Kurt Lewin - Person, Werk, Umfeld: Historische Rekonstruktionen und aktuelle Wertungen

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Bei träge zur Geschichte der Psychologie herausgegeben von Helmut E. Lück Band 5 Wolfgang Schönpflug (Hrsg.) Kurt Lewin - Person, Werk, Umfeld Historische Rekonstruktionen und aktuelle Wertungen aus Anlaß seines hundertsten Geburtstags J. Peter Lang Frankfurt am Main . Bern . New York · Paris

Transcript of Kurt Lewin - Person, Werk, Umfeld: Historische Rekonstruktionen und aktuelle Wertungen

Beiträge zur Geschichte der Psychologie herausgegeben von Helmut E. Lück
Band 5
aus Anlaß seines hundertsten Geburtstags
J. Peter Lang
Kurt Lewin gehört zu den international bedeutendsten Vertretern der deutschen Psychologie. Wegen seiner Herkunft 1933 zur Emigration ge­ zwungen, hat er seine wissenschaftliche Arbeit in den Vereinigten Staaten fortgesetzt. Lagen die Schwerpunkte seiner Forschungen in Deutschland im Bereich der Wissenschaftstheorie und Motivationspsychologie, hat er sich in den Vereinigten Staaten der Handlungsforschung und der Gruppendynamik zugewandt. Der Band bietet Erkenntnisse aus neuen Quellen und bemüht sich um kritische Wertungen aus gegenwärtiger Sicht.
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Beim Symposium "Zum hundertsten Geburtstag von Kurt Lewin"
Am 26. September 1990 beim 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Kiel (von links nach rechts):
Lothar Sprung, Mitehe II G. Ash, Wolfgang Schönpflug, Alexandre Metraux, Kurt Back, Horst-Peter Brauns, He/ga Sprung,
Eberhard Ulich, Helmut E. Lück sowie Carl-Friedrich Graumann (Foto: Dieter Schneider)
VotWOit
Wissenschaftler haben mit den Mimen gemeinsam, da~ ihnen die Nachwelt meist keine Krinze bindet. Selbst gro~r Ruhm zu Lebzeiten schützt nicht vor schnellem Vergessen­ werden nach dem Tode. Ein wachsendes Heer von Historikern sucht den Proze~ des allge­ meinen Vergessens aufzuhalten. Der Erfolg solcher Bemühungen ist wechselhaft: Mitunter stellt sich eine Renaissance des V ergangenen ein, und der Fachmann, der sie herbeigefiihrt
hat, kommt zu hohen Ehren. Doch häufiger verbla~t die Erinnerung. und das Publikum straft den Fachmann, der sie erhalten will, mit Mi~achtung. Aber auch dieses geschieht: Eine
Persönlichkeit - und sie braucht nicht zu den bei Lebzeiten Gefeierten gehört haben - geht der Nachwelt nicht aus dem Sinn. Ihr Name wird von Generation zu Generation überliefen,
ihre Lehren sowie die von ihr eingeführten Gebräuche leben weiter; die professionellen Vergangenheitspfleger brauchen da nicht viel dazu zu tun. Es kann sogar vorkommen, da~
die Erinnerung ins Kraut schie~t: Legenden bilden sich, die oder der Erinnerte wird zur
Kultfigur, deren sich die aktuelle Phantasie bemächtigt, um der Vergangenheit zu unter­
schieben, was die Gegenwart an Wünschbarem vermissen lä~t. Dann fällt dem Historiker die Aufgabe zu, die Erinnerung auf die geschichtliche Wirklichkeit zurückzuführen.
Begibt man sich auf das Feld der Psychologie, so begegnet man in Kurt Lewin
wohl einenjener Vertreter, der im Gedächtnis der Fachwelt auch ohne besondere Anstren­
gungen der Psychologiehistoriker lebendig geblieben ist. Seine Ideen tauchen immer wieder auf- in der Allgemeinen Psychologie, der Persönlichkeitspsychologie, der Entwicklungs­ sowie der Sozialpsychologie. Er wird für die wissenschaftstheoretische Begründung der
Psychologie in Anspruch genommen wie für ihre gesellschaftspolitische Praxis. Ihn eine
Kultfigur zu nennen, wäre sicher übertrieben. Eine Symbolfigu!_ist er allemal. Ein Symbol
wofür? Letztlich für eine in vielfältigen Bereichen zutage tretende Kreativität, für eine3· unbekümmerten lntegrationswillen, für transdisziplinäres Forschen und methodisch
Frägen sowie für ein engagiertes Anpacken von sozialen Problemen. Die anhaltende Faszi 1
nation von Lewins Werk und seiner Person rührt wohl von seinem Willen zur Zusammen-1
führung des Auseinanderlaufenden. Die Berufung auf Lewin hält den Wunsch nach einer Psychologie wach, die vieles bewegt, und - multum in U1IO - doch ein einheitliches Unter­ nehmen bleibt. Der Verweis auf Lewin rechtfertigt das Verlangen nach einer Psychologie,
die unter den akademischen Fächern Selbständigkeit genie~t und gleichzeitig harmonisch in das System der Wissenschaften eingebunden ist. Das Beispiel Lewins bestärkt den Glauben an die Vereinbarkeil von methodischer Reflexion, theoretischer Analyse und empirischer Erhebung und mahnt zur Überwindung der Trennung von in sich gekehrtem Gelehrtenturn
und nach au~n gewandter Weltverbesserung. So steht Lewins Namen wie kaum ein anderer
für das ld~~l ~hte~ ei~h!'litliche.n_. i.llt~~jgipli~r_y~rltrt~.Pf!~'.!!.-theC?~~tiJclu!.nd. melhodisch ! I
reflektierten llndgleic!rzeiligJll"ktiscb witksamen.f.sr~hol_op~·- '
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Vorwort
Von diesem Ideal ist die moderne Psychologie sicher weit entfernt. Sie teilt sich in zahlreiche unverbundene Forschungsprogramme, isoliert sich im Verbund der Wissenschaf­ ten. Theorie, Methodik, Empirie und Praxis klaffen auseinander, und alle vier leiden unter dem Vorwurf, nichts Rechtes zustande zu bringen, solange sie nicht von ihrem Alleingang lassen. Aber war die Psychologie je der beschriebenen Idealvorstellung nahe? Ist diese Idealvorstellung der Psychologie Oberhaupt angemessen? Und wird Lewin zu Recht mit ihr in Verbindung gebracht? Hat er zur Entstehung und Verbreitung der Idealvorstellung beige­ tragen? Hat er zu ihrer Realisierung beizutragen vermocht? Zur Klärung solcher Fragen benötigt man den Geschichtsforscher. Er mutJ anband der noch verfügbaren Quellen zu klären versuchen, was die Vergangenheit an Realitäten, an zukunftsträchtigen Vision und an Illusionen aufzuweisen hat, und welchen Anteilindividuen daran haben.
Jahrestage stimulieren die Rückbesinnung. So hat auch die hundertste Wiederkehr des Geburtstags von Kurt Lewin an mehreren Stellen die Beschäftigung mit seiner Person und seinem Werk verstärkt. Nur wenige Tage nach Lewins hundertstem Geburtstag fand am 26. September 1990 während des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psycholo­ gie in Kiel ein ganztägiges Symposium zu seinem Gedenken statt; dem Symposium schloiJ sich ein Überblicksreferat von cari-Friedrich Graumann zur gegenwärtigen Rezeption des Lewinsehen Wertes an. Das Ziel des Symposiums war die Rekonstruktion von Lewins Persönlichkeit, seines Werkes und seiner Zeit. Das daran anschlieiJende Überblicksreferat versuchte, die bis zu unserer Gegenwart anhaltenden Wirkungen der Lewinsehen Lehre zu ermitteln. Insofern handelte es sich um wissenschaftshistorische Unternehmungen, welche - wie in der Wissenschaft Brauch -der Vermehrung und Sicherung von Erkenntnis dienten.
