolle einesBeschützers der Schwachen zuzuweisen«59. In dieserCharakteristik, die Brentano im Frühjahr 1918, kurz

nach dem Offenbarwerden des Zusammenbruches desSystems Schmoller und kurz vor dem Offenbarwerdendes Zusammenbruches des Systems Brentano nieder-schrieb, sind die grundsätzlichen Verschiedenheitender beiden Richtungen zwar nicht scharf herausgear- beitet, aber doch immerhin erkennbar dargestellt.

II. Liberalismus und Sozialliberalismus.

Namen sind unwesentlich. Auf die Sache kommtes an und nicht auf die Terminologie. Der TerminusSozialliberalismus mutet zwar merkwürdig an, daSozialismus und Liberalismus einander ausschließen.

59 Vgl. Brentano, Ist das System Brentano zusammen-

gebrochen? Berlin 1918, S. 14 f.

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Doch wir sind derlei schon gewohnt. Auch Sozialismusund Demokratie sind letzten Endes unvereinbar, unddoch haben wir das Wort Sozialdemokratie, das einecontradictio in adjecto enthält, schon seit langem imGebrauch. Wenn heute die Schule Brentanos, die sei-nen Syndikalismus übernommen hat, und ein Teil der»gemäßigten« Etatisten ihre Richtung als Soziallibera-lismus oder als sozialpolitischen Liberalismus be-

zeichnen, so könnte man dagegen nichts einwenden. Wohl aber muß man – nicht aus Gründen irgendwel-cher parteipolitischer Einstellung, sondern im Inte-resse wissenschaftlicher Klarheit und folgerichtigenDenkens – dagegen Einspruch erheben, daß man, vondieser Bezeichnung ausgehend, die Unterschiede, diezwischen Liberalismus und Sozialismus bestehen, verwischt und etwas als Liberalismus bezeichnet, dasdas gerade Gegenteil von dem ist, was die Geschichteund die Sozialwissenschaft als Liberalismus bezeich-nen. Es ist natürlich keine Entschuldigung für dieses Vorgehen, daß auch in England, dem Heimatland desLiberalismus, dieselbe Begriffsverwirrung herrscht.

Es ist wohl richtig, wenn Herkner sagt, für denLiberalismus sei Unverletzlichkeit des Eigentums keindogmatisch festgelegter Zweck, sondern Mittel zurErreichung der obersten Ziele. Aber er irrt, wenn ermeint, daß dieses Mittel im Systeme des Liberalismus»nur zeitlich bedingt« sei60. Im obersten und letztenZiele stimmen Liberalismus und Sozialismus überein.Sie unterscheiden sich gerade darin, daß der Libera-lismus zur Erreichung dieses Zweckes das Sonderei-gentum an den Produktionsmitteln, der Sozialismusaber das Gemeineigentum an den Produktionsmittelnals das geeignetste Mittel ansieht. Diese Gegenüber-stellung der beiden Programme und nur diese ent-

spricht der Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts.

60 Vgl. Herkner, Sozialpolitischer Liberalismus, I, S. 41.

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Das, was Liberalismus und Sozialismus trennt, ist die verschiedene Stellung zum Problem des Eigentums anden Produktionsmitteln. Es ist nur verwirrend, wennman dies irgendwie anders darzustellen versucht.

Beim Sozialismus, meint Herkner, handelt es sich»um die Einführung eines Wirtschaftssystems, in demdie im Staate organisierte Gesellschaft unmittelbar die wirtschaftliche Existenzsicherung aller ihrer Angehö-

rigen übernimmt, und zwar dadurch, daß an Stelle desPrivateigentums an den Produktionsmitteln und de-ren Verwertung im Gewinninteresse privater Unter-nehmer der ganze Produktions- und Verteilungspro-zeß im Sinne einer unmittelbaren Bedarfsdeckungs- wirtschaft zur Aufgabe der öffentlichen Gewalt erho- ben wird«61. Das ist zwar nicht sehr exakt, aber im-merhin genügend deutlich ausgedrückt. Doch nunfährt Herkner fort: »Wenn dieses System mit liberalenMitteln, d. h. ohne Vergewaltigung und Rechtsbruch,eingeführt würde und imstande wäre, nicht nur diematerielle Güterversorgung der Massen zu verbessern,sondern auch ein größeres Maß von individueller

Freiheit zu verschaffen, so gäbe es keinen Einwand,der vom Standpunkt des Liberalismus dagegen erho- ben werden könnte«62. Wenn es also im Parlamentzur Abstimmung über die Frage der Sozialisierungkommt, so könnten die Liberalen für die Gemeinwirt-schaft stimmen, da sie doch in diesem Falle »ohne Vergewaltigung und Rechtsbruch eingeführt würde«, wenn nicht gerade die Bedenken bezüglich der mate-riellen Güterversorgung der Massen bestünden!

Herkner scheint der Meinung zu sein, daß derältere Liberalismus das Eigentum um seiner selbst willen und nicht um seiner sozialen Konsequenzenhalber gefordert habe, und so gelangt er – und ähnlich

61 Vgl. Herkner, I, 43.62 Vgl. Herkner, I, 44.

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ist es auch bei Wiese und bei Zwiedineck – dazu, hiereinen Gegensatz zwischen dem älteren und dem heu-tigen Liberalismus zu konstruieren. So heißt es beiHerkner: »Während der ältere Liberalismus im Eigen-tum eine Institution des Naturrechtes erblickte, derenSicherung neben dem Schutze der persönlichen Frei-heit die erste Aufgabe des Staates bildete, wird jetztdas soziale Moment im Eigentum immer schärfer

 betont. ..... Das Eigentum wird nicht mehr mit indivi-dualistischen Gründen verteidigt, sondern mit Ge-sichtspunkten sozialer und volkswirtschaftlicherZweckmäßigkeit«63. Ähnlich stellt Zwiedineck fest,daß man heute schon zu dem Optimismus hinneigendürfe, »daß eine Eigentumsverfassung um ihrer selbst willen oder nur im Interesse der Eigentümer keinendauernden Bestand haben würde«. Auch der moderneLiberalismus trete für das Eigentum aus Gründen»sozialer Zweckmäßigkeit« ein64.

Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, zu prü-fen, inwiefern die nichtliberalen Naturrechtstheoriendas Eigentum als natürliche Kategorie verteidigen

 wollten. Aber das sollte doch allgemein bekannt sein,daß die älteren Liberalen Utilitarier waren (man wirftes ihnen oft genug vor) und daß es für sie eine Selbst- verständlichkeit war, daß jede gesellschaftliche Insti-tution und jede ethische Norm nicht um ihrer selbst willen und nicht um irgendwelcher Sonderinteressen willen, sondern nur um ihrer gesellschaftlichenZweckmäßigkeit willen vertreten werden können: Esist nicht eine Fortentwicklung des Liberalismus in derRichtung zum Sozialismus hin, wenn der moderneLiberalismus das Sondereigentum an den Produkti-onsmitteln wegen seiner gesellschaftlichen Nützlich-

63 Vgl. Herkner, I, 49.64  Vgl. Zwiedineck-Südenhorst, Zur Eigentums- und

Produktionsverfassung, II, 447

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keit und nicht um seiner selbst willen oder im Interes-se der Eigentümer fordert.

»Aus Eigentum und Erbrechte« heißt es dann weiter bei Herkner, »fließt auch arbeitsloses Einkom-men. Der Liberalismus sympathisiert mit den Bestre- bungen der Sozialisten, das arbeitslose Einkommenim Interesse der Gerechtigkeit und eines für alle Glie-der der Gesellschaft gleichen Wettbewerbes zu be-

kämpfen«65. Daß aus Eigentum arbeitsloses Einkom-men fließt, ist so klar, wie daß die Armut von der Po- werté kommt. Arbeitsloses Einkommen ist nämlichdas Einkommen, das aus der Verfügung über die Pro-duktionsmittel kommt. Wer das arbeitslose Einkom-men bekämpft, muß das Sondereigentum an den Pro-duktionsmitteln bekämpfen. Mit solchen Bestrebun-gen kann ein Liberaler nicht sympathisieren; tut er esdoch, so ist er eben nicht mehr liberal.

 Was ist in Herkners Augen eigentlich Liberalis-mus? Darauf erhalten wir folgende Antwort: »Libera-lismus ist eine Weltanschauung, eine Art von Religion,ein Glaube; der Glaube an die natürliche Würde und

Güte des Menschen, an seine hohe Bestimmung, anseine Verbesserungsfähigkeit durch die Mächte dernatürlichen Vernunft und Freiheit, an den Sieg derGerechtigkeit und Wahrheit. Ohne Freiheit keine Wahrheit. Ohne Wahrheit kein Triumph des Gerech-ten und kein Fortschritt, also keine Entwicklung, de-ren spätere Stufen immer als wertvoller als die voran-gegangenen gelten dürfen. Was Sonnenlicht und Sau-erstoff dem organischen Leben, das bedeuten Ver-nunft und Freiheit der geistigen Entwicklung. Wedereinzelne Menschen noch ganze Klassen, Völker undRassen dürfen als bloßes Mittel für die Zwecke ande-rer Menschen, Klassen, Völker und Rassen betrachtet

65 Vgl. Herkner, I, 49.

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 werden«66. Das ist sehr schön und edel, aber leiderauch so allgemein und nichtssagend, daß es ebensogutauf Sozialismus, auf Syndikalismus und auf Anar-chismus paßt. In dieser Begriffsbestimmung des Libe-ralismus fehlt das allein Entscheidende, nämlich das,daß der Liberalismus eine auf dem Sondereigentuman den Produktionsmitteln beruhende Gesellschafts-ordnung als das soziale Ideal ansieht.

Bei solcher Fremdheit gegenüber dem Grund-problem des Liberalismus ist es dann nicht weitererstaunlich, daß sich bei Herkner so ziemlich alleMißverständnisse finden, die heute über das Wesendes Liberalismus im Umlauf sind. So unter anderem:»Der moderne Liberalismus (soll heißen: der sozialpo-litische Liberalismus) vertritt im Gegensatz zu demälteren, der sich vor allem um die Beseitigung hem-mender Fesseln bemühte, ein positives konstruktivesProgramm«67. Hätte Herkner den Grundgedankendes Liberalismus im Sondereigentum an den Produk-tionsmitteln gefunden, dann hätte er erkannt, daß dasliberale Programm nicht weniger positiv und kon-

struktiv ist als irgendein anderes. Es ist die spezifischeDenkungsart der Beamtenschaft – die nach Brentano»der einzige Resonanzboden« des Vereins für Sozial-politik war68 –, daß sie nur die Ideologie als konstruk-tiv und positiv ansieht, die möglichst viele Ämter undBeamte fordert, und jedem, der den Umfang derStaatsagenden vermindert sehen will, die Kennzeich-nungen »negativer Kopf« und »Staatsfeind« anhängt.

Sowohl Herkner als auch Wiese69 betonen aus-drücklich, daß Liberalismus mit Kapitalismus nichts

66 Vgl. Herkner, I, 49.67 Vgl. Herkner, I, 47.68 Vgl. Brentano, a, a. O. S. 19.69 Vgl. Herkner, I, 38; Wiese, Gibt es noch Liberalis-

mus? I, 22.

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zu tun habe. Passow hat zu zeigen versucht, daß die vieldeutigen Worte »Kapitalismus«, »kapitalistische Wirtschaftsordnung« usw. politische Schlagwortesind, die – von verhältnismäßig wenigen Ausnahmenabgesehen – von Anfang an nicht gebraucht wurden,um die Tatsachen des Wirtschaftslebens objektiv zuklassifizieren und begreifen zu lehren, sondern um die– mehr oder minder zutreffend – erkannten Erschei-

nungen des Wirtschaftslebens zu kritisieren, anzukla-gen und zu verurteilen70. Stellt man sich auf diesenStandpunkt, dann ist es klar, daß wer im Liberalismus– mag er darunter was immer verstehen wollen –einen Wert erkennt, ihn von einer Kennzeichnungfreisehen will, die als Herabsetzung, Schmähung undBeschimpfung empfunden wird. Aber schon wennman die Feststellung Passows als richtig anerkennt,daß in den meisten Fällen, wo man mit dem Worte»Kapitalismus« überhaupt einen bestimmten Begriff  verbindet, das Wesen der Sache in der Entwicklungund Ausbreitung großer Unternehmungen liegt71, wirdman nicht umhin können, zuzugeben, daß zwischen

Liberalismus und Kapitalismus enge Beziehungen bestehen. Erst der Liberalismus hat die ideologischen Voraussetzungen geschaffen, die den modernen ge- werblichen Großbetrieb ermöglicht haben. Gebrauchtman aber den Ausdruck Kapitalismus zur Bezeich-nung einer Wirtschaftsweise, in der die wirtschaftli-chen Handlungen nach den Ergebnissen der Kapitals-rechnung ausgerichtet sind72, so liegt die Sache nichtanders. Wie immer wir auch den Begriff »Kapitalis-mus« bestimmen wollen, stets wird es sich zeigen, daßdie Entwicklung der kapitalistischen Produktionswei-se nur im Rahmen einer auf dem Sondereigentum an

70 Vgl. Passow, »Kapitalismus«, Jena 1918, S. 1 ff. 71Ebendort, S. 132 ff.72 Vgl. meine Gemeinwirtschaft, Jena 1922, S. 110 ff.

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den Produktionsmitteln aufgebauten Gesellschafts-ordnung möglich war und ist. Man kann daher WiesesBehauptung, das Wesen des Liberalismus sei »durchsein geschichtliches Zusammentreffen mit dem Hoch-kapitalismus verdunkelt« worden, nicht zustimmen73.

Das, was den Kapitalismus als »unliberal« er-scheinen lasse, erblickt Wiese »in der Gefühllosigkeitgegen fremde Not, in dem brutalen Gebrauch der El-

lenbogen und in dem Streben nach Übermächtigungund Knechtung der Mitmenschen«74. Das sind einigeSchlagworte aus dem bekannten Register der sozialis-tischen Klagen über die Verderbtheit und Verruchtheitdes Kapitalismus, in denen die für die sozialistischeIdeologie charakteristische Verkennung des Wesensund des Wirkens der auf dem Sondereigentum an denProduktionsmitteln beruhenden Gesellschaftsordnungzutage tritt. Wenn in der kapitalistischen Gesellschaftder Käufer ohne andere Rücksichten dort zu kaufensucht, wo er die Ware am billigsten erhalten kann, istdas nicht »Gefühllosigkeit gegen fremde Not«. Wennder überlegene Betrieb den minder rationell arbeiten-

den im Konkurrenzkampf zurückdrängt, liegt nicht»brutaler Gebrauch der Ellenbogen« und »Strebennach Übermächtigung und Knechtung der Mitmen-schen« vor. Das, was in diesem Falle vorgeht, ist nichtetwa eine unerwünschte Begleiterscheinung oder ein»Auswuchs« des Kapitalismus und ist keineswegsetwa vom Liberalismus nicht gewollt worden. Im Ge-genteil. Je schärfer der Konkurrenzkampf vor sichgeht, desto besser erfüllt er seinen gesellschaftlichenZweck, die Produktion zu rationalisieren. Daß derFuhrmann durch die Eisenbahn, der Handweberdurch die mechanische Weberei, der Schuhmacherdurch die Schuhfabrik verdrängt wurden, ist nicht

73 Vgl. Wiese, I; 2374Ebendort

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 wider die Absicht des Liberalismus geschehen. Und wenn an die Stelle eines unzulänglich von kleinenReedern mit Seglern besorgten Schiffahrtsdiensteseine große Dampfschiffahrtsgesellschaft, an die Stelleeiniger Dutzend oder Hundert Fleischhauer eine gro-ße Schlächterei-Aktiengesellschaft, an die Stelle eini-ger Hundert Krämer eine Handelsaktiengesellschafttreten, so liegt darin keine »Übermächtigung und

Knechtung der Mitmenschen«.Sehr richtig sagt Wiese, daß es Liberalismus

»praktisch in ausreichendem Grade überhaupt nochnicht gegeben habe, und daß die Gemeinde der Libe-ralen erst geschaffen und erzogen werden müsse« 75.So haben wir, selbst wenn wir die Gesellschaft des imLiberalismus einst tonangebenden England zur Zeitder Hochblüte des Kapitalismus betrachten, nur einhöchst unvollkommenes Bild von dem vor uns, wasder voll entwickelte Kapitalismus zu leisten imstande wäre. Es ist heute üblich, alles, was dem Kritiker nichtgefällt, dem Kapitalismus zur Last zu legen. Wer gibtsich wohl Rechenschaft darüber, was er alles entbeh-

ren müßte, wenn es keinen »Kapitalismus« geben würde? Wem aber nicht alle Blütenträume reifen, derist schnell dabei, den »Kapitalismus« zu beschuldigen.Das mag ein Verfahren sein, das für die politischeParteiarbeit geeignet erscheint. In der wissenschaftli-chen Diskussion sollte man es besser meiden.

III. Macht oder ökonomisches Gesetz?

Zu den Irrtümern, an denen der Kathedersozia-lismus aller Spielarten am hartnäckigsten festzuhalten bestrebt ist, gehört der Glaube an die isolierten Ein-griffe des Staates in das Wirtschaftsleben. Nach dieser

 Auffassung gibt es, vom Syndikalismus abgesehen,

75 Vgl. Wiese, I, 16.

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drei denkbare Möglichkeiten für die Ordnung der Verfügung über die Produktionsmittel in der arbeittei-lenden Gesellschaft: Neben Gemeineigentum undSondereigentum steht als dritte Möglichkeit das durchstaatliche Vorschriften regulierte Eigentum Privater.Die Möglichkeit und Denkbarkeit dieses dritten Sys-tems ist das Problem, das in der Antithese »Machtoder ökonomisches Gesetz« zur Diskussion gestellt

 wurde.Für den Kathedersozialismus hatte diese Frage

 vor allem eine politische Bedeutung. Er konnte seinen Anspruch, eine unparteiische Mittelstellung zwischenManchestertum und Kommunismus einzunehmen,nur dann aufrecht halten, wenn er ein Gesellschafts-ideal empfahl, das »gleichweit« von den Idealen der beiden um die Oberhand ringenden Richtungen ent-fernt zu sein schien. Er konnte die Kritik, die am so-zialistischen Gesellschaftsideal geübt worden war, nurdann als sein Ideal nicht treffend ansehen, wenn er verkannte, daß die isolierten Eingriffe in das Getriebeder auf dem Sondereigentum an den Produktionsmit-

teln beruhenden Gesellschaftsordnung ihren Zweck  verfehlen, und daß die Ziele, die der Etatismus zuerreichen sucht, nur durch ein System erreicht werdenkönnten, in dem vom Sondereigentum an den Produk-tionsmitteln nichts als der bloße Name übrig gelassen wird und alle Produktion nach den Weisungen einerzentralen Stelle vollzogen wird. Zutreffend bemerktMoeller, daß der Grund der Opposition, die von der jüngeren historischen Schule gegen die klassischeNationalökonomie ausging, ein wesentlich praktischer war; Schmoller hätte »vor allem nicht durch die Vor-stellung einer äußeren, vom Menschen unabhängigenGesetzmäßigkeit des Geschehens den Weg zur wissen-

schaftlichen Begründung praktischer Sozialpolitik  verbaut sehen« wollen. Doch er irrt, wenn er im Anschluß an Rists Bemerkung, daß von der klassi-schen Schule die allgemeine Gültigkeit der national-

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 verschiedene Auffassungen und Streit um die Lösungkonkreter Probleme. Doch der logische Charaktereiner jeden Wissenschaft ist einheitlich. Das gilt auch von der Nationalökonomie, und der beste Beweis da-für, daß dem so ist, ist die Tatsache, daß die histo-risch-realistische Schule, die aus politischen Gründenmit der überkommenen und sich weiter entwickeln-den Nationalökonomie der Theoretiker nicht einver-

standen war, nicht etwa an die Stelle der bekämpftenLehre eine andere gesetzt hat, sondern grundsätzlichdie Möglichkeit theoretischer Erkenntnis auf diesemGebiet geleugnet hat.

Nationalökonomische Erkenntnis führt notwen-digerweise zum Liberalismus. Denn sie zeigt einer-seits, daß es für die Ordnung des Eigentumproblemsin der arbeitteilenden Gesellschaft nur zwei Möglich-keiten gibt: Das Sondereigentum und das Gemeinei-gentum an den Produktionsmitteln, und daß das an-gebliche Mittelding des »regulierten« Eigentums ent- weder sinnwidrig ist, weil es nicht zu den beabsichtig-ten Zielen führt und nichts anderes bewirkt, als Stö-

rung des Ablaufes der kapitalistischen Produktion,oder bis zur vollen Vergesellschaftung der Produkti-onsmittel getrieben werden muß. Sie zeigt anderseits– und diese Erkenntnis ist in voller Klarheit erst eineErrungenschaft der jüngsten Zeit –, daß eine arbeittei-lende Gesellschaft, die auf dem Gemeineigentum anden Produktionsmitteln aufgebaut ist, nicht lebensfä-hig wäre, weil in einer solchen Gesellschaft Geldrech-nung und damit Rationalität nicht denkbar sind. Nati-onalökonomische Erkenntnis steht somit den heutedie ganze Welt beherrschenden sozialistischen undsyndikalistischen Ideologien im Wege. Daher derKampf, der allenthalben gegen die Nationalökonomie

und gegen die Nationalökonomen geführt wird.Zwiedineck-Südenhorst versucht die unhaltbareLehre von der neben Gemeineigentum und Sonderei-gentum angeblich möglichen dritten Gesellschafts-

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form in neuem Gewande vorzutragen. Es handle sich,meint er, »nicht bloß um die Eigentumsverfassung,sondern mindestens ebenso, wahrscheinlich aber aus-schlaggebender, um die Gesamtheit jener Rechtsnor-men, die sich als Überbau über irgendeiner Eigen-tums- und damit überhaupt Wirtschaftsverfassungerheben und als maßgebend für die Gestaltung desZusammenwirkens der verschiedenen Produktions-

faktoren unabwendbar anzuerkennen sind (wobei verschiedene Produktionsfaktoren, eben nicht nureinerseits Kapital und Boden, anderseits Arbeit, son-dern auch die verschiedenen Kategorien von mensch-licher Leistung gegensätzlich zu verstehen sind): kurzeben das, was unter den Begriff der Produktionsver-fassung fällt. Diese Produktionsverfassung kann nurden Zweck haben, die jeweiligen Herrschaftsverhält-nisse über die verschiedenen Produktionsfaktoren inden Dienst der gesamten Wirtschaft zu stellen, nurdann hat sie gesellschaftswirtschaftlichen Charakter.Natürlich sind dann insoweit diese Herr-schaftsverhältnisse, also wieder die Eigentumsord-

nung, geradezu ein Teil der Produktionsverfassung. Aber daraus ist noch nicht zu schließen, daß die sieergänzende Produktionsverfassung für die individua-listische und für die kollektivistische Wirtschaft ver-schieden sein müssen, ja es ist geradezu die Frage, obund worin sie verschieden sein kann«77 Hier haben wir, geradeso wie bei allen Vertretern des Etatismus,die Vorstellung, daß Rechtsnormen, die notwendigsind, um das Sondereigentum »in den Dienst der Ge-samtwirtschaft zu stellen«, den Erfolg, den die Obrig-keit anstrebt, erreichen könnten. Zwiedineck hat dennauch erst vor kurzem zu dem Problem: »Macht oderökonomisches Gesetz« in der für alle Anhänger der

77  Vgl. Zwiedineck-Südenhorst, Zur Eigentums- und

Produktionsverfassung, II, 430 f.

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kathedersozialistischen Richtung kennzeichnenden Art Stellung genommen.78

Es ist bemerkenswert, daß alle diese Ausführun-gen nicht nur nichts Neues bringen, sondern daß sieauch alle alten, hundertmal widerlegten Irrtümer wie-der auftischen. Es handelt sich nicht darum, ob»staatliche Macht« in das Wirtschaftsleben eingreifen»kann«. Kein Nationalökonom wird heute noch

 bestreiten wollen, daß z. B. das Bombardement einerStadt oder ein Ausfuhrverbot »möglich« sind. Auchder Freihändler leugnet nicht, daß Zölle möglich sind;er behauptet nur, daß Schutzzölle nicht jene Wirkun-gen nach sich ziehen, die ihnen der Schutzzöllner zu-schreibt. Und wer Preistaxen als unzweckmäßig ab-lehnt, will nicht bestreiten, daß die Behörde Preista-xen anordnen und über ihre Einhaltung wachen kann,sondern nur das, daß auf diesem Wege jenes Ziel er-reicht werden kann, das sich die Obrigkeit bei derErlassung der Preistaxen gesetzt hat.

IV. Der Methodenstreit.

Die Ausführungen, mit denen die Anhänger derhistorischen Schule die Zulässigkeit »theoretischerer«Untersuchungen auf dem Gebiete der Nationalöko-nomie ablehnten, haben schon in der Mitte der 70erJahre eine treffende, unwiderlegbare Zurückweisungdurch Walter Bagehot erfahren. Die beiden Methoden,die die historische Schule als die allein zulässigen bezeichnete, nennt Bagehot die »all case method« unddie »single case method«. Jene will nur mit vollstän-diger Induktion arbeiten und sei der irrigen Meinung,daß dies der Weg sei, auf dem die Naturwissenschaf-ten zu ihren Ergebnissen zu gelangen pflegen. Bagehot

78 Vgl. Zwiedineck-Südenhorst, Macht oder ökonomi-sches Gesetz? (Schmollers Jahrbuch, 49. Jahrgang, S. 273-292.)

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zeigt, daß dieser Weg ganz und gar ungangbar unddaß auf ihm niemals in irgendeiner Wissenschaft ein befriedigendes Ergebnis erzielt worden sei. Die »sin-gle case method«, die nur die Beschreibung konkretergeschichtlicher Vorgänge gelten lassen will, verkenne,daß es keine Wirtschaftsgeschichte und keine Wirt-schaftsbeschreibung gebe –»unless there was a consi-derable accumulation of applicable doctrine before

existing«79.Der Methodenstreit ist heute längst entschieden.

