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THEMENHEFT FORSCHUNG · N o 2008 TF · N o 4 · 2008 KULTUR UND TECHNIK KULTUR UND TECHNIK

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TH E M E N H E FT FORSCH U NG KU LTU R U N D TECH N I K2

Editorial

ImpressumDas T H E M E N H E F T F O R S C H U N G wird herausgegeben im Auftrag des Rektorats der Universität Stuttgart.

Liebe Leserinnen und Leser,

ein Ereignis zum Thema Kultur und Technikaus den Anfängen der Universität Stutt-gart: Ein mit dem Prädikatsexamen „sehrbefähigt“ versehener junger Ingenieur tritt1902 auf Vermittlung seines Vaters, einesLehrstuhlinhabers für Maschinenbau inBrünn, eine Praktikantenstelle im funkel-nagelneuen Maschinenlaboratorium derTH Stuttgart an. Eigentlich eine Auszeich-nung, denn der weithin bekannte Stutt-garter Maschinenbauprofessor Carl vonBach hatte hier die Technik als Wissen-schaft begründet, die unter Laborbedin-gungen ihre Materialien und Methodenprüfen kann. Der junge Ingenieur RobertMusil äußerte sich dennoch später alsgeachteter Autor des „Mann ohne Eigen-schaften“ nur sehr distanziert über seinedamaligen Ingenieurkollegen, die, „mitihren Reißbrettern fest verbunden“, nichtin der Lage seien, „die Kühnheit ihrerGedanken statt auf ihre Maschinen aufsich selbst anzuwenden.“ Der SchriftstellerMusil andererseits unterzieht in seinenWerken die dichterische Sprache und dasmenschliche Verhalten selber quasi einemwissenschaftlichen Experiment, immerbemüht um höchste Präzision bei Beob-achtung und Beschreibung und gerichtetauf Findung des Möglichen im Wirklichen.

Diese Anekdote, in der Literaturwissenschaftgut dokumentiert, ist bestenfalls Fußnoteunseres aktuellen T H E M E N H E F T sF O R S C H U N G , das nach drei Ausgabenmit naturwissenschaftlich-technischenSchwerpunkten nun versucht, das großeRad „Kultur und Technik“ einige Mikro-meter weiter zu drehen. Geistes- undSozialwissenschaften und Natur- und In-genieurwissenschaften laufen eben nichtgegeneinander wie die inzwischen fast zurFloskel gesunkene These von den zweiKulturen suggeriert, sondern sitzen, umim Bilde zu bleiben, auf derselben Felge.Wenn unser Heft hier auch nur ein wenigzum gegenseitigen Verständnis beitragenkann, hat sich die Mühe der Autorenschon gelohnt.

In der nächsten Ausgabe wendet sich dasThemenheft wieder den Naturwissen-schaften zu und einer Materie, von derenEigenschaften wir noch wenig wissen, unddie wir daher mit musilschem Interesse verfolgen – die Quantenmaterie. •

Konzeption und Koordination „Themenheft Forschung“: Ulrich Engler, Tel. 0711/685-8 2205, E-Mail: [email protected]

Wissenschaftliche Koordinatoren „Kultur und Technik“: Georg Maag, Elke Uhl

Autoren „Kultur und Technik“: Elisabeth André,Renate Brosch, Gerd de Bruyn, Klaus Hentschel,Christoph Hubig, Ulrich Keller, Georg Maag, WernerNachtigall, Ortwin Renn, Eckhart Ribbeck

Titelseite und Grundlayout Themenheft Forschung:Zimmermann Visuelle Kommunikation, Gutenberg-straße 94 A, 70197 Stuttgart

Druck und Anzeigenverwaltung: Alpha Informations-gesellschaft mbH, Finkenstraße 10, 68623 Lampertheim,Tel. 06206/939-0, Fax 06206/939-232, Internet: http://www.alphapublic.deVerkaufsleitung: Peter Asel

© Universität Stuttgart 2008 ISSN 1861-0269

Ulrich Engler

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Geleitwort des Rektors

Kultur- und Technik-Forschung ist eines der ausgewiesenen Kompetenzfelder imForschungsprofil der Universität Stuttgart.Die bewusste Orientierung auf zentraleZukunftsthemen kann immer nur in ge-meinsamer Anstrengung von ingenieur-,natur- und geisteswissenschaftlichen Dis-ziplinen an unserer Universität erfolgen.Deshalb hat die Universität Stuttgart ihreForschung in jüngster Zeit neu profiliert,um eine moderne und leistungsfähigeStruktur durch interdisziplinäre For-schungs- und Transferzentren sowie interfakultative Kollegs als Basis für neueFakultätsstrukturen zu schaffen.

Die Geistes- und Sozialwissenschaften kom-men durch diese horizontalen Strukturender Wissenschaftsorganisation strukturellnoch enger in Kontakt mit den übrigenFachkulturen als dies bisher schon der Fallwar. In einer technisch-naturwissenschaft-lich geprägten Forschungsuniversität er-wächst daraus eine besondere Verantwor-tung. Die Reflexion auf die kulturellenGrundlagen der Technik und die techni-schen Grundlagen der Kultur fördertnicht nur das gegenseitige Verständnis,sondern schärft auch den Blick für dieethischen Dimensionen in Technik undKultur.

Die Institution Universität verändert sichmit den Wandlungen der Wissenschaft.Der wissenschaftsgeschichtlichen Auf-wertung der Technik und der Ingenieur-wissenschaft im 19. Jahrhundert folgte mitgleicher Geschwindigkeit der institutio-nengeschichtliche Aufstieg der polytech-nischen Schulen zu forschenden techni-schen Hochschulen mit Promotionsrechtund dem Anspruch auf Gleichstellung mit den Universitäten. Die Wissenschafts-entwicklung erfordert zu allen Zeiten eineangepasste Struktur der Wissenschafts-einrichtungen.

Die sichtbar gewordene besondere Bedeu-tung der Geistes- und Sozialwissenschaftenfür das Verständnis und die Beurteilungtechnischer Innovationen hat die Univer-sität Stuttgart durch die Gründung desInternationalen Zentrums für Kultur- undTechnikforschung (IZKT) aufgegriffen undumgesetzt. Die Reflexion auf das Verhält-nis zur Technik erschöpft sicherlich nichtdie Rolle der Geistes- und Sozialwissen-schaften, aber sie ist ihnen auch nichtäußerlich oder vorgegeben.

Es war daher naheliegend, in unserem T H E -M E N H E F T F O R S C H U N G einige dermodernen transdisziplinären Aspekte deszugegebenermaßen weitgesteckten The-mas „Kultur und Technik“ zumindest inAnsätzen vorzustellen.

Die wissenschaftlichen Koordinatoren desHeftes haben es geschafft, hierzu ein span-nendes und lesenswertes Kompendium fürdie öffentliche Darstellung der kulturellenFaktoren in der Technik und der tech-nischen Bedingungen der Kultur vorzu-legen. Allen Autoren dieses Themenheftesmöchte ich meine Anerkennung ausspre-chen für ihren Beitrag zur Daueraufgabedes „Public Understanding of Science“.Besonderer Dank gilt jedoch dem KollegenGeorg Maag, der nicht nur die wissen-schaftliche Koordination für dieses Heftübernommen hat, sondern auch maß-geblich die Einrichtung des Internationa-len Zentrums für Kultur- und Technik-forschung an der Universität Stuttgart mit vorangetrieben hat. •

Prof. Dr.-Ing. Wolfram Ressel

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Vor diesem Hintergrund ist es evident, dass technische In-novationen nicht nur unser Alltagsleben, sondern auchunsere Kultur und unser Denken verändern und zugleichunser Umgang mit der Technik kulturell geprägt bleibt.Technik ist nicht einfach der Gegenbegriff von Kultur,sondern selbst Ausdruck der jeweiligen Kultur. Weit mehrals nur ein Mittel für bestimmte Zwecke zu sein, machtTechnik sichtbar, lesbar, erfahrbar, eröffnet kulturelleHorizonte. Als Medium unserer Welterschließung geht siedaher nicht in ihrer apparathaften Gegebenheit auf. Sieverändert kulturelle Konfigurationen und ist Bestandteilsozio-kultureller Aneignung. Während jedoch in unseremAlltag Kultur und Technik untrennbar verwoben sind,spezialisieren sich die Wissenschaften, die über diese Ge-genstände forschen, immer weiter aus. Dies führt zu derparadoxen Situation, dass wir einerseits die Verwebung er-leben, diese andererseits aber durch die disziplinäre Auf-teilung der Forschung meist nicht oder doch ungenügendthematisieren.

Als Charles Percy Snow die These entwickelte, die „zwei Kul-turen“ von Geisteswissenschaften einerseits und Technik-und Naturwissenschaften andererseits würden durch

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Zur Einleitung„Es ist ein entscheidender Unterschied, ob

wir das Gegebene als das Unausweichliche

hinzunehmen haben oder ob wir es als

den Kern von Evidenz im Spielraum der

unendlichen Möglichkeit wiederfinden und

in freier Einwilligung anerkennen können.“1

Mit dieser Formel brachte der Philosoph

Hans Blumenberg in einem 1956 gehalte-

nen Vortrag auf den Punkt, worin des We-

sen des modernen Menschen besteht:

In unserer Arbeit denken wir als moderne

Menschen den Ist-Zustand stets nur als

Ausgangsbasis neuer Möglichkeiten. Dieser

Blick auf die Welt verbindet jene, die an

technischen Innovationen arbeiten, mit den

Geisteswissenschaftlern, die Möglichkeits-

räume anderer Art erkunden. Die Ergebnis-

se dieser Arbeit stellen dann jenen neuen

Ist-Zustand her, der wiederum einen Aus-

gangspunkt für weitere Innovationen bildet.

Überbrückte Kontinente © Max Ackermann, 1954. Mit freundlicher Genehmigung: Max Ackermann Archiv, Bietigheim-Bissingen

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einen immer tiefer werdenden Grabengetrennt, war zugleich ein Projekt formu-liert: Das Projekt des Brückenbaus. DiesenBrückenbau hat die Universität Stuttgartin zahlreichen Initiativen, nicht zuletztmit der Gründung des Internationalen

Zentrums für Kultur- und Technikfor-schung zu leisten versucht.

Die Metapher des Brückenbaus beinhaltetbezeichnenderweise jene Verflechtung vonKultur und Technik, die wir in diesemT H E M E N H E F T F O R S C H U N G zumGegenstand gemacht haben. „Brücken-bau“ im weitesten Sinne ist das Projekt derModerne. Der Mensch des Mittelaltersblickt in den Abgrund hinab oder wendetseinen Blick in die entgegen gesetzte Rich-tung, nach oben, in die Höhen der un-erreichbaren Transzendenz. Der moderneMensch sieht den Abgrund und entwirftvor dem geistigen Auge bereits die Brücke.Paul Valéry hat in diesem Zusammenhangeinmal Blaise Pascal und Leonardo da Vinciverglichen: Der Künstleringenieur daVinci wird dabei zum Paradigma einenmodernen Verhältnisses zu Welt. DiesesVerhältnis ist technisch – aber eben auchkünstlerisch.

Künstlerisch wird dieses Verhältnis, indem essich vom Paradigma der „Nachahmungder Natur“, der Mimesis, löst. Der antikeKünstler wurde verstanden als ein Meisterder Nachahmung; er zeigt, wie die Naturselbst es macht. Der Mensch der Renais-

sance sieht sich zum ersten Mal als Schöp-fer neuer Welten, als „anderer Gott“ (alterdeus), der wirklich Neues erschaffen kann.Erst diese Loslösung vom Paradigma derNachahmung macht die unglaublichenErfolge moderner Wissenschaft und Tech-nik möglich. Das augenfälligste Beispielhierfür ist die Flugzeugtechnik, die schei-tern musste, so lange man den Vogelflugzu imitieren versuchte. Der Unterschiedzwischen dem Flugexperimentator Lilien-thal und dem Flugzeugerfinder Wright be-steht eben darin: Erst als man sich von deralten Traumvorstellung der Nachahmungdes Vogelflugs löste und den in der Naturnicht vorkommenden Propeller zu benut-zen wagte, war der Durchbruch möglich.

Dieses von Hans Blumenberg in der genann-ten Arbeit angeführte Beispiel zeigt, wiewirksam kulturelle Prägungen für dietechnisch-wissenschaftliche Arbeit sind.Doch auch die entgegensetze Wirkungs-

1 Hans Blumenberg, Nachahmung derNatur. Zur Vorgeschichte der Ideedes schöpferischen Menschen, in: Studium Generale 10 (1957),S. 283

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Beide Universalgelehrte und Erfindervon Maschinen stehen für unterschied-liche Weltbilder, die den Umgang mitTechnik prägen. Während LeonardosBlick auf die Natur von den „Freudender Konstruktion“ (P. Valéry) getra-gen wird, Erkenntnis wie Kunst glei-chermaßen umfassend, sieht PascalsFrömmigkeit vor allem in den Abgrundder Natur.

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kette lässt sich problemlos nachweisen.Technische Artefakte sind nicht nur Ins-trumente, die wir beliebig benutzen kön-nen, ohne uns von ihnen in unserem

Denken und Handeln beeinflussen zu las-sen. Wie sehr sich durch die moderne me-dizinische Diagnosetechnik unser Körper-gefühl geändert hat, kann man nur durchVergleiche mit jenen Kulturen ermessen,in denen nicht jeder Körper schon einmaldurch Ultraschall, Röntgen- oder garKernspintomographen zum transparentenObjekt gemacht wurde. Der orthorekti-sche Bürger der technischen Gesellschaftsieht keine Äpfel mehr, sondern Vitaminemit Ballaststoffen.

Man muss den Begriff der „Kultur“ jedochnicht im Alltagsleben aufgehen lassen, willman die Tiefendimension dieses Wechsel-verhältnisses in den Blick bekommen.Auch und gerade die Hochkultur hatteund hat eine technische Seite, wird mög-lich durch Technik, verweist auf diese zu-rück, begleitet ihre Glorie und Tragik. Sietreibt Entwicklungen an, indem sie für un-möglich Gehaltenes zumindest denkbarmacht. Träume und Phantasien, Mythenund Utopien sind ein Movens technischerEntwicklungen. Wie im Falle von JulesVernes Mondfahrt muss das Denkbaredann noch machbar werden, um den lite-rarischen Traum Wirklichkeit werden zulassen.

Diese Bemerkungen sollen zeigen, dass sichdem Auseinanderklaffen der „zwei Kultu-ren“ dort entgegen arbeiten lässt, wo derMensch, in welcher der beiden Kulturenauch immer, kreativ ist. Denn gerade darinkann man die sowohl technische als auch

kulturelle Fähigkeit des Menschen sehen,der auf den Abgrund blickt – und dieBrücke sieht: Das Mögliche im Faktischenerkennen.

Das unüberschaubare Feld dieser Schnitt-mengen und Wechselwirkungen lässt sichin diesem Themenheft nicht umfassendabbilden. Allein das Spektrum dessen, wasunter Kultur zu verstehen ist, erscheintvielfältig. Es reicht von anthropologischorientierten Ansätzen, für die Kultur dieGesamtheit einer Lebensweise darstellt,über semiotisch-strukturalistische Kon-zepte, die Kultur in Analogie zur Spracheals ein spezifisches Zeichensystem oder als Text fassen, bis hin zu symbol- und me-dientheoretischen Positionen, wo Kulturals Gewebe von Bedeutungs- und Sinn-strukturen in ihrer welterschließendenPotenz thematisiert wird. PraxologischeZugänge schließlich wollen Kultur nichtso sehr als konsistentes Gebilde, sondernals Aushandlungsfeld von Akteuren ver-stehen. Angesichts dieser verwirrendenVielfalt verweist man gern darauf, dassbereits 1952 Kroeber und Kluckholm 160Definitionsversuche von Kultur zusam-mengestellt haben. Auf einen gesicherten,kanonisierten, gar klar definierten Gegen-standsbereich kann sich die Kulturwissen-schaft also nicht stützen. Sie kann es frei-lich aus ihr immanenten Gründen nicht.Erschwerend kommt hinzu, dass gegen-läufig zu den großen semantischen Be-wegungen der „Sattelzeit“, in der Kollek-tivsingulare wie z.B. „die“ Geschichte gebildet wurden, nicht nur von „der“ Kul-tur, sondern von Kulturen im Plural dieRede sein kann, auch als Ausdruck ver-

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Karl Wilhelm Otto Lilienthal (li.),ein Pionier der Flugzeugentwicklung,kam 1896 beim Absturz eines seinerFlugapparate ums Leben. Die Ge-brüder Wright (re.) verhalfen demMotorflug zum Durchbruch (1903).

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schiedener Lebensformen innerhalb einerGesellschaft. Ähnliches gilt für den Begriffder Technik. Er bezieht sich nicht alleinauf Werkzeuge, Geräte, Apparaturen,Technologien oder technische Großsys-teme, also auf das, was man „Realtechnik“nennt, sondern schließt die Bedeutungvon Intellektual- und Sozialtechnik ein(ausführlich hierzu der Beitrag vonChristoph Hubig). Der Technikbegriffbündelt Artefakte, soziale Regulative undkulturelle Dispositive.

Das vorliegende Themenheft muss sich mit-hin auf einen Ausschnitt konzentrieren,der freilich nicht nur für die Forschungs-felder der Universität Stuttgart, sondernzugleich für drei Forschungstrends derGegenwart repräsentativ ist:

1. die Erforschung des kulturell geprägtenUmgangs mit Technik,

2. die Hinwendung zu neuen Modellen desVerhältnisses von Natur und Technik,

3. die Zusammenführung von Kultur- undTechnikforschung in der Bildwissenschaft.

• Unser Umgang mit Technik, ihreErfindung, Nutzung, Umnutzung,Akzeptanz und Bewertung ist eingelassenin Deutungs- und Interpretationsprozesse,die selbst zum Gegenstand einerZusammenführung von Kultur- undTechnikforschung geworden sind. Dassdieses Unternehmen einer begrifflichenSelbstreflexion bedarf, zeigt der Beitragvon Christoph Hubig. Gerade der Ballast tra-ditioneller Kultur- und Technikdeutun-gen vermag die neuen Verflechtungen vonkultureller und technischer Produktionnicht mehr angemessen zu erfassen. Mitden Methoden der empirischen Sozialfor-schung geht Ortwin Renn der Frage nach,woran es liegt, dass manche Gesellschaftenoder bestimmte soziale Gruppen gewisseTechniken selbstverständlich hinnehmenund andere diese ablehnen. Einem ande-ren Aspekt der kulturellen Prägung unse-res Umgangs mit Technik widmet sich dieInformatikerin Elisabeth André am Beispielder in Computerspielen agierenden „vir-tuellen Charaktere“. Neuere Forschungs-projekte beschäftigen sich mit der techni-schen Modellierung kulturellen Ver-haltens solch „imaginärer“ Figuren.

• Wurde die moderne Technik bis vor eini-ger Zeit vor allem in ihrer Differenz zurNatur gesehen, hat sich mit der Ent-stehung der Bionik die Perspektive mitt-lerweile dezidiert umgekehrt: Die

Natur gilt nunmehr als eine bis heuteunerreichte „Hochtechnologie“ und alsVorbild für technische Innovationen. DieZurücknahme des Paradigmas der„Naturbeherrschung“ zugunsten einererneuten Orientierung an der Natur istfreilich keine bloße Wiederkehr eines vor-modernen Naturverhältnisses. Das Lernenvon der Natur, um zu einer systemerhal-tenden, die Zukunftsprobleme derMenschheit lösenden Vernetzung vonMensch, Umwelt und Technik beizutra-gen, für das sich der Pionier der Bionik inDeutschland, Werner Nachtigall, nachdrück-lich einsetzt, bedeutet nicht Verzicht aufdie eigenständige und kreative Ingenieurs-tätigkeit. Denn, so Nachtigall, „die Naturliefert keine Blaupausen. Abstrahierenund technisch angemessen umsetzenkann man nur Naturprinzipien“, und zwarKonstruktions-, Verfahrens- und Entwick-lungsprinzipen der Natur, die man um sobesser versteht, wenn zwischen den bio-logischen und technischen Disziplinen einwechselseitiger Wissenstransfer erfolgt.

Einen Schritt weiter geht die unter Leitungvon Gerd de Bruyn entwickelte Baubotanik,insofern sie ein Interaktionsverhältnis zwi-schen natürlichem Wachstum und tech-nischem Eingriff initiiert. Die gewohnteTrennung zwischen autonomen Prozessender Natur und den technisch hergestelltenArtefakten wird zugunsten der Symbioseeines „lebenden Hauses“ aufgegeben. Vita-litäts- und Zeitaspekte spielen dann eineganz andere Rolle als in der sich an Funk-tionalität, Tektonik und Stabilität orientie-renden Architektur. Auch dieses Beispielzeigt ein verändertes Verhältnis von Tech-nik, Kultur und Natur an, dessen Kon-sequenzen noch gar nicht absehbar sind.

Ganz anders stellt sich die Frage nach derZukunft des Bauens, Wohnens und derStadtentwicklung, wenn man, wie EckhartRibbeck, den Blick auf die enormen tech-nischen, sozialen, kulturellen, aber auchökologischen Herausforderungen lenkt,die den boomenden Städtebau in Chinabegleiten.

• Eine der spannendsten Zusammenführun-gen von Kultur- und Technikforschungvollzieht sich gegenwärtig im Anschlussan den sogenannten pictorial oder visualturn der Kulturwissenschaften. Nichtmehr Sprache, Text und diskursive Verfah-ren des Wissens werden als das privilegier-te Zentrum kulturwissenschaftlicherArbeit erachtet, vielmehr geraten Bilder,

Abbildung Lilienthal © 30045539ullstein bild – The Granger Collection;Abbildung Wright © 00779768ullstein bild – Haeckel-Archiv

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Bildverfahren und Visualisierungsstrate-gien in den Fokus der Aufmerksamkeit. In unserer zunehmend und durch die mo-dernen Informations- und Kommunika-tionstechnologien auf dramatisch neuarti-ge Weise visuell geprägten Lebensweltstellt sich in der Tat die Frage, welche Rol-le Bilder spielen, welcher „Logik“ sie fol-gen und welche Wirkungen sie zeitigen.Dass die gemeinhin angenommene Funk-tion technisch generierter Bilder darin be-stünde, neutral und unbestechlich etwaszu bezeugen, wird schon am Beispiel derFotografie fraglich, wie Ulrich Keller inseinem Beitrag über die visuelle Kultur desKrimkriegs aufzeigt. Aber auch die Flutvon Visualisierungsstrategien, mit denendie Naturwissenschaften in letzter Zeitbegonnen haben, das Unsichtbare sichtbarzu machen, werfen die Frage auf, wovonvirtuelle Bilder eigentlich Bilder sind undwas wir auf ihnen zu sehen bekommen.Der Beitrag von Renate Brosch zeigt, welchweites und nur interdisziplinär zu bewälti-gendes Forschungsfeld – das der visualculture – sich mit diesen Fragen eröffnet.

Mit der Entdeckung des Bildlichen sind Neu-konzeptionen in den Geistes- und Kultur-wissenschaften verbunden, so auch in derGeschichtswissenschaft. Als visual history,als deren bedeutender Vertreter Ulrich Kel-ler hier zu Wort kommt, erforscht sie nichtnur die Wissens- und Handlungspotenzenvon Bildern, sondern vermittelt auch jeneanalytische Kompetenz, die uns vor demoftmals befürchteten Untergang in der„Bilderflut“ bewahren hilft. Abschließendzeigt der Historiker Klaus Hentschel am Bei-spiel der Entdeckung der Balmer-Formel,wie anschauliches, auf visuellen Struktu-ren basierendes Denken zu wissenschaft-

lichen Innovationen führen kann. Wissen-schaftliche Entdeckungen und technischeErfindungen unterliegen eben anderen als nur naturwissenschaftlichen und ökonomischen Bedingungen, sie zehrengleichermaßen von unserem kulturellen Gedächtnis. • Georg Maag

Prof. Dr. Georg Maag

Jahrgang 1953, wurde 1994 zum Professor für italienische Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgartberufen. Er ist Mitbegründer der Zeitschrift „Horizonte. Italianistische Zeitschrift für Kulturwissenschaft undGegenwartsliteratur“, die er seit 1996 zusammen mit Franca Janowski herausgibt. Seit dem Wintersemester2002 leitet er als geschäftsführender Direktor das Internationale Zentrum für Kultur- und Technikforschung(IZKT) der Universität Stuttgart.

KontaktUniversität Stuttgart, Internationales Zentrum für Kultur- und TechnikforschungGeschwister-Scholl-Str. 24, 70174 StuttgartTel.: 0711/685-82589, Fax: 0711/685-82813E-mail: [email protected], Internet: www.izkt.de

DER AUTOR

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1. Probleme

Läge es da nicht vielleicht nahe, von denIdeologien und strategischen Interessenabzusehen und sich einfach den Gegen-ständen, Vorkommnissen und Vollzügenzuzuwenden, die wir doch unschwer als„technisch“ oder „kulturell“ klassifizieren?Goethes „Faust“ gehört zur Kultur, einTelegrafenmast oder ein Glasfaserkabel

zur Technik. Die Farbgestaltung samt ihrerSymbolik in einem gotischen Kirchenfens-ter ist etwas Kulturelles, die Fundamentie-rung der Kathedrale etwas Technisches.Warum wird aber die Völklinger Hütte, dasstillgelegte imposante Stahlwerk aus dem19. Jahrhundert, als Industriedenkmal in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenom-

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Kultur oder Technik?Über das Technische in der Kul turund das Kul ture l le in der Technik

Die Begriffe „Kultur“ und „Technik“ stehen seit 250

Jahren im Brennpunkt philosophischer, sozialer und

politischer Auseinandersetzungen. Dieses Schicksal

teilen sie mit anderen Leitbegriffen der Moderne wie

„Freiheit“, „Sozialismus“, „Arbeit“, „Leistung“. Unschwer

ist zu erkennen, dass solche Begriffe nicht einfach

irgendwelche Dinge, Klassen, Sachverhalte oder Sach-

lagen bezeichnen, sondern hier Vorentscheidungen und

Strategien zum Ausdruck kommen, wie bestimmte Gegen-

standsbereiche jeweils überhaupt adäquat zu erfassen sind.

Jene Begriffe haben dann den Status von Kategorien, die die Art

und Weise des weiteren Urteilens über bestimmte Sachverhalte – in

technischer Terminologie oder kulturwissenschaftlicher Begrifflichkeit

– festlegen. So monierte beispielsweise der kulturpessimistische

Sozialphilosoph Hans Freyer, dass Begriffe wie „Schalten“, „Einstel-

lung“, „Leerlauf“, „Friktion“, „ankurbeln“, „energiegeladen“ etc. lebens-

weltliche Zustände und Verhältnisse von vornherein als technisch

modellierte Sachverhalte zu erfassen suchen. Darüber hinaus ist

dem Sprachgebrauch von „Kultur“ und „Technik“ zu entnehmen,

dass die Begriffe als „Leitbegriffe“ bzw. ihr Verhältnis als „Leitdiffe-

renz“ in orientierender oder politisch-kämpferischer Absicht ein-

gesetzt werden. Damit erlangen diese Begriffe den Status von Ideen

als Orientierungsgrößen mit dem Anspruch ihrer Einlösung im Er-

kennen und Handeln.

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PH I LOSOPH I E 15

men? Gehört Technik erst dann, wenn sieden Nutzungszusammenhängen entzogenist, zur Kultur? Was bedeutet es, dass vordem Deutschen Museum in Bonn derTransrapid als Denkmal verewigt ist (bzw.war), bevor das Scheitern seines Einsatzesin Deutschland feststand? Und – seltsameIronie – war dieses Scheitern nicht aucheinem kulturellen Konflikt geschuldetzwischen den Verfechtern des Transrapidals (Fern- oder Regional-) Verkehrsmitteloder Schaufensterobjekt für den Exportund Statussymbol technischer Kompe-tenz? Ist die Entwicklung und Verbreitungder PCs ein technischer Trend oder eineKulturerscheinung? Gehören der Motoreines Automobils zur Technik, das Karos-seriedesign zur Kultur? Waren die ersteHerztransplantation oder der Mondflugein technisches oder ein kulturelles„Event“ oder beides?

Man mag sich leicht aus der Affäre ziehen,indem man ein „enges“ Technikkonzeptverficht: Technik wird als „Real- oderMaterialtechnik“ einschließlich derHandlungsweisen ihrer Entwicklung, Pro-duktion, Distribution, Nutzung und Ent-sorgung verstanden. Wie wäre aber einesolche Technik denkbar ohne die „Intel-lektualtechniken“ des Operierens mitZahlen, Schrift, Diagrammen, Modellenund Entwürfen zum Zwecke des Planens,Kalkulierens, der Chancen- und Risiko-abschätzung als Umgang mit über Zeichenvermittelten Vorstellungen? Und wie wärediese Realtechnik realisierbar ohne eine„Sozialtechnik“, die Strategien der Ko-ordination von Interessen und der Koordi-nation notwendiger Arbeitsteilung entwi-ckelt? Gehören dann letztere zu einer wieimmer gefassten Kultur, wo sie doch spezi-fisch menschliche „Technik“ allererst zueiner solchen machen (im Unterschiedzum Werkzeugeinsatz in rein instrumen-tellen Vollzügen, wie wir sie bei höherentierischen Spezies antreffen)? Und sind sienicht ihrerseits auf realtechnische Funda-mente angewiesen, weil die Verarbeitungvon Zeichen eines materialen Trägersbedarf, von den antiken Rechensteinen biszu unseren Höchstleistungsrechenzent-ren, von den Schriftarten/Notationssyste-men bis hin zu den visuellen Darstellungs-techniken, von den Kommunikationsmedienbis zu den baulichen, energie- und ver-kehrstechnischen Infrastrukturen, dienicht nur Instrumente sozialer und poli-tischer Organisation sind, sondern selbst

wertbehaftete Bedingun-gen ihrer Herausbildungund ihres Verfalls? Solltedann Technik allenfalls aufden Bereich von Fertig-keiten und Know-howfestgelegt werden, etwa indem Sinne, dass die Kunstdes Pianisten Pollini, wasdie souveräne Beherr-schung der Spielweisen be-trifft, in einen technischenTeil zerfiele neben demkulturellen Anspruch, derin der von ihm vorgenom-menen Deutung der Werkeliegt? (Mauricio Pollini hat aber eben auch eineandere „Technik“ als Al-fred Brendel.) Wie man es auch wendet: UnsereIntuitionen, sofern wir siean Gegenstandsbezügenfestmachen, erbringenkein klares Bild bezüglichder Verortung von Tech-nik und Kultur sowie ihres Verhältnisses unter-einander.

Welche Optionen eines wei-teren Nachdenkens stehenhier offen? Wenn nicht inpolitisch-ideologischer Par-teinahme bestimmte Kon-zepte gegen andere ins Fel-de geführt werden sollen,bleibt die Aufgabe, mitBlick auf die abenteuer-liche Problemgeschichte des Begriffspaares„Kultur“ und „Technik“ Gründe für dieseEntwicklung freizulegen, die Interessen-lagen zu rekonstruieren, unter denen inpolemischer Absicht Vereinseitigungenund Abgrenzungen vorgenommen wur-den und auf dieser Basis verdrängte odervergessene Aspekte der Problemlage zuerhellen, die dann in ihrer Gesamtheiteinen neu eröffneten Raum der Orientie-rung ausmachen. Solcherlei vorzunehmenist die vornehmste Aufgabe der Geistes-wissenschaften, die von Wilhelm Dilthey,einem ihrer Begründer und Theoretikerim 19. Jahrhundert, beschrieben wurde als„Wiedererschließung von Möglichkeiten,die in der Determination des realen Lebensverloren gegangen sind“. Es ist, weitergefasst, die Aufgabe einer Reflexion, diezwar, wie manche meinen, zu spät zu

Der Beitrag untersucht die Begriffe „Kultur“ und „Technik“, die seit 250 Jahren als Leitbegriffe der Mo-derne im Brennpunkt philosophischer, sozialer und po-litischer Auseinandersetzungen stehen. Die verschiedenenKonzepte von Kultur und Technik, die zunächst auchunseren Intuitionen Folge zu leisten scheinen, erweisensich jedoch bei näherem Hinsehen als problematisch –unsere Intuitionen erbringen letztlich kein klares Bildbezüglich der Verortung von Kultur und Technik sowieihres Verhältnisses zueinander. Die Reflexion auf dieProblemgeschichte des Begriffspaares hilft dagegen, ver-drängte oder vergessene Aspekte wieder zu erhellen undverlorengegangene Möglichkeiten wieder zu erschließen.In dieser Absicht wird zunächst die mittlerweile klas-sische Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation,sowie der sich in diesem Spannungsfeld befindendeBegriff der Bildung in den Blick genommen. Als „Tra-gödie der Kultur“ gilt manchen das Angewiesensein derKultur auf die Technik, da sich der Mensch damit einer„Sachgesetzlichkeit“ der Mittel unterwerfe, sich also inUnfreiheit begebe. Dieses Angewiesensein auf die Tech-nik lässt sich jedoch auch positiv wenden im Sinne derAnerkennung einer Orientierungsfunktion der Kultur fürdie Technik einerseits und einer Realisierungsfunktion derTechnik für die Kultur andererseits: Kultur ohne Technikist leer, Technik ohne Kultur ist blind. Kultur kann nunzur Klärung ihrer orientierenden Kraft der Charaktereines Textes zugeschrieben werden. Sie kann so als einGefüge von materialtechnischen, intellektualtechnischenund sozialtechnischen Komponenten und als Träger vonorientierenden Ansprüchen verstanden werden. Es wäredann die Frage nach dem Verhältnis dieser Elemente,nach der Struktur dieses Gefüges zu stellen. Hier wirdder Vorschlag gemacht, Kultur als Inbegriff von alsbewährt erachteten und tradierten Handlungsschemataaufzufassen, womit dann auch ersichtlich wird, warumgegenstandsbezogene Unterscheidungen zwischen Technikund Kultur scheitern.

ZUSAM M ENFASSUNG

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kommen scheint, weil sie das Vorfindliche„bloß“ nachvollzieht, aber gerade durchdiesen Nachvollzug insofern zukunftswei-send ist, als sie, indem sie bestimmte Pro-zesse dem Verstehen wieder zugänglichmacht, neue Voraussetzungen bereit hält,mit diesen Prozessen umzugehen.

Ihr Wert liegt darin, dass die eigentlichenSubjekte einer Programmatik (welcheeben gerade nicht die Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftler sind) in die Lageversetzt werden, mit tieferer Einsicht undhöheren Freiheitsgraden ihr Verhältnis zudem, was sie als Technik und/oder als Kul-tur erachten, zu bestimmen. Wenn dabeiselbstverständlich wieder soziale und po-litische Strategien eine Rolle spielen, sohaben sie freilich eine neue Qualität: Siekönnen sich nicht mehr in gewohnterWeise auf Selbstverständlichkeiten oderangebliche Traditionen berufen, sondernsind in neuer Offenheit einer Kritik aus-setzbar, die erlaubt, das Nachdenken überdas Verhältnis von Technik und Kultur so zu dynamisieren, wie es die Entwicklun-gen in ihrem Gegenstandsbereich erfor-dern.

2. „Kultur“ versus „Civilisation“

Die Geschichte der meist kämpferisch ge-führten Debatten um das Verhältnis vonTechnik und Kultur ist inzwischen weit-gehend erschlossen. Sie zeigt freilich, dassdie einschlägigen Debatten unter wech-selnden Leitbegriffen geführt wurden. Pro-minentester Status kommt sicherlich der

Abgrenzung von Kultur gegenüber (blo-ßer) Zivilisation zu, die sich im Umkreisdes Ersten Weltkrieges zu einem Streitzweier Geisteshaltungen, „deutscher“ oder„französischer“, zuspitzte und ihren weite-ren Niederschlag fand in der vor allemvon deutschen Denkern getragenen kul-turpessimistischen Deutung der Technikim Unterschied zur optimistisch-französi-schen. Ihr letztes Aufbäumen fand sie imdeutschen Kompendium des Halbwissens,Dietrich Schwanitz’ Werk „Bildung – alleswas man wissen muss“, welches den Bil-dungsstoff als „Marschgepäck“ bereitstellt,damit man „bei der Konversation mit kul-tivierten Leuten mithalten“ und sich „inder Welt der Bücher bewegen“ kann. Dortheißt es weiter: „So bedauerlich es erschei-nen mag: naturwissenschaftliche Kennt-nisse müssen zwar nicht versteckt werden,aber zur Bildung gehören sie nicht.“ Es istdiese heruntergekommene Auffassung vonBildung als Träger einer Kultur und vonKultur als Träger „wahrer Humanität“, diebereits Mitte des 18. Jahrhunderts inFrankreich bei den Aufklärern die Anti-these „Civilisation“ auf den Plan rief. Ge-gen die Salonkultur des Grand siècle unddas Kulturideal der galanten Lebemännermachten die Aufklärer die „Arbeit desMenschen und ihre Anwendung auf dieErzeugnisse der Natur“ geltend, wobei „diefreien Künste, in ihrer Kraft erschöpft, denRest ihrer Stimme dazu verwenden kön-nen, die mechanischen Künste zu preisen“(d’Alembert/Diderot, Enzyklopädie 1751).Ähnlich Jean-Jacques Rousseau oder derGraf Gabriel de Mirabeau, die in ihrenSchriften der „kulturellen“ Entwicklunganlasten, dass der Mensch, seiner natür-lichen Tugenden verlustig, zu Luxus undEntfremdung geführt worden sei, wo-gegen eine Reform der Sitten auf der Basisvon technischem und wirtschaftlichemFortschritt zu vollziehen sei, so der Mar-quis Antoine de Condorcet. Diese optimis-tische Idee der „Civilisation“ als Leitbildeines von technischen und wissenschaftli-chen Errungenschaften getragenen Fort-schritts hielt sich über die Revolution unddie Restaurationszeit durch bis zur Natio-nalisierung nach dem 1870er Krieg, in der„Civilisation“ als Gegenkonzept zur deut-schen „Kultur als Form der Barbarei“ stili-siert wurde.

Im Geiste der französischen geschichtsphilo-sophischen Lehre von einer gesetzmäßigenAbfolge von Zivilisationsstufen (Auguste

Die Büsten von Robert Mayer (1814–1878) und Friedrich Theodor Vischer( 1807–1887). Naturwissenschaftenund Geisteswissenschaften nebeneinan-der vor dem Eingang des StuttgarterPolytechnikums; in der zeichnerischenDarstellung sind sie durch die Hoch-schule miteinander verbunden.

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Comte) sehen maßgebliche Vertreter derfranzösischen Technikphilosophie die Zivi-lisation als Wesen der kulturellen Evolu-tion des Menschen an, als „hervorgebrachtNatürliches“, welches zwar gewisse Krisendurchlaufe, letztlich aber zu einer immerhöheren Kohärenz der technischen Syste-me führe, auf deren Basis der Mensch sei-ne Umweltbeziehungen gestalte und da-mit „Kultur in Übereinstimmung mit derWirklichkeit“ bringe (Gilbert Simondon).Menschliche Technik produziere keine„Gegennatur“, sondern habe einen „bio-morphen Charakter“ (Serge Moscovici).Im Zuge einer „wissenschaftlich begründe-ten Technik“ füge sich der Mensch alsAgens in seine kosmische Umwelt ein –Entfremdung ist allenfalls Resultat defizi-enter technischer Organisation, wohinge-gen der technischen Evolution eine „sou-veräne technische Moralität“ (JacquesEllul) zukomme unter der Idee der Perfek-tionierung, zu der wir immerfort gezwun-gen sind.

Genau dies ist aber nun der Ansatzpunkt derPropagierung eines alternativen Kultur-konzeptes, wie es sich vornehmlich inDeutschland auf der Basis einer andersakzentuierten Rousseau-Lektüre entwi-ckelt und schließlich zur These von der„Tragödie der Kultur“ geführt hat: Eben-falls unter Verweis auf Rousseau machteImmanuel Kant den Unterschied geltendzwischen bloßer Kultivierung und „Zivi-lisierung“ einerseits und einer Moralisie-rung, deren Idee zur Kultur gehöre, an-dererseits. Entsprechend bezog JohannGeorg Hamann „Kultur“ ausdrücklich aufdie Entwicklung von Philosophie und Lite-ratur, und Pestalozzi – um nur wenigeStimmen aus dem großen Chor zu nen-nen – sah deren Kraft „in der Vereinigungder Menschen als Individua […] durchRecht und Kunst“, während „die Kraft derkulturlosen Zivilisation“ die Menschennur „als Masse durch Gewalt“ vereinige.Dahinter steht die Vorstellung, dass derfreie Mensch als „Bildhauer an der Erde“(Johann G. Droysen) Werke schafft, derenWert als „Kulturwert“ darin liege, dass erhier seinen Geist „objektiviere“. Damit ist

allerdings die unausweichliche Tragödievorgezeichnet: Denn zu dieser „Objektiva-tion des Geistes“ ist der Mensch auf tech-nische Mittel verwiesen, die unter dem„Sachwert“ des Funktionierens stehen(Georg Simmel) und deren Sachcharakterzu einem „Zwangscharakter“ wird, derden Mechanismus der Zivilisation ausma-che. Die „Dialektik der Mittel“ läge in demProzess, dass ursprünglich frei eingesetzteMittel (etwa in einer Handwerkskultur)nun als Maschinen und Systeme den Men-schen unter ihre Funktionsmechanismenzwängen, sofern er den Betrieb aufrechterhalten will. Die Werke, die er schaffe,führten ihm vor, dass er nicht mehr ihr„unverstellt authentisches“ Subjekt sei.Vielmehr schlage sich in ihnen die „Sach-gesetzlichkeit“ der Mittel nieder undschreibe diese fort. Diese „Tragödie derKultur“, wie sie von Georg Simmel,Oswald Spengler, Hans Freyer, HannahArendt, Günther Anders u. a. beklagtwird, sei nur zu überwinden durch eineEmanzipation des geistigen Individuumsgegenüber seiner Technik, sei es im Modusder Askese, sei es im unmittelbarenKampf, wobei – Ironie der historischenKonstellation – die von manchen Kultur-pessimisten (Simmel, Spengler) beschwo-rene Rehabilitierung des Individuellengegenüber den technischen Systemen im„Kampf“ mit Blick auf den Ersten Welt-krieg eine Situation beschwor, die wiekaum eine andere doch durch die Machttechnischer Systeme geprägt war und dieim Namen „deutscher Kultur“ gegen„französische Zivilisation“ geführte Aus-einandersetzung als performative Wider-legung des deutschen Kulturansprucheserscheinen lässt. Bereits Ernst Cassirer er-hob den Einwand gegen dieses Kulturkon-zept und die damit verbundene These voneiner „Tragödie“ der Kultur, die sich in derTechnik entfremdet habe, indem er dieseAuffassung auf ein verengtes Bild des ver-einzelten Individuums zurückführte, wel-ches sich bei seiner Weltaneignung in derKrise sieht. In Wahrheit aber seien die(technisch realisierten) Werke nicht dasentfremdete Gegenüber eines Individuums(erst recht nicht der Menschheit als hoch-stilisiertem Gesamtindividuum), sondernMittel der Kommunikation und Inter-aktion, zu denen sich die Kosubjekte in einVerhältnis setzen und über ihre unter-schiedlichen Deutungen und Umgangs-weisen diese Werke dynamisieren und fort-

„Kultur ohne Technik ist leer,Technik ohne Kultur ist blind“.

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schreiben. Die Werke sind nicht Verlustemenschlicher Intentionalität, sondernAnsatzpunkte zu ihrer weiteren Entwick-lung. Dies mache eine Kultur aus, dienicht in einer Tragödie endet, sondern sich über ihre Krisen weiter entwickelt. Imintersubjektiven Austausch und der Aus-einandersetzung zwischen Subjekten wer-den „die festen Formen zu neuer Wirkungbefreit“. Damit ist ein Kulturkonzept vor-gezeichnet, das die technische Realisie-rung nicht als ihr entfremdetes Anderessieht, sondern als integralen Bestandteil zuihrer eigenen Fortschreibung. Es gilt wohl,um Immanuel Kant zu paraphrasieren:„Kultur ohne Technik ist leer, Technikohne Kultur ist blind“. Damit ist aber al-lenfalls die Problemwurzel benannt, aufder sich die polemische Auseinanderset-zung entfaltet hat.

3. „Kultur“ versus „Lebenswelt“

Hinter einem zweiten umstrittenen Begriffs-paar, demjenigen von „Kultur“ und

„Lebenswelt“, wird ein weitererAspekt ersichtlich, der die Rolle

der Technik im Verhältnis zurKultur thematisiert. Hier

wird die Technik der Kul-tursphäre zugerechnetund in ein Spannungsver-hältnis zur Lebenswelt ge-setzt. So finden sich aufder einen Seite Ansätze,

die angesichts der Notwen-digkeit einer Sicherung un-

serer lebensweltlichen Ver-hältnisse auf die Notwendigkeit

der Einrichtung von Institutionenverweisen, als „Umgießenhoher Gedanken in festeFormen“, woraus allererstHandlungsfreiheit resultiere,so der Kulturanthropologe

Arnold Gehlen. Im Rahmen der „Super-struktur Technik-Wissenschaft-Wirt-schaft“ könne allerdings deren Organisa-tion „sinnentleert“ werden; dem sei nurdurch Verzicht auf einschlägige Gratifika-tionen zu begegnen. Ähnlich argumen-tiert der Neukantianer Heinrich Rickert,wenn er hervorhebt, dass man das Leben„bis zu einem gewissen Grade ertöten“müsse, um zu „Gütern mit Eigenwertenzu kommen“, den „Kulturwerten“.