Allerdings: Auf die nüchterne Funktion der Erkenntnisgewinnung lietJen sich die genannten Veranstaltungen nicht beschränken. Der Tatsache, daiJ sie im Rahmen eines Kongresses der Deutschen Gesellschaft fiir Psychologie stattfanden, kommt auch eine symbolische Bedeutung zu. War doch l..ewin selbst Mitglied dieser Gesellschaft gewesen und hatte diese unter dem Druck des Nationalsozialismus verlassen müssen; nach 1932 enthält kein Mitgliederverzeichnis der Gesellschaft mehr seinen Namen. Kein Organ der Gesellschaft hat bisher die erzwungene Beendigung der Mitgliedschaft - wie immer sie zustande gekommen sein mag - in angemessener Form eingestanden, bedauert oder gar widerrufen; kein förmliches Bekenntnis versäumter Unterstiitzung für einen wegen seiner Herkunft verfolgten Kollegen war bisher zu vernehmen. So kann man wenigstens die KongretJveranstaltungen aus AnlaiJ seines hundertsten Geburtstags als späten Ausdruck der Identifikation der Deutschen Gesellschaft für Psychologie mit Kurt Lewin werten. Es war eine Ehrung für einen Fachvertreter, der ein Stück glanzvoller Wissenschaftstradition im deutschsprachigen Raum verkörpert.
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Die oben eiWihnten zehn Kongre~referate sind inzwischen teilweise überarbeitet und e!Weiten worden. Zugleich sind drei neue, thematisch einschlägige Arbeiten entstanden. So sind insgesamt dreizehn Beiträge zusammengekommen, welche die gegenwinige Aus­ einandersetzung mit Lewin bezeugen. Dieser Band soll sie gedruckt an die Öffentlichkeit bringen. Zu danken ist Helmut E. Lück ist für seine Bereitschaft, den Band in die von ihm herausgegebene Reihe "Beiträge zur Geschichte der Psychologie" aufzunehmen, sowie dem Verlag Lang, venreten durch Frau Dr. Claudia Frank, für die gute Kooperation. Anerken· nung verdient auch Sigrid Greiff für ihre Umsicht und Geduld beim Edieren der Druckvor· Iage.
Berlin, Oktober 1991 Wolfgang SchiJnpflug
Kurt Lewin - eine biographische Skizze
Wolfgang SchiJnpflug
Im Jahre 1856 wurde Sigmund Freud im mährischen Städtchen Freiberg geboren. Seine Eltern betrieben dort ein Textilgeschäft, das sie, als Freud drei Jahre alt war, auflösten, um nach Wien zu ziehen. ln Wien geno~ Freud eine humanistische Bildung am Leopoldstädter Kommunalgymnasium und absolvierte danach ein Studium der Medizin und Zoologie. Mit umfassenden Interessen ausgestattet, die bis in die Ethnologie und Religionsgeschichte hineinreichten, ging Freud daran, eine grundsätzlich neue Lehre des Psychischen, die Psychoanalyse, zu entwickeln. Obwohl in der Öffentlichkeit weithin beachtet, blieb ihm in der akademischen Gesellschaft nur eine Au~nseiterposition; immerhin erhielt er an der angesehenen Wiener Universität in seinem 29. Lebensjahr die Lehrbefugnis als Privatdozent für Neuropathologie und mit 46 Jahren den Titel eines au~rordentlichen Professors. Freud war jüdischer Herkunft. Das war ein Hemmnis für eine weitergehende akademische Karriere und zwang ihn 1938 zur Emigration, als das nationalsozialistische Regime auf ÖSterreich übergriff(Jones, 1960; vom Scheidt, 1976).
Soviel zu Freud. Doch wie kommen wir auf Freud, den Begründer der Psychoana­ lyse? Ist dies nicht ein Buch über Kurt Lewin, den Gestalt· und Feldtheoretiker der Psycho­ logie, den Begründer der Gruppendynamik? ln der Tat: Dies ist ein Buch über Lewin. Aber niemand möge sagen, die Biographie Freuds habe nichts mit der von Lewin gemeinsam. Zwar kann dieser jenen der Generation seines Vaters zurechnen; Freud ist 24 Jahre alt, als Lewin am 9. September 1890 geboren wird. Aber wie sich sonst die Lebensläufe decken! Man ersetze in der Freudschen Biographie das mähcisehe Freiberg durch den Ort Mogilno im damals Preu~ischen Posen, die Habsburgermetropole Wien durch die Hohenzollern­ hauptstadt Berlin, das Leopoldstädter Gymnasium in Wien durch das Berliner Kaiserin­ Augusts-Gymnasium. Lewins Eltern hatten keinen Textilladen, vielmehr einen Gemischtwa­ renladen und etwas Landwirtschaft; gleich Freuds Eltern der jüdischen Mittelschicht zuge­ hörig. beteiligte sich Lewins Familie an der Westwanderung in die gro~n Städte, deren Modernität und Liberalität Bildung, Aufstieg und Wohlstand versprach- sowie soziale Emanzipation insbesondere für diejenigen Familien, welche wie die Freuds und Lewins zur Assimilation an die christlich erzogene Bevölkerung bereit waren (zu dieser und den folgen­ den Charak:terisierungen s. Volkov, 1991; speziell zur Haltung Lewins und seiner Eltern zur jüdischen Tradition s. Lück, dieser Band). Die beiden Fälle Freud und Lewin stehen wohl für viele in Mitteleuropa um die Jahrhundertwetide. Der Lebensweg Lewins ist von Anfang an unverkennbar geprägt von den gesellschaftlichen Bedingungen der Region und der Epoche, in die er geboren wurde.
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Sein Leben soll -wie der weitere Vergleich von Freud und Lewin beispielhaft belegen - epochal- und regionaltypisch bleiben. Es sind neben der Wirtschaft und der Kultur die Wissenschaften, die in jener Zeit Bildungs- und Aufstiegschancen sowie Zuginge zu nützlichen und geachteten Berufen eröffneten und zugleich intellektuelle Herausforderungen boten. Kein Wunder, dafl die Neubürger in den Metropolen die Universitäten aufsuchten, auch wenn die Reste der Diskrimination ihnen noch zumeist die Übernahme von höheren Lehrämtern verwehrten. Lewin näherte sich der akademischen Welt zunächst wie Freud über die Medizin; anders als bei Freud blieb die Medizin nicht sein Metier. Dafl Lewin und Freud das Psychische zu ihrem zentralen Gegenstand machten, mag eine Koinzidenz sein, die sich aus dem Lebensschicksal nicht ableiten liflt. Aber aus ihrer Lebensgeschichte dürf­ ten drei Grundzüge ihres Werkes hervorgehen: Qer Hang zur Grundsitzlichkeit, der Drang zur Erneuerung und die Neigung zur komprehensiv~·n,lirelchs- und disziplinübergreifenden Betrachtung. Diese drei Züge finden sich wohl nicht zutällig im Werk zweier Autoren, die aus mitteistindischem und traditionellem Denken herkommend einen Platz in der sich neu formierenden, aufklärerisch gesonnenen und naturwissenschaftlich orientierten Wissenschaft anstreben. Anzunehmen, ihre Herkunft habe ihnen in der neuen Welt Minderwertigkeitsge­ fühle bereitet, die ihnen Befriedigung nur bei höchsten Ansprüchen gestattet habe, hiejk, sich ohne Belege einem verbreiteten Erklärungsschema anzuvertrauen. Aber das Bewuflt­ sein, aus Provinz, Traditionalismus und Diskrimination zur intellektuellen Avantgarde gestopen zu sein, gepaart mit der Erfahrung von immer noch hemmenden Vorurteilen, mag ungewöhnliche Ambitionen und Energien freigesetzt haben. Nichts geringeres verlangen sie von sich selbst, nichts geringeres soll ihnen Anerkennung sichern als die Entdeckung neuer, universell gültiger Prinzipien. So entwickelt Lewin, was Totman (1948) in seinem Nachruf als "inlellectlllll keenness and origitullity, courage and ust" charakterisiert - Eigenschaften, die man sicher auch Freud zuschreiben kann.
Schliej31ich wird die bittere Erfahrung der Emigration zur epochen- und regionalty­ pischen Gemeinsamkeit. Freud wandert nach England aus, Lewin in die Vereinigten Staaten. Aber hier macht sich der Generationenunterschied bemerkbar. Freud hat bereits sein acht­ zigstes Jahr überschritten, als er 1938 ÖSterreich verläj3t. Er ist bereits unheilbar krank und steht am Ende seiner wissenschaftlichen Lautbahn. Lewin befindet sich, als er 1933 aus Deutschland auswandert, noch in den besten Mannesjahren, setzt in den Vereinigten Staaten seine Karriere fort, im neuem Wirkungskreis mit neuen Ideen. Bis zum Schluj3 also ein Leben, in dem sich die Zeitläufe - die förderlichen wie die widrigen - nachhaltig wider­ spiegeln.