Noch nie hat eine wissenschaftliche Erörterung miteiner vernichtenderen Niederlage der einen Richtunggeendet als diese. Das wird erfreulicherweise auch indem vorliegenden Sammelwerk rundweg zugegeben.So kommt Löwe in seinem auf gründlicher Beherr-schung des Stoffes beruhenden Beitrag über die Kon- junkturforschung auch kurz auf die Methodenfrage zusprechen und weist mit treffenden Worten die Un-haltbarkeit der Einwendungen nach, die die Empirikergegen die Theorie vorgebracht haben. Man muß leiderLöwe auch dort recht geben, wo er feststellt, daß »der

Irrglaube an die ‚unvoreingenommene’ Tatsachenfor-schung, die die Arbeit einer ganzen deutschen For-schergeneration um ihren eigentlichen Ertrag ge- bracht hat« neuerdings in der amerikanischen Wis-senschaft auftritt80. Noch bedauerlicher ist es freilich,daß wir trotz der gründlichen methodologischen Erör-terungen der letzten Jahre auch in der deutschen Wis-senschaft immer wieder aufs neue den alten, längst widerlegten Irrtümern begegnen. Bonn z. B. rühmtBrentano nach, daß es ihm in seinem Buch über »Ag-rarpolitik« nicht genügt habe, »das Gerippe eines

79  Vgl. Bagehot, The Postulates of English Political

Economy (Works, Edited by Russell Barrington, London1915, Vol. VII) S. 100-104.

80 Vgl. Löwe, Der gegenwärtige Stand der Konjunktur-forschung in Deutschland, II, S. 365 f., S. 367 f.

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Systems, losgelöst vom Fleisch des Lebens, zur Dar-stellung zu bringen. Ihm graute vor blutleerer Abs-traktion, vor der Abwandlung dürrer Begriffe, wie ersie in seiner Jugend kennengelernt hatte. Er suchtedie Fülle des Lebens«.81 Jede Untersuchung, die inirgendeiner Weise zu volkswirtschaftlichen FragenStellung nimmt, muß »theoretisieren«. Der Empiriker

 weiß freilich nicht, daß er Theorie treibt, so wenig

Monsieur Jourdain wußte, daß das, was er immer ge-sprochen hatte, Prosa war. Und weil die Empirikerdies nicht wissen, übernehmen sie achtlos Theorien,die unvollkommen und geradezu falsch sind, und

 vermeiden es, die Theorien dadurch zu prüfen, daß siesie bis ans Ende folgerichtig durchdenken. Man kannzu jeder »Tatsache« unschwer eine erklärende Theoriekonstruieren; erst wenn man die einzelnen Theorienzu einem Gesamtsystem zusammenschließt, kann mansich über Wert und Unwert der gefundenen »Erklä-rung« orientieren. Das gerade aber hat die historischeSchule abgelehnt: Sie wollte es nicht gelten lassen, daßman Theorien bis ans Ende durchdenken und daß

man sie zu einem einheitlichen System zusammenfas-sen muß. Ihr fehlten Wille und Kraft zum System. Siehat eklektisch Brocken aller möglichen Theorien ver-

 wendet, wahl- und kritiklos bald dieser, bald jenerMeinung folgend.

Doch die Kathedersozialisten haben nicht nurselbst kein System aufgestellt, sie haben auch in derKritik des Systems der modernen theoretischen Nati-onalökonomie ganz und gar versagt. Die fruchtbareKritik, die zur Weiterbildung der Wissenschaft un-entbehrlich ist, ist der subjektivistischen Wertlehrenicht von außen zugekommen, sondern in ihren eige-nen Reihen entstanden. Unter ihrem Einfluß hat sich

81  Vgl. Bonn, Geleitwort: Lujo Brentano als Wirt-

schaftspolitiker, I, 4.

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die große Wandlung der letzten Jahrzehnte vollzogen.Selbst die Tatsache dieser Entwicklung im System dertheoretischen Nationalökonomie ist den Anhängernder historischen Schule entgangen. Sie haben, wennsie von der modernen Nationalökonomie sprechen,noch immer den Stand von 1890 vor Augen, als ebenMengers und Böhm-Bawerks Leistungen im großenund ganzen abgeschlossen vorlagen. Was seither in

Europa und Amerika geleistet wurde, ist ihnen ziem-lich fremd geblieben.

Die Kritik, die die Vorkämpfer des Kathederso-zialismus an den Lehren der theoretischen National-ökonomie übten, war meist wenig sachlich und, ohneersichtlichen Grund, nicht frei von persönlicher Ge-hässigkeit. Oft tritt – ganz wie in den Schriften vonMarx und seinen Schülern – an Stelle einer Kritik einmehr oder weniger geschmackvoller Witz. Brentanoglaubte eine – nebenbei bemerkt, in den 17 Jahren,die seit ihrem Erscheinen verstrichen sind, von nie-mand als richtig anerkannte – Kritik der Böhm-Bawerkschen Kapitalzinstheorie durch den Satz einlei-

ten zu müssen: »Wie mir ein Student im ersten Se-mester treffend bemerkte«82. Der russische ProfessorTotomianz, ein Armenier, sagt in seiner »Geschichteder Nationalökonomie und des Sozialismus«: »Einerder deutschen Kritiker der psychologischen Schule bemerkt höchst ironisch, doch nicht ohne Kern von Wahrheit, daß der Boden, auf welchem die österrei-chische Schule gewachsen ist, die Stadt Wien mit ihrerzahlreichen Studentenschaft und Offizieren gewesenist. Für einen jungen, nach Vergnügungen haschendenStudenten würden die jetzigen Güter natürlich viel wertvoller erscheinen als die zukünftigen. Ebenso wird ein glänzender, doch stets an Geldmangel lei-

82  Vgl. Brentano, Konkrete Grundbedingungen der Volkswirtschaft, Leipzig 1924, S. 113. (Die Sperrung ist vonmir.)

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dender Offizier einen jeglichen Prozentsatz für dasihm geliehene Geld zahlen«83. Das Werk, das diesetiefsinnige Kritik der Böhm-Bawerkschen Lehre ent-hält, erschien in russischer Sprache. Seine französi-sche Übersetzung wurde von Rist, seine italienische von Loria und seine tschechische von Masaryk miteinem Vorwort eingeleitet. In dem Vorwort zur deut-schen Ausgabe rühmt Herkner seine Darstellung als

»volkstümlich und anschaulich«; alles, was an bedeu-tenden und fruchtbaren Gedanken in England, Frank-reich, Deutschland, Österreich, Belgien, Italien, Ruß-

83 Vgl. V. Totomianz, Geschichte der Nationalökonomie

und des Sozialismus, Jena 1925, S. 152. Auch abgesehen vonder im Texte angeführten »Kritik« Böhm-Bawerks stellt sichdie Arbeit von Totomianz als ein durchaus unzulänglicherund verfehlter Versuch dar. So heißt es z. B. auf S. 146:»Während Mengers Verdienst hauptsächlich in der Ausar-

 beitung einer neuen Methodologie liegt, haben die zweianderen Vertreter der österreichischen Schule, Böhm-Bawerk und Wieser, eine recht scharfsinnige psychologische

 Werttheorie aufgebaut.« Aus dieser Formulierung müßteman schließen, daß Menger sich um die Ausarbeitung derneuen Werttheorie weniger verdient gemacht habe alsBöhm-Bawerk und Wieser, was durchaus nicht zutrifft. DieDarstellung der Lehre der Grenznutzentheorie beginnt To-tomianz mit folgenden Ausführungen: »Die Wirtschaft be-steht aus Gütern. Diese Güter stehen in einem gewissen

 Verhältnis zum menschlichen Wohlsein. Dieses Verhältniszum Wohlstand drückt sich in zwei verschiedenen Gradenoder Stufen aus: in einer niederen und einer höheren. Wirhaben es mit der höheren zu tun, wenn das Gut nicht nur

 brauchbar, sondern auch für die Wohlfahrt notwendigist,sodaß im Zusammenhang mit dem Besitz oder Verlust desGutes irgendein Verbrauch oder Genuß verloren geht.«. Die

 Ausführungen über die anderen Nationalökonomen sindnicht besser. Da ich der russischen Sprache nicht mächtig

 bin, vermag ich nicht zu entscheiden, ob der Widersinn auf Rechnung des russischen Originals oder der deutschenÜbersetzung zu setzen ist.

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land und Amerika hervorgebracht worden ist, finde bei Totomianz »liebe- und verständnisvolle Beach-tung«. Totomianz verfüge »über eine staunenswerteBefähigung, so verschiedenartigen Geistern wie Fou-rier, Ruskin, Marx, Rodbertus, Schmoller, Mengerund Gide in gleicher Weise gerecht zu werden«84.Dieses Urteil Herkners ist umso merkwürdiger, als esdoch von einem genauen Kenner der Dogmenge-

schichte herrührt85.Der Brentanosche Flügel der empirisch-

realistischen Richtung hat übrigens im Methoden-streit eine vorsichtigere Haltung eingenommen als die Anhänger Schmollers. Brentano persönlich muß manes überdies als besonderes Verdienst anrechnen, daßer schon vor einem Menschenalter an den wirtschafts-geschichtlichen Arbeiten der Schule scharfe Kritik geübt hat. »Gar mancher«, hieß es da, »der nichtsanderes als einen Auszug aus wirtschaftlichen Aktengemacht hat, meint damit eine nationalökonomische Abhandlung geschrieben zu haben. Als ob nicht, wennder Aktenauszug da ist, die Arbeit des Nationalöko-

nomen erst anginge! Denn erst dann gilt es das darinEnthaltene festzustellen, es zu einem lebensvollenBilde zusammenzufassen und die aus dem Stück Le- ben, was so bekannt geworden, sich ergebenden Leh-ren zu ziehen. Dazu reicht dann freilich der Fleiß imFertigen von Aktenauszügen nicht aus. Es gehörendazu Anschauung, Kombinationsgabe, Scharfsinn unddie wichtigste wissenschaftliche Gabe: in der Mannig- faltigkeit der Erscheinungen das Gemeinsame erken-nen zu können. Wo dies fehlt, erhalten wir nichts alsuninteressante Einzelheiten ...... Wirtschaftsgeschicht-

84Ebendort, S. 7 f.85 Vgl. Herkner, Die Geschichte der Nationalökonomie

(Festschrift für Lujo Brentano zum siebzigsten Geburtstag,München und Leipzig 1916), S. 223-235.

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liche Abhandlungen dieser Art sind dann für die Nati-onalökonomie gänzlich wertlos«86. Und wohl im Hin- blick auf die etatistischen Tendenzen der der Schmol-lerschen Schule entstammenden Arbeiten nennt Bren-tano es eine Verirrung, »Begeisterung-verbrämte Ar-chivauszüge mit national-ökonomischen Untersu-chungen und wirtschaftsgeschichtlichen Forschungenzu verwechseln«87.

 V. Die nationalökonomischen Doktrinendes Sozialliberalismus.

Seinen Grundsätzen getreu hat der Kathederso-zialismus kein System der Nationalökonomie aufge-stellt, wie es auf der einen Seite die Physiokraten unddie Klassiker, auf der anderen Seite die moderne sub- jektivistische Nationalökonomie versucht haben. Es war ihm gar nicht darum zu tun, ein System der Katal-laktik aufzubauen.

Marx hat das System der Klassiker ohne weiteresübernommen und aus ihm die Einsicht geschöpft, daß

es in der arbeitteilenden Gesellschaft neben der auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln be-ruhenden Gesellschaftsordnung und der auf dem Ge-meineigentum an den Produktionsmitteln beruhen-den keine dritte Organisationsmöglichkeit gebe. Alle Versuche, dies zu verkennen, hat er als »kleinbürger-lich« verhöhnt. Der Standpunkt des Etatismus ist einanderer. Er trat von vornherein an die Dinge nicht mitdem Drange, sie zu verstehen, sondern mit der Ab-sicht, sie zu richten, heran; er brachte eine vorgefaßteethische Meinung mit, ein: »So soll es sein!« und »So

86 Vgl. Brentano, Über den grundherrlichen Charakter

des hausindustriellen Leinengewerbes in Schlesien (Zeit-schrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, I. Bd., 1893) S.319 f.

87Ebendort, S. 322.

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soll es nicht sein!« Ihm erscheinen die Dinge, solangeder Staat sich nicht einmischt, ganz chaotisch. Erstdas Einschreiten der Obrigkeit setzt der Willkür derselbstsüchtigen Interessenten ein Ende. Die Vorstel-lung, daß eine Gesellschaftsordnung auf Grundlageeiner Verfassung bestehen könnte, in der der Staatnichts weiter tut als das Sondereigentum an den Pro-duktionsmitteln schützen, erscheint ihm so absurd,

daß er nur Hohn für die »Staatsfeinde« übrig hat, dieeine solche »prästabilierte Harmonie« annehmen. Essei ganz und gar unlogisch, behauptet er weiter, jeden»Eingriff« des Staates in das Wirtschaftsleben abzu-lehnen, da dies zum Anarchismus führe. Läßt manaber Eingriffe des Staates zum Schutze des Sonderei-gentums zu, so sei es inkonsequent, darüber hinaus-gehende Eingriffe grundsätzlich abzulehnen. Als dieeinzig vernünftige Ordnung der Wirtschaft erscheintden Etatisten ein Gesellschaftsideal, in dem das Son-dereigentum zwar dem Namen nach bestehen bleibt,faktisch aber dadurch beseitigt wird, daß der Staat dieoberste Leitung der Produktion und der Verteilung in

der Hand behält. Der Zustand, der zur Zeit der Hoch- blüte des Liberalismus bestanden hat, sei dadurchentstanden, daß der Staat seine Pflichten versäumtund den Interessenten zu viel Freiheit gewährt habe.Bei solchen Anschauungen ist die Aufstellung einesSystems der Katallaktik entbehrlich, ja widersinnig.

Das geeignetste Beispiel für die Ideologie des Wohlfahrtsstaates gibt die Zahlungsbilanztheorie. Wenn der Staat nicht eingreift, kann es geschehen,daß ein Land seinen ganzen Vorrat an Geldmetall verliert, lautet, auf die einfachste Form gebracht, ihreältere, die merkantilistische Fassung. Die Klassikerzeigen demgegenüber, daß die Gefahr, die der Mer-

kantilist an die Wand malt, nicht besteht, weil Kräfte wirksam sind, die auf die Dauer eine Geldauspowe-rung unmöglich machen. Die Quantitätstheorie istdaher dem Etatisten stets anstößig erschienen. Seine

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Gunst schenkte er der Bankingtheorie. Die Curren-cytheorie war in Deutschland seit dem Siege der histo-rischen Schule geradezu in Acht und Bann getan. DieLehren der Bankingtheorie finden wir bei Karl Marx 88

und bei Adolf Wagner, bei Helfferich und bei Hilfer-ding, bei Havenstein und bei Bendixen.

Nach zwei Menschenaltern der Herrschaft desEklektizismus und der Meidung reinlicher Begriffsbil-

dung wird es heute vielen selbst schwer, auch nur zuerkennen, worin der Gegensatz zwischen den beiden berühmten englischen Schulen zu suchen ist. Sostaunt Palyi darüber, daß »ein entschiedener Anhän-ger der Bankinggedanken, M. Ausiaux, gelegentlich...... für den Comptabilismus von Solvay ...... ein-

88 Marx hat nicht erkannt, daß er durch die Annahme

der Bankingtheorie die Grundlagen anerkannte, auf denensich die Tauschbankideen Proudhons auf-bauten. Marxhatte überhaupt vom Bankwesen keine klare Vorstellung; er

folgte vielfach kritiklos den Behauptungen der Banking-Theoretiker. Wie wenig er die Probleme beherrschte, zeigt jede von den spärlichen Bemerkungen, die er den Ex-zerpten beifügte, so die über den katholischen Charakter desMonetarsystems und den protestantischen Charakter desKreditsystems (Das Kapital, III. Bd., II. Teil, Dritte Auflage,Hamburg 1911, S. 132). Noch charakteristischer ist eineandere Bemerkung, die er an das Grundaxiom der Ban-kinglehre, »man hat nur eine bestimmte Quantität von Ein-Pfund-Noten in die Zirkulation zu werfen, um ebensovieleSov-ereigns hinauszuwerfen« anknüpft: »Ein allen Banken

 wohlbekanntes Kunststück« (ebendort, I: Bd., 7. Aufl.,Hamburg 1914, S. 84). Was sollte dieses «Kunststück» denBanken ? Ein Interesse daran, Sovereigns durch die Ausgabe

 von Noten an sich zu ziehen, hatten sie doch nicht; sie hat-ten allein ein Interesse daran, durch vermehrte Notenaus-gabe mehr Kredite erteilen zu können und daher höhereZinseneinnahmen zu erzielen. Dieses »Kunststück«, warallen Banken wohlbekannt, doch nicht jenes.

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tritt«89. Man sollte doch nicht verkennen, daß derComptabilismus und alle verwandten Systeme nichtsanderes als die folgerichtige Anwendung der Lehrender Bankingtheorie sind. Wenn die Banken nichtmehr Noten in den Verkehr zu pumpen imstande sindals benötigt werden (»Elastizität des Umlaufes«),dann kann doch kein Bedenken gegen die Durchfüh-rung der Solvayschen Geldreform obwalten.

Den Standpunkt des Etatismus, der es erklärt,daß er nicht ein Wort zu dem hinzuzufügen wußte, was auch schon der alte Merkantilismus verkündethatte, und daß seine ganze Theorie sich darauf be-schränkte, auf die böse Veranlagung der Untertanen(der »Interessenten«) hinzuweisen90, die man nichtsich selbst überlassen dürfe, konnte der Soziallibera-lismus nicht teilen. Der Sozialliberalismus mußte da-her wohl oder übel zu zeigen suchen, wie sich das Zu-sammenwirken der Glieder der Tauschgesellschaft inseinem Gesellschaftsideal ohne Mitwirkung der Ob-rigkeit abspielt. Eine umfassende Theorie hat jedochauch der Sozialliberalismus nicht aufgestellt. Ein Teil

seiner Anhänger stand wohl auf dem Standpunkt, daßes angesichts der noch nicht hinreichenden Vorberei-tung durch Sammlung von Material noch nicht an derZeit sei, die Mehrzahl wird die Nötigung hierfür über-haupt nicht eingesehen haben. Wo sich die Notwen-digkeit ergab, theoretische Sätze heranzuziehen, ha- ben die Sozialliberalen sie gewöhnlich dem klassi-schen System, meist in dem Gewande des Marxismus,entlehnt. Auch hierin unterscheiden sich die Sozialli- beralen von den Etatisten, die es vorzogen, auf denMerkantilismus zurückzugreifen.

89 Vgl. Palyi, Ungelöste Fragen der Geldtheorie, II, 514.90Nur Untertanen haben eigensüchtige »Sonderinteres-

sen« und wissen nicht, was ihnen frommt. Die Beamten undder Landesfürst sind immer selbstlos und weise.

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Doch der Sozialliberalismus hat auch versucht,einen selbständigen Beitrag zur Theorie beizusteuern,die Lehre von den Wirkungen des gewerkschaftlichenZusammenschlusses der Arbeiter auf den Lohn. We-der die klassische Theorie noch die moderne Theorie vermochte man hier heranzuziehen. Marx war ganzfolgerichtig, wenn er die Frage, ob durch den gewerk-schaftlichen Zusammenschluß der Lohn gesteigert

 werden könnte, verneinte. Erst Brentano und die Webbs haben sich bemüht, den Nachweis zu erbrin-gen, daß das Einkommen der gesamten Lohnarbeiter-schaft durch den gewerkschaftlichen Zusam-menschluß dauernd gehoben werden könne. Die Bren-tano - Webbsche Theorie ist das Hauptlehrstück desSozialliberalismus. Sie hat freilich der wissenschaftli-chen Kritik nicht standzuhalten vermocht. Es sei hiernur auf die Ausführungen von Poh1e91 und von Adolf  Weber92 verwiesen. Zu demselben Ergebnis gelangteBöhm-Bawerk in seiner letzten Arbeit93. Niemand wagt es heute noch ernstlich, die Brentano - WebbscheLehre zu vertreten. Es ist charakteristisch, daß in der

umfangreichen Festschrift keine Arbeit über Lohnthe-orie und über Lohnpolitik der Gewerkschaften enthal-ten ist. Cassau stellt nur fest, daß die Gewerkschafts- bewegung vor dem Krieg »ohne eigentliche Lohntheo-rie« arbeitete94.

Schmoller hat in der Besprechung der ersten Auf-lage des Buches von Adolf Weber dem Nachweis, daß

91 Vgl. Pohle, Die gegenwärtige Krisis in der deutschen Volkswirtschaftslehre, zweite Ausgabe, Leipzig 1921, S. 29 ff.

92 Vgl. Adolf Weber, Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit, zweite Auflage, Tübingen 1920, S. 411 ff.

93 Vgl. Böhm-Bawerk, Macht oder ökonomisches Ge-

setz? (Gesammelte Schriften, hrsg. von Weiß, Wien 1924) S.230 ff.

94  Vgl. Cassau, Die sozialistische Ideenwelt vor undnach dem Kriege, I, 136.

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Man darf das Machtproblem nicht so behandeln, wie es der ältere Liberalismus getan hat, wenn er dieEingriffe der Zwangsgewalt als »unmöglich« erklärte.Darüber, daß die Gewerkschaften, wenn der Staatihnen durch Verweigerung wirksamen Schutzes der Arbeitswilligen Hilfe leistet, und entweder Arbeitslo-senunterstützungen gezahlt werden oder die Unter-nehmer zur Einstellung von Arbeitern gezwungen

 werden, wohl imstande sind, die Löhne so hoch hinauf zu treiben, als sie wollen, kann kein Zweifel bestehen.Dann aber ergibt sich folgendes:

Die Arbeiter der lebenswichtigen Betriebe sind inder Lage, dem Rest der Bevölkerung gegenüber jeden beliebigen Lohn durchzusetzen.

 Aber auch davon abgesehen: Die Überwälzungder Lohnsteigerung auf die Preise der Gebrauchs- und Verbrauchsgüter kann wohl von den Arbeitern getra-gen werden, nicht aber von den Kapitalisten und denUnternehmern, deren Einkommen durch die Lohn-steigerung nicht erhöht wurde. Diese Schichten müs-sen also die Akkumulation einschränken oder weniger

 verzehren oder gar das Kapital angreifen. Was sie tunund in welchem Ausmaße sie es tun, hängt von dem Ausmaße der Schmälerung ihres Einkommens ab.Doch darüber wird wohl Übereinstimmung herrschen,daß die Beseitigung oder auch nur wesentliche Ver-kürzung des Unternehmer- und Besitzeinkommensauf diesem Wege nicht denkbar ist, ohne daß es zu-mindest zur Verminderung oder Einstellung der Kapi-talneubildung, mit größter Wahrscheinlichkeit (dadoch nicht abzusehen ist, was die Gewerkschaftenabhalten sollte, ihre Forderungen nicht so hoch zustellen, daß das ganze »arbeitslose« Einkommen ver-schwindet) aber zur Kapitalsaufzehrung kommt; daß

aber die Aufzehrung von Kapital der Weg nicht seinkann, auf dem auf die Dauer das Einkommen der Ar- beiter erhöht werden kann, ist klar.

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Die Wege, die Etatismus und Sozialliberalismuseinschlagen wollen, um das Einkommen der Lohn-empfänger zu erhöhen, gehen auseinander. Aber kei-ner von beiden führt zum Ziel. Auch der Soziallibera-lismus steht, da er doch unmöglich Verminderungoder Einstellung der Kapitalneubildung oder gar Kapi-talaufzehrung wollen kann, schließlich vor dem: Ent- weder Kapitalismus oder Sozialismus. Tertium non

datur.

 VI. Der Begriff der Sozialpolitik und dieKrise der Sozialpolitik.

Nahezu alle wirtschaftspolitischen Maßnahmender beiden letzten Menschenalter zielen dahin, dasSondereigentum an den Produktionsmitteln wohlnicht dem Namen nach, aber in der Sache Schritt fürSchritt zu beseitigen und an die Stelle der kapitalisti-schen Gesellschaftsordnung eine sozialistische zusetzen. Das hat Sidney Webb schon vor Jahrzehntenerkannt und in den Fabian Essays klar ausgespro-

chen96. So wie das Bild, das sich die einzelnen Rich-tungen des Sozialismus von der anzustrebenden künf-tigen Gesellschaftsordnung machen, verschieden war,so mußten auch ihre Anschauungen über den Weg, auf dem man dieses Ziel erreichen könnte, verschiedensein. Es gibt Fragen, in denen alle Richtungen soziemlich Hand in Hand gingen. In anderen Fragen wieder bestanden die größten Gegensätze, so z. B. inder Frage der Fabriksarbeit verheirateter Frauen oderin der Frage des Schutzes des Handwerkes gegen den Wettbewerb der Großindustrie. Volle Übereinstim-mung bestand jedoch in der Ablehnung des Gesell-schaftsideals des Liberalismus; so sehr die einzelnen

96 Vgl. Sidney Webb, Die historische Entwicklung (Eng-lische Sozialreformer, hrsg. von Grunwald, Leipzig 1897) S.44.

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Richtungen auch untereinander verschieden waren,im Kampfe gegen das »Manchestertum« standen siezusammen. In diesem Punkte zumindest begegnensich auch die Vorkämpfer des Kathedersyndikalismusmit jenen des reinen Etatismus.