Kritisch hingegen rekonstruiert der Phäno-menologe Edmund Husserl diese Entwick-

lung als Verlustgeschichte, in der die„Selbstverständlichkeit“ der Lebenswelt ineine „Verständlichkeit“ transformiert wor-den sei im Zuge der Idealisierung unsererErkenntnisinhalte (von der Geometrisie-rung über die Arithmetisierung zur Alge-braisierung) sowie einer „Kausalisierung“als Verknüpfungsprinzip, welches unseremmethodischen Zugriff geschuldet sei – dieMethoden erscheinen ihm als die „erstenMaschinen“. Diese harte Formulierungmeint, dass erst ein Sinnverzicht (auf denEigensinn der lebensweltlichen Zusam-menhänge) Kräfte im Rahmen jener idea-lisierten Strukturen technisch verfügbarmache – hier also nicht eine „Tragödie derKultur“, sondern eine „Krisis der europäi-schen Wissenschaft“ (als Technik) vorliegt.

Im Unterschied zu dieser kulturkritischenHaltung, die auf der Folie einer ursprüng-lichen Lebenswelt argumentiert, verstehendie „Kulturalisten“ (Peter Janich, JürgenMittelstraß, Karl F. Gethmann, ArminGrunwald u. a.) die Herausbildung vonKulturen als Prozess einer Tradierung vonPraxen, die sich als regelmäßige, regelgelei-tete und personeninvariant aktualisierbareHandlungszusammenhänge bewährt ha-ben. Die Schritte ihres Aufbaus sind dabeidurch den unumkehrbaren technischenBedingungszusammenhang des Einsatzesjeweiliger Mittel geprägt; die Aufbaufolgeder Techniken ist die Basis für die Entwick-lung einer entsprechenden „Kulturhöhe“.Im Gegensatz zu einer eher kritischen Ein-schätzung des Ordnungscharakters vonKulturen finden wir hier eine Würdigungihrer Ordnungsleistung unter dem Idealder Zweckrationalität, einer begrüßens-werten „Entzauberung“ der Welt (MaxWeber), deren „stahlhartes“ Gefüge denunverzichtbaren Rahmen für planvollesHandeln abgibt. Einig sind die Positionenim Aufweis der Technik als notwendigerBedingung derartiger Kultur.

Über diese Funktionszuweisung an die Tech-nik hinaus kann dann der „Kultur“ im en-geren Sinne der Charakter eines „Textes“zugeschrieben werden, wobei man im„Text“ sowohl die allgemeine Wurzel von„tek-“ als Gefüge, Gewebe findet, wie sie inder mythischen Darstellung der Atheneaufscheint, die Materialien, Zeichen undSozialbeziehungen „zusammengewebt“habe, und in einem spezielleren Sinne von„Text“ als Träger von Bedeutungen spre-chen kann. So versteht Jürgen HabermasKultur als „Wissensvorrat für die Versor-

Entwurf einer Gedenkmünze an der Königl. Gewerbeschule,Vorläufer der Technischen Hochschule und heutigen Univer-

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sität Stuttgart

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gung mit Interpretationen“; der bereitserwähnte Ernst Cassirer fasst sie als In-begriff symbolischer Formen, unter denenwir unsere Weltbezüge ausdrücken unddamit erst bewusst und gestaltbar machen,und der Ethnologe Clifford Geertz siehtdie formale Gemeinsamkeit von Kulturendarin, dass sie „Systeme von Bedeutungenin symbolischer Form“ ausmachen, „mitHilfe derer Menschen Einstellungen zumLeben weiterentwickeln“. Versteht man indieser Weise Kulturen als Texte im engerenSinne, dann sind sie „Medien der Orientie-rung“ (Ernst Wolfgang Orth). Die Gefahreiner derartigen Spezifizierung von „Kul-tur“ i.e.S. liegt aber darin, dass Kulturgleichsam den Charakter einer (kommen-tierten) Landkarte enthält, die sich demBlick des neugierigen Lesers (oder Ethno-logen oder Geisteswissenschaftlers) er-schließt, der sich hier zu orientieren ver-mag oder auf dieser Basis eine Orientie-rungshilfe für andere entwickelt. War inder Konfrontation von Kultur und Zivili-sation die Kultur das Reservat der Werte(im Gegensatz zur Technik als Inbegriffder Mittel), so erscheint hier Kultur als dasReich der Deutungen (im Gegensatz zurrein funktional modellierten Technik).„Bildung“, als der kulturellen Sphäre zu-gehörig, wäre aber verkürzt, wenn man sieals bloßen Umgang mit Deutungen oderals Wissenstransfer über solche Deutungenund Interpretationen erachtete. Sich zubilden hängt, wie Georg Wilhelm FriedrichHegel unüberbietbar herausgearbeitet hat,damit zusammen, dass man etwas bildetund sich zu seinen Werken in ein Verhältnissetzt. Ferner: Texte sind nicht bloß Reser-voirs von Deutungen oder „Wissensvor-räte“, sondern Träger von Ansprüchen,was sich auch und gerade daran kund tut,dass sie in Kanons entsprechender Natio-nalkulturen versammelt sind und ver-bindliche Standards auszudrücken bean-spruchen, unter denen unser Leben zuorganisieren sei. Sie exemplifizieren Re-geln und werden eben deshalb auch zumZwecke der Erziehung eingesetzt. Sie stellen, wie Wilhelm Dilthey betont, nichtbloße Begrifflichkeiten und ihre Interpre-tationen vor, sondern „materiale Katego-rien“, was signalisiert, dass unser tatsäch-liches Handeln unter diesen Konzeptensein Selbstverständnis finden und sich anentsprechenden Schemata orientieren soll.Zu diesen Schemata gehören aber auchund gerade die materialen Verfasstheiten

des technischen Mitteleinsatzes und desWirtschaftens. Kultur ist also eher ein„Text“ im weiteren Sinne: Ein Gefüge vonmaterialtechnischen, intellektualtechni-schen (zeichenverarbeitenden) und sozial-technischen (normativen) Komponenten.Wie aber verhalten sich diese zueinander?

4. „Kultur“ versus „System“

Angesichts der heutigen Globalisierung, dieihre Wurzeln bereits in der frühen Neuzeithat und seit dieser Zeit durch ihren inne-ren Widerspruch einer globalisiertenWertschöpfung einerseits (was Ressour-cenausbeutung, Produktion und Kapital-verkehr betrifft) und dem Aufstellen undder Nutzung immer neuer Barrieren(Migration, Verfügung über Ressourcen,Zugang zum Weltmarkt als Anbieter etc.)andererseits geprägt ist, wird ein weiteresGegensatzpaar virulent, innerhalb dessenTechnik in ihrem Verhältnis zur Kulturverortet wird, nämlich dasjenige von„System“ und „Kultur“. Modelliert man„System“ als ein funktionales Gefüge vonElementen, das der Selbstfortschreibungund Selbsterhaltung dient, indem externeStörungen vom System so verarbeitetwerden, dass die funktionalen Zusammen-hänge stabil bleiben, so kann man mitNiklas Luhmann Systeme als „operativ ge-schlossen“ und „selbstreferenziell“ charak-terisieren: Systeme wie Wirtschaft, Recht,Wissenschaft, Politik, Religion etc. stehenunter jeweils spezifischen Regeln/Codes,unter denen sie sich fortschreiben und un-ter denen die jeweiligen „Irritationen“durch andere Systeme erfasst und weiterverarbeitet werden. Nur sofern eine Erfas-sung dieser Irritationen unter dem eige-nen Code möglich ist, sind diese Irritatio-nen als Störungen identifizierbar (z. B.rechtliche Irritationen des Wirtschaftssys-tems nach Maßgabe ihrer Monetarisier-barkeit). Insofern erfahren Systeme ihrenUmweltkontakt immer nur als „Selbst-kontakt“; nach Maßgabe ihres Codes legensie die Grenze zu ihrer jeweiligen Umweltallererst fest. Innerhalb dieser Systeme, die in ihrer Gesamtheit „Gesellschaft“ aus-machen, spielt Technik eine zentrale Rol-le: Sie ermöglicht Routinen als „festeKopplungen“, als „Kontingenzmanage-ment“ der auftretenden Systemereignisse.Sie programmiert die Abläufe innerhalbder Systeme so, dass Antizipation vonEffekten, Planbarkeit, Verlässlichkeit, Ab-

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sicherung, Kompensation bei Schäden undFortsetzbarkeit des Agierens gewährleistetsind. Technik als Stabilitätsgarant inner-halb der Systeme bildet mithin kein eigenes System. Dieses Technikkonzept ist nicht auf Material-/Realtechnik be-schränkt, sondern umfasst neben ihr auchdie Intellektual- und Sozialtechniken.

Im interkulturellen Kontakt nun erfahrendie Systeme die fremde „Kultur“ als„Einspruch“ (Dirk Baecker). Sie werdenherausgefordert durch andere Kulturenals Außer-Ordnungshaftes, und zwar da-durch, dass sie in bestimmten Situationennicht in der Lage sind, einen „funktiona-len Anschluss“ des „Einspruches“ an ihreigenes Regelsystem herzustellen. Nichteine bestimmte Andersheit (Alterität), dieimmer noch unter einer Vergleichsinstanzals Unterschiedlichkeit verstehbar ist, liegthier vor, sondern eine Fremdheit (Alieni-tät), weil der eigene Code, der ja funk-tional maßgeblich ist, nicht einen „An-schluss“, eine Übersetzbarkeit herzustellenvermag, die ja auch Voraussetzung selbsteiner Abgrenzung wäre. Versteht man„Verstehen“ als Herstellung eines derarti-gen funktionalen Anschlusses, wie siesonst unter Systemen möglich ist (etwa,um auf das obige Beispiel zurückzukom-men, die Wahrnehmung einer juristischenSanktion durch ein ökonomisches Systemals ökonomische Einbuße qua Strafzah-lung, Marktbeschränkung, Reduktion desGewinns durch Ansehungsverlust etc.), soliegt jetzt „Nicht-Verstehen“ vor. JeanBaudrillard hat dieses Phänomen geltendgemacht zur Erklärung der Unfähigkeitder tauschfixierten westlichen Gesell-schaft, das Engagement islamischer Fun-damentalisten im Heiligen Krieg zu ver-arbeiten. Andere verweisen auf ein Nicht-Verstehen des chinesischen Wertes der„Harmonie“ als Verhältnis von in Netzenorganisierten Rollen, die nicht nach unse-rer Lesart von Individuen wahrgenommenwerden, sondern die Individualität dieserSubjekte charakterisieren. In solchen kul-turellen „Einsprüchen“ realisiere sich fürdie technisch stabilisierten Systeme dieneue Erfahrung, dass sie selber Umweltder Systeme sind, die sie zu verstehen su-chen, also dass „Umwelt“ nicht einzig inRelation zu ihnen festgelegt ist. Damiterfahren sich die Systeme selbst als kontin-gent. Das Kulturelle, so Niklas Luhmann,

bestehe eben gerade darin, dass Systemesich und andere Systeme als kontingentbeobachten.

Zugleich machen die Systeme aber auch indiesem Kontext eine gegenläufige Erfah-rung: Jenseits dieser Beobachtung einerNeuformierung des Verhältnisses von Sys-tem und Umwelt ist zu diagnostizieren,dass bestimmte Subsysteme dieser Systemezu Subsystemen der anderen Kulturen indeutlicher „Resonanz“ stehen. Das betrifftdie Erfüllung partikulärer funktionalerErfordernisse wie etwa hinreichendeVersorgung mit Grundnahrungsmittelnund Wasser, Kampf gegen soziale Unter-drückung, Erstellung einer hinreichendenInfrastruktur des Verkehrs und der Kom-munikation, Nutzung von Techniken derInformationsverarbeitung u.v.a. mehr,kurz: technisch durchstrukturierte Teil-systeme, die multifunktional orientiertsind und das basale Fundament der elabo-rierteren unterschiedlichen Systeme ab-geben. (Darauf insistiert auch der Wirt-schaftsnobelpreisträger Amartya Sen.)Hieraus lässt sich erklären, warum trotzdifferierender kultureller Ordnungssyste-me eine gewisse technische und ökono-mische Homogenisierung festzustellen ist,in der Teilsysteme der unterschiedlichenKulturen bestens zu kooperieren scheinen.Dies gilt freilich nur so lange, wie derFunktionszusammenhang nicht gestörtist. Spätestens im Krisenmanagement undin der Wahl von Strategien, mit Störungenumzugehen, also bei gestörter „Reso-nanz“, greifen die alternativen übergeord-neten systemischen Strategien. Aus dieserPerspektive erscheint Technik einerseits alsinterkulturelles Phänomen der Stabilisierungvon Teilsystemen, andererseits als etwas,das den transkulturellen „Einsprüchen“der Kulturen gegeneinander nichts entge-genzusetzen hätte.

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„Technik ist nicht bloßInbegriff der Mittel,

sondern künstliches Medium derErmöglichung von

Zwecksetzungen und ihrerRealisierung.“

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Damit deutet sich eine neue Perspektive zurUnterscheidung von Technik (als „Kontin-genzmanagement“) und Kultur an (alsübergeordnete orientierende Ordnungs-struktur, die jeweils aus der Sicht der An-deren kontingent erscheint). Wenn Kultur,wie Dirk Baecker in der Luhmann-Tradi-tion formuliert, dasjenige ist, „was wirnicht zur Disposition zu stellen bereitsind“, wir hingegen Technik bereitwilligzu Gunsten einer besseren (effizienterenund effektiveren) Technik aufgeben,scheint ein Unterscheidungskriteriumgefunden. Und letztlich wären wir wiederbei der alten Unterscheidung angelangtzwischen einer Domäne, in der es umZiele und Werte geht (Kultur) und einer,in der es um die Mittel geht (Technik).Zwei Einwände jedoch lassen sich hier gel-tend machen: Zum einen sind Mittel nichtbloße Instrumente zur Realisierung vonZielen (als Handlungszwecken), sondernlegen den Raum der Realisierbarkeit mög-licher Zwecke fest, die nur dann alsZwecke und nicht als bloße Wünsche oderVisionen erachtet werden. Technik ist in-sofern nicht bloß Inbegriff der Mittel, son-dern (analog zu natürlichen Medien)künstliches Medium der Ermöglichung vonZwecksetzungen und ihrer Realisierung.Aus diesem Grund ist sie eben nicht bloßnach Maßgabe ihrer Disponibilität mitBlick auf Effizienz und Effektivität zu be-trachten, sondern auch nach Maßgabeihrer Unverzichtbarkeit in der Festlegungdes Horizonts, innerhalb dessen wir über-haupt Zwecksetzung generieren, ohne dieEffizienz (als Verhältnis von Aufwand undErtrag) und Effektivität (als Zweckdienlich-keit) gar nicht zu denken wäre. Zum an-deren stehen diese basalen technischenKategorien ihrerseits unter Werten, dienicht einfach einer von der Technik zu se-parierenden Kultur zuzuschreiben wären,sondern bestimmen, was überhaupt alsrationale Technik gilt. Der Wandel vonVorstellungen über Technik, wie ihn dieIdeengeschichte bis hin zur konkretenTechnikgeschichte aufweist, ist weder reintechnikinduziert noch top down durcheinen Wechsel „kultureller“ (z. B. welt-anschaulicher) Leitbilder evoziert. Er ent-springt einem komplexen Wechselspielfundamentaler Krisen in der Verarbeitungrealtechnischer, intellektualtechnischerund sozialtechnischer Probleme in der

Gestaltung unserer Weltbezüge einerseitsund einer hierdurch veranlassten, abernicht hieraus begründeten Einnahmeneuer Weltsichten andererseits, die auchim Rückgriff auf ältere Welt- und Men-schenbilder („Renaissancen“) oder invisionären Neuentwürfen liegen können.Damit ist aber ein weiterhin ungeklärtesVerhältnis bloß benannt.

5. Vorschlag für eineReformulierung des Problems

Angesichts der unterschiedlichen Einschät-zungen von Kultur und Technik sowieihres Verhältnisses zueinander erscheint essinnvoll, den Anfang jener begrifflichenEntwicklungen aufzusuchen, der ja nichtein Anfang bloßer Benennungsversucheist, sondern als Anfang einer Problemsichtund zugleich als (leider vergessener) An-fang des Versuchs, tragfähige Lösungen zuerarbeiten, rekonstruierbar ist. Der Begriff„cultura“ verweist ursprünglich auf denAckerbau im Kontext der Sesshaftwerdungdes Menschen, der neolithischen „Revolu-tion“. In diesem Prozess etablierte sich einespezifisch menschliche Technik, die vombloß instrumentellen Werkzeugeinsatzhöherer Spezies deutlich zu unterscheidenist. Denn im Unterschied zur „Zufalls-technik“ der Jäger und Sammler, die denWiderfahrnissen der Natur ausgeliefertwaren, suchen die Menschen ihre Natur-bezüge zu sichern und zu stabilisieren,indem sie die Bedingungen des Erlegensvon Tieren (durch Einhegung und Zucht)sowie des Erntens von Nutzpflanzen(durch Anlage von Äckern und Bewässe-rung etc.) selbst technisch zu gestaltenvermochten. Der steuernde Einsatz tech-nischer Artefakte wird mithin ergänztdurch eine, wie es der KybernetikerW. Ross Ashby formuliert hat, „Regelung“im weitesten Sinne als „ausgearbeitete

„Die Kultivierung derinneren und äußeren Natur

wird ergänzt durch eine Überformung der

äußeren und inneren Natur.“

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Gegenaktion gegenüber Störungen“, dieallererst ein „gelingendes Steuern ermög-licht“. Realtechnik in diesem Sinne hatalso zwei Komponenten: Steuerung undAbsicherung des Gelingens dieser Steue-rung qua Regelung. Kultur in diesem Sin-ne weist also bereits zwei Komponentenauf, die zu ihrer Realisierung freilich be-stimmte Formen der Kommunikation (In-tellektualtechnik) und der Arbeitsteilung(Sozialtechnik) erfordern. Konsequent istes daher, wenn Marcus Tullius Cicero die-ses Kulturkonzept als „cultura animi“ aufden Bereich des Geistigen überträgt unddamit in den Fokus der Aufmerksamkeitrückt, dass jene Gestaltung der Verhältnis-se zur äußeren Natur eine adäquate Ge-staltung der Verhältnisse des Menschen zu seiner inneren Natur mit sich führenmuss. Neu ist diese Übertragung nicht,denn bereits Athene wird neben ihrerCharakterisierung als Erfinderin der Real-techniken des Webens und des Behausens

sowie der Landwirtschaft alsTechnikerin dargestellt, dieentsprechende Intellektual-techniken (der Zeichen-verwendung) für die Beherr-schung unserer inneren Na-tur (Vorstellungen, Affekteetc. – so die Darstellung beiPindar) sowie für die Gestal-tung der zwischenmensch-lichen Beziehungen zumZweck von deren Stabilisie-

rung, also als Sozialtechnikerin (der Rege-lung juristischer und politischer Ausein-andersetzungen wie z. B. in der Orestie)entwickelt hat. Alle diese Techniken sindohne die jeweils anderen nicht denkbarund realisierbar. Die Kultivierung der inne-ren und äußeren Natur (von ihrer zielge-richteten Weiterentwicklung bis hin zurDisziplinierung) wird dabei ergänzt durcheine Überformung der äußeren und innerenNatur, soweit das Ziel, stabile Handlungs-bedingungen zu erlangen, durch bloßeKultivierung nicht erreichbar erscheint.Georg Simmels Bild ist der Unterschiedzwischen der Kultivierung eines Baumesund seiner Überformung als Schiffsmast;für die innere Natur wäre analog der Unterschied zwischen einem Sensibilisie-rungs-, Konzentrations- und Kreativitäts-training auf der einen und der Vermitt-lung eines von Dritten als bewährt erach-teten Wissens anzuführen.

Es geht also darum, die Stabilität von Hand-lungsbedingungen zu gewährleisten, nichtin dem Sinne, dass das individuelle Han-deln hierdurch in bestimmte Schemata ge-zwungen würde, sondern in der Hinsicht,dass jene Stabilität überhaupt erlaubt, dassindividuelles Handeln mit bestimmtenkalkulierbaren Folgen planbar wird,gleich, wie man sich zu entsprechendenFolgen als Gratifikationen oder Sanktio-nen verhält und möglicherweise die dieseermöglichenden Bedingungen verwirft.Ich schlage vor, Kultur als Inbegriff sol-cher Schemata zu erachten, die als be-währte Schemata tradiert werden. JedesHandlungsschema, bestehend aus (1) mög-lichen Werten und Zielvorstellungen, (2) als realisierbar erachteten Zwecken so-wie (3) aus verfügbaren möglichen Mit-teln, weist sowohl eine real/materiale, einezeichen-/deutungshafte (intellektuale) so-wie eine normative Seite (mögliche Sank-tionen und Gratifikationen) auf. Dadurcheröffnen sich Hinsichten des Unterschei-dens, nicht jedoch unterschiedliche Klas-sen von Schemata, die erlauben würden,technische, intellektuale sowie normativeGegenstände zu separieren. Und es wirdersichtlich, warum gegenstandsbezogeneUnterscheidungen zwischen Technik undKultur genauso scheitern wie Versuche,eine technische Domäne der Mittel voneiner kultürlichen Domäne der Werte zu trennen. • Christoph Hubig

Weiterführende Literatur desAutors

• Hubig, Ch.: Technologische Kultur. Leipzig: Uni-versitätsverlag 1997

• Hubig, Ch., Huning, A., Ropohl, G. (Hrsg.):Nachdenken über Technik – Die Klassiker der Tech-nikphilosophie. Berlin: edition sigma 2000

• Hubig, Ch.: Die Kunst des Möglichen – Grund-linien einer dialektischen Philosophie der Technik.Bd. 1: Technikphilosophie als Reflexion der Media-lität. Bielefeld: transcript 2006. Bd.2: Ethik derTechnik als Provisorische Moral. Bielefeld: transcript2007

• Hubig, Ch., Koslowski, P. (Hrsg.): Maschinen, die unsere Brüder werden. Mensch-Maschine-Inter-aktion in hybriden Systemen. München: WilhelmFink Verlag 2008

„Ich schlage vor, Kultur als Inbegriff

solcher Schemata zu erachten, die als bewährte Schemata

tradiert werden.“

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Prof. Dr. Christoph Hubig

geb. 1952, Studium der Philosophie in Saarbrücken und an der TU Berlin, 1976 Promotion (Dialektik undWissenschaftslogik, Berlin 1978), 1983 Habilitation (Handlung – Identität –Verstehen, Weinheim 1985).Professuren für Praktische Philosophie/Technikphilosophie in Berlin, Karlsruhe und Leipzig. Seit 1997 Professorfür Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie an der Universität Stuttgart, dort Prorektor von 2000–2003.Vorsitzender des Bereichs „Mensch und Technik“ des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) 1996–2002,Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Philosophie; Kurator und Leiter des Studienzentrums Deutschland derAlcatel Lucent-Stiftung, Vorstand des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung, PrincipalInvestigator im EXC 310 „Simtech“ und Honorarprofessor an der University of Technology Dalian/China.

KontaktUniversität Stuttgart, Institut für Philosophie, Seidenstr. 36, 70174 StuttgartTel. 0711/685 82491, Fax 0711/685 72491E-Mail: [email protected], Internet: www.uni-stuttgart.de/philo

DER AUTOR

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TH E M E N H E FT FORSCH U NG KU LTU R U N D TECH N I K24

Wie aufgeschlossensind die Deutschen

gegenüber der Technik?

Ergebnisse der Akzeptanz- und Modernis ierungsforschung

Die Befriedung zwischen dem

Potential der Technik und

ihrer sozialen und politischen

Beherrschbarkeit ist ein Dauer-

thema in der öffentlichen Diskus-

sion. Trotz aller Appelle und guter

Ratschläge ist das Spannungs-

verhältnis zwischen den tech-

nikeuphorischen und technik-

skeptischen Entwürfen für die

Zukunft nicht geringer geworden.

Hatten noch einige Beobachter

geglaubt, mit dem Ausstieg aus

der Kernenergienutzung sei das

„Gespenst der Technikfeindlich-

keit“ aus den Herzen und Köpfen der Deutschen verjagt, so zeichnet

sich mit den neuen Auseinandersetzungen um Chemieanlagen, gen-

technische Labors, Windkraftanlagen und andere technische Einrich-

tungen eine dauerhafte Debatte

um Sinn, Zweck und ethische

Verantwortbarkeit des Einsatzes

von Technik ab. Diese Debatte ist

keinesfalls auf akademische

Zirkel begrenzt, sondern hat weite

Teile der Bevölkerung ergriffen.

Bevor einige ausgewählte Faktoren diesesSachverhaltes zur Darstellung gelangen,soll eine Bestandsaufnahme der Frage nach-gehen, wie Forschung und Entwicklung inder Bevölkerung insgesamt akzeptiert wer-den. Das ist vor allem eine empirischeFrage, auf die uns die Meinungsforschungeinige vorläufige Antworten geben kann.

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1. Zur Akzeptanz von Forschungund Technik

Sieht man sich die Umfrageergebnisse an,dann könnte man leicht ins Schwärmenkommen. Mehr als 50 Prozent derDeutschen wünschen mehr Geld für dieGrundlagenforschung, mehr als 60 Pro-zent stimmen zu, dass die staatliche For-schung mehr gefördert werden sollte,mehr als 70 Prozent sind der Meinung,dass Forschung und Entwicklung die Wett-bewerbsfähigkeit Deutschlands erhöhenwürde, und mehr als 80 Prozent sprechensich dafür aus, dass die Industrie mehrForschung betreiben solle. Von einer For-schungsfeindlichkeit der Deutschen kannman also nicht reden.

Doch hier ist Vorsicht bei der Interpretationangebracht. Die hohen Zustimmungs-raten zu Forschung und Entwicklung sindnicht auf Deutschland beschränkt. Sie gel-ten weltweit. In Deutschland ist die Ak-zeptanz für Forschung zwar etwas höherals in den meisten europäischen Ländern,allerdings gibt es einige Besonderheiten,die zu erwähnen wichtig sind. Wenn wirden Umfragen Glauben schenken dürfen,dann stimmen die meisten Deutschen da-rin überein, dass Forschung und Entwick-lung vor allem eine Aufgabe des Staatessei. Auf die Frage „Sind Sie dafür, dass derStaat in stärkerem Maße Kontrollfunktio-nen für angewandte Forschung ausübensoll?“, antwortet zumindest im WestenDeutschlands eine breite Mehrheit mit„ja“. Weil dem einzelnen Bürger die Ein-sicht und die Mittel zur Bewertung vonForschung fehlen, überträgt er dieseFunktion gerne dem Staat. Ob der Staatmit dieser Aufgabe nicht überfordert ist,steht auf einem anderen Blatt. Dagegensind die Befragten in den meisten anderenLändern davon überzeugt, dass Forschungeine vordringliche Aufgabe der Industrieoder der Hochschulen sei. Die Deutschentrauen also dem Staat mehr Kompetenzzu als anderen Trägern der Forschung underwarten auch eine stärkere Ausrichtungstaatlicher Forschung an die sozial ver-mittelten Bedürfnisse der Gesellschaft.

Bei den Euro-Barometer-Umfragen derEuropäischen Kommission äußert immerwieder ein Großteil der Befragten, dass siewenig von Forschung und Entwicklungverstünden, dennoch finden sich in glei-chem Maße Mehrheiten für die Aussage,die Bürger sollten mehr Mitbestimmungs-

rechte bei der Auswahlvon Forschungsbereichenhaben. Dies sollte mannicht als Beleg für einescheinbare Irrationalitätder Befragten verstehen,sondern vielmehr alseinen Appell an die Po-litik, bei der Komplexitätder Materie und der Un-übersichtlichkeit mög-licher Forschungsbereichestärker die Belange undAnliegen der Bevölke-rung zu berücksichtigen.

Weitere Einsichten vermit-teln Umfrageergebnissein Bezug auf die verbalgeäußerte Zahlungs-bereitschaft: „Wie vielwären Sie bereit, für einbestimmtes Technikfeldaus Ihrem Einkommenbeizusteuern bzw. wieviel Steuergelder solltenfür ein bestimmtes Forschungsfeld aus-gegeben werden?“ Gleichgültig, welcheFragestellung man wählt, die Ergebnissesind relativ stabil. An der Spitze der Zah-lungsbereitschaft stehen Forschungen zurFörderung alternativer Energien, zurVerbesserung der Gesundheit und zur Er-höhung des Umweltschutzes. Nicht um-sonst finden sich genau diese drei Themenin den Forschungsprogrammen der EUund auch der Bundesrepublik wieder. Einemittlere Zahlungsbereitschaft liegt fürAnwendungsbereiche wie Raumfahrt, Ver-kehrstechnik und Abfalltechnik vor. Dabeispielen auf der einen Seite Prestigegründe,auf der anderen Seite Sorgen um die Um-welt eine wesentliche Rolle. Schlusslichterin der Zahlungsbereitschaft sind Kern-energie und, vor allem in Deutschland,Gentechnik und Mobilfunkmaste. Für dasneue Feld der Nanotechnologie fehlennoch belastbare Zahlen, weil über 70 Pro-zent der Deutschen mit diesem Begriffnoch nichts anfangen können.

2. Differenzierte Einsichten zurTechnikakzeptanz

Wie sieht es nun mit der Technikakzeptanzin Deutschland aus? Um die Datenmengeder empirischen Forschungen sinnvoll zuinterpretieren, ist eine Untergliederung indrei Technikbereiche sinnvoll (T.01):

Sind die Deutschen so technikfeindlich wie dieshäufig in den Medien dargestellt wird? Die empiri-sche Sozialforschung lehrt uns etwas Anderes. Dennmangelnde Technikakzeptanz oder sogar Technik-feindlichkeit ist entgegen vielen Presseberichten undmanchen lieb gewordenen Vorurteilen in Deutsch-land geringer ausgeprägt als in den meisten andereneuropäischen Ländern. Glaubt man den Umfrage-daten, dann lieben in Deutschland die meistenMenschen die Errungenschaften der Technik, vorallem in Haushalt, Freizeit, Berufsleben und imAusleben der Mobilitätswünsche. Nur die Luxem-burger übertreffen uns in der Ausstattung an tech-nischen Geräten pro Haushalt. Allenfalls großekomplexe Systemtechniken wie Kernenergie, Gen-technik oder Chemieanlagen stoßen bei einem Groß-teil der Bevölkerung auf Skepsis. Diese skeptischeHaltung finden wir aber auch in den meisten ande-ren Ländern in Nordeuropa, während die Süd-europäer auch Großtechnik überwiegend positivbeurteilen.

ZUSAM M ENFASSUNG

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2.1. Produkt- und Alltagstechnik

Die Produkt- und Alltagstechnik wird überden Allokationsmechanismus des Marktesgesteuert. Jemand kann ein technischesProdukt kaufen oder auch nicht. Wenn esKonflikte gibt, dann geht es meistens umHaftung und Qualität oder in einigen we-nigen Fällen um externe Effekte des Kon-sums auf Dritte. Der Verkehr ist ein Bei-spiel für einen solchen externen Effekt, da wir mit der Nutzung von privaten Pkwsauch Umweltbelastungen oder andereBelastungen für Dritte in Kauf nehmen.Im Bereich der Produkt- und Alltagstech-nik gibt es in Deutschland keine Akzep-tanzkrise. Es gibt kaum ein Land, das soüppig mit technischen Geräten im Haus-halt ausgestattet ist wie die Bundes-republik. Nur wenige Stimmen erhebensich gegen den Gebrauch von Kühl-schränken, Staubsauger, Hifi-Anlagen,Personalcomputer oder Sportgeräten, ob-wohl auch diese Produkte, wie wir allewissen, zur Umweltbelastung beitragen.Interessanterweise wird das Müllproblemhäufig als separates Entsorgungsproblem

wahrgenommen, weniger als Konsum-problem. Es bewahrheitet sich also, wasder Sozialpsychologe Prof. Röglin schonvor Jahren auf die kurze Formel gebrachthat: „Wir lieben die Produkte der Indus-triegesellschaft, aber hassen die Art, wie siehergestellt werden.“

2.2. Arbeitstechnik

Arbeitstechnik ist die Technik, die amArbeitsplatz angewandt wird. Die Ent-scheidung darüber liegt bei den einzelnenUnternehmen. Akzeptanz bedeutet in die-

sem Kontext nicht Kauf, sondern vielmehraktive Nutzung der Technik durch dieBeschäftigten in einem Unternehmen.Konflikte entzünden sich an Fragen derRationalisierung (Wegrationalisierung desArbeitsplatzes), an Fragen der Mitbestim-mung über Technikeinsatz und Fragen derQualifikation und des Trainings. Im inter-nationalen Vergleich schneidet Deutsch-land bei der Arbeitstechnik nicht schlechtab. Interessant ist dabei, dass die Deut-schen nicht unbedingt die ersten sind, dieinnovativ in den arbeitstechnischen Be-reich eingreifen, sondern diejenigen, dieetwas behutsamer bei der Modernisierungvorgehen. Dafür ist dann aber die Nut-zungsrate durch die Beschäftigten höherals in anderen Ländern. Einige Unter-suchungen belegen etwa, dass moderneInformationstechniken in Frankreichfrüher eingeführt wurden als in Deutsch-land, dass aber die französischen Beschäf-tigten wesentlich länger brauchten, umdiese Geräte auch bestimmungsgemäß zunutzen. Die Technik wird also in Deutsch-land später eingeführt, aber dann auchstärker genutzt.

2.3. Externe Technik

Das dritte Feld, das hier im besonderen Maßeim Vordergrund steht, ist die externeTechnik, die Technik als Nachbar. Darun-ter fallen das Chemiewerk, die Müllver-brennungsanlage, das Kraftwerk oder dasGentechniklabor. Akzeptanz bedeutet indiesem Technikfeld Tolerierung durch dieNachbarn (eine positive Einstellung ist kei-neswegs erforderlich). Die Entscheidungenüber externe Technik fallen im Zusam-menspiel von Wirtschaft, Politik undöffentlicher Reaktion. Hier gibt es die

Technikbereich

Produkt- u. Alltagstechnik

Arbeitstechnik

Externe Technik

Allokationsverfahren

Markt

Betrieb

Politik

Akzeptanztest

Kauf

Aktive Nutzung durchBeschäftigte

konventionelle Verfahren(Abstimmungen)unkonventionelleVerfahren (Proteste)

Konfliktthemen

Haftung, Qualität

Mitbestimmung,Anpassungsgeschwindig-keit, Qualifikation

Interessen, Rechte,Zuständigkeiten Legitimität vs. Legalität,Grundwerte, Verzerrungder organisiertenInteressen

T.01

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konventionellen Verfahren, wie Abstim-mungen, Genehmigungsverfahren,Raumordnungsverfahren, Planfeststel-lungsverfahren usw., darüber hinaus dieunkonventionellen Verfahren, die vonBauplatzbesetzungen bis hin zu aktivenProtesten reichen. Konflikte beziehen sichnicht nur auf die möglichen technikbezo-genen Vor- und Nachteile einer Anlage,sondern umfassen auch Fragen nach derzugrundegelegten Vision gesellschaftlicherEntwicklung. Wohin wollen wir uns bewe-gen? Was sind die Leitbilder für unserLeben, was sind Grundwerte, welche tech-nische Entwicklung ist für die Gestaltungeiner wünschenswerten Zukunft die an-gemessene? Damit verbunden ist die Sorgeum Politikversagen oder Systemversagensowie die Erfahrung von Verteilungs-ungerechtigkeiten bei der Aufteilung vonLasten und Nutzen auf unterschiedlicheBevölkerungsteile oder Regionen. Durchdie „economy of scale“ lohnt es sich finan-ziell, Anlagen zu zentralisieren, wodurches aber zu einer gewissen ungleichenVerteilung von Lasten und von Nutzenkommt. Diese Ungerechtigkeiten werdenentsprechend sozial und politisch alsKonfliktstoff virulent.

Die folgenden Ausführungen konzentrierensich auf die externe Technik, weil vorallem sie zur Akzeptanzverweigerung ein-lädt. Innerhalb des breiten Feldes der ex-ternen Technik dominieren heute viergroße Konfliktfelder: Energie, vor allemdie Kerntechnik; größere Chemieanlagen;die Anwendungen der Gentechnik inLandwirtschaft, Ernährung und Repro-duktionsmedizin sowie seit knapp zehnJahren elektromagnetische Wellen durchHandys und Sendemastanlagen. Währendin den achtziger und neunziger Jahrennoch Abfallanlagen und die Informations-technik, insbesondere Großcomputer, imMittelpunkt der öffentlichen Auseinan-dersetzung standen, hat sich heute aufdiesen Technikfeldern eine deutliche Ent-spannung eingestellt. Die Entwicklunggeht also nicht immer in Richtung ver-stärkter Akzeptanzprobleme, sondernhäufig auch in die gegenteilige Richtung.

3. Technikakzeptanz im sozialenKontext

Nach der Entscheidung, die Kernenergie aus-laufen zu lassen, konzentriert sich dieSkepsis der Deutschen auf das Feld der

Gentechnik. Obwohl die medizinische An-wendung (dabei vor allem die Reproduk-tionsmedizin, die im strengen Sinne garnichts mit Gentechnik zu tun hat) zuBeginn der Gentechnikdebatte den Brenn-punkt der Auseinandersetzung markierte,hat sich die Diskussion im Verlauf derneunziger Jahre auf die Anwendung derGentechnik im Lebensmittelbereich undim Bereich der Agrarindustrie verlagert.Inzwischen spielen auch gentechnischeVerfahren bei der Reproduktionsmedizinwieder eine wichtige Rolle. Diese Skepsisgegenüber der Gentechnik könnte sich inZukunft auch auf die Nanotechnologienausweiten.

Das generelle Unbehagen an der Gentechnikmacht sich an den Anwendungen fest, indenen der Nutzen am wenigsten einsichtigist. Wo der Nutzen groß ist, wie in derMedizin, kann man auch bei größeremUnbehagen schlecht dagegen sein. Unvor-stellbar, gegen Gentechnik zu Felde zu zie-hen, wenn diese verspricht, Krebserkran-kungen zu heilen. Ob eine haltbarereTomate so wichtig ist, dass man dafürGentechnik eingesetzt sehen möchte,selbst wenn das Risiko gering sein sollte,ist dagegen wesentlich weniger einsichtig.In diesem Gedankengang wird die amwenigsten nutzenbezogene Anwendungmit all den Nachteilen und Bedenkenbefrachtet, die für die Gentechnik ins-gesamt gelten.

Diese Art von Argumentation verführtschnell zu sagen: Die Bevölkerung reagiertirrational. Aber man sollte sich die Mühemachen, den weitverbreiteten Gedanken-gang Schritt für Schritt nachzuvollziehen,um zu verstehen, wie es zu dieser Reak-tion kommt und wie sie begründet ist. Das heißt nicht, dass man eine solche Ka-nalisierung von Unbehagen auf eine (eherrisikoarme) Anwendung billigen muss,aber die Kanalisierung von Unbehagen aneiner Produktionsmethode auf ein wenignutzensteigerndes Produkt entsprichtdurchaus einem rationalen Kalkül.

Ein weiteres Vorurteil gegenüber der intuiti-ven Technikbewertung in der Bevölke-rung bedarf der Klarstellung. In vielenAufsätzen wird immer wieder von einertechnikfeindlichen Fraktion der Öffent-lichkeit gesprochen, die angeblich gegenalles sei: Kernenergie, Gentechnik, Ver-brennungsanlagen, Flughäfen usw. Dieempirische Sozialforschung ergibt in dieserFrage ein wesentlich differenzierteres Bild.

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Technikeinstellungen variieren erheblichvon Gruppe zu Gruppe, von Technik zuTechnik und von Anwendungsfeld zu An-wendungsfeld. Konsistente Einstellungenüber mehr als drei Technikfelder hinweggibt es nach dem letzten Euro-Barometerin der Europäischen Gemeinschaft bei nur30 Prozent der Befragten.

Diese Überlegung führt zu einem weiterenhäufig verbreiteten Missverständnis imZusammenhang von Akzeptanz undTechnikverhinderung. Wie viele Gegner esim Fall einer bestimmten Technik gibt undwie die Einstellungen im einzelnen verteiltsind, ist letztlich wenig relevant für dieDurchsetzungsfähigkeit von Akzeptanz-verweigerung. Diese Feststellung mag zu-nächst verwundern, sind doch Meinungs-befragungen zu Technikeinstellungenbeliebte Argumentationshilfen für die eineoder andere Seite. Politisch wirksamer Pro-test ist nur in geringem Maße eine Funk-tion von Einstellung als vielmehr vonHandlungsbereitschaft. Mit Handlungs-bereitschaft ist gemeint, dass sich die Men-schen konventionell oder auch unkonven-tionell für ihre Technikeinstellung aktiveinsetzen. Um eine Technik zu verhin-dern, ist es nicht unbedingt erforderlich,dass sich mehr als 50 Prozent dagegen aus-sprechen. Umgekehrt heißt auch einemehr als 50prozentige Ablehnung nicht,dass die jeweilige Technik in Akzeptanz-schwierigkeiten gerät. Wir haben vieleTechniken, beispielsweise Raffinerien, diebei Befragung mehr ablehnende Meinun-gen hervorrufen als selbst die umstritteneKernenergie. Dennoch gibt es keine Ak-zeptanzkrise für Raffinerien.

Um in einer Demokratie etwas erfolgreichzu ändern, benötigen soziale Bewegungenaktive Mitstreiter, die handlungsbereitsind. Die Handlungsbereitschaft ist vorallem eine Funktion der Polarisierung derMeinungen, denn je stärker jemand voneiner Meinung überzeugt ist und je mehr

er an die Notwendigkeit seines eigenenEngagements glaubt, da sonst die andereSeite das Übergewicht erlangen könnte,desto eher ist er bereit, eigene Zeit undMittel in Aktionen zu investieren. Eine all-gemeine Faustregel lautet: Wenn mehr alsdrei Prozent der Bevölkerung sich aktivpolitisch einsetzt, kann sie in einer Demo-kratie alles verhindern und oft auch Neuesdurchsetzen. Drei Prozent von 80 Millio-nen Deutschen ist eine große Zahl, diemedienwirksam jeden Politiker auf-schrecken wird. Dennoch sind sie nur eineverschwindende Minderheit. Ob hintereiner aktiven Minderheit eine Mehrheitvon Sympathisanten steht, ist von Fall zuFall verschieden.

Hierzu noch einmal das Beispiel Kern-energie: Dort gab es bis etwa 1986 einengleichen Anteil extremer Befürworter wieextremer Gegner. Von den extremenBefürwortern waren ungefähr 0,2 Prozenthandlungsbereit, bei den extremen Geg-nern aber rund neun Prozent. Insofernwar es auch kein Wunder, dass die Gegnerin der öffentlichen Meinung den Ton an-gaben. Natürlich müssen sich auch hand-lungsbereite Minderheiten einer großenZahl von Sympathisanten sicher sein, wol-len sie in einer politischen Arena Erfolgverbuchen. Aber dies braucht keineswegsdie Mehrheitsmeinung widerzuspiegeln.Das beliebte Spiel der Politiker, bei Mei-nungsumfragen nach den 50 Prozent-Quoten zu schielen, ist in der Regel wenighilfreich. Viel wichtiger ist es, die Zahl derHandlungsbereiten und den Grad derPolarisierung eines Themas in der Öffent-lichkeit zu kennen.

4. Das Erlebnis der Ambivalenzvon Technik

Auch wenn Mehrheiten und Minderheitenin Technikdebatten keinen direkten Auf-schluss darüber geben, welche Technikunter Akzeptanznöten leidet, so ist auchklar, dass sich ohne ein breites Unbehagenan einer externen Technik erst gar keineHandlungsbereitschaft entfalten kann.Mehr als drei Prozent der Bevölkerung zumobilisieren ist nur dann realistisch, wennsich an der entsprechenden Technik dieGemüter reiben. Das Unbehagen an derGentechnik, der Kernenergie und anderenexternen Techniken, die in Akzeptanz-schwierigkeiten geraten sind, muss seineUrsache in erlebten Eigenschaften dieser

„Politisch wirksamer Protestist nur in geringem Maße

eine Funktion von Einstellung als vielmehr von

Handlungsbereitschaft.“

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Techniken haben. Ausschlaggebend istdabei die Sorge, dass die Folgen des wissen-schaftlich-technischen Wandels zuneh-mend als Belastung wahrgenommen wer-den. Gleichzeitig sind die Menschen aberauch von den Annehmlichkeiten derTechnik überzeugt. Ihre Haltung ist dem-nach von Ambivalenz geprägt. Ambi-valenz bedeutet keineswegs Technikfeind-lichkeit, wie dies in vielen Reden undAufsätzen immer wieder verkündet wird.Ambivalenz heißt: Erfahrung der Gleich-zeitigkeit von positiven und negativenFolgen von Technik und auch eine gewisseVerunsicherung, wohin der Zug der Tech-nik in Zukunft fahren wird. Auf der einenSeite steht die Hoffnung, durch Technikdie Lebensumstände verbessern zu kön-nen, auf der anderen Seite die Befürch-tung, durch die Fortentwicklung derTechnik die Lebensgrundlagen des Men-schen zu gefährden.