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Lebensstadien und Arbeitsperioden
Die Eckdaten aus Lewins Biographie sind bekannt und gesichen. Einen knappen Überblick über Leben und Werk geben Metzger (1979) und Graumann (1981). Lewins Leben und Werk ist allerdingc; bisher nur eine einzige umfangreiche Monographie gewidmet worden; sie stammt von seinem Schüler Alfred J. Marrow und ist im Jahre 1969 erstmals erschienen. Freilich ist gerade die grofJe Biographie aus der Perspektive des Schülerkreises vom Mas­ sachusetts Institute of Technology verf~t; dies ist sicher eine wichtige, aber nicht die einzi­ ge anzulegende Perspektive. Au~rdem ist die Forschung über Lewin fongeschritten; es gibt neue Berichte (u.a. Bierbrauer, 1983; Heider, 1983; Patnoe, 1988) und neue Dokumente. Vor allem sichern Forschungen zur Psychologiegeschichte Kenntnisse über das politische und soziale Umfeld Lewins, die bereits verloren waren oder verloren zu gehen drohten. Mit dem Zuwachs an Wissen ergeben sich neue lnterpretationsansätze. Der Anteil der Theorie an der Biographie wächst. Der vorliegende Band gibt einen lebendigen Eindruck von den gegenwänigen Bemühungen, die Kenntnisse über Lewin zu vermehren und den theoreti­ schen Zugang zu seiner Persönlichkeit sowie seiner Arbeit zu veniefen und zu verbreitern.
Gut dokumentien ist auch Lewins Arbeit. Er und seine Schüler haben flei~ig publizien. Die deutsche Ausgabe von Lewins (1963) Feldtheorie in den Sozialwissenschaf­ ten enthält ein Schriftenverzeichnis. Die Publikationen und einige unveröffentlichte Schrif­ ten von Lewin und seinen amerikanischen Mitarbeitern sind bei Marrow (1969) zusammen­ gestellt. Im übrigen ist der Nachlap bei der Familie Lewin erhalten. Seit 1981 erscheint­ betreut von Cari-Friedrich Graumann als Hauptherausgeber - in deutscher Sprache eine auf Vollständigkeit bedachte Kun-Lewin-Werkausgabe (im folgenden abgekürzt als KLW), die auch bisher unveröffentlichte Manuskripte enthält.
Fajlt man die Kindheit in Posen bis 1903 und die Schul- und Jugendzeit in Charlot­ tenburg bis zur Reifeprüfung 1909 zum ersten Stadium von gut 18 Lebensjahren zusammen, so bildet die Zeit vom 19. bis zum beginnenden 30. Jahr, in dem er sein erstes Habilitations­ gesuch einreichte, das zweite Lebensstadium. Aber wie kontrastreich gestaltete sich dieses zweite Stadium, das den Übergang von der Schule zum Beruf als Wissenschaftler vermittel­ te! Lewin war in diesem zweiten Stadium Student, wurde junger Wissenschaftler. Aber noch bevor die Promotion abgeschlossen war, meldete sich Lew in als Kriegsfreiwilliger, kam als Feldanillerist an die Front nach Frankreich und Rujlland, wurde im April 1918 zum Leut­ nant der Reserve beförden und im August 1918 - wenige Wochen vor Kriegsende - schwer verwundet.
Das Studium begann mit drei Semestern Medizin, dem neun Semester Philosophie folgten. Lewin schrieb sich zunächst für je ein Semester an den Universitäten von Freiburg i.Br. und München ein; dann kehne er wieder nach Berlin zurück. Als seine akademischen Lehrer nannte er u.a. Abderhalden, Cassirer, E~ma.n.!l ..... ßl~~e.!!? Riehl und Stumpf. (Diese und andere biographische .Ängä~lür "c:iie-~il bis 1919 stamme~-;~~ <Jeißiiändgeschriebe-
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nen Lebenslauf Lewins aus dem Archiv der Humboldt-Universitit Berlin. den er seinem ersten Habilitationsgesuch beilegte; für die Überlassung einer Kopie habe ich Dr. Horst­ Petee Brauns zu danken.) Am Psychologischen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität arbeitete er zwei Jahre lang bis Ostern an seiner Dissertation über Die psychische Tiltigkeit bei der Hemmung von Wil/ensvorgi.lngen und das Grundgesetz der Assoziation (gedruckt Lewin, 1917b).legte noch kuiZ nach Kriegsbeginn im September 1914 seine Doktorprüfung ab; förmlich promoviert wurde er jedoch erst im Dezember 1916. Sein Frontdienst wechsel­ te mit wissenschaftlicher Arbeit ab; er arbeitete an Schallme~apparaturen und an einem Eignungstest für Funker. Bekannt geworden ist aus dieser Zeit jedoch mehr sein 1917( c) gedruckter Aufsatz Kriegslondschoft. der als eine der ersten ökopsychologischen Analysen gilt. Erst Ende April 1919 konnte er aus dem Lazarett entlassen werden. Dort schon hatte er seine als Habilitationsschrift gedachte Studie mit dem Titel Der Typus tkr genetischen Reihen in Physik, organismischer Biologie und Entwicklungsgeschichte begonnen; er brach­ te sie zum Ende 1919 zu einem Abschlup, am 9. Januar 1920 unterzeichnete der Dekan die Habilitationsanmeldung.
Der erste Habilitationsversuch scheiterte am Desinteresse der Gutachter an der Habilitationsschrift; die Einzelheiten des gescheiterten Verfahrens hat Metraux (1983) rekonstruiert. ln der Tat handelt es sich um eine wissenschaftstheoretische Abhandlung. die fächerübergreifend angelegt das Interesse einzelner Fachvertreter leicht verfehlen kann; die Psychologie ist darin übrigens gar nicht berücksichtigt. Andererseits handelt es sich um ein zentrales Werk in Lewins frühen Bemühungen um eine allgemeine Wissenschaftslehre. ln diesem Band legt Alfred Lang ein leidenschaftliches Bekenntnis zu der Geneseschrift ab; gerade weil Psychologie darin fehle, fordere sie den Psychologen zur Bestimmung des Gegenstands seines Faches heraus. Der Mi~erfolg des ersten Habilitationsvorhabens war schnell überwunden. Die Schrift selbst erschien 1922 in aufwendigem Druck bei dem renommierten Verlag Springer; die Berliner Philosophische Fakultät erteilte die venia /egendi aufgrund einer experimentalpsychologischen Arbeit und eines gedichtDispsycholo­ gischen Vortrags Ende 1920.
Bezüglich des zweiten hier definierten Lebensstadiums sind vier Punkte hervoiZu­ heben: (1) Lewin gelang es bis zum Ende seines drei~igsten Lebensjahres. sich als Wissen­ schaftler mit aussichtsreicher Berufsperspektive zu qualifizieren. (2) Seine wissenschaftliche Orientierung ist transdisziplinär. was Alexandre Metraux in diesem Band noch ausführlicher analysieren wird. (3) Im Mittelpunkt Lewinsehen Denkens stehen früh methodologische Probleme - ein Punkt. dem sich in diesem Band Lothar Sprung und Uwe Linke noch einge­ hender widmen werden. ( 4) Sein Fortkommen in der akademischen Gesellschaft verdankt Lewin vorwiegend seinen psychologischen Beiträgen.