Für diese auf schrittweise Verdrängung des Kapi-talismus durch eine sozialistische oder syndikalisti-sche Gesellschaftsform gerichteten Bestrebungen kam

allmählich die Bezeichnung Sozialpolitik auf. Einegenauere Begriffsbestimmung dieses Ausdruckes wurde unterlassen, wie denn überhaupt scharfe Beg-riffsabgrenzungen nicht die Sache der historischenSchule waren. Der Gebrauch des Wortes Sozialpolitik  blieb schwankend. Erst in den letzten Jahren gingendie Sozialpolitiker, von der Kritik der Nationalökono-mie bedrängt, an den Versuch, den Begriff der Sozial-politik zu definieren.

Am klarsten hat wohl Sombart das Wesen dessenerkannt, was die Sozialpolitik ausmacht. »Unter Sozi-alpolitik«, schrieb er 1897, »verstehen wir diejenigenMaßnahmen der Wirtschaftspolitik, die Erhaltung,

Förderung oder Unterdrückung bestimmter Wirt-schaftssysteme oder ihrer Bestandteile zum Zweck oder zur Folge haben«.97 Amonn hat an dieser Defini-tion manches mit Recht ausgesetzt, vor allem das, daßMaßnahmen immer nur durch ihren Zweck, nicht aberdurch ihre Folgen im Rahmen der Politik charak-terisiert werden können, und daß die Sozialpolitik über das Gebiet, das man üblicherweise als Wirt-schaftspolitik bezeichnet, hinausgeht.98 Doch dasEntscheidende ist, daß Sombart das Ziel der Sozialpo-litik in der Änderung des Wirtschaftssystems erblickt.

97 Vgl. Sombart, Ideale der Sozialpolitik (Archiv für so-

ziale Gesetzgebung und Statistik, X. Bd.) S. 8 ff.98 Vgl. Amonn, Der Begriff der »Sozialpolitik« (Schmol-

lers Jahrbuch, 48. Jahrgang, 1924) S. 160 ff.

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Berücksichtigt man, daß Sombart, als er dies schrieb,ganz auf dem Boden des Marxismus stand, so daß ihmals einzig denkbare Sozialpolitik der Zeit eine auf dieHerbeiführung des Sozialismus gerichtete Politik er-schien, so muß man zugestehen, daß er den wesentli-chen Punkt richtig erkannt hat. Ein Mangel seinerBegriffsbestimmung liegt allein darin, daß sie auch dieauf die Verwirklichung des liberalen Programms ge-

richteten Bestrebungen der Zeit, in der, um mit Marxzu sprechen, das Bürgertum noch eine revolutionäreKlasse war, in die Sozialpolitik einschließt, wie dennSombart auch ausdrücklich die Bauernbefreiung alsBeispiel einer sozialpolitischen Maßnahme anführt.Gerade darin sind ihm viele nachgefolgt. Immer wie-der hat man den Versuch unternommen, den Aus-druck Sozialpolitik in einer Weise zu definieren, dieauch auf andere wirtschaftspolitische Maßnahmen alsauf solche, die die Herbeiführung eines sozialistischenZustandes bezwecken, paßt.99

Es hat wenig Sinn, sich mit dem unfruchtbarenStreit um den Begriff der Sozialpolitik eingehender zu

 befassen. Dieser Streit ist gerade in den letzten Jahrensehr heftig entbrannt. Er wurde ausgelöst durch dieKrise, in die Sozialismus und Syndikalismus jederRichtung mit dem Sieg der marxistischen Sozialde-mokratie und der ihr nahestehenden Gruppen getre-ten waren.

Der preußische Etatismus und, seinem Vorbildfolgend, der Etatismus einiger anderer unter demgeistigen Einfluß Deutschlands stehender Staaten warschon vor dem Kriege auf dem Wege zum Sozialismusso weit gegangen, als es ohne allzu sichtbare Schädi-

99Es ist charakteristisch, daß die historische Schule, die

im übrigen nur historische Kategorien kennt, gerade denBegriff der Sozialpolitik so fassen will, daß man auch vonaltbabylonischer und von aztekischer Sozialpolitik redenkönne.

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gung der Volkswirtschaft und allzu starke Herabset-zung der Produktivität der Arbeit unter den gegebe-nen Verhältnissen nur überhaupt möglich war. Nie-mand, dessen Blick nicht durch Parteipolitik getrübtist, wird leugnen können, daß Preußen-Deutschlandder wilhelminischen Ära besser als früher oder späterirgendein anderes Volk geeignet war, sozialistische Versuche zu unternehmen. Die Überlieferung des

preußischen Beamtentums, die Auffassung, die alleGebildeten vom Beruf des Staates hatten, die militä-risch-hierarchische Gliederung der Bevölkerung, ihreNeigung, den Befehlen der Obrigkeit blindlings zugehorchen, all das schuf Voraussetzungen für denSozialismus, die sonst nirgends gegeben waren odersind. Nie wird es Männer geben, die besser für die Arbeit in leitenden Stellungen eines sozialistischenGemeinwesens geeignet sein werden als die Oberbür-germeister deutscher Städte oder die Direktoren derpreußischen Eisenbahndirektionen. Sie haben allesgetan, was getan werden kann, um gemeinwirtschaft-liche Betriebe möglich zu machen. Wenn das System

dennoch versagt hat, so zeigt dies am besten, daß esundurchführbar ist.

Da kamen mit einem Schlage in Deutschland undin Österreich die marxistischen Sozialdemokraten ansRuder. Jahrzehntelang hatten sie immer wieder undimmer wieder verkündet, daß ihr echter Sozialismusmit dem falschen Sozialismus der Etatisten nicht dasgeringste gemein habe, und daß sie es einst ganz an-ders machen würden als die Bureaukraten und Profes-soren. Nun sollten sie zeigen, was sie können. Siekonnten aber nichts anderes als ein neues Schlagworterfinden, das Wort »Sozialisierung«. 1918 und 1919haben in Deutschland und in Österreich alle politi-

schen Parteien die Sozialisierung geeigneter Betriebs-zweige auf ihr Programm gesetzt. Es gab keinenSchritt auf dem Wege zur restlosen Durchführung desreinen Sozialismus marxistischer Richtung, der

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damals auf ernstlichen Widerstand gestoßen wäre.Doch was durchgeführt wurde, ging weder in derRichtung noch im Maße über das hinaus, was auchschon früher von Kathedersozialisten empfohlen und vielfach auch schon versucht worden war. Nur einigePhantasten in München dachten, daß man das Bei-spiel, das Lenin und Trotzki im agrarischen Rußlandgegeben hatten, im industriellen Deutschland nach-

ahmen dürfe, ohne eine Katastrophe von unerhörterGröße herbeizuführen.

Der Sozialismus ist nicht am Widerstand derIdeologie gescheitert. Die herrschende Ideologie istauch heute noch sozialistisch. Er scheiterte an seinerUndurchführbarkeit. Jeder Schritt, der uns von derGesellschaftsordnung des Sondereigentums an denProduktionsmitteln wegführt, setzt die Produktivitätherab, bringt somit Elend und Not. Und weil man dasnicht mehr länger verkennen konnte, weil es sich umso deutlicher dem allgemeinen Bewußtsein aufdrän-gen mußte, je weiter man auf dem Wege zum Sozia-lismus fortschritt und je stärker man damit die Pro-

duktivität der Arbeit herabsetzte, hat man sich genö-tigt gesehen, nicht nur mit dem Weiterschreiten auf der Bahn zum Sozialismus haltzumachen, sondernauch schon getroffene sozialistische Maßnahmen ab-zubauen. Selbst die Sowjets mußten nachgeben. Auf dem Lande haben sie nicht die Vergesellschaftung vonGrund und Boden durchgeführt, sondern seine Vertei-lung an die Landbevölkerung. In Gewerbe und Handelmußten sie an Stelle des reinen Sozialismus die »neue Wirtschaftspolitik« treten lassen. Die Ideologie hatdiesen Rückzug nicht mitgemacht. Sie hält noch im-mer starr an dem fest, was sie vor Jahrzehnten ver-kündet hat, und sucht den Mißerfolg des Sozialismus

auf alle mögliche Weise, nur nicht aus seiner grund-sätzlichen Undurchführbarkeit zu erklären.Nur wenige von den vielen, die dem Sozialismus

den Weg bereiten wollten, haben erkannt, daß die

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t.

Niederlage des Sozialismus nicht zufällig, sondernnotwendig war. Manche von ihnen sind noch weitergegangen und haben folgerichtig zugegeben, daß allesozialpolitischen Maßnahmen keine andere Wirkunghaben, als die Produktivität der einzig möglichen, auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln be-ruhenden Wirtschaftsordnung herabzusetzen, daß siekapital- und vermögenaufzehrend wirken, daß sie

destruktionistisch sind. Die Abkehr dieser Männer von den Idealen, die sie einst vertreten haben, ist es,die man in der wirtschaftspolitischen Literatur alsKrise der Sozialpolitik zu bezeichnen pflegt100. Es istin Wahrheit viel mehr: Die große Weltkrise des De-struktionismus, das ist jener Politik, die die auf demSondereigentum an den Produktionsmitteln beruhen-de Gesellschaftsordnung zu zerstören such

Die Erde kann jene Menge von Menschen, die sieheute trägt, nur dann so ernähren, wie sie sie in denletzten Jahrzehnten ernährt hat, wenn die Menschenkapitalistisch wirtschaften. Nur vom Kapitalismuskann man weitere Hebung der Produktivität der

menschlichen Arbeit erwarten. Daß die weitaus über- wiegende Mehrzahl der Menschen heute einer Ideolo-gie anhängt, die dies nicht erkennen will, und dahereine Politik treibt, die zur Herabsetzung der Produkti- vität der Arbeit und zur Aufzehrung des angesammel-ten Kapitals führt, das ist das Wesen der großen Kul-turkrise.

 VII. Max Weber und der Kathedersozialismus.

Die Gegnerschaft, die der kathedersozialistischenRichtung innerhalb der Grenzen des Deutschen Rei-ches erstand, nahm ihren Ausgangspunkt im allge-

100 Vgl. Pribram, Die Wandlungen des Begriffes der So-

zialpolitik, II, 249

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meinen von der Erkenntnis, daß die theoretische Un-tersuchung der volkswirtschaftlichen Probleme nichtentbehrt werden darf. Als Nationalökonomen tratenDietzel, Julius Wolf, Ehrenberg, Pohle, Adolf Weber,Passow und andere gegen die Lehren der Kathederso-zialisten auf. Auf der anderen Seite wieder erhobendie Historiker Einspruch gegen die Art und Weise, inder Schmoller, Knapp und ihre Schüler historische

 Aufgaben zu lösen suchten. Alle diese Kritiker traten von außen her, mit dem Rüstzeug ihrer Wissenschaft versehen, an die Lehren der Kathedersozialisten her-an. Mochten sie auch, angesichts der Stellung und des Ansehens des Kathedersozialismus, bei ihrem Auftre-ten auf äußere Schwierigkeiten stoßen, innerlich wardie Auseinandersetzung mit ihm für sie kein Problem.Sie waren entweder nie in seinem Bann gestandenoder sie hatten sich innerlich ohne Mühe ganz vonihm losgelöst.

Das war bei Max Weber ganz anders. Dem jungenMax Weber hatten die Ideen des preußischen Etatis-mus, des Kathedersozialismus und der evangelischen

Sozialreform alles gegolten. Er hatte sie in sich einge-sogen, bevor er noch angefangen hatte, sich mit denProblemen des Kathedersozialismus wissenschaftlichzu befassen; religiöse, politische und ethische Erwä-gungen hatten seinen Standpunkt bestimmt.

Max Webers Universitätsstudium waren dieRechte, seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten gal-ten der Rechtsgeschichte, er war zuerst Privatdozent,dann Professor der Rechte. Seine Neigung galt ganzder Geschichte; nicht der historischen Einzelfor-schung, die sich im Kleinen verliert und das Großenicht sieht, sondern der Universalgeschichte, der his-torischen Synthese und der Geschichtsphilosophie.

Dabei war ihm die Geschichtswissenschaft nicht Ziel,sondern nur Mittel zur Gewinnung vertiefter politi-scher Einsicht. Der Nationalökonomie stand er inner-lich fern. Er war zum Lehrer der Nationalökonomie

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ernannt worden, ohne sich vorher mit dieser Wissen-schaft befaßt zu haben, ein Vorgang, der damals nichtselten war101; es entspricht der Auffassung, die dieempirisch-realistische Schule von dem Wesen der»Staatswissenschaften« hatte, daß man Historikerund Rechtshistoriker als Fachmänner auf dem Gebietedieser Wissenschaft ansah. Noch kurz vor seinemallzufrühen Tode beklagte es Weber, daß er die mo-

derne theoretische Nationalökonomie, aber auch dasklassische System, zu wenig kenne und sprach dieBefürchtung aus, daß er nicht bald die Zeit finden werde, diese von ihm schmerzlich empfundene Lückeauszufüllen.

Als er das Amt angetreten hatte, das ihn zur Ab-haltung von Vorlesungen über jene Probleme ver-pflichtete, die der Kathedersozialismus als den Inhaltder Universitätsdisziplin Nationalökonomie ansah,fand er bald kein Genügen an der herrschenden Dokt-rin. Der Jurist und Historiker in ihm lehnten sichzunächst gegen die Art und Weise auf, in der die Nati-onalökonomie der Schule juristische und historische

Probleme behandelte. Das ward zum Ausgangspunktseiner bahnbrechenden methodologischen und er-kenntnistheoretischen Untersuchungen, das führteihn zum Problem der materialistischen Geschichtsauf-fassung, von dem aus er dann an die religions-soziologischen Aufgaben herantrat. Von hier aus kamer schließlich zu seinem groß angelegten Versuch ei-nes Systems der Gesellschaftswissenschaften.

 Aber alle diese Studien führten Max WeberSchritt für Schritt fort von den politischen und sozial-politischen Idealen seiner Jugend. Er kam immer

101Marianne Weber erzählt von ihres Gatten Freiburger

Zeit: »Er hört ja nun, wie er in scherzender Übertreibungsagt, zum erstenmal bei sich selbst die großen nationalöko-nomischen Vorlesungen« (Marianne Weber, Max Weber,ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 213).

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näher heran an Liberalismus, Rationalismus, Utilita-rismus. Das war für ihn ein persönliches Erlebnisschmerzlicher Art, nicht anders als die Loslösung vomChristentum vielen anderen Forschern gewesen war.Denn sein Glaube und seine Religion war der preußi-sche Etatismus gewesen, und die Loslösung von ihmschien ihm ein Abfall von der Heimat, vom eigenen Volk, ja von der ganzen europäischen Gesittung.

Denn in dem Maße, in dem ihm die Unhaltbarkeitder herrschenden Sozialideologie deutlich wurde undin dem er erkennen lernte, wohin ihre Anwendungführen müsse, begann er auch zu erkennen, welcheZukunft dem deutschen Volk und den übrigen Völ-kern, die die europäische Zivilisation tragen, bevor-steht. So wie Bismarck das cauchemar des coalitionsnicht schlafen ließ, so ließ auch Weber die Erkenntnis,zu der ihn seine Studien geleitet hatten, nicht ruhen.Mochte er sich noch so fest an die Hoffnung klam-mern, es werde sich alles zum Guten wenden, einedunkle Ahnung sagte ihm doch immer wieder, daß dieKatastrophe näherrücke. Das war es, was an seiner

Gesundheit zehrte, was ihn besonders seit Ausbruchdes großen Krieges mit immer steigender Unruheerfüllte und zu geschäftiger Betätigung drängte, diedoch für den vereinzelten Mann, den keine der Partei-en brauchen konnte, erfolglos bleiben mußte, das wares, was schließlich seinen Tod beschleunigt hat.

Das Leben Max Webers war vom Beginn seinerHeidelberger Zeit an ein ununterbrochener innererKampf gegen die Lehren des Kathedersozialismus.Doch er hat diesen Kampf nicht bis zum Ende durch-gekämpft, er ist gestorben, bevor es ihm gelungen war,sich geistig ganz von dem Bann dieser Lehren freizu-machen. Und er ist einsam gestorben, er hat keine

Erben hinterlassen, die den Kampf, den er sterbendaufgeben mußte, fortsetzen. Wohl wird sein Namegepriesen, aber das wahre Wesen seines Werkes wird verkannt, und gerade in dem, was ihm das Wichtigste

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gewesen ist, hat er keine Jünger gefunden. Nur dieGegner wissen die Gefahren zu würdigen, die ihrereigenen Ideologie von den Gedanken Max Webers herdrohen102.

 VIII. Das Versagen der herrschendenIdeologie.

In allen Spielarten und Färbungen haben dieIdeen des Sozialismus und des Syndikalismus ihre wissenschaftlichen Grundlagen verloren. Die Anhän-ger dieser Richtungen sind nicht imstande gewesen,dem System der theoretischen Nationalökonomie, dasdie Haltlosigkeit ihrer Auffassung zeigte, ein anderesentgegenzuhalten, das sich besser mit dem, was sielehrten, vertragen konnte. Sie haben daher die Mög-lichkeit theoretischer Erkenntnis auf dem Gebiete derSozialwissenschaft und insbesondere auf dem derNationalökonomie grundsätzlich bestreiten müssen,und sich im übrigen mit einzelnen kritischen Einwän-den gegen die Grundlagen des Systems der theoreti-

schen Nationalökonomie begnügt. Sowohl ihre me-thodologische als auch ihre die einzelnen Lehren betreffende Kritik hat sich als unstichhaltig erwiesen.Nichts, aber auch gar nichts, blieb von all dem übrig, was Schmoller, Brentano und ihre Freunde vor einemhalben Jahrhundert mit Emphase als die neue Wis-senschaft verkündet haben. Daß wirtschaftsgeschicht-liche Studien sehr lehrreich sein können, und daß mansie daher pflegen solle, hat man schon früher gewußtund nie bestritten.

102 Vgl. Wilbrandt, Kritisches zu Max Webers Soziologie

der Wirtschaft (Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, 5.Jahrgang, S. 171 ff.); Spann, Bemerkungen zu Max WebersSoziologie (Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik,N. F., III. Bd., S. 761 ff.).

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Die Wissenschaft der theoretischen Nationalöko-nomie hat auch in der Zeit der Hochblüte der histori-schen Schule nicht geruht. Die Geburtsstunde dermodernen subjektivistischen Lehre fällt zeitlich mitder Gründung des Vereins für Sozialpolitik zusam-men. Seither stehen sich Nationalökonomie und Sozi-alpolitik ganz fremd gegenüber. Die Sozialpolitikerkennen nicht einmal die Grundzüge des Systems der

Theorie und haben von der bedeutenden Entwicklung,die sich in den letzten Jahrzehnten innerhalb derThéorie vollzogen hat, überhaupt nicht Kenntnis er-langt. Wo sie sich mit ihr kritisch auseinandersetzen wollen, kommen sie nicht über die alten Mißverständ-nisse hinaus, mit denen schon Menger und Böhm-Bawerk fertig geworden sind.

Doch all dies hat der sozialistischen und syndika-listischen Ideologie nicht im geringsten Abbruch ge-tan. Sie beherrscht heute die Geister mehr denn je.Die großen politischen und wirtschaftspolitischenEreignisse der letzten Jahre werden fast nur durchihre Brille gesehen. Sie hat freilich auch hier versagt.

 Auch von der kathedersozialistischen Ideologie gilt, was Cassau von der des proletarischen Sozialismussagt: Alle Erfahrungen des letzten Jahrzehnts sind »ander Ideologie vorübergegangen, ohne sie zu beeinflus-sen. Sie hat kaum jemals so viel Ausbaumöglichkeitengehabt und ist kaum jemals so steril gewesen wie inder Blütezeit der Sozialisierungsdebatten«103. DieIdeologie ist steril, aber sie herrscht. Der Liberalismus verliert selbst in England und in den Vereinigten Staa-ten von Tag zu Tag mehr an Boden. Wohl bestehencharakteristische Unterschiede zwischen dem, was diedeutsche etatistische Schule und der deutsche Mar-xismus lehrten, und dem, was in den Vereinigten Staa-

ten heute als die neue Heilslehre gepriesen wird. Auch

103 Vgl. Cassau, a. a. O. I, S. 152.

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die Ausdrucksweise der Amerikaner ist meist vorsich-tiger als die Schmollers, Helds oder Brentanos. Dochim Grunde genommen deckt sich das, was die Ameri-kaner heute anstreben, ganz mit den Lehren der Ka-thedersozialisten; mit ihnen teilen sie auch den Irr-tum, daß sie glauben, daß ihr soziales Ideal das Son-dereigentum an den Produktionsmitteln bejahe.

 Wenn Sozialismus und Syndikalismus im großen

und ganzen heute keine weiteren Fortschritte machen, wenn wir sehen, daß selbst eine Reihe von Schritten,die auf dem Wege zur Schaffung sozialistischer Ge-meinwirtschaft schon getan wurden, wieder rück-gängig gemacht werden, wenn man selbst auf die Ein-schränkung der Macht der Gewerkschaften sinnt, soist dies weder auf die wissenschaftlichen Erkenntnisseder Nationalökonomie. noch auf die herrschende Ge-sellschaftsideologie zurückzuführen. Denn die theore-tische Nationalökonomie kennen auf dem ganzenErdenrund heute kaum einige Dutzend Menschen,und kein Staatsmann oder Politiker kümmert sichirgendwie um sie. Die Gesellschaftsideologie aber,

auch die jener Parteien, die sich »bürgerlich« nennen,ist ganz sozialistisch, etatistisch, syndikalistisch. DaßSozialismus und Syndikalismus keine weiteren Fort-schritte machen, trotzdem die herrschende Ideologiees erfordern würde, ist ausschließlich darauf zurück-zuführen, daß der Rückgang der Ergiebigkeit dermenschlichen Arbeit, der mit jeder das Sondereigen-tum einschränkenden Maßregel verbunden ist, allzusichtbar in die Augen fallen muß. Wohl sucht man, inder sozialistischen Ideologie befangen, nach allerleiEntschuldigungen für den Mißerfolg und will die wah-re Ursache nicht finden. Doch das Ergebnis ist dochdas, daß man im Handeln vorsichtiger geworden ist.

Die Politik wagt das, was die herrschende Gesell-schaftsideologie fordert, nicht durchzuführen, weil sie,durch bittere Erfahrungen belehrt, im Unterbewußt-sein das Vertrauen in die Ideologie verloren hat. In

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dieser Lage sinnt man aber nicht darauf, die offenbarunbrauchbare Ideologie durch eine brauchbarere zuersetzen, man erwartet überhaupt von der Vernunftkeine Hilfe mehr. Die einen nehmen ihre Zuflucht zurMystik, die anderen aber setzen ihre Hoffnung auf dasKommen des »starken Mannes«, des Zwingherrn, derfür sie denken und sorgen soll.

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 Antimarxismus104

Im republikanischen Deutschland und Deutsch-Österreich gewinnt in Politik und Gesellschaftswissen-schaft eine Richtung immer größere Bedeutung, dieman am besten als Antimarxismus bezeichnen kann,und die sich selbst mitunter mit diesem Namen be-nennt. Ausgangspunkt, Denk- und Kampfweise undZiele der Bewegung sind keineswegs einheitlich; dasGemeinsame liegt vornehmlich in der Ansage desKampfes gegen den Marxismus. Wohlgemerkt: nichtder Sozialismus wird angegriffen, sondern der Mar-xismus, und dem marxistischen Sozialismus wird zum Vorwurf gemacht, daß er gar nicht der richtige, der wahre, der allein anzustrebende Sozialismus sei. Es wäre auch ganz verfehlt, wie es die sozialdemokrati-schen und kommunistischen Parteiliteraten aus agita-torischen Gründen tun, von diesem Antimarxismus zu behaupten, daß er den Kapitalismus und das Sonder-eigentum an den Produktionsmitteln billige oder gar verteidige; er ist, wenn auch in anderen Ideengängen wandelnd, nicht weniger antikapitalistisch als derMarxismus.

Nur vom wissenschaftlichen Antimarxismus sollim folgenden die Rede sein; der Antimarxismus derunmittelbar praktischen Politik soll nur soweit be-rührt werden, als es zum Verständnis der geistigenBewegung unumgänglich erforderlich ist.

I. Der Marxismus in der deutschen Wis-senschaft.

Man pflegt als Marxisten nur diejenigen Schrift-steller zu bezeichnen, die durch die Zugehörigkeit zu

104 Weltwirtschaftliches Archiv, 21. Bd., 1925.

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einer marxistischen Partei verpflichtet sind, die Leh-ren von Marx in der von den Parteitagen kanonisier-ten Gestalt anzuerkennen und in ihren Schriften zu vertreten. Die »Wissenschaft« dieser Männer undFrauen kann nichts anderes sein als Scholastik. Esgilt, die »Reinheit« der echten Lehre zu bewahren.Man führt Beweise durch das Allegieren von Autoritä-ten; letzte Autorität sind natürlich immer Marx und

Engels. Man stellt immer wieder von neuem fest, daßdie »bürgerliche« Wissenschaft vollkommen zusam-mengebrochen und daß im Marxismus allein die Wahrheit zu suchen sei. Jede Abhandlung schließtdann mit der beruhigenden Versicherung, daß imsozialistischen Zukunftsparadies alle gesellschaftli-chen Probleme eine durchaus befriedigende Lösungfinden werden.