Die zunehmende Sichtweise von Technik alsein ambivalentes Phänomen ist kein deut-sches Problem. Erlebte Ambivalenz ist inallen Staaten zu beobachten. Es gibt nurunterschiedliche soziale und auch politi-sche Systeme, wie mit wahrgenommenerAmbivalenz politisch umgegangen wird.Frankreich, das oft von technikfreund-lichen Zeitgenossen als Vorbild in derBewältigung von erlebter Ambivalenz her-vorgehoben wird, hat seine spezifischenAkzeptanzprobleme. In einem zentralisti-schen System braucht es ein erheblichesMaß an Akzeptanzentzug oder Akzeptanz-verweigerung, ehe sich dieser Protest poli-tisch wirksam durchsetzen kann. Wird derProtest aber politisch wirksam, dann radi-kal. Die Deutschen dagegen sind schnellerbereit, auf Anzeichen der Akzeptanz-verweigerung politisch zu reagieren (viel-leicht manchmal zu schnell), aber der gro-

ße Vorteil dieser politischen Sensibilitätbesteht darin, politische Kompromisse zuermöglichen, den Dialog aufrechtzuerhal-ten. Dieser Vorteil der politischen Kulturin Deutschland ist nicht zu unterschätzen

Ambivalenz umfasst zwei wesentlicheAspekte: das Erlebnis von Komplexität so-wie die schmerzhafte Erfahrung der Not-wendigkeit von Zielkonflikten. Komplexi-tät und Zielkonflikte werden auch in derBevölkerung als schmerzliche Begleit-erscheinungen der erlebten Ambivalenzwahrgenommen. Unter Ingenieuren undTechnikern finden wir oft Unverständnisoder auch Unkenntnis über die erlebteAmbivalenz. Da wird lamentiert über dieTechnikfeindlichkeit der Deutschen, ohnezu erkennen, dass hinter dieser angeb-lichen Technikfeindlichkeit die Sorgesteht, dass unsere Gesellschaft angesichtsder Komplexität und der schmerzhaftenZielkonflikte bei technischen Entschei-dungen nicht über genügend Bewälti-gungskapazität verfügt, um eine verant-wortbare Entwicklung voranzutreiben.Mag sein, dass in der Öffentlichkeit dieMöglichkeit der Steuerung der Technikdurch Gesellschaft maßlos überschätztwird, gleichzeitig unterschätzt aber derandauernde Hinweis auf Sachzwänge undWettbewerbsfähigkeit die flexiblen Gestal-tungsmöglichkeiten unserer Gesellschaft.Wenn der Gesichtspunkt der Gestaltbar-keit aus den Augen verloren wird, danngibt es auch keine Möglichkeit der Ver-ständigung mehr zwischen den Entwick-lern von Technik auf der einen und ihrenKritikern auf der anderen Seite. Ambi-valenz, Komplexität und Zielkonflikte sinddie Stichworte, die wir für die zukünftigeTechnik- und Forschungspolitik beachtenund als wichtige Themen der Kommuni-kation beherzigen müssen.

5. Notwendigkeit der Technik-Kommunikation

Man wirft uns Soziologen immer wiedervor, dass wir uns zwar auf die Diagnosegesellschaftlicher Probleme verstehen,aber dann in tiefes Schweigen verfallen,wenn es um die Therapie geht. DieserVorwurf ist zum Teil berechtigt. DasPhänomen Gesellschaft ist ausgesprochenkomplex, das Verhalten des Menschen istnur in begrenztem Maße vorhersehbar,vor allem aber wimmelt es im sozialenBereich von den in der Physik erst jüngst

„Ambivalenz heißt: Erfahrung der Gleichzeitigkeit

von positiven und negativen Folgen von Technik und auch eine gewisse Verunsicherung, wohin der Zug der Technik in

Zukunft fahren wird.“

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erkannten Nicht-Linearitäten und chaoti-schen Zuständen. Gesellschaft planmäßigzu verändern, ist nicht so einfach, wiebeispielsweise die Veränderung einer Ma-schine. Trotzdem sei hier ein Vorschlagpräsentiert, wie wir mit einigen der obenskizzierten Technikproblemen umgehenkönnen.

Es geht dabei um die Technik-Kommunika-tion. Hier ist wesentlich, dass Kommu-nikation Verständigung bedeutet. DieBereitschaft zum Dialog muss auch dortvorliegen, wo unterschiedliche Wertmus-ter aufeinanderprallen. Dazu gehört, dieKommunikation auf jene Zielgruppe aus-

zurichten, mit der eine Verständigungstattfinden soll. Ingenieure geben bei-spielsweise gerne Antworten auf Fragen,die keiner gestellt hat, und lassen die Fra-gen unbeantwortet, die von den Betrof-fenen einer Technikentwicklung an sieherangetragen werden. Wenn wir mit an-deren ins Gespräch kommen wollen, dann

müssen wir uns auf die Anliegen und Be-dürfnisse derjenigen einstellen, die wir mitden Informationen erreichen wollen.

Bei Technikdebatten geht es meist um dreiEbenen der Argumentation (T.02): Dieerste Ebene betrifft das Sachwissen und dieExpertise, die zweite die Erfahrung undKompetenz derjenigen, die Technik ein-setzen und kontrollieren, und die dritteEbene umfasst die Frage von Lebensstilund erwünschter Zukunft, in dem die ent-sprechende Technik ihren Platz hat oderauch nicht. Debatten in der ersten Katego-rie sind häufig sehr komplex, weil enor-mes Sachwissen erforderlich ist. Der Graddes Konfliktes ist dagegen geringer, weilüber Sachfragen nach methodischen Regeln entschieden werden kann oder zumindest falsche Behauptungen aus-geschlossen werden können. Die zweiteEbene ist durch einen geringeren Komple-xitätsgrad gekennzeichnet, die Konflikt-stärke nimmt jedoch gegenüber der erstenEbene zu. Hierbei geht es vor allem umnachgewiesene Kompetenz und Glaub-würdigkeit: Wie glaubwürdig hat die je-weilige Institution in der Vergangenheitihre Kontrollfunktion ausgeübt? Wieglaubwürdig sind die Veröffentlichungenin der Vergangenheit gewesen? Musste dieInstitution unter Druck etwas zurückneh-men? Hat sie einmal gelogen? Hat sich dasManagement unter Schwierigkeiten oderin einer Krisensituation als kompetenterwiesen? Zufriedenstellende Antwortenauf diese Fragen sind für die Akzeptanz-einforderungen der Technikentwicklerund -nutzer entscheidend, denn es gehtnicht nur um die möglichen Auswirkun-gen von Techniken, sondern auch um die bisherigen Erfahrungen im Umgangund in der Kontrolle mit der jeweils vor-geschlagenen Technik.

Debatten auf der dritten Ebene fragen nachdem tieferen Grund für eine Technik-entwicklung oder ihren Einsatz. Brauchenwir das überhaupt? Wie sieht unsereVision für die Zukunft aus? Die einen be-haupten, wir brauchen mehr und bessereTechnik, um die Probleme der Übervölke-rung, des gesellschaftlichen Wandels, derVeränderungen unserer Umwelt lösen zukönnen. Die anderen sagen: Die Technikhat uns überhaupt erst diese Problemeeingebrockt, wir sollten nicht mit Belze-bub den Teufel austreiben wollen. Diesebeiden Weltbilder konkurrieren miteinan-der und man kann sich dieser Diskussion

TH E M E N H E FT FORSCH U NG KU LTU R U N D TECH N I K30

„Gesellschaft planmäßig zu verändern,

ist nicht so einfach wie beispielsweise

die Veränderung einer Maschine.“

T.02

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nicht einfach dadurch entziehen, dass mansich für das „Ideologische“ nicht kompe-tent fühlt. Man erwartet vom Ingenieurwie vom Naturwissenschaftler, dass sichbeide an der Auseinandersetzung um dieGestaltung gesellschaftlicher Leitbilderaktiv beteiligen.

Das Problem ist, dass sich diejenigen, dieTechnik entwickeln und sich dafür einset-zen, in öffentlichen Diskussionen mit Vor-liebe auf den ersten Bereich zurückziehen.Beim Sachwissen fühlen sie sich sicher, dashaben sie gelernt. Das kann man zwar sub-jektiv verstehen, nur die Debatte findetauch auf den beiden anderen Ebenen statt,sogar vorrangig auf den beiden anderenEbenen. Deshalb kommt keine Verständi-gung zustande. Extreme Beispiele für daspermanente aneinander Vorbeireden sindAnhörungen. Eine Analyse vieler Anhö-rungen zeigt, wie sich die Experten aufdem Podium unter dem Geschrei und Gezeter der Zuhörerschaft abmühen, diekompliziertesten technischen Dinge dar-zulegen, die für die Zuhörer völlig irrele-vant sind. Frustrationen sind dann vorpro-grammiert. Der Experte fühlt sich von derPolitik verschaukelt und zum Prügelkna-ben degradiert. Die Zuhörer fühlen sich inihren Anliegen, die oft nicht auf der erstenEbene liegen, unverstanden und nichternst genommen. An dieser Stelle sindauch strukturelle Veränderungen im Um-gang von Behörden, Unternehmen undÖffentlichkeit gefragt. Wir müssen lernen,auf allen drei Ebenen ein aufeinanderbezogenes Gespräch zu führen. Wenn wiran dieser Stelle versagen, wird aus demPhänomen der mangelnden Technik-akzeptanz schnell eine akute Akzeptanz-krise.

6. Trends

Die großen Trends der Akzeptanzentwick-lung gegenüber Technik lassen sich wiefolgt zusammenfassen:

• Es gibt keine generelle Technikfeindlich-keit in Deutschland, wie vielfach in derPresse behauptet. Vor allem in Hinblickauf Konsumtechnik und Technik amArbeitsplatz sind die Deutschen eher tech-nikfreundlich. Auf Akzeptanzproblemestoßen technische Anlagen und Produkteallerdings dort, wo sie uns als Nachbar be-gegnen. Unter diesen so genannten exter-nen Techniken gibt es vier Technikfelder,

die in der Gesellschaft stark umstrittensind: Energie, elektromagnetische Wellen,Gentechnik und Chemie.

• Die generelle Einstellung der Bevölkerungzur Technik ist durch erlebte Ambivalenzgeprägt. In den fünfziger bis Mitte dersechziger Jahre war die Mehrheit der west-deutschen Bevölkerung noch davon über-zeugt, dass die Technik überwiegend posi-tive Auswirkungen habe. Das hat sich imVerlauf der letzten 30 Jahre deutlich ge-ändert, hier haben wir eine Art Kultur-revolution oder besser Visionsrevolutiondurchgemacht – und diese Kulturrevolu-tion lässt sich nicht mehr umkehren.

• Die ambivalente Haltung gegenüber Tech-nik ist weit gehend auf Umweltproblemebezogen. Wenn die Meinungsforschungs-institute fragen „Was sind die negativenAuswirkungen – ganz allgemein – derTechnik?“, stehen Umweltbelastungen im-mer wieder an vorderer Stelle der Besorg-nisse.

• Das Erlebnis der Ambivalenz in der Bewer-tung der Technik ist ein internationalesPhänomen. Wir beobachten diese Ambi-valenz beispielsweise auch in den Ländern,die oft als Vorbild einer technikfreund-lichen Gesellschaft herausgestellt werden,etwa in Japan oder in den VereinigtenStaaten.

• Technikeinstellungen variieren innerhalbeines Landes stärker als zwischen ähn-lichen Gruppen völlig unterschiedlicherLänder. Wenn wir Umweltschützer in Aus-tralien, in Mexiko, in USA, in Deutsch-land, in Argentinien nach ihren Technik-bildern befragen, bekommen wir ähnliche-re Antwortmuster, als wenn wir etwa dieTechnikbilder von deutschen Ingenieurenund deutschen Umweltschützern mitein-ander vergleichen.

Akzeptanz bedeutet nicht Akzeptabilität.Was als Technik eingesetzt werden soll,kann und darf nicht allein durch die fakti-sche Akzeptanzbereitschaft der Bevölke-rung bestimmt werden. VerantwortbareTechnologie- und Wissenschaftspolitikmuss sich auch am Leitgedanke des lang-fristigen Nutzens für die Gesellschaft ori-entieren. Dieser Nutzen darf weder kurz-fristigen Interessen, noch unbegründetenÄngsten geopfert werden. So sollteneinerseits die Wahrnehmungen der Bevöl-kerung das gesicherte Fachwissen nichtersetzen, andererseits dürfen die Expertenkeine politischen Urteile treffen, die nurden demokratisch legitimierten Gremien

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oder den Betroffenen selbst zustehen. Umdiese Gratwanderung erfolgreich zu meis-tern, kann die Akzeptanzforschung dazubeitragen, die Anliegen und Zukunftsvor-stellungen der Menschen besser kennenzu lernen und sie in aktive Technik- und

Politikgestaltung einzubinden. Damitübernimmt Akzeptanzforschung eineDienstleistungsfunktion zur Verbesserungder Kommunikationsfähigkeit zwischen den sozialen Teilsystemen. •

Ortwin Renn

Prof. Dr. Dr. h.c. Ortwin Renn

ist Ordinarius für Umwelt- und Techniksoziologie an der Universität Stuttgart und Direktor des zur Universitätgehörigen Interdisziplinären Forschungsschwerpunkts Risiko und Nachhaltige Technikentwicklung am Inter-nationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung (ZIRN). Seit 2006 bekleidet er das Amt des Prodekansder Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät und ist Geschäftsführender Direktor des Instituts fürSozialwissenschaften. Neben seinem Engagement an der Universität Stuttgart gründete Renn die DIALOGIKgGmbH, ein gemeinnütziges Forschungsinstitut, dessen Hauptanliegen in der Erforschung und Erprobung innova-tiver Kommunikations- und Partizipationsstrategien in Planungs- und Konfliktlösungsfragen liegt. Nach seinerAusbildung in Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Sozialpsychologie und anschließender Promotion an derUniversität Köln arbeitete Renn als Wissenschaftler und Hochschullehrer in Deutschland, den USA und derSchweiz. Seine berufliche Laufbahn führte ihn über das Forschungszentrum Jülich, eine Professur an der ClarkUniversity in Worchester/Massachusetts (USA) und eine Gastprofessur an der ETH Zürich nach Stuttgart.Von 1998 bis 2003 leitete er die Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg. Ortwin Rennverfügt über mehr als dreißigjährige Erfahrung auf dem Feld der Risikoforschung, der Technikfolgenabschätzungsowie der Einbindung von Interessengruppen und der allgemeinen Öffentlichkeit bei der Lösung konfliktgeladenerThemen. Ortwin Renn hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten. Unter anderem erhielt er die Ehren-doktorwürde der ETH Zürich (Dr. sc. h.c.) und den „Distinguished Achievement Award“ der InternationalenGesellschaft für Risikoanalyse (SRA). Er ist Mitglied nationaler und internationaler Akademien der Wissen-schaft ( z.B. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und des Panels on Public Participa-tion der US Academy of Sciences). Seit 2008 ist Renn Mitglied im Präsidium von ACATECH. Zu denPublikationen von Ortwin Renn gehören über 30 Monografien und editierte Sammelbände sowie mehr als 200wissenschaftliche Publikationen.

KontaktZentrum für interdisziplinäre Risikoforschung und nachhaltige Technikgestaltung (ZIRN)Universität Stuttgart, Seidenstraße 36, 70174 StuttgartTel. 0711 / 6858 4970Fax: 0711 / 6858 4295E-Mail: [email protected], Internet: www.zirn-info.de

DER AUTOR

Weiterführende Literatur des Autors

• Renn, O. und M. Zwick, M.: Risiko- undTechnikakzeptanz (Springer: Berlin 1997)

• Renn, O.: Alter Wein in neuen Schläuchenoder neuer Wein in alten Schläuchen?Anmerkungen zur aktuellen Debatte umGentechnik und Genomanalyse. In: L. Honnefelder und P. Propping. (Hrsg.):Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genomkennen?, Köln (Du Mont 2001), Seiten 295–300

• Renn, O.: Symbolkraft und Diskursfähig-keit. Die neue Technik in der öffentlichenWahrnehmung. In: Politische Ökologie, Son-derheft „Genopoly. Das Wagnis GrüneGentechnik, Heft 81–82 (2003), Seite 27

• Renn, O.; Schweizer, P.-J., Dreyer, M. undKlinke, A.: Risiko. Eine interdisziplinäre undintegrative Sichtweise des gesellschaftlichen Umg-angs mit Risiko. München (ÖKOM Verlag:2007)

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1. Einleitung

Vor einiger Zeit präsentierte mir ein japani-scher Kollege auf einer Konferenz eine ani-mierte Cartoonfigur, die dem Benutzertouristische Information in japanischerSprache vermittelte. Mir fiel auf, dass dervirtuelle Charakter Blickkontakt mit mirvermied und stattdessen häufig nach untenschaute. Obwohl es sich nur um einekünstliche Figur handelte, war ich über dasVerhalten des Charakters irritiert, bis mirder japanische Kollege erklärte, dass derCharakter lediglich eine Verbeugungandeuten wollte. Das Beispiel zeigt, dasskulturelle Missverständnisse nicht nur beider zwischenmenschlichen Kommunika-tion, sondern auch bei der Interaktion mitvirtuellen Charakteren auftreten können.

Streng genommen handelte es sich bei demvirtuellen Charakter nicht um einen An-gehörigen der japanischen Kultur, sonderneher um den Vertreter einer künstlichenKultur, die die japanische Kultur unzu-länglich imitierte. Meine Irritation war darauf zurück zu führen, dass die FigurKopfbewegung und Körperhaltung dieserfremden Kultur als unpassend empfand.

Ein Blick auf die Microsoft Agent Ring Web-seite1 zeigt, dass künstliche Charakteresehr stark von westlichen Kulturnormengeprägt sind. Nur wenige Charakteregehören einer nicht-westlichen Kultur anund weisen im Vergleich zu den westlichorientierten Charakteren ein stark redu-ziertes Verhaltensrepertoire auf. Sengers [1]spricht von einer „McDonaldisierung“ vonCharakteren, um zu verdeutlichen, dass

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Virtuelle CharaktereKul ture l le Prägungen der Mensch-Maschine- In terakt ion

Durch die Verbreitung von virtuellen Räumen im Internet – Second

Life ist ein Beispiel hierfür – kommen immer mehr Menschen in

Kontakt mit Avataren und künstlichen selbst entscheidenden Inter-

aktionspartnern, so genannten virtuellen Charakteren. Die globale

Natur des Internets bringt es mit sich, dass diese künstlichen

Charaktere unterschiedliche kulturelle Prägungen aufweisen – eine

Folge der kulturellen Zugehörigkeit ihrer menschlichen Schöpfer.

Durch diese Entwicklung ergeben sich interessante

Fragestellungen für die Mensch-Maschine-Interaktion.

Wie reagiert beispielsweise ein Asiat auf eine von

einem Europäer entwickelte Figur? Helfen uns virtuelle

Charaktere, andere Kulturen besser zu verstehen und

kulturelle Barrieren zu überwinden? Neuere Forschun-

gen beschäftigen sich mit der expliziten Modellierung

kulturellen Verhaltens und dessen Simulierung durch

virtuelle Charaktere. Der vorliegende Artikel thematisiert

das Imitieren von nichtverbalen Verhaltensweisen und

Untersuchungen zu deren Wahrnehmung in einem

multikulturellen Kontext.

1 www.msagentring.org/chars.aspx

01

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deren Design und Verhalten stark von deramerikanischen Kultur dominiert wird.Abgesehen davon, dass allen BenutzernCharaktere, die westliche Kulturen reflek-tieren, aufgezwungen werden, besteht dieGefahr, dass Charaktere nicht von Benut-zern akzeptiert werden, die aus einemanderen Kulturkreis stammen. In der Tathaben Nass und Kollegen [2] festgestellt,dass Benutzer dazu tendieren, einemCharakter, der derselben Kultur angehört,eher zu vertrauen, als einem Charakter,der einer anderen Kultur angehört.

Kultur spiegelt sich nicht nur durch dievisuelle Erscheinung eines Charakters wie-der, sondern gerade auch durch deren Ver-haltensweisen. So ist die Kommunikationmittels Sprache, Gestik, Mimik und Kör-perhaltung sehr stark von kulturspezifi-schen Aspekten geprägt. Dennoch gibt eserst sehr wenige Forschungsprojekte, diekulturspezifisches Verhalten explizitmodellieren. Ein Grund dafür ist, dass dasfür eine Verhaltensmodellierung notwen-dige Wissen nur mit großem Aufwand zu erfassen ist. Erst in jüngster Zeit wirdder kulturellen Prägung der Mensch-Maschine-Interaktion durch virtuelleCharaktere mehr Aufmerksamkeit ge-widmet.

Zum einen wird untersucht, wie virtuelleCharaktere, die eine bestimmte Kulturreflektieren von Menschen verschiedenerKulturen wahrgenommen werden. Dahin-ter steht das Ziel, Charaktere besser an diejeweilige Kultur anzupassen und somit deren Akzeptanz und Wirkung zu verbes-sern. Zum anderen beschäftigen sich For-scher damit, wie kulturspezifisches Verhal-ten systematisch erfasst und von virtuel-len Charakteren imitiert werden kann.Innerhalb einer Simulationsumgebungsoll dann ein spielerischer Erwerb kultu-reller Kompetenz ermöglicht werden.

Im Folgenden sollen aktuelle Forschungs-arbeiten vorgestellt werden, die sich mitder Imitation kulturspezifischen Verhal-tens anhand virtueller Charaktere be-schäftigen. Zunächst wird der Einsatz vonvirtuellen Charakteren für interkulturel-les Coaching diskutiert. Anschließend wirdein Ansatz zur Simulation von kultur-adäquaten Verhaltensweisen beschrieben,der im Rahmen des DFG-Projekts CUBE-G entwickelt wurde. Wie künstliche Figu-ren, die eine bestimmte Kultur reflektie-ren, von menschlichen Betrachtern wahr-genommen werden, soll abschließendbehandelt werden.

2. Virtuelle Charakte-re zur Vermittlungvon Kulturkompetenz

Beim Umgang mit einerfremden Kultur sindnicht nur Sprachkennt-nisse gefragt. Nicht we-niger wichtig ist ein ad-äquates nicht-verbalesVerhalten. In der Tat sindviele ungewollte Krän-kungen und Peinlichkei-ten meist auf Fehler beider nichtverbalen Kom-munikation zurückzu-führen. Wie begrüße ichmein Gegenüber? Reicheich ihm die Hand? Oderdeute ich nur eine leichteVerbeugung an?

Rollenspiele mit virtuellenCharakteren, die aufSprache, Gestik, Mimik und Körperhal-tung bei der Kommunikation zurück-greifen, bergen Potential zur Vermittlungvon Kulturkompetenz. Der Vorteil gegen-über einem Lehrfilm oder -buch bestehtdarin, dass der Benutzer kulturspezifischeUmgangsformen praktisch einüben kann,indem er mit virtuellen Repräsentantender fremden Kultur interagiert. In einerSimulationsumgebung kann getestet wer-den, wie Angehörige einer fremden Kulturauf das eigene Verhalten reagieren, ohnedass es gleich zu unwiderruflichen Zer-würfnissen kommt.

Hofstede [3] skizziert drei Phasen zum Trai-nieren kultureller Kommunikationsfähig-keiten. Zunächst einmal muss sich derLernende kultureller Unterschiede be-wusst werden und diese akzeptieren. DiesePhase könnte durch Szenarien mit virtuel-len Charakteren unterstützt werden, indenen solche Unterschiede zu beobachtensind. In der zweiten Phase wird explizitesWissen über eine andere Kultur erworben.In dieser Phase könnten Charaktere demBenutzer Wissen über ihre Kultur vermit-teln und ihm u. a. die Bedeutung speziel-ler Gesten vermitteln. Laut Hofstede las-sen sich bereits durch die ersten beidenPhasen die gröbsten Schnitzer bei derinterkulturellen Kommunikation vermei-den. In der dritten Phase werden die er-worbenen Fähigkeiten dann in die Praxisumgesetzt, wobei sich der Lernende in

The prevalence of virtual rooms on the internet –Second Life is a well-known example – brings moreand more people in touch with avatars and artificialself-deciding interaction partners – so called virtualcharacters. Due to the global nature of the internet,these characters reflect a variety of cultures – adirect consequence of the cultural background oftheir human creators. This development gives rise toa number of issues that require further research inthe area of man-machine interaction. How does anAsian, for instance, respond to a character develo-ped by a European? Do virtual characters help usdevelop a better understanding of other cultures andovercome cultural barriers? Recent research focuseson the explicit modelling of cultural behaviour andits simulation by means of virtual characters. Thepresent article discusses the imitation of non-verbalbehaviours and reports on studies that investigatehow they are perceived in a multi-cultural context.

SUM MARY

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seinem Verhalten an die neue Kultur an-passt. Diese Phase kann durch Interaktionmit virtuellen Charakteren einer fremdenKultur in einem Simulationsszenariounterstützt werden. Hierzu ist es notwen-dig, dass Charaktere verbale und nicht-verbale Benutzerinteraktionen erkennenund dynamisch auf das Verhalten derLernenden reagieren. Im Folgenden wer-den einige Systeme zur Vermittlung vonKulturkompetenz vorgestellt.

Eines der ersten Systeme, das virtuelle Cha-raktere zur Schulung kulturadäquaterVerhaltensweisen einsetzt, ist TacticalLanguage [4]. Per Spracheingabe interagie-ren auszubildende Soldaten mit der virtuel-len zivilen Bevölkerung in besetzten Gebie-ten, z.B. in einer virtuellen Umgebung, dieeinem realen Einsatzort im Irak nachemp-funden ist. Dabei dient das TacticalLanguage System sowohl als Sprach- alsauch als Kulturtrainer. Bei korrektem Ver-halten des Lernenden bauen die virtuellenCharaktere Vertrauen auf und geben demSoldaten bereitwillig Information, die er zur Erfüllung seiner Mission braucht. Eininadäquates Verhalten, wie z.B. das ver-säumte Abnehmen von Sonnengläsern,würde hingegen zu Konflikten mit derBevölkerung führen. Um Frustrationserleb-nisse bei Lernenden zu vermeiden, sind dievirtuellen Charaktere in einer frühenLernphase toleranter gegenüber Fehlern.

In dem DFG-Projekt CUBE-G [5] sollen Ma-nager anhand eines Rollenspiels mit vir-tuellen Charakteren, die die deutsche unddie japanische Kultur reflektieren, kultur-adäquates Verhalten erlernen. Dazu wer-den drei typische Alltagssituationen inDeutschland und in Japan simuliert: erstesKennenlernen, Verhandlungsdialoge undVerhalten gegenüber Personen mit unter-schiedlichem Status. Damit erhalten japa-nische Nutzer die Möglichkeit, im Rollen-spiel mit virtuellen deutschen Charakte-ren deutsche Umgangsregeln einzuüben,während deutsche Nutzer sich in einerjapanischen Simulationsumgebung mitden Gepflogenheiten der japanischen Kul-tur vertraut machen können.

Eine etwas andere Zielsetzung wird von Is-bister und Kollegen [6] verfolgt. Sie setzenvirtuelle Charaktere als Moderatoren ein,um die Kommunikation zwischen Studen-ten unterschiedlicher Kulturen anzure-gen, die über ein Chat Interface mitein-ander interagieren. Eine Cartoonfigur mitdem Namen Helper Agent, die vom

Aussehen her an einen Hund erinnert,schaltet sich ein, sobald Stille in einerKonversation erkannt wird. In dem Fallstreut Helper Agent neue Themen ein, umdie Kommunikation wieder in Gang zubringen. Eine Evaluation mit deutschenund japanischen Studenten hat ergeben,dass virtuelle Charaktere einen positivenEinfluss auf die Wahrnehmung eigenerund fremder Kulturen haben können.

Das innerhalb des EU-Projekts e-Circus ent-wickelte ORIENT System [7] setzt beimAbbau kultureller Barrieren auf Rollen-spiele mit virtuellen Charakteren. Hierinteragieren Nutzer nicht mit simuliertenreal existierenden Kulturen, sondern mitKreaturen aus einer Phantasiewelt. Umkulturellen Klischees keinen Vorschub zuleisten, haben sich die Entwickler vonORIENT bewusst dafür entschieden, jeg-liche Ähnlichkeit mit existierenden Kul-turen zu vermeiden. Es geht in ORIENTweniger darum, spezielles Wissen übereine Kultur zu erwerben. Stattdessen sollder Benutzer durch Reflexion über daseigene Verhalten und das Verhalten ande-rer mehr Verständnis für andere Kulturenaufbringen. Letztendlich soll die Inter-aktion mit den Charakteren dazu führen,dass Benutzer interkulturelle Empathieentwickeln und ihre abwertende Haltunggegenüber Mitgliedern anderer Kulturenabbauen.

3. Modellierung kulturspezifi-schen Verhaltens durch virtuelleCharaktere

Bisher flossen kulturspezifische Aspekteeher implizit in das Design von Charakte-ren ein. D.h. die Entwickler haben unbe-wusst Verhaltensweisen kodiert, die ihrereigenen Kultur entsprechen. Nur wenigeForschungsprojekte haben es sich zumZiel gesetzt, kulturadäquates Verhaltenexplizit zu modellieren. Ein Beispiel ist daserwähnte CUBE-G Projekt [5]. In der psy-chologischen und sozialwissenschaftlichenLiteratur findet sich eine Vielzahl vonStudien, die das verbale und nicht-verbaleVerhalten verschiedener Kulturen analy-sieren. Nichtsdestotrotz sind diese Studienin vielen Punkten nicht detailliert genug,um sich direkt auf ein computerbasiertesModell übertragen zu lassen. Man erfährtsehr wenig über Abhängigkeiten zwischenModalitäten, da viele Studien nur eineModalität, wie z. B. Blickkontakt und

01

Tactical Language System, Used withpermission of Dr. L.W. Johnson, Copy-right remains with the author.

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deren kulturspezifischeAusprägung untersuchen.Bei der Realisierung virtu-eller Charaktere führt eineisolierte Betrachtung vonPhänomenen bei derzwischenmenschlichenKommunikation jedoch zueinem inkonsistenten undwenig „natürlichen“Verhalten.

Zentrale Idee von CUBE-Gwar die Kombination einestheoriegeleiteten Model-lierungsansatzes mit einer empirischenAnalyse multimodalen Verhaltens. Aus-gangspunkt für die theoriegeleitete Mo-dellierung waren die Arbeiten von Hof-stede [8], der kulturelle Dimensionen zurKlassifikation von Kulturen vorschlägt:Machtdistanz, Individualismus/Kollektivis-mus, Maskulinität/Femininität, Unsicher-heitsvermeidung, lang- oder kurzfristigeAusrichtung von Zielen. In der Literaturfindet sich eine Vielzahl von Studien, diedas kommunikative Verhalten von Kultu-ren mit unterschiedlichen Ausprägungenauf den Hofstede Dimensionen miteinan-der vergleichen. Laut Ting-Toomey [9] sindBegrüßungen in individualistischen Kul-turen beispielsweise kürzer als in kollek-tivistischen Kulturen. Ting-Toomey stelltaußerdem fest, dass Dialoge zwischenDeutschen eine andere Struktur aufweisenals Dialoge zwischen Japanern. Japanergehören einer polychromen Kultur an,d. h. sie tendieren dazu, mehrere Dialog-stränge gleichzeitig zu verfolgen. Im Ge-gensatz dazu gehören Deutsche einermonochromen Kultur an, d.h. sie tendie-ren dazu, ein Thema nach dem anderenzu diskutieren.

Um Zusammenhänge zwischen Kultur-dimensionen und dem daraus resultieren-den Verhalten zu repräsentieren, wurdeauf Bayessche Netze zurückgegriffen, diesich bereits mehrfach bei der Modellierungvon Agentenverhalten bewährt haben.Durch Einstellen bestimmter Parameter,wie die von Hofstede definierten kulturel-len Dimensionen, kann ein Grundverhal-ten von Charakteren dynamisch modi-fiziert werden. Ein Vorteil von BayesschenNetzen besteht in der Behandlung vonUnsicherheit. So lässt sich z.B. modellie-ren, mit welcher Wahrscheinlichkeit einebestimmte Kultur einen mittleren sozialenAbstand einhält (03).

Der theoriegeleitete Ansatz wurde durcheinen empirischen Ansatz zur Initialisie-rung des Bayesschen Netzes ergänzt. Dazu wurde in Zusammenarbeit mit japa-nischen Kollegen eine umfangreiche ver-gleichende Korpusstudie durchgeführt.Sowohl in Deutschland als auch in Japanwurden multimodale Korpora mit zwi-schenmenschlichen Interaktionen in dreitypischen Situationen (erstes Kennenler-nen, Verhandlungsdialoge und Verhaltengegenüber Personen mit unterschied-lichem Status) aufgezeichnet und analy-

siert. Zum Teil konnten dabei Erkenntnis-se aus der Literatur zur Kulturforschungwie die oben erwähnten Beobachtungenvon Ting-Toomey bestätigt werden.

Auf der Grundlage des hier beschriebenenAnsatzes wurde ein System mit virtuellenCharakteren entwickelt, das multimodalesVerhalten zweier unterschiedlicher Kultu-ren imitiert, wobei ein breites Spektrum

02

Cube G System: Die Körperhaltungder deutschen und japanischenCharaktere entspricht typischen Ver-haltensweisen aus den aufgezeichnetenKorpora. Deutsches Szenario (links),japanisches Szenario (rechts).

03

Stark vereinfachtes Bayessches Netz zur Modellierung des Zusammenhangszwischen kulturellen Dimensionen undVerhaltensweisen:IDV = Individualismus/Kollektivismus,MAS = Maskulinität/Femininität,UAI = Unsicherheitsvermeidung, PDI = Machtdistanz, LTO = lang- oder kurzfristige Ausrich-tung von Zielen.

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multimodalen Verhaltens wie Sprache,Mimik, Körperhaltung, sozialer Abstand,Gestik und Gesprächspausen untersuchtund realisiert wurde. Ein Teil davon fin-det sich in dem Bayesschen Netz in (03)

wieder.

4. Kulturspezifische Interaktionmit virtuellen Charakteren

Ein in der Fachwelt viel zitiertes Problem beider Modellierung von virtuellen Charak-teren ist die Asymmetrie von Kommu-nikationskanälen. Während virtuelle Cha-raktere auf Sprache, Gestik und Mimikzurückgreifen, um mit menschlichenBenutzern zu interagieren, muss sich dermenschliche Benutzer auf stark einge-schränkte Eingabemöglichkeiten, in vielenFällen sogar nur getippte Sprache, kon-zentrieren. So können Nutzer von TacticalLanguage zwar in natürlicher Sprache mitCharakteren interagieren. Die dazu pas-sende Gestik muss jedoch anhand einesMenüs ausgewählt werden.

Erste Versuche, natürlichere Gesten einesBenutzers zu ermöglichen, wurden indem DFG-Projekt CUBE-G [10] unternom-men. Um Arm- und Handbewegungeneines Benutzers im dreidimensionalenRaum zu erkennen, wurde auf NintendosWii Remote Controller (Wiimote) zu-rückgegriffen (04). Die Wiimote ist mitBeschleunigungssensoren ausgestattet,über die Bewegungen in drei Richtungen (x: links/rechts, y: vorne/hinten, z: oben/unten) erfasst werden. Zur Interpretationvon Bewegungen wurden unterschiedlicheKlassifikationsverfahren, wie z. B. Naive

Bayes, getestet, die Rohdaten, währendder Benutzer interagiert, auf bestimmteGestenklassen abbilden. Für die Realisie-rung des CUBE-G Systems waren vorallem zwei Arten der Einteilung in Klasseninteressant:

Klassifikation von EmblemenEmbleme sind Gesten mit standardisierterForm und Bedeutung. Sie werden in vie-len Fällen auch dann verstanden, wenn sievon keinerlei sprachlichen Äußerungenbegleitet werden. Ein bekanntes Beispiel istdas Heben eines Daumens, um ein „Okay“zu signalisieren. Viele Embleme sind kul-turspezifisch. So hat die Bildung einesRings mit Daumen und Zeigefinger invielen Kulturen die Bedeutung von „Aus-gezeichnet“, in Italien kann diese Gesteaber auch als Beleidigung aufgefasst wer-den. Bei der Klassifikation von siebendeutschen Gesten wurden Erkennungs-raten von über 90 Prozent erreicht. Damiterscheint der Einsatz von Gestenerken-nungskomponenten zum Erwerb kul-tureller Kompetenz durchaus realistisch.

So könnte ein System erkennen, ob derBenutzer bei der Interaktion Gesten ein-setzt, die im jeweiligen kulturellen Kon-text angebracht sind und entsprechenddarauf reagieren.

Klassifikation von Gesten nach der Aus-drucksstärkeStudien haben ergeben, dass nicht nur dieBedeutung von Gesten, sondern auch dieArt der Gestenausführung kulturspezi-fisch ist. Beispielsweise tendieren Südeuro-päer dazu, häufiger Gesten einzusetzen alsNordeuropäer. Darüber hinaus nehmendie Gesten von Südeuropäern mehr Raum

04

Interaktion mit der Wiimote: Wiimote (links), gestikulierenderBenutzer (Mitte), Signal der dreiBeschleunigungssensoren (rechts)

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ein und weisen eine höhere Geschwindig-keit auf. Eine Evaluation der Gestenerken-nungskomponente hat ergeben, dass dieKlassifikation von Gesten nach der Aus-drucksstärke in höherem Maße als dieKlassifikation von Emblemen von körper-lichen Faktoren, wie z.B. Körpergröße desBenutzers, abhängt. So bereitet vor allemeine Kategorisierung von Gesten nachhoher, mittlerer oder niedriger räum-lichen Ausdehnung Probleme. Darüberhinaus spielen Persönlichkeitsfaktoreneine starke Rolle. So verwenden extrover-tierte Benutzer häufiger Gesten als intro-vertierte Benutzer.

Gestenerkennung über die Wiimote bietetden Vorteil, dass sie im Vergleich zu einemvideobasierten Ansatz relativ robust istund näher an eine natürliche Interaktionherankommt. Nachteilig ist, dass der Be-nutzer immer ein Gerät in der Hand hal-ten muss und zumindest in der aktuellenVersion nur die Gesten einer Hand erfasstwerden.

5. KulturspezifischeWahrnehmung von Charakteren

Durch Entwicklungen wie Second Life kom-men Benutzer mit unterschiedlichemkuturellem Hintergrund mit virtuellenCharakteren in Berührung. Eine interes-sante Fragestellung ist daher, wie sich dieKultur, aus der der Designer eines virtuel-len Charakters stammt, auf die Mensch-Maschine-Interaktion auswirkt. ZahlreicheStudien von Nass und Kollegen deutendarauf hin, dass Menschen Computer alssoziale Akteure behandeln [11]. Es istdaher zu erwarten, dass kulturbedingteUnterschiede im Verhalten von virtuellenCharakteren ähnlich wahrgenommenwerden wie kulturbedingte Unterschiedeim Verhalten von Menschen.

Ekman [12] vertritt die Auffassung, dass diesieben Basisemotionen Glück, Trauer,Überraschung, Wut, Ekel, Furcht und Zu-friedenheit universell über alle Kulturenhinweg auf ähnliche Weise zum Ausdruckgebracht werden. Die sich daraus ergeben-den sozialen Implikationen und Konven-tionen hängen dennoch von der jewei-ligen Kultur ab. So tendieren Menschenaus individualistischen Kulturen eherdazu, ihre Emotionen offen zu zeigen, wasMenschen aus kollektivistischen Kulturenmöglicherweise als unhöflich ansehenwürden. Kollektivistische Kulturen neigen

hingegen dazu, Emotionen zu unter-drücken, wenn sie nicht mit denen derGruppe übereinstimmen. Elfenberg beob-achtet einen Eigengruppen-Vorteil [13] beider Erkennung von Emotionen. Je näherzwei Kulturen einander sind, umso höherist die Genauigkeit bei der Erkennung vonEmotionen. Darüber hinaus werden nega-tive Emotionen in der Regel leichter er-kannt als positive Emotionen, was evolu-tionsbedingt dadurch erklärt werdenkann, dass das Unvermögen, negativeEmotionen korrekt zu interpretieren un-angenehme oder sogar lebensbedrohlicheFolgen nach sich ziehen kann.

Eine Reihe von Studien untersucht dieWahrnehmung von emotionalen Gesichts-ausdrücken bei künstlichen Figuren, mitdem Ziel, Gemeinsamkeiten mit oderUnterschiede zu der Wahrnehmung vonEmotionen in menschlichen Gesichternzu identifizieren. Beskow und Kollegen[14] führten ein Experiment durch, umkulturelle Unterschiede bei der Wahrneh-mung von emotionalen Gesichtsausdrü-cken zu untersuchen. Italienischen undschwedischen Versuchspersonen wurdenVideoaufnahmen von schwedischen unditalienischen Schauspielern sowie einesschwedischen und italienischen synthe-tisierten Gesichts präsentiert und solltenangeben, welche von drei Emotionen inden Aufnahmen ausgedrückt wurden. Es wurden keine kulturbedingten Unter-schiede in der Wahrnehmung von Video-aufnahmen, die aus dem eigenen und demfremden Kulturkreis stammen, beobach-tet. Zusätzlich wurde das schwedischeGesicht mit den Parametern zur Ansteue-rung des italienischen Gesichts (FacialAnimation Parameters: FAP) und umge-kehrt kontrolliert. Die durch diese bei-den Varianten ausgedrückten Emotionenwaren am schwierigsten zu erkennen, wasdie Autoren jedoch auf die Ansteuerungmittels Gesichtsanimationsparameter und nicht auf kulturbedingte Faktorenzurückführten.

Während Beskow und Kollegen nur zweiKulturen untersuchten, führte Koda [15]ein offenes Web Experiment durch, um zu untersuchen, ob Gesichtsausdrückevon Cartoonfiguren von allen Kulturengleichermaßen gut verstanden werden. 12 Gesichtsausdrücke wurden auf derGrundlage des Emotionsmodells vonOrtony, Clore und Collins [16] modelliert.Insgesamt nahmen 1237 Teilnehmer aus

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31 Ländern teil, davon 675 männlich und561 weiblich. Die Antworten von den Län-dern mit mehr als 40 Teilnehmern wurdenanalysiert. Dabei wurde u.a. die Überein-stimmungsrate bestimmt, d.h. der Anteilder „Ausdruck-Adjektiv“-Paare jeden Landes, die mit denen des japanischenDesigners übereinstimmen. Es stellte sichheraus, dass die Übereinstimmungsrateder Japaner am höchsten ist. Korea hattedie zweitgrößte Übereinstimmungsrate.Offensichtlich sind die Erkennungsratenumso höher, je näher die Kultur derbewertenden Personen der Kultur desDesigners ist. Ebenfalls bestätigt werdenkonnte die Beobachtung von Emotions-psychologen, dass negative Emotionen in der Regel besser verstanden werden.Negative Ausdrücke hatten eine signifi-kant höhere Übereinstimmungsrate unab-hängig vom Land, während positive Aus-drücke leichter verwechselt wurden. Dasursprüngliche Webexperiment von Kodawurde kürzlich verfeinert, indem Designeraus mehreren Ländern rekrutiert wurden.Im Wesentlichen konnten die Ergebnissedes früheren Experiments bestätigt werden[17].

Kulturspezifisches Verhalten spiegelt sichnicht zuletzt auch in der Wahl sprach-licher Äußerungen wieder. Erteilt ein Sys-tem dem Benutzer Instruktionen, so kön-nen Nuancen in der Formulierung einenentscheidenden Einfluss auf die Wahrneh-mung von Höflichkeit haben. Um dieserFrage nachzugehen, führten Johnson undKollegen [18] eine interdisziplinäre Studiemit 43 amerikanischen und 83 deutschenStudierenden durch. Ausgangspunkt fürdie Studie war ein an der University ofCalifornia entwickeltes computerbasiertesModell für Tutorstrategien, die unter-schiedliche Formen von Höflichkeitreflektieren. Die Versuchspersonen in USAund in Deutschland wurden gebeten, dieihnen in Englisch bzw. Deutsch präsentier-ten Strategien nach dem Grad der Höf-lichkeit zu bewerten. Die Ergebnisse derStudie lassen sich wie folgt zusammenfas-sen: Es bestand eine signifikante Überein-stimmung zwischen amerikanischen unddeutschen Studierenden für die subjektiveWahrnehmung von Höflichkeit bei com-puterbasierten Tutoragenten. Offensicht-lich haben amerikanische Studenten einähnliches Verständnis von Höflichkeit wiedeutsche Studenten. Kleinere Unterschie-de wurden in einzelnen Fällen beobachtet,bei denen eine direkte Übersetzung von

Tutorstrategien vom Englischen insDeutsche nicht möglich war. Die Unter-scheidung zwischen „Du“ und „Sie“, dieim Deutschen u. a. den sozialen Statuswiderspiegelt, hatte keinen signifikantenEinfluss auf die Wahrnehmung von Höf-lichkeit bei Computeragenten. Die Ergeb-nisse bestätigen frühere Studien, nachdenen die Entwickler von Tutorsystemenin Betracht ziehen sollten, dass Lernendedazu tendieren, computerbasierte Charak-tere als soziale Kommunikationspartneranzusehen. Sie lieferten außerdem wich-tige Anhaltspunkte für die Modellierungdes Verhaltens computerbasierter Tutor-agenten.

6. Fazit

Durch enorme Fortschritte im BereichComputergraphik und -animation werdenvirtuelle Charaktere vom Benutzer zu-nehmend als belebte eigenständige Wesenmit einem humanoiden Verhalten wahr-genommen. Kulturspezifische Ausprägun-gen fanden bisher jedoch kaum Beach-tung. Dieser Artikel diskutiert erste Ver-suche, virtuelle Charaktere mit kulturspe-zifischen Verhaltensweisen auszustatten.Zur Modellierung von kulturellen Aspek-ten wurde eine Kombination von einemtheoriegeleiteten und einem empirischenAnsatz vorgeschlagen. Erkenntnisse ausden Kulturwissenschaften dienen alsGrundlage für die automatische Ver-haltensgenerierung und werden durchVerhaltensmuster, die aus Korpora mitzwischenmenschlichen Interaktionenextrahiert werden, ergänzt.