Bin drittes gro~ Stadium in Lewins Leben erstreckt sich von 1921 bis 1933. Br übernahm eine Assistentenstelle in der von Hans Rupp geleiteten ARgewandten Abteilung am Berliner Psychologischen Institut. von der aus er eine eigene Arbeitsgruppe zur Willens-
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psychologie aulbaute. 192? -~~~-~_!!~~olule beamtet Z\1 we*n, zum_aujlerordeotli­ chen Professor der PhiiOS()p~ie_ und Psyc~logie ~r~~_am~t _Die Möglichkeiten für eine aus­ wärtige Berufung waren wegen Lewins jüdischer Herkunft stark eingeschränkt, seine Zugehörigkeit zur akademischen Gesellschaft jedoch gesichert. In diesem dritten Stadium entfaltete sich eine !ebhafte Aktivität, in der die folgenden Leistungen hervorzuheben sind: (1) Forschungen zur Arbeitspsychologie, wie sie fiir ein Mitglied einerAngewandten Abtei­ lung angemessen sind - Eberhard Ulich wird sie in diesem Band noch würdigen. (2) Ein eigenes Experimentalprogramm zur Willens-, Affekt- und Mandlunppsychologie - Horst­ Peter Brauns wird in diesem Band seine Entwicklung rekonstruieren. (3) Im Rahmen von _, (2) Ansitze zu einer eigenständigen Persönlichkeits- und Entwicldungspsychologie. ( 4) Die Fortsetzung der methodologischen Arbeiten, die sich nunmehr zunehmend auf die Psycho­ logie konzentrieren. (5) In Zusammenhang mit (2), (3) und (4) ein eigener Darstellungs- und Analyseansatz, die Topologische Psychologie.
Lewins Berliner Vorlesungen und Seminare sind dokumentiert (vgl. Metraux, dieser Band), über seinen Erfolg als Dozent hört man wenig. Gern berichtet wird jedoch über seinen lebhaften und inspirierenden Umgang mit Doktoranden (Marrow, 1969). Wie seine (möglicherweise aus der Erfahrung eigener Diskriminierung genihrte) Aufgeschlos­ senheit den Studierenden zugute kam, davon gibt in diesem Band Helga Sprungs Kapitel über seine Schülerinnen einen Eindruck. Aufgeschlossen ist Lew in überhaupt für die Modeme - in der Politik, der Kunst, der Wissenschaft; freilich wäre es auch falsch, ihn unbesehen als Verfechter aktueller Fortschrittslehren darzustellen. So zeichnet Mel van Elleren in dem hier folgenden Beitrag über Lewins sozialpolitische Orientierung diesen als Uberalen mit durchaus konservativen Zügen. Lewin lieji fiir seine Familie in Berlin-Niko­ lassee ein Wohnhaus im Bauhausstil errichten und einrichten, er drehte Filme und interes­ sierte sich fiir Filmästhetik. So erschloji er sich ein künstlerisches Umfeld. Seine Beziehung zu dem russischen Filmregisseur Eisenstein und dessen Bindung an die Psychologie, wie sie in diesem Band Oksana Bulgalwwo beschreibt, ist nicht nur ein anschauliches Beispiel für die Vertlechtung von Wissenschaft und Kunst im Berlin der Zwanzigerjahre; die Episode verweist auch auf das lebhaft schweifende Interesse Lewins für neue Erfahrungsbereiche und anregende Persönlichkeiten.
Schon in seinem zweiten Stadium _!!Jtte sich Lew in im intellektuellen Kraftfeld der Berliner Philosophischen Fakultät bewegt. IlD seinem dritten Berliner Stadium setzte er sich
mit.-~~r._neu propagierten Gestalttheorie auSern3Jt~~r •. fa~J~~ir~_in. W~lfg!i~i!(~~!~.r einen stimüiieieiiden; freilieb ·auch.recliiicrm&chen (s. ~ack, in diesem Band) Gesprächs­ panne!. Di~--Frage wird ltnmer driöglicnir'gesieilt; ~i~-weit Lewin in seiner Suche nach Erkenntnissen über die in der Philosophischen Fakultät gesetzten Grenzen hinausgegangen ist. Insbesondere stellt sich die Frage nach Lewins Offenheit zur Psychoanalyse, von der berichtet wird, sie sei am Berliner Psychologischen Institut ein Tabuthema gewesen (s. Bulgakowa, dieser Band), obgleich auch in Berlin seit 1920 aujierhalb der Universität eine
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Psychoanalytische Poliklinik die Lehre Freuds pflegte (Jones, 1962, S.3S). Tatsache scheint zu sein, da~ Lewin Freud nie begegnet ist; es fehlen auch Berichte über einen Besuch von psychoanalytischen Veranstaltungen. Doch mit Schriften Freuds dürfte Lewin durchaus vertraut gewesen sein (s. Brauns, dieser Band; Lück & Rechtien, 1989).
Als die internationale Anerkennung beginnt, nähert sich die Berliner Zeit ihrem Ende. 1929 erhielt Lewin eine Einladung zum Internationalen Kongre~ für Psychologie nach Yale und nahm 1932 eine sechsmonatige Gastprofessur an der Stanford University wahr. Über Japan und Ru~land ging die Reise zurück nach Deutschland. Das war im Januar 1933, und Deutschland befand sich auf dem Weg in den Faschismus. Das Berufsverbot tnr Bürger jüdischer Herkunft war abzusehen, weitere Boykottma~nahmen kündigten sich an. Der in Lewins Nachla~ gefundene Brief an Köhler vom 20. Mai 1933 (Lewin, 1981) be­ weist seine überaus starke Bindung an Deutschland; " ••• ~sich trotz allen Vernunftgründen alles in mir dagegen aufbäumt, Deutschland zu verlassen", bekennt er darin. Er macht noch Eingaben an das Ministerium, um als Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges seine Stellung an der Berliner Universität behalten zu können - ohne Erfolg. So entschlo~ er sich zur Emigration. Robert Ogden, ehemals Student bei Oswald Külpe in Würzburg (Watson, 1963, S.270) und damals Dekan an der Comell University, lud ihn an seine Universität ein, wo er ab Herbst 1933 lehrte. Die vierte Periode Lewins hatte damit angefangen, die Periode der Etablierung in den Vereinigten Staaten.
Die Periode der Etablierung in den Vereinigten Staaten sei hier auf rund ein Jahr­ zehnt von 1933 bis 1944 festgesetzt. Sie umfa~t die Tätigkeit an der Cornell University in Ithaka im Staate New York bis 1935 sowie die Arbeit an der Iowa State University von 1935-1944. Es sei hier die Auffassung gewagt, da~ in dieser vierten Periode Lewin zu einer neuen persönlichen und wissenschaftlichen Identität fand: In persönlicher Hinsicht als Amerikaner und Jude, als Gruppendynamiker und Aktionsforscher in wissenschaftlicher Hinsicht. Mit dieser doppelten Identität - so sei weiter angenommen - eröffnete sich ihm 1944 ein fünftes Lebensstadium, als er am angesehenen MassachusetiS Institute ofTechno­ logy (MIT) in Cambridge, Massachusetts, das Forschungszentrum für Gruppendynamik leitete. Dieses fünfte Stadium wies eine erhebliche Eigenständigkeil auf und versprach noch beachtliche neue Entdeckungen und Enlwicldungen. Aber schon nach knapp dreijähriger Dauer brach es jäh ab, als Lewin am 12. Februar 1947 einem Herzschlag zum Opfer fiel.
Zu Beginn des vierten Stadiums war Lewin durchaus noch nicht zum endgültigen Verbleib in den Vereinigten Staaten entschlossen. Offenbar bemühte er sich ernsthaft um eine Fortsetzung seiner Tätigkeit im damaligen Palästina, an der Universität von Jerusalem. Hierzu, und warum es wohl zu einer Berufung nach Jerusalem nicht gekommen ist, wei~ Helmut E. LUck in diesem Band anband von Dokumenten aufschlu~reich zu berichten. Obwohl die Pläne einer Übersiedlung nach Palästina nicht verwirklicht wurden, zeigen sie doch, da~ sein Emigrantenschicksal in Lewin das Bewu~tsein seiner jüdischen Herkunft stärkt. Dieser Proze~ hat sich später zweifellos fortgesetzt, als die Vernichtung jüdischen
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Lebens zum erklärten Ziel der deutschen Regierung wurde und Lewins eigene Mutter in einem Konzentrationslager den Tod erlitt. So wurde jüdische Identität für ihn nicht nur ein neues Thema (s. Lewin, 1940/1948), sondern auch eine neue Erfahrung. Für das Erleben einer solchen Identität bedurfte es gar nicht der Auswanderung in einen eigenen Judenstaat; die Vereinigten Staaten als multikulturelles Gebilde mit mächtigen jüdischen Organisatio­ nen gestatteten, sich zugleich als Amerikaner und als Jude zu fühlen • mit weniger Kontlik· ten als selbst noch das liberale Deutschland, das auf Assimilation im Namen des Fortschritts drängte. Lewin hörte also auf, ein Deutscher unter Assimilationsdruck zu sein. Er wurde im Januar 1940 amerikanischer Staatsbürger in der Gewi~heit, sich frei zur jüdischen Gemein­ schaft bekennen zu können.