Dieses marxistische Schrifttum ist nur soweit vonBedeutung, als es die politische Laufbahn seiner Ur-heber gefördert hat. Mit Wissenschaft, auch mit der – wie wir sehen werden – von der Lehre Marxens ganzaußerordentlich stark beeinflußten deutschen Wissen-

schaft, hat es nicht das mindeste zu tun. Kein einzigerGedanke ist aus dem großen Schrifttum dieser Epigo-nen aufgestiegen; nichts blickt uns daraus entgegenals schauerliche Öde und immerwährende Wiederho-lung. Die großen Kämpfe, die die marxistischen Par-teien bewegten – der Revisionismusstreit, der Dikta-turstreit u. a. m. –, waren nicht wissenschaftliche,sondern rein politische Auseinandersetzungen; die wissenschaftliche Methode, mit der sie geführt wur-den, ist in den Augen eines jeden Nichtscholastikersganz unfruchtbar. Nur Marx und Engels, keiner ihrerEpigonen, haben auf die deutsche Wissenschaft ein-gewirkt.

In den siebziger und achtziger Jahren des 19.Jahrhunderts war in Deutschland der Staats- undKathedersozialismus zur Herrschaft gelangt. Die klas-sische Nationalökonomie war vom Schauplatz abge-

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treten. Die moderne Nationalökonomie, an derenBildung nur die als komische Eigenbrötler verachtetenÖsterreicher teilnahmen, blieb zunächst ebenso wiedie außerdeutsche Soziologie vollkommen unbekannt; beide waren überdies des Manchestertums verdächtig.Historische und deskriptiv-statistische Arbeiten galtenals das einzig Zulässige, und »soziale«, soll heißenkathedersozialistische Gesinnung war das wichtigste

Erfordernis, um als Gelehrter anerkannt zu werden.Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Ver- wandtschaft stellten sich die Kathedersozialisten ge-gen die Sozialdemokratie; die Schriften von Marx undEngels wurden von ihnen übrigens kaum beachtet,schon aus dem Grunde, weil sie zu »doktrinär« er-schienen.

Das änderte sich, als eine neue Generation he-ranwuchs, die Schüler der Männer, die 1872 den Ver-ein für Sozialpolitik gegründet hatten. Dieses Ge-schlecht hatte an der Universität keine Vorlesungenüber theoretische Nationalökonomie gehört; es kanntedie Klassiker nur dem Namen nach und wußte von

ihnen nur, daß sie durch Schmoller überwunden wa-ren. Die wenigsten hatten je Ricardo oder Mill in derHand gehabt, geschweige denn gelesen. Aber Marxund Engels mußten sie lesen; dazu trieb sie die Not- wendigkeit, sich mit der immer mächtiger werdendenSozialdemokratie auseinanderzusetzen. Sie schriebennun Bücher, um Marx zu widerlegen; der Erfolg dieserBemühungen war, daß sie selbst und ihre Leser in denBann der Ideen des Marxismus gerieten. Waren siedoch, bei ihrer Unvertrautheit mit der gesamten nati-onalökonomischen und soziologischen Theorie, ganz wehrlos dem ausgeliefert, was sie bei Marx fanden. Sielehnten die schroffsten politischen Forderungen von

Marx und Engels ab, doch sie übernahmen in gemil-derter Form ihre Theorien.Dieser Marxismus der Schüler wirkte bald auf die

Lehrer zurück. In seinem Artikel »Volkswirtschaft,

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 Volkswirtschaftslehre und -methode«105 in der dritten Auflage des Handwörterbuches der Staatswissen-schaften erwähnt Schmoller, Jevons habe Ricardo»mit Recht« nachgesagt, »er habe den Wagen derpolitischen Ökonomie auf das falsche Geleise gescho- ben«. Und mit sichtlicher Genugtuung führt Schmol-ler weiter aus, Hasbach habe hinzugefügt, »es sei ebendas Geleise gewesen, wohin die englische Bourgeoisie

zu fahren wünschte«. Noch lange in den Zeiten desKampfes der historischen deutschen Volkswirtschafts-lehre gegen die Einseitigkeit Ricardos, meint dannSchmoller weiter, hätten »viele Anhänger der altenSchule« geglaubt, in den methodologischen Fußstap-fen Smiths zu wandeln. Viele seien sich dabei nicht bewußt gewesen, »daß ihre Theorien eine einseitigeKlassenlehre geworden war«106. Dem Sozialismus sei»weder Existenzberechtigung, noch ein Teil guter Wirkungen« abzustreiten. »Als Philosophie des sozia-len Elends entstanden, repräsentiert er eine den Ar- beiterinteressen angepaßte Richtung der Wissen-schaft, wie die Nach-Adam Smithsche Naturlehre eine

den Interessen der Unternehmer dienende Theoriegeworden war«107. Man sieht hier deutlich, wie stark Schmollers Ideen von der geschichtlichen Entwick-lung der nationalökonomischen Systeme von marxis-tischen Vorstellungen durchsetzt sind. Noch stärkertreten die marxistischen Einflüsse bei Lexis hervor, von dessen Zinstheorie Engels selbst gesagt hat, sie wäre »nur eine Umschreibung der Marxschen«108

105  Vgl. Schmoller, Art. »Volkswirtschaft, Volkswirt-

schaftslehre und -methode«. Handwörterbuch der Staats- wissenschaften, 3. Aufl., VIII, S. 426.

106Ebenda, S. 443.107Ebenda, S. 445.108 Vgl. F. Engels, Vorrede zum III. Band des »Kapital«.

3. Aufl. Hamburg 1911, S. XII f.

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Böhm-Bawerk, der diesem Urteil von Engels zustimm-te, konnte feststellen, daß auch Dietzels und Stolz-manns Zinstheorien der Auffassung von Lexis nahe verwandt sind, und daß man auf ähnliche Gedankenund Aussprüche in der volkswirtschaftlichen Literaturunserer Tage (1900 geschrieben) auch sonst nichtselten stoße. Es scheine, fügt Böhm hinzu, eine »Ge-dankenrichtung zu sein, die im Begriff ist, in die Mode

zu kommen«109.In der Nationalökonomie währte diese Mode al-

lerdings nicht allzulange. Für die Generation jenerMänner, die die unmittelbaren Schüler der Begründerder jüngeren historischen Schule gewesen waren, galtMarx als der nationalökonomische Theoretiker. Alsaber einzelne Schüler dieser Schüler anfingen, denProblemen der theoretischen Nationalökonomie ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, verschwand das Anse-hen Marxens als Theoretiker gar schnell. Endlich wag-te man auch in Deutschland zu erkennen, was dietheoretische Nationalökonomie der letzten zwei Men-schenalter im Auslande und in Österreich geleistet

hatte, und wie klein und unwichtig die Stellung Mar-xens in der Geschichte der Nationalökonomie ist.

Dagegen hat sich der Einfluß des Marxismus inder deutschen Soziologie mehr und mehr verstärkt.Noch schärfer als in der theoretischen Nationalöko-nomie hatte man auf soziologischem Gebiet inDeutschland alles, was im Westen geleistet worden war, lange Zeit ignoriert. Als die Deutschen spät darangingen, sich mit soziologischen Problemen zu befas-sen, kannten sie nur eine Soziologie: die marxistischeGeschichtsauffassung und Klassenkampflehre. Sie wurde zum Ausgangspunkt des deutschen soziologi-schen Denkens, sie beeinflußte, zumindest durch die

109 Vgl. Böhm-Bawerk, Einige strittige Fragen der Kapi-talstheorie. Wien 1900, S. 111 f. – Ferner über Brentano O.Spann, Der wahre Staat, 2. Aufl. Leipzig 1923, S. 141 ff.

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Problemstellung, auch die, die sie am schärfsten abzu-lehnen glaubten. Die Mehrzahl verwarf gar nicht dieLehre selbst, sondern lediglich ihre politischen undpraktischen Konsequenzen; dabei war der Vorgangmeist der, daß man die marxistische Doktrin entwederals übertrieben, als zu weitgehend bezeichnete, oderdaß man sie als einseitig erklärte und durch Beifügungneuer Elemente, meist der Rassen- oder der national-

politischen Doktrin, zu ergänzen suchte. Die grund-sätzliche Unzulänglichkeit der marxistischen Prob-lemstellung und das Versagen ihrer Lösungsversuche verkannte man ganz und gar. Man stellte dogmen-geschichtliche Untersuchungen über die Herkunft dermarxistischen Gesellschaftslehre an, man beachteteaber nicht, daß das wenige, was von ihr haltbar er-scheinen konnte, in Frankreich und England, z. B. VonTaine und Buckle, ungleich tiefer erfaßt worden war.Das Hauptinteresse wandte sich übrigens einem fürdie Wissenschaft ganz und gar belanglosen Problemzu, der berühmten Lehre vom »Absterben« des Staa-tes. Auch hier wie in vielen anderen ihrer Lehren hatte

es sich bei Marx und Engels lediglich darum gehan-delt, ein Schlagwort für die Agitation zu finden. Es galtfür sie, auf der einen Seite den Kampf mit dem Anar-chismus auszutragen, auf der anderen Seite zu zeigen,daß die vom Sozialismus angestrebte »Vergesellschaf-tung« der Produktionsmittel nichts mit der Verstaatli-chung und Verstadtlichung des Staats- und Kommu-nalsozialismus zu tun habe. Es war parteipolitisch wohl zu verstehen, daß sich die Kritik, die der Etatis-mus am Marxismus übte, vor allem diesem Punktezugewendet hat. Es schien verlockend, den inneren Widerspruch der marxistischen Staatslehre aufzuzei-gen und den »Staatsfeinden« Marx und Engels den

staatsgläubigen Lassalle entgegenzuhalten110.

110 Vgl. z. B. H. Kelsen, Sozialismus und Staat, 2. Aufl.

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Der Erfolg, den die marxistische Gesellschaftsleh-re in Deutschland erzielt hat, erklärt sich aus demUmstande, daß die utilitarische Gesellschaftslehre des18. Jahrhunderts von der deutschen Wissenschaftabgelehnt worden war.

Die theologisch-metaphysische Gesellschaftslehreerklärt und postuliert zugleich die Gesellschaft voneinem außerhalb der Erfahrung liegenden Standpunk-

te her. Gott oder die »Natur« oder ein objektiv gülti-ger Wert will die Gesellschaft und eine bestimmteForm der Gesellschaft zur Erreichung der ihnen gutscheinenden Ziele. Die Menschen sollen diesem Gebotfolgen. Dabei wird in der Regel angenommen, daß dieEinfügung in den so gearteten gesellschaftlichen Kör-per dem Einzelnen Opfer auferlegt, für die er nichtanders entschädigt wird als durch das Bewußtsein, gutgehandelt zu haben und etwa im Jenseits dafür be-lohnt zu werden. Die theologischen und ein Teil dermetaphysischen Lehren denken sich dies so, daß die Vorsehung die gutwilligen Unwissenden durch dieOffenbarung und die Widerstrebenden durch beson-

ders begnadete Menschen oder Einrichtungen, die als Werkzeuge des waltenden Gottes handeln, zwangs- weise auf den rechten Weg führt.

Gegen diese Gesellschaftslehre lehnt sich der In-dividualismus auf, wenn er, bald vom religiösen, bald vom metaphysischen Standpunkt die Frage aufwirft, warum denn der Einzelne der Gesellschaft zum Opfergebracht werden soll. Für den Streit, der sich daranauf dem grundsätzlichen Boden der theologisch-metaphysischen Gesellschaftslehre knüpft, ist die inDeutschland übliche Gegenüberstellung der kollekti- vistischen (universalistischen) und der individualisti-schen Gesellschaftstheorien zutreffend111. Man irrt

Leipzig 1923.111 Vgl. Dietzel, Art. »Individualismus«. Handwörter-

 buch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., V, S. 408 ff. – A.

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aber in verhängnisvoller Weise, wenn man glaubt, indieser Klassifikation Raum für die Unterbringungaller denkbaren Gesellschaftslehren geschaffen zuhaben. Sie reicht nur aus für die Erfassung der Gegen-sätze in der älteren Gesellschaftslehre. Gegenüber dermodernen Gesellschaftslehre, die durch die utilitari-sche Philosophie des 18. Jahrhunderts begründet wurde, versagt sie.

Die utilitarische Gesellschaftslehre geht unter Verzicht auf alle Metaphysik von der erfahrungsmäßi-gen Tatsache des allem Lebendigen innewohnenden Willens zur Bejahung des Lebens und Mehrung derLebensenergien aus. Die höhere Produktivität derarbeitsteilig vollbrachten Betätigung gegenüber demisolierten Handeln schließt die Einzelnen zu gesell-schaftlicher Vereinigung in immer wachsendem Um-fange zusammen. Gesellschaft ist Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung. Zwischen der Gesellschaft unddem Einzelnen besteht letzten Endes kein Interessen-gegensatz, da jeder seine Ziele in der Gesellschaft weit besser verfolgen kann als im isolierten gesellschaftslo-

sen Handeln. Die Opfer, die der Einzelne der Gesell-schaft bringt, sind nur provisorische Opfer, Hingabeeines kleineren Vorteiles zur endlichen Erreichungeines größeren. Das ist das Wesen der viel berufenenLehre von der Interessenharmonie.

Die etatistische und sozialistische Kritik hat die»prästabilierte Harmonie« der Freihandelsschule vonSmith bis Bastiat, die sie verworfen hat, nie verstan-den. Das theologische Gewand, das sie trägt, ist für dieLehre nicht wesentlich. Die utilitarische Soziologiesucht die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft

Pribram, Die Entstehung der individualistischen Sozialphi-losophie. Leipzig 1912, S. 1 ff. – Zur Kritik dieser Anschau-ungen vgl. L. v. Wiese, Dietzels »Individualismus« (»Kölner

 Vierteljahrshefte für Sozialwissenschaften«. München u.Leipzig, II, 1922), S. 54 ff.

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 von dem angenommenen gesellschaftslosen Zustandeiner in weite Ferne zurückverlegten Urzeit oder vonden geschichtlich bekannten Verhältnissen einerdurch geringere gesellschaftliche Verknüpfung ge-kennzeichneten Vergangenheit zu den gesellschaftli-chen Bindungen ihrer Zeit und die vermutlichen wei-teren Fortschritte der Vergesellschaftung aus im ein-zelnen Menschen wirksamen Prinzipien heraus zu

erklären. Dabei wird die Vergesellschaftung nach der Weise aller teleologischen Entwicklungsbetrachtungschlechtweg als »gut«, als Wert angesehen, ohne daßauf diese Frage, die für das Problem auch schließlichgleichgültig ist, näher eingegangen wird. Ein gottgläu- biges Gemüt, das auf diesem Weg zum Verständnisder gesellschaftlichen Entwicklung zu gelangen sucht,sieht dann in dem gefundenen Prinzip eine weise Ein-richtung Gottes. Es kann auch gar nicht anders sein:da das Gute, nämlich der erreichte Gesellschaftszu-stand und in noch höherem Grade der Zustand, demsich die Gesellschaft anzunähern scheint, aus denBedingungen der menschlichen Natur hervorgeht,

müssen alle diese Bedingungen, auch wenn sie eineranderen Betrachtungsweise als Übel, als Schwächenoder als Mängel erscheinen mögen, im Hinblick auf den Erfolg, den sie herbeiführen, als Mittel zum gutenErfolg als gut angesehen werden. So erscheint Smithauch die Schwäche des Menschen nicht »without itsutility«. Und er folgert: »Every part of nature, whenattentively surveyed, equally demonstrates theprovidential care of its Author; and we may admirethe wisdom and goodness of God even in the weaknessand folly of man«112. Es ist klar, daß hier das Theisti-sche nur Beiwerk ist und ohne weiteres auch durchden Begriff »Natur« ersetzt werden kann, wie denn

112 Vgl. A. Smith, The Theory of Moral Sentiments,

Edinburg 1813, Teil II, Abschn. III, Kap. III, S. 243

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auch Smith an anderen Stellen seines Werkes von»the great Director of Nature« oder schlechthin von»Nature« spricht. In der grundsätzlichen Einstellungund Betrachtungsweise ist zwischen Adam SmithsGesellschaftslehre und der Kants kein Unterschied. Auch Kant geht darauf aus, zu erklären, auf welchen Wegen die »Natur« die Menschheit dem Ziele zuführt,das sie ihr gesetzt hat. Der Unterschied zwischen

Smith und Kant besteht nur darin, daß es Smith ge-lingt, die Gesellschaftsbildung auf solche Elementezurückzuführen, deren Vorhandensein im Menschenempirisch festgestellt werden kann, wogegen Kant dieErklärung nicht anders zu geben vermag als durch Annahme eines »Hanges« der Menschen, in Gesell-schaft zu treten, und eines zweiten Hanges, der auf Trennung der Gesellschaft hinarbeitet, aus deren An-tagonismus – wie, wird nicht gesagt – die Gesellschaftentstehen soll.113

Jede teleologische Betrachtungsweise kann miteinem theistischen Gewande umkleidet werden, ohnedaß an ihrem wissenschaftlichen Charakter etwas

geändert wird. Man kann z. B. die Darwinsche Lehre von der natürlichen Zuchtwahl ohne weiteres in der Weise darstellen, daß man in dem Kampf ums Daseineine weise Einrichtung des Weltschöpfers zur Ent- wicklung der Arten erblickt. Und jede teleologischeBetrachtung zeigt uns Harmonien, d. h. sie zeigt, wieaus den wirkenden Kräften das hervorgeht, was amEnde der Entwicklungsreihe steht. Daß die Bedingun-gen harmonisch zusammenstimmen, bedeutet janichts anderes, als daß sie zu dem Ergebnis führen,das wir erklären sollen. Wenn man darauf verzichtet,den gegebenen Zustand als gut anzusehen, bleiben alleSätze der Lehre bestehen. Die Erklärung, wie aus ge-

113 Vgl. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. (Sämtliche Werke, Insel-Ausgabe,Leipzig, I, S. 227 ff.)

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gebenen Bedingungen, die man nicht weiter zu analy-sieren vermag, »notwendigerweise« ein bestimmterZustand, den wir kennen, entstehen mußte, ist un-abhängig davon, wie wir diesen Zustand bewerten wollen. Die Anwürfe gegen die Denkform der »prästa- bilierten Harmonie« treffen nicht das Wesen, sondernnur die Einkleidung der utilitarischen Gesellschafts-theorie.

Auch die Gesellschaftslehre des Marxismus könn-te man, ohne an ihrem Wesen etwas zu ändern, alsprästabilierte Harmonie verstehen. Aus dem Urzu-stand wird durch die Dialektik der gesellschaftlichenRealität notwendigerweise der Weg zum Ziel, zumsozialistischen Paradies, zurückgelegt. Das Unbefrie-digende dieser Lehre liegt in ihrem Inhalt; das Ge- wand ist auch hier nebensächlich.

Man liebt es, der utilitarischen Gesellschaftslehre»Rationalismus« zum Vorwurf zu machen. Doch jede wissenschaftliche Erklärung ist rationalistisch. Wasder Verstand nicht fassen kann, können wir mit denMitteln der Wissenschaft nicht bezwingen. Man be-

achtet bei dieser Kritik gewöhnlich nicht, daß die libe-rale Gesellschaftstheorie Entstehung und Fortschrei-ten der gesellschaftlichen Bindungen und Einrichtun-gen nicht etwa – wie die naiven Fassungen der Ver-tragstheorie – aus auf die Bildung von Gesellschaften bewußt gerichtetem menschlichem Streben erklärt.Soziale Gebilde erscheinen ihr »als das unreflektierteErgebnis, als die unbeabsichtigte Resultante spezifischindividueller Bestrebungen der Mitglieder einer Ge-sellschaft«114.

114 Vgl. Menger, Untersuchungen über die Methode der

Sozialwissenschaften, Leipzig 1883, S. 178. – Die Kritik, dieF. v. Wieser (Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft,»Grundriß der Sozialökonomik«, Tübingen 1914, I. Abt., S.242 ff.) an der rationalistisch-utilitarischen Lehre im allge-meinen und an Mengers Formulierung im besonderen übt,

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Das Mißverständnis, das in dieser Beurteilung der»Harmonie«-Lehre vorliegt, wiederholt sich in ande-rer Art in der Auffassung des Eigentumsproblems.Man kann entweder der Meinung sein, daß das Son-dereigentum an den Produktionsmitteln die überlege-ne Form der gesellschaftlichen Organisation ist, d. h.man kann liberal sein, oder man kann der Meinungsein, daß das Gemeineigentum an den Produktions-

mitteln die überlegene Form der gesellschaftlichenOrganisation ist, d. h. man kann Sozialist sein. Doch wer sich die erste dieser beiden entgegenstehendenMeinungen zu eigen gemacht hat, ist damit Anhängerder Lehre, daß das Sondereigentum im Interesse allerGlieder der Gesellschaft, nicht nur in dem der Besit-zenden, liegt115.

Von der Auffassung, daß innerhalb der auf demSondereigentum an den Produktionsmitteln beruhen-den Gesellschaft keine unüberbrückbaren Interessen-gegensätze bestehen, gelangt man zur Erkenntnis, daßkriegerisches Handeln in dem Maße seltener wird, alsdie gesellschaftliche Verknüpfung an Umfang und

Stärke zunimmt. Die Kriege – Krieg nach außen undKrieg im Innern (Bürgerkrieg, Revolution) – werdenum so mehr gemieden, je stärker das Band der Ar- beitsteilung wird. Der kriegerische Typus Mensch wandelt sich in den industriellen, der »Held« wirdzum »Händler«. Der Beseitigung gewaltsamen Han-delns im Innern der Staaten dienen die demokrati-schen Verfassungseinrichtungen, die darauf abzielen,die Übereinstimmung zwischen dem Willen der Herr-scher und dem der Beherrschten unter Vermeidung

läßt ihr Wesen unberührt; ihre Bedeutung liegt in der –

 wohl unter dem Einfluß von Tarde – vorgenommenen Un-

terscheidung von Führer und Masse und der schärferenHervorhebung des – von Wundt benannten – Prinzips derHeterogonie der Zwecke.

115So A. Smith, a. a. O., Teil IV, Kap. I, S. 417 ff.

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des Bürgerkrieges aufrechtzuerhalten oder herbeizu-führen.

Im Gegensatz zu den Utilitariern, die der Mei-nung waren, daß das Sondereigentum an den Produk-tionsmitteln höhere Produktivität der gesellschaftli-chen Arbeit verbürge als das Gemeineigentum, glaub-ten die älteren Sozialisten, daß gerade das Gemeinei-gentum an den Produktionsmitteln höhere Ergiebig-

keit schaffen könnte, und daß man daher das Sonder-eigentum an den Produktionsmitteln beseitigen sollte.Dieser utilitarische Sozialismus ist wohl zu unter-scheiden von dem Sozialismus, der von einertheistisch oder sonst metaphysisch begründeten Ge-sellschaftslehre ausgeht und die Herbeiführung derGemeinwirtschaft fordert, weil sie besser der Verwirk-lichung der empirisch nicht begründbaren Werte die-ne, die die Gesellschaft zu verwirklichen habe.

 Von diesen beiden Spielarten des Sozialismus, dieer utopisch nennt, ist Marxens Sozialismus in dersoziologischen Motivierung grundsätzlich verschie-den. Zwar geht auch Marx von der Annahme aus, daß

die sozialistische Produktionsweise höhere Ergiebig-keit der Arbeit verbürge als die einer auf dem Sonder-eigentum an den Produktionsmitteln beruhendenGesellschaft. Doch er bestreitet, daß schon in der Ge-sellschaft der Vergangenheit und der Gegenwart Inte-ressensolidarität bestanden hat und besteht. Interes-sengemeinschaft gebe es nur innerhalb der einzelnenKlassen, zwischen den Klassen aber bestehe Gegen-sätzlichkeit der Interessen, und die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft sei daher die Geschichte vonKlassenkämpfen.

Der Kampf erscheint noch einer zweiten Gruppe von Gesellschaftslehren als das treibende Moment

gesellschaftlicher Entwicklung. Das sind jene Lehren,die den Kampf der Rassen, der Völker oder der Natio-nen zum Grundgesetz der Gesellschaft machen.

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Der beiden Gruppen der Kampfsoziologie ge-meinsame Fehler liegt in der Außerachtlassung der Aufzeigung eines Assoziationsprinzips. Sie suchen zuzeigen, warum zwischen den Klassen, Rassen, Völkernoder Nationen Krieg herrschen muß. Doch sie unter-lassen es, uns zu zeigen, warum innerhalb der Klas-sen, Rassen, Völker oder Nationen Frieden und Ko-operation herrscht oder herrschen kann. Der Grund

dieser Außerachtlassung ist nicht schwer zu erkennen.Es ist nicht möglich, ein Assoziationsprinzip aufzu- weisen, das nur innerhalb der Kollektivgruppe wirk-sam ist, darüber hinaus aber nicht mehr wirkt. WennKrieg und Kampf das Agens aller gesellschaftlichenEntwicklung sein sollen, warum nur Krieg und Kampf zwischen den Klassen, Rassen, Völkern oder Nationenund nicht auch Krieg aller Einzelnen gegeneinander?Denkt man diese Kampfsoziologie bis ans Ende, soergibt sich keine Gesellschaftslehre, sondern »eineTheorie der Ungeselligkeit«116.