Erste Studien scheinen anzudeuten, dasskulturspezifische Merkmale von virtuellenCharakteren ähnlich wahrgenommenwerden wie kulturspezifische Merkmalevon menschlichen Interaktionspartnern.Je näher eine Figur der Kultur desmenschlichen Betrachters ist, umso höherist die Wahrscheinlichkeit, dass derennichtverbales Verhalten korrekt inter-pretiert wird. Zu berücksichtigen ist aller-dings, dass die meisten Studien bestimmteKulturausprägungen, z.B. Mimik, un-abhängig von anderen Kommunikations-kanälen betrachten. Ebenso wenig kannvon einem wirklich holistischen Ansatz beider Verhaltensmodellierung gesprochenwerden. Damit imitieren virtuelle Charak-tere immer nur ausgewählte Merkmaleeiner bestimmten Kultur und stellen da-her eine eigene künstliche Kultur dar. •

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Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurdeteilweise unterstützt durchdie Deutsche Forschungs-gemeinschaft (DFG) unterdem FörderkennzeichenRE 2619/2-1 (CUBE-G) und durch die EuropäischeUnion unter dem Förder-kennzeichen IST-4-027656-STP (eCIRCUS). •

Elisabeth André

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Prof. Dr. Elisabeth André

studierte Informatik und Mathematik an der Universität des Saarlandes und erhielt 1988 ihr Informatikdiplom für ein Gene-rierungssystem zur automatischen Kommentierung von Fußballspielen. Am Deutschen Forschungszentrum für KünstlicheIntelligenz in Saarbrücken leitete sie mehrere Projekte im Bereich „Intelligente Multimediale Benutzerschnittstellen“.Hervorzuheben ist hier das Projekt WIP, das 1995 in Brüssel mit dem Europäischen „Information Technology InnovationAward“ (IT Prize) ausgezeichnet wurde. 1995 promovierte sie zum Thema „Ein planbasierter Ansatz zur Generierungmultimedialer Präsentationen“. Seit 2001 ist sie Lehrstuhlinhaberin für Multimedia-Konzepte und ihre Anwendungen an derUniversität Augsburg. Dort leitet sie derzeit das Institut für Informatik. Ihre Forschungen im Bereich neuer Interaktions-formen für Mensch-Maschine-Kommunikation sind transdisziplinär ausgerichtet. Sie arbeitet mit Mediengestaltern,Kognitionspsychologen, Pädagogen und Dramaturgen zusammen. Im Sommersemester 2007 war Elisabeth André Fellow derAlcatel-Lucent Stiftung für Kommunikationsforschung am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung derUniversität Stuttgart.

KontaktUniversität Augsburg, Institut für InformatikEichleitnerstr. 30, D–86135 AugsburgTel. +49 821/598-2341, Fax +49 821/598-2349E-Mail: [email protected]

DIE AUTOR IN

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1. Natur und Technik

Unter „Natur“ sei hier die belebte Umweltdes Menschen verstanden, in die dieser als organisches Wesen eingebettet ist. Als„Technik“ bezeichne ich die Möglich-keiten der Nutzung von Strukturen undKräften der Natur, die im Gehirn des Men-schen entstanden sind. Der Mensch istProdukt der natürlichen Evolution, dochist ihm die Möglichkeit gegeben, durchkulturelle Tradierung Daten anders wei-terzugeben als die natürliche Evolution

dies kann. Das Fortführen der biologi-schen Evolution mit den Methoden derkulturellen Evolution ist nun die Grund-lage für ein Lernen, das Natur und Tech-nik partnerschaftlich zu verbinden ver-mag. Aus solch einem Lernen ließe sicheine „Biostrategie“ entwickeln, die in eineÜberlebensstrategie mündet. Deren Um-setzung ist freilich nicht nur eine Frageder Einsicht, sondern auch des politischenund wirtschaftlichen Handelns – ein Kom-plex, der von vielen Facetten bestimmtund mit gestaltet wird.

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HerausforderungBionik

Wechselwirkungen zwischen Natur und Technik

Unser kulturelles Selbstverständnis wird entscheidend geprägt durch unser Ver-

hältnis zu Natur und Technik. Natur und Technik standen sich bis vor kurzem

abweisend gegenüber, zumindest gleichgültig. In der Entwicklung der Mensch-

heit schien „Natur“ stets etwas, gegen das es sich zu behaupten galt, das ge-

fährlich war und gegen das

man „kultivierend“ ankämpfen

musste. Diese Sichtweise hat

sich gewandelt. Es ist modisch

geworden, vor der Unter-

drückung und Ausbeutung der

Natur zu warnen, ja Natur vor

unserem immer unerbittlicher

werdenden Zugriff radikal

schützen zu wollen. Beiden

Sichtweisen haftet etwas Fun-

damentalistisches an. Wir wer-

den indes nur überleben, wenn

wir das Verhältnis zwischen

Mensch und Natur wirklich part-

nerschaftlich gestalten. 01

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Hier sollen zwei unverzichtbare methodi-sche Werkzeuge eines derartigen Lernensthematisiert werden: Technische Biologieund Bionik.

2. Technische Biologie undBionik

Technische Biologie und Bionik gehörenzusammen. Die Technische Biologie er-forscht die Konstruktionen, Verfahrens-weisen und Evolutionsprinzipien der Na-tur aus dem Blickwinkel der TechnischenPhysik und verwandter Disziplinen. DieBionik versucht, diese Grundlagen-Ergeb-nisse in die Technik zurückzuprojizierenund Anregungen zu geben für neuartige,dem Menschen und der Umwelt dien-lichere Lösungen.

Man neigt dazu, den Begriff „Bionik“ ausden Anfangs- und Endsilben von „Bio-logie“ und „Technik“ zusammenzusetzen.Das stellt zwar klar, dass die beiden bislangstark getrennten Disziplinen zusammen-kommen sollten. Nur wenn wir durcheine sinnnvolle Integration die Grenzenüberwinden, wenn wir einsehen, dass diebiologisch orientierten und die techni-schen Disziplinen voneinander lernenkönnen, werden wir weiterkommen. Aberder Begriff „Bionik“ geht auf das Wort„bionics“ zurück, das der amerikanischeLuftwaffenmajor John E. Steel Ende der60er Jahre geprägt hat und das eher Dingemeint, die irgendwie mit Biologie zu tunhaben. Später wurde dafür im angelsäch-sischen Raum der Begriff „biomimetics“eingeführt, der auch heute noch als Syno-nym verwendet wird. Gemeint ist in je-dem Fall das „Lernen von der Natur fürdie Technik“. Dieses Lernen stellt sich abernicht so einfach dar. Die Natur liefertkeine Blaupausen. Abstrahieren und tech-nisch angemessen umsetzen kann mannur Naturprinzipien.

Daher habe ich ab den 70er Jahren bionischesArbeit wie folgt definiert: „Lernen von derNatur für eigenständiges ingenieurmäßigesGestalten“. Die Natur gibt also Anregun-gen, die der Ingenieur nicht kopiert, son-dern in die konstruktive Gestaltung – legeartis seiner Wissenschaft – einbringt.

Auf einer Tagung des Vereins Deutscher In-genieure über „Analyse und Bewertungzukünftiger Technologien“, Düsseldorf1993, hat man sich auf folgendes Verständ-nis geeinigt: „Bionik als wissenschaftlicheDisziplin befasst sich mit der technischen

Umsetzung und Anwen-dung von Konstruktions-,Verfahrens- und Entwick-lungsprinzipien biologi-scher Systeme“. Demnachist Bionik eine Anwen-dungsdisziplin, derenGegenstände in den dreiGrunddisziplinen derKonstruktionsbionik,Verfahrensbionik und Ent-wicklungsbionik zusam-mengefasst werden kön-nen. Basis für den Er-kenntnisgewinn und fürjeden Übertragungsaspektist immer das Sosein bio-logischer Systeme.

In den letzten Jahren hatsich die Einsicht gefestigt,dass die VDI-Definitionvon 1993 zu erweitern ist.Insbesondere kommt einwichtiger Grundaspekt derBionik nicht genügend zurGeltung, nämlich dieTechnik auch so zu beein-flussen, dass sie Menschund Umwelt stärker nützt.Ich habe deshalb die fol-gende, kurz gefasste Alternative vorge-schlagen: „Lernen von den Konstruktions-,Verfahrens- und Entwicklungsprinzipiender Natur für eine positive Vernetzungvon Mensch, Umwelt und Technik“. DieseFormulierung umfasst auch Interaktionenzwischen Umwelteinflüssen und Lebe-wesen. Für bionisches Arbeiten lassen sichbereits zahlreiche Beispiele anführen, klas-sische und moderne.

3. Ein klassisches Beispiel: DerStahlbeton

Josef Monier war „horticulteur, paysagiste“,hatte also viel mit gärtnerischen Proble-men zu tun. Aus dem Ärger darüber, wieteuer und bruchgefährdet steinerne odertönerne Pflanztöpfe sind, und aus der Be-obachtung, dass die aus einem Opuntien-blatt herauswitternde, vernetzte Skleren-chym-Struktur der Blattmasse Festigkeitgibt, hatte er die Idee, Pflanztöpfe inMehrkomponentenbauweise herzustellen.Ein Drahtkorb – entsprechend dem Skle-renchym-Netz von Pflanzen – gibt Zug-festigkeit und hält zugleich die druckfesteZementmasse – entsprechend dem

In neuerer Zeit hat man begonnen, die Denk- undHandlungsschranken zwischen Natur und Technikzu überwinden. Das Handwerkszeug dazu sind dieDisziplinen „Technische Biologie“ (Natur besserverstehen mit den Beschreibungs- und Analyse-methoden der Technischen Physik) und Bionik (An-regungen aus der Natur in die Ingenieurwissen-schaften einbringen). Die Vorgehensweise bei sol-chen Vergleichen zwischen Natur und Technik wirdan Beispielen erläutert. Ein klassisches ist Monier’sStahlbeton, ein modernes der Lotus-Effekt. Beidehaben die Technik stark beeinflusst im Sinne einerAbstraktion von Naturprinzipien und ihre technik-angemessene Umsetzung. Von grundlegender Bedeu-tung aber wird die „Grüne Photozelle“ und einesolare Wasserstofftechnologie nach dem Vorbild desgrünen Blatts werden: Artifizielle Photosynthese.Die Bionik arbeitet nach bestimmten Vorgehenswei-sen, die in Form von zehn Grundprinzipien geschil-dert werden. Auf die Frage, was Bionik denn letzt-lich leisten könne, lassen sich Stichworte nennen, zudenen „Nachhaltigkeit“, „Effizienz“ und „Erprobt-heit“ gehören. Die zukünftigen Querverbindungenzwischen natürlicher und technischer Umwelt müs-sen systemerhaltend sein. Dann kann sich aus bioni-schen Ansätzen eine Biostrategie entwickeln.

ZUSAM M ENFASSUNG

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Parenchym der Pflanzen – in Form. DieZementmasse wiederum stabilisiert dieLage des Drahtkorbs.

Die Grundidee dieser frühen Übertragung(Patente ab 1867) ist bereits typisch bio-nisch: Ohne sklavisch zu kopieren, wirdein Prinzip der Natur abstrahiert. DasNaturprinzip heißt: mechanisches Zusam-menwirken eines zugfesten Sklerenchym-Netzzylinders mit einer druckfestenParenchym-Matrix. Das technische Prinzipheißt: mechanisches Zusammenwirkenzwischen einer sklerenchym-analogenStahlarmierung mit einer parenchym-ana-logen Zementmasse. Aus dieser Analogiehat sich ein völlig neuer Industriezweigentwickelt, der Stahlbeton-Bau. Er hat un-sere städtebauliche Umwelt dramatischbeeinflusst und damit unsere Kultur tief-greifend verändert.

4. Ein modernes Bespiel: Der Lotus-Effekt

Im Buddhismus gilt die Indische Lotusblu-me, Nelumbo nucifera, als Symbol der Rein-heit. Aus sumpfigen Gewässern entfaltensich ihre schlammbedeckten Blätter;bereits mildester Tau aber reinigt sie voll-ständig. Dieser Selbstreinigungseffekt istnach den grundlegenden Forschungs-ergebnissen von Barthlott und Neinhuis(1997) auf eine spezielle Oberflächenstruk-tur der Blätter zurückzuführen. Wachs-kristalloide formen kleine Knötchen oderNoppen, etwa 15 µm groß und etwa 40 µmvon einander entfernt. Es handelt sich alsoum bereits mit einer starken Lupe sicht-bare Mikrostrukturen. Diese sind aberinfolge ihres Aufbaus aus feinsten Wachs-röhrchen zudem submikroskopisch struk-turiert. Wegen des Wachsmaterials sind siehydrophob, also wasserabweisend.

Die Bioniker haben nun entdeckt, dass hyd-rophobe, fein genoppte Oberflächen unterBetauung oder leichtem Regen selbstreini-gend sind. Die Kombination dieser dreiParameter wurde Gegenstand des daraufaufbauenden Patents. Auf einer glattenLackschicht, etwa einem schräg geneigtenAuto-Kotflügel, ziehen sich Tau- oderRegentropfen kapillar breitflächig ausein-ander. Schmutzpartikelchen werden ent-weder überrollt oder abgehoben und wie-der abgesetzt. Eine solche Oberfläche istnicht selbstreinigend. Fein genoppte undhydrophobe Oberflächen dagegen erlau-ben dem Wassertropfen keine Benetzungs-

fähigkeit, so dass er abgekugelt bleibt undabrollt. Schmutzpartikelchen sitzen nurmit sehr kleinen Berührungsflächen aufden Noppen auf. Sobald die Adhäsions-kräfte zum Wassertropfen größer sind alsdie zur Unterlage, werden sie von derOberfläche des Tropfens eingefangen undmit abgerollt. Nach diesem Prinzip derSelbstreinigung hat eine Firma (Ispo, da-mals Dückerhoff-Gruppe) einen neuarti-gen Fassadenlack namens „Lotusan“ ent-wickelt.

Die Entwicklungsingenieure der Lackindus-trie haben die Prinzipien der Natur mitInteresse aufgenommen, da sie in dieserKombination im technischen Bereichnoch nicht bekannt waren, dann abertechnologisch eigenständig weiterent-wickelt. Es hätte keinen Sinn gehabt, dieNatur insofern zu kopieren, als manWachs-Kristalloide eingebaut hätte: JederDaumendruck hätte sie funktionsunfähiggemacht. Vielmehr wurde nach längerenVersuchsreihen eine Mischung aus unter-schiedlichen Sanden und Kieselgur ver-wendet, die beim Trocknen in Selbst-bildungsprozessen eine analog wirkendeOberfläche ausgestaltet.

Wichtig ist also, dass ein Funktionsprinzipder Natur nicht 1:1 umgesetzt, sondernzunächst abstrahiert worden ist, um aufder Basis dieser Abstraktion eine tech-nisch-adäquate Lösung zu entwickeln.Ausgehend von der Zufallsbeobachtung,dass manche Pflanzen nicht verschmut-zen, hat die morphologische Oberflächen-untersuchung zur Abstraktion des Funk-tionsprinzips geführt, aus der sich nacheiner relativ langwierigen Grundlagen-forschung letztendlich über die Industrie-forschung das Produkt „Lotusan“ ergebenhat.

Es fragt sich, wo bei diesem Beispiel die„Fernziele“ der Bionik stecken, Natur undTechnik in besseren Einklang zu bringen.Sie liegen in der allgemeinen Potenz desSelbstreinigungseffekts. Nicht-Selbstreini-gung bedeutet zwangsläufig Fremdreini-gung, die stets mit umweltschädigendenSubstanzen und Verfahren verbunden ist.Bei der bionischen Fassadenfarbe mag dasnoch nicht so auffallend sein; hier hat ins-besondere die vertreibende Firma einenUmsatzvorteil. Wenn der Effekt aber dieNotwendigkeit eines neuen Fassadenan-strichs hinausschiebt, schlägt das unmit-telbar auf geringeren Materialverbrauchund reduzierte Umweltbelastung durch;

01

02

Analogie zwischen Pflanzenstängel-Aufbau und Stahlbeton. Querschnittdurch den Halm eines Grases. Braun-schwarz: Sklerenchymstränge, analogBewehrung. Grün: Parenchymmatrix,analog Zement.

Zum Lotus-Effekt. A: GenopptesLotus-Blatt. B: Auf glatter Oberflächegleitet der Wassertropfen über dieSchmutzpartikel. C–D: Auf genoppterOberfläche rollt der Tropfen Schmutz-partikel mit ab.

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bei den riesigen Flächen wäre das durch-aus beachtlich.

Bisher ist es nicht gelungen, den Lotus-Effekt auch im Bereich der Autolacke zunutzen. Angesichts des immensen Reini-gungs- und Spülmittelaufwandes und desdrastischen Wasserverbrauchs in Auto-waschstraßen läge hier aber ein besonderswichtiger Einspareffekt. Niemand wirdhier freilich blauäugig sein. Autos ver-schmutzen die Umwelt dramatisch, wer-den deshalb aber nicht abgeschafft. Auto-waschstraßen wird es geben, so lange esAutos gibt. Hier kann es also nur um relati-ven Umweltschutz gehen.

Gleiches gilt für die „künstliche Haifisch-haut“. Geriefte Folien, die so skulpturiertsind wie die Schuppenoberflächen raschschwimmender Hochseehaie, reduzierenden Oberflächenwiderstand und damitauch den Treibstoffverbrauch von Groß-flugzeugen, wenn man ihre Rümpfe undFlügel damit beklebt. Das bedeutet zwarnur einige wenige Prozent an Reduktion,die sich weltweit aber auf die Einsparunggigantischer Kerosinmengen aufaddierenwürden.

Bionische Entdeckungen wie die genanntenkönnen also helfen, umweltschädlicheProzesse zu verlangsamen; sie verhinderndiese aber nicht. Andererseits könnten Na-turvorbilder aber auch zu prinzipiell syste-merhaltenden Neuerungen führen. Dazugehört mit Sicherheit eine solare Wasser-stofftechnologie nach dem Vorbild dergrünen Pflanze.

5. Die „grüne“ Zelle: artifiziellePhotosynthese

Oft gehört: Die Zukunft gehört dem Wasser-stoffauto, denn bei der Verbrennung vonWasserstoff entstehen keine Schadstoffe.Dass man mit Wasserstoff, der in Stahl-flaschen gespeichert ist, Fahrzeuge prob-lemlos antreiben kann, zeigen bereitszahlreiche Stadtbusse. Neue Speichermög-lichkeiten für Wasserstoffgas und neueUmsetzsysteme (Brennstoffzellen) sind inEntwicklung. Mit Wasserstoff lässt sichnicht nur das Kraftfahrzeugwesen revolu-tionieren. Wasserstoff könnte man überallals Energielieferant einsetzen, aber auchals Basis für chemische Syntheseprodukte.

Das Problem ist nur: Wo kommt der Wasser-stoff her? Natürlich kann man ihn ausErdöl gewinnen, beispielsweise durch dasKracken von Schwerölen. Das verlagert

aber nur das Problem der Umweltschädi-gung vom Auto auf die Erdölaufbereitung.Weiterführend ist nur eine solare Wasser-stofftechnologie. Daran wird weltweit fie-berhaft gearbeitet. Kann Bionik auch hier-bei hilfreich sein? Die grüne Pflanze ist mitihrer Photosynthese seit mehreren 100Jahrmillionen „erfahren“ im internenUmgang mit Wasserstoff. Lässt sich erwar-ten, dass eine artifizielle Photosynthesenach dem Vorbild des grünen Blatts dieLösung des Energieproblems bringt?

Ja und nein. Am Beispiel der „künstlichenPhotosynthese“ kann man zeigen, dassBionik kein endgültiger Lösungsansatzsein muss und oft auch nicht sein kann.Bionik führt bis zu einem bestimmtenPunkt, dann muss die technische Weiter-entwicklung in eigenständiger Weise ein-setzen.

An der sehr einfach aussehenden Summen-gleichung der Photosynthese kann mandie Ausgangsverbindungen und Endpro-dukte ablesen, aber nicht die Verfahrens-wege:

6 CO2 + 6 H2O + Sonnenenergie →C6H12O6 + 6 02

Das Kohlendioxid stammt aus der Luft, derWasserstoff aus dem Wasser, das die Pflan-zen im allgemeinen über ihre Wurzelnaufgenommen haben. Er wird interntransportiert und zur Bildung einer Zu-ckersubstanz an eine aus dem Kohlen-dioxid synthetisierte Kohlenstoffkette an-gehängt. Beim internen Transport wird erzerlegt in Protonen und Elektronen, diegetrennte Wege gehen. Aufs Äußerste ver-einfacht stellt sich das System wie folgtdar:

Die energiereichen Sonnenstrahlen führenzu einer Zerlegung von Wasser; Sauerstoffwird als „Abfall“ frei, Basis für jedes tieri-sche und menschliche Leben. Die Elektro-nen werden paarweise über eine Redox-potential-Kaskade geleitet, wobei sie stu-fenweise Energie abgeben, die in einem„Bioakku“ (ADT-ATP-System) zwischen-gespeichert wird. Der auf anderen Wegenabtransportierte Wasserstoff wird an dieKohlenstoffkette angelagert; das Schließender Bindung ist ein endergonischer Vor-gang, er bedarf der Energiezufuhr. Die nö-tige Energie wird durch die Entladung dervorher aufgeladenen „Bioakkus“ gewon-nen. Es resultiert letztlich ein Kohlen-wasserstoff, ein Einfachzucker, nämlichGlukose.

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Handgroßes Modell einer Haischuppe

Blätter überlagern sich meist so, dasssie sich beim „Abernten“ des Sonnen-lichts wenig stören.

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Der in der Abbildung (05) als „A“ gekenn-zeichnete Vorgang stellt die Basis für einebiologische Photovoltaik dar; an einer der-artigen „grünen Fotozelle“, die als Folie

verfügbar ist und an Haus-wänden, Dächern ange-bracht werden kann, wirdderzeit gearbeitet. Auch inFensterscheiben ließe sichdiese integrieren. Ziel derweltweiten Entwicklung isteine langzeitstabile, billigePhotovoltaik-Fläche, dieeines Tages die kompliziertund energieaufwendig zuproduzierenden Silizium-Solarpaneele ablösen kann.Der Vorgang „B“ (05) führtzu einer solaren Wasserstoff-technologie. Solar gewonne-nen Wasserstoff könnte manwohl auch über Wasserelek-trolyse erzeugen, doch istderen Wirkungsgrad sehrschlecht, und das Verfahrenist technologisch nicht ele-gant. Dagegen wäre die pho-tochemische Wasserspaltungals „künstliche Photosynthe-se“ der geeignete Weg der

Zukunft. Solar erzeugter Wasserstoffkönnte technologisch immens vielseitigeingesetzt werden.

Wie erkennbar, endet die bionische Anre-gung aber mit dem Transport von Elektro-nen einerseits und dem von Protonen an-dererseits. Fast nirgendwo transportiert

die Pflanze gasförmigen Was-serstoff. Die Umsetzung indieses letztlich interessieren-de Produkt bleibt also eineeigenständige Entwicklungs-aufgabe des chemischen In-genieurwesen.An diesem Beispiel, mit demsich für die Bionik ein gera-dezu ungeheueres Zukunfts-potential eröffnet, kann manlernen, die Grenzen bioni-schen Vorgehens zu erken-

nen. Generell gilt: Jedes biologische Sys-tem, jedes Tier, jede Pflanze, enthält man-nigfache Konstruktionselemente, die manin der Technik nicht unbedingt so kombi-nieren muss, wie das jeweilige biologischeSystem es tut. Sie stehen vielmehr für jedebeliebige Art der Kombination zur Ver-fügung. Damit kann der Ingenieur und

Techniker Neuartiges schaffen, das so inder Natur nicht vorkommt. Er muss nurschöpferisch vorgehen, sich neue Wir-kungsbereiche erschließen. Dabei ist dasAnregungspotential der Bionik, basierendauf einer Reihe prinzipieller Vorgehens-weisen, unerschöpflich.

6. Grundprinzipien bionischerVorgehensweise

Wenn man die Natur näher betrachtet, fin-den sich eine Reihe von Grundprinzipien,die typisch sind für ihr systemisches Funk-tionieren.

Prinzip 1: Integrierte statt additiverKonstruktion

Während die Technik Konstruktionen ausEinzelelementen zusammensetzt unddiese jeweils für sich optimiert, arbeitet dieNatur mit „integrierten Konstruktionen“,die als solche optimiert werden; das„Konstruktionsziel“ ist die Gesamtheit.Beispiel (06): Speichelpumpe einerRindenwanze. Die nur 1/10 mm messendeSpeichelpumpe einer Rindenwanze besitztalle Elemente einer Kolbenpumpe –Kolben, Dichtung, Zylinder, Einlaufventil,Auslaufventil, Antrieb – sieht aber eheraus wie eine (technisch noch nicht mögli-che) „Miniatur-Kunststoffspritzguss-Konstruktion“.

Prinzip 2: Optimierung des Ganzen stattMaximierung eines Einzelelements

Technische Entwicklung hat heutzutagenoch viel zu sehr die Maximierung vonEinzelelementen im Auge, die manchmalgar nicht wünschenswert ist, weil es umganz andere, übergeordnete Zusammen-hänge geht. Die Natur optimiert stets Sys-teme unter Verzicht auf (gegebenenfallssystemstörende) Maximierung von Einzel-elementen. Beispiel: Hämatokrit. So be-zeichnet man das Volumen der geformtenBlutbestandteile beim Säugerblut. DieZahl der Roten Blutkörperchen sollteeinerseits möglichst groß sein (große O2-Bindungsfläche), andererseits aber mög-lichst klein (große Strömungsgeschwindig-keit): Gegenläufige Anforderungen. DieNatur maximiert stattdessen den Volu-menstrom, der die Sauerstoff-Transport-rate bestimmt.

Prinzip 3: Multifunktionalität statt Mo-nofunktionalität

Während die Technik noch sehr häufigEinzelelemente auf die Erfüllung von Ein-zelaufgaben hin entwickelt, gibt es dies bei

A oben: Prinzipschema der Photo-syntheseB unten: Wasserstofftechnologie als künftige Energiebasis

Speichelpumpe der Rindenwanze

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näherem Hinschauen in der Natur prak-tisch nie. Fast ausnahmslos werden Syste-me entwickelt, bei denen ganz unter-schiedliche, oft physikalisch durchaus ent-gegengesetzt gerichtete Anforderungenunter einen einzigen, „optimalen“ Hutgebracht werden. Beispiel: Eischale derSchmeißfliege. Der Baustoff ist Chitin. Eshandelt sich aber nicht um eine einzige,dicke Chitinschicht, sondern um mikro-skopisch feine Differenzierungen. Damitergibt sich für die Eischale die optimaleLösung dreier gegenläufiger Aspekte: Sieist leicht und trotzdem genügend stabil,„trittfest“ und trotzdem genügend elas-tisch, durchlässig für Wasserdampf, abernicht für tropfendes Wasser (das schäd-liche Keime enthalten könnte).

Prinzip 4: Feinabstimmung gegenüberder Umwelt

Lebewesen sind auf ihre belebte und un-belebte Umwelt abgestimmt. Dies ist inder morphologischen und physiologischenAusgestaltung manchmal bis in feinste De-tails der Fall. Beispiel (07): Greiffüße beiAdlern. Der Steinadler, der behaarte Beuteschlägt, besitzt auf der Unterseite raubehornte Ständer. Fischadler, die glitschigeFische fangen, tragen an der gleichenStelle dornige Schuppen, mit denen sieihre Beute besser festhalten können.

Prinzip 5: Energieeinsparung statt Ener-gieverschleuderung

Organismen besitzen einen begrenztenEnergievorrat, so dass sie, auf die gesamteLebensdauer bezogen, auch nur eine be-grenzte Leistung abgeben können. Brau-chen sie für einen Lebensvorgang (z.B. dieProduktion von Fortpflanzungsproduk-ten) eine größere Energie, so müssen sieirgendwo anders Energie einsparen. Bei-spiele für dieses Prinzip sind Legion.

Prinzip 6: Direkte und indirekte Nut-zung der Sonnenenenergie

Dies erscheint mir als die bedeutendsteFacette bionischen Arbeitens. Als Beispielhabe ich die Photosynthese grüner Pflan-zen angesprochen. Vielerlei indirekteEffekte kommen dazu, etwa die Windnut-zung (Winde sind solarbedingt) zur Ge-bäudelüftung und thermischen Kontrolle,wie das der Präriehund mit seinem Bauvorführt.

Prinzip 7: Zeitliche Limitierung statt un-nötiger Haltbarkeit

Viele unserer Einrichtungen, insbesonderedie Häuser, sind viel zu langlebig, unterNutzung von unnötig viel Material und

unnötig viel Energie auf Zeiten ausgelegt,die Generationen überdauern. Wer weißschon, welche Dämmmaterialien und wel-che ökologischen Gesichtspunkte in 20oder 50 Jahren verfügbar und maßstabge-bend sind? Und welche Bauvorschriften?Beispiel: Stinkmorchel. Der sehr leichte,lockere, aber für wenige Tage genügendstandfeste Schaft existiert nur so lange, bis Fliegen die Sporenmasse abgetragenhaben. Dann ist er funktionslos. Er zerfälltin Stunden bis Tagen, wird von Schneckenund anderen Kleintieren zerlegt, von Bak-terien abgebaut und molekular total re-zykliert.

Prinzip 8: Totale Rezyklierung stattAbfallanhäufung

Das Prinzip der totalen Rezyklierung istnach der systematischen Solarnutzungeines derwich-tigstenNaturprin-zipienüberhaupt.Die Naturproduziertkeinen Ab-fall. Strate-gien tota-ler Abfall-vermeidung sind auch für das Überlebendes Menschen von größter Bedeutung.Beispiel: In tropischen Ökosystemen, ins-besondere im Regenwald, wird Substanzbereits innerhalb weniger Jahre vollständigumgesetzt.

Prinzip 9: Vernetzung statt LinearitätDas komplexe Geschehen der Natur ist intausendfacher Weise vernetzt und ver-mascht, wie insbesondere F. Vester zuRecht immer wieder betont hat. Man wirdes durch lineares Denken ebenso wenigverstehen wie bereits mäßig komplexeSysteme der technischen Zivilisation.Beispiel (08): Ökologie des Waldrands.Gabelschwanzraupen fressen Zitterpappel-blätter (negative Beziehung), Kohlmeisenfressen Gabelschwanzraupen (negativeBeziehung). Damit nützen Kohlmeisenindirekt den Zitterpappelblättern (positiveBeziehung). Geht man allerdings nurwenig weiter und bezieht einige weitereProduzenten und primäre und sekundäreKonsumenten mit ein, ist das Beziehungs-schema mit noch so detaillierter Beschrei-bung nicht mehr zu erfassen. Man mussspezielle Sichtweisen, ähnlich der „fuzzy

Greiffüße bei Adlern. A: Steinadler, B: Fischadler

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logic“, an-wenden, um– ohne prä-zises Detail-verständnisvon Punkt zuPunkt – dasganze Systemwenigstensabschätzenzu können.Trotz ihrerKomplexitätbleiben sol-che Systemeüber be-stimmteZeiträumeannäherndkonstant, das

ökologische Beziehungsgefüge des Wald-rands beispielsweise für immerhin einigeMonate. Sie stehen in Analogie für öko-nomisch-technische Beziehungsgefüge, sodass Naturerkenntnis und zivilisations-gestütztes Vorgehen im wechselseitigenVergleich voneinander lernen können.

Prinzip 10: Entwicklung im Versuchs-Irrtums-Prozess

Bionik anwenden bedeutet nicht nur, dieKonstruktionen und Verfahrensweisen derNatur in die Technik zurückzuprojizieren.Auch die Methoden, mit denen die Naturdiese ihre Konstruktionen und Verfahrens-weisen entwickelt hat – die Methoden derEvolution also – lassen sich mit großemErfolg für eine technologische Nutzungaufbereiten. Nach I. Rechenberg sprichtman hier von einer Evolutionsstrategie.Beispiel: Was der bestschmeckende Kaffeeist, den man sich aus verschiedenen Sor-ten zusammenmischen kann, lässt sichnicht ausrechnen. Man kann aber zufälliggemischte Proben neu zusammenstellenund von Versuchspersonen beurteilen las-sen. Gut beurteilte Proben werden weiterverändert, schlecht beurteilte verworfen.Durch zufälliges Mischen und Aussondernnicht schmeckender Mischungen – analogzu Mutation, Rekombination und Se-lektion der natürlichen Evolution – kannman letztlich zu Idealmischungen kom-men, die anderweitig nicht erreichbarsind. Gleiches gilt für die Frage, welcheAluminium-Oxidationsfarbe einem Kun-den besser gefällt, und ähnliche, begrifflichnicht oder nicht so leicht quantifizierbareProbleme.

Es gibt in der Zwischenzeit bereits eine Viel-zahl von evolutionsstrategischen Verfah-ren, die in der Wirtschaft schon sehr weiteVerbreitung gefunden haben. Die Über-nahme solcher Verfahren in den Problem-kreis „Verpackungen“ führte zu besserentechnischen Verpackungslösungen (U. Küppers), während die Anwendungauf den Problemkreis „Management“ neueLösungen für ein zukunftssicheres Ma-nagement aufgezeigt hat (P. Ablay).

7. Was kann Bionik leisten?Erwartung und Realisierbarkeit

An die Bionik werden gelegentlich überzoge-ne Erwartungen geknüpft, so, als wärenunsere großen Probleme gelöst, wenn mannur all das nachmachen würde, was dieNatur vormacht. (Es gibt auch grüne Fun-damentalisten mit naiver Erwartungshal-tung). Versprechen dieser Art werden Bio-niker aber niemals machen, wie intensivsie sich auch mit Naturverträglichkeit undNachhaltigkeit, der „Genialität“ der Natur,ihrer Effizienz, Zuverlässigkeit und Er-probtheit befassen. Zu solchen und ähn-lichen Stichworten hat A. v. Gleich kürz-lich eine Umfrage im Bionik-Bereich ge-macht. Ich meine dazu folgendes:

Nachhaltigkeit • Bionische Lösungen kön-nen natur- und umweltschädigende Tech-nologien zurückdrängen und manche wo-möglich eines Tages ersetzen. Am Beispielder solaren Wasserstofftechnologie wurdedies aufgezeigt. Hier könnte die Techno-logie des grünen Blatts helfen, die Verbren-nung fossiler Energieträger zurückzu-drängen. Auch unabhängig von Umwelt-gesichtspunkten wird dies geschehen,sobald die Gesamteffizienz eines bionischenVerfahrens zur Energiebereitstellung besserist als die eine klassischen Verfahrens.

„Genialität“ der Natur • Davon liest manhäufig in popularisierenden Artikeln; Bio-niker hüten sich aber vor solchen grenz-überschreitenden Begriffen. Sie verweisenzwar darauf, dass die oft ausgereift erschei-nenden Produkte einer langen Evolutionzum Staunen führen, und leugnen nichtdie von ihnen ausgehende Faszination.Was die Übertragung anbelangt, verweisensie aber höchstens auf die heuristische Po-tenz solcher erstaunlichen Produkte. Diesein die ingenieurmäßigen Entwicklungs-ketten einzubeziehen kann rascher zuNeuerungen führen, in bestimmten Fällenauch überhaupt erst.

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Zur Ökologie des Waldrands A: Einfaches Schema mit drei Teil-nehmern. B: Nicht mehr durchschau-bares Schema mit mehreren Konsumen-tengruppen

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Effizienz • Die Effizienz biologischer und da-mit der bionischen Annäherung zugäng-licher Verfahren ist ebenso wie die Effizienztechnischer Verfahren durch thermodyna-mische Kenngrößen bestimmt. Trotzdemkann man beim Studium biologischer Ver-fahren oft eine ausgeprägtere energetischeEffizienz feststellen, als sie die Technik auf-weist. Das bezieht sich aber in der Regelauf eine systemische Betrachtung. In denEinzelelementen ist die Natur wie dieTechnik thermodynamisch beschränkt. In der Art, wie sie die Einzelelemente zueinem funktionsfähigen Ganzen kom-biniert, ist die Natur dagegen noch uner-reicht (09)(10).

Die belebte Natur stellt eben jede Teillösungunter das Erprobungskriterium „Energie-effizienter?“ und verzichtet auf die Ma-ximierung der Effizienz von Einzelelemen-ten zugunsten eines optimalen Zusam-menspiels aller zu einem funktionieren-den, störungsunanfälligen (wenngleichkomplexen) System. Es ist nicht gesagt,dass die Technik dies nicht auch könnte.Doch hatte sie für eine solche Strategie in der – nun auslaufenden – Zeit billigerEnergieressourcen keinen Entwicklungs-anreiz. In dieser Hinsicht könnten bioni-sche Ansätze vielleicht den größten Ein-fluss auf die zukünftige technische Ent-wicklung haben: als Strategievorbild.

Zuverlässigkeit, Erprobtheit • Man kannsagen, dass die Konstruktionen, Verfah-rensweisen und Entwicklungsprinzipiender belebten Welt in jahrmillionenlangerEvolution erprobt sind und dass sie zuver-lässig arbeiten. Was die technische Über-tragung anbelangt, sind diese Begriffeallerdings nur sinnvoll im Rahmen einerganz bestimmten Fragestellung. Um einBeispiel hierfür zu geben: Die Art, wie sichbestimmte Stechmücken „vollautoma-tisch“ im Flug begatten, erfolgt mit einerbestimmten Wahrscheinlichkeit für dasautomatische Funktionieren des Ablaufs.Diese ist hoch (beim zufälligen Treffeneines Männchens mit einem in den Männ-chenschwarm einfliegenden Weibchenssicher über 95 Prozent). Man kann alsovon einem zuverlässigen Verfahren spre-chen. Dieses existiert im Prinzip seit min-destens 250 Millionen Jahren; man kannalso auch von einem erprobten Verfahrensprechen. Für ein anderes Beispiel könnenaber unter verschiedenen Randbedingun-gen völlig andersartige Werte schon als„zuverlässig“ und „erprobt“ gelten: Ein

einzelnes Haftelement amVorderbein eines Wasser-käfers arbeitet vielleichtmit einer Haftchance voneinem Prozent, also durch-aus „unzuverlässig“; trotz-dem arbeitet die gesamteHaftkonstruktion, die eineähnlich lange Evolutions-zeit hinter sich hat, durch-aus zuverlässig und er-probt (11).

Gleiches gilt für die Technik.Zuverlässigkeit kann „wie-derholtes, gleichartiges,ungefähres Funktionie-ren“ bedeuten (Rutsch-sicherheit eines Sohlen-profils), aber auch nureinmaliges, dann 100-prozentiges (Air bag).

Bei all den genannten Krite-rien hat die Natur alsoeine Fülle von Umset-zungsvorschlägen anzu-bieten, die in der Vergan-genheit wenig beachtetwurden, für zukünftigeEntwicklungen aber sehrwichtig werden können.

8. Vergangenheit undZukunft

Bis vor ein, zwei Jahrzehntenstanden sich „Natur“ und„Technik“ einander aus-schließend gegenüber, diebiologischen und techni-schen Disziplinen jeweilsauf die eigene Vorgehens-weise bezogen. Über dietechnische Biologie undBionik sind diese Diszipli-nen nun verbunden. InZukunft werden sie sichbreiter einander zuwendenund so viel wie möglichvoneinander lernen müs-sen. Der Lernprozess läuftin beide Richtungen. Bio-wissenschaftler könnenihre Konstruktionen bes-ser beschreiben und ver-stehen. Dies wiederumführt zu mehr und besserverstandenen Naturvor-bildern, die ihrerseits im

Zur hydrodynamischen Energieeffizienz. Der frisch ge-schlüpfte Gelbrandkäfer besitzt einen Rumpf mit einemWiderstandsbeiwert von 0,35 und Schwimmbeine (rechtshinten) mit hydrodynamischern Wirkungsgraden von rund0,7. Beide Werte sind (für den gegebenen Bereich vonReynoldszahlen) kaum steigerbar.

Zur baustatischen Energieeffizienz. Fischwirbel sind soleicht gebaut, dass sie die auftretenden Drücke und Biege-momente gerade abfangen können ohne zu brechen. Damitwird der Energieaufwand für die Knochenkonstruktion mini-miert.

Wasserkäfer tragen an die 100 gestielte Mikrosaugnäpfe anden Vorderbeinen, die statistisch haften.

09

10

11

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TH E M E N H E FT FORSCH U NG KU LTU R U N D TECH N I K50

Übertragungsprozess der Bionik stärker indie Technikentwicklung hineinwirken,aber auch für wirtschaftliche und gesell-schaftliche Gestaltungen genutzt werdenkönnen.

Sobald der Wissenstransfer zwischen Technikund Natur ganz selbstverständlich gewor-den sein wird, wird man auch von einerBiostrategie sprechen können, die Natur

und Technik zu einem unentwirrbarenNeuen verzahnt, einem großen Ganzen,das natürliche und technische Umweltgleichwertig umfasst. Die Querverbindun-gen werden so sein müssen, dass der Ein-fluss des Menschen systemerhaltend undnicht mehr systemzerstörend ist. Ich sehe keine Alternative zu diesem Weg. •

Werner Nachtigall

Literatur

Angegeben sind neben einigen Sammelwerken nur Litera-turstellen, auf die sich Text oder Abbildungen direktbeziehen.

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• Weber, H. (1930): Biologie der Hemipteren. EineNaturgeschichte der Schnabelkerfe. Berlin

Prof. Dr. rer. nat. Werner Nachtigall

Jahrgang 1934, hat in München unter anderem Biologie und Technische Physik studiert. Nach Assistenten-jahren am Zoologischen Institut und am Strahlenbiologischen Institut der Universität München und als ResearchAssociate an der University of California, Berkeley, wurde er zum Direktor des Zoologischen Instituts der Uni-versität des Saarlands, Saarbrücken, berufen. Seine Hauptarbeitsrichtungen waren Bewegungsphysiologie, Bio-mechanik, Technische Biologie und Bionik. Er ist Begründer eines Biologie-Diplom-Studiengangs „TechnischeBiologie und Bionik“, einer Gesellschaft gleichen Namens, sowie Mitbegründer des Bionik-KompetenznetzesBioKoN. Biologie und Physik zusammenzubringen ist ihm ein wichtiges Anliegen.

KontaktUniversität des Saarlandes, Zoologie, Technische Biologie und Bionik, 66123 SaarbrückenTel. 0681/302-3287Fax 0681/302-6651E-Mail: [email protected]

DER AUTOR

Abbildungsnachweis

Farbabbildungen vom Verfasser. DieStrichzeichnungen stammen aus frü-heren Arbeiten des Verfassers undgehen auf die folgenden Autorenzurück:

• Abbildung 5 → Dürr (1989),• Abbildung 6 → Weber (1930).• Abbildung 8 → Dylla, Krätzner

(1977).

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TH E M E N H E FT FORSCH U NG KU LTU R U N D TECH N I K52

BaubotanikWie Technik , Natur - und Kul turwissenschaf ten

zu e iner neuen Archi tektur form verwachsen

1. Begriff

Wie weit sind die botanischen Grundlagenfür ein baubotanisches Bauen bereits er-forscht und welche Parameter müssen ineiner zukünftigen baubotanischen For-schung entwickelt werden? Welche bereitsbestehenden architekturtheoretischenKonzepte gewinnen durch die Baubotanik

an Aktualität? Welche neuen Perspektiveneröffnen sich für die Architektur, die imPrinzip in Differenz zur Natur entworfenund konstruiert wird? Diese Fragen kenn-zeichnen den Beginn der Zusammenarbeitvon Architekten, Bionikern/Botanikernund Ingenieuren mit Philosophen, Ethik-

08

Sie sprießt, sie wächst, sie treibt

aus. Sie strebt und wallt. Die Bau-

botanik fordert den Architekten

als Gärtner. Der Begriff Baubota-

nik ist am Institut Grundlagen

moderner Architektur und Ent-

werfen an der Universität Stuttgart

(Igma) entwickelt worden und

beschreibt die Idee, Tragstruktu-

ren aus lebenden Holzpflanzen

zu bilden. Baubotanische Bauten

sind lebende Bauten, deren

Lebendigkeit keineswegs meta-

phorisch zu verstehen ist. Bau-

botaniker realisieren seit meh-

reren Jahren schon Bauten aus

„lebendigem Holz“. Dabei versu-

chen sie, das Entstehungsprinzip

des natürlichen Wachsens mit

dem des ingenieurmäßigen

Fügens zu kombinieren und die

Gestaltqualitäten lebender Bäume

mit den statischen Funktionen

und baulichen Anforderungen

einer Tragstruktur in einem Bau-

teil zu vereinen (01).

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BAU BOTAN I K 53

forschern und Kulturwissenschaftlern inder neu gegründeten ForschungsgruppeBaubotanik – Lebendarchitektur am Igma.