Gleichzeitig entfernte er sich immer stärker von der akademisch organisierten Psychologie, ja überhaupt von den akademischen Gemeinden der Philosophen und Psycho­ logen, denen er bisher angehört hatte. Weder an der Cornell University in lthaka, noch an der lowa State University, noch am MIT fand er jene geballte philosophische Gelehrsamkeit vor, die ihn seit seinen Studienjahren umgeben hatte. Mitglied eines Psychologischen lnsti· tuts ist er nie wieder geworden. In lthaka lehrte und forschte er an der School of Home Economics sowie an der Nursery School, in Iowa an der Child Welfare Research Station; in Cambridge wurde ein eigens auf ihn zugeschnittenes Research Center for Group Dynamics gegründet. An den beiden erstgenannten Stellen gab es Psychologische Institute, die Lewin jedoch nicht kooptierten; in Cambridge war die Psychologie als eigene Fachrichtung gar nicht vertreten. Hierzu mehr von Mitchell G. Ash und Kurt Back in diesem Band.
Seiner Einordnung folgend vertiefte sich ~~i~ ~~c;IJst. in die Kinderpsychologie. Gleichzeitig wandte er sich stärker praktisch bedeutsa;..en Frage~·m: Das zeiSt sich gl~ich in It.~~ wo er E~gewohnheiten bei Kindern und deren Änderung untersucht (Lewin, 1943). Von der ~~~~.Y.C.I_lologie ist es dann nur ein kurzer Schritt zur Psychologie der _9nlppe... wenn d~~laJ~n_f~-~~n. unter de~ll.l9:~r~uf\v.a~!ls~:':l_,Jn den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Eine Schlüsselstellung bei diesem Übergang kam wohl Lewins Studie
····-····-·-··~ mit Ronald Upp1tt über die <~:emo!cia~!~~ l,l~_!'[email protected]!IP~~-rc..ID-!(i~erB.n.J.P~~zu (Lewin & Uppitt, 1938). Lewin sah sich offenbar nicht in der ja durchaus vorhandenen sozialpsychologischen Tradition, sondern reklamierte für sich und seine Schüler ein eigenes Fachgebiet: ~G.J11~ndx..n!lmik. (Diese intendierte Eigenständigkeil begründet Back später in diesem Band noch ausführlicher. Wie weit Lewinsich damit freilich in eine damals auflebende Tradition der amerikanischen Soziologie begibt, wird van Biteren später in diesem Band diskutieren.) Für ti.~ .. Q..IYJ!PCndYNßlik ko~~-~~n wiederum eine Ieistungs· fähige 5.<l~l!~nger F~~~~-~_g~i~'C:!11 .... die mit ihm den neuen Ansatz vervollkommnen wollten. Zu ihnen gehörten u.a. Kurt Back, Alex Bavelas, Dorwin Cartwright, Morton Deutsch, John French, Harold Kelley, Albert Pepitone, Stanley Schachter, John Thibaut und vor allem Leon Festingc:_~c:r nach Lewin einen überragenden Einflu~ auf die Sozialpsycho· logie ausüben sollte. So hatte Lewin eine eigene Forschungsgruppe gebildet und ein eigenes
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WolffOIIB SchiJttpflug
Forschungsgebiet entwickelt, als er in Cambridge seinen letzten Neubeginn wagte. Der Neubeginn führte ihn zunichst heraus aus der institutionalisierten Psychologie in eine - wie Back (dieser Band) berichtet· randständige Stellung. Doch als die Erfolge der Gruppendy­ namik offenbar wurden, holte die akademische Psychologie Lew in als Begründer der modernen Sozialpsychologie wieder in ihre Reihen zurück; das war freilich erst nach Lewins Tod. Oder waren es die Schüler Lewins, die des Sonderwegs der Gruppendynamik überdrüssig geworden waren und diese wahlweise in die etablierteren Flicher Psychologie und Soziologie einbrachten?
Die gruppe~~ik hatte im Labor begonnen, zielte aber von Anfang an auf das Anwendungsf~klSChliejJtlch überwogen die Studien im Feld. Bei der Auswahl von Plätzen, Stichproben und Fragestellungen liejJ sich Lewin vom aktuellen Problemdruck leiten. Dem Problemdruck wären freilieb folgenlose Analysen nicht angemessen gewesen, und so ging die Untersuchung über in eine Handlungsforschung, die anband von Modellfällen praktische Ulsungen zu verwirklichen trachtete. Das Amerika, das Lewins neue Heimat geworden war, hatte sich dem Streben nach Glück verschrieben, war ein Hort der Menschenrechte und de! Demokratie. Aber es steckte auch voll von Armut, Diskriminierung und Gewalt. Lew in und seine Mitarbeiter beschäftigten sich mit dem Zusammenwohnen von Schwarzen und i · WeilJen in der gleichen Siedlung, mit Widerständen gegen die Beschäftigung von Schwar­ zen, mit jugendlichen Banden, Umstellungsproblemen in der Industrie • das sind nur einige der in Angriff genommenen Projekte. Unter den Minderheitenproblemen spielten die jüdi­ schen Probleme eine besondere Rolle: Wie verhindert man Übergriffe auf jüdische Gemein· den? Wie erzieht man jüdische Kinder? Die Einsicht, dajJ die Artikulation und Lösung sozialer Probleme am besten von den Betroffenen selbst zu leisten ist, führte zur Entwick­ lung des letzten Lewin zuzuschreibenden Beitrags, dem Sensibilisierungstraining in Grup­ pen.
Die akademische Psychologie und die Universität als Institution hat also Lewin in Amerika wenig eingebunden, gefordert und gefördert. Umso mehr nahmen ihn die sozialen Probleme im Umfeld gefangen. Bestärkt wurde er in seinem Praxisbezug durch Stiftungen und Verbinde, die sich der Besserung gesellschaftlicher Verhältnisse verschrieben hatten und deren Unterstützung Lewin suchte. In Amerika hat Lewin die "Drittmittelforschung" entdeckt, und er legte • verglichen mit anderen europiischen Emigranten • einen ungewöhn­ lichen Eifer im Einwerben von Forschungsauftrigen an den Tag. Unter seinen Förderem befanden sich die Field Foundation, die dem KongrejJ Amerikanischer Juden verbundene Commission on Community lnterrelotions, Industrieunternehmen und wohl noch viele andere. Lewin wandelte sich zum Unternehmer. Seine Projekte der Handlungsforschung entsprangen sicherlich seinen eigenen wissenschaftlichen Interessen; aber sie e~tsprachen auch den Anforderungen eines Marktes an praktischen Erkenntnissen und wissenschaftlich gestützten Dienstleistungen.
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Lewins Pläne erstreckten sich- folgt man seinem Biographen Marrow {1969)- auf eine noch stärkere lnstitutionalisierung seiner bzw. der von ihm favorisierten Forschunp­ bemühungen. Von einer internationalen jüdischen Forschunpstiftung ist da die Rede, einem Sozialforschungsprogramm zur Rehabilitierung europlischer Juden. Marrows Schilderung ist auch zu entnehmen, daji seine verantwortunpvollen Projekte, die vielseitigen Kontakte und weitreichenden Pläne Lewins Gesundheit belasteten und einem frühen Tod den Weg bereiteten.
GenialiJIJt der Anpassung?
Ohne Anpassung an seine Umwelt vollzieht sich auch das schöpferischste Leben nicht. Doch gewinnt man beim Betrachten der Biographie Lewins den Eindruck einer besonders intensiven Angeregtheil durch das Umfeld; ja man wird diesem Wissenschaftler geradezu bescheinigen wollen, fiir ~..&Y!l&e!l_ a~~~l!\..l.!mfdd eine .bel!!_e!.k~...m~ .. E.mp.tind3.!!m­ keitbese.~~ und seine Oris!!!~.~!!.!!~Hci.i~!:r.~mP.!iJlc!$.lQJ.~eU . .&~c.böpfJ ~ ~~~1). Es sei versucht, dies an einigen Punkten zu belegen.