All das hat man in Deutschland – und dasselbegilt wohl, soviel ich sehen kann, von allen slawischen

Ländern und von Ungarn – nicht erfassen können, weil man sich hier von vornherein feindlich gegenallen Utilitarismus gestellt hat. Da die moderne Sozio-logie auf dem Utilitarismus und auf der Lehre von der Arbeitsteilung aufgebaut ist, hieß das die Soziologieablehnen. Das ist der Leitgrund des Sträubens gegendie Beschäftigung mit Soziologie und des Kampfesgegen die Soziologie als Wissenschaft, der auf deut-schem Boden durch Jahrzehnte mit Hartnäckigkeitgeführt wurde. Da man keine Soziologie haben wollte, begnügte man sich mit einem Ersatz. Man übernahm je nach der politischen Einstellung eine der beideneben gekennzeichneten Gruppen der »Ungeselligkeits-

116 Vgl. Barth, Die Philosophie der Geschichte als Sozio-

logie, 3. Aufl., Leipzig 1922, S. 260.

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theorie« und betonte in ihrer Bearbeitung bewußt dasKampfprinzip, ohne die Neigung zu empfinden, nacheinem Assoziationsprinzip zu suchen.

Aus dieser wissenschaftlichen Lage erklärt sichder Erfolg, den die marxistische Soziologie inDeutschland und im Osten finden mußte. Denn siehatte gegenüber den vom Kampfe der Rassen, Völkeroder Nationen ausgehenden Lehren den Vorzug, daß

sie wenigstens in der Zukunft eine Gesellschaftsord-nung aufzeigte, die von einem einheitlichen Assoziati-onsprinzip beherrscht ist. Man gab sich mit dieserLösung zufrieden, weil sie noch immer annehmbarerschien als der Verzicht auf jede Lösung, der in denanderen Theorien lag, und weil sie optimistisch warund manche mehr zu befriedigen vermochte als dieLehren jener, die im Geschichtsprozeß nichts anderessehen wollten als den hoffnungslosen Kampf einerEdelrasse gegen eine Übermacht von minderwertigenRassen. Wer im Optimismus noch weiter gehen wollteund auch wissenschaftlich genügsamer war, fand dieLösung des Gegensatzes nicht erst im sozialistischen

Zukunftsparadies, sondern schon im Reiche des »so-zialen Königtums«.

So nahm denn der Marxismus Besitz vom soziolo-gischen und geschichtsphilosophischen DenkenDeutschlands.

Die deutsche Vulgärsoziologie übernahm vomMarxismus vor allem den für die marxistische Sozio-logie grundlegenden Begriff der Klasse. Mit Recht bemerkt Spann: »Heute pflegt der Begriff Klasse auch von so genannten bürgerlichen Volkswirten nur ineiner einzigen Weise und Fragestellung behandelt zu werden, in jener, die durch den historischen Materia-lismus Marxens bedingt ist«117. Die Übernahme dieses

117O. Spann, Art. »Klasse und Stand«, Handwörterbuch

der Staatswissenschaften, 4. Aufl., V, S. 692.

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Begriffes erfolgt mit all der Unbestimmtheit, Unklar-heit und Verschwommenheit, den er bei Marx undEngels und allen ihren der Sozialdemokratischen oderKommunistischen Partei angehörigen Nachbeternträgt. Marx ist in den 35 Jahren, die zwischen demErscheinen des »Kommunistischen Manifests« undseinem Tode liegen, nicht dazu gekommen, den Klas-senbegriff nur irgendwie fester zu bestimmen, und das

hinterlassene Manuskript des III. Bandes des Kapitals bricht bezeichnenderweise unmittelbar vor der Stelleab, in der von den Klassen gehandelt werden sollte.Seit dem Tode von Marx sind wieder mehr als 40 Jah-re verstrichen, der Klassenbegriff ist zum Grundsteinder modernen deutschen Soziologie geworden, dochimmer noch harren wir seiner wissenschaftlichenBestimmung und Abgrenzung. Nicht minder unbe-stimmt sind die Begriffe Klasseninteresse, Klassenla-ge, Klassenkampf und die Anschauungen über das Verhältnis zwischen Klassenlage und Klasseninteresseund Klassenideologie.

Für Marx und seine Partei befinden sich die Inte-

ressen der einzelnen Klassen in unversöhnlichemGegensatz. Jede Klasse kennt genau ihr Klasseninte-resse und den Weg, auf dem es zu vertreten ist. Zwi-schen den Klassen kann es daher immer nur Kampf,im besten Falle Kampfpausen geben. Die Behauptung,daß irgendwelche Umstände eintreten könnten, dieden Klassenkampf vor Erreichung des sozialistischenHeils aufheben oder auch nur mildern könnten, wirdganz zurückgewiesen. Es gibt keine höhere Einheit, inder die Klassen zusammengefaßt erscheinen und dieKlassengegensätze verschwinden. Die Ideen Vater-land, Volkstum, Rasse, Menschheit sind Verhüllungendes einzig realen Tatbestandes des Klassengegensat-

zes. Der Vulgärsoziologe geht nicht so weit. Es könnteso sein, wie Marx es meint, aber es muß nicht so sein,und vor allem: es soll nicht so sein. Man soll die eigen-süchtigen Klasseninteressen zurückstellen, um den

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Idealen wie Volkstum, Vaterland, Staat zu dienen.Und der Staat als über den Klassen stehendes Ver-nunftsprinzip, als Verwirklichung der Idee des Rech-tes, soll eingreifen und einen Gesellschaftszustandherbeiführen, in dem es der besitzenden Klasse ver- wehrt wird, die Nichtbesitzenden auszubeuten, damitder Klassenkampf der Proletarier gegen die Besitzen-den überflüssig werde.

Mit der Lehre vom Klassenkampf übernimmt diedeutsche etatistische Soziologie auch den größten Teilder Geschichtsauffassung des Marxismus. Der von derliberalen Doktrin viel gerühmte englische Parlamenta-rismus und mit ihm alle übrigen demokratischen Ein-richtungen erscheinen ihr als Ausdruck der Klassen-herrschaft der Bourgeoisie; nichts wird in deutschenDarstellungen der neueren englischen Geschichte demenglischen Staat und den englischen Einrichtungenöfter vorgeworfen, als daß sie kapitalistisch und plu-tokratisch seien. Dem englischen Freiheitsbegriff wirdder deutsche Freiheitsbegriff entgegengestellt. Diegroße französische Revolution und die Bewegungen

 von 1830 und 1848 werden als Klassenbewegungender Bourgeoisie angesehen. Daß in Deutschland nichtdie Richtung der 1848er Rebellen, sondern das Fürst-entum gesiegt hat, wird als besonders glückliches Er-eignis gewertet, da damit der Weg für das soziale, überden Klassen und Parteien stehende Regiment der Ho-henzollern frei geworden sei. Der moderne Imperia-lismus der Ententestaaten erscheint den deutschenEtatisten nicht anders als den Marxisten als Ausgeburtdes kapitalistischen Expansionsstrebens. Die Etatistenübernehmen vom Marxismus auch ein gutes Stück derÜberbautheorie, wenn sie die klassische Nationalöko-nomie als Vertretung des Klasseninteresses der Un-

ternehmerschaft und des Bürgertums, als Apologetik des Kapitalismus, hinstellen. Wieweit dies selbst beiSchmoller der Fall war, ist oben durch ein Beispielerhärtet worden.

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Bei dieser Übernahme der Grundlehren des Mar-xismus ist am meisten zu beachten, daß ihr keine kri-tische Überprüfung vorangegangen war. Die Aufmerk-samkeit der Etatisten war in erster Linie darauf ge-richtet, den Lehren des Marxismus die Spitze gegenden Staatsgedanken und die nationalpolitische Aus-gestaltung des Staatsgedankens, die im Deutschlandder preußischen Führung erfolgt war, zu nehmen und

sie den Ideen des Staatssozialismus und des Konser- vatismus dienstbar zu machen. Das Problem des Mar-xismus wurde nicht als wissenschaftliches Problem,sondern als politisches, im besten Falle als wirt-schaftspolitisches genommen und danach behandelt.Die Politik begnügte sich damit, den Marxismus derÜbertreibung zu zeihen und zu zeigen, daß es für diesoziale Frage auch noch eine andere Lösung, und zwareine bessere Lösung gebe als die marxistische: dieSozialreform. Der Hauptangriff gegen den Marxismuszielte nicht auf sein wirtschaftspolitisches, sondernauf sein politisches Programm: man wendete sich inerster Linie dagegen, daß das Klasseninteresse über

das Nationalinteresse gestellt werden soll.Nur wenige faßten die Probleme, die der Marxis-

mus aufwarf, als wissenschaftliche. Zu den ersten, diesich selbst als Fortsetzer, Erneuerer und Umgestalterder Lehren von Marx an die wissenschaftliche Ausges-taltung seiner Ideen machten, zählt Sombart. Vonihm, dessen neues Werk die äußere Veranlassungdieses Aufsatzes bildet, wird noch ausführlich die Re-de sein.

Die Abhängigkeit von Marx ist ein besonderesKennzeichen der deutschen Gesellschaftswissenschaft.Es ist sicher, daß der Marxismus auch im gesell-schaftswissenschaftlichen Denken Frankreichs, Eng-

lands, der Vereinigten Staaten, der skandinavischenStaaten und der Niederlande manche Spuren hinter-lassen hat. Aber die Einflüsse, die von der Lehre Mar-xens ausgingen, waren in Deutschland ungleich stär-

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ker, und zweifellos ist der Grund dafür vor allem indem Umstande zu suchen, daß man in Deutschlanddie Soziologie des Utilitarismus im allgemeinenablehnte 118. Auch in Italien war der Einfluß des Mar-xismus ziemlich bedeutend, wenn auch lange nicht sostark wie in Deutschland. Weit stärker aber als inDeutschland war der Einfluß der marxistischen Theo-rien im Osten Europas, in Ungarn und bei den slawi-

schen Völkern, die trotz ihrer politischen Feindschaftgeistig ganz vom deutschen Denken abhängig sind.Rußlands gesellschaftswissenschaftliches Denken warganz vom Marxismus beherrscht, nicht nur das Den-ken der Anhänger der revolutionären Parteien, die mitdem Zarismus im offenen Kampf lagen, sondern auchdas der kaiserlichen russischen Hochschulen. MitRecht sagt Altschul, der Übersetzer der Gelesnoff-schen »Grundzüge der Volkswirtschaftslehre«, in der Vorrede zur deutschen Ausgabe dieses Werkes: »Inkeinem Lande haben Marx’ ökonomische Lehren indie Universitätswissenschaft so rasch Eingang gefun-den und diese in so nachhaltiger Weise beeinflußt wie

in Rußland«119. In seinem Haß gegen Liberalismusund Demokratie hat der Zarismus selbst durch Förde-rung des Marxismus den Ideen der Bolschewisten den Weg bereitet.

II. Der nationale (antimarxistische)Sozialismus.

Der marxistische Sozialismus ruft: »Klassen-kampf, nicht Völkerkampf!« Er verkündet: »Nie wie-

118Sollte in den Vereinigten Staaten der Einfluß der An-tiutilitarier, z. B. Veblens, zunehmen, wird auch dort der

Marxismus um sich greifen, und die Folgen werden nichtausbleiben.

119 Vgl. Gelesnoff, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre,übersetzt von E. Altschul, Leipzig 1918, S. III.

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der (imperialistischer) Krieg« und setzt in Gedankenhinzu: »Doch immerfort Bürgerkrieg, Revolution«.

Der nationale Sozialismus ruft: »Volksgemein-schaft! Friede zwischen den Klassen!« und setzt inGedanken hinzu: »Doch Krieg dem auswärtigen Fein-de!«120.

In diesen Losungen liegt das beschlossen, was dasdeutsche Volk heute in zwei feindliche Heerlager spal-

tet.Das große politische Problem des deutschen Vol-

kes ist das nationale. Es tritt ihm heute in dreifacherGestalt entgegen: Als das Problem der gemischtspra-chigen Gebiete an der Grenze des deutschen Sied-lungsgebietes in Europa, als das Problem der deut-schen Auswanderung (Schaffung eines deutschenSiedlungsgebietes über See) und als das handelspoliti-sche Problem der Schaffung der materiellen Grundla-gen für die Ernährung der Bevölkerung im europäi-schen Siedlungsgebiete des deutschen Volkes.

Der Marxismus hat diese Probleme überhauptnicht gesehen. Im sozialistischen Zukunftsparadies

 wird es keinen nationalen Kampf geben, das ist alles, was er darüber zu sagen wußte. »Nationaler Haß isttransformierter Klassenhaß«, sein Träger ist das»Kleinbürgertum«, seine Nutznießerin die »Bourgeoi-

120Man darf die Ideen des nationalen Sozialismus nicht

nur bei der national-sozialistischen Partei suchen; diese istnur – ein in parteitaktischen Fragen besonders radikaler –Teil der großen, alle völkischen Parteien umfassenden Be-

 wegung des nationalen Sozialismus. Die hervorragendstenliterarischen Wortführer des nationalen Sozialismus sindOswald Spengler und Othmar Spann. Eine kurze und rechtlehrreiche Zusammenfassung der Ideen des nationalenSozialismus bringt das von Otto Conrad verfaßte Programmder Großdeutschen Volkspartei Österreichs. (Richtliniendeutscher Politik, Programmatische Grundlagen der Groß-deutschen Volkspartei, Wien 1920.)

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der Formel »Selbstbestimmungsrecht der Völker«aus. Denn hier gibt es nationale Minderheiten, dieunter Fremdherrschaft geraten, wenn das Mehrheits-prinzip über die politische Herrschaft entscheidet. Istder Staat als liberaler Rechtsstaat nur auf die Schir-mung des Eigentums und der persönlichen Sicherheitseiner Bürger bedacht, dann ist diese Fremdherrschaft weniger fühlbar; sie wird um so schärfer empfunden,

 je mehr regiert wird, je mehr der Staat Wohlfahrts-staat wird, je mehr Etatismus und Sozialismus umsich greifen.

Mit der gewaltsamen Lösung dieser Problemekann sich das deutsche Volk am wenigsten zufriedengeben. Denn da das deutsche Volk als Binnenvolk inder Mitte Europas wohnt und ringsum an andere Völ-ker grenzt, die es durch die Anwendung dieses Grund-satzes vergewaltigen würde, muß dieser Grundsatz zueiner Koalition aller Nachbarn führen, kurz, zur welt-politischen Konstellation: Feinde ringsum. Nur einenBundesgenossen kann Deutschland in solcher Lagefinden: Rußland, das bei den Polen, Litauern und Ma-

gyaren, in gewissem Sinne auch den Tschechen, eben-so Feindschaft findet wie Deutschland und nirgendsmit deutschen Interessen unmittelbar in Gegensatzgerät. Da auch das bolschewistische Rußland gleichdem zarischen in der Nationalitätenfrage nur denGewaltstandpunkt kennt, sucht es bereits die Freund-schaft des deutschen Nationalismus. Der deutsche Antimarxismus und der russische Übermarxismussind von einer Bündnispolitik nicht allzu weit ent-fernt. Dagegen müssen die verschiedenen Versuche,den deutschen antimarxistischen Nationalismus mitdem antimarxistischen Nationalismus der italieni-schen Faszisten und dem magyarischen Chauvinismus

der »Erwachenden Ungarn« in engere Fühlung zu bringen, schließlich an der Südtiroler und an der westungarischen Frage scheitern.

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Die gewaltpolitische Lösung der Frage des grenz-ländischen Deutschtums wäre aber auch dann für dasdeutsche Volk schwerer annehmbar als für seineNachbarn, wenn es Aussicht hätte, sie überall in sei-nem Sinn durchzuführen. Denn jedenfalls müßte auchdas nach allen Seiten siegreiche Deutschland ständigin Kriegsbereitschaft bleiben, es müßte immerfort auf einen neuen Aushungerungskrieg gefaßt sein und

hätte seine Volkswirtschaft auf diesen Fall einzustel-len, eine Last, die es auf die Dauer nicht ohne schwereSchädigung zu ertragen vermöchte.

Das handelspolitische Problem, das das deutsche Volk im 19. Jahrhundert zu lösen hatte, ergab sich ausder weltwirtschaftlichen Verschiebung der Produktionin Gebiete mit günstigeren Produktionsbedingungen.Bei voller Handelsfreiheit wäre ein Teil der deutschenBevölkerung abgewandert, da die deutsche Landwirt-schaft und ein Teil des Gewerbes den Wettbewerb mitden neu erschlossenen fruchtbareren und für die Er-zeugung günstigere Standorte bietenden Ländernnicht hätten aushalten können. Diese Abwanderung,

die man aus nationalpolitischen Gründen zu verhin-dern suchte, wollte man durch die Zollpolitik bekämp-fen. Es kann hier nicht näher ausgeführt werden, wa-rum dieser Versuch mißlang und mißlingen mußte122.

Das Wanderproblem ist die dritte Form, in derdas nationalpolitische Problem der praktischen Politik erscheint. Dem deutschen Volk stehen keine Sied-lungsgebiete zur Verfügung, in denen es seinen Bevöl-kerungsüberschuß ansiedeln könnte. Auch für diesesProblem wußte die Theorie des deutschen Nationa-lismus der Vorkriegszeit keine bessere Lösung als diegewaltsame durch Eroberung eines entsprechendenGebietes.

122 Ich habe versucht, es in meiner Schrift »Nation,

Staat und Wirtschaft« zu zeigen. (Wien 1919, S. 45 ff.)

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Dutzende von Millionen Menschen leben kärglichin Europa, die in Amerika und Australien weit besserfortkommen könnten. Der Abstand in der Lebenshal-tung zwischen dem Europäer und dem Europäersproßüber See wird immer größer. Die europäischen Aus- wanderer könnten drüben das finden, was ihnen dieHeimat nicht bietet: den Platz am Bankett der Natur.Doch sie kommen zu spät. Die Nachkommen derer,

die vor einem, zwei oder drei Menschenaltern Europamit der Neuen Welt vertauscht haben, lassen sie nichtein. Die organisierten Arbeiter der Union und der britischen Dominien wollen keinen Zuzug neuer Kon-kurrenten dulden. Ihre Gewerkschaftsbewegung rich-tet sich nicht, wie es die marxistische Doktrin ver-langt, gegen die Unternehmer; sie führen ihren »Klas-senkampf« gegen die europäischen Arbeiter, derenZuwanderung die Grenzproduktivität der Arbeit unddamit den Lohn herabdrücken müßte. Die Gewerk-schaften der angelsächsischen Länder sind für dieTeilnahme am Großen Kriege eingetreten, um dieletzten Reste der liberalen Freizügigkeitslehre und

 Wanderfreiheit zu beseitigen. Das war ihr Kriegsziel,und sie haben es ganz erreicht. Scharen von Aus-landsdeutschen wurden entwurzelt, ihrer Habe undihres Erwerbes beraubt und »repatriiert«. Heute istnicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern selbstin allen wichtigeren europäischen Gebieten die Ein- wanderung durch strenge Gesetze beschränkt oderganz verboten. Und die Arbeitervereine der Vereinig-ten Staaten oder Australiens würden unbedenklicheinen neuen, weit entsetzlicheren und blutigeren Weltkrieg entfesseln, wenn es notwendig werden soll-te, die Einwanderungsbeschränkungen gegen einen Angreifer, etwa gegen die Japaner oder ein wiederer-

starktes Deutschland, zu verteidigen.Für die marxistische Lehre und für die Politik derInternationale boten sich hier unüberwindlicheSchwierigkeiten. Die Theoretiker suchten sich damit

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zu helfen, daß sie von der Sache nichts erwähnten. Esist charakteristisch, daß die reichhaltige deutsche volkswirtschafts- und sozialpolitische Literatur der Vorkriegszeit, die immer wieder in ermüdender Breitedieselben Dinge behandelte, kein Werk aufweist, dasüber die Politik der Einwanderungsbeschränkungenim ganzen unterrichten könnte; auch im Auslande wagten nur wenige, ein Thema aufzurühren, das mit

der Lehre von der Klassensolidarität der Arbeiter of-fensichtlich nicht in Einklang zu bringen war123.Nichts kennzeichnet besser als dieses Stillschweigendie marxistische Befangenheit des sozialökonomi-schen Schrifttums, vor allem des deutschen. Als dieinternationalen Sozialistenkongresse schließlich dieBeschäftigung mit der Frage nicht mehr ganz vermei-den konnten, wichen sie doch mit Geschick dem heik-len Punkte, auf den es allein ankommt, aus. Man leseetwa den Verhandlungsbericht des InternationalenSozialistenkongresses zu Stuttgart 1907. Da wurdeeine lahme Resolution beschlossen, von der der Be-richterstatter selbst zugab, daß sie »etwas eckig und

hart« sei. Das sei aber die Folge der Umstände. Einsozialistischer Kongreß sei aber nicht dazu da, »Ro-mane zu schreiben. Hart im Raume stoßen sich dieSachen, und der Ausdruck der eckigen Tatsachen istdiese harte, eckige Resolution«. (Das ist eine schöneUmschreibung dafür, daß es mit den leicht beieinan-derwohnenden Gedanken von der internationalenKlassensolidarität des Proletariats nicht stimmt.) DerBerichterstatter empfiehlt daher, »diese mit vielerMühe zustande gekommene Resolution, die eine Mit-tellinie der verschiedenen Anschauungen bildet, ein-stimmig anzunehmen«. Der Vertreter Australiens,

123Die umfassendste Behandlung bot Prato, Il protezio-nismo operaio,Turin 1910. (Französische Übersetzung vonBourgin, Paris 1912.) Das Buch ist in Deutschland ziemlichunbekannt geblieben

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Kröner, erklärte trocken: »Die Mehrheit der australi-schen Arbeiterpartei ist gegen die Einwanderung far- biger Arbeiter. Ich persönlich als Sozialist erkenne diePflicht internationaler Solidarität an und hoffe, daß esgelingen wird, mit der Zeit alle Völker der Erde fürden Gedanken des Sozialismus zu gewinnen«124. Ausdem Australischen ins Deutsche übertragen heißt das:Beschließt nur ruhig, was euch beliebt; wir werden das

tun, was wir wollen. Seit in Australien die Arbeiterpar-tei regiert, hat Australien bekanntlich die schärfstenEinwanderungsgesetze gegen farbige und weiße Arbei-ter.

Der nationalistische Antimarxismus Deutschlandshätte im Auswanderungsproblem eine große Aufgabezu lösen. Der deutsche Geist könnte da eine neue Leh-re von der Freiheit der Erde und von der Freizügigkeitersinnen, die des Widerhalls bei Italienern, Skandina- viern, Slawen, Chinesen und Japanern sicher wäre,deren Wirkung sich aber auf die Dauer kein Volk ent-ziehen könnte. Doch nichts von dem, was hier zu leis-ten wäre, ist bis heute in Angriff genommen, ge-

schweige denn vollbracht worden.Der nationalpolitische Antimarxismus hat sich

gerade in dem Punkte nicht als schöpferisch erwiesen,auf den er selbst das entscheidende Gewicht legenmuß: im Problem der Außenpolitik. Das Programm,das er für die Eingliederung des deutschen Volkes indie Weltwirtschaft und Weltpolitik bringt, unterschei-det sich in keiner Weise grundsätzlich von dem, wassich die deutsche Politik der letzten Jahrzehnte zurRichtschnur ihres Handelns gesetzt hatte. Es ist nurum soviel folgerichtiger und geradliniger, als dieDoktrin des Theoretikers es immer ist im Vergleichmit dem durch die Reibungen des täglichen Kampfes

124Internationaler Sozialistenkongreß zu Stuttgart, 18.-

24. August 1907, Berlin 1907, S. 57-64.

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an der Einhaltung des beabsichtigten Kurses behin-derten politischen Tagewerk des Staatsmannes. Dochdie gewaltpolitische Lösung ist heute noch wenigerzulänglich, als sie es für das wilhelminische Deutsch-land war. Auch ein siegreiches Deutschland stünderatlos und ohnmächtig vor den eigentlichen Proble-men des deutschen Volkstums. Es könnte, wie dieDinge nun einmal in der Welt liegen, niemals so sehr

über alle entgegenstehenden nationalen Interessenanderer Völker den Sieg erringen, daß es dem deut-schen Volk ein Siedlungsgebiet über See und der deut-schen Industrie Absatz zu günstigeren Bedingungen verschaffen könnte. Und es könnte sich vor allemniemals sichern gegen die Wiederaufnahme desKampfes durch eine neue Koalition der Gegner.

Der nationalpolitische Antimarxismus versagtaber auch gegenüber den unmittelbar gegebenen Zeit-aufgaben der deutschen Politik. Die deutschen Min-derheiten im volksfremden Staatsverband müssenheute im Kampfe gegen die zwangsweise Entdeut-schung die weitestgehende Demokratie fordern, weil

nur die Selbstverwaltung sie davor bewahren kann,durch den Druck der fremden und von fremden Vor-gesetzten abhängigen Beamten zur Aufgabe des Volks-tums gedrängt zu werden. Sie müssen volle Wirt-schaftsfreiheit verlangen, weil jeder Interventionismusin den Händen des volksfremden Staatsapparates einMittel im Kampfe gegen das Deutschtum ist125. Wieaber soll das Deutschtum der Grenzländer für Demo-

125 Vgl. die ausgezeichneten Ausführungen von F. Wolf-

rum, Der Weg zur deutschen Freiheit (»Freie Welt«,Gablonz. IV, Heft 95) und Staatliche Kredithilfe? (ebenda,Heft 99). Im tschechoslowakischen Staat dient jeder wirt-schaftspolitische Eingriff des Staates der Tschechisierungs-politik, und in Südtirol und in Polen treib-en es die Italienerund die Polen nicht anders.

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kratie und Wirtschaftsfreiheit kämpfen, wenn im Rei-che selbst die entgegengesetzte Politik betrieben wird?