Baubotanische Strukturen unterliegenbestimmten physiologischen Gesetzmäßig-keiten und damit eigenen konstruktivenRegeln. Zum einen entwickeln sie eigenegestalterische Qualität, indem sie auf wech-selnde Umweltbedingungen reagieren.Zum anderen werden in der Baubotanikzur Konstruktion von TragstrukturenWachstumsprozesse gezielt eingesetzt undsind so zumindest zu Teilen dem mensch-lichen Tun verfügbar geworden. Dadurchwird die gewohnte Trennung zwischen den autonomen Prozessen der Natur undder Autonomie von Artefakten in Fragegestellt. Baubotanische Strukturen sindweder rein künstliche noch rein natürlichgewachsene Produkte. Sie sind etwas Drit-tes, durchaus Strittiges, wofür die Philo-sophin Nicole Karafyllis den Begriff desBiofakts eingeführt hat (KARAFYLLIS 2003).Die Forschungsgruppe Baubotanik –Lebendarchitektur sieht in der Erforschungund Entwicklung derart strittiger Objekteihre interdisziplinäre Herausforderung undversucht, bereits strukturell diesem An-spruch gerecht zu werden: Forschungen in den Bereichen Botanik, Konstruktion,Ästhetik, Bioethik und Kulturtheorie bil-den einen sich gegenseitig befruchtendenErkenntnisprozess aus, wobei die dreiBereiche „Botanik“, „Konstruktion“ und„Theorie“ zurzeit die Schwerpunkte bil-den, die je für sich aus der Architekturheraus motiviert sind und aktuell im Rah-men von Promotionen bearbeitet werden.

2. Koproduktion

Baubotanische Konstruktionen sind Ver-bundstrukturen, bei denen die das Primär-

tragwerk bildenden Pflanzen mit tech-nischen Bauteilen verbunden werden. Sieentstehen in Koproduktion des Architek-ten mit der Pflanze. Ein Prozess, der geradean den Stellen, an denen technische mitlebenden Teilen verbunden sind, ablesbarist: Schon wenige Wochen nach Fertig-stellung/Konstruktion/Bauabschluss wer-den erste Überwallungen sichtbar, die nacheinigen Monaten deutlich hervortreten(02a bis 02e).

Gleichzeitig beginnt die Pflanze über diekonstruierte Geometrie der Tragstrukturzu triumphieren, die im Laufe des Som-mers in einem wild wuchernden Blätter-wald verschwindet, um erst im Winter wie-der ihre artifizielle Struktur zu zeigen. Die Gestalt des Bauwerks lässt sich mit einwenig botanischer Erfahrung ungefähr

The approach of Baubotanik is to understand architecture as an aspect of botany and use „living“ wood as a construction material. It can be translated as„living plant construction“. It attempts to achieve the aesthetic qualities of plant growth within the requirements of structural statics and tectonic prin-ciples of engineering.By using living support structures within the main support system of a building, they are above all dependent on the self-preservation system of the livingplants, given that a building which contains living structural elements is itself exposed to the constant process of growth and, at the same time, to the dan-ger of die-back. It develops its own characteristics and particularities and introduces a new understanding of the temporality of architecture, now that thefuture shape of architecture is not only influenced and formed by deterioration and decay but also by adaptive growth as a reaction to environmental con-ditions.How far have the botanical principles for Baubotanik been explored, and which parameters have to be developed for future research on living plant con-struction? This raises the question of which existing theoretical architectural concepts will become more important and topical through Baubotanik. Andalso which new perspectives open up to architecture, which can now no longer merely be designed and constructed as an artefact in contrast to nature.

ABSTRACT

Vogelbeobachtungsstation Waldkirchen,© Entwicklungsgesellschaft fürBaubotanik

01

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abschätzen, exakte Aussagen über ihre zu-künftige Entwicklung sind jedoch unmög-lich – die Gestaltungshoheit über das Bau-werk liegt zu Teilen bei der Pflanze. DerArchitekt gibt jedoch nicht nur einen Teilseiner Gestaltungshoheit an den Baum ab,sondern wird zudem abhängig von dessenGestaltungsfähigkeit. Um Prognosen überden Zustand der vorhandenen Tragfähig-keit stellen zu können, muss er in der Lagesein, die Vitalität der sich entwickelndenStruktur zu erkennen. Architekt undPflanze bleiben so über die (Jahres-)Zeitenhinweg Koproduzenten einer sich durchWachstum und Selektion immer weiterentwickelnden Struktur (03, 04).

Ein Ingenieur würde die Koproduktion vor-nehmlich auf die mechanischen Gesetz-mäßigkeiten der Pflanze reduzieren, wäh-rend für den Architekten die „autobiogra-phische“ Entwicklung einer teilautonomwachsenden Struktur von entscheidenderBedeutung ist. Der Ingenieur abstrahiertnotwendigerweise aus einer Reihe sichindividuell entwickelnder Pflanzen undStrukturen mechanische Gesetzmäßig-keiten, die für die Konstruktion einer bau-botanischen Struktur von Wichtigkeit sind.Der Architekt hingegen sieht die indivi-duelle Entwicklung jeder einzelnen Pflanzeals maßgeblich für den Gestaltungsprozessan. Der Baubotaniker hat den Anspruch,die Ambivalenz seines Projekts auszuhal-ten: Zum einen verfolgt er das Ziel, dasWachstum und die Entwicklung der ver-wendeten Pflanzen zu verstehen, zu be-einflussen und zu prognostizieren. Zumanderen versucht er auch, sich den Wachs-tumsprozessen der Pflanzen anzupassen,damit das baubotanische Objekt von ihnenweitestmöglich profitieren kann. Auf dieseWeise schleicht sich in die Architektur einAspekt ein, der ihr immer fremd war undmit Vorliebe der Malerei und Musik zu-geschrieben wurde: das mimetische Verhal-ten. In dem Maße, in dem der Baubotani-ker Strukturen vorgibt, handelt er wie einArchitekt, in dem Maße aber, in dem ersich natürlichen Prozessen gegenübermimetisch verhält, verwandelt er sich ineinen Gärtner.

3. Wachstum

Auf jeden Fall muss der Baubotaniker, wenner artifizielle pflanzliche Tragstrukturenausbilden möchte, zunächst verstehen, wiebei Bäumen das System aus Stämmen,Ästen und Zweigen, das als eine „natür-liche pflanzliche Tragstruktur“ angesehenwerden kann, entsteht. Wer pflanzlichesWachstum in den Dienst der Architekturstellen möchte, muss dessen relevanteGesetzmäßigkeiten und Grundregeln ken-nen. Und wer baubotanische Tragwerke,also belastbare Strukturen aus lebendenPflanzen, realisieren will, muss sich zu-nächst klar machen, wie die Tragstrukturvon Bäumen aufgebaut ist, wie sie entsteht,wie sie sich im Laufe der Zeit verändertund welche Leistungsfähigkeit sie besitzt.

Wie also wächst der Baum? Wachstum, defi-niert als die nicht mehr rückgängig zumachende Substanzzunahme eines Orga-nismus, ist bei Pflanzen dadurch charakte-risiert, dass es „offen“ ist: Bäume sind niewirklich ausgewachsen, sondern daraufangewiesen, ständig weiter zu wachsen. Inbestimmten Bereichen bleiben lebenslangembryonale Zellen, sogenannte meriste-matische Gewebe, erhalten. Bei den meis-ten in Mitteleuropa verbreiteten Baum-arten sind im oberirdischen Bereich dreiwichtige Teile meristematischer Gewebeauszumachen: Die Triebspitze mit dem so genannten Vegetationskegel, die Seiten-knospen und das Kambium.

Der Vegetationskegel ist ein Ort enormerZellteilungsaktivität, sozusagen die „Pro-duktionseinheit“, in der alle Basisgewebeder jungen Sprossachse entstehen. Hier bilden sich schon gerade Pflanzenachsen-Abschnitte, die Internodien und dieNodien, mit den Blattanlagen und Seiten-knospen in einem arttypischen Musterheraus. Unterhalb der Triebspitze streckensich insbesondere die Zellen der Inter-nodien, und die jungen Zellen differen-zieren sich zu Dauergeweben aus. Dannhaben diese Teile der Pflanzenachse bereitsihre endgültige Länge erreicht, die sichzeitlebens nicht mehr verändern kann. Diemeristematischen Gewebe in den Nodien,die Seitenknospen, bleiben zumeist imersten Jahr „schlafend“ und treiben im fol-genden Jahr aus, wodurch die jeweils art-typischen Verzweigungsmuster jungerBäume entstehen.

Entwicklung eines VerbindungsdetailsPflanze-Edelstahlrohr über 3 Jahre, © Entwicklungsgesellschaft für Bau-botanik

02

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4. Adaptivität

Diese Wachstumsprozesse zeigen eine enor-me Varianz und Anpassungsfähigkeit anUmweltbedingungen. Nicht nur die Zell-teilungsaktivität an der Triebspitze ist bei-spielsweise von der Wasser- und Nähr-stoffversorgung und der Lage im Baumabhängig, auch die Streckung der Inter-nodien wird von Umweltfaktoren wie bei-spielsweise der Lichtsituation beeinflusst.Wann und wie sich die jungen Gewebe derInternodien ausdifferenzieren, ist ebenfallsumweltabhängig: Sie können z. B. früh-zeitig verholzen und damit versteifen oderlänger grün und flexibel bleiben. Entschei-dend durch Umweltparameter bestimmtist auch die „Biographie“ der Seitenknos-pen: Sie können schon frühzeitig, im Jahrihrer Entstehung, austreiben, aber auchJahre oder Jahrzehnte schlafend bleiben.Auf diese Art passt bereits der junge Baumseine Gestalt in einem kontinuierlichenProzess an seine Umwelt an. Ziel des bau-botanischen Ansatzes ist es, durch spezi-fische Steuerung von Umweltfaktoren inunterschiedlichen Wachstumsphasen aufdiese Wachstums- und Differenzierungs-prozesse gezielt einzuwirken, um die Ach-sengeometrie, die Achsenstruktur und dieVerzweigungsstruktur an eigene Ziele an-zupassen.

Das dritte wichtige Wachstumsgewebe, dasKambium, entwickelt sich sekundär ausdem sogenannten Prokambium. Es ist einzylinder- bzw. kegelförmiger Mantel tei-lungsfähiger Zellen, der zwischen Holzund Rinde lokalisiert ist und Bäumen einsekundäres Dickenwachstum und damiteine lebenslange Anpassung der Achsen-geometrie und -struktur ermöglicht. FürBäume bietet das einen enormen Vorteil,da sich mit fortschreitendem Alter undzunehmender Pflanzengröße die Anfor-derungen an die Pflanzenachsen, die imBaum Stütz-, Leit- und Speicherfunktio-nen übernehmen, erheblich vergrößern:Immer größere Mengen an Wasser, Nähr-stoffen und Assimilaten müssen überimmer längere Strecken transportiert wer-den. Gleichzeitig muss ein mit zunehmen-der Größe wachsendes Eigengewicht aus-balanciert werden, und die auftretendenäußeren Kräfte (insbesondere Windlasten)nehmen mit der Größe exponentiell zu.Durch die Wachstumsaktivität des Kambi-ums reagieren Bäume auf diese steigendenAnforderungen nicht nur mit einer Zu-

nahme des Achsendurchmessers (Dicken-wachstum), sondern passen im Verlaufihrer Entwicklung insbesondere die bio-mechanischen Eigenschaften ihrer Achsenauch strukturell an die sich veränderndenAnforderungen an.

So kommt es im Verlauf der Ontogonie vonBäumen bei zunehmender Biegebeanspru-chung junger Achsen zu einer Zunahmeder Biegeelastizitätsmoduli auf das fünf-bis sechsfache (05). Diese drastischen Än-derungen der mechanischen Eigenschaf-ten werden ausgelöst durch Veränderun-gen des Achsenaufbaus, die auf mindestensvier hierarchisch organisierten strukturel-len Ebenen stattfinden können: auf derAchsenstruktur (integrale Ebene), derGewebestruktur (makroskopische Ebene),der Ebene der Zellstruktur (mikroskopi-sche Ebene) und der Zellwandstruktur(ultrastrukturelle Ebene), (SPECK 1994).Insbesondere gegenüber mechanischenReizen zeigt das Kambium auch lokalgroße Adaptivität: Auf hohe lokaleSpannungen reagiert es mit verstärktemWachstum, so dass an besonders bean-spruchten Bereichen mehr Holz angela-gert wird („Axiom der konstanten Span-nung“). Dadurch können Spannungsspit-zen abgebaut und im zeitlichen Mittel eineannähernd konstante Spannungsvertei-lung auf der Oberfläche und damit eineoptimale Ausnutzung des „verwendetenBaumaterials“ erreicht werden (MATTHECK

1995). Überwallungen, wie sie an bau-botanischen Details zu beobachten sind,sind also keineswegs zufällige Ereignisse, sondern Folge gezielter Ausnutzung desAxioms konstanter Spannung.

Die Baubotanik sieht gerade in den adapti-ven Potentialen des Kambiums Möglich-keiten, Wachstumsprozesse unmittelbarfür das Konstruieren fruchtbar zu

Steg (Prototyp), Winter, © Entwick-lungsgesellschaft für Baubotanik

05

04

Steg (Prototyp), Sommer, © Entwick-lungsgesellschaft für Baubotanik

Entwicklung der Steifigkeit im Verlaufder Ontogenie bei selbsttragendenBäumen, © plant biomechanics groupfreiburg

03

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machen. Sie untersucht die Frage, inwie-weit es möglich ist, die Selbstoptimie-rungsprozesse von Bäumen auf technischeTragstrukturen aus „lebendem Holz“ zuübertragen. Die oben beschriebene An-passung auf mehreren hierarchischenStrukturebenen bis hinein in submikro-skopische Bereiche ist typisch für Wachs-tumsprozesse. Im Gegensatz zum reintechnischen Konstruieren liegt in derBaubotanik die Chance, auch diese Struk-turoptimierung ausnutzen zu können.

5. Selektion

Zur Gestaltentwicklung von Bäumengehören nicht nur die oben beschriebenenProzesse des Wachstums, sondern auch dasAbsterben von ganzen Pflanzen oderPflanzenteilen: Keimen auf einer Flächeviele junge Bäume, so bedrängen sichdiese mit zunehmender Größe. Im Kon-kurrenzkampf um Raum und Ressourcenbleiben die schwächeren mehr und mehrim Wachstum zurück und sterben letzt-lich ab. Nach YODA (1963) ist die maximalmögliche Anzahl von Pflanzen auf einerbestimmten Fläche eine Funktion desPflanzengewichts, wobei Standortfaktorenals Parameter in diese Rechnung eingehen(Self-Thinning-Regel). Für Baumbeständekann eine ähnliche Beziehung zwischendem Stammdurchmesser (BHD) und derStammzahl festgestellt werden (REINEKE

1933). Ähnliche Selektionsprozesse laufenebenfalls auf Ebene der einzelnen Pflanzeab: So konkurrieren selbst einzelne Ästeum Licht, wobei stark beschattete unddamit photosynthetisch ineffiziente Ästeabsterben und vom Baum abgestoßen wer-den (Ast- bzw. Zweigreinigung). Bäumeoptimieren ihre Gestalt auch dadurch,dass sie zeitlebens die Komplexität ihrerVerzweigungsstrukturen und damit ihresTragwerks reduzieren und sich vom Bal-last überflüssiger Masse befreien.

Selbstverständlich sind auch baubotanischeTragstrukturen derartigen Selbstreini-gungsprozessen unterworfen. Für ihrePlanung stellt dies eine besondere Heraus-forderung dar, denn das statische Systemeines Tragwerks muss dann als eine Funk-tion der Zeit gedacht werden. Daher ist eswichtig darauf zu achten, dass in einerbaubotanischen Tragstruktur ein Bauteil,das der konstruierende Architekt für not-wendig hält, von der Pflanze nicht als ent-behrlicher Ballast empfunden wird, den sie

so schnell wie möglich wieder loszuwer-den versucht.

6. Grenzen des Wachstums

Wer Wachstumsprozesse für sich nutzbarmachen möchte, muss sich im Klaren da-rüber sein, dass jegliches Wachstum, jaüberhaupt jegliche Lebensprozesse, Ener-gie verbrauchen. Diese Energie wird beiPflanzen ausschließlich durch die Photo-synthese bereitgestellt. Die auf einer gege-benen Grundfläche mögliche Blattfläche,die Effizienz der Photosynthese und dieSonneneinstrahlung begrenzen die einemBaum oder einem Wald zur Verfügungstehende Energie und damit auch diemögliche Gesamtmenge lebender Gewebe.Das Volumen „lebenden Holzes“, das aufeiner bestimmten Fläche existieren kann,können wir als das maximal möglicheKonstruktionsvolumen ansehen, das demBaubotaniker für seine Tragstrukturen zurVerfügung steht. Welche Größenordnunges annehmen darf, zeigt der Vergleich mitdem sogenannten Holzvorrat eines Wal-des. In Volumenfestmetern pro Hektar(Vfm/ha) gemessen, gibt er das Volumenaller Äste und Stämme mit einem Durch-messer von mehr als 70mm pro ha Wald-fläche an. Je nach Baumart und Standortschwankt der Wert zwischen 200 und 400Vfm/ha (PRETZSCH 2002). Um sich diesesVolumen zu verdeutlichen, kann man essich als eine die gesamte Grundflächebedeckende massive Holzplatte vorstellen.Diese das gesamte Konstruktionsvolumeneines Waldes abbildende Platte hätte eineDicke von lediglich zwei bis vier Zentime-ter! In Relation zu den im menschlichenBauen verwendeten Materialmassen einminimales Volumen, aus dem der Menschgerade mal einen Fußboden zu zimmernpflegt.

Entsprechend sollte und muss auch derBaubotaniker mit einem außergewöhnlichgeringen Konstruktionsvolumen auskom-men. In seinen Projekten erlangen daherdie Prinzipien des Leichtbaus neue Aktua-lität: Hatte noch der Leichtbau-Pionier Ri-chard Buckminster Fuller sein Dymaxion-Haus gewogen, um ein Beispiel dafür zugeben, wie material- und kostensparend inder Zukunft gebaut werden sollte, gilt inder Baubotanik eine weit dramatischere, jaexistenzielle Obergrenze des Gewichts:Wer sie missachtet, wird mit dem Abster-ben des Bauwerks abgestraft.

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Um wie viel nimmt nun diese Holzmassejährlich durch Wachstum zu? Wiederumsoll der Vergleich mit dem Wald weiter-helfen: Inklusive aller Zweige, Äste undStämme wächst die Holzmasse eines Wal-des jährlich um ca. 3,5 bis 10 Volumenfest-meter pro Hektar Waldfläche (PRETSCH

2002). Stellt man sich auch dieses Volumenals eine den Boden vollständig bedeckendeHolzschicht vor, so hat diese Schicht eineDicke von nur 0,35 bis 1,0 mm.

Um Wachstumsprozesse nutzen zu können,unterwirft sich der Baubotaniker denGesetzen und Grenzen dieses Wachstums.Er macht dabei die Erfahrung, dass diePflanze nicht nur vorgibt, wo viel Kon-struktionsvolumen zur Verfügung steht,sondern dem Architekten mit ihrer maxi-malen Wachstumsgeschwindigkeit auchdie botanischen Gesetze der zeitlichenEntwicklung seines Bauwerks diktiert. DerChance, die „Intelligenz des Ingenieursmit der Intelligenz der Natur“ kombinie-ren zu können, stehen in der Baubotanikstrikte, die Freiheit des Entwerfensbeschneidende Determinationen gegen-über – aber auch die Möglichkeit, sich vonunvermuteten Prozessen und Ergebnissenüberraschen zu lassen, die unsere ästheti-sche Phantasie bereichern.

7. Neukonstruktion des Baums

Betrachten wir die Achsenstruktur einesBaumes als Tragwerk, so stellen wir zu-nächst fest, dass eine offene Verzweigungs-struktur mit dem statischen System einereingespannten Stütze vorliegt. Haupt-belastungen sind neben dem Eigengewichtinsbesondere horizontal angreifende Wind-lasten, die auf die Blätter bzw. die Baum-krone einwirken. Diese Kräfte werdenüber die Zweige, Äste und Stämme in dasErdreich abgetragen. Doch nicht nur diean den Blättern angreifenden Kräfte neh-men diesen Weg, auch die in den Blätternproduzierten Assimilate werden über dieZweige, Äste und Stämme zu den Wurzelnhinabgeleitet. Im Baum ist daher der„Saftfluss“ dem Kraftfluss sehr ähnlich.

Bedingt durch das statische System ent-stehen in allen Achsenabschnitten hoheBiegebelastungen und Schwingungen. Aus technischer Sicht keine ideale Lösung,denn bei Biegebelastungen werden nur dieRandbereiche der Trägerquerschnittebelastet – das ist alles andere als ein mate-rialsparendes und energieeffizientes

Konstruieren. Daher hatschon der StuttgarterLeichtbau-Pionier FreiOtto „Kritik am stati-schen System der Bäu-me“ geübt: Bäume hät-ten mit ihren offenenVerzweigungsstrukturenzwar eine sehr günstigeKonstruktion gefunden,um möglichst viele Blät-ter ans Licht zu bringen,dies stelle aber keine opti-male technische Lösungdar (vgl. OTTO 1992).

In der Baubotanik werdendaher fachwerkartigeTragstrukturen aus Bäu-men gebildet. Das bedeu-tet aus Sicht der Mecha-nik, dass eine frei schwin-gende und auf Biegungbelastete Struktur in eineeher steife, auf Druckund Zug belastete Struk-tur überführt wird. Kon-struktiv entsteht dadurchzunächst der Vorteil einerbesseren Materialausnut-zung, die es ermöglicht, zusätzliche Bau-werkslasten in die Struktur einzuleiten.Nur so können lebende Pflanzen über-haupt in der Architektur tragende Funk-tionen übernehmen, ohne dass für dieKonstruktion das maximal mögliche (bio-logisch beschränkte) Tragwerksvolumenüberschritten wird (s. o.). Es bleibt aber zufragen bzw. zu untersuchen, wie sich dieseVeränderungen des Systems auf die Wachs-tums- und Lebensvorgänge im Detail auswirken. Kommen die möglicherweisekonstruktiv nutzbaren adaptiven Wachs-tumsprozesse in einer lebenden Fachwerk-struktur überhaupt noch zum Tragenoder sind die das Wachstum stimulieren-den Spannungen zu gering? Mit welchenFolgen ist zu rechnen, wenn in eine bau-botanische Tragstruktur Kräfte (z. B.durch Nutz- oder Verkehrslasten) eingelei-tet werden, ohne dass zusätzliche Assimi-late fließen?

8. Wachsen und Konstruieren

Baubotanische Strukturen sind zum einenErgebnis menschlicher Planung und zumanderen Resultat der Interaktion zwischengenetischen Grundmustern des Baumes

Architektur als eine Frage der Botanik zu verstehen,und lebendes Holz als Konstruktionswerkstoff zunutzen ist der Ansatz der Baubotanik. Durch ihrenEinsatz im primären Tragsystem eines Bauwerkssind baubotanische Tragstrukturen vornehmlich vomSystemerhalt der lebenden Pflanzen bestimmt. EinGebäude, das lebende Bauteile enthält, unterliegtselbst einem ständigen Prozess des Wachsens und istgleichzeitig der Gefahr des Absterbens ausgesetzt.Es bildet seine Eigentümlichkeiten aus und führt einneues „Gefühl“ für die Zeitlichkeit in der Archi-tektur ein, wenn nicht mehr nur Verschleiß und Ver-fall des Materials, sondern adaptives Wachstum alsReaktion auf Umweltbedingungen die zukünftigeGestalt der Architektur prägen.Wie weit sind die botanischen Grundlagen für einbaubotanisches Bauen bereits erforscht, und welcheParameter müssen für eine zukünftige baubotanischeForschung entwickelt werden? Welche bereits beste-henden architekturtheoretischen Konzepte gewinnendurch die Baubotanik an Aktualität, und welcheneuen Perspektiven eröffnen sich für die Architek-tur, die nun nicht mehr als Artefakt in Differenzzur Natur entworfen und konstruiert werden kann?

ZUSAM M ENFASSUNG

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und Umweltfaktoren. Sie entstehen je-doch nicht mehr wie der Baum in einemkontinuierlichen Prozess, sondern weisenmindestens drei klar voneinander zuunterscheidende Phasen auf: die Wachs-tumsphase vor dem Konstruieren, dieKonstruktionsphase und die Wachstums-phasen nach der Errichtung des baubota-nischen Bauwerks.

Durch die spezifische Steuerung von Um-weltfaktoren wird in der Baubotanik ver-sucht, in den unterschiedlichen Phasenunterschiedliche Wachstumsmuster zuaktivieren. Durch Kombinationen vonUmweltfaktoren und Intensitäten, die inder Natur nicht üblich sind, sollen Wuchs-formen bis an die morphologischen Gren-zen pflanzlichen Wachstums beeinflusstwerden. So sollen normalerweise gleich-zeitig ablaufende Prozesse zeitlich auf-getrennt und „nach Bedarf“ abgerufenwerden. Dies bedeutet im Detail, dass derBaubotaniker auf die Zellteilungsaktivitätder meristematischen Gewebe und die sichanschließenden Phasen der Zellstreckungund Zelldifferenzierung so spezifisch wiemöglich einzuwirken sucht.

In der ersten Phase lautet das Ziel, dasbenötigte lebende Baumaterial zu produ-zieren. Es gilt eine als „lebendes Halbzeug“zu bezeichnende, möglichst unverzweigte,gerade, lange, schlanke und biegsamePflanzenachse wachsen zu lassen, aus derdie gewünschten fachwerkartigen Struk-turen gebildet werden können (LUDWIG

2008) (06). In der zweiten Phase, derKonstruktionsphase, werden die so pro-duzierten Pflanzen zu der gewünschtenTragstruktur in der endgültigen Trag-werksgröße gefügt. Hierzu werden sie mitunterschiedlichen Methoden zu Tragele-menten bzw. Tragstrukturen verbunden.Ziel ist, dass sich kreuzende bzw. berüh-rende Pflanzen miteinander verwachsen

und technische Bauteile einwachsen. Umdies zu erreichen, wird durch hohe Kon-taktbelastung die lokale Kambiumaktivitätstimuliert (Überwallungen) oder durchVerletzungen das „Wundheilungspro-gramm des Kambiums“ aktiviert. Je nachAnfangsfestigkeit dieser Struktur ist einetemporäre Stützung notwendig und esschließt sich die Erstarkungsphase an (07,

08). Angestrebt wird, dass die zur Trag-struktur geformten Pflanzenachsen mög-lichst viel und möglichst tragfähiges bzw.steifes Holz bilden, und zwar möglichstdort, wo die zukünftigen Belastungen amhöchsten sein werden. Der erstrebte Effektkann durch künstliche Trainingsbelastun-gen, sukzessiv steigende Nutzlasten oderauch durch lokale Kambiumstimulationausgelöst werden.

Die technisch-naturwissenschaftlichenAspekte dieser Entstehungsphasen werdenin der FG Baubotanik innerhalb derSchwerpunkte „Botanik“ und „Konstruk-tion“ bearbeitet. Damit allein ist es abernicht getan: Wenn Bauwerke in einemJahre oder Jahrzehnte dauernden Prozessentstehen, sich ständig weiter entwickelnund gepflegt werden müssen, wennNutzungen mit der sich entwickelndenStruktur „mitwachsen“ und sich unter-schiedlich ausprägen können, dann über-schreitet die Baubotanik die Sphäre derrein technisch und naturwissenschaftlichzu beantwortenden Fragen. Sie gerät aufdas Gebiet der Architektur- und Kultur-theorie sowie der Ethik und Ästhetik –Aspekte, die im ForschungsschwerpunktTheorie bearbeitet werden. Insbesondereist es der Rollenwechsel des Architektenzum Gärtner, der näher betrachtet zuwerden verdient. Grundlegend jedochsteht das veränderte Verhältnis zur Natur,deren Wandelbarkeit nicht zuletzt durchtechnische und kulturelle Interventio-nen immer deutlicher zu Tage tritt, zurDiskussion.

9. Zum Einfluss der Biologie aufdie Architektur

Die Neukonstruktion des Baums stellt denBotaniker vor das Problem, dass nur derStamm zur Konstruktion von Fachwerkenverwendet wird, ohne dass dabei die Vita-lität des Baumes vernachlässigt werdendarf. Die oben formulierte „Kritik amBaum“ ist in erster Linie eine Kritik an sei-ner Tragkonstruktion. Doch indem die

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06a 06b

Links: Versuchsgewächshaus zurProduktion von baubotanischem Pflan-zenmaterial, rechts: Wirkung der Licht-spektren auf das Längenwachstum, © FG Baubotanik – Lebendarchitektur

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BAU BOTAN I K 59

Baubotanik Verzweigungsstrukturen ein-gespannter Stämme durch Fachwerkstruk-turen ersetzt, versucht sie nicht, denBaum mittels technischer Methoden imSinne eines architektonischen Artefakts zurekonstruieren. Baubotanik ist vornehm-lich als technisch-methodischer Begriff zu verstehen, durch den ein technisch-konstruktives Denken in ein biologischesüberführt wird. Deutlich wird diese Dif-ferenz in der Abgrenzung zur Bionik undzur Biotechnologie. Die Bionik beziehtihre technischen Ideen aus der Natur,indem sie natürliche Vorgänge nachahmt,sodann aber in Differenz zur Natur ausbil-det bzw. natürliche auf abstrakte Prozesseso weit zu reduzieren sucht, dass diesedigital in die Technik übertragen werdenkönnen (vgl. SPECK 2008). Technik wirdhier weiterhin als ein außerhalb der Naturangesiedeltes höchstes Ziel anvisiert, zuder die bauende Intelligenz der Naturemanzipiert werden soll. Die Baubotaniksieht demgegenüber in den Fähigkeitenlebender Pflanzen den Ort, zu dem diemenschliche Technik orientiert werdenkann. Das Hauptgewicht wird also auf dienatürliche und nicht auf die künstlicheIntelligenz gesetzt, weil ersterer ein höhe-rer Komplexitätsgrad unterstellt werdenkann, der sich im Begriff der Vitalität be-reits ankündigt.

Entgegen einer bionischen Verwendungbestimmter Eigenschaften des Baums inder Architektur und im Unterschied zumVersuch, bestimmte Natureigenschaftenmöglichst funktionsidentisch auf eintechnisches Bauteil zu übertragen, inter-agiert die Baubotanik mit lebendigenPflanzen. Dadurch überträgt sie sämtlicheEigenschaften der Pflanzen auf die Archi-tektur. Auch diejenigen, die nicht primärfür die technische Konstruktion benötigtwerden.

Das betrifft beispielsweise das Blätterwachs-tum, das aus der Perspektive der Architek-tur unkontrolliert erscheint und einescheinbare Verwilderung des Bauwerks zurFolge hat (09). In Wahrheit ist aber das,was wir als Wildwuchs betrachten, ausSicht des Baumes ein „kontrollierter“ Vor-gang: sein jährlicher Austrieb, die üppigeAusbildung von Blättern und Rinde, sowiesein Erscheinungsbild über die Jahreszei-ten hinweg repräsentieren Eigenschaften

08

07

Pneumatische temporäre Stützstrukturund sich entwickelndes baubotanischesTragwerk, © FG Baubotanik –Lebendarchitektur

Baubotanische Brücke, mögliche Ent-stehungsphasen, © FG Baubotanik –Lebendarchitektur

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des Baumes, die nicht für seine Statik, son-dern für seine gesamte Vitalität notwendigsind. Diese Vitalitätsaspekte (Kronenstruk-tur, Austrieb und Distributionssysteme)werden in der Baubotanik nicht durchkünstliche Systeme ersetzt, sondern ver-bleiben als maßgebliche ästhetische Quali-täten, welche die Erscheinung und Gestaltder Struktur dominieren, den jeweiligenZustand ihrer Vitalität als „Autobiografie“zum Ausdruck bringen und somit die Zeichenhaftigkeit des Baums in der Archi-tektur kenntlich werden lassen. Währendin der Bionik das Ergebnis des kreativenÜbertragungs- und Abstraktionsprozessesnatürlicher Vorgänge auf künstlicheStrukturen die Gestalt eines technischenArtefakts annimmt, bleibt in der Baubota-nik die Mannigfaltigkeit der konstruktivverwendeten technischen wie lebendenBauteile erhalten und wird als solchesichtbar. Baubotanische Strukturen blei-ben abhängig von allen vorherrschendenEinbindungen in die sie umgebenden Öko-systeme und versprechen erst dann wirk-liche Gewissheit, wenn sie gezielt auf ihre„Autobiographie“ hin konstruiert und be-fragt werden können. Dass der Architektzum Gärtner wird, heißt ja nicht nur, dasser von der Planung auf die Pflege umstellt,sondern sich aus einem Initiator vonFunktionsabläufen zu einem Beobachterund Begleiter von Lebensprozessen ver-wandelt.

In der sich fortschreibenden Autobiografiedes Baus wird das Interaktionsverhältniszwischen wachsendem und statischemBauteil offenbar. Mit den (jahres-)zeit-

lichen Veränderungen befreit sich diearchitektonische Form durch den Einsatzlebender Materialien endgültig von derGestaltungshoheit des Architekten. Le-bende Tragwerke nötigen ihn dazu, ihrestatisch interpretierten Eigenschaften zu-gleich als botanische und artifizielle zuverstehen. Die „künstliche“ Intelligenz desIngenieurs setzt sich freiwillig in Abhän-gigkeit zur „natürlichen Intelligenz“ derPflanze und leitet so die Mutation desArchitekten zum Gärtner in die Wege. Zueinem Gärtner, der planen und konstru-ieren kann und darüber hinaus auch demenzyklopädischen Wissenschaftscharakterder Architektur die Treue hält (DE BRUYN,2008), indem er sich als Kultur- und Na-turforscher versteht. Als solcher sieht ersich der Tatsache konfrontiert, dass dieBiologie so gut wie keine Gesetze kennt,sondern ihre Theorien weitestgehend aufPrinzipien beruhen. Die natürliche Selek-tion, das Prinzip der Konkurrenz und derRessourcen stellen keine universellenGesetze dar, sind aber grundlegende Prin-zipien, die in ihrer Begrifflichkeit Konzep-te der Theoriebildung sind (MAYR 2002).Zwar bleibt die Statik der Konstruktioneiner baubotanischen Struktur weiterhinvon physikalischen Gesetzmäßigkeitenabhängig, jedoch entfaltet sie ihr volleskonstruktives wie ästhetisches Potentialerst über die Zeit (SCHWERTFEGER 2008).

Die Aspekte der Zeitlichkeit, Veränderbarkeitund Zufälligkeit, des Wachstums und derlebendigen Textur (Blätterwerk) gewinnendaher in der Baubotanik ein Übergewichtüber die vertrauten und doch so fragwür-digen Kategorien der Funktionalität, Tek-tonik und Stabilität, die mit Peter Eisen-man zu den unbewältigten Fragen der sogenannten modernen Architektur gerech-net werden können. • Gerd de Bruyn

Ferdinand LudwigHannes Schwertfeger

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Steg kurz vor Pflegeschnitt, © Ent-wicklungsgesellschaft für Baubotanik

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BAU BOTAN I K 61

Literatur

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• Karafyllis, N. C. (2003): „Das Wesen der Biofakte“,in: Karafyllis, N. C. 2003 (Hrsg.): „Biofakte –Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen“, mentis Verlag, Paderborn 2003, S. 11–26

• Ludwig, F. (2008): „Baubotanik – Trainierbare Trag-werke“, in: de Bruyn, G., Ludwig, F., Schwertfeger, H.(Hrsg.): „Lebende Bauten, Trainierbare Tragwerke“,Lit-Verlag, Münster, (in prep.)

• Mattheck, C. (1995): „Biomechanical optimum in woody stems“. In: Gartner, B. L. (Hrsg.): „Plant stems. Physiology and functional morphology“,Academic Press., San Diego

• Mayr, E. (2002): „Die Autonomie der Biologie“,Naturwissenschaftliche Rundschau, 55. Jahrgang,Heft I, Seite 23–29

• Otto, Frei (1992): „Form, Kraft, Masse (3): ein Vorschlag zur Ordnung und Beschreibung von Kon-struktionen“, Krämer, Stuttgart

• Pretzsch, H. (2002): „Grundlagen der Wald-wachstumsforschung“, Blackwell Verlag, Berlin

• Reineke, L. H. (1933): „Perfecting a Stand-DensityIndex For Even Aged Forests“, Journal of AgriculturalResearch 46(7), 627–638, 1933

• Schwertfeger, H. (2008): „Lebende Bauten – Betonund Ente“, in: de Bruyn, G., Ludwig, F., Schwertfeger,H. (Hrsg.): „Lebende Bauten, Trainierbare Trag-werke“, Lit-Verlag, Münster, (in prep.)

• Speck, T. (1994): „Bending stability of plant stems:ontogenetical, eco-logical, and phylo-ge-ne-ticalaspects“, Biomimetics, 2 (2): 109–128.

• Speck, Thomas (2008): „Baubotanik, Bionik, Biotech-nologie: Innovative Forschung im Spannungsfeld ange-wandter Biowissenschaften“, in: de Bruyn, G., Ludwig,F., Schwertfeger, H. (Hrsg.): „Lebende Bauten, Trai-nierbare Tragwerke“, Lit-Verlag, Münster, (in prep.)

• Yoda, K., Kira, T., Ogawa, H. und Hozumi, K.:„Self-thinning in overcrowded pure stands under culti-vatet and natural conditions (Intraspecific competitionamong higher plants XI)“, Journal of the Institute of Polytechnics, Osaka City University, Series 14,S. 107–129, 1963

DIE AUTOREN

Prof. Dr. phil. Gerd de Bruyn

ist Architekturtheoretiker und leitet seit 2001 das Institut Grundlagenmoderner Architektur und Entwerfen (Igma), in dem die breit vernetzteForschungsgruppe „Baubotanik – Lebendarchitektur“ gegründet wurde,die aus den Diplomingenieuren Ferdinand Ludwig (Schwerpunkt Bo-tanik), Oliver Storz (Schwerpunkt Technik) und Hannes Schwert-feger (Schwerpunkt Theorie) besteht. Alle drei haben ihr Diplom amIgma gemacht und sind derzeit Doktoranden.

KontaktUniversität Stuttgart, Institut Grundlagen moderner Architektur undEntwerfen, Keplerstrasse 11, K1, Stockwerk 6.a, 70174 StuttgartTel. 0711/685-83320, Fax 0711/685-82795E-Mail: [email protected]: www.uni-stuttgart.de/igma, www.forschung.baubotanik.de

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1. Better City, better Life

Nie zuvor wurde eine Viertel Milliarde Men-schen so schnell aus ärmlichen Verhältnis-sen in die moderne Konsumgesellschaftkatapultiert, nie zuvor hat ein Land soschnell und in so vielen Bereichen einedominierende Stellung im Welthandelerreicht. In der Rangliste des „Human

Development Index“, den die VereintenNationen jedes Jahr im Hinblick auf Le-benserwartung, Ausbildung und Einkom-men veröffentlichen, steht China unterden 177 erfassten Ländern an 77. Stelle,knapp nach Thailand und Kolumbien undknapp vor der Türkei und Jordanien. Dergroße Rivale Indien liegt 50 Plätze hinterChina. Allerdings warten in China rund

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Better City, better Life

Verstädterung und Investoren-Städtebau in China

Im Kontext der raschen Verstädterung in China, die in den nächsten

zwanzig Jahren rund 300 Millionen Menschen vom Land in die

Städte umschichten wird, gewinnt die Architektur- und Städtebau-

Ausbildung eine besondere Bedeutung. Dies auch, weil die Ver-

städterung nicht nur ein demografischer und technisch-ökonomi-

scher, sondern vor allem ein kultureller Prozess ist. Noch kann nie-

mand sagen, welcher Lebensstil und welche Stadtkultur sich in den

Städten Chinas herausbilden werden. Deutlich sichtbar sind dagegen

einige planerische Konflikte, die den aktuellen Verstädterungspro-

zess begleiten. An der Fakultät für Architektur und Stadtplanung der

Universität Stuttgart studieren

und forschen rund 150 chine-

sische Studenten und Dokto-

randen. Die Fakultät unterhält

Partnerschaften mit der Tongji-

Universität in Shanghai und

anderen Universitäten. Einige

Professoren der Fakultät be-

teiligen sich häufig an städte-

baulichen Wettbewerben,

Forschungs- und Planungs-

projekten in China. Eine weitere

Initiative sind jährliche Fortbil-

dungs-Workshops für chinesi-

sche Architekten und Stadtplaner zum Thema „Energie und Umwelt

in Architektur und Städtebau“.

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STÄDTE BAU 63

eine Milliarde Menschen noch ungeduldigdarauf, dass der Aufschwung auch sie er-reicht. China kann sich also keine Pause inder rasanten Entwicklung leisten, der de-mographische und soziale Druck verlangteinen permanenten Boom.

2. Turbo-Verstädterung

Chinas Wirtschaftskraft ist seit 1994 um 100 Prozent und die Stadtbevölkerung um40 Prozent gewachsen. 80 Prozent desBruttosozialprodukts wird heute in den660 größeren Städten Chinas erzeugt. Um1970 lebten erst 18 Prozent der Menschenin den Städten, 2005 waren es schon43 Prozent oder 560 Millionen. Es wird er-wartet, dass bis 2030 die Stadtbevölkerungauf 870 Mio. steigt. Gleichzeitig nimmt dieländliche Bevölkerung ab, weil jährlichrund 15 Mio. Bauern die Dörfer verlassenund in die Städte strömen.

Shanghai (15 Mio. EW.) und Peking (11 Mio.EW.) stehen an 7. bzw. 17. Stelle in derRangliste der Megastädte, daneben gibt esin China rund 50 Städte mit einer Bevöl-kerung über zwei Millionen. In Shanghai,der größten Stadt des Landes, konzentrie-ren sich aber nur 3 Prozent der Stadtbevöl-kerung (Mexiko-Stadt: 25 Prozent), weilder Verstädterungsdruck sich auf ein gro-ßes und differenziertes Städtesystem ver-teilt. Dies hält das Wachstum von Shang-hai und Peking aber nicht auf: 2015 wirdShanghai 17 Mio. und Peking 13 Mio. Ein-wohner haben.

Das Konzept der abgrenzbaren Megastädteerscheint in China jedoch überholt, weilsich einige Mega-Agglomerationen undStädte-Cluster herausbilden, deren Bevöl-kerung 20 Mio. deutlich übersteigt. Diesgilt vor allem für die VerstädterungsregionShanghai und das Yangtse-Delta, für dieAgglomeration Peking-Tianjin-Hebei undfür Shenzhen mit dem Pearl River Delta.UN-Habitat nennt solche Mega-Agglome-rationen „Hyperstädte“, um zu verdeut-lichen, dass das Stadtwachstum in immergrößere Dimensionen vorstößt.

Der Verstädterungsprozess in China wird sicherst um 2030 langsam beruhigen, wenn dasLand eine Verstädterungsquote von 60 Pro-zent erreicht. Bis dahin muss mit einemturbulenten Stadtwachstum gerechnetwerden, das rund 300 Mio. Menschen vom Land in die Städte umschichten wird.Damit die großen Städte nicht unter demZuwanderungsdruck zusammenbrechen,

will man – neben einerraschen Modernisierungder Großstädte – insbeson-dere die Mittel- und Klein-städte fördern, um „dieStädte zu den Bauern“ zubringen.

3. Grenzen desWachstums

Mit 9,6 Millionen Quadrat-kilometern ist China dasviertgrößte Land der Welt;die natürlichen Ressour-cen sind aber knapp, wenn man die riesige Be-völkerung von 1,3 Milliar-den berücksichtigt. DiePro-Kopf-Werte wichtigerRessourcen wie Wasser,fruchtbarer Boden undEnergie liegen unter demWeltdurchschnitt, den-noch gibt es eine enormeRessourcenverschwendunggerade in diesen Bereichen.In den letzten zehn Jahrenist die Siedlungsfläche um45 Prozent gewachsen,gleichzeitig ist die land-wirtschaftliche Nutzflächeum 70.000 Quadratkilo-meter geschrumpft. Der jährliche Flächenver-brauch durch die Verstäd-terung wird auf rund12.000 Quadratkilometergeschätzt, was etwa einemDrittel der Fläche Baden-Württembergs entspricht.

Zwei Drittel aller chinesi-schen Städte haben Was-serprobleme. Dies wirddurch die Verschmutzungnoch verschärft, weil dasAbwasser in den Städtennur zu 50 Prozent gereinigtwird. Die Austrocknungeiniger Flüsse ist weit fort-geschritten und stellt dieExistenz ganzer Städte inFrage. Dennoch ist derstädtische Wasserverbrauchmit 200 Litern pro Kopfund Tag vergleichsweisehoch, was auch an einerfehlenden Preispolitik und

Within the next three decades, urbanization inChina will move about 300 million people fromrural to urban areas. At present, there are 560 mil-lion people living in cities, 2030 there will be 870millions. Fast-speed-urbanization in China goesalong with serious problems in regard to the protec-tion of natural resources and urban land manage-ment. The extensive consumption of land for newindustry and housing seems to be particularly criti-cal, due to ambitious local projects and a highlyprofitable land market. Another critical aspect isthe destruction of historical urban areas and resi-dential quarters.Up to now, only large scale investors and developerstake part in urban projects. Large scale housing ismainly aiming at the rising middle class, offeringan „exotic“ mix of architecture in „Mediterrane-an“, „European“ or „Californian“ style. Usually,housing projects are enclosed and introverted „gatedcommunities“, thus promoting social and spatialsegregation. However, gated neighbourhoods havealways been present, in the traditional city as wellas in socialist times.Another critical aspect is the waste of energy,because of the lack of modern isolation, cooling andheating technology. In order to reduce the importbill for oil and the costs for housing maintenance,almost the total urban housing stock must be updatedaccording to new technical standards, - a giganticchallenge of which nobody knows if this will befeasible in the near future.In it’s quest for „better city, better life“ China hasmade spectacular progress in terms of housing pro-duction. However, as far as the quality of urban lifeand urban planning is concerned, China is still onthe move. Nobody knows how China’s cities willfunction and how they will look like in two or threedecades from now.