Der erste Punkt sei das Erlebnis des Ersten Weltkriep. Lewin wird die herrschende nationale Stimmung nicht fremd gewesen sein, als er sich als. Freiwilliger..zum Militär meldete. Die idealistischen Analysen des Krie~ienstes, die u.a. sein Lehrer Max Dessoir im Jahre 1916 drucken lieji, rezensierte er ohne Widerspruch (Lew in, 1917a). Er selbst nahm seine Krieperlebnisse zum Anlaji für eine Analyse des psychologischen Raumes, erschienen unter dem Titel "Kriegslandschaft". Wie immer er seine Dienst- und Kampfer­ fahrungen persönlich erlebt und bewertet hat, er schloji sich der akademisch-distanzierten Betrachtunpeise der sich zu Worte meldenden Wissenschaftler an (allein der 12. Band der ZeitschriftfUrangewandte Psychologie von 1917 rezensierte fünf derartige, neu erschienene Schriften zum Krieg). Und das von ihm gewählte Thema des psychologischen Raumes war esoterisch, vergleicht man es mit der expressiven Schilderung der Entbehrungen und Leiden des Frontsoldaten, überhaupt der Brutalität des Krieges in Erich Maria Remarques allerdings erst 1929 erschienenen Roman Im Westen nichts News. Sozialkritisch war die Kriegsif!nd· Ii:~
schal!. keinesfalls, und doch bildete sie • und das macht sie zu einem originellen Beitrag - den Au!Bans.munkt .Yon 1:..e:wJ~.m.e.t119<Ic:>logisch~tum~f. . .F.~!dllle~uie._, _ ..
Die Kriegslandschaft stellt sich als subjektiver Raum dar. "Da den Infanteristen in manchen Fällen andere Landschaftsgebilde begegnen mögen, sei erwähnt, daji ich Feldartil· lerist bin"- betont der Autor ausdrücklich (Lewin, 1917c, S. 441). Der subjektive Raum ist ein ganzheitliches, gleichwohl gegliedertes Gebilde; Zonen, Grenzen und Richtungen sind !~
darin auszumachen. Die besondere Kriepsituation bestimme Charaktere • so nehme etwa ~ · · ein Laufgraben Gefechtscharakter an. Solche Charaktere bestimmten Gesinnungen und .~ Handlungen - so könnten bürgerliche Gebrauchsgegenstände wie Möbel, nachdem sie · · Kriegscharakter angenommen hätten, ohne Reue angesteckt werden. Wechsel von Eindrük-
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ken ergAben sich durch Bewegungen im Feld - etwa beim Nachrücken gegenüber dem ··-zurückweichenden Gegner. Hier vollzieht sich offenbar- wie schon Heider (1959) meint -
der erste Entwurf eines topologischen Vokabulars mit Begriffen wie "Lebensraum", "Regi­ on", "Grenze", "Lokomotion", "Aufforderunpcharaltter" und "Vektor". Dies also ein erstes Beispiel, wie Lewinsich von seinem Umfeld zu eigener Kreativität inspirieren lä~t, und die Vennutung ist nicht weit hergeholt, der Topologe Lewin sei aus dem Feldartilleristen Lewin hervorgegangen. (Auf die obigen Zusammenhänge hat mich zunächst Horst-Peter Brauns [s.a. seinen Beitrag zu diesem Band] hingewiesen.)
Nachhaltig lie~ sich der junge Lewin auch vom genius loci seiner Berliner Univer­ sität beeinflussen. In seinem umfangreichen wissenschaftstheoretischen Werk, seinem Bemühen um eine Wissenschaftslehre eiferte er unverkennbar Ernst ~irer nach, dem er erstmals 1910 als Privatdozenten begegnet ist (Lewin,1949/1981). Cassirers damals gerade erschienene Monographie SubsttJ~&r.iJI..f!!'d fliiÜci~/Je..~~i/f .. ~at Lewin nicht nur tief beeindruckt, sondern auch zur Nachahmung und Fortsetzung angeregt. Ohne dieses Vorbild wäre wohl weder sein ~griff der Genese noch wären die späteren wissenschaftstheoreti­ schen Schriften wie Der obergäng von 'der aristotelischen zur galileischen Denleweise ent­ standen. Freilich war diese Anpassung aß sein Umfeld für t..eWins""Käifiere· zuniciiSt wenig förderlich. Der Dozent, der sein Vorbild war, konnte im ersten, im gescheiterten Habilitati­ onsverfahren nicht sein Mentor sein. Hätte Lewins Schrift zum Begriff der Genese auch zurückgezogen werden müssen, wenn Cassirer Ende 1919 noch in Berlin gelehrt hätte, wenn er gar Sitz und Stimme in der Berliner Philosophischen Fakultät besessen hätte? Eine reiz­ volle Frage. Doch die Wirklichkeit ist ihr zuvorgekommen: Ernst Cassirer war als Privatdo­ zent nie Mitglied der Berliner Philosophischen Fakultät, und er wurde kurz vor Lewins erstem Habilitationsantrag 1919 nach Harnburg berufen.
Unbestreitbar erfolgreich waren Lewins theoretische und experimentelle Auseinan­ dersetzungen mit der Assoziationspsychologie von Narzi~ Ach. Auch zu Ach führten bio­ graphische Spuren. Ach lehrte im Jahre 1906 als au~erordentlicher Professor in Berlin, bevor er 1907 als ordentlicher Professor nach Königsberg berufen wurde (Düker, 1966). Damals hatte er gerade seine Schrift Die Willenstilliglreit und d4s Denken (Ach, 1905) veröf­ fentlicht und war wohl dabei, die Monographie Über den Willensakt und d4s Temperament (Ach, 1910) für den Druck vorzubereiten. In der kurzen Zeit von Achs Lehrtätigkeit in Berlin war Lewin noch Gymnasiast, als Student mag er jedoch Narzi~ Ach während seines Besuchs zum 5. Kongre~ für experimentelle Psychologie im Jahre 1912 persönlich begegnet sein (vgl. Ach, 1912). Zur Beachtung von Narzifi Ach trugen vermutlich auch die ver­ gleichsweise engen Beziehungen zwischen dem Berliner und dem Göttinger Institut bei, das unter der Leitung von Georg Elias Müller stand; so war Müller Vorsitzender der Gesell­ schaft für experimentelle Psychologie, als Stumpf deren Kongre~ in Berlin ausrichtete. In Göttingen bei Müller hatte Ach bereits habilitiert; Köhler übernahm später, bevor er Stumpfs Nachfolge in Berlin antrat, ein Extraordinariat in Göttingen. Bei allen diesen Ver-
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fkchtungen lag es wohl nahe, da~ Ober den Willensakt und das Temperament zu Lewins Studienzeit in Berlin als bedeutende ~lnüng·reilplett wurde. Und s0 iiiäg es wie­
derum eine Reaktion auf eine aktuelle Anregung gewesen sein, dafi sich.~!!!_: wie er in
seinem bereits oben zitierten Lebenslauf angibt- von Ostern 1912 bis Ostern 1914 kritisch
11lit.!l.en ~~n.Arbeiten Achs I!_USein~~JKfzle. Und die Studie, die da entstand (Lewin, 1917b), wurde keine schlichte epigonale Arbeit, sondern ein kiihner Gegenentwurf.