Der nationalpolitische Antimarxismus hat aberauch auf wissenschaftlichem Gebiet versagt. Daß das Ansehen der marxistischen Wert- und Verteilungsleh-re in der Nationalökonomie geschwunden ist, ist nichtsein Verdienst, sondern das der von der österreichi-schen Schule, vor allem von Böhm-Bawerk geübten

Kritik, deren wuchtigen Argumenten sich dochschließlich auch die jungen Freunde der theoretischenNationalökonomie im Reich nicht zu entziehen ver-mochten. Daß die Versuche einiger Schriftsteller,Marx nun auch als Philosophen Anerkennung zu ver-schaffen, keine Aussicht auf Erfolg haben, ist demUmstande zuzuschreiben, daß die philosophischeSchulung des Denkens in Deutschland doch einenGrad erreicht hat, der die Kreise der Gebildeten fürdie Naivitäten der »Philosophie« von Marx, Dietzgen, Vorländer und Max Adler unempfänglich macht. Dochauf soziologischem Gebiet machen sich noch immerdie Kategorien und Gedankengänge des marxistischen

Materialismus breit. Hier hätte der Antimarxismuseine schöne Aufgabe zu erfüllen gehabt; er hat sichaber damit begnügt, jene Schlußfolgerungen der mar-xistischen Doktrin anzugreifen, die ihm politisch be-denklich erscheinen, ohne ihre Grundlagen zu kritisie-ren und an ihre Stelle eine geschlossene Lehre zu set-zen. Er mußte bei dieser Aufgabe versagen, weil esihm aus politischen Gründen darauf ankam, zu zeigen,daß der Marxismus vom Geiste des Westens erfüllt,daß er undeutsch und ein Kind des dem deutschen Wesen immer fremden Individualismus sei.

Schon der Ausgangspunkt dieser Kritik ist ver-fehlt. Daß die Gegenüberstellung von universalisti-

schen (kollektivistischen) und individualistischen(nominalistischen) Systemen der Gesellschaftslehreund Politik, die von Dietzel und Pribram aufgestellt wurde und im Rahmen des nationalistischen deut-

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schen Antimarxismus heute vor allem von Spann ver-treten wird, durchaus unzutreffend ist, wurde schonerwähnt. Es ist auch verfehlt, den marxistischen So-zialismus als die Fortbildung der liberalen Demokratieder ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anzusehen. Die Verbindung des marxistischen und des LassalleschenSozialismus mit dem Programm der vormärzlichenDemokraten war nur äußerlich und ist in demselben

 Augenblick gefallen, in dem die zur Herrschaft ge-kommenen marxistischen Parteien dachten, fernerhinauch ohne Demokratie auskommen zu können. DerSozialismus ist nicht die Fortbildung, sondern dieBekämpfung des Liberalismus. Es geht nicht an, ausdem Umstande, daß man Liberalismus und Sozialde-mokratie bekämpft, zwischen den beiden einen inne-ren Zusammenhang zu konstruieren. Der Marxismusstammt nicht vom Geiste des Westens ab. Er konnteauch, wie schon bemerkt wurde, im Westen keine Anhänger finden, weil er die utilitarische Soziologienicht zu überwinden vermochte. Das, was heute geis-tig Deutschland am stärksten von den Ideen des Wes-

tens scheidet, ist gerade der große Einfluß, den diemarxistischen Ideen in Deutschland gefunden haben.Und nicht eher wird es dem deutschen Geist gelingen,den Marxismus zu überwinden, bis er seine Gegner-schaft gegen die Soziologie der Engländer, Franzosenund Amerikaner abgelegt haben wird. Es kann sichfreilich nicht darum handeln, die Soziologie des Wes-tens zu übernehmen, sondern nur darum, auf denGrundlagen, die sie gelegt hat, weiter und neu zu bau-en.

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III. Sombart als Marxist und als Antimarxist.

Werner Sombart hat einst selbst mit Stolz be-kannt, daß er ein gut Teil seines Lebens hingegebenhabe, um für Marx zu kämpfen126. Sombart war es, derMarx in die deutsche Wissenschaft eingeführt undMarxens Lehre dem deutschen Denken vertraut ge-

macht hat, nicht die ideenarmen Pedanten vom Schla-ge Kautskys und Bernsteins. Marxistisch ist schon dieProblemstellung seines einflußreichen Hauptwerkes»Der moderne Kapitalismus«. Das Problem, das sichMarx im »Kapital« und in seinen zeitgeschichtlichenSchriften gestellt hat, soll noch einmal, und nun mitden Mitteln fortgeschrittener Erkenntnis, gelöst wer-den. Ganz wie bei Marx sollen sich theoretische Be-trachtung und geschichtliche Darstellung durchdrin-gen. Der Ausgangspunkt des Werkes ist ganz marxis-tisch, sein Ergebnis freilich sucht über Marx hinaus-zuwachsen; darin eben unterscheidet es sich von denSchriften des Parteimarxismus, deren Ergebnis von

 vornherein durch die Parteidoktrin festgelegt ist.Sombart hat sein Ansehen als Marxist und als

Gelehrter 1896 durch ein dünnes Büchlein »Sozialis-mus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert« be-gründet. Die Schrift ist wiederholt neu aufgelegt wor-den, und jede neue Ausgabe gab Zeugnis von den Wandlungen, die sich mittlerweile in der StellungSombarts zu den Problemen des Sozialismus und dersozialen Bewegung vollzogen hatten. Nun liegt diezehnte, neugearbeitete Auflage vor, zwei stattlicheBände127. In ihnen will Sombart seine Abkehr vom

126 Vgl. W. Sombart, Das Lebenswerk von Karl Marx,

Jena 1909, S. 3.127  Vgl. W. Sombart, Der proletarische Sozialismus

(»Marxismus»). 10., neugearb. Aufl. der Schrift »Sozialis-

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Marxismus – nicht vom Sozialismus – darlegen und begründen. In den beiden Bänden wird auch nicht vom Sozialismus schlechthin, sondern nur vom »pro-letarischen Sozialismus«, vom »Marxismus«, gespro-chen.

Sombart gibt nur Geschichte und Kritik des mar-xistischen Sozialismus. Er vermeidet es, uns seineeigene soziale Lehre zu zeigen. Nur an einzelnen Stel-

len wird sie kurz gestreift. Er spricht mit sichtlichem Wohlgefallen von den alten Gemeinschaftsverbändendes Mittelalters, Kirche, Stadt, Dorf, Sippe, Familie,Beruf, »in die der einzelne eingeschlossen und in de-nen er warmgehalten und geschützt war wie dieFrucht in der Schale«, mit sichtlichem Abscheu von jenem »Auflösungsprozeß, der die Welt des Glaubenszertrümmert und an ihre Stelle das Wissen setzt« 128.Die Ideenwelt des proletarischen Sozialismus sei ein

 Ausdruck dieses Auflösungsprozesses. Mit zwischenden Zeilen lesbarem Tadel wird dem proletarischenSozialismus die ausgesprochene Vorliebe für den mo-dernen Industrialismus vorgehalten. »Was man auch

in der sozialistischen Kritik gegen den Kapitalismus vorgebracht haben mag: das hat man ihm niemals vorgeworfen, daß er uns mit Eisenbahnen und Fabri-ken, mit Hochöfen und Maschinen, mit Telegraphen-drähten und Motorrädern, mit Grammophonen und

 Aeroplanen, mit Kinematographen und Kraftzentra-len, mit Gußstahl und Anilinfarben gesegnet hat.« Fürden Proletarismus sei nur die soziale Form, nicht auchder Kern der modernen Zivilisation verwerflich. Und– wieder mit deutlicher Betonung des eigenen Stand-punktes – wird dem proletarischen Sozialismus hierentgegengehalten: die »vorproletarische Utopistik«mit ihrem »bukolischen« Gepräge, die immer den

mus und soziale Bewegung«, Jena 1924, I. Bd.: Die Lehre.II. Bd.: Die Bewegung. Im folgenden zitiert als I und II.

128I, S. 31.

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 Ackerbau als die vornehmste Beschäftigung gepriesenund die agrarisch-bäuerliche Kultur als das Ideal be-trachtet hatte129.

Es ist notwendig, einen Augenblick bei diesemLobe des Agrarstaates und des Mittelalters zu verwei-len. Denn wir stoßen hier auf einen dem ganzenSchrifttum des nationalistischen Antimarxismus ge-meinsamen Gedankengang, der freilich von den ein-

zelnen Schriftstellern in verschiedener Weise ausge-führt wird. Auch für Spann, den Führer dieser Rich-tung, ist Rückkehr zum Mittelalter das soziale Ideal130.

Wenn man dem deutschen Volke die gesellschaft-lichen Einrichtungen und die Wirtschaftsverfassungdes Mittelalters als Vorbild hinstellt, so sollte mansich darüber klar sein, daß ein »bukolisches« Deutsch-land auch bei größter Genügsamkeit der Ansprüchenur einen Bruchteil des deutschen Volkes von heuteernähren könnte. Jeder Vorschlag, dessen Durchfüh-rung die volkswirtschaftliche Produktivität herabset-zen müßte, führt zur Verminderung der Volkszahl undüberdies durch die Verschlechterung der materiellen

 Ausrüstung zur Verminderung der gerade vom natio-nalpolitischen Gesichtspunkt als wichtig angesehenen Wehrhaftigkeit der Nation. Auf diesem Wege darf auch der Nationalismus nicht die Lösung der deut-schen Fragen suchen. Wir gehen nicht fehl, wenn wirannehmen, daß der schwermütige Pessimismus der in verschiedener Gestalt heute auftauchenden Unter-gangstheorien mit Notwendigkeit aus der Unverträg-lichkeit des »bukolischen« Ideals mit machtvollerEntfaltung der Volkskräfte folgt.

Wenn es wahr sein sollte, daß die Rückkehr zuProduktionsformen, die geringere Ergiebigkeit dergesellschaftlichen Arbeit zur Folge haben, gerade von

129I, S. 257 ff.130 Vgl. O. Spann, a. a. O., S. 298 ff.

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dem dem deutschen Volke eigenen Ethos gefordert wird, und wenn demgemäß die anders denkenden westlichen Völker und überdies die Romanen desSüdens und die Slaven des Ostens bei der höhere Er-giebigkeit der Arbeit verbürgenden Methoden verblei- ben, liegt doch wohl die Gefahr nahe, daß das deut-sche Volk von den zahlreicheren und reicheren Fein-den überwunden wird. Werden dann nicht die Philo-

sophen dieser Siegervölker folgern, daß es Mangel an Anpassungsfähigkeit gewesen sei, der die Deutschendaran gehindert habe, sich der von ihnen geschaffe-nen kapitalistischen Produktionsmethoden zu bedie-nen? Wird es nicht als eine Armut und Unfähigkeitdes deutschen Geistes gewertet werden, daß er esnicht verstanden hat, seinen Gleichmut gegenüber denErrungenschaften der modernen Technik zu bewah-ren?

Es ist in der Tat ein grob materialistischer Ein-schlag in der sich idealistisch gebenden Lehre man-cher modernen Schriftsteller, daß sie glauben, ir-gendwelche Äußerlichkeiten des Lebens stünden der

 Verinnerlichung und der Entfaltung der seelischenKräfte im Wege. Wer umgeben von Motorrädern undTelephonapparaten das Gleichgewicht seines Geistesnicht zu bewahren weiß, wird auch im Urwald und inder Wüste das nicht finden, was ihm fehlt: die Kraft,das Unwesentliche durch das Wesentliche zu über- winden. Der Mensch muß sein Selbst bewahren kön-nen, wo immer und unter welchen Umständen immerer auch zu leben hat. Es ist krankhafte Nervenschwä-che, das Ideal der harmonischen Ausgestaltung derPersönlichkeit in vergangenen Zeiten oder in fernenLändern zu suchen.

Sombart läßt, wie schon gesagt wurde, sein gesell-

schaftspolitisches Ideal nur zwischen den Zeilen er-kennen. Das kann man ihm nicht zum Vorwurf ma-chen. Wohl aber muß man es bemängeln, daß er indem Werk, das sich die Darstellung und Kritik einer

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 bestimmten Gestalt des Sozialismus zur Aufgabe setzt,keine genaue Umschreibung des Begriffes Sozialismusgibt. Die Ausführungen über die Idee des Sozialismus,die das ganze Werk eröffnen, sind sein schwächsterTeil. Sombart lehnt es ab, den Sozialismus als eineGesellschaftsordnung zu bestimmen, die auf dem Kol-lektiveigentum an den Produktionsmitteln aufgebautist. Denn der Begriff des Sozialismus müsse offenbar

ein gesellschaftlicher oder gesellschaftswissenschaftli-cher sein und dürfe nicht ein Sondergebiet des Gesell-schaftslebens betreffen, wie etwa die Wirtschaft. DieLeidenschaftlichkeit, mit der man um den Sozialismusstreite, lehre, daß das Wort Sozialismus noch tiefereProbleme umspannen müsse als »die wirtschaftlicheTechnik«131. Die Begriffsbestimmung, die Sombartdann gibt, muß schließlich doch – wenn auch in un-scharfer Weise – auf dieses einzige für den Sozialis-mus maßgebende Kennzeichen zurückkommen. Nacheiner längeren Auseinandersetzung gelangt nämlichSombart zu dem Ergebnis, daß die Idee des Sozialis-mus immer folgende Bestandteile enthalte:

»1. Das Wunschbild eines idealen, d. h. rationalenGesellschaftszustandes, das einem historischen, d. h.irrationalen gegenübergestellt wird: also eine Wertunggesellschaftlicher Zustände als vollkommen oder we-niger vollkommen.

Der Wesenheit des Sozialismus als Anti-Kapitalismus entsprechen bestimmte Züge des Wunschbildes, die allem Sozialismus sein Geprägegeben: selbstverständlich muß er die Erwerbs-wirtschaft  wegen ihrer irrationalen Zielsetzung, dieein Ausfluß der Triebhaftigkeit ist, verwerfen132. Dasich die kapitalistische Erwerbswirtschaft im Geldesymbolisiert, so ist das Geld (in seiner heutigen Funk-

tion, nicht auch notwendig als Liquidationsmittel) ein131 I, S. 5 f.132 Von mir gesperrt.

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 beliebter Angriffspunkt der sozialistischen Kritik: ausdem Kampf um den Ring der Nibelungen leiten sichalle Übel dieser Welt her; darum will der Sozialismus,daß das Geld wieder im Rhein versenkt werde. Wie eraber die ‚freie’ Wirtschaft bekämpft, so die Grundla-gen, auf denen sie ruht: das ,freie’, d. h. das Privatei-gentum, und den ,freien’, d. h, den Lohnvertrag133. Aus diesem folgt die ‚Ausbeutung’, und daß diese aus

der Welt verschwinde als der größte Schandfleck imgesellschaftlichen Leben, ist wesentlicher Programm-punkt für allen Sozialismus.

2. Der Wertung der gesellschaftlichen Zuständeund der Aufstellung eines rationalen Wunschbildesentspricht mit Notwendigkeit die Anerkenntnis dersittlichen Freiheit, ein Reich der Zwecke aus eigenerKraft zu erstreben, und der Glaube an die Möglichkeitseiner Verwirklichung.

3. Aus Ideal und Freiheit ergibt sich weiter mitzwingender Notwendigkeit ein Streben, das Ideal zu verwirklichen, eine aus Freiheit geborene Bewegungin der Richtung vom Historisch gegebenen zum Rati-

onalgewollten.Jedes Bekenntnis zum Sozialismus bedeutet aber

einen Verzicht auf unbehinderte Entfaltung desTriebhaften, also vom Standpunkte des Individuumsaus: Aufgabe, Opferung, Beschränkung des empirischIndividuellen«134.

Man kann nur einen Grund dafür finden, daßSombart diesen Umweg wählt, statt die bewährte undallein zutreffende Bestimmung des Sozialismus beizu- behalten: Die Abneigung, sich mit den eigentlich nati-onalökonomischen Problemen des Sozialismus zu

 befassen, die das ganze Werk durchzieht und seinengrößten Mangel ausmacht. Es wiegt jedenfalls noch

 viel schwerer als der Verzicht auf eine scharfe Beg-133 Von mir gesperrt134 I, S. 12 f.

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riffsbestimmung des Sozialismus, daß Sombart dieFrage, ob sozialistische Gesellschaftsordnung über-haupt möglich und durchführbar ist, gar nicht erör-tert. Und doch kann man nur von hier aus die Grund-lagen für das Verständnis des Sozialismus und dersozialistischen Bewegung gewinnen.

Sombart will aber nicht vom Sozialismus über-haupt, sondern nur vom proletarischen Sozialismus

oder Marxismus handeln. Auch hier ist seine Begriffs- bestimmung durchaus unbefriedigend. Der proletari-sche Sozialismus, meint er, »ist nichts anderes als dergeistige Niederschlag der modernen sozialen Bewe-gung’, wie ich ihn seit der ersten Auflage dieser Schriftdefiniert habe. ‚Sozialismus und soziale Bewegung’sind .... die Verwirklichung jener zukünftigen, denInteressen des Proletariats angepaßten, neuen Gesell-schaftsordnung oder der Versuch ihrer Verwirkli-chung. Der Sozialismus unternimmt die Verwirkli-chung in der Welt der Gedanken, die sozialistischeBewegung in der Welt der Wirklichkeiten. Alle theore-tischen Bemühungen, dem strebenden Proletariat das

Ziel seines Strebens zu zeigen, es zum Kampf aufzuru-fen, den Kampf zu organisieren, den Weg zu weisen,auf dem jenes Ziel erreicht werden kann, machen zu-sammen aus, was wir modernen Sozialismus nen-nen135.«

An dieser Begriffsbestimmung fällt eins auf: daßsie nämlich marxistisch ist. Es ist kein Zufall, daßSombart gerade sie aus der ersten und den späteren Auflagen seiner Schrift unverändert übernehmen zukönnen glaubt, daß er sie also aus der Zeit mitbringt,in der er nach seinem eigenen Bekenntnis in den Bah-nen von Marx wandelte. Sie enthält ein wichtigesElement der marxistischen Gedankenwelt: daß der

Sozialismus den Interessen des Proletariats angepaßt

135 I, S. 19 f.

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ist. Das ist ein spezifisch marxistischer Gedanke, dernur im Rahmen der marxistischen Gesamtlehre sinn- voll ist. Der »utopische« Sozialismus der vormarxisti-schen Periode und der Staatssozialismus der letztenJahrzehnte haben den Sozialismus nicht im Interesseeiner besonderen Klasse, sondern im Interesse allerKlassen oder der Gesamtheit angestrebt. Der Marxis-mus hat in die Doktrin die beiden Axiome eingeführt,

daß es in der Gesellschaft Klassen gibt, deren Interes-sen in unversöhnlichem Gegensatz stehen, und daßdas Interesse des Proletariats die – nur durch denKlassenkampf erreichbare – Verwirklichung der sei-nen Interessen entsprechenden, die Interessen derübrigen Klassen schädigenden Vergesellschaftung derProduktionsmittel fordert.

Der gleiche Gedankengang kehrt an verschiede-nen Stellen des Buches wieder. So heißt es einmal:Nur ganz wenige der einflußreichen Schriftsteller(nämlich des Marxismus) stammen aus dem Proleta-riat »und sind dann natürlich nichts als Interessen-ten«136. Und dann heißt es klipp und klar: »Zur Idee

des Kapitalismus gehört das Proletariat; aus der Klas-senlage des Proletariats ergibt sich mit Not- wendigkeit eine Gegnerschaft zur Kapitalistenklasse;dieses Gegnerschaftsverhältnis entwickelt bestimmteFormen in der ,sozialen’ Bewegung: Gewerkschaft,sozialistische Parteien, Streik usw.«137. Man kann

 wohl nicht umhin, zuzugeben, daß hier die materialis-tische Geschichtsauffassung in voller Entfaltung vor-getragen wird. Freilich, Sombart zieht daraus nicht dieKonsequenz, die Marx, in diesem Falle wohl folgerich-tiger, gezogen hat: daß nämlich der Eintritt des Sozia-lismus naturgesetzlich notwendig sei138. Die »Wissen-schaft vom Kapitalismus«, die Marx begründet habe,

136 I, S. 75.137 II, S. 261.138 I, S. 305.

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und mit der er »die Idee der Eigengesetzlichkeit des Wirtschaftslebens für unsere Geschichtsperiodefruchtbar machte«, zeige nämlich, meint Sombart,»daß die Verwirklichung irgendwelcher sozialistischerForderungen an sehr reale, objektive Bedingungengeknüpft, daß also der Sozialismus keineswegs immerund jederzeit ,möglich’ sei«. Marx habe »damit ‚wis-senschaftlich’ den Gedanken der Resignation, der –

logischerweise – vom Sozialismus weg zur sozialenReform führt«, begründet139. Ob nun SombartsSchlußfolgerung die ist, die logischerweise aus derLehre Marxens gezogen werden muß, oder ob die An-sicht Lenins und Trotzkys die folgerichtigere ist, solluns hier nicht weiter beschäftigen. Entscheidend füruns ist, daß Sombart, wenn auch unbewußt, nach wie vor wissenschaftlich auf dem Boden des Marxismussteht. (Nebenbei bemerkt: Die reformerische Schluß-folgerung hat Sombart schon in früheren Schriften ausder Lehre Marxens gezogen; das ist jener »Sombar-tismus«, von dem die orthodoxen Marxisten mit der wegwerfenden Geste sprechen, die sie allem gegen-

über zu Schau tragen, was ihnen nicht gefällt.) Wo Sombart den Kapitalismus schildern will, tut

er es im Sinne, vielfach selbst mit den Worten vonMarx und Engels140. Damit haben wir das Charakte-ristische an Sombarts Stellung zum Marxismus ken-nengelernt: Sombart bekämpft auch heute nicht dieGrundlagen des Marxismus, wenn er ihn auch nicht inder naiv materialistischen Art seiner Begründer faßt,sondern in der verfeinerten Gestalt, die er selbst undandere Gleichstrebende der Lehre gegeben haben, und wenn er auch aus der Lehre andere praktische Folge-rungen zieht als die Orthodoxen. Er bekämpft auchnicht den Sozialismus, wenn er auch für ihn nicht

139 I, S. 304.140 I, S. 32 ff.

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nd.

ausdrücklich eintritt (auch nicht für den religiösenoder Staatssozialismus).

 Was Sombart Marx vorwirft, ist nicht die Klas-senkampftheorie, sondern ihre Politisierung und dieSchlußfolgerung, die er aus der Theorie des Klassen-kampfes zieht: daß der Sieg des Proletariats unaus- bleiblich sei141. Mit anderen Worten: Sombart sagtnicht, die Klassenscheidung, wie sie Marx annimmt,

 besteht gar nicht, und die richtig verstandenen Inte-ressen der einzelnen Schichten der arbeitsteiligenGesellschaft sind nicht entgegengesetzt, sondern inletzter Linie gleichlaufend, sondern er sagt: die Ge-gensätzlichkeit der Klasseninteressen soll durch Ethik überwunden werden. Es gebe neben dem Klassenprin-zip »wohl noch andere gesellschaftsbildende Prinzi-pien – und zwar auch solche idealistischer Natur«.Der Marxismus aber verabsolutiere den Klassen- begriff 142. Sombart ist offenbar der Meinung, daß mandas Klasseninteresse zurückstellen solle, um den hö-heren Interessen, um den nationalen Interessen den Vorrang einzuräumen. Was er den Marxisten vorwirft,

ist, daß sie nicht vaterländisch denken, daß sie kos-mopolitische Politik treiben, daß sie, die in der inne-ren Politik für den Kampf der Klassen eintreten, in derinternationalen Politik antinationalistisch und pazifis-tisch si

Sombart ignoriert alles, was von der Wissenschaftzur Kritik der marxistischen Klassenlehre vorgebracht wurde. Er muß es ignorieren, weil er von Utilitarismusund theoretischer Nationalökonomie nichts wissen will, und weil er letzten Endes den Marxismus für dieeigentliche Wissenschaft vom Kapitalismus hält.Marx, sagt er, »begründete .... die Wissenschaft vomKapitalismus«143. Diese Wissenschaft vom Kapitalis-

141 I, S. 368 ff.142 I, S. 356.143 I, S. 304.

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mus habe »schon längst, und man kann sagen: mitabschließendem Urteile, den Nachweis erbracht, daßdieses Wirtschaftssystem der höchste Ausdruck allesdessen ist, was Zerstörung und Auflösung der Kultur bedeutet. Hier war Karl Marx, wenn nicht der Erste,so doch der Größte, der diese Lehre verkündet hat«144.Um sich den Folgerungen, die sich aus Marxens Theo-rien ergeben, zu entziehen, weiß denn Sombart

schließlich nichts anderes als die Berufung auf Gottund auf die ewigen Werte.

Sombart hat vollkommen recht, wenn er meint, essei nicht des Amtes der Wissenschaft, »wertende Kri-tik zu üben, das heißt, die einzelnen Worte, Forschun-gen und Grundsätze des proletarischen Sozialismus inihrer Minderwertigkeit vorzustellen«. Doch er gehtfehl, wenn er fortfährt, vielmehr heiße wissenschaftli-che Kritik üben »nichts anderes, wie Zusammenhängefeststellen und sie in ihrer Tragweite beurteilen. Zu-sammenhänge aber nicht nur zwischen den einzelnenLehrmeinungen und gewissermaßen einzelnen politi-schen Forderungen, auch nicht nur zwischen diesen

 beiden Gedankenreihen, sondern Zusammenhängezwischen dem Inhalt des gesamten Systems und denzugrunde liegenden Fragen der geistigen Kultur unddem menschlichen Schicksal«145. Das ist der Stand-punkt des Historismus, der darauf verzichtet, selbst wissenschaftliche Theorien aufzustellen und sich da-mit begnügt, den Zusammenhängen nachzugehen, diezwischen den wissenschaftlichen Theorien unterein-ander und zwischen ihnen und metaphysischen Ge-dankensystemen bestehen. Eine soziologische Lehre,als welche der Marxismus bei all seiner Unzulänglich-keit doch genommen werden muß, kann man nurkritisieren, wenn man ihre Brauchbarkeit zur Deutung

144 Vgl. W. Sombart, Das finstere Zeitalter. »Neue Freie

Presse«, 25. Dezember 1924.145 Ebenda.