SUM MARY

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Neubauten in Peking

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Verbrauchskontrolle liegt. Die Energie-erzeugung hängt zu 85 Prozent von derumweltverschmutzenden Kohle ab, dabeisteigt der Energieverbrauch jährlich um 15 Prozent, was rasch steigende Öl-Importeerfordert. Noch wird die Energie subven-tioniert, der Weltmarkt wird aber vorChina nicht haltmachen, was schon mit-telfristig zu rasch steigenden Preisen unddamit zu einer Energiekrise führen könnte.

Die natürlichen Ressourcen sind also ein kri-tischer Faktor im Verstädterungsprozessund werden schon jetzt bis an die Grenzenstrapaziert. Dies gilt insbesondere für dieKüstenregionen, wo sich die Landwirt-schaft, das Wasser, die Bevölkerung undder Wirtschaftsboom konzentrieren.China wird deshalb um eine Ressourcenschonende Stadtentwicklung nicht her-umkommen. Der Konflikt zwischen der„Turbo-Verstädterung“ und dem Ressour-censchutz ist natürlich schwieriger zulösen als in Europa, wo die Wirtschaft un-gleich langsamer wächst und das Bevöl-kerungs- und Stadtwachstum weitgehendzum Stillstand gekommen ist.

4. Zentrale Politik, lokaleInteressen

Natürlich hat die chinesische Regierung dieserkannt und deshalb die Stadtentwicklungzu einem wichtigen Politik- und For-schungsfeld gemacht. Propagiert wird eine„harmonische Stadtentwicklung durchwissenschaftliche Planung“ und tatsäch-lich findet man auf allen Ebenen schoneine gute – zumindest theoretische –Kenntnis moderner Kommunalpolitikund -planung, auch die „Agenda 21“ unddie „nachhaltige Stadtentwicklung“ sindbestens bekannt. Allerdings sind dieseKonzepte in der Praxis noch kaum an-gekommen. So dynamisch die Wirtschaftwächst, so indifferent verhalten sich dieProvinzen und Städte gegenüber allem,was ihre profit- und prestigeträchtigenProjekte bremst.

Was in Chinas Städten noch fehlt, ist eine in-tegrierte Stadtplanung, die in der Lage ist,die zentralen Politikziele, die divergieren-den Normen und die lokalen Prioritätender Bevölkerung in einem strategischenEntwicklungsplan zu vereinen. Auch dieInformationssysteme sind noch lückenhaftund damit die Kenntnisse über Ursachen,Zusammenhänge und Folgen der Verstäd-

terung. Aber selbst wenn es eine solchePlanung gäbe, wäre es bei der Dynamikund Größenordnung der Verstädterungunmöglich, diese vollständig zu lenkenund zu kontrollieren. Die Planungsproble-me verschärfen sich noch mit der Heraus-bildung riesiger Agglomerationen undStädte-Cluster, deren administrative,funktionale und räumliche Strukturenraschen Veränderungen unterliegen. Umhier wirksam zu agieren, braucht maneine ständige Moderation der städtischenEntwicklung, eine übergreifende Planungund robuste Planungsmethoden.

In den Provinzen, Städten und Distriktengreifen hierarchische Machtstrukturenund undurchsichtige Interessen in dieStadtplanung ein. Allmächtige Bürger-meister fällen die Entscheidungen nacheigenem Geschmack und Interesse, diesnicht selten gegen den Rat ihrer eigenenPlaner. Deren Rolle reduziert sich oft da-rauf, die top-down-Entscheidungen zuvollziehen und den öffentlichen Prestige-Projekten und Investoren zuzuarbeiten.Das Korrektiv einer informierten und kri-tischen Öffentlichkeit fehlt noch weit-gehend, auch wenn es in einigen Städtenschon erste Gehversuche einer partizipa-tiven Planung gibt, etwa durch beratendePlaner, die als Vermittler zwischen derLokalregierung und der Bevölkerungagieren.

Wie die Zentralregierung, die sich gern aufMegaprojekte wie die Olympischen Spielefixiert, so haben auch die Lokalpolitikereinen Hang zu ehrgeizigen und über-dimensionierten Projekten. Selbst in ab-gelegenen Mittel- und Kleinstädten findetman pompöse neue Rathäuser und Messe-hallen, riesige Boulevards und Stadtauto-bahnen; natürlich wollen auch die Distrik-te ihre Statussymbole, ohne sich mit derGesamtstadt abzustimmen. Die langfristi-gen Folgekosten, die der Projekt-Gigantis-mus verursacht, sind enorm und nochkaum kalkulierbar.

5. Extensive Stadtplanung

In China weisen die bewohnten Stadtgebieteeine hohe Dichte auf (120 Einwohner proHektar [EW./ha]; Stuttgart: 35 EW./ha),gleichzeitig ist ein hoher Stadtflächen-verbrauch pro Einwohner (130 qm/Person)zu verzeichnen. Dies erscheint paradox,erklärt sich aber dadurch, dass die chinesi-

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STÄDTE BAU 65

schen Städte fast zur Hälfte aus Industrie-flächen bestehen. Im Mittelpunkt derStadtplanung stehen meist großflächigeIndustrieansiedlungen und andere Groß-projekte, während die Alltagsprobleme derBevölkerung eher zweitrangig behandeltwerden.

In den Provinzen, Städten und Distriktenwird Stadtplanung vor allem als Flächen-beschaffung verstanden, weil es lukrativfür die Städte ist, ländlichen Boden instädtisches Bauland zu verwandeln und anprivate und öffentliche Investoren weiter-zugeben. Dabei nimmt die Interessen-Allianz der lokalen Behörden und Inves-toren wenig Rücksicht auf die betroffenenBauern, die im „öffentlichen Interesse“mit einer geringen Entschädigung abge-funden werden. Dies ist möglich, weil derBoden in China dem Staat gehört und dieDörfer nur ein permanentes Nutzungs-recht haben. Schätzungsweise 40 Millio-nen Bauern haben auf diese Weise ihr Landverloren.

Tatsächlich wachsen die Städte in China abernoch schneller, als es die offiziellen Plänevorsehen. Die großflächige Umwandlungvon Agrarland in Industrie- und Baulandwird auch durch irreguläre Mechanismenvorangetrieben, wobei das komplizierteAntrags- und Genehmigungsverfahren,das mit einer formellen Enteignung undNutzungsübertragung verbunden ist, aufverschiedene Weise umgangen wird. Na-türlich wachsen auch die Dörfer teilweiseinformell, wie die „urbanen Dörfer“ undzahllose Neubau-Inseln im peripheren„Speckgürtel“ der großen Städte zeigen.Illegal errichtete Gebäude werden seltenabgerissen, sondern mit einer mildenGeldstrafe belegt.

Die Stadtplanung in China entwickelt sichaber schnell. In rund 100 Universitätenwird bereits Stadtplanung gelehrt undviele junge Planer haben im Ausland stu-diert und Erfahrungen gesammelt. Dasfachliche Potential wächst also, ebensowird mit neuen Planungsmethoden ex-perimentiert, um die Agrar- und Natur-flächen, Gewässer, öffentlichen Reserve-flächen und historischen Gebiete besser zuschützen. Noch kaum entwickelt ist dage-gen das Risiko-Management. Viele chine-sische Städte sind einem hohen Risiko vonÜberschwemmungen, Trockenheit undErdbeben ausgesetzt, das Gleiche gilt fürtechnische und andere Katastrophen.

6. Das historischeErbe

Die gigantische Bauwelle inChina hat die Lebens-verhältnisse von MillionenMenschen sprunghaft ver-bessert. Der Wohnstandardin Peking hat sich in 20Jahren von 10 auf 25 qm/Person verbessert und sollbis 2015 auf 30 qm/Personsteigen, was sich schon fastdem europäischen Stan-dard nähert (Deutschland:40 qm/Person). Andererseits zeigt derHigh-Speed-Städtebau aber auch Defizite,die Chinas urbane Zukunft erheblichbeeinträchtigen werden, wenn keine Kor-rekturen erfolgen.

Hierzu gehört der rigorose Umgang mit derhistorischen Bausubstanz. Meist werdendie neuen Projekte rück-sichtslos in die alten Struk-turen gesetzt, weil mandavon ausgeht, dass diesesowieso verschwinden wer-den. Auch wenn es in Pe-king und Shanghai schonviele katalogisierte Monu-mente und Schutzgebietegibt, so werden doch nochimmer ganze Altstadt-Quartiere durch die Neu-bauprojekte zerstört. EinGrund ist der hohe Boden-wert in den zentralenStadtgebieten, der in kei-nem Verhältnis zu der oftdesolaten, ein- bis zwei-geschossigen Altstadt-Be-bauung steht. Auch dieErschließung und die sani-täre Infrastruktur der Alt-stadt ist meist so schlecht,dass eine Sanierung teuerwird. Kaum geklärt istauch die Frage, welcheFunktionen die Altstadt imZentrum der boomendenMetropole übernehmenkönnte. EingeschossigesWohnen für die Reichen im Zentrumeiner Megastadt? Umbau zu kommerziel-len Gastronomie- und Tourismus-Quartie-ren? So stehen die Planer oft vor derschwierigen Entscheidung, ob ein Quartier

02

03b

a: Shanghai: die traditionellen bzw. kolonialen Quartiere heissen hier„Lilong“. Wie bei den Hutong-Quartieren in Peking verschwinden dieLilongs zusehends.b: Traditionelles Hofhaus in Peking

Großbaustelle Peking

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In jedem Fall ist eine intensive Beschäftigungmit dem historischen Erbe wichtig, umden schnell wachsenden Städten Chinasein Stück Identität und Charakter zu be-wahren. Das historische Bauen war auchimmer ein regionales Bauen, das sich ander lokalen Kultur, an Klima, Topografieund an den natürlichen Ressourcen orien-tierte. Ein näherer Blick auf diese Tradi-tion könnte dazu beitragen, das uniformeBauen in China zu regionalisieren – einwichtiger Schritt hin zu einer modernenund umweltgerechten Baukultur in die-sem riesigen Land.

7. Investoren-Städtebau

Die staatliche Wohnungsversorgung wurdenach 1980 durch einen „kapitalistischen“Wohnungsmarkt abgelöst. Der unterneh-merische Immobilien- und Bausektor ent-wickelte sich schnell, wobei bis heute abernur große Investoren und Bauträger zumZuge kommen, was der Staat durch dielangfristige Verpachtung bzw. Versteige-rung großer Bauparzellen steuert. Dabeiwird die Pacht einmalig entrichtet undentspricht durchaus einem kapitalisti-schen Bodenpreis. Nur so war es möglich,in kurzer Zeit eine gigantische Bauwelle inGang zu setzen, die jährlich rund zweiMilliarden Quadratmeter Geschoßflächeoder 40 Prozent der weltweiten Bauleis-tung produziert und die immer noch jähr-lich um 20 Prozent wächst.

Städtebau im heutigen China ist also immerInvestoren-Städtebau, d.h. der individuelleBauherr, der nach eigenen Vorstellungenund mit einem eigenen Architekten baut,ist noch weitgehend unbekannt. Obwohles längst eine solvente Mittelschicht gibt,ist Individualismus im Wohnen bislang nurper Kaufentscheidung in einem kommer-ziellen Großprojekt zu haben. Auch des-halb fehlt Chinas Städten noch eine indivi-duelle Alltags-Architektur, wie sie in euro-päischen Städten das Bild bestimmt.

Über das Wohnungsangebot der großen Bau-träger sortiert sich die städtische Gesell-schaft völlig neu. Vor zwei Jahrzehntennoch eine kollektive Masse, will die neueMittelschicht nun materiellen Konsum,westlichen Lebensstil und ein statusorien-tiertes Wohnen und orientiert sich dabeian westlichen Vorbildern. Die Unterneh-men bedienen dieses Bedürfnis mit inter-nationalen Architektur-Kopien, wobei es

„Monotone Vielfalt“ im Wohnungs-angebot

04

als „Slum“ beseitigt oder als „Altstadt“ er-halten werden soll, ohne dass es dafür eineklare Nutzungs- und Investitionsstrategiegibt.

Anders liegt der Fall bei den Altbauten, dievor 1949 errichtet wurden, sowie beim so-zialistischen Wohnungsbau der 1950/70erJahre. Monotone Bauformen und schlech-te Bauqualität legen einen Abbruch nahe,dennoch war der egalitäre Zeilenbau einefrühe „chinesische Moderne“ mit demZiel, die Lebensbedingungen der Men-schen zu verbessern, ganz ähnlich wie diefrühe Moderne in Europa. Auch der so-zialistische Wohnungsbau ist eine wichtigePhase der jüngeren Stadtgeschichte undsollte deshalb nicht vollständig ver-schwinden.

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STÄDTE BAU 67

nicht nur um Wohnungen, sondern auchum einen neuen „Lifestyle“ geht. Im An-gebot sind Quartiere im „französischen“,„englischen“, „mediterranen“, „europä-ischen“ und „kalifornischen Stil“, nur diechinesische Variante findet man in dieserPostkarten-Architektur kaum. Dies bringtnatürlich keine kosmopolitische Stadt-kultur hervor, sondern eine bunte Pseudo-Vielfalt, die allein der Marktstrategie derInvestoren entspringt.

Die Beliebigkeit in Stil und Formen bedienteine noch unerfahrene Klientel, bietet denBauträgern aber auch die willkommeneGelegenheit, die schematische Planungund städtebauliche Sterilität, die der Fast-Speed-Städtebau unvermeidlich mit sichbringt, hinter exotischen Fassaden zu ver-bergen. Niemand weiß, wie sich der „ge-kaufte Lebensstil“ in der Praxis und aufDauer bewährt, ob sich der Stil-Mix mitder Zeit abnutzen wird oder ob eine plötz-liche Renaissance des „chinesischen Stils“die ausländischen Imitate verdrängt.

8. Gated Communities und soziale Segregation

Das urbane Modell in Europa ist die ökono-misch vitale, sozial ausgewogene und um-weltfreundliche Bürgerstadt, der Inves-toren-Städtebau in China hingegen führtauf direktem Wege hin zur sozial segre-gierten Konsumstadt. Schon gibt es ab-geschottete Luxusinseln und versteckteSlums, elitäre Einkaufswelten und ärm-liche Straßenmärkte, auch wenn man diesozialen Kontraste nicht auf den erstenBlick sieht. Die Regierung versucht, diesdurch die Förderung von preisgünstigemWohnungsbau zu korrigieren, der aber fastnur in Randlagen und in den Satelliten-städten entsteht. Bislang scheinen wederdie Regierung noch die Stadtplaner diesoziale Segregation ernsthaft zu themati-sieren, auch für die ausländischen Archi-tekten, die im Investoren-Städtebau tätigsind, ist dies in der Regel kein Thema. Es wird jedoch eine der wichtigsten Zu-kunftsfragen sein, ob die chinesischenStädte eine soziale Mischung bewahrenoder in sozial und räumlich getrennteStadtinseln zerfallen.

Die neuen Quartiere haben phantasievolleNamen, in denen der Begriff „Garten“nicht fehlen darf. Im traditionellen Chinawaren die wenigen Parks und Grünflächen

das exklusive Privileg einerkleinen Oberschicht, jetztwird der Quartiers-Gartenzu einem wichtigen Status-symbol. Gleichzeitig dringtdie private Motorisierungin die neuen Wohnsiedlun-gen ein, sodass ein Nut-zungskonflikt zwischenGrünflächen, Zufahrtenund Parkplätzen entsteht.Noch wissen die Planernicht, ob die neue Mittel-schicht ihre Freizeit im Quartier oder lieber in der Shopping Mall und beiMcDonald’s verbringen wird. Das Freizeit-,Nachbarschafts- und Mobilitätsverhaltender jungen Wohnungskäufer ist nochweitgehend offen und wird, wenn es sichkonsolidiert, auch zu Korrekturen bei derQuartiersplanung führen.

Das Gleiche gilt für die soziale und demogra-fische Struktur. Wird es bei der Ein-Kind-Politik bleiben oder wird diese in Zukunftgelockert oder abgeschafft? Wohin mit dendreihundert Millionen Al-ten, die China schon innaher Zukunft versorgenmuss? Da es noch keineflächendeckende Alters-versorgung gibt, müssenwohl viele Jungen ihreEltern im Alter versorgen.Dies könnte bedeuten, dieWohnung später mit vieralten Leuten zu teilen.Schon jetzt bieten dieBauträger aufteilbare Woh-nungen an, auch kaufendie jungen Ein-Kind-Fami-lien Wohnraum auf Vorrat,wie die zunehmend großenWohnungen zeigen.

Der Wohnungsmarkt wirddurch günstige Kreditegefördert, was zu einerlangfristigen Verschuldungder neuen Mittelschichtführt. Natürlich wird auchnach Kräften spekuliert,etwa durch den Kauf einerZweitwohnung, die mannach einigen Jahren profi-tabel verkaufen will. Wie weit der Boomfür den realen Bedarf produziert oder einespekulative „Blase“ ist, können selbstExperten kaum sagen.

06

05

Kaufinteressenten beim Studium desAngebots

Luxus-Quartiere und GatedCommunities

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9. Geschlossenheit, Achse,Symmetrie

Die „introvertierte Stadtzelle“ ist eine Kon-stante im chinesischen Städtebau. Dies galtfür die durch Tore gesicherten Quartiereder alt-chinesischen Stadt ebenso wie fürdie ummauerten Arbeits- und Wohnkol-lektive (Danwei) der sozialistischen Stadt.Der Investoren-Städtebau folgt dieserTradition, gleichzeitig bricht er die Gesell-schaft auf und verteilt Arbeiten und Woh-nen, Konsum und Freizeit, Arm undReich, Jung und Alt auf unterschiedlicheStadtzonen und Quartiere. Das Ergebnis

ist eine Stadt, die aus zahl-reichen, in sich abgeschlosse-nen Siedlungszellen besteht.Ob diese „gated communi-ties“ so abgeschlossen blei-ben, wie sie jetzt erscheinen,ist aber durchaus noch offen.So werden die Quartiersrän-der oft mit kommerziellenund öffentlichen Einrichtun-gen besetzt, was für eine gewisse Verflechtung sorgt;auch grenzen nicht mehrMauern, sondern transparen-te Zäune die Wohngebiete ab.Die Ausrichtung der Woh-nungen nach Süden ist eine

andere Konstante im chinesischen Städte-bau. Dies gilt für das traditionelle chine-sische Haus und für den sozialistischen Zeilenbau ebenso wie für die neuenWohntürme und Hochhaus-Scheiben derGegenwart. Jede Abweichung von dieseruralten Feng-Shui-Regel ist mit erheb-lichen Preisabschlägen verbunden – einüberzeugendes Argument für die Bauträ-ger, nicht daran zu rütteln. Ähnliches giltfür die „Achse und Symmetrie“, die eben-so im Layout fast aller Projekte vorzufin-den ist. Auch dies knüpft an uralte Städte-bau-Traditionen an und erleichtert es denInvestoren, große Baumassen schnell undunkompliziert zu ordnen.

Die introvertierte Geschlossenheit derWohnquartiere, Südorientierung, Achseund Symmetrie leben also im Investoren-Städtebau fort, wenngleich unter anderenVorzeichen und in anderen Formen. Dabeistellt sich bei der schnellen Entwicklungdes chinesischen Städtebaus die Frage, ob

diese Charakteristik auf Dauer als „chine-sisch“ bewahrt werden sollte, oder ob manin Zukunft auch andere städtebaulicheKonzepte braucht, um dem gesellschaft-lichen Wandel gerecht zu werden.

10. Architektur-Import

Die ausländischen Entwürfe sind meistgrafisch reizvolle „Idealstädte“, wobei diechinesische Symbolik – vor allem derKreis und das Quadrat – nicht fehlen darf.Dabei sind die Entwürfe der in Chinaarbeitenden deutschen Planer vom Leit-bild der „europäischen Stadt“ geprägt,wobei der Beweis einer kulturellen Ak-zeptanz aber noch aussteht. Natürlichsind auch die ausländischen Entwürfe Teildes profitorientierten Investoren-Städte-baus und müssen vielfache Veränderun-gen und Deformationen hinnehmen.

Dennoch enthält die Verschmelzung euro-päischer und chinesischer Städtebau-Elemente ein interessantes Potential. Inkeinem ausländischen Entwurf fehlenPlätze und Boulevards, auch der „euro-päische Block“ – die Lieblingsfigur deut-scher Stadtplaner – hält in China Einzug,obwohl dieser der strikten Südorientie-rung deutlich widerspricht. Oft ist es abernoch unklar, wer im Investoren-Städtebauletztlich die Ausstattung und Pflege desöffentlichen Raums übernimmt und wiedie Bevölkerung diesen nutzen wird.Welche „Urbanität“ sich in Chinas Städtenherausbilden wird und welche öffent-lichen Räume diese braucht, kann nochniemand mit Sicherheit sagen.

Der massive Architektur- und Städtebau-Import wird meist unkritisch aufgenom-men, was auch Ausdruck einer gewissenRatlosigkeit ist, wie es mit der „chinesi-schen Moderne“ weitergehen soll. Gleich-zeitig ist dies auch ein zielstrebiges „Sam-meln und Jagen“, von dem man sich wich-tige neue Impulse für den chinesischenStädtebau verspricht. Auch hier ist es nochoffen, ob der Architektur- und Städtebau-Import die „monotone Vielfalt“ des aktu-ellen Bauens in China letztlich noch stei-gern oder mindern. Ebenso offen ist dieFrage, welchen Beitrag das „Schaulaufen“der internationalen Wettbewerbe zurEntwicklung einer authentischen lokalenBaukultur tatsächlich leistet.

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07

Dicht und hoch – neuer Wohnungsbauin Peking

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11. Energieeffizienz und urbane Mobilität

Der subventionierte Energiepreis und die kurzfristigeGewinnorientierung der Investoren haben zur Folge, dassdie moderne Haustechnik – vor allem Wärmedämmung,Heizung- und Kühlung – noch keine wichtige Rolle imWohnungsbau spielt. Der Energieverbrauch chinesischerGebäude ist etwa zwei- bis dreimal so hoch wie inDeutschland, wobei die großen Prestigebauten und ex-klusiven Wohnsiedlungen die größten „Energieschlucker“sind. Der Staat hat auch in diesem Bereich längst an-spruchsvolle Normen gesetzt, allerdings fehlt es noch anAnreiz, um etwa die Niedrigenergiebauweise und moderneHeiz- und Kühltechniken flächendeckend zu fördern. DieBauträger halten sich zurück, weil energieeffizientes Bau-en teurer als konventionelles Bauen ist. Bislang erfüllennur zehn Prozent der Gebäude die offiziellen Normen, aufdie Wohnungskäufer kommen deshalb unkalkulierbareBetriebs- und Unterhaltskosten zu, sobald der Energiepreisin China kräftig steigt.

China steht also vor der gigantischen Aufgabe, nicht nur dievor 1970 errichteten und energetisch kaum mehr sanier-baren Altbauten zu ersetzen, sondern auch einen großenTeil der Neubauten, die in den letzten 30 Jahren entstan-den sind. Praktisch droht der gesamte Baubestand zu einergigantischen Altlast zu werden – ein Alptraum, der dieZentralregierung zunehmend umtreibt. Die nationale Po-litik sieht deshalb vor, bis 2020 fast den gesamten Gebäu-debestand energetisch zu sanieren und gleichzeitig einenökologisch orientierten Städtebau zu forcieren. Es wirdaber noch viele Jahre dauern, bis das energieeffiziente Bau-en, eine moderne Stadttechnik und konsequenter Um-weltschutz in Chinas Städten selbstverständlich sind. Gibtes im Energiebereich keine positiven Veränderungen, dannwird der Energiebedarf in Chinas Städten sich schon mit-telfristig verdoppeln, was im Hinblick auf den Klimawan-del nicht nur eine nationale, sondern auch eine globaleKatastrophe wäre. Aus energetischer Sicht ist der Städte-bau in China ein Wettlauf mit der Zeit.

Ähnlich kritisch sieht es im Stadtverkehr aus. Zwar gibt esin allen großen Städten zahlreiche Stadt- und U-Bahn-Projekte sowie neue Omnibus-Systeme, andererseits lässteine autofreundliche Politik die Zahl der Privatautos jähr-lich um 30 Prozent steigen, so dass es in allen großen Städ-ten zu chronischen Verkehrsstaus und Luftverschmutzungkommt. Auch im Hinblick auf die urbane Mobilität stehendie Städte also vor der Entscheidung, ob man auf zukunfts-fähige öffentliche Transportsysteme oder auf eine konven-tionelle Auto-Stadt setzt.

12. Die neue chinesische Stadt

Die grundlegende Frage, wie sich die chinesische Stadt inZukunft entwickeln wird, ist also noch weitgehend offen.Wird die „europäische Stadt“ das Leitbild sein, die sich um soziale, kulturelle und ökologische Verträglichkeitbemüht? Oder ist das Vorbild die „Stadtmaschine“ á laSingapur, wo eine autoritäre Planung für funktionaleEffizienz, soziale Ruhe und materiellen Wohlstand sorgt?Oder geht der Weg hin zur „lateinamerikanischen Stadt“,die unaufhaltsam in reiche Stadtinseln und arme Ghettoszerfällt? Wie das urbane Leitbild auch immer aussieht, dieneue chinesische Stadt wird auch in zwei Dekaden keine„Idealstadt“ sein. Die urbane Transformation ist erst aufhalbem Wege und kann jederzeit eine neue Richtung ein-schlagen. • Eckhart Ribbeck

Prof. Dr.-Ing. Eckhart Ribbeck

is member of the Städtebau-Institut, Faculty of Architecture and Urban Planning, University of Stuttgart and head of theDepartment of Urban Planning in Asia, Africa, Latin America (SIAAL). He studied in Aachen and Stuttgart (Ger-many) and spent several years as a Planning Consultant in international projects in the Carribean (UNDP), in Brazil(GTZ) and Mexico-City (UNAM). Professor at Stuttgart University since 1991, he has been involved in research pro-jects in Mexico, Peru, China, Usbekistan, Oman and Palestine.

KontaktUniversität Stuttgart, Städtebau-Institut, Keplerstr. 11, 70174 StuttgartFachgebiet Planen und Bauen in Entwicklungsländern / SIAALProf. Dr.-Ing. Eckart RibbeckTel. 0711 / 685 83370, Fax 0711 / 685 83745E-Mail: [email protected], Internet: http://www.uni-stuttgart.de/si/siaal/

DER AUTOR

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Gegenstand der Beschäftigung sind visuelleArtefakte sowie die damit verbundenenVerfahren, medialen Techniken und Me-thoden der Visualisierung. Außerdemgehen Vorstellungen und Praktiken in dieUntersuchungen von visuellen Phänome-nen ein. Der Bereich des Faches geht alsoüber das Registrieren und Systematisierenvon Visuellem hinaus: Wir bezeichnen mitdem Thema „Visual Culture“ das gesamte

Feld visueller und intermedialer Prakti-ken, diskursiver Verarbeitungen des Visu-ellen und deren theoretische Reflexion.Im Zentrum stehen Wirkungsweise undBedeutung von visuellen Ereignissen undvisuellem Erleben. Mit dem Begriff „Visua-lität“ erfasst man die Theorien und Dis-kurse, die ein historisch bedingtes visuellesErscheinungsfeld begleiten und interpre-tieren. Die Visualität einer Kultur setzt

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Bilderflut undBildverstehen

Neue Wege der Kul turwissenschaf t

01

„Visual Culture“ ist ein interdisziplinäres, kulturwissenschaftliches Forschungs- und Lehr-

gebiet, das sich seit einigen Jahren international und auch in Deutschland rapide entwickelt.

Man braucht sich nur einmal die eindrucksvolle Zahl der Veröffentlichungen seit den 1980er

Jahren anzuschauen, um einen Eindruck von der Brisanz und der Aktualität des Gegen-

stands zu erhalten. Die „Visual Culture Studies“ sind aus der Beobachtung der überborden-

den Bilderflut und der Industrien der Sichtbarkeit der modernen Gesellschaften entstanden.

In der Denomination zeigt sich visuelle Kultur mit allen sichtbaren Phänomenen als Gegen-

stand wissenschaftlicher Beschäftigung. Die „Visual Culture Studies“ erforschen Bedeutung,

Einfluss und Transformation von visuellen Phänomenen aus synchroner und historischer

Perspektive.

Ausschnitt (verdreifacht) aus L’Oeil,Marcel Broodthaers, Galerie Isy Bra-chot, Brüssel

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sich somit aus den zu beobachtenden visu-ellen Gegenständen und ihrer diskursivenKonzeptualisierung zusammen. Die Be-zeichnung „Visualisierung“, die normaler-weise in der Informationstechnologie fürdie Umsetzung von Sachverhalten in An-schauungsmaterial verwendet wird, ver-steht sich in unseren kulturwissenschaft-lichen Fragestellungen nicht nur als eineDarstellungstechnik, sondern als sämt-liche Vorgänge des Sichtbarmachens,Anschaulichwerdens und der Konkretisie-rung (der mentalen bildlichen Vorstel-lung). „Visualisierung“ zielt auf Technikenindividueller oder apparativer Verarbei-tung von Informationen, also auf Er-kenntnis- und Rezeptionsvorgänge, dieentweder mental oder technisch visuellstrukturiert werden.

Visualisierung in der alltagssprachlichen Be-deutung als technisch-mediale Erzeugungvon Bildern von Dingen, die das mensch-liche Auge allein nicht sehen könnte oderdie jeder Abbildungsgrundlage entbehren(wie z.B. genetische Codes, EKGs, Ultra-schall etc.), haben z.T. bereits eine so gro-ße Verbreitung erreicht, dass sie ins visu-elle Gedächtnis eingelassen sind. Diesevirtuellen Bilder bewirken eine größtmög-liche Realitätssimulation bei gleichzeitigergrößter Manipulierbarkeit. Sie sind so sehrTeil unseres Alltags geworden, dass sieunsere Rezeptions- und Kognitionsvor-gänge beeinflussen und demzufolge auchdie Weise prägen, in der auch in anderenZeichensystemen als dem visuellen dar-gestellt wird. Visualisierung in einemengeren Sinn kann dann auch die imagi-native Vorstellung meinen, die von Lite-ratur erzeugt wird, insbesondere von derBildlichkeit literarischer Texte.

Seit W. J. T. Mitchells grundlegenden Stu-dien wird in den Geistes- und Kulturwis-

senschaften die starke bzw.sogar primäre Orientie-rung unserer Kulturfor-men hin zum Visuellen als„pictorial turn“ bezeich-net. Dieser Wandel scheintden viel missbrauchten Be-griff „Paradigmenwechsel“wirklich zu verdienen. DieForschungsidee „VisualCulture“ beruht auf derBeobachtung, dass sich im20. und 21. Jahrhundertsowohl die Bildproduktionwie auch ihre Aufnahme-weise dramatisch verän-dert haben und noch wei-ter verändern werden. Vi-suelle Zeichen treten seitder elektronischen Revo-lution nicht nur in nie dagewesener Quantität undFrequenz auf, sondernhaben auch einen hohenKomplexitätsgrad erreicht.Neue Kulturtechnikenund Technologien schaffeneine zunehmende Sicht-barkeitserwartung undprägen das Verständnis derdargestellten Vorgängeund Sachverhalte. DieseEntwicklungen beeinflus-sen unsere Körperlichkeitwie auch unsere Vorstellung der Grenzezwischen Individuum und Außenwelt.Vergleichbar einschneidende soziale Ver-änderungen bilden sich beim Einsatz vontechnologischer Visualisierung als diszipli-näre Ordnungen oder als Herrschafts- undMachtinstrument, z. B. bei der optischenÜberwachung des öffentlichen Raumes,ab. Diese Situation bietet den epistemo-logischen Ausgangspunkt der Betrachtungvon visueller Kultur, denn der Wandel derWahrnehmungsweisen wirft neue Fragenim Hinblick auf Bildproduktion und Bild-verstehen in historischer und synchronerPerspektive auf.

1. „Logik“ des Bildlichen

Die Dominanz des Visuellen in der heutigenKommunikation hat das Interesse anWahrnehmen und Sehen als kulturellbedingte Phänomene geweckt, aber auchdie medialen und materialen Grundlagender Kommunikation stärker in den Blick

A proliferation of writings have registered a „picto-rial turn“ in contemporary culture, i. e. a dominanceof visual modes of communication, which has dis-rupted and challenged any attempt to define culturein purely linguistic terms. A long-lived westerntradition consistently privileging words over imagesneeded to be challenged and a serious academicinvestigation of the power of images had to be es-tablished. This is how „Visual Culture Studies“became a burgeoning field of research and teaching.It concerns itself with a wide range of visual mediaand visual events, including phenomena of everydaylife as well as canonized art objects. However, thefield also emphasizes a theoretical vantage point,from which to consider ways of seeing. Hence,„Visual Culture“ is not merely the study and inter-pretation of pictures or images, but an interdisci-plinary investigation into the role of the visual inthe wider field of social, political, and other cultu-ral systems. Ways of seeing and their concomitantconstructions of spectatorship, the gaze and theglance, practices of observation, surveillance andvisual pleasure are constantly being reorganized. Indigital culture one of the main areas of interest isthe convergence and interaction of different media,and new forms of viewer participation. Analyses of„Visual Culture“ aim to reveal how the whole so-cial network is modified through these influences ofthe visible, how subject positions, identities, andpower relations are affected.

SUM MARY

„Die Forschungsidee ‚Visual Culture‘ beruht

auf der Beobachtung, dass sich im 20. und 21. Jahrhundert

sowohl die Bildproduktion wie auchihre Aufnahmeweise

dramatisch verändert haben.“

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gerückt. Die im Internetzeitalter entstan-dene Selbstverständlichkeit unaufhalt-samer Bilderzeugung und ständiger Bild-transformation sowie der Zurichtung vonAlltagspraktiken auf das Visuelle hat zueiner Veränderung der Auffassungen vomBild geführt. Je immaterieller, technischerund vermittelter die Erscheinungsformder Bilder ist, desto mehr wächst eineSkepsis gegenüber der Evidenz des Visuel-

len. Paradoxerweise stellt also gerade dievisuell dominierte Kultur den Status desBildes zur Disposition, obwohl Bilder wienie zuvor gesellschaftliche Zusammen-hänge bzw. Identitäten stiften und Steuer-funktionen übernehmen. Aufgrund derenormen Ausweitung von Funktion undEinfluss von Bildern in unserer Kulturkann man Bilder als Aktanten verstehen.Sie bebildern nicht nur Informationen,

sondern erzeugen ihrerseits Bedeutungensowie weitere Bilder, verhalten sich alsoals imagines agentes, d. h. wie Handlungsträ-ger der Kultur.

Trotz der grundlegenden Stellung der Se-miotik für die „Visual Culture Studies“wurde im Laufe der geführten Debattenmehr und mehr deutlich, dass Bilder undvisuelle Phänomene keine „Grammatik“offenbaren werden. Mit der Verabschie-

dung des „Kultur als Text“-Paradigmas trat die demBildlichen eigene episte-mische Kraft in den Blick.Ein primärer Analysegegen-stand sind zunächst die Er-scheinungsformen des Bildesin unterschiedlichen media-len Ausprägungen. Bilderund visuelle Ereignisse ent-wickeln eine eigene Rhetorikbestehend aus Bildzeichen,die nicht isolierbar sind undsich nicht unbedingt aufkonkrete Objekte beziehen.Zwischen den intentionalenPolen von Irritation undSelbsterklärung, persuasiverEindeutigkeit (Piktogramme)und reflexiver Mehrdeutig-keit (Kunstwerke) realisierensich räumlich organisierteBotschaften, die weder völligeindeutig noch vollständig insprachliche Aussagen zuübersetzen sind. ÄsthetischeVerfahrensweisen der Visu-alisierung sind systematischzu differenzieren zwischenKunst, Effekt und Illusion.Während Gestaltung bzw.Design auf Oberflächeneffek-te zielt, und technische bzw.mathematische Verfahrenwie die Zentralperspektive,Anamorphose oder Panora-ma, Imax oder Simulations-verfahren illusionistisch ver-

fahren, setzen künstlerische Bildstrategienauf Reflexion (02). Zwar gehören Kunst,Technik und Medium zusammen und dieGrenzlinien zwischen Kunst und Effektbzw. Kunst und Illusion verwischen sichständig; doch sind reflexive Verfahren kon-stitutiv für die Kunsthaftigkeit der Künste.Bei der Analyse der unausschöpflichenVielfalt der künstlerischen Reflexionsstra-tegien fällt eine besondere Rolle den inter-

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The Ambassadors, Hans Holbeinder Jüngere (1533), National GalleryLondon, © 80048793 ullstein bild –ASIA

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medialen Strategien zu, die an der Bruch-linie zwischen Sagen und Zeigen, Schärfeund Unschärfe operieren.

Neuesten Ergebnissen der Bildtheorie zufol-ge liegt die Besonderheit des Bildlichen inseiner Zeigstruktur. Zentral für dieses Ver-ständnis von Bild ist die Fundierung derRelation bzw. Interaktion zwischen Be-trachter und Bild durch Deixis des Gegen-stands – eine körpersprachliche, bildlicheoder narrative Geste, die den Rezipientenzum Sehen anweist und ihn dazu bringt,eine spezifische Haltung bzw. Position ein-zunehmen. Dieser deiktische Gestus derBilder leistet bereits eine ganze Reihe vonVoreinstellungen, die die Wahrnehmungprägen, z.B. wird dem Betrachter sugge-riert, dass eine bestimmte Art des Schau-ens angemessen ist und dass sich bestimm-te Rahmenreferenzen zur Interpretationanbieten.

Diese Zeigstruktur beruht auf Gesichts-punkten, die visuelle Zeichensysteme aus-machen: Sie ereignen sich im Raum undschaffen eher Simultaneität als Sukzessivi-tät; sie produzieren Kontraste anstelle derDifferenzen im verbalen Zeichensystem(Figur-Hintergrund-Paradoxie); ihre Fülleund Dichte ist selten in diskrete Einheitenzerlegbar; Bildern fehlt die Negation undder Konjunktiv; Vagheit, Unschärfe undUnbestimmtheit haben sie allerdings mitverbalen Zeichensystemen gemeinsam.Insbesondere können Bilder im Allgemei-nen weder wahr noch falsch sein, weil siekein eindeutiges Prädikat besitzen, woraufsich Wahrheit oder Falschheit beziehenlassen könnte. Stattdessen produzierenBilder Evidenz.

Diese Strukturmerkmale implizieren eineeigene Ordnung (oder Un-Ordnung) desBildlichen, die in die verschiedenen Ver-fahren und Prozesse der Sichtbarmachungkonstitutiv eingeht. Bilder tendieren dazu,

in verschiedene Kontexte und Disziplinenihre eigene Logik und Rechtfertigung hin-einzutransportieren, so dass die spezifische„Logik“ des Zeigens gleichzeitig die Dar-stellungsweise und Reflexionsmöglichkeitvon Bildverfahren ermöglicht und ein-schränkt. Aus dieser Logik bzw. Ordnungergibt sich der prekäre Rationalitätsstatusvon Bildern, der seit jeher zur Abwertungdes Bildes gegenüber dem Text und zuverschiedenen Formen von Ikonophobieund Ikonoklasmus geführt hat. Doch Evi-denz besitzt auch einen affirmativen Zug,worin die besondere Appellfunktion, dieImmersivität und Täuschungsanfälligkeitdes Bildlichen liegt. Eine stark affektiveWirkung von Bildern und ihre scheinbarunmittelbare Verständlichkeit bedeuteneinen kognitiv-emotionalen Mehrwert,der sich manipulativ aber auch didaktischeinsetzen lässt. Diese (oft vorbewusste)Wirkung gilt es einzuschätzen und Bild-theorien zu entwickeln, welche die spezi-fische „Macht der Bilder“ entschlüsselnkönnen.

Solche Überlegungen gehen von einem per-formativen Konzept aus, wonach Bilder(wie übrigens auch Texte) sich zwar mitspeziellen Apellstrukturen an Rezipientenrichten, aber erst in der Reziprozität derästhetischen Erfahrung ihre Bildlichkeitentfalten. Während bei der „Visualisie-rung“ die doppelte Bedeutung von kon-kretem Gegenstand und imaginativer Vor-stellung eindeutig voneinander zu tren-nen sind, beinhaltet der Begriff „Bild“ eineDoppelung, die stets ineinander spielt,denn „Bilder“ sind immer in mehrfacherBedeutung gemeint: als konkrete visuelleDarstellung (entweder mit realer Materia-lität oder im virtuellen Raum) und alsVorstellung (entweder individuell alsTraum, Erinnerung, Visualisierung oderkollektiv als Mythos, Image, das kulturelleImaginäre). Daraus folgt ein erweitertesBildkonzept, das gleichzeitig materiell-mediale und imaginär-kognitive Kompo-nenten beinhaltet. So führt die Literaturihren Lesern neue Sichtweisen und mög-liche Welten vor Augen, anschaulicheMetaphorik macht Erfindungen und Ent-deckungen allgemeinverständlich, konkre-te Kunstobjekte schaffen ein Bedeutungs-surplus und virtuelle Computerweltenkönnen Instabilität mit Realpräsenz kom-binieren.

„Bilder können im Allgemeinenweder wahr noch falsch sein,

weil sie kein eindeutiges Prädikatbesitzen, worauf sich Wahrheit oder Falschheit beziehen lassen.

Bilder produzieren Evidenz.“

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2. Visualität: kulturell und diskur-siv bestimmte Wahrnehmung

Grundlegend für die Visualitätsforschung isterstens der Zusammenhang von Bild,Blick und Wahrnehmung und zweitens dieProzesshaftigkeit der Verfahren. Im Sinneeines durch die „Cultural Studies“ verän-derten Kulturbegriffs stehen deshalb defi-nitorische Fragen nach dem „Wesen“ desBildes hinter denen nach den kulturellenPraktiken und Prozessen, die Bedeutungenund Wirkungen generieren, zurück. DenUntersuchungen liegt ein Kulturbegriffzugrunde, der Kultur nicht als eine Ord-nung von Objekten versteht, sondern viel-mehr als Menge von Praktiken, mit derenHilfe Individuen und Gruppen Bedeutun-gen generieren und austauschen. Inner-halb dieses Kulturfeldes ist Sichtbarkeitzwar eine Eigenschaft von Gegenständen,aber sie ist auch herstellbar. Die Verbild-lichung von Wissen und Informationen imKontext anderer Wissensformen erzeugtDominanzen, die nicht unwesentlich vonder mit dem Visuellen verbundenen Evi-denzerfahrung und von habitualisiertenBlickordnungen beeinflusst sind. Dassdurch neue Technologien neue Einstel-lungen des Sehens entwickelt und geprägtwerden, die auf das Verhalten und Denkenzurückwirken, ist für Werbestrategien un-verzichtbar, für Soziologen und Kultur-kritiker oft beklagenswert, für die „VisualCulture Studies“ aber eine analytische undepistemologische Herausforderung.

Das immer unterscheidungsreichere Ver-stehen des Sehvorgangs hat die Thesebegründet, dass jede Repräsentation nichtnur der Bedeutungsselektion und Form-entscheidung von Produzent und Rezi-

pient geschuldet ist, sondern dass sie zu-gleich eine kompositorische Aussage überGegenstandsmodell, Seh-Konzept undDarstellungskonventionen ist. Unsere Vor-stellungen vom Sehen werden im Diskurs-feld Visualität formuliert und korrigiert.Visualität als Interaktion von Sehmodel-len, Sichtbarkeitsparadigmen und Bild-typen gibt Auskunft darüber, wie Men-schen an einem kulturhistorisch zubestimmenden Punkt (denken zu) sehen.Visuelle Wahrnehmung und visuelle Re-präsentation müssen sowohl gegenwärtig,historisch, wie auch theoretisch-konzep-tuell zu ihren Vorverständnissen, Prämis-sen und Grundannahmen befragt werden.

Wahrnehmung wird durch kulturelle Deter-minanten in Form der vorhandenen Bild-welten bestimmt, und zwar in Hinsichtauf Wahrnehmungsweisen und in Hinsichtauf die Wahrnehmung als Teil eines ge-samtkörperlichen und kognitiven Verhal-tens. Die Vorgänge und Praktiken desSehens und der Darstellung von Sehenwerden nach ihren zugrunde liegendenkulturellen Konstruktionen befragt, z. B.welche Konventionen bei der Verteilungvon Subjekt und Objekt des Sehens vor-herrschen oder welche Blickordnungendas Sehfeld organisieren und welche Be-trachterpersona vom Bild entworfen wird.Solche Untersuchungen der gesellschaft-lichen und individuellen Funktion vonSeh- und Darstellungsprozessen lassenRückschlüsse auf Identitätsbildung undFremdkonstruktion sowie auf gesellschaft-liche Machtstrukturen und Ermächti-gungsprozesse zu.

„Visualität“ ist im Gegensatz zu manchenanderen kulturwissenschaftlichen Unter-suchungsgebieten sehr eng mit identitäts-politischen und speziell geschlechterspezi-fischen Fragestellungen verzahnt. Weil diewestliche Epistemologie und ihre Subjekt-konstitution, Sehen und Verstehen un-auflöslich korreliert hat und Sehen damitzum privilegierten Sinn gemacht hat, be-sitzt notwendigerweise jede Beschäftigungmit Visuellem eine politische Dimension.