Horst-Peter Brauns wird spiter in diesem Band skizzieren, wie sich ~ d~.!J­
Anfängen das verzweigte E!C.J?C!riß!~Dt~ll!.!!l.l!l_~r Handlungs- und Affektf~rschung entwickelte. Damit wiederum schlofJ sich Lewin der von seinem Lehrer Carl Stumpf ge--pflegten experimentalpsychologischen Tradition an. Aber das sei hier ebenso wenig verfolgt
wie die schwierige Frage nach seillE!!) .l(vhältni§.e. der sich in Berlin entfa!_~nden Richtung
det..Gestalttheorie, wie sie Köhler und Wertheimer vertraten:- - --
F.;" sei ein~-zeitlicher ~ng gem~cht i~-die Zeit nach der Auswanderung. Es wurde oben bereits ausgefiihrt: Lewin entfernte sich in dieser Zeit von der akademischen
Psychologie, ja Oberhaupt einem theoriezentrierten Wissenschaftsbetrieb. Das Lösen prakti­
scher Probleme wurde sein Hauptanliegen, und er verschmähte dabei das spontane Handeln
nicht ("probieren wir's doch einmal" - sei sein Leitspruch gewesen, berichtet Kurt Back in
diesem Band). Was hat dieser Wandel mit dem in diesem Abschnitt behandelten Thema der
Beziehung Lewins zu seinem Umfeld zu tun? Nun, die Emigration versetzte Lewin aus
einem int~U~IgyeJl.JD9t.ivie(ten.UIId.Jw.f.QJu~la~n ausFrichteten Umfeld inei~ pragma­ tisch orle~-~t:f§, .. Es gab keinen Abderhalden, kei~~~ Geheimmt·st;;;pft;fnen.Kötiter als
unnifÜelbaren Gesprächspartner; kein Künstler Eisenstein (s. Bulgakowa, in diesem Band)
stattete ihm einen Besuch ab. Aber es g~~~~!l~ -~~--~U~~sch~. r~!>le~~- ~-~au!; in eige­ ner exist~!!~!~~!lng ~~~!e ~win ~r!ahren, was Diskrimierung, Gewalt und Diktätür
bec:Je~~i.en.l.&wig war: ~r~U~h:t.t't!i~~ ~ieme.empthid5am·gewol-den wie Die zuvor. Nach der Emigration wandelte mit sCiiieiii""Probleinbewu-~tsein auch der ihn
umgebende Personenkreis. Sicher, die Beziehung zu seinen alten Freunden, den Heiders,
blieb erhalten. Er sammelte auch wieder einen stattlichen Kreis von Schülern, Mitarbeitern
und gleichgesinnten Kollegen um sich. Die Berliner "Quasselstrippe" fand in dem "Hot Air Club" ihre Fortsetzung, die arrivierten Kollegen organisierten die Zusammenkünfte der
"Topology Group". Aber es gab einen neuen Typus von Bezugspersonen, denen sich Lewin
widmete: Die Funktionäre von Stiftungen und Verbänden, die Leiter von Betrieben, die Amtsträger in Kommunen, die Mittel fiir Forschungsprojekte zu verteilen hatten, aber diese
nur zugunsten der Ziele ihrer Institutionen auszugeben bereit waren. Lewin geriet in das
Dickicht öffentlicher und privater Vereinigungen, gesellschaftlicher und individueller Inter­
essen, struktureller und aktueller Nöte. Sein Bedürfnis, Hilfe zu gewähren, mischte sich
wohl ununterscheidbar mit seinem Bedürfnis nach Unterstützung fiir seine Person und seine
Mitarbeiter. Aus dem Theoretiker, der seine schämten Gedanken darauf verwendet hatte, in
einer eigenen Wissenschaftslehre den Disziplinen ihren Platz zuzuweisen (oder mindestens
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der Psychologie ihren Platz im Verbund der Disziplinen), wurde ein Wissenschaftsmanager, welcher für seine Gruppendynamik eine Nische im Forschunpmarkt zu schaffen trachtet.
Darf man es wagen, einen deutschen von einem amerikanischen Lewin zu trennen? Man mufl es wohl. Maflgebend für diese Trennung ist nicht so sehr der gewachsene Anteil der sozialpsychologischen Thematik in den Jahren von lowa und Cambridge. Vielleicht wäre ein solcher Zuwachs auch eingetreten, wenn Lewin in Europa geblieben wäre. Mögli­ cherweise war der Keim für eine solche Entwicklung bereits in den Berliner Motivationsex­ perimenten angelegt (Danziger, 1990, S.174f.). Aber der \Y~cl!Kl von .den. theore.üschen
GJ!I_~~a&e!.l .. zu ~.ll.ltt:~~~~~J). ~~~~9n~n!j_a~e umfängliche theoretische Vorldärungen ist ausschlaggebend. Und dieser Wechsel !!_~det wohl eine ausreichende Be~!!_dung. wenn man auf den durch die Emigration verursac.I!tcm .... W.ap~~J-des Umft:ldes,
.. dei ~mgdißde~ Ku~ verweist. ln.D;utschlaixl~ai es die vom ~~~~!D~_gepd.gt~ PhiJQ- 59..Phische Fakultät, eine~ den ßediirinissen-der ~!!Xis und den Themen der Aktualität abptitefiiteiiektuelle Gemeinschaft, die in de_~_!9.ii..11J!l&fundamc:nt;tl~r Fragen wetteiferte; hinzultäin für Lewi~ die ·~iäfp<)litische und kunstiistheti~)le Szene, in .der fu~damentale Ansätze ebenfalls willkommen waren. lnjedem Fall war der Intellektuelle deutscher Prove­ nienz eingebettet in eine Umgebung. in welcher der Diskurs die Methode der Bewährung war. A~ers in Amerika: Lewin traf dort auf eine pr~J!l.!tische Tradition, die Problemen --- ...... - ..... ----~~---... ·-··· ... -~- wegen ihrer gesellschaftlichen Aktualität hohe Aufmerksamkeit einräumte und jedem, der sich dieser Probleme tatkräftig annahm, eine Bewährungschance gab. Lewin machte sich diese Pragmatik mit ihren Konsequenzen zu eigen, und wiederum fügte er ihr seine eigene Produktivität hinzu, indem er Techniken wie das Gruppentraining entwarf und einsetzte.
Glaubte Lewin mit seiner pragmatischen Wende ein besonders guter Amerikaner zu werden? Ist er dadurch tatsächlich ein besonders guter Amerikaner geworden? Die Fragen sind zu stellen, weil notwendige Anpassung nicht selten in Überanpassung einmün­ det. Die Anpassungs- und Umstellungsleistung Lewins ist andererseits erstaunlich; dafl er als Emigrant in einer universitären Umgebung einem starken Anpassungsdruck ausgesetzt gewesen war, ist wohl nicht zu belegen. Jedenfalls war die oft aggressiv gescholtene ameri­ kanische Kultur zu den Intellektuellen, die in Colleges ihr Auskommen gefunden hatten, in der Regel sanft; sie zwang ihnen generell den Pragmatismus nicht auf. Lewins fachlicher Widerpart in lowa, der hochangesehene Kenneth W. Spence (z.B. 1956) war ein formalisti­ scher Modellbauer und Laborforscher, dessen Arbeit zur Ulsung gesellschaftlicher Proble­ me unmittelbar nichts beizutragen hatte. Wolfgang Köhler, der zwei Jahre nach Lewin das Schicksal der Emigration wählte und eine Professur in Swarthmore annahm, widmete sich dort in Fortsetzung seiner Berliner Forschungen dem ihm fundamental erscheinenden Problem der figuralen Nachwirkungen (Köhler, 1944), und die mächtige American Psycho­ logical Association ehrte ihn mit ihrer Präsidentschaft, wofür Lew in nie in Erwägung gezogen wurde. Ein äuflerer Zwang war es also nicht, der Lewin eine so entschiedene Zuwendung zur pragmatischen Seite seines neuen Umfelds abforderte. Es war eher eine
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Nachwirkungen
Knapp fünfzig Jahre nach seinem Tode ist Lewin immer noch ein Wissenschaftler, dessen Namen unter den Vertretern der Psychologie hervorsticht. Schon vielen Studenten ist er vertraut. Immer wieder trifft man auf Bewunderung für die Person Lewins und auf Verbun­ denheit mit seiner Lehre. Haben sich zunächst die Weggeflihrten Lewins für dessen Erbe verantwortlich gefühlt, so ist es inzwischen eine neue Generation von Psychologen, Pädago­ gen und Sozialwissenschaftlern, die sich auf ihn beruft. Lewin wird heute vor allem in Anspruch genommen (1) als früher Vertreter einer W~~~-~~heo_~~ in~~r~!!lb.JkL Psychologie, (2) als Initiator der modernen Motivationstheorie, (3) als Begründer der nicidemen Sozialpsychöiogie, (4)äi;-P;~nlich~tst~;'tik;; ~ie (S) alSHaiiafünp"TOr- sCher~ · · · · ·····P- ·- · · · · · .- ··· .. ·-~ ·· ·-·· --~ -· ~---~ · · ····· ·• ·
Es ist oben die These von den zwei Lewins vertreten worden, dem szientistischen und dem praxisorientierten, dem deutschen und dem amerikanischen. Diese Trennung geht wohl auch durch das Lager der heutigen Anhänger. ~~I!~-~~ zu bewahren- das bedeutet den einen, die Konzep~-der Le~-~~~-~e~ ~~~h~olog!e, ~er MOiivatio_nstheon~ und der . !<.>~~-~!-~-hochzuhalten, den anderen, sich mit wissenschaftlichem Engagement den Pro­ blemen dieser Welt entgegenzuwerfen und sich insbesondere der_f~ld- und 9n!PP.C?.~arbeit ~-~-~!'_!~Chr.~l~n. Betrachtet man die gröfkren Monographien, die sich ausdrücklich in die Nachfolge Lewins stellen (Heigi-Evers, 1979; Stivem &. Wheelan, 1986; Wheelan, Pepitone & Abt, 1991), so drängt sich der Eindruck auf, das zweite Lager sei das stärkere.