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der gesellschaftlichen Erscheinungen prüft. Überwin-den aber kann man eine soziologische Lehre nurdurch ein unser Denken besser befriedigendes Deu-tungsschema146.

Der Ausgangspunkt der Sombartschen Kritik desproletarischen Sozialismus ist die Fällung eines – wiees gar nicht anders sein kann – subjektiven Wertur-teils über das, was er als die »Grundwerte« des Prole-

tarismus ansieht. Hier steht Weltanschauung gegen Weltanschauung, Metaphysik gegen Metaphysik. Mit Wissenschaft hat das nichts zu tun. Es ist Bekenntnis,nicht Erkenntnis. Es wird gewiß viele geben, die das Werk Sombarts gerade darum besonders hoch stellen werden, weil es sich nicht auf das enge Wirkungsfeld wissenschaftlicher Arbeit beschränkt, vielmehr meta-physische Synthese bringt, weil es nicht bloße Gelehr-tenarbeit ist, sondern den Stoff mit dem Geiste undder eigenartigen Persönlichkeit des Mannes und Den-kers Sombart durchdringt. Das ist es, was dem Buchseinen Charakter und seine Bedeutung gibt. Dochüberzeugen wird es nur den, der schon ohnehin die

 Weltanschauung Sombarts teilt.Sombart versucht gar nicht an den vom Sozialis-

mus vorgeschlagenen Mitteln zur Erreichung seinerZiele immanente Kritik zu üben. Und doch kann nurdie Prüfung der den ganzen Sozialismus durchziehen-den These von der höheren Ergiebigkeit der sozialisti-schen Produktionsweise und darüber hinaus der Fra-ge, ob sozialistische Wirtschaftsweise überhaupt mög-lich sei, den Boden für die wissenschaftliche Behand-lung des Sozialismus vorbereiten. Auch das Problemder Unentrinnbarkeit des Sozialismus wird von Som- bart nur nebenbei kritisch behandelt.

146 Ich kann hier auf die Kritik der Klassentheorie nicht

näher eingehen; ich muß auf meine »Gemeinwirtschaft«(Jena 1922, S. 265-352) verweisen.

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Das Sombartsche Buch ist ein literargeschichtli-ches Phänomen besonderer Art. Es ist kein seltenerFall, daß ein Denker im Laufe seines Lebens seinengesellschaftspolitischen Standpunkt ändert und ineinem neuen Werk manches von dem zurücknimmt, was er früher vertreten hat, und manches vertritt, waser früher bekämpft hat. Doch immer wurde die geisti-ge Wandlung durch die Herausgabe eines neuen Wer-

kes bekundet, wie z. B. Plato auf die Politeia die No-moi folgen lassen wollte. Daß aber ein Schriftstellerseinen das ganze Leben umspannenden Kampf miteinem Problem immer wieder durch Umgestaltungdesselben Werkes zum Ausdruck bringt, wie es Som- bart tut, ist wohl ein besonders seltener Fall. Nichts berechtigt uns zur Annahme, daß im vorliegendenBuch die letzte Fassung dessen vorliegt, was Sombartüber den Sozialismus zu sagen hat. Lange Jahre der Arbeit liegen noch vor ihm, neue Auflagen des »Sozia-lismus« werden notwendig werden, nicht nur, weil diefrüheren vergriffen werden, sondern weil auch Som- bart noch mit dem Problem des Sozialismus nicht

fertig ist. Wie das Buch heute vorliegt, stellt es nureine Etappe in Sombarts Ringen mit dem Marxismusdar. Noch hat sich Sombart aus den Banden dieserLehre nicht so weit freigemacht, wie er wohl selbstglauben mag. Ein gutes Stück geistiger Arbeit bleibtnoch zu leisten übrig.

Dieser innere Kampf Sombarts um die Problemedes Marxismus gewinnt aber über seine Person hinausdurch den Umstand Bedeutung, daß sein Denken fürdas des deutschen Gebildeten typisch ist. Sein Buchspiegelte in jeder Auflage ziemlich genau das wider, was der Deutsche der geistig führenden Schichtenüber dieses Problem dachte. Die Etappen seiner Mei-

nungsänderung sind zugleich die Etappen der Mei-nungsänderung von Deutschlands geistiger Ober-schicht, deren Führer in sozialökonomischen Dingener seit einem Menschenalter ist.

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IV. Der Antimarxismus und die Wissenschaft.

Der Antimarxismus ist voll von Ressentimentgegen den Kapitalismus. Darin begegnet er sich mitdem Marxismus. Er ist aber auch voll von Ressenti-ment gegen das politische Programm des Marxismus, besonders gegen seinen vermeintlichen Internationa-

lismus und Pazifismus. Doch mit Ressentiment kannman keine Wissenschaft betreiben, übrigens auchkeine Politik, höchstens Demagogie.

Gerade das, was am Marxismus jedem wissen-schaftlich Denkenden mißfallen muß, die theoretischeLehre, erregt beim Antimarxisten kaum Anstoß. Wirhaben gesehen, wie hoch Sombart noch heute Marxals Mann der Wissenschaft schätzt. Der Antimarxist wendet sich nur gegen die politische Ausschrotung dermarxistischen Lehre, nicht gegen ihren wissenschaftli-chen Inhalt. Er beklagt das Unheil, das die marxisti-sche Politik über das deutsche Volk gebracht hat, docher ist blind für die Schädigung des deutschen Geistes-

lebens durch die Flachheit und Unzulänglichkeit dermarxistischen Problemstellungen und Problemlösun-gen. Er sieht vor allem nicht, daß das politische undökonomische Elend eine Folge des geistigen Elendsist. Er schätzt die Wichtigkeit der Wissenschaft für das Volksleben nicht hoch genug ein; er ist eben auch hier von der marxistischen Lehre beeinflußt, er läßt in derGeschichte nicht die Ideen, sondern die »realen«Machtverhältnisse entscheiden.

Man kann dem Antimarxismus vollkommen zu-stimmen, wenn er ausführt, des deutschen Volkes Wiederaufstieg müsse durch die Überwindung desMarxismus eingeleitet werden. Doch diese Überwin-

dung muß, soll sie Bestand haben, ein Werk der Wis-senschaft, nicht einer von Ressentiment geführtenpolitischen Bewegung sein. Die deutsche Wissenschaftmuß sich von den Banden des Marxismus frei machen

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durch Überwindung des Historismus, der sie seitJahrzehnten in geistiger Ohnmacht gehalten hat, siemuß in Nationalökonomie und Soziologie die Scheu vor der Theorie ablegen und sich das aneignen, was inden letzten Menschenaltern – auch von Deutschen –auf theoretischem Gebiete geleistet wurde.

 Was Carl Menger vor mehr als vierzig Jahren vonder neueren deutschen nationalökonomischen Litera-

tur sagte, gilt noch heute und für das ganze Gebiet dersozialwissenschaftlichen Literatur: »Von dem Auslan-de in Wahrheit nur wenig beachtet, ihren eigentlichenTendenzen nach demselben kaum verständlich,« warsie »in ihrer Dezennien andauernden Isolierung un- beeinflußt durch ernstliche Gegner und hat in uner-schütterlichem Vertrauen auf ihre Methoden auch derstrengeren Selbstkritik vielfach entbehrt. Wer inDeutschland einer anderen Richtung folgte, wurdemehr beiseite gelassen als widerlegt«147. EingehendeBeschäftigung mit den Arbeiten der vom Etatismusund Historismus abweichenden deutschen und außer-deutschen Soziologie könnte helfen, den toten Punkt

zu überwinden, auf dem sich die herrschenden Schu-len in Deutschland heute befinden. Keineswegs wäredie deutsche Wissenschaft dabei nur der empfangendeTeil. Große Probleme harren ihrer Lösung, die ohnedeutsche Mitarbeit nicht gelingen kann. Wieder wol-len wir Menger sprechen lassen: »Alle großen Kultur- völker haben ihre eigenartige Mission beim Ausbaueder Wissenschaften, und jede Verirrung der Gelehr-tenwelt eines Volkes oder eines namhaften Teiles der-selben läßt deshalb eine Lücke in der Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis zurück. Auch die politi-sche Ökonomie kann der zielbewußten Mitwirkungdes deutschen Geistes nicht entbehren« 148.

147 Vgl. C. Menger, a. a. O., S. XX ff.148 Ebenda, S. XXI f.

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Das, was die deutsche Wissenschaft heute in ers-ter Linie zu lernen hat, ist die richtige Einschätzungder Bedeutung des Marxismus. Nicht nur die Marxis-ten, auch die Antimarxisten überschätzen den Mar-xismus als wissenschaftliche Lehre ganz ungeheuer,und nicht minder groß ist diese Überschätzung beidenen, die zwar Marx das Verdienst, die das Wesendes Marxismus ausmachenden Gedanken zuerst aus-

gesprochen zu haben, aberkennen wollen, dabei abergegen die wissenschaftliche Kraft dieser Lehren nichtseinwenden. Nur wer die Welt unbefangen ohne diemarxistischen Scheuklappen zu betrachten vermag,darf sich an die großen Probleme der Soziologie her-anwagen. Hat sich einmal erst die deutsche Wissen-schaft von den marxistischen Irrtümern, in denen sieheute tief drinsteckt, frei gemacht, dann, aber erstdann, wird auch im politischen Leben die Kraft dermarxistischen Schlagwörter schwinden.

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Theorie der Preistaxen149

I. Einleitung.

Die Erkenntnis, daß die Preise durch die Lage desMarktes eindeutig oder doch innerhalb enger Grenzen bestimmt sind, ist verhältnismäßig jung. EinzelnenSchriftstellern mag sie schon früher dunkel vorge-schwebt haben; zu einem System der Tauschhandlun-gen und der Statik des Marktes wurde sie erst von denPhysiokraten und von der klassischen Nationalöko-nomie verarbeitet. Die Wissenschaft der Katallaktik überwindet damit den preistheoretischen Indetermi-nismus, der die Preise aus den Preisforderungen der Verkäufer hervorgehen ließ und keine andere Be-schränkung der Preishöhe kannte als die Gerechtigkeitdes Fordernden.

 Wer die Preisbildung für frei hält, gelangt un-schwer zur Forderung, sie durch äußere Vorschriftenzu binden. Wenn das Gewissen des Verkäufers ver-sagt, wenn er, ohne Furcht vor dem Zorn Gottes, mehr verlangt, als »billig« ist, dann müsse die weltlicheObrigkeit einschreiten, um dem Rechte zum Siege zu verhelfen. Für die Preise bestimmter Waren undDienstleistungen wieder, für die man, nicht geradefolgerichtig, nicht dem Verkäufer, sondern dem Käu-fer die Macht zuschrieb, Abweichungen vom gerech-ten Preis zu erzwingen, sollten Mindestpreise vorge-schrieben werden. Die Obrigkeit wird aufgerufen,Ordnung zu machen, weil Unordnung und Willkürherrschen.

Die praktische Lehre, die sich auf den Erkennt-nissen der wissenschaftlichen Nationalökonomie undSoziologie aufbaut, der Liberalismus, lehnt alle Ein-

149 Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl.,

 VI. Bd., 1923.

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griffe in das Spiel des Marktes als überflüssig, unnützund schädlich ab. Als überflüssig, weil ohnehin Kräfte wirksam sind, die der Willkür der tauschenden Partei-en Dämme setzen; als unnütz, weil die Absicht derObrigkeit, die Versorgung zu verbilligen, durch sienicht erreicht werden kann; als schädlich, weil sie dieProduktion und den Konsum von den Wegen abdrän-gen, die, vom Standpunkte der Nachfrage betrachtet,

die wichtigsten sind. Mitunter hat der Liberalismusobrigkeitliche Eingriffe in die Preisbildung als unmög-lich bezeichnet. In welchem Sinne sie dies sind, wer-den die nachstehenden Ausführungen zu zeigen ha- ben. Zweifellos kann die Obrigkeit Befehle erlassen,die die Preise regeln, und ihre Übertretung strafen. Es wäre mithin korrekter gewesen, wenn der Liberalis-mus die Preistaxen nicht als unmöglich, sondern alsunzweckmäßig, d. i. den Absichten, die ihren Urhe- bern vorschwebten, zuwiderlaufend, bezeichnet hätte.

Der Liberalismus wurde sehr bald durch den So-zialismus zur Seite geschoben. Der Sozialismus willdas Sondereigentum an den Produktionsmitteln durch

das Gemeineigentum ersetzen. An sich muß der Sozia-lismus die Preislehre der Wissenschaft nicht verwer-fen; es wäre denkbar, daß er ihre Brauchbarkeit fürdas Verständnis der Markterscheinungen in einer auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln be-ruhenden Gesellschaftsordnung anerkennt. Wenn erdies tut, dann muß er folgerichtig auch dazu gelangen,die Eingriffe der Obrigkeit und anderer Gewalthaberin die Preisbildung für ebenso überflüssig, unnütz undschädlich anzusehen wie der Liberalismus. In derLehre des Marxismus finden sich in der Tat, freilichneben damit ganz unverträglichen Lehren und Forde-rungen, auch genug Ansätze zu dieser Auffassung; sie

treten am deutlichsten hervor in der Skepsis gegen dieBehauptung, man könne durch gewerkschaftlicheMittel das Lohnniveau dauernd erhöhen, und in der Ablehnung aller jener Wege, die Marx als »kleinbür-

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gerlich« kennzeichnet. In der Politik des Marxismusüberwiegt jedoch durchaus der Einfluß des Etatismus.Der Etatismus ist als Theorie die Lehre von der All-macht des Staates und als Praxis die Politik, die alleirdischen Dinge durch Gebote und Verbote der Obrig-keit zu ordnen bestrebt ist. Das Gesellschaftsideal desEtatismus ist ein besonders gestaltetes sozialistischesGemeinwesen; soweit dieses Gesellschaftsideal in

Betracht kommt, pflegt man von Staatssozialismusoder auch unter Umständen von Militärsozialismusoder von kirchlichem Sozialismus zu sprechen. Äußer-lich betrachtet unterscheidet sich das Gesellschafts-ideal des Etatismus nicht viel von der Gestalt, die diekapitalistische Gesellschaftsordnung an der Oberflä-che zeigt. Es liegt dem Etatismus fern, durch einen vollkommenen Umsturz der geschichtlich überkom-menen Rechtsordnung alles Eigentum an den Produk-tionsmitteln auch formell in Staatseigentum zu ver- wandeln. Nur die größten Unternehmungen des Ge- werbes, des Bergbaues und des Verkehrswesens sollen verstaatlicht werden; in der Landwirtschaft und im

Mittel- und im Kleingewerbe soll das Sondereigentumdem Worte nach bestehen bleiben. Doch alle Unter-nehmungen sollen dem Wesen nach Staatsbetriebe werden. Den Eigentümern werden zwar Namen undEhren des Eigentums und das Recht auf den Bezugeines »angemessenen« oder »standesgemäßen« Ein-kommens gelassen; doch in Wahrheit wird jedes Ge-schäft in ein Amt, jeder Erwerb in einen Beamtenbe-ruf verwandelt. Für Selbständigkeit des Unternehmersist im Staatssozialismus aller Spielarten kein Raum.Die Preise werden obrigkeitlich geregelt; die Obrigkeit bestimmt, was, wie und in welcher Menge erzeugt werden soll. Es gibt keine Spekulation, keine »über-

mäßigen« Gewinne, keine Verluste. Es gibt keine Neu-erung, es sei denn, die Obrigkeit habe sie verfügt. DieBehörde leitet und überwacht alles.

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Zu den Eigentümlichkeiten der etatistischen Leh-re gehört es, daß sie sich das gesellschaftliche Zusam-menleben der Menschen überhaupt nicht anders als inder Gestalt ihres besonderen sozialistischen Ideals vorzustellen vermag. Die äußerliche Ähnlichkeit, diezwischen dem von ihr gepriesenen und angestrebten»sozialen Staat« und der auf dem Sondereigentum anden Produktionsmitteln beruhenden Gesellschafts-

ordnung besteht, läßt sie die Wesensunterschiede verkennen, die die beiden trennen. Alles, was der An-nahme dieser Gleichheit der beiden Gesellschaftszu-stände widerspricht, hält der Etatist für vorüberge-hende Anomalie und für strafbare Übertretung be-hördlicher Verfügungen. Der Staat habe die Zügel derRegierung schleifen lassen; er brauche sie nur fester indie Hand zu nehmen, und alles werde wieder inschönster Ordnung sein. Daß das gesellschaftlicheLeben der Menschen sich unter bestimmten Bedin-gungen abspielt, daß in ihm eine Gesetzmäßigkeit waltet, die der der Natur vergleichbar ist, das sind Vorstellungen, die der Etatist nicht kennt. Ihm ist

alles Machtfrage; und seine Vorstellung von Macht istgrob materialistisch.

Wenn auch der Etatismus es nicht vermocht hat,mit seinem Ideal der anzustrebenden Zukunftsgesell-schaft die anderen sozialistischen Ideale zu verdrän-gen, in bezug auf die praktische Politik hat er alle an-deren Richtungen des Sozialismus überwunden. Allesozialistischen Gruppen sind heute, mögen ihre An-schauungen und ihre Ziele sonst noch soweit ausei-nandergehen, in der praktischen Politik bestrebt,durch Eingriffe von außen her, hinter denen dieZwangsgewalt steht, die Preise des Marktes zu beein-flussen.

Die Lehre von den Preistaxen hat zu untersuchen, welche Wirkungen die obrigkeitlichen Eingriffe in diePreisgestaltung des Marktes in einer auf dem Sonder-eigentum an den Produktionsmitteln beruhenden

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Gesellschaftsordnung auslösen. Es ist nicht ihre Auf-gabe, die Wirkungen der Preistaxen in einer sozialisti-schen Gesellschaftsordnung zu untersuchen, die dasSondereigentum an den Produktionsmitteln dem Na-men und dem äußeren Anschein nach beibehalten hatund sich daher zur Leitung der Produktion und des Verbrauches neben anderen Mitteln auch der Preista-xen bedient. In diesem Fall haben die Preistaxen nur

technische Bedeutung, sie sind ohne Einfluß auf das Wesen des Ablaufs der Vorgänge, und die sozialisti-sche Gesellschaft, die sich ihrer bedient, ist von eineranders organisierten sozialistischen Gesellschaft da-durch allein noch nicht wesensverschieden.

Die Wichtigkeit der Lehre von den Preistaxenergibt sich daraus, daß vielfach die Behauptung ver-treten wird, es sei neben der auf dem Sondereigentumund der auf dem Gemeineigentum an den Produkti-onsmitteln beruhenden Gesellschaftsordnung nochein dritter Gesellschaftszustand denkbar, in dem dasSondereigentum an den Produktionsmitteln zwar beibehalten, aber durch obrigkeitliche Eingriffe »regu-

liert« werde. Diese Auffassung, die in den letztenJahrzehnten von einem Teile der Kathedersozialistenund der Solidaristen vertreten wurde, erfreute sichund erfreut sich noch hohen Ansehens bei einer gro-ßen Anzahl von Staatsmännern und bei mächtigenpolitischen Parteien. Sie spielt auf der einen Seite eineRolle bei der Deutung der Wirtschaftsgeschichte desMittelalters und der beginnenden Neuzeit und ist auf der anderen Seite die theoretische Grundlage der mo-dernen Interventionspolitik.

II. Die Preistaxen.

a) Ordnungstaxen.

 Als Ordnungstaxen wollen wir solche Preistaxen bezeichnen, die den Preis so nahe dem Preise, der sich

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auf dem unbehinderten Markte bilden würde, festset-zen, daß nur ganz geringfügige Folgen auftreten. DieOrdnungstaxe setzt sich somit von vornherein nureine bescheidene Aufgabe; es liegt ihr fern, durch Aus-schaltung des Einflusses der Marktfaktoren große volkswirtschaftspolitische Ziele anzustreben. Der ein-fachste Fall ist der, daß die Obrigkeit die Preise desMarktes einfach hinnimmt und durch ihr Eingreifen

gewissermaßen sanktioniert. Ähnlich liegt die Sache, wenn Höchstpreise vorgeschrieben werden, die über,und Mindestpreise, die unter dem Marktpreis liegen:Etwas anderes ist es schon, wenn die Taxe als Mittelangewendet wird, um einen Monopolisten zur Einhal-tung des ideellen Konkurrenzpreises an Stelle deshöheren Monopolpreises zu zwingen. Wenn die Ob-rigkeit Monopole schafft (Apotheker, Notare, Rauch-fangkehrer) oder die Zahl der Konkurrenten be-schränkt, so daß die Bildung von monopolistischen Verabredungen unter ihnen gefördert wird (Konzessi-onierung des Lohnfuhrwerks), dann muß sie wohl zurPreistaxe greifen, wenn sie nicht die Verbraucher zur

Zahlung des Monopolpreises zwingen will. In keinemdieser Fälle ist das Ergebnis des obrigkeitlichen Ein-griffes eine Ablenkung des Preises von dem Stande,der sich auf dem unbehinderten Markte eingestellthätte.

Nicht ganz so, aber doch nicht allzu verschieden,liegen die Dinge dort, wo die obrigkeitliche Vorschriftden Verkäufer der Möglichkeit beraubt, unter gewis-sen Umständen einen höheren Preis zu fordern und zuerhalten als es der ist, der unter gewöhnlichen Um-ständen erzielt werden kann. Wenn z. B. dem Lohn-fuhrwerk ein Tarif von Amtswegen vorgeschrieben wird, dann wird ihm verwehrt, jene Fälle auszunützen,

in denen es auf Fahrgäste trifft, die bereit sind, mehrzu zahlen als den Preis, der im übrigen für Fahrtendieser Art erzielt werden kann. Der wohlhabende Rei-sende, der spät nachts bei ungünstigem Wetter auf 

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dem Bahnhofe einer fremden Stadt in Begleitung klei-ner Kinder mit zahlreichen Gepäckstücken eintrifft, wird gern bereit sein, für die Fahrt in den entlegenenGasthof weit mehr zu bezahlen als sonst üblich ist, wenn er dadurch den Wettbewerb anderer um die wenigen oder um die einzige zur Verfügung stehendeFahrgelegenheit auszustechen vermag. Die Rücksicht-nahme auf die außerordentlichen Gewinne, die durch

die Ausnützung solcher Gelegenheiten erzielt werdenkönnen, würde den Fuhrwerkern die Möglichkeit bie-ten, zu Zeiten schlechteren Geschäftsganges mit nied-rigeren Vergütungen vorlieb zu nehmen, um die Nach-frage zu erhöhen. Das Eingreifen der Obrigkeit hatalso das Ergebnis, daß die Spannung, die zwischendem Preis zur Zeit starker Nachfrage und dem zur Zeitschwacher Nachfrage besteht, beseitigt wird und daßein Durchschnittspreis herrscht. Geht die Obrigkeit bei ihrer Taxfestsetzung auch noch unter diesen ideel-len Durchschnittspreis hinunter, dann haben wir eineechte Taxe vor uns; von den echten Taxen soll dann weiter unten die Rede sein.

 Ähnlich liegt die Sache, wo die Behörde die Preisenicht unmittelbar festsetzt, jedoch dem Verkäufer, z.B.Gastwirten, vorschreibt, die geforderten Preise allge-mein ersichtlich zu machen. Auch hier ist der Erfolgder, daß es dem Verkäufer verwehrt wird, unter Aus-nützung besonderer Umstände von einzelnen Käufernhöhere Preise als die sonst erzielbaren zu erhalten.Das muß er in seiner Kalkulation berücksichtigen; wenn er auf der einen Seite gehindert wird, die Preis-forderung unter günstigen Umständen hinaufzuset-zen, dann wird es ihm erschwert, mit ihr unter ande-ren – ungünstigeren – Umständen hinunterzugehen.

 Andere Ordnungstaxen verfolgen den Zweck, die

Entstehung von Zufallsgewinnen, die sich unter demEinflusse außerordentlicher Verhältnisse bilden könn-ten, zu verhindern. Wenn die Beleuchtungsanlageneiner Großstadt durch irgendeinen unerwarteten Zu-

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fall für einige Tage stillgelegt werden, dann müßtendie Kerzenpreise ganz außerordentlich steigen, unddie Händler, die Kerzen vorrätig haben, würden einen beträchtlichen Zufallsgewinn erzielen. Wenn die Ob-rigkeit hier eingreift und für Kerzen einen Höchstpreisund gleichzeitig den Verkaufszwang, solange der Vor-rat reicht, vorschreibt, kann dies keine nachhaltigen Wirkungen auf die Versorgung des Marktes mit Ker-

zen äußern, da das Versagen des Beleuchtungswerkes,das die Ursache der vorübergehenden Preissteigerungder Kerzen gewesen ist, schnell und ohne dauernde Wirkung auf die Preise der Kerzen vorübergeht. Nursoweit die Händler und Erzeuger auf den Eintritt der-artiger Zufälle hoffen und im Hinblick darauf die Prei-se und die Größe der Lager errechnen, kann der Ein-griff der Obrigkeit Wirkungen für die Zukunft äußern.Muß man darauf gefaßt sein, daß bei Wiederkehr ähn-licher günstiger Gelegenheiten für den Absatz irgend- welcher Waren eine obrigkeitliche Verfügung die Aus-nützung der Konjunktur untersagen werde, dann wirddies den Preis, der unter gewöhnlichen Verhältnissen

für sie gefordert wird, erhöhen und den Antrieb zurHaltung größerer Vorräte herabmindern.

 b) Echte Taxen.