Historische Untersuchungen widmen sichden ikonographischen Konventionen, dievon den Bildbetrachtern naturalisiert wer-den. Der aufgeklärte Humanismus undseine an der Camera Obscura orientiertenDarstellungstechniken schufen über Jahr-hunderte Sehgewohnheiten, die die Mo-mentsicht eines stillgestellten Individuumsprivilegierten und einen objektiv-wissen-

„Den Untersuchungen liegt ein Kulturbegriff zugrunde,

der Kultur nicht als eine Ordnungvon Objekten versteht, sondern

vielmehr als Menge von Praktiken, mit deren Hilfe Individuen und

Gruppen Bedeutungen generieren und austauschen.“

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schaftlichen Betrachterstandpunkt fürmöglich und wünschenswert erklärten.Die in der Renaissancemalerei erfundenegeometrische Perspektivierung von Bild-räumen etablierte ein homogenes rationalerfassbares Modell der Welt (03). Das Bild

des Forschers, der am Ende eines opti-schen Instruments Wissen objektiviert,drückt das Subjektkonzept der humanisti-schen Epistemologie und ihre Hoffnungaus, einen Standpunkt außerhalb der zuerkennenden Welt zu beziehen. Die vondiesen Wahrnehmungskonventionen be-stimmten hierarchischen Blickordnungenwirkten bis in die Machterhaltungsstrate-gien moderner Gesellschaften. Mit derrasanten Entwicklung optischer Illusions-und bildlicher Reproduktionstechniken inder Konsum- und Unterhaltungskulturdes 19. und 20. Jahrhunderts wird das visu-elle Erleben herausgehoben und werdenRezipienten zu Zuschauern erzogen. DieZwänge des kapitalistischen Marktes ver-schärften den Nexus von Sehen und Be-gehren, indem der Sehsinn permanent alsSchaulust angesprochen und gereizt wird.Seit der Vermehrung von Reproduktions-und Wiedergabetechniken im Zeitalter der„neuen“ Medien findet eine Verselbständi-gung der Zeichen statt, die keineswegseinen höheren Abstraktionsgrad darstel-len, sondern eine Vernichtung von Diffe-renz. Solche Konzeptualisierungen desSehens, die der westlichen Epistemologiezugrunde liegen, sind von feministischerund kulturwissenschaftlicher Seite einerradikalen Kritik unterzogen worden.

Manche Kulturkritiker deuten die digitaleVermehrung von Bedeutungen als „Take

Over der Maschinen“ oder verdammen dievisuell dominierte Konsumgesellschaft,weil sie Individuen durch schillernde Wa-renspektakel manipuliert und zu passivenExistenzen macht. Im Zuge dieser Ent-mündigung durch die „simulacrum“-er-

zeugende Gesellschaft werden Individuenunfähig, Originale zu schaffen oder auchnur zu erkennen, und verlieren die An-bindung an die Realität. Für manche Be-obachter steht indes die Bereicherungdurch multimediale Möglichkeiten undihre partizipatorische und anti-elitäre Wir-kung im Vordergrund. Sie setzen auf eineneinträglichen Umgang der Menschen mitden neuen Medien, indem diese selektivund widerständig aufgenommen werdenund zur Bildung neuer transnationalerGemeinschaften und Solidaritäten führenkönnen. Vor allem die Möglichkeit zurinteraktiven Gestaltung fordert den krea-tiven Einsatz der Einbildungskraft heraus,nunmehr als eine einzigartige Fähigkeitder Distanz zum Gegenstand. Nachdemfrühere Arten der Bildherstellung zwi-schen den Menschen und der Lebensweltvermittelten, ermöglichen die Bilder imdigitalen Zeitalter ein freies Spiel derZeichen. In der Konsequenz sind wir hin-sichtlich unserer Wert- und Erlebniskate-gorien herausgefordert.

Mobilität ist eine Schlüsselerfahrung der Ge-genwart. In einer durch Migrationsprozes-se von Menschen, Waren und Informatio-nen gekennzeichneten Globalgesellschaftkommt der Dislokation und dem Aus-tausch von Bildern besondere Bedeutungzu. Einerseits scheinen sie den Charaktereiner allgemeinen Lesbarkeit zu besitzen

Zeichner des liegendenWeibes, Albrecht Dürer (1525),Graphische Sammlung Albertina,Wien, © 30012140 ullstein bild –Granger Collection

03

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und suggerieren damit kulturelle Univer-salien einer Weltgesellschaft unter denVorzeichen des Konsums und der Unter-haltung, wie sie sich in den Logos inter-nationaler Korporationen oder welt-bekannten Pop-Ikonen finden; andererseitskönnen Bilder kulturelle Konfrontationenmit einer unkalkulierbaren Dynamik ent-fesseln, wie die Fotos irakischer Folteropferoder dänische Karikaturen des ProphetenMohammed gezeigt haben. Visualisie-rungsprozesse unter dem Vorzeichen glo-baler Mobilität führen zu einer ständigenTransformation der Aussage und Wirkungvon Bildern.

In einer Kultur, die unablässig neue Informa-tionen mit rasender Geschwindigkeit gene-riert, aber das Vertrauen in diese fast mitgleicher Schnelligkeit unterminiert, kön-nen große Erklärungssysteme nur tempo-räre Gültigkeit und wechselnde Allianzenbeanspruchen. Permanent wechselndeRezipienten mit unterschiedlichem sozio-kulturellen Hintergrund verändern dabeinicht nur ihre Selbst- und Fremdwahrneh-mung, sondern auch die Identität ihrereigenen Kultur. Im Zeichen von Globali-sierung und globalisierten Bildwelten stelltsich die Frage nach Alterität neu, Alteritä-ten werden anders konstruiert. Als fremdeVisualisierungsphänomene treten unsnicht nur die Bilder fremder Kulturenentgegen, sondern auch die der eigenen,historisch fremd gewordenen. Hier wiedort sind sie eingebettet in andersartige,weitgehend unvertraute kulturelle Kon-texte, weisen spezifische Verfahren auf undfolgen eigenen Logiken der Zeichenhaftig-keit und der Sinneserfahrung. Solche Wan-derungs- und Austauschprozesse modifi-zieren Stereotypen, Schlüsselbilder, kultu-relle Ikonen und religiöse, politische undkulturelle Mythen.

Einerseits verstärken die Auswirkungen derGlobalisierung visueller Ereignisse dasProblem des Ungleichgewichts von Sicht-barkeit und Unsichtbarkeit in der Welt. ImZusammenwirken von globalen Medienund globaler Migration, zwei derzeit inter-national prägenden Phänomenen, ver-ändert sich das kulturelle Imaginäre auflokaler und globaler Ebene, die Kohärenzindividueller und kollektiver Identitäts-konstruktionen ist dadurch nach Ansichtpostkolonialer Kritiker bedroht. Doch die-se Destabilisierung von Identitäten schafftauch neue emanzipatorische Möglich-keiten, denn die Deterritorialisierung von

visuellen Events und ihren Betrachternfördert widerständiges, ironisches undkreatives Rezipieren. Sie erzeugt ein Re-zeptionsklima, das eigene Wirklichkeitenund Kommunikationszusammenhängezulässt. Dadurch kann eine Empathie-bildung über die Abgründe differenterWelten hinweg entstehen, die Ähnlichkei-ten in der Differenz erkennt oder erzeugtund dadurch Distanzen und Dissonanzenüberwindet. Solche Analogiefähigkeitgründet am effektivsten auf Formen derVisualisierung.

3. Poetik des Visuellen in Textund Bild

Die Text-Bild-Relation ist eine kulturelleLeitdifferenz, die sich im Zusammenhangmit den entscheidenden kulturellenStrukturwandeln verändert. Ihre Verän-derung, die den Status der beteiligten Grö-ßen an der Leitdifferenz neu bestimmt,schlägt sich in kulturellen Praktiken,künstlerischen Darstellungsweisen, in derRezeption und in theoretischen Diskursennieder. Das Verhältnis von Text und Bildist im Verlauf der abendländischen Ge-schichte immer wieder neu bestimmtwoden, jedoch nie ein neutrales, gleich-berechtigtes Verhältnis gewesen, wie dasBindewort „und“ zwischen ihnen sugge-riert, denn die Relation betrifft Ermächti-gungs- und Ursprungsfantasien (wer siehtund wer wird gesehen, wer spricht bzw.wird besprochen).

Die von Lessing gesetzten ontologischen Dis-tinktionen verstanden Bilder als das derSprache völlig Entgegengesetzte. Lessingplädierte zudem für eine Überlegenheitpoetischer über die bildnerischen Werke.Dagegen gründen „Visual Culture Stu-dies“ auf einer (zunächst in der Semiotikdurchgeführten) Enthierarchisierung derKonzepte von Text und Bild. Man gehtvon der Grundannahme einer notwen-digen Interdependenz von Verbalisierungs-und Visualisierungsvorgängen bei der For-mierung von Verstehen und Wissen aus.Bilder existieren aber nicht außerhalb derDiskurse, sondern immer in Kombinationmit Kodifizierungsarbeit und in den Er-zählungen, die von ihnen wiedergegebenwerden, so wie Texte nur über einen ima-ginativen Akt der Bildunterstützung be-deuten können. Zum einen reagieren Dar-stellungsweisen in Texten auf die Heraus-forderungen neuer Technologien und

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richten sich an eine immer auch kulturellkodierte Wahrnehmung, zum anderenreflektieren sie diese und versuchen mitVisualisierungsappellen, ein neues Sehender Dinge hervorzurufen.

Formen der Bildlichkeit stellen eine Schnitt-stelle dar, an der man die Generierung,Formierung, Verfügbarmachung und Tra-dierung von kulturellen Bedeutungenanalysieren kann: z.B. in sämtlichen For-men von Bild-Text-Bezügen und in inter-medialen Überschneidungsphänomen, wiez. B. Illustrationen oder filmischen Adap-tionen; in bildlichen Verfahren in unter-schiedlichen Medien und in der diskursi-ven und poetischen Verarbeitung von vi-sueller Erfahrung. Das Forschungsgebiet„Visual Culture“ beschäftigt sich auch mitdiesem Spannungsfeld von Textualität undVisualität. Dabei werden die gegenseitigeModellierung von textuellen und ikoni-schen Strukturen untersucht und Analyse-verfahren entwickelt, welche die Art ihrerInteraktion und den Bedeutungswandelbeim Medienwechsel (vom Wort zum Bildund umgekehrt) erfassen können.

Es zeigt sich somit, dass die Entfernung der„Visual Culture Studies“ zu den Literatur-wissenschaften nicht so groß ist, wie manvermuten könnte. Innerhalb der Literatur-wissenschaft heißt die Verortung von „Vi-sualität“ als Interessensgebiet nicht, dassTextanalysen fortan eine geringere Rollespielen werden. Im Gegenteil, der KomplexBildlichkeit und Sehen zielt auf eine diffe-renziertere Betrachtung literarischer Tex-te. Visualität in der Literatur kann als einBündel von Textstrategien begriffen wer-den, die Autoren und Autorinnen auseiner bestimmten Wahrnehmungskonstel-lation entwickeln und die Rezipientinnenzu einem Verstehenshorizont verhilft.

Durch die Dominanz von Bildern ist näm-lich keineswegs – wie einst prognostiziertwurde – das Medium Text reduziert oderin den Hintergrund getreten. Vielmehrtritt es in ständig neue Interaktionen mitvisuellen Erscheinungen. Die rapide Abfol-ge von Bildern in Videoclips oder TV-Wer-bung, das nicht-lineare, zufallsgesteuerteund selektive Leseverhalten im Internet,die Interaktion mit Bildschirmbild undBildschirmtext in Computerspielen undInternetforen, die Umsetzung literarischerTexte in visuelle Medien und performa-tives Lesen bringen neue Formen der Re-zeption hervor. Eine Literaturwissenschaft,die allein auf die Exegese oder Kontextua-lisierung abgeschlossener, konservierterund feststehender Texte gerichtet ist,scheint hier wenig relevant. Dass Visuali-sierbarkeit bzw. Anschaulichkeit einenText eingängig macht, ist bekannt, nochnicht hinreichend erforscht ist dagegen,wie diese Prozesse in der Leseerfahrungwirken. Wir versuchen der Frage nach-zugehen: „Wie machen literarische (undnicht-literarische) Texte sichtbar bzw. er-zeugen visuelle Vorstellung?“

Das Bewusstsein für eine ikonische Wendehat dazu geführt, dass nicht nur Kunst-und Medienwissenschaft, sondern auch dieLiteraturwissenschaft ihr Verhältnis zumBild neu überdacht hat. Was als Einbil-dungskraft oder Imagination schon langein literaturästhetischen Debatten mit-geführt wurde, wird im Zeichen der Inter-medialität mit neuer Sensibilität für Dar-stellungsmodi und Repräsentationsformendiskutiert. Man widmet sich mit erneuterAufmerksamkeit den vielen Bildern, die inliterarische Texte immer schon eingelassensind, z.B. als Metaphern, Beschreibungoder Ekphrasis, und den Überschneidun-gen in unterschiedlichen Darstellungs-

„Wie schon in den ‚Visual Culture Studies‘

setzt sich langsam auch im Bereichder Literaturwissenschaften das

Konzept der ästhetischen Erfahrungals Erklärungs- und

Bewertungsgrundlage durch.“

„Das Bewusstsein für eine ikonische Wende

hat dazu geführt, dass nicht nur Kunst- und Medien-

wissenschaft, sondern auch die Literaturwissenschaft

ihr Verhältnis zum Bild neu überdacht hat.“

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weisen einer Epoche, die dann unter demBlickwinkel der visuellen Kultur ihre Ge-meinsamkeiten offenbaren.

Wie schon in den „Visual Culture Studies“setzt sich langsam auch im Bereich derLiteraturwissenschaften das Konzept derästhetischen Erfahrung als Erklärungs-und Bewertungsgrundlage durch. Verstehtman Texte in diesem Sinne als kommuni-kative und performative Ereignisse, dieimmer an einen Adressaten gerichtet sind,dann eröffnet sich die Möglichkeit, ihrespeziellen Eigenarten oder „Strategien“ zuanalysieren, die im Vollzug der Lektüre dieLeseerfahrung bestimmen. Eine Literatur-wissenschaft, die sich primär auf Texte alsfertige Entitäten konzentriert, ignorierteine ganze Anzahl von Prozessen, die indie Erfahrung von Literatur eingebundensind: dass nämlich der Akt des Lesensselbst eine Verarbeitung von visuellen Zei-chen ist, dass im Verlauf der Lektüre Visu-alisierungen stattfinden und dass diese mitkonventionellen Voreinstellungen desSehens und vorhandenen Imagologienabgeglichen werden. Aus diesem dynami-schen Prozess resultieren neue Sichtwei-

sen, die ihrerseits Bildlichkeiten beeinflus-sen. Die Interaktion zwischen Lesern undTexten vermittelt zwischen Textpotentialund Leseerwartung.

Durch die Kognitionswissenschaften ist inden letzten Jahren deutlich geworden,dass sich (verstehendes) Lesen nicht invisuelle und kognitive Elemente auseinan-derdividieren lässt. Ein Sehen der Schriftist immer zugleich Entziffern, Entschlüs-seln und Hypothesenbildung. Es gibt kein„unschuldiges Auge“, das wie eine Kameraerst registriert, damit die Daten dann imGehirn weiterverarbeitet werden. VisuelleVorstellungen sind vielmehr immer schondas Ergebnis von Interpretationen, undTextverständnis ist keine passive Aufnah-me eines gegebenen Inhalts, sondern akti-ve Sinnkonstitution. Es handelt sich beiVisualisierungen um Interaktionsprozesse,in denen textuelle Elemente auf bestimm-te Lesestrategien stoßen, von denen siewiederum geformt werden. Eine mit-reißende Lektüre macht uns immer wiederdeutlich, wie sehr es auch Texte vermö-gen, uns Bilder vor Augen zu führen. •

Renate Brosch

Prof. Dr. Renate Brosch

leitet als Nachfolgerin von Hans-Ulrich Seeber seit dem SS 2007 die Abteilung Neuere Englische Literatur derUniversität Stuttgart. Sie hat u.a. zu Henry James, zur Kurzgeschichtentheorie, zu Text-Bild-Beziehungen undzu australischer Literatur veröffentlicht. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Visual Culture Studies, Narratologie,Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und Literaturadaptionen im Film.

KontaktUniversität Stuttgart, Institut für Literaturwissenschaft, AnglistikHeilbronner Straße 7, 70174 StuttgartTel. 0711/6858-3101, Fax 0711/6858-3094E-Mail: [email protected], Internet: http://www.uni-stuttgart.de/nel/

DIE AUTOR IN

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Offenbar ist Kriegshorror die zäheste Konstante der menschlichen

Geschichte; empirisch gesprochen haben wir dauernd Krieg. Das

bringt Probleme für die Verantwortlichen mit sich, die es schaffen

müssen, Krieg trotz der bekannten Folgen öffentlich akzeptabel zu

machen. In historischer Zeit hat man zu diesem Zweck u. a. auf die

ästhetische Attraktion von bunten Fahnen und galoppierenden Pfer-

den zurückgegriffen, sowohl auf den Kriegsschauplätzen wie in den

entsprechenden Historiengemälden, während in unserer eigenen

Zeit blitzender Düsenjäger-Stahl und Star-War-Mystik

auf den Fernsehschirmen herhalten müssen, um die

Blutspuren zu verwischen. Auch der sehr verlustreiche

Krimkrieg (1853 bis 1856) war paradoxerweise ein

schöner, visuell faszinierender Krieg, und an der

Schwelle der Moderne wurde sein ästhetischer Reiz

nicht mehr allein von den traditionellen Kunstgenres

gefeiert, sondern durch neue Bildmedien wie Fotografie,

Lithografie und Presseillustration in breite, bis dato an

visueller Kultur kaum beteiligte Bevölkerungsschichten

getragen.

Dieser obskure Krieg, der den GeschickenEuropas keine dramatische Wendung gab,wäre heute von geringem Interesse, wennes sich nicht um den ersten „modernen“Krieg der Geschichte handelte. Präzisions-gewehre, Dampfschiffe und Chloroformwurden militärisch zuerst auf der Krimeingesetzt; Generäle schickten ihre Befehlebereits telegrafisch in die Gräben, und Mu-nition gelangte per Eisenbahn an die Front.In der lange auf epische Schlachtschilde-rungen spezialisierten britischen Historio-grafie fanden diese modernen Züge nurverspätete und marginale Beachtung.

Noch rezenter ist das wissenschaftlicheInteresse an solchen Kriegsaspekten, dienichts mit militärischer „Hardware“, mitWaffen und Maschinen zu tun haben, son-dern mit ästhetischer „Software“, d.h. mitder Masse der optischen Signale und Bil-der, die dem Krimkrieg in den Augen derZeitgenossen einen visuell spektakulärenCharakter verliehen. Mit ihrer Fixierungauf schriftliche Quellen haben Historikerdie bildliche Hinterlassenschaft des Krim-kriegs ignoriert – sie schien nicht derprimären Schicht historischer Handlungenund Realitäten anzugehören, sondern

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Schlachtenbilder,Bilderschlachten

Technische Innovat ionen und d ie v isuel le Kul tur des Kr imkr iegs (1853–1856)

Vorabdruck der gekürzten Fassung desBeitrages „Schlachtenbilder, Bilder-schlachten. Zur visuellen Kultur desKrimkrieges“ von Ulrich Keller in:Georg Maag, Wolfram Pyta, MartinWindisch (Hrsg.), Der Krimkrieg alserster europäischer Medienkrieg,„Kultur und Technik“, Schriftenreihedes IZKT der Universität Stuttgart,Bd. 13, Münster u.a. (in Vorbereitung)

01

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nachträglicher Spiegelreflex und kosmeti-sche Verbrämung zu sein. Eine gründlicheSichtung dieser Bildquellen lässt jedochkeinen Zweifel, dass die Ästhetik funktionaleKriegskomponente und für das historischeEndresultat ebenso entscheidend war wieKanonenkugeln und Grabensysteme. Invieler Hinsicht bildet diese Ästhetisierungdes Kriegsgeschehens den modernstenAspekt der Krimkampagne.

1. Nachrichtentechnik undBeschleunigung

Ort der Produktion und Rezeption desästhetischen Scheins war vor allem dieHeimatfront. Die vom Kriegsschauplatzeintreffenden Rohnachrichten wurden inLondon und Paris unter großem Zeitdruckaufbereitet, um verschiedene soziale Ziel-gruppen in der Zivilbevölkerung mit ak-tuellen, attraktiven Bildern und Erzählun-gen zu versorgen, die sekundär auch wie-der an die Armee an der russischen Frontre-exportiert wurden. „Man stelle sich vor,wie der weißhaarige Nestor und der listigeOdysseus gegen Endes ihres ersten Belage-rungsjahrs vor Troja das erste Buch derIlias lesen und sich auf die Fortsetzungfreuen“, so kommentierte ein EdinburgherMagazin die präzedenzlose Gleichzeitigkeitvon militärischem Ablauf und geschicht-licher Aufzeichnung und machte damitauch auf die enge Verkoppelung vonKriegs- und Heimatfront als ein spezifischmodernes, von den mechanisch akzele-rierten Transport- und Nachrichtenpro-zessen hervorgebrachtes Phänomen auf-merksam.1 Dank der neuen technischenErrungenschaften blieben sich die Truppenin der Krim und die Bevölkerung in Eng-land viel näher, ja inniger verbunden, alsdies je zuvor bei einem fern der Heimatgeführten Feldzug der Fall gewesen war.Der Strom der offiziellen Depeschen, Pres-sereportagen und Privatbriefe, der sichständig von Sewastopol nach London wälz-te, wurde buchstäblich postwendend mitSendungen aller Art in umgekehrter Rich-tung beantwortet – auf englischer Seitegeriet insbesondere die Versorgung der imWinter notleidenden Expeditionstruppenmit emotional besetzten Geschenkpaketenzum Nationalsport. Von Presseberichtentief gerührte Dienstmädchen nähten Spar-pfennige in Socken für die Front, Bürger-tum und Adel verwöhnten ihre Angehö-rigen im Offizierskorps mit Plumpudding

und Patentmatratzen, undselbst die Queen stickteArmschlingen für verwun-dete Krimheroen.

2. Die Erfindung derBildreportage

Der Krimkrieg wurde vorallem für die Ausbildungvon sachlicher Reportagein der Tagespresse und vonebenso faktenorientiertenBildberichten in den da-mals gerade aufkommen-den illustrierten Wochen-zeitungen bedeutsam. ImGegensatz zur Reportagewar die traditionelle Histo-rienmalerei kommemora-tiv gewesen, d. h. sie hink-te den Ereignissen hinter-her. Leonardos berühmteAnghiarischlacht etwazeigte ein vor LeonardosGeburt datiertes, also nurnoch erinnerbares, abernicht mehr beeinflussbaresGeschehen. Dagegen wur-de der Krimkrieg nicht erstnachträglich von berühm-ten Künstlern imaginiert,sondern in seinem Verlaufvon zahlreichen Presse-beobachtern für die Öf-fentlichkeit nahezu simultanaufgezeichnet und publi-ziert. Die (Bild-) Reporterwaren eine Erfindung des Krimkriegs. Siewurden mit ihrem Berufsethos der objek-tiven, unverfälschten Wiedergabe der Er-eignisse vor allem in England – das andersals Frankreich keine Zensur kannte und ineinem hundertjährigen Diskurs gericht-lich einklagbare Standards von Tatsachestatt Fiktion und Beweis statt Verleum-dung entwickelt hatte – zu einer auto-nomen, von Regierung und Generalitätunabhängigen und potentiell kritischenInstanz. Der Sturz der britischen Regie-rung im Kriegswinter von 1854/55 wardirektes Resultat einer gezielten Presse-kampagne, zu deren bildlichen Höhe-punkten mehrere von der IllustratedLondon News publizierte, als Anklage derMissstände an der Front gemeinte Skizzenfrierender Truppen in den Gräben undeines beinamputierten Invaliden in einem

Chloroform, telegraphy, steamships and rifles were distinctly modern features of the CrimeanWar. Covered by a large corps of reporters, illustra-tors and cameramen, it also became the first mediawar in history. The social and technological frame-works of mid-Victorian Britain turned the staging,writing and picturing of history, i. e. history itself,into a novel enterprise; in 1854/55, before Sebasto-pol, history took a form which it had never possessedbefore, as is manifested especially in the war’svisual and media dimension. In the Crimea thepresence of camera men, Special Artists and re-porters – all of them professionals operating in-dependent of government and military leadership –meant that to a much greater degree than previouslypossible or necessary the war events had to bemasked by their organizers to create advantageouspublic perceptions and to adapt them to the habits of popular consumption.Der Krimkrieg war der erste Krieg, bei dem nichtnur moderne Mittel wie Chloroform, Telegrafieoder Dampfschiffe eingesetzt wurden, sondern erwar vor allem der erste Medien-Krieg in der Ge-schichte. Die fast zeitgleiche Begleitung der Ereig-nisse durch Illustratoren, Reporter und Fotografenhaben die Beschreibung und Visualisierung deshistorischen Geschehens und damit die Geschichteselber vor eine neue Herausforderung gestellt. Dieumfassende Berichterstattung und Dokumentationerforderte von den Protagonisten eine Präsentationund Maskierung der Kriegsgeschehnisse, um dieöffentliche Wahrnehmung entsprechend zu beein-flussen und die allgemeinen Erwartungshaltungen zubedienen.

ABSTRACT

1 Blackwood’s EdinburgherMagazine, Vol. 77, Jan.–Juni 1855, 531.

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Militärhospital gehörten (01). Solche Re-portagebilder sind nicht passive Spiegel-reflexe vorgegebener, unabhängig ablau-fender Ereignisse, sondern haben denhistorischen Prozess aktiv mitgestaltet.

Als wirksame Anklage der Regierung mach-ten sie auch eine effektive Antwort auf

derselben bildlichen Ebene und anderselben zunehmend wichtigen

heimatlichen Pressefront nötig.Queen Victoria z. B. initiierte

zeremonielle Visiten in Mili-tärhospitälern, die durch Ge-mälde und Zeitungsillustra-tionen im ganzen Landpublik wurden (02). Die vonder liberalen Presse als sinn-los und vermeidbar dar-

gestellte Dezimierung der bri-tischen Armee vor Sewastopol

wurde durch solche königlicheInterventionen in eine patrioti-

sche Perspektive reintegriert. DerNation wurde suggeriert, dass die Sol-

daten für Thron und Altar geblutet hat-ten – das half die zeitweise bedrohlicheund sogar umsturzträchtige Krise derzivilen und militärischen Führung zu ent-

schärfen.Doch dieSituation

blieb komplex. Das zeigt eine Karikatur inPunch, die das Muster von Victorias Laza-rettvisiten ironisch invertiert, indem siedie Invaliden mit „Imbeciles“, d. h. mitSymbolfiguren des schwachsinnigen briti-schen Ambulanz-, Nachschubs- und Ver-waltungssystems ersetzt (03). Die liberalePresse akzeptiert Victoria hier als Garant

von Vernunft und Menschlichkeit, abernur, um den Irrsinn der militärischen undstaatlichen Strukturen bloßzustellen.Polyphon und pluralistisch konkurrieren-der Bildeinsatz dieser Art, der verschiede-nen gesellschaftlichen Gruppen gestattete,ihre politischen Standpunkte ästhetisch inregelrechten Bilderschlachten zu propa-gieren, war ein historisches Novum, dennin früheren Jahrhunderten hatten dieMachthaber ein weit gehendes Monopolauf die Produktion von Bildpublizitätgehabt, die vor dem Aufstieg der populä-ren Presse vorwiegend die Form großfor-matiger Historiengemälde für die Palästeangenommen hatte.

3. Die Rolle der Fotografie

Neben der zeichnerischen Presseillustrationwar die Fotografie das sensationellste neueBildmedium des Krimkriegs. Sie konntebeanspruchen, die Ereignisse wahrheits-getreuer als Stift und Pinsel festzuhalten,erwies sich letztlich aber ebenso unbe-grenzt manipulierbar; den schönen Scheindes Krimkriegs hat die Kamera eher ver-stärkt als unterminiert, und ganz im

Gegensatz zu der ver-breiteten

Annahme vom prinzipiell demokratischenund egalitären Charakter der Fotografiebewies die Kamera im Krimkrieg eine er-staunliche Affinität zu königs- und regie-rungstreuer Berichterstattung. Roger Fen-ton, dem Leibfotografen Queen Victorias,der im März 1855 mit seinem Dunkelkam-merwagen und königlichen Empfehlungs-

01

„Scene in the Military Hospital, at Haslar“, Holzstich (IllustratedLondon News, 3.2.1855)

02 03

„Her Majesty at BromptonHospital“, Holzstich (Pen andPencil, 10.3.1855)

„The Queen Visiting the Imbecilesof the Crimea“, Holzstich (Punch,14.4.1855)

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schreiben auf der Krim erschien, wird dieerste fotografische Kriegsreportage derGeschichte zugeschrieben, doch verfolgteer zwei höchst traditionelle Ziele außer-halb des Pressekontexts. Erstens gab er inEinzelbildern und Panorama-Serien einenumfassenden topografischen Überblicküber den Kriegsschauplatz. Zweitenserstellte er eine Porträtgalerie des briti-schen Generalstabs und anderer sozialdistinguierter Offiziere vor Sewastopol.Gutes Beispiel für letzteres Genre ist Cap-tain Burnaby, der in malerischer Garde-uniform vor dem Hintergund von Reit-pferden, nubischem Diener und gewehr-präsentierender Ordonnanz beredtesZeugnis vom Selbstverständnis undLebensstil der britischen Armeeführungvor Sewastopol ablegt (04).

Da Fentons archaische Negative noch zehnSekunden Belichtung erforderten, kamenungestellte Schnappschüsse militärischerAktionen von vornherein nicht in Frage,und da es die Autotypie noch nicht gab,konnten seine Fotos auch noch nicht inZeitungen abgedruckt werden, sondernblieben als extrem teuere Originalabzügeder sozialen Elite vorbehalten.

Selbst im topografischen Genre waren Fen-tons Möglichkeiten dadurch starkbeschnitten, dass er sich gegen eine derbereits verfügbaren tragbaren Fotoaus-rüstungen entschieden hatte, zugunsteneines schwerfälligen Dunkelkammer-Wagens, der im Morast des Kriegsschau-platzes nur von sechs Artilleriepferdenfortbewegt werden konnte. Dies erklärt,warum Fenton im Nachschubhafen vonBalaklava in der Enge von Docks und Häu-serblocks gefangen blieb (05) und bei sei-nem wochenlangen Treck zum Lager vorSewastopol von der ausgetretenen Heer-straße kaum abwich. Seine KonkurrentenFelice Beato und James Robertson warenvergleichsweise viel mobiler; mit ihremtragbaren Gerät fiel es ihnen z. B. nichtschwer, das britische Lazarett auf den Hö-hen über Balaklava abzulichten (06). Fen-ton näherte sich einmal dem hinterstenGrabenkreis auf 600 Meter, bis an denRand der Reichweite der russischen Artil-lerie. Daraus resultierte ein scheinbarhoch aktuelles Foto, das unter dem bib-lisch-mythologisierenden Titel „Tal desTodesschattens“ Berühmtheit erlangte.Nur hat man übersehen, dass das Foto inzwei sich widersprechenden Versionenexistiert (07, 08), denn während die

Geschosse zunächst friedlich im Grabenliegen, sieht man sie später so über dieStraße verstreut, als habe ein Artillerie-hagel den Fotografen soeben in große Ge-fahr gebracht. Fenton hat hier dramatisie-rend Regie geführt; gerade sein bekann-

04

05

06

Roger Fenton,„Capt. Burnaby,GrenadierGuards &Nubian Servant“,Fotografie, 1855(George EastmanHouse, Roch-ester, N.Y.)

Roger Fenton,„Der Hafen vonBalaklava“,Fotografie, 1855(GernsheimCollection,Harry RansomHumanitiesResearch Center,University ofTexas, Austin)

James Robertsonund Felice Beato,„Balaclava withthe HospitalHuts“, Foto-grafie, 1855/56(Windsor Castle,Foto ImperialWar Museum,London)

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testes Krimfoto, das den tief beeindruck-ten Zeitgenossen die ebenso bedrohlichewie spannende Kriegwirklichkeit wie keinhandgemachtes Bild nahebrachte, erweistsich im Kern manipuliert.

Der kaum weniger bewunderte „Kriegsrat“(09) scheint dagegen über Zweifel erha-ben zu sein. „Kriegsrat der drei alliierten

Befehlshaber am Morgen derEroberung der Mamelon-Festung“, lautet der Titelklar genug, doch bei genaue-rer Prüfung verflüchtigt sichdie historische Gewissheit.Zwar gab es eine Sitzung zurVorbereitung des Sturms aufdas russische Vorwerk, dochfand sie drei Tage zuvor stattund war von 17 Ingenieurenund Artillerieoffizierenbesucht. Dass sich die dreiOberkommandeure trotz-dem ein exklusives Stelldich-ein gaben, wird von FentonsAufnahme zwar bewiesen,aber seineKorrespon-denz belegt,dass dies 24Stunden vordem Angriffgeschah. Die Generälehaben sich andiesem Mor-gen dem Fo-tografen aufeinige Minu-ten für me-diale Zweckezur Verfü-gung gestelltund führen

unter seiner Regie willigdas Schauspiel „Kriegsrat“vor, um möglichst bald zu ihren eigentlichen Ge-schäften zurückzukehren.Das militärische Führenund ästhetische Symbolisieren von Kriegsind zwei verschiedene Dinge geworden –u. a. weil die zunehmend komplizierteKriegtechnik sich gemeinverständlicherAbbildung entzog.

Der naive zeitgenössische Glaube an die un-trügliche Tatsächlichkeit des Kamerabildesist damit allerdings widerlegt. Fotografischgarantierte „Authentizität“ war nur die

besondere Form, die das uralte Projekt der mythologischen Aufbereitung vonGeschichte im bürgerlichen Zeitalter an-nahm.

4. Das Ende der Historienmalerei

Die Frage liegt nahe, wie die traditionelleHistorienmalerei auf die modernen Bild-medien reagiert hat. Dazu ein bezeichnen-des Beispiel: Im Juni 1856, nach hastigerArbeit, um termingerecht zum Kriegsendefertig zu sein, stellte das angesehene briti-sche Akademiemitglied Augustus Egg einGemälde aus, das leicht als künstlerischredigierte und veredelte Version von Fen-tons Kriegsrat-Foto erkennbar ist (10). In der unverblümten Anleihe und der fürein qualitätvolles Ölbild ungewöhnlichenRapidität der Herstellung wird deutlich,dass die Historienmalerei sich unter demDruck der neuen technischen Mediengezwungen sah, nicht nur deren als au-thentisch verbürgte Bildmotive zu entlei-hen, sondern auch deren beschleunigten,

von den Tagesereignissen diktierten Pro-duktionsrhythmus zu übernehmen. Esverwundert nicht, dass diese Ausbeutungder Aktualität des Bildgegenstands und dasresultierende Wettrennen mit der Zeitnicht auf die Initiative des Künstlers, son-dern eines Unternehmers zurückging; Eggarbeitete nämlich im Auftrag des Kunst-händlers Henry Graves, der vor allem am

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08

Roger Fenton, „The Valley of the Shadow of Death“,Fotografie, 1855 (Gernsheim Collection, Harry RansomHumanities Research Center, University of Texas, Austin)

Roger Fenton, „The Valley of the Shadow of Death“,Fotografie, 1855 (Gernsheim Collection, Harry RansomHumanities Research Center, University of Texas, Austin)

Roger Fenton, „The Council of War,Held on the Morning of the Taking ofthe Mamelon“, Fotografie, 6.6.1855(Gernsheim Collection, Harry RansomHumanities Research Center, Univer-sity of Texas, Austin)

„Field Marshal Lord Raglan, OmarPasha and General Pélissier in Con-ference at 5 a. m. on the Morning ofJune 7th 1855, during the Period whenan Attempt was Made to Take theMamelon“, Stich von S. Bellin nacheinem Gemälde von Augustus Egg,1857 (National Army Museum,London)

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lukrativen Vertrieb der hier abgebildetenStichkopie nach dem Originalgemäldeinteressiert war. Solche grafischen Massen-reproduktionen waren um die Mitte des19. Jahrhunderts derart gewinnbringend,dass das Copyright eines populären Bildesoft den zehn- bis zwanzigfachen Wert desOriginalgemäldes besass. Eggs gemalterKriegsrat, von einer weit verbreitetenFotografie abgeleitet und durch einen weitverbreiteten Stich reproduziert, war alsonur eine Art Durchgangsstation von undzu zeitgemässeren Medien. In einer Perio-de verfallender Historienmalerei war esnur deshalb noch gemalt worden, weil eskommerziell vorteilhaft war, Stiche mitdem Vermerk „kopiert nach dem berühm-ten Werk des Akademiemitglieds XY“ aufden Markt zu bringen.

In Frankreich befand sich die Militärmalereiin einer anderen Situation, da sie nicht wiein England auf Unternehmer- und Adels-patronage angewiesen war. Vielmehr be-handelte der Staat hier die Malerei als einewie die Justiz komplett beherrschbare undverfügbare professionelle Apparatur, diefür wechselnde Regierungszwecke flexibeleingesetzt werden konnte. Die Kontrollewurde gesichert über ein staatlich organi-siertes Ausbildungs-, Ausstellungs- undAnkaufssystem, das letztlich auf die rigo-rose mimetische Programmierung derBildproduktion zwecks reibungslosemTransport gewünschter Bildbotschaftenabzielte. Der auf maximale Abbildungs-präzision angelegte Ausbildungsdrill, diespektakuläre offizielle Auszeichnung vonKünstlern und Werken und vor allemauch die von der Professionalisierung derGeschichtsschreibung und Pressereportagegeförderte Verwissenschaftlichung derHistorienmalerei durch Archivrecherchen,Ortsbesichtigungen und ähnlichen Strate-gien der Authentizitätssteigerung brach-ten den resultierenden Werken einenZuwachs an Glaubwürdigkeit, der auchden staatsmythologischen Inhalten zugutekam. Dies führte zu einer letztlich parado-xen Situation: Die Historienmalerei liefertemit ihrer mimetischen Akkuratesse sozu-sagen gemalte Fotografien von Ereignis-sen, die trotzdem nie etwas anderes alsregierungsamtliche Konstrukte und Fik-tionen sein konnten.

Paradefall für solchen Kunstbetrieb istAdolphe Yvons „Einnahme des Malakoff-Turms“, der russischen Schlüsselstellung,mit deren Fall das Schicksal Sewastopols

besiegelt war. Yvon erhielt den Auftrag fürdie riesige, 54 Quadratmeter messende, fürdas „Musée National“ im Palast von Ver-sailles bestimmte Leinwand vom Kaiserselbst (11). Das Honorar betrug fürstliche20.000 Francs, und für eine zum Authen-tizitätsbeweis unternommene Reise in dieKrim stellte der Marineminister dem Ma-ler eine Fregatte mit 300Mann Besatzung zurVerfügung. Der heutigeSchlachtenmaler, so er-klärte ein Kritiker bei An-lass des Salon-Debuts vonYvons Leinwand, kann esnicht mehr wie ehedemmit ein paar malerischenFloskeln bewenden lassen,sondern muss „sich strengan die Armee-Bulletinshalten, die Berichte derOffiziere studieren, die La-ge des Terrains erkunden,die Stellung der verschiedenen Divisionenanzeigen – kurz, er muss sich als Kennerder Strategie erweisen und die rigoroseExaktheit bis zur Wiedergabe lebens-getreuer Porträts von den Hauptakteurentreiben.“2 Indem Yvon sich diesem Objek-tivitätszwang unterwarf, wurde es u. a.nötig, das noch in England perpetuiertehierarchische Gefälle zwischen Generälenund Gefreiten abzubauen; deren Größeauf der Leinwand bemaß sich nun nachperspektivischen Regeln, nicht sozialerEminenz. Heraus kam dabei ein paratak-tisch organisiertes Gemälde, das auf dieMittel pyramidaler Subordination unddominanter Handlungshöhepunkte ver-zichtet und in offenkundiger Konkurrenzzu Panorama-Rundbildern eine große Epi-soden- und Figurendichte von Rand zuRand aufbietet. Eine Komposition dieserArt verstand sich als Äquivalent von Ge-neralstabsdepeschen und Pressereportagenund wollte sukzessiv an Hand des aus ebendiesen Quellen gespeisten Kommentars imAusstellungskatalog gelesen sein. YvonsAkademie-„Schinken“ kann denn auchironischerweise größeren dokumenta-rischen Wert beanspruchen als die Bild-reportagen, die kurz nach dem Fall desMalakoff in L’Illustration erschienenwaren – denn diese Zeichnungen hatteDurand-Brager aufgrund seiner Orts-kenntnis, doch ansonsten nur seinerPhantasie folgend, am heimischen Herd inParis angefertigt.

11

Adolphe Yvon, „Prise de la tour deMalakoff par le général MacMahon,8 settembre 1855“, Öl auf Leinwand,1857 (Musée national du chateau deVersailles)

2 A. J. du Pays inL’Illustration, 4.7.1857, 6

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Insgesamt ist deutlich, dass die Historien-malerei mit dem Überangebot von quasiwissenschaftlich garantierten Bildinforma-tionen an ihre Grenzen stieß: Ihre gesell-schaftliche Nützlichkeit hatte jahrhun-dertelang in ihrer Funktion als Mythos-

Maschine gelegen, aber mit der Rücknah-me mythisierender Gestaltungsmittel ent-leerte sich das Genre, und plakative Staats-projekte im Stil von Yvons Malakoff-Einnahme verschwanden gegen Ende des19. Jahrhunderts aus dem Salonrepertoire.

5. Die Shows von London undParis

Wir beschließen unseren Medienüberblickmit einer Kategorie theatralischer Schau-darbietungen, die weit unterhalb des aka-demischen Hochkunst-Niveaus angesie-delt waren, aber in ihrem spektakulärenErscheinungsbild alles überschatteten, waszweidimensionale Kriegsschilderungen aufLeinwand und Papier zu bieten hatten.Historisch ging dieses Showbusiness aufdas späte 18. Jahrhundert zurück, als derAufstieg des Bürgertums zu einer so mas-siven Ausweitung des Kunstkonsumsführte, dass traditionelle Methoden derBildproduktion versagten. Kommerzielltüchtige Maler hörten auf, kleine Kabi-nettbilder für Einzelkunden zu malen undverlegten sich auf die Herstellung grandio-ser Riesenleinwände wie Panoramen undDioramen, die im Vordergrund ins Drei-dimensionale übergingen, durch Live-Darbietungen von Schauspielertruppenergänzt wurden und gegen Eintritt stun-denweise zu sehen waren, also etwa wieKinos funktionierten. Das Londoner undPariser Großstadtpublikum begeisterte sichfür Spektakel dieser Art, und so kam es,dass der Krimkrieg zuhause nicht nur auf weißen Papierflächen gelesen und betrachtet, sondern in multimedialen Mu-seums- und Theaterräumen auch an-gefasst, illusionär erfahren und nacherlebtwerden konnte.

Die glorioseste Krimkriegsunterhaltungbestand in den Scheinschlachten, dienächtlich um lebensgroße Attrappen derBastionen von Sewastopol in Vergnü-gungsparks wie Surrey Zoological Gar-dens, Cremorne Garden und Astley'sAmphitheater ausgefochten wurden. VieleMonate bevor er wirklich eintrat, wurdeder Fall von Sewastopol hier als perma-nentes Spektakel vorweggenommen.Etwaige Unterscheidungen zwischen demtatsächlichen und dem repräsentiertenKriegstheater wurden u. a. dadurch ver-wischt, dass Kriminvaliden für ein Trink-geld bereit waren, sich allabendlich imZoo von Surrey selbst darzustellen. Derinsgesamt höchst lebensnahe Effekt sol-cher Vorführungen wurde oft noch durchspezielle pyrotechnische Künste gesteigert.(12) zeigt das Pressebild einer Nachtvor-stellung in Cremorne Gardens, die deratemlosen Menge das Erlebnis eines rake-tenverbrämten Sturmangriffs auf Sewasto-

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12

13

„Grand Military Fete at CremorneGardens in Aid of the Funds of theWellington College“, Holzstich(Picture Times, 18.8.1855)

„Nouveau théâtre de l’Hippodrôme –Representation du Siége de Silistrie“,Holzstich (L’Illustration, 16.9.1854)

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pol vermittelte. Sogar die Oper liess sichvon der allgemeinen Krimbegeisterunganstecken, denn als man in London Doni-zettis „Figlia del Regimento“ aufführte,musste die Hauptdarstellerin in einemwaschechten, von Fentons Foto-Doku-mentation angeregten Krimkostüm aufder Bühne erscheinen.

In Paris spielte kapitalistisches Showbusinesseine geringere Rolle, doch nahm Kriegs-theater hier gelegentlich noch kolossalereDimensionen an. Die Belagerung von Si-listria in der einleitenden Donau-Phase desFeldzugs wurde z. B. auf dem Marsfeldeinmal mithilfe einer eineinhalb Kilome-ter breiten Kulisse und ganzer Bataillonevon Kombattanten inszeniert, die sichnach einem zeitgenössischen Pressekom-mentar „gewissenhaft bis zum bitterenEnde massakrierten.“ Man weiß auch, dassim Pariser Hippodrom Kavallerieschlach-ten im Ballettschritt aufgeführt wurden(13).