Die Ausbildung von unterschiedlichen wissenschaftlichen Gemeinschaften in der Nachfolge Lewins belegt noch einmal mittelbar die These vom "doppelten Lewin". Der historische Lewin bietet sich damit zweifach als Vorbild, zur Identifikation an. Jeder, der ihn als Modellwissenschaftler und Identifikationsfigur in Anspruch nehmen will, mag nach seinem eigenen Arbeitsschwerpunkt, seiner methodischen Ausrichtung und seiner regiona­ len Herkunft seine Wahl zwischen dem szientistischen und dem pragmatischen Lewin tref­ fen. Das historische Studium sollte sich dagegen nicht mit einer Auswahl von Ausschnitten aus Lewins Leben, von Facetten seiner Persönlichkeit und von Schwerpunkten seiner Arbeit zufrieden geben. Es sollte Leben, Persönlichkeit und Werk in seinem gesamten Entwick­ lungsverlauf rekonstruieren. Darin werden Wandlungen, innere Krisen und äufkre Hemm­ 'nisse festzustellen sein. Das historische Interesse wird nach der inneren Entfaltungslogik und den äufkren Umfeldwirkungen fragen, die diese Wandlungen hervorgebracht haben, es wird die Ursachen und Folgen von Krisen und Hemmnissen zu ermitteln vemuchen. Als Ergebnis des historischen Studiums kann durchaus eine Figur hervortreten, die zur Identifi­ kation einllidt. Eher sollte sich jedoch die Einsicht einstellen, welche Wege eine Wissen-
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schart und ein sie tragender Wissenschaftler unter den Bedingungen ihrer Epoche zurückge­ legt haben, wie weit der Endpunkt dieses Weges tatsächlich zum Ausgangspunkt einer neuen Generation von Wissenschaftlern geworden ist, wie weit der eingeschlagene Weg zu Ende gegangen ist und wie weit er noch einer Fortsetzung bedarf.
In dem Kapitel, das diesen Band abschlie~t, warnt Cari-Friedrich Graumann aufgrund eigener Uteraturrecherchen davor, den Eintlu~ Lewins zu überschätzen. Diese Warnung sollten vor allem die Verehrer Lewins nicht überhören. Aber gerade wenn sich die Spuren des Lewinsehen Werkes in der Fülle neuerer Forschungen verlieren sollten, ist die Psychologiegeschichtsforschung gefordert, sie zu sichern und jeweils neu zu bewenen. Und scblie~licb kann die Geschichtsforschung selbst Eintlu~ auf die Nachwirkung nehmen. Was und wieviel die gegenwlinige wissenschaftliebe Welt und nachfolgende Generationen aus Lewins Schicksal und dem von ihm hinterlassenen Werk lernen, das wird auch von der Kompetenz und dem Eifer abhängen, mit denen sich die historische Forschung mit ihm auseinandersetzt. Da erwanen uns vielleicht noch aufscblu~reiche Lektionen.
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28
Alemndre Mitraux
Wie jemand in die Rolle einer an akademischer Forschung beteiligten Person hineinwächst
(oder diese Rolle zielstrebig zu übernehmen sucht), und wie dieser Person eine bestimmte
Rolle zuerkannt (oder auch gegen deren Willen auferlegt) wird, das hängt weitgehend von
sozial verankerten Mechanismen ab, die dazu bestimmt sind, die Selbsterhaltung (oder
Selbstreproduktion) der Wissenschaften zu sichern. Aber diese Mechanismen sind zeitbe­
dingt. Zudem sind sie weder in allen akademischen Disziplinen gleich, noch determinieren
sie überall den dem Individuum belassenen Handlung~~- und Gestaltung~~Spielraum auf glei­
che Weise. Das macht sich beispielweise am Migrationsphänomen bemerkbar: der Übergang
von einer Disziplin in eine andere und der damit verbundene Rollentausch sind unter be­
stimmten Bedingungen verhältnismäf'ig leicht zu vollziehen (etwa von der Biologie in die
medizinische Grundlagenforschung), während dies unter anderen Bedingungen so gut wie
ausgeschlossen ist (wenn etwa ein Wechsel von der Geographie in die Kulturanthropologie
angestrebt wird). Verwandte Erkenntnisioteressen, ähnliche Methoden und teilweise über­
lappende Ausbildunpwege können die Migration zwischen Disziplinen fördern und die
möglicherweise dabei entstehenden individuellen Rollenkonflikte lindern. Doch selbst in­
haltliche und forschung~~Strategische Verwandtschaftsbeziehungen zwischen zwei oder
mehreren Disziplinen können in gewissen geschichtlichen Konstellationen die Migration
nicht einmal geringfügig erleichtern, wenn die sozialen, d.h. die forschunpexternen (juristi­
schen, administrativen, organisatorischen oder institutionellen) Mechanismen die Möglich­
keit einer neuen (zweiten, womöglich einer dritten) Rollenübernahme durch Migration verhindern.
Als ähnlich vielschichtig entpuppen sich die Zusammenhänge zwischen individuel­
ler Rollentindung und sozialen Zulassung~~- und Anerkennunpmechanismen in Disziplinen, die erst im Entstehen begriffen sind. Allerdings ist die Komplexität der Rollentindung dann primär darauf zurückzuführen, daf' die besagten sozialen Mechanismen, weil sie sich noch
nicht verfestigt haben, unübersichtliche Situationen schaffen, in denen sich das Individuum
ebensowenig zurechtfindet wie die noch diffuse Fachöffentlichkeit.
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Kurt Lewins akademischer Lautbahn bis 1933 unter dem Gesichtspunkt der individuellen Rollenfindung. Gefragt wird folglich,
wie sich Lewin zwischen seiner Studienzeit und dem Zeitpunkt der Beurlaubung durch den
nationalsozialistischen Obrigkeitsstaat nach der Machtübergabe an Hitler eine akademische Rolle in dem institutionell nur halbwep etablierten und durch Definitionsdefizite gekenn­ zeichneten Fach 'Psychologie' anzueignen versucht hat. Die Untersuchung einer individuel­
len Lautbahn bringt den Vorteil mit sich, die während dieser Karriere stattfindende Rollen-
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findung nicht als Exempel eines typischen, überindividuellen Musters (mit allden dabei in Kaufzunehmenden UnschArfen), sondern als Einzelfall konkret darstellen zu müssen. Deshalb erheben die nachstehenden Ausführungen keinen Anspruch auf Repräsentativitit (Lewins Lautbahn war übrigens im Vergleich zu der seiner Zeitgenossen in der Tat eher atypisch). Doch die Analyse dieser Lautbahn unter dem oben angegebenen Gesichtspunkt li~t sich nicht zuletzt auch als Korrektiv zu dem in der heutigen Psychologiegeschichts­ schreibung etwas voreilig propagierten Bild einer bereits während der Weimarer Republik in sich geschlossenen, autonomen und erwachsenen Psychologie verstehen.
Rollenülentifikotion und Multidisziplinoritllt
'Kein Gelehrter bitte in der Zeit vor der Französischen Revolution Ansto~ daran genommen,
1 wenn ein junger virtuoso in verschiedenen Zweigen der Wissenschaft und der Künste sich hätte betätigen wollen, um so seine Qualitäten unter Beweis zu stellen. Sofern einer das wissenschaftliche Handwerk ·das Experimentieren, das Beobachten, das logische Räsonnie· ren und technische Fingerfertigkeit, kurzum: sauberes Kopf- und Handarbeiten - tatsichlieh beherrschte, konnte er sich mühelos zugleich als Geometer, Astronom und