 Als echte Taxen wollen wir die Preistaxen be-zeichnen, mit denen die Obrigkeit die Absicht verbin-det, den Preis abweichend von jenem festzusetzen, dersich auf dem unbehinderten Markte bilden würde. Will die Obrigkeit den Preis über dem Marktpreisfestsetzen, so wählt sie in der Regel die Festlegung vonMindestpreisen, will sie ihn unter den Marktpreisherabdrücken, dann pflegt sie in der Regel das Mittel

der Festlegung von Höchstpreisen zu wählen.Betrachten wir zunächst den Höchstpreis oderMaximalpreis. Der natürliche oder statische Preis, dersich auf dem unbehinderten Markte einstellen würde,

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entspricht einer Gleichgewichtslage aller Preise undDienstleistungen. Bei diesem Preisstande fallen Preisund Kosten zusammen. Tritt nun infolge der obrig-keitlichen Verfügung eine Verschiebung ein, müssendie Verkäufer die Ware zu einem niedrigeren Preis alszu dem Preis, der sich auf dem unbehinderten Marktegebildet hätte, hergeben, dann bleibt der Erlös hinterden Kosten zurück. Die Verkäufer werden daher,

 wenn es sich nicht um Waren handelt, die dem schnel-len Verderb oder sonst schneller Wertminderung aus-gesetzt sind, vom Verkaufe absehen und in der Erwar-tung, daß die obrigkeitliche Maßregel nicht von Dauersein werde, die Ware für günstigere Zeiten aufbewah-ren. Die Kauflustigen aber werden nicht in der Lagesein, den Gegenstand ihres Begehrs zu kaufen; sie werden, wenn es geht, an seiner Statt andere Güterkaufen, die sie sonst nicht gekauft hätten, weil sie etwa weniger geeignet sind, ihre Bedürfnisse zu befriedi-gen. (Dazu muß noch bemerkt werden, daß die Preisedieser Surrogatgüter durch die gesteigerte Nachfragein die Höhe getrieben werden.) Nun ist es aber gar

nicht die Absicht der Obrigkeit gewesen, diesen Erfolgherbeizuführen. Sie will durch die Preisbestimmungdie Ware den Kauflustigen zu billigem Preise zur Ver-fügung stellen, nicht aber sie überhaupt der Möglich-keit berauben, sich die Ware zu beschaffen. Daher wird die Obrigkeit mit der Bestimmung der Höhe desKaufpreises auch die Verpflichtung der Verkäufer verbinden, die Ware, solange der Vorrat reicht, anKauflustige um den Maximalpreis abzulassen. Nunaber tritt erst die größte Schwierigkeit auf, die mit derPreisfestlegung verbunden ist. Das Spiel des Markteszielt darauf ab, den Preis in der Höhe festzulegen, inder Angebot und Nachfrage sich gerade decken. Die

Zahl jener Kauflustigen, die bereit sind, für die Wareim äußersten Falle soviel zu zahlen, als der Marktpreis beträgt, ist gerade so groß, daß der ganze auf denMarkt gebrachte Vorrat zur Veräußerung gelangen

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kann. Wird der Preis durch den Eingriff der Obrigkeitunter den Preis, der sich auf dem unbehindertenMarkte gebildet hätte, herabgedrückt, dann steht dergleichen Warenmenge eine größere Zahl von Kauflus-tigen gegenüber, die bereit sind, im äußersten Falleden von der Obrigkeit festgelegten niedrigeren Preisfür die Ware zu bieten. Angebot und Nachfrage de-cken sich nicht mehr; die Nachfrage übersteigt das

 Angebot, und der Marktmechanismus, der sonstdurch Verschiebung der Preishöhe Angebot und Nach-frage zur Deckung zu bringen sucht, kann eben infolgedes obrigkeitlichen Eingriffes nicht mehr spielen.

 Was nun geschieht, um so viele Käufer auszu-schalten, daß nicht mehr als die vorhandene Mengeder Ware zur Verteilung gelangt, ist, vom Standpunktedes Marktes betrachtet, Zufall. Es kann sein, daß die- jenigen Käufer, die als die ersten auf dem Platze er-scheinen, die Ware nach Hause tragen, oder daß alleindie Käufer zum Zuge kommen, die persönliche Bezie-hungen mit den Verkäufern verbinden. Die jüngst verflossene Kriegszeit hat mit ihren mannigfachen

 Versuchen, Preistaxen festzusetzen, für beides Bei-spiele gebracht. Man bekam die Ware um denHöchstpreis entweder, weil man ein Freund des Ver-käufers war, oder weil man sich bei der »Polonäse«rechtzeitig angestellt hatte. Doch auch mit dem Er-gebnis dieser Auslese derer, die noch zum Zuge gelan-gen, kann die Obrigkeit nicht einverstanden sein. Sie will ja mit ihrem Eingriffe gerade erzielen, daß jeder-mann die Ware zu billigerem Preise erhält, und will vermeiden, daß es Leute gibt, die nicht imstande sind,sich für ihr Geld die Ware zu beschaffen. Darum mußsie noch einen Schritt über den Verkaufszwang hi-nausgehen, sie muß zur Rationierung der Ware schrei-

ten. Die Ware wird nicht mehr an jedermann in Men-gen abgegeben, die dem Belieben des Verkäufers unddes Käufers anheimgestellt sind. Die vorhandeneMenge wird von der Behörde auf die Bewerber aufge-

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teilt, und jedermann bekommt zum behördlich festge-legten Preis soviel, als ihm auf Grund der obrigkeitli-chen Rationierungsvorschrift zukommen soll.

Doch auch dabei kann die Obrigkeit nicht stehen bleiben. Denn die Eingriffe, von denen wir bisher ge-sprochen haben, betreffen bloß den schon auf demMarkte vorhandenen Warenvorrat. Ist dieser Vorrateinmal erschöpft, dann werden sich die geleerten Vor-

ratskammern nicht aufs neue füllen, weil die Erzeu-gung nicht mehr die Kosten deckt. Will daher die Ob-rigkeit die fortgesetzte Belieferung des Verbrauchessicherstellen, dann muß sie noch einen Schritt weiter-gehen, sie muß die Verpflichtung zur Produktion aus-sprechen. Sie muß, wenn es zu diesem Zwecke not- wendig ist, auch die Preise der Rohstoffe und derHalbfabrikate, eventuell auch die der Arbeitskraftfestlegen, und sie muß die Unternehmer und die Ar- beiter verpflichten, zu diesen Preisen zu produzierenund zu arbeiten.

Wir sehen damit ohne weiteres, daß die Preistaxeals isolierter Eingriff in das Spiel des Marktes in der

auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhenden arbeitsteiligen Gesellschaftsordnung un-denkbar ist. Sie ist nicht imstande, den Erfolg zu erzie-len, den die Obrigkeit durch ihren Eingriff erzielen will, und die Obrigkeit sieht sich darum genötigt,schrittweise von dem isolierten Befehl, der die Höhedes Preises festsetzt, weiterzuschreiten, bis sie endlichdahin gelangt, die Verfügung über die Produktions-mittel und über die Arbeitskräfte an sich zu reißen, zu verfügen, was und wie produziert und wie verteilt werden soll. Der isolierte Eingriff in das Getriebe desMarktes stört nur die Versorgung der Verbraucher,lenkt sie von jenen Waren, die sie als die dringenderen

ansehen, auf Ersatzartikel ab, die sie als mindergeeig-net zur Deckung ihrer Bedürfnisse betrachten, und würde daher durchaus nicht jenen Erfolg erzielen, dendie Obrigkeit anstrebt. Die Geschichte des Kriegsso-

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zialismus hat dies deutlich gezeigt. Schritt für Schritt waren die Regierungen, die in das Getriebe des Mark-tes eingreifen wollten, genötigt, von den isoliertenEingriffen in die Preisbestimmung, mit denen sie an-gefangen hatten, schließlich bis zur völligen Vergesell-schaftung der Produktionsmittel zu gehen. Sie hättendiesen Weg noch schneller zurücklegen müssen, wennihre Preistaxen vom Verkehr besser befolgt worden

 wären und kein Schleichhandel sie mit Erfolg zu um-gehen verstanden hätte. Daß sie den letzten Schritt,die Vergesellschaftung des ganzen Produktionsappa-rates, nicht auch wirklich durchgeführt haben, ist nurauf die vorzeitige Beendigung des Krieges, mit derzugleich das Ende der Kriegswirtschaft gegeben war,zurückzuführen. Wer aber die einzelnen Maßnahmender Kriegswirtschaftspolitik verfolgt, der kann deut-lich die oben genannten Phasen feststellen: zuerstPreistaxen, dann Verkaufszwang, dann Rationierung,dann Vorschriften über die Einrichtung der Pro-duktion und der Verteilung, schließlich Versuche zurÜbernahme der planmäßigen Leitung der gesamten

Produktion und Verteilung.Die Preistaxe hat in der Geschichte vor allem bei

Münzverschlechterungen und bei Inflationspolitik eine große Rolle gespielt. Die Regierungen haben im-mer wieder den Versuch unternommen, trotz derMünzverschlechterung und der Vermehrung der zir-kulierenden Geldmenge das alte Preisniveau festzu-halten; so war es auch in der jüngsten und größtenaller Inflationsperioden, in der des Weltkrieges. DieRegierungen haben mit der strafgerichtlichen Be-kämpfung der Preistreiberei an demselben Tage be-gonnen, an dem sie die Notenpresse in den Dienst derStaatsfinanzen stellten. Nehmen wir an, sie hätten

damit zunächst Erfolg erzielt. Wir wollen dabei ganzdavon absehen, daß der Krieg auch das Angebot von Waren vermindert hat, und annehmen, daß von der Warenseite her keine Kräfte zur Verschiebung des

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zwischen den Waren und dem Gelde bestehenden Austauschverhältnisses wirksam gewesen wären. Wei-ter müssen wir davon absehen, daß die Kriegsereig-nisse durch Verlängerung der zur Geldversendungerforderlichen Zeit und durch Einschränkung desKompensationsverkehrs und noch auf andere Weiseden Geldbedarf der Einzelwirtschaften erhöht haben. Wir wollen lediglich die Frage prüfen, welche Folgen

sich einstellen müßten, wenn ceteris paribus bei stei-gender Geldmenge die Geldpreise durch behördlichenZwang auf der alten Höhe erhalten werden. Durch die Vermehrung der Geldmenge ist neue Kauflust auf demMarkte aufgetreten, die früher nicht bestanden hat;»neue Kaufkraft«, pflegt man zu sagen, ist geschaffen worden. Wenn diese neuen Käufer mit denen, dieschon auf dem Markte waren, wetteifern, ohne daß diePreise erhöht werden dürfen, dann kann nur ein Teilder Kauflust befriedigt werden. Es gibt dann Kauflus-tige, die unverrichteter Dinge den Markt verlassen,obwohl sie bereit waren, den geforderten Preis zu bewilligen, Kauflustige, die mit dem Gelde, mit dem

sie ausgezogen waren, um zu kaufen, wieder nachHause kommen. Die Regierung, die neugeschaffeneNoten in den Verkehr setzt, will aber gerade damit Waren und Dienstleistungen aus den Wegen, in die sie bisher geleitet wurden, herausziehen, um sie der ihrerwünschten Verwendung zuzuführen. Sie will diese Waren und Dienstleistungen kaufen, nicht, was jaauch denkbar wäre, zwangsweise einfordern. Sie mußalso gerade wünschen, daß um Geld und nur um Geldalles zu haben ist. Es ist ihr nicht damit gedient, daßsich auf dem Markte ein Zustand herausbildet, dereinen Teil der Kauflustigen unverrichteter Dinge wie-der abziehen läßt. Sie selbst will kaufen; sie will den

Markt benützen, nicht ihn zerstören. Der behördlichfestgelegte Preis aber zerstört den Markt, auf dem Waren und Dienste gegen Geld gekauft und verkauft werden. Der Verkehr sucht sich, soweit es geht, auf 

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andere Weise zu helfen. Es bildet sich z. B. wiederunmittelbarer Tausch heraus, in dem Waren undDienstleistungen ohne Vermittlung des Geldes ge-tauscht werden. Der Regierung, die ihrerseits für sol-chen direkten Tauschverkehr nicht ausgestattet ist, weil sie keine Waren dafür zur Verfügung hat, kanndies durchaus nicht recht sein. Sie, die nur mit Geld,nicht auch mit Waren auf den Markt kommt, muß im

Gegenteil wünschen, daß die Kaufkraft der Geldein-heit nicht dadurch weiter herabgedrückt werde, daßdie Besitzer von Geld nicht mit Bestimmtheit darauf rechnen können, vermittels des Geldes in den Besitzder Waren zu gelangen, die sie begehren. Sie kann alsKäuferin von Waren und Arbeitskräften selbst denGrundsatz nicht aufrechterhalten, daß die alten Preisenicht überschritten werden dürfen. Mit einem Worte:sie selbst als Emittentin der zusätzlichen Geldmengekann der Notwendigkeit, die die Quantitätstheorie beschreibt, nicht entrinnen.

Setzt die Obrigkeit den Preis höher fest, als er sichauf dem unbehinderten Markte gebildet hätte und

 verbietet sie den Verkauf zu einem niedrigeren Preise(Mindestpreis), dann wird der Absatz sinken. Bei demniedrigeren Marktpreis decken sich Angebot undNachfrage; bei einem behördlich festgelegten höherenPreise bleibt die Nachfrage hinter dem Angebot zu-rück und ein Teil der zu Markte gebrachten Ware fin-det keinen Käufer. Da die Obrigkeit den Mindestpreisfestlegt, um den Verkäufern lohnenden Absatz zu si-chern, so kann dieser Erfolg durchaus nicht in ihrer Absicht gelegen sein. Sie muß daher zu anderen Mit-teln greifen, zu Mitteln, die schließlich wieder Schrittfür Schritt bis zur vollen Überführung der Verfügungüber die Produktionsmittel in die Hand der Obrigkeit

gehen müssen. Von praktischer Bedeutung sind von den Min-destpreissatzungen vor allem die, welche die Höhe desLohnes betreffen (Mindestlöhne). Solche Mindest-

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lohnsätze können entweder unmittelbar durch dieObrigkeit verfügt werden oder mittelbar durch Förde-rung der gewerkschaftlichen Maßnahmen, die auf Festlegung des Mindestlohnes abzielen. Wenn dieGewerkschaft durch Streik oder Streikdrohung einenüber dem Stande des Lohnes, der sich auf dem unbe-hinderten Markte bilden würde, liegenden Mindest-lohnsatz durchsetzt, so kann sie dies nur, weil hinter

ihr die Obrigkeit steht und den Arbeitswilligen denSchutz des Gesetzes und der vollziehenden Gewalt verweigert und so den von den Gewerkschaften aus-geübten unmittelbaren Zwang zur Arbeitsenthaltung wirksam macht. Es ist eben für die Untersuchung derprinzipiellen Bedeutung von Preissatzungen gleichgül-tig, ob der Zwangsapparat, den sie durchzusetzen bestrebt ist, der »legitime«Zwangsapparat der Staats- verwaltung ist oder der geduldete einer Organisation,die tatsächlich öffentliche Gewalt ausübt. Wird derMindestlohn, der über der Höhe des Lohnsatzes liegt,der sich auf dem unbehinderten Markte ergeben wür-de, für einen einzelnen Industriezweig verfügt, dann

 wird die Produktion verteuert, der Preis des Endpro-duktes muß steigen und entsprechend der Absatz zu-rückgehen. Es muß mithin zu Arbeiterentlassungenkommen, und die entlassenen Arbeiter drücken denLohn in den anderen Gewerbszweigen. Insofern könn-te man also den Anschauungen der Lohnfondstheorieüber die Wirkungen von nicht aus dem Getriebe desMarktes hervorgegangenen Erhöhungen des Lohneszustimmen. Was die Arbeiter in dem einen Produkti-onszweig gewonnen haben, verlieren die Arbeiter an-derer Produktionszweige. Will man diese Folgen ver-meiden, dann muß man an die Festsetzung des Min-destlohnsatzes die Verpflichtung knüpfen, die Zahl

der Arbeiter nicht herabzusetzen. Dann muß in dem betreffenden Produktionszweige der Gewinnsatz sin-ken, sei es dadurch, daß ein Teil der Arbeiter bezahlt wird, ohne daß man ihn verwendet, sei es dadurch,

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daß man die Arbeiter nicht nur bezahlt, sondern auch verwendet, den Umfang der Produktion nicht herab-setzt und das Produkt mit Verlust verkauft. Dann wirdsich die Unternehmungstätigkeit aus diesem Produk-tionszweig zurückziehen wollen, und wenn die Obrig-keit dies verhindern will, muß sie durch besondere Verfügungen eingreifen.

Erstreckt sich die Mindestlohnsatzung nicht nur

auf einen einzigen oder auf einige wenige Produkti-onszweige, sondern wird sie allgemein für alle Pro-duktionszweige einer isolierten Volkswirtschaft oderfür die ganze Welt verfügt, dann kann die Preissteige-rung der Produkte, die durch sie ausgelöst wird, nichtzu einem Rückgang des Verbrauches führen150. Denndie höheren Löhne erweitern die Konsumkraft der Arbeiterschichten; sie können mehr konsumieren undkönnen daher die Produkte, obwohl sie nun teuererauf den Markt gelangen, kaufen. (Verschiebungeninnerhalb der Produktionszweige können sich aller-dings ergeben.) Die Unternehmer und Kapitalistenmüßten, wenn sie nicht ihr Kapital angreifen, ihren

 Verbrauch einschränken, da ihr Geldeinkommen nichtgestiegen ist und sie nicht imstande sind, aus ihm diehöheren Preise zu bezahlen. Soweit diese Verbrauchseinschränkung gehen müßte, hat die all-gemeine Lohnerhöhung den Arbeitern Teile des Un-ternehmergewinnes und der Kapitalrente zugeführt.Die Erhöhung des Arbeitereinkommens gelangt darinzum Ausdruck, daß infolge der Zurückhaltung derKapitalisten und Unternehmer die Preise doch nichtum den ganzen Betrag steigen, um den die Produkti-onskosten durch die Lohnsteigerung erhöht wurden,daß vielmehr die Steigerung der Preise der Konsum-güter ein wenig zurückbleibt. Angesichts der von kei-

ner Seite bestrittenen Tatsache, daß eine Aufteilung150 Wir sehen dabei von den von der Geldseite her auf 

die Preise wirkenden Kräften ab.

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selbst des ganzen Besitzeinkommens auf die Arbeiternach Kopfteilen das Einkommen des einzelnen Arbei-ters nicht wesentlich vermehren würde, darf man sichüber die quantitative Bedeutung einer derart begrenz-ten Herabsetzung des Besitzeinkommens keinen Täu-schungen hingeben. Wollte man aber annehmen, daßdie Lohnsteigerung so weit geht und die Preise so beträchtlich hinauftreibt, daß ein Großteil oder fast

das ganze Realeinkommen der Unternehmer und Ka-pitalisten den Arbeitern zufällt, so muß man beachten,daß Unternehmer und Kapitalisten auch weiter vonihrer Unternehmungstätigkeit und von ihrem Kapital- besitz leben wollen und daß sie, wenn sie nicht vonden Überschüssen der Verwendung von Kapital inUnternehmungen zu leben vermögen, den Kapital-stock selbst angreifen werden. Es würde also die Be-seitigung des Besitzeinkommens auf dem Wege der von außen her erzwungenen Lohnerhöhung nur zum Verzehren von Kapitalbestandteilen und damit zueiner fortschreitenden Verminderung des National-einkommens führen. (Dasselbe bewirkt übrigens jeder

 Versuch, das Kapital- und Unternehmungseinkom-men anders als durch Vergesellschaftung der Produk-tion und der Verteilung abzuschaffen.) Will man dieseKonsequenz vermeiden, dann scheint, im Sinne derEtatisten gesprochen, kein anderer Weg offen zu ste-hen als der, die Verfügung über die Produktionsmittelden Privateigentümern abzunehmen.

 Alles das, was hier gesagt wurde, gilt nur vonPreissatzungen, die den Preis von dem Stande, den erauf dem unbehinderten Markte einnehmen würde,abzulenken bestrebt sind. Gehen aber die Preis-satzungen darauf aus, nicht den Konkurrenzpreis, dersich auf dem unbehinderten Markte entwickeln wür-

de, sondern den Monopolpreis zu unterbieten, so sinddie Folgen einer Preissatzung ganz andere. Dann stehtfür das Eingreifen der Obrigkeit die ganze Preisspan-nung zwischen dem höheren Monopolpreis und dem

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niedrigeren Konkurrenzpreis zur Verfügung. Inner-halb dieser Spannung können Preissatzungen wirk-sam werden; über den spezifischen Monopolertragkann die Obrigkeit unter bestimmten Umständen verfügen. Wird z. B. in einem abgeschlossenen Wirt-schaftsgebiet, in dem ein Zuckerkartell den Preis desZuckers über dem Stande hält, den er auf dem unbe-hinderten Markte eingenommen hätte, ein Mindest-

preis für Zuckerrüben vorgeschrieben, der über demStande liegt, den der Rübenpreis auf dem unbehinder-ten Markte eingenommen haben würde, so können diegeschilderten Wirkungen von Mindestpreisen so langenicht eintreten, als durch den Eingriff der Obrigkeitnur der spezifische Monopolgewinn der Zuckermono-polisten getroffen wird. Erst wenn der Rübenpreis sohoch festgesetzt wird, daß die Zuckerproduktion selbstzu dem Monopolpreis nicht mehr lohnt, so daß dasZuckermonopol gezwungen ist, den Preis hinaufzuset-zen und entsprechend dem sinkenden Absatz die Pro-duktion einzuschränken, treten jene Wirkungen zuta-ge, von denen oben gesprochen wurde.

III. Die Bedeutung der Lehre von denPreistaxen für die Lehre von den

Gesellschaftsformen.

Die wichtigste theoretische Erkenntnis, die diegrundsätzliche Untersuchung der Wirkungen derPreistaxen uns gibt, ist die, daß Eingriffe in die Preis- bildung des Marktes in der auf dem Sondereigentuman den Produktionsmitteln beruhenden Gesellschafts-ordnung gerade das Gegenteil von dem bewirken, was

die Absicht bei ihrer Erlassung war. Wenn die Obrig-keit diese Folgen vermeiden will, dann darf sie nicht bei den einzelnen Maßnahmen, die in das Marktge-triebe eingreifen, stehen bleiben; sie muß Schritt für

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Schritt weitergehen, bis sie schließlich dazu gelangt,die Verfügung über die Produktionsmittel aus denHänden der Unternehmer und Kapitalisten selbst zuübernehmen. Es ist dann gleichgültig, in welcher Wei-se sie die Verteilung des Einkommens regelt, ob siedem Unternehmer und Kapitalisten eine bevorzugteStellung bei der Einkommensverteilung beläßt odernicht. Das Entscheidende ist, daß sie es nicht bei dem

einzelnen Eingriff bewenden lassen kann, sondernnotwendigerweise weitergetrieben wird bis zur Verge-sellschaftung der Produktionsmittel. Daraus ergibtsich, daß die Vorstellung, es gebe zwischen einer Ge-sellschaftsverfassung, die auf dem Sondereigentum anden Produktionsmitteln beruht, und einer Gesell-schaftsverfassung, die auf dem Gemeineigentum anden Produktionsmitteln beruht, irgendwelche Zwi-schenformen, etwa die des »regulierten« Verkehrs,irrig ist. In der auf dem Sondereigentum an den Pro-duktionsmitteln beruhenden Gesellschaftsordnungkönnen die Preise durch nichts anderes geregelt wer-den als durch das Spiel des Marktes. Schaltet man

dieses Spiel in irgendeiner Weise aus, dann verliert dieProduktion der auf dem Sondereigentum beruhendenGesellschaftsordnung ihren Sinn, sie wird chaotisch,und die Obrigkeit muß, um das Chaos zu verhindern,schließlich selbst die Verfügung über die Produkti-onsmittel an sich nehmen.

In diesem Sinne kann man der Auffassung derälteren Liberalen und eines Teiles der älteren Sozialis-ten beipflichten, daß es unmöglich sei, bei Aufrechter-haltung des Sondereigentums an den Produktionsmit-teln den Einfluß des Marktes auf die Preisbildung undauf dem Wege über die Preisbildung auf die Produkti-on und Verteilung auszuschalten und Preise vorzu-

schreiben, die von denen, die der Markt bildet, abwei-chen. Es war kein unfruchtbarer Doktrinarismus, son-dern tiefe Erkenntnis der gesellschaftlichen Grundsät-ze, wenn sie die Alternative formuliert haben, Sonder-

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eigentum oder Gemeineigentum an den Produktions-mitteln, Kapitalismus oder Sozialismus. In der Tatgibt es für die arbeitsteilige Gesellschaft nur diese beiden Möglichkeiten der Organisation; Zwischen-formen irgendwelcher Art sind nur insofern denkbar,als ein Teil der Produktionsmittel im Eigentum derGesellschaft und ein Teil in dem von Privaten sich befinden kann. Soweit aber Privateigentümern die

 Verfügung über die Produktionsmittel überantwortetist, kann man den Marktpreis nicht durch äußere Ein-griffe ausschalten, ohne gleichzeitig das regulierendePrinzip der arbeitsteiligen Produktion in einer solchenGesellschaft außer Kraft zu setzen.

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