Bezeichnend ist bei alledem, dass auch diepermanenten, kommerziell ästhetisiertenRepetitionen des Kriegs in den urbanenSchaustätten unter dem Druck standen,sich als „authentisch“ auszuweisen. NebenFentons Einfluss auf die Opernbühne be-legt das ein Reklameblatt für das kolossaleBelagerungsmodell in Surrey Gardens, wozu lesen stand, dass es von dem MalerDanson nach Karten, Zeichnungen undmündlichen Informationen mit quasiwissenschaftlicher Zuverlässigkeit erstelltworden sei. Trotz krasser Sensationalisie-rung unterwarf sich also auch das Show-business zumindest dem Gestus nach demzeitgenössischen Imperativ faktischer Ob-jektivität. In dieser angeblichen Authen-tizität des skrupellos sensationalistischenVolksspektakels lag ein typisch viktoriani-scher Widerspruch.

Genetisch und strukturell hybrid, kanntedas Showbusiness auf beiden Seiten desKanals keine Hemmung, alle vorhandenenVehikel visueller Exhibition und kulturel-ler Konsumtion zur Steigerung des Unter-haltungseffekts systematisch auszubeuten.Reminiszenzen aus der Porträt- und His-torienmalerei, Anleihen bei Geografie undBallistik sowie Rahmenstrukturen aus dermusealen oder universitären Sphäre, wiez. B. belehrende Begleitvorträge, wurdenhier kannibalistisch verarbeitet. Das End-resultat war von epochaler Bedeutung,denn stand bis ins 19. Jahrhundert fest,dass das historische Ereignis Vorgang und

Vorrang hatte vor seiner Abbildung, sowaren nun gewaltige Darstellungsappara-turen und -kapazitäten vorgegeben, die dieGeschichte zum Wurmfortsatz und Epi-phänomen großstädtischen Spektakelsmachten. Die Druckerpressen und dieAmphitheater – allgemeiner: die Vehikelkultureller Produktion und Konsumtion –liefen immer schon auf Hochtouren undverlangten nach Speisung, ehe die histori-schen Ereignisse eintraten, und sobald sieeintraten, taten sie es in vorgefertigtenKostümen auf den vorhandenen Schau-bühnen. Anders gesagt: der Krieg, der tat-sächlich geführt wurde, war zum ständi-

„Siege Operations at Chatham –Springing a Mine“, Holzstich(Illustrated London News, 22.7.1854)

„Sebastopol from the Rear of theGreat Redan“, handkolorierte Litho-grafie aus der Serie „The Officers’Portfolio of Striking Reminiscences ofthe War …“, publiziert um 1856 vonDickinson Brothers (National ArmyMuseum, London)

14

15

gen ästhetischen Wettstreit mit dem an-deren gezwungen, der längst über die Lon-doner und Pariser Bühnen ging.

Aber die Wirklichkeit des Krieges wurdenicht nur unauffindbar in den tausend-fachen Adaptionen, Repetitionen und

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Nachbereitungen durch Presse, Kunst undShowbusiness; sie verlor ihre Einmaligkeitauch deshalb, weil sie in zahllosen Pla-nungs-, Test- und Trainingsveranstaltun-gen bis in kleine Details vorprogrammiertworden war. Dafür ein Beispiel. Kurz vorBeginn des Krimfeldzugs wurde in Chat-ham bei London zu Versuchs- und De-monstrationszwecken eine Mine gezündet(14), die scheinbar dieselbe Menge vonNeugierigen anzog und ebenso begeistertapplaudiert wurde, wie so mancher Bom-beneinschlag im belagerten Sewastopolwenige Monate später (15). Offensichtlich

war der Krieg zur Domäne derer gewor-den, die über die Mittel zur Erprobungund Wiederholung erwünschter Szenarienverfügten. Baudrillard demonstrierte anBeispielen der jüngsten Vergangenheit,dass heute „das Wirkliche aus Miniatur-einheiten, Matrizen, Datenbanken undGeneralstabsmodellen hergestellt wird –und dass das Wirkliche wie diese unendlichoft reproduziert werden kann.“3

Anders gesagt, Authentizität ist im avancier-ten Medienzeitalter unmöglich geworden.Die Prähistorie dieses postmodernen Be-funds begann im Krimkrieg. • Ulrich Keller

Ulrich Keller

Since receiving a Ph.D. in art history from the University of Munich, Germany, in 1969, Ulrich Keller hasheld research positions at several German and American institutions. In 1982 he joined the Department of theHistory of Art and Architecture at the University of California, Santa Barbara. Ulrich Keller's research inte-rests have ranged from Baroque art to contemporary photography. He is most interested in the relationships ima-ges have with history and ideology. His numerous awards include a Guggenheim and a Senior Mellon Fellowship.His publications include books on Equestrian monuments, August Sander, the Crimean War, and the WarsawGhetto, and articles on Rembrandt, Felix Nadar, Art Photography around 1900 and Walker Evans.

Kontakt:University of CaliforniaSanta Barbara, California 93106-7080Tel. (805) 9679379E-Mail: [email protected]

DER AUTOR

3 Jean Baudrillard, „ThePrecession of Simulacra“,in: Art After Modernism:Rethinking Representa-tion, hrsg. von B. Wallisund M. Tucker, New York1984, 254

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Kultur und Technik in Engführung

Visuel le Analogien und Mustererkennungam Beisp ie l der Balmer formel

In den allermeisten biographi-

schen Portraits Balmers sowie

in der Standardliteratur zur

Geschichte der Quantentheorie

und in den Lehrbüchern der

Physik wurde und wird die nach

Johann Jakob Balmer (1825–

1898) benannte Formel für die

Wellenlängen der Serienlinien

des Wasserstoffspektrums bis

heute als glücklicher Erfolg

einer algebraisch-pythagorä-

ischen Suchstrategie gewertet,

wie sie auch den (erfolglos ge-

bliebenen) Versuchen einer Auf-

findung von Obertonverhältnis-

sen im Spektrum durch diverse

Physiker zugrunde gelegen

hatte. Der vom Unterricht im

Basler Mädchengymnasium

etwas gelangweilte Mathematik- und Physiklehrer Balmer, so die Le-

gende, habe eben nichts besseres zu tun gehabt, als alle möglichen

Fitformeln für die Abhängigkeit der Wellenlänge λ von ganzzahligen

Laufparametern n und m durchzuprobieren, bis er – angeblich ganz

zufällig – auf die „richtige“ Formel gestoßen sei. Demgegenüber wird

im folgenden gezeigt, dass Balmers Heuristik de facto sehr viel

stärker von gewagten visuellen Analogien bestimmt war, die von sei-

ner idiosynkratischen Art des Gestaltsehens von Mustern als

perspektivischen Verkürzungen geprägt war.

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1. Balmers Hintergrund

Diese spezifische Visualität kam nicht vonungefähr, sondern wurden durch familiärePrägung und eine für Physiker ungewöhn-liche polytechnische Ausbildung stimu-liert. Um Balmer zu verstehen – und dasgilt übrigens auch ganz allgemein für einehistoriographisch stimmige Annäherungan Figuren der Vergangenheit, müssen wiruns unserem Akteur ganzheitlich nähern,ohne zu frühe Abschneidung von ver-meintlich privatem oder nebensäch-lichem. Der 1825 in Lausen (Baselland) als ältester Sohn eines Richters geboreneJohann Jakob Balmer hatte seit früherKindheit Zeichenunterricht von seinertalentierten Mutter erhalten und bliebzeitlebens ein begeisterter Zeichner. Er besuchte die Bezirksschule Liestal unddas Pädagogikums in Basel, wo er ins-besondere durch den MathematiklehrerJoseph Eckert geprägt wurde und seineMatura mit Auszeichnung bestand. 1844/45nahm er ein Studium der Architektur undMathematik am Karlsruher Polytechni-kum auf, das er dann an der Berliner Bau-akademie weiterführte, nicht etwa an derFriedrich-Wilhelm-Universität, wie viel-fach fälschlich angenommen wurde. Inseinem Nachlaß, der in der Basler Univer-sitätsbibliothek liegt, finden sich u.a. Col-legienhefte aus seiner Studienzeit, darun-ter die Mitschrift einer Vorlesung über den„Bildungsgang eines Architekten“, über„bürgerliche Baukunst“ und fein aus-geführte Bleistiftzeichnungen grundlegen-der architektonischer Bauelemente.1

Leider sind die Matrikel der Bauakademieals einer der beiden Vorläuferinstitutionender heutigen Technischen UniversitätBerlin erst ab 1868 (und nur lückenhaft)erhalten, aber aus zeitgenössischen curri-cula lassen sich die Lehrinhalte, mit denender junge Balmer vertraut gemachtwurde, recht gut rekonstruieren: Neben Physik (insb. Statik fester Körper,Hydro- und Aerodynamik), Chemie,Mineralogie, Analysis, Geometrie undTrigonometrie, die von Professoren desGewerbeinstituts gelehrt wurden, erhiel-ten die angehenden Baumeister und Bau-Inspektoren Unterweisungen in Bau-konstruktionslehre und Architekturzeich-nen, geometrischer Schattenkonstruktionund Perspektive, Landschaftszeichnen,Ornamentzeichnen und in Architektur-geschichte.

Ende 1848 reichte Balmereine Dissertation über Cy-cloide an der UniversitätBasel ein, mit der er am 3. Oktober 1849 (ohnemündliche Prüfung) promoviert wurde. 1859reichte er ebenda eine Ha-bilitationsschrift über dieRekonstruktion eines an-tiken Tempels anhandbiblischer Quellen ein. AlsPrivatdozent bot er dannbis 1890 gelegentlich Lehr-veranstaltungen über des-kriptive Geometrie, archi-tekturhistorische, kristal-lographische oder mathe-matische Themen an der Basler Universität an.Laut Personalkarte fürDozenten der UniversitätBasel erfolgte seine Habi-litation im Sommer 1859mit Lehrfach: Darstellen-de Geometrie. 1890 schieder aus gesundheitlichenGründen aus dem Lehr-körper der Universitätaus. Seinen Lebensunter-halt verdiente Balmer je-doch als Lehrer an einemBasler Mädchengymna-sium. Wie Schulprogram-me der TöchterschuleBuergin zeigen, unter-richtete er Schönschrei-ben, perspektivischesZeichnen, Geometrie undArithmetik.

Architektur beschäftigte ihn auch nach sei-nem Studium weiterhin: z. B. legte er 1876einen Entwurf für eine obere RheinbrückeBasels vor, die an dieser Stelle wegen desstarken Höhenunterschiedes beider Uferbislang nicht gebaut worden war, dannaber tatsächlich bald errichtet wurde undnach mehreren Umbauten heuteWettstein-Brücke heißt (01).

Einige Jahre später rettete er Basels mittel-alterliche Barfüsser-Kirche in der Altstadtvor der Zerstörung, in dem er auf denhistorischen Wert und die „vollkommenenProportionen“ dieses damals stark herun-tergekommenen Gebäudes hinwies. Fernerentwarf er auch sein eigenes bis heuteweitgehend im Originalzustand erhaltenesWohnhaus in Klein-Basel am rechtsseiti-

Spätestens seit den provozierenden Thesen vonCharles Percy Snow (1959) zum Vorhandenseinzweier grundverschiedener Wissenschaftskulturen,den Natur- und Technikwissenschaften einerseitssowie den Geisteswissenschaften und der Literaturandererseits, wird immer wieder beklagt, dass beideeinander nicht ausreichend verstünden und all zu oft unverbunden nebeneinander her statt konstruk-tiv miteinander arbeiten. Auch an einer Universi-tät wie der in Stuttgart, wo beide Bereiche räumlichweit getrennt voneinander in zwei verschiedenenArealen untergebracht sind, hat ein derartiger Ver-dacht zumindest eine gewisse Anfangsplausibilität.Die nähere Betrachtung der Wissenschaftspraxishingegen führt immer wieder auf intrikate Formender Wechselwirkung zwischen den verschiedenenWissenskulturen. In diesem Beitrag soll jener Ne-xus zwischen Architektur, Technik, Kunstgeschichteund Buchdruck, Mathematik und Physik an eineminteressanten biographischen Beispiel dargestelltwerden. Die Kontextualisierung einer gewagtenvisuellen Analogie, welche dem Basler Mathema-tiklehrer Johann Jakob Balmer als heuristische Leit-linie zur Auffindung der Balmerformel gedient hat,wird uns nicht nur die herausragende Rolle von an-schaulichem Denken in der stark visuell geprägtenKultur der Spektroskopie kurz vor 1900 vor Augenführen, sondern auch zeigen, wie verblüffend eng für Balmer seine Ausbildung in Architektur, seinlebenslang starkes Interesse an Kunstgeschichte undperspektivischem Zeichnen und andere kulturelleAktivitäten mit seinem mathematisch-physikalischenBeitrag zur Entschlüsselung der Struktur des Was-serstoffspektrums zusammenhingen.

ABSTRACT

1 Basel, Öffentliche Bibliothek (imfolgenden abgekürzt BÖB), Nach-lass 133, Mappen Nr. 19–20)

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gen Ufer des Rheins, verschiedene Kir-chengebäude sowie preisgünstige, aberoptimal durchdachte Arbeiterwohnungen,von denen etliche dann tatsächlich auchim Bachletten-Quartier und auf der Breiterealisiert wurden. Eine Preisschrift von1859 über die optimale Planung „guterund gesunder“ Wohnungen, ein gedruck-ter Vortrag über „Wohnungsübelstände“,gehalten vor der Generalversammlung desBasler Bauvereins am 14. September 1878sowie eine den Arbeiterfamilien gewid-mete Gesundheitsbroschüre zeugen vonBalmers außerordentlichem sozialem En-gagement. So war Balmer etwa jahrelangMitglied im Grossen Rat der Stadt Basel,gehörte der Kirchensynode und demKirchenvorstand an, und war als Inspectorder Mädchensekundarschule sowie alsArmenpfleger tätig.

Auch durch sein Familienumfeld hatte Bal-mer intensive Verbindung zu visuellenKulturen: einer seiner Brüder, Josef Bal-mer (1828–1918), war ein Historienmaler,ein anderer, Fritz, ein talentierter Zeich-ner. Balmers jüngster Sohn Wilhelm(1865–1922) wurde Zeichenlehrer, undeiner seiner Enkel, Karl Dick, wurdeKunstmaler, während zwei andere Musi-ker wurden. Einer seiner Schwiegersöhne,Wilhelm Knapp, war Bildhauer, und auchheute noch ist das von ihm selbst entwor-fene Wohnhaus in der Alemannengasse im

Besitz eines Bildhauers (Lorenz Balmerund dessen Familie). Die Schwester derFrau Balmers, die Grenzacher Pfarrers-tochter Pauline Rinck, war mit dem BaslerVerleger Ferdinand Riehm verheiratet, derreligiöse Traktate und kunsthandwerk-liche Bücher veröffentlichte, zeitweiseunter dem Verlagsnamen Balmer & Riehm.und die Schwester des besten Freundesvon Balmer, Pfarrer Oeri, war mit demberühmten Basler Kunsthistoriker JacobBurckhardt (1818–1897) verheiratet. Undin einem Nachruf in der AllgemeinenSchweizer Zeitung von 1898 heißt es: „Dr.Balmer war daneben auch ein trefflicherKunstkenner. Es war eine Lust, ihm zuzu-hören, wenn er z. B. ein Böcklinsches Bildbis in seine tiefsten Empfindungen analy-sierte.“ Balmers Lebenswelt war alsointrikat verzahnt mit etlichen visuellenKulturen von der Architektur über dasDruckhandwerk bis zur Kunstgeschichte.

2. Balmer der Perspektive-Zeichenlehrer

Als Nebenprodukt seines Hauptberufes alsMathematik- und Zeichen-Lehrer in denniedrigeren Klassen der Basler Buergin-schule publizierte Balmer 1887 ein Buchüber perspektivisches Zeichnen, aus demz. B. auch die folgende Abbildung (03)

einer Freitreppe stammt.

Oben: Ausschnitte aus Balmers ar-chitektonischem Entwurf von Baselsoberer Rheinbrücke. LithographierteBeilage zu einer Lokalzeitung mit Bal-mers Artikel: „Basels obere Rhein-brücke“ (aus BÖB, Techn. Conv. 28,no. 5, Orig.maßstab 1:1000).Unten: Holzschnitt der im Bau be-findlichen Brücke (1877) mit Klein-Basel im Hintergrund, aus TheodorGsell-Fels: Die Schweiz. Mit Holz-schnitten nach Bildern & Zeichnungenvon A. Anker, A. Bachelin, J. Balmer… München & Berlin: Bruckmann,1876/77, Bd. 2, S. 390.

01

Portraitphotographie Balmers (BÖB, Nachlass 133, Nr.~14,19).

02

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Nimmt es Wunder, dass der ZeichenlehrerBalmer auch ein Phänomen wie die merk-würdig regelmäßig abnehmenden Abstän-de markanter Spektrallinien mit diesenperspektivischen Studien in Zusammen-hang brachte? Der Mittelteil dieser Treppe,um 90 Grad gedreht, hat Ähnlichkeit mitdem Muster einer sich in den Relativ-abständen aufeinanderfolgender Linienstets verkürzenden Linienabfolge wie siebereits Ende der 1870er Jahre im Spektrumdes Sterns α Lyrae beobachtet worden war(04).

Der Amateur-Astronom William Huggins(1824–1910) hatte eine aus 12 Linien beste-hende Abfolge von Spektrallinien imSpektrum von α Lyrae auf seine Gelatine-Trockenplatte bannen können, deren Re-gelmäßigkeit ihm bereits aufgefallen war.Doch drang er nicht zur gesetzmäßigenBeschreibung vor – zu diesem Zeitpunktwar man ja noch nicht einmal sicher, oballe diese Linien wirklich einem Elementzuzuordnen waren.

Vor Balmer hatten alle überhaupt an weiter-gehenden Deutungen Interessierten dasSpektrum mit der Brille der Physikers be-trachtet. Und Physiker waren (anders alsBalmer, der ja nicht Physik, sondern Ar-chitektur und Mathematik studiert hatte)mit einer Analogie der Optik zur Akustikerzogen worden und hatten darum in diesen eigenartigen Serienspektren immerObertonreihen zu erkennen geglaubt.Man sieht das bereits in der graphischenAbtragung der Daten von Huggins 1879 imFrequenz-proportionalen Plot der Ober-ton-Sucher, mit dem Grundton (d. h. dergrößten Wellenlänge) ganz links. Der IreGeorge Johnstone Stoney (1826–1911) hat-te bereits 1871 aus den ersten vier schonvon Anders Jonas Ångström 1866 auf-gelisteten Wellenlängen λ der Wasserstoff-linien Hα, Hβ, Hγ und Hδ herauszulesengeglaubt, dass drei davon (nach Umrech-nung in Vakuumwellenlängen) der 20., 27.und 32. Oberton eines selbst nicht wahr-nehmbaren Grundtons von 131277,14 Åseien:

Doch so gut die numerischeÜbereinstimmung dieserdrei Wellenlängen war:Stoneys Berechnung hattemehrere Haken. Wiesopaßte die Linie Hγ= 4340 Ånicht ins Bild, und vor al-lem: wieso sollten geradedie 20., 27. und 32. Ober-töne eines hypothetischenGrundtons, der seinerseitsweit im unsichtbaren In-fraroten läge, in der Naturrealisiert sein? Auch wennStoney auf beide Fragenkeine befriedigende Ant-wort zu geben wußte,erfreute sich die von ihminitiierte Suche nach sol-chen Obertonverhältnis-sen in den 1870er Jahreneiniger Beliebtheit. ErstArthur Schusters 1880wahrscheinlichkeitstheo-retisch geführter Nach-weis, dass alle diese ver-

meintlich ganzzahligenObertonverhältnisse mitzufälligen Zahlenverhält-nissen zwischen den Wel-lenlängen erklärbar sind,wie sie bei beliebiger Wahlvon Grundton und Ober-tonzahl allzu leicht gefun-den werden können, führ-te zu einem Abklingendieser Euphorie, ohne dasseine alternative Deutungin Sicht war.

03

Balmers Zeichnung einer perspektivisch verkürzten Treppe.Durch die Absätze ist der Konvergenzpunkt der Linien aufder Höhe des Fluchtpunktes HI nicht ganz so leicht zuerkennen. Aus J.J. Balmer: Die freie Perspektive: Einfacheund leichte Einführung in das perspektivische Zeichnen fuerKünstler und Kunstfreunde, Kunst- und Gewerbeschüler,sowie zum Selbstunterricht, Braunschweig: Vieweg, 1887,Tafel IX.

Huggins Darstellung von zwölf Spektrallinien im Spektrumvon α Lyrae. Aus William Huggins: „On photographicspectra of stars“, Nature 21 [1879], S. 269–270.Huggins über twelve „very strong lines“, not only in„remarkable agreement“ in appearance, but also in theirrelative distances which decreased between any two adjacentlines with increasing refrangibility. „The group possesses adistinctly symmetrical character. The suggestion presentsitself whether these lines are not intimately connected witheach other, and present the spectrum of one substance.“Vgl. auch William McGucken: Nineteenth-Century Spec-troscopy. Development of the Understanding of Spectra,Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press 1969, S. 118f. sowieKlaus Hentschel: Mapping the Spectrum. Techniques of

Visual Representation in Research andTeaching, Oxford Univ. Press 2002,S. 344ff. über Huggins’ Daten undStoneys Interpretation.

Wasserstoff-Linie(Fraunhofers Bez.)

Hα (= C)Hβ (= F)Hδ (= h)

Angströms Wellenlängenλ

6563,934862,114102,37

Stoneys Berechnung(umgerechnet in Å)

(1/20) x 131277,14 = 6563,86(1/27) x 131277,14 = 4862,12(1/32) x 131277,14 = 4102,41

04

T.01

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3. Balmers Gestaltswitch

Balmer war der erste, der Spektren ebennicht als eine Obertonreihe ansah, dieeiner Fourier-Analyse bedurfte, sondernsie mit den Augen des darstellenden Geo-meters betrachtete. Während die Physikerseiner Zeit stets die Analogie zur Akustikin das Datenmaterial hineintrugen und

nach einer niedrigsten Grundfrequenz ν0 mitObertönen n·ν0 suchten, erschien Balmernichts natürlicher als eine asymptotischeKonvergenz hin zur kürzesten Wellenlänge λ0,analog den perspektivischen Verkürzun-gen z. B. von Treppenstufen bei steigen-dem Abstand vom Betrachter (vgl. noch-mals das Zentrum von (03)). In Übertra-gung von Ludwik Flecks Konzept eines„Denkzwangs“, der mit jedem Denkstilverbunden ist, könnte man hier geradezuvon einem „Seh- oder Gestaltzwang“reden: Balmer wird sich der ihm aufdrän-genden Analogie jener sich verkürzendenAbstände zwischen den Serienlinien einer-seits und den sich verkürzenden Abstän-den zwischen Treppenstufen, Bahnschwel-len o. ä. kaum erwehrt haben können.

Wenn es sich um etwas zu Längenverkürzun-gen analoges handelt, dann sollte – somuß Balmer weitergeschlossen haben –eine (Wellen-) Längen zugrundelegendeDarstellungsform benutzt werden, also ein„normales Spektrum“, und nicht, wie vonden Oberton-besessenen Physikern bislangpräferiert, eine Frequenz-proportionaleDarstellung. Beide sind zwar physikalischvollkommen äquivalent, aber eben nichtheuristisch. Balmer war durch seinen kul-turell andersgearteten Erwartungshori-zont befähigt, ein Muster zu erkennen, daseine ganze Generation von Forschern vorihm so nicht gesehen hatte und wegen derihr antrainierten optisch-akustischen Ana-logie wohl auch nicht hatte sehen können.

Anstatt also wie Stoney von einer Grund-frequenz hoffnungslos jenseits aller dama-liger Beobachtungsmöglichkeiten im fer-

nen Infrarot auszugehen, schrieb BalmerStoneys Numerik um und deutete alleihm bis dato bekannten Wasserstofflinienals gebrochenzahlige Vielfache einer fun-damentalen Länge von 3645,6 Å. Daraufkönnte er gekommen sein, indem er die Stoneyschen Verhältniszahlen 1/20,1/27 und 1/32 mit 36 als einer Art gemein-samem Nenner multiplizierte:

Auch die von Stoney nicht interpretierbareLinie Hγ paßte in dieses Schema, und (wiedie letzte Spalte der vorstehenden Tabellezeigt) die Differenz der ÅngströmschenOriginalwerte (nicht wie bei Stoney um-gerechnet in Vakuumwellenlängen!) zudem aus diesem algebraischen Ansatz fol-genden Werten betrug nirgends mehr als0,1 Å, d.h. weniger als 1/40000 der Wellen-länge, damals noch innerhalb der Fehler-grenzen für diese vor 1880 erfolgte experi-mentelle Bestimmung2. Die Abfolge dervier gebrochenzahligen Faktoren schienzunächst unverständlich, zeigte aber nachKürzung um gemeinsame Faktoren undErweiterung des zweiten und vierten Koeffizienten um 4/4 ein algebraisierbaresMuster: 9/5, 16/12, 25/21 und 36/32 bzw.verallgemeinert (1):m2 / (m2–4), wobei m = 3, 4, 5 und 6.

Spätestens an diesem Punkt brach Balmerdie numerisch-algebraische Suchstrategieab und ging vollends zu einer geometri-schen Rekonzeptualisierung des Problemsüber. Jetzt kam immer stärker der Geo-meter und Perspektive-Zeichenlehrer inihm durch. Weiteres Nachdenken überperspektivische Verkürzungen wie in (03)

zeigten ihm, weshalb diese erste spontaneAnalogiebildung noch nicht zum Zielführte, denn unabhängig von der gewähl-ten Neigung der Treppe konvergiert dieAbfolge der verschiedenen Treppenstu-fenkanten zu langsam im Vergleich mitden Beobachtungen an Wasserstoffspek-tren (04). Dennoch stecken in dieserersten simplen Analogiebildung bereitsentscheidende heuristische Weichenstel-

2 Erst mit den 1882 entwickeltenRowlandschen Konkavgittern erfolg-te ein Sprung in der maximalerreichbaren Messgenauigkeit auf±0,01 Å: siehe dazu KlausHentschel: „The discovery of theredshift of solar Fraunhofer lines byRowland and Jewell in Baltimorearound 1890“, Historical Studies inthe Physical and Biological Scien-ces 23,2 [1993], S. 219–277.

Wasserstoff-Linie

HαHβHγHδ

Balmers Berechnung

(36/20) x 3645,6 = 6562,08(36/27) x 3645,6 = 4860,8(25/21) x 3645,6 = 4340(36/32) x 3645,6 = 4101,3

Wellenlänge( Å in Luft)

6562,14860,74340,14101,2

λB-λ Å

0,020,10,10,1

T.02

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3 Siehe J.T. Thibault Application dela perspective linéaire aux arts dudessin, Paris: Renouard 1827(postume Ausgabe von ThibaultsSchüler N. Chapuis), Kap. 6–7,und T. 21–7, sowie Balmer „ZurPerspektive des Kreises“, in Schul-programm der Töchterschule Buer-gin, Basel, 1884, S. 1–11 undTafel I–IV.

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lungen, die Balmer bei seiner weiterenSuche geleitet haben, denn er mußte nureine gekrümmte Oberfläche des perspekti-visch verkürzten Körpers annehmen, umraschere Konvergenz zu bekommen.

4. Die zielführende visuelleAnalogie

Eine besser konvergierende perspektivischeVerkürzung fand Balmer bei Betrachtender scheinbaren Breite von runden Säulen,beginnend bei sehr geringen, dann ingleichmäßigen Intervallen größerwerden-den Abständen. Pate stand ihm dabei einAufsatz über Kreisperspektive, den Balmerjust 1884 im Schulprogramm seiner Töch-terschule Buergin publiziert hatte. DieserAufsatz enthält ausführliche Kommentareund Anweisungen zur geometrischen

Konstruktion perspektivisch verkürzterKreise, wie sie der Pariser Architekt JeanThomas Thibault (1757–1826) angegebenhatte und wie sie in der Architektur ebeninsbesondere bei Säulen ständig vorka-men.3 Thibaults Methode basierte auf derIdee, den zu konstruierenden Kreis in einQuadrat eingeschrieben zu denken. Durchgezielte Aufsuchung pythagoräischer Drei-ecke, deren Seitenlängen die Verhältnisse3:4:5 haben, konstruiert Thibault jeweilseinen weiteren Punkt des verkürzten Krei-ses. In seiner Schrift von 1884 entwickelteBalmer eine Alternative zu diesem korrek-ten, aber etwas mühsamen Verfahren: diesogenannte Tangentenmethode, mit derim Prinzip eine beliebig große Zahl vonTangenten an den verkürzten Kreis AMKBkonstruiert werden können. Die vertikaleTangente an den Kreis durch B wird in viergleiche Teile (B–1, 1–2, 2–3, und 3–D)geteilt und um drei weitere gleichlangeEinheiten nach oben hin verlängert. DiePunkte 4, 5 und 7 werden durch geradeLinien mit dem Punkt A verbunden, wo-

Balmers geometrische Deutung derSerienlinien; aus J. J. Balmer: „A newformula for the wave-lengths of spec-tral lines“, Astrophysical Journal 5[1897], S. 199–209 und Tafel VIII.

Balmers Tangentenmethode zurKonstruktion perspektivisch verkürzterHalbkreise AMKB. ACDB ist daseinschreibende verkürzte Rechteck.Aus Balmer (1884) Tafel III,3

0605

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durch man die Schnittpunkte G, H und Jmit der Linie CD erhält. Dann sind die Li-nien, die 1 mit ¼, 2 mit H und 3 mit J ver-binden, alle tangential an den gesuchtenHalbkreis, den sie in den Punkten K, L undM berühren.

Was dieses geschickte perspektivische Verfah-ren mit der Balmerschen Formel zu tunhat, sieht man am einfachsten anhand(06); Balmer selbst hat diese Abbildung1897 in einem wenig bekannten englischenAufsatz im Astrophysical Journal zur Er-läuterung der geometrischen Bedeutungseiner Formel publiziert.

Wie breit erscheint eine Säule (mit Radiuszweier Längeneinheiten) einem Beobach-ter, der sich entlang der X-Achse tangen-tial zur Säule von ihr in Längeneinheits-schritten wegbewegt? Wenn wir als Projek-tionsfläche die Ebene YY’ wählen, hatdiese Frage eine geometrisch einfach Ant-

wort: Die Abfolge der Strecken l3, l4, l5

usw., die Balmer links in (06) nochmalsabträgt. Betrachten wir einen Beobachter,der sich von einer Säule mit DurchmesserAO entlang der X-Achse wegbewegt, diezu dieser Säule tangential liegt. Dann wirddie scheinbare Breite der Säule, gemessendurch die Strecke zwischen den Schnitt-punkten der beiden tangentialen Geradendurch die Y-Achse, um so kleiner werden,je weiter sich der Beobachter wegbewegthat. Es ergibt sich also eine kleiner wer-dende Abfolge von Intervallen l3, l4, l5

(gemessen jeweils vom Schnittpunkt 0 der

X- und Y-Achse). Diese Abfolge scheinba-rer Durchmesser der Säule auf der Projek-tionsebene YY’ „entspricht“ in dieser Be-trachtungsweise den kleiner werdendenWellenlängen λι der Wasserstoffserie (dielinks nochmal abgetragen sind). Aus dieserKonstruktion wird sofort verständlich,wieso diese Abfolge nicht kleiner werdenkann als der tatsächliche Durchmesser derSäule AO, der somit der Grenzwellenlängeλ0 gleichkommt. Soweit die geometrischeIdee; was noch folgt ist die numerischePrüfung und Setzung des Radius dieserSäule als n = 2 Längeneinheiten. Begänneman mit der einfachsten Annahme einerLängeneinheit, so würde am Ende nur jedezweite Wasserstofflinie erfaßt, deshalb wardie Annahme von zwei Längeneinheitenheuristisch gesehen die dann nächstliegen-de. Zwei erst vom Autor dieses Beitrags2002 veröffentlichte lose Blätter in einer

von Balmer selbst angelegtenSammlung seiner Unterlagenüber die „Spektrallinien desWasserstoffs“ zeigen die letz-te Stufe dieser Anpassungseines mentalen Models andie Numerik der Daten.(07) links zeigt, wie Balmernoch mit der Zählung derEinheiten entlang der x-Achse sowie mit der genauenPlazierung der Projektions-linie bzw. dem Radius derSäule experimentiert: dergrößere der beiden hat be-reits den Wert 1823.8, d. h.λ0/2 = 3645.6 Å/2, währendder Durchmesser des Kreisesin (07) rechts auf 3421.091 Åangesetzt ist, mithin 24.5 Åkleiner als der 1885 von Bal-mer dann publizierte Wertvon λ0.

Die in der endgültigen Fassung durch Zu-nahme des Beobachter-Abstands vomPunkt 0 in ganzzahligen Vielfachen m die-ser Längeneinheit resultierende Strecken-abfolge bildete nun im Rahmen der dama-ligen Meßgenauigkeit erstaunlich genaudie Strecken- (= Wellenlängen-) Verhält-nisse ab, die für die ersten Linien derWasserstoffserie Balmer bis dato bekanntgeworden waren. Aus elementarer Geo-metrie resultiert für das Verhältnis desscheinbaren Säulendurchmessers lm zumGrenzwert des tatsächlichen Durchmes-sers l∞ die bekannte Balmerformel (2):

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07

Zwei Zeichnungen auf einem größerenlosen Blatt aus dem Balmer-Nachlaß,BÖB, Mappe 12, ca. 1884.

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λm/λ∞ = m2 / (m2–n2), mitn = 2 und m ≥ 3.

Im oberen linken Quadran-ten von (06) konstruierteBalmer dann noch aus denresultierenden Wellen-längen α, β, γ deren zurFrequenz ν proportionaleInverse α’, β’, γ’, die natür-lich ansteigen, wenn erste-re fallen, da ν = c/λ Fre-quenz und Wellenlängeeinander umgekehrt pro-portional sind. Der mini-malen Wellenlänge λ0 ent-spricht die Grenzfrequenzν∞.

5. Balmers visionäreExtrapolation

Weil die Formel (2) für diewenigen ihm zunächst be-kannten Wasserstoff-Linienso ausgezeichnet funktio-nierte, erwog Balmer 1885übrigens sogar schon, obder Parameter n, (geome-trisch interpretiert als derRadius der Säule) nichteigentlich auch andereganzzahlige Werte anneh-men könne:4

„Von Wasserstofflinien, wel-che der Formel für n = 3, 4,etc. entsprächen, und wel-che man als Linien dritter,vierter Ordnung u.s.w.bezeichnen könnte, findensich in den bis jetzt be-kannt gewordenen Spec-tren keine vor; sie müsstensich etwa unter ganzneuen Temperatur- undDruckverhältnissen entwickeln, um wahr-nehmbar zu werden.“

Die Tabelle in (08) aus seinem Nachlaß zeigtseine Vorausberechnung weiterer Spek-trallinien für verschiedene Werte von nund m.

Das heißt: schon 1885 hatte Balmer gestütztauf sein geometrisch-perspektivisches Ver-fahren die Möglichkeit weiterer Spektral-serien des Wasserstoffs ins Auge gefaßt (wiesie später dann von Paschen, Lyman undBrackett entdeckt wurden)! Nur mangels

empirischer Daten in diesen damals nochunzugänglichen Wellenlängenbereichenstellte er diesen Gedanken zurück undkonzentrierte sich auf die Variation von mbei Festhalten von n = 2, was auf einetheoretische Seriengrenze λ∞ = h imUltravioletten führte: λm = h m2/(m2–4).

Wie schon oben in (T.02) gezeigt, passte die-se Formel für Werte von m = 3 bis 6 zuÅngströms (Luft-)Wellenlängen für Hα bisHδ, wenn er für h = 3,645.6 Å einsetzte.Für höhere Werte von m kam Balmer zuWellenlängenvoraussagen λm, von denender mit Balmer befreundete Basler Physi-

08

4 Siehe Balmer: „Notiz über dieSpectrallinien des Wasserstoffs“,Verhandlungen der Naturforschen-den Gesellschaft Basel 1885,S. 548–560, 750–752; bzw. ab-gedruckt auch in den Annalen derPhysik, 3. Serie. 25 (1886),S. 80–87, dort insb. S. 84.

Balmers Vorausberechnung der Wellen-längen weiterer Spektrallinien desWasserstoffs aus Formel (2) in ver-schiedenen Ordnungen (8 Spalten fürdie 1.–8. Ordnung), aus BÖB, Nach-lass 133, Mappe 12

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ker Jacob Eduard Hagenbach-Bischoff(1833–1910) nach Rückfrage bestätigenkonnte, dass ganz ähnliche Werte von Ex-perimentatoren bereits gemessen wordenwaren.

Der Photochemiker Hermann Wilhelm Vo-gel (1834–1898) hatte ganz ähnliche Serienim ultravioletten Teil von Wasserstoffspek-tren nachgewiesen, die in Geissler-Röhrenzum Leuchten gebracht worden waren.Um sicherzustellen, dass es sich hierbeiwirklich nur um Wasserstoff handelnkonnte, hatte er den Wasserstoff in der da-mals reinsten elektrolytisch erzeugtenForm in die Röhren einfüllen lassen undsorgsam darauf geachtet, jedwede Konta-mination mit anderen Materialien zu ver-meiden. Der Vergleich mit Vogels Mess-werten für die ersten vier neuen Linienergab eine Übereinstimmung von ±0.5 Å ,und keine der Linien wich mehr als 1 Åvon Balmers Tabellen ab; Huggins Stern-spektren enthielten noch 6 weitere Linien,da Huggins mit einem Quartzprisma ge-arbeitet hatte und nicht mit einem im UVstark absorbierenden Flint-Glas-Prisma wieVogel. Auch hierbei blieben die Abwei-chungen zwischen experimentellen Mes-sungen und den „Voraussagen“ Balmersaufgrund der noch sehr spekulativen For-mel (2) unterhalb von 3.9 Å. NachdemHuggins’ sehr ungenaue Wellenlängen-schätzungen 1886 durch Alfred Cornupräzisiert worden waren, verbesserte sichdie quantitative Übereinstimmung derersten 13 Balmerlinien mit seinen Voraus-sagen sogar noch auf eine Fehlerbreiteunter ± 0,6 Å. Durch weitere Messungenerhöhte sich die Zahl dieser „Balmer-linien“ im Wasserstoffspektrum bald aufüber 30, bei weiter sinkender Diskrepanzzwischen Theorie und Experiment auf±0,02 Å und darunter.

Wohlgemerkt, ich behaupte nicht, dassdurch diese visuelle Analogie das „Rätselder Wasserstoffserie“ (wie Balmer es nann-te) bereits physikalisch verstanden war;dazu bedurfte es bekanntlich eines ErnestRutherford und eines Niels Bohr sowienoch dreier Jahrzehnte weiterer physika-lischer Forschung. Aber es sollte klargeworden sein, welch große Bedeutungein in der Phänomenologie behaftetes „an-schauliches Denken“ in der Spektroskopiedes 19. Jahrhunderts. gehabt hat. Oder, wieBalmer 1897 formulierte: „the final

impression, which our mind involuntarilyreceives in contemplating these funda-mental relations is that of a wonderfulmechanism of nature, the functions ofwhich are performed with never-failingcertainty, though the mind can followthem only with difficulty and with ahumiliating sense of the incompleteness ofits perception“.

6. Anschauliches Denken

Das Beispiel der Auffindung der Balmer-formel des Wasserstoffspektrums ist keinEinzelfall. Auch Balmers ZeitgenosseJanne Rydberg (1854–1919), der analogeSerienformeln für die Serienspektren vonAlkali- und Erdalkalimetallen fand, basier-te auf visuell-geometrischen Suchstrate-gien (in seinem Fall der Aufzeichnung derWellenlängenverhältnisse auf Millimeter-papier) mit nachfolgender geometrischerSuche nach Fitfunktionen. Wie ich an-dernorts ausführlicher gezeigt habe5,waren vor 1900 ganz allgemein diejenigenForscher erfolgreicher, die sich bei dieserMustersuche graphischer Methoden bedien-ten (darunter z. B. Balmer und Rydberg),während stark algebraisch-numerischangelegte Suchstrategien (wie z. B. beiHeinrich Kayser und Carl Runge) kaumerfolgreich ausfielen. Dazu bieten sichauch Parallelen außerhalb des hierbetrachteten Feldes der Spektroskopie an:Arthur Ian Miller hat in seinem Buch überImagery and Creativity in Science and Art (1996)u. a. anhand von Bohr, Einstein, Heisen-berg, Maxwell, Fermi, Salam und Weinberggezeigt, dass alle diese Wissenschaftler„strongly prefer the visual mode ofthought in their research“ (S. 281).

Was sich in diesen Arbeiten äußert, ist etwas,was wir in Rückgriff auf Rudolf Arnheimsbahnbrechendes Buch von 1969 „anschau-liches Denken“ nennen sollten. Dennaußer dem diskursiven, von Worten, Sätzenund Argumenten getragenen Schließen,wie wir es normalerweise mit „Denken“gleichsetzen, gibt es sehr wohl auch ande-re, nichtverbale Formen des Erschließensvon Zusammenhängen und Findens vonNeuem. Neben dieser einen Form anschau-lichen Denkens, der Mustersuche inSerien- und Bandenspektren, die wir hieran einem Beispiel näher betrachtet haben,lassen sich mindestens folgende Grund-typen unterscheiden:

5 Siehe Klaus Hentschel: Mappingthe Spectrum. Techniques of VisualRepresentation in Research andTeaching, Oxford Univ. Press2002, insb. Kap. 8.

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• visuelle Analogien (Balmers Analogiedes Wasserstoffspektrums zu perspektivi-scher Verkürzung sowie z.B. auch die inder zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertsbeliebte Suche nach Homologien zwischenSpektren; außerhalb der Spektroskopieu. a. William Harveys Deutung des Her-zens als Pumpe, J.A. Roeblings Übertra-gung der Haltevorrichtungen von Schiffs-masten auf die Konstruktion von Hänge-brücken wie etwa der Brooklyn Bridge von1884, Edisons oder Sperrys Analogien zwi-schen verschiedenen technischen Appara-ten, sowie Leonardos Strukturvergleichevon Wasserwirbeln und Haarzöpfen,Rückenmuskulatur und Schiffsmasten,Adern und Treppenaufgängen, etc.),

• räumliches Denken (z. B. van’t HoffsVisualisierung der Valenzen eines Kohlen-stoffatoms als Seitenkanten eines Tetra-eders oder Kekulés Traumbild eines Koh-lenstoffrings),

• analytische Zerlegung komplexer Sinnes-eindrücke in einfache, „gute“ Gestalten(Alexander Herschels Deutung der CO-Bande als zweier superponierter Seriensowie z. B. Leonardos Explosionszeich-nungen),

• kinematographische Abfolge (FeddersensPhotographie von Funkenspektren mithil-fe rotierender Spiegel, Muybridges Serien-photographien der Bewegungsabläufe von Tieren und Menschen oder BjerknesDiagramme zur Entwicklung von Wetter-fronten),

• Ergänzen des Unvollständigen (beimperspektivischen Sehen etwa das automa-tische Ergänzen teilweise verdeckter Teile,beim Ingenieurentwurf das Einsetzen feh-lender Maschinenelemente, etc.),

• Typisierung (z. B. Abgrenzung verschie-dener spektraler Sternklassen oder che-misch charakteristischer Spektren), sowie

• Schematisierung von Prozessen (prisma-tische Aufspaltung, Minkowski-Diagram-me, Feynman-Diagramme oder Flußdia-gramme der Informatiker).

Viele dieser Visualisierungsstrategien (sowieetliche weitere, erst später auftretende)finden sich auch heute noch in derArbeitspraxis von Naturwissenschaftlernund Technikern wieder. Wie das BeispielBalmer uns gezeigt hat, steht ihr spezifi-scher Einsatz oft in engem Zusammen-hang zu der Lebenswelt und der Ausbil-dung der Akteure. Schon darum ist es fürdie spätere historische Rekonstruktion derindividuellen Ausprägung des Gestalt-sehens wichtiger Akteure unabdinglich,nicht nur den wissenschaftlichen Teil einesNachlasses aufzuheben, sondern auch ver-meintlich nebensächliche Aktivitäten wieHobbys (Photographie, Zeichnen, Modell-bau …) mit zu dokumentieren.6 Allgemei-ne Kultur einerseits und Naturwissen-schaft und Technik andererseits sind ebendoch viel enger miteinander verbunden alsP.C. Snows Doktrin von den zwei oderdrei Kulturen uns glauben machen läßt. •

Klaus Hentschel

6 Nähere Empfehlungen zur recht-zeitigen Sicherung von historischwertvollem Quellenmaterial findetman in Klaus Hentschel: „Bitte nicht weg-werfen!“, Physik-Journal März-Heft 2008, S. 3.

Klaus Hentschel

studierte in Hamburg Physik (mit einem Diplom in theoretischer Hochenergiephysik) und Philosophie (miteinem Magister zur Korrespondenz von Einstein und Schlick), wurde dann mit einer Studie zu Fehlinter-pretationen der Relativitätstheorie Einsteins in Geschichte der Naturwissenschaften promoviert und habilitiertesich mit einer Monographie zum Wechselspiel von wissenschaftlichem Instrumentenbau, Experimentierpraxis undTheoriebildung in der Spektroskopie und Astrophysik. Seit 2006 leitet er die Abteilung für Geschichte derNaturwissenschaften und Technik der Universität Stuttgart. Im Sommersemester 2009 wird er eine Vorlesungs-reihe über die Geschichte visueller Wissenschafts- und Technikkulturen mit Begleitseminar zur Geschichte derPhotographie sowie ihrer wissenschaftlichen und technischen Anwendung anbieten.

KontaktUniversität Stuttgart, Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften und TechnikHeilbronner Str. 7, 70174 StuttgartTel. 0711/ 685-82312, Fax 0711/ 685-82767E-Mail: [email protected], Internet: www.uni-stuttgart.de/hi/gnt/hentschel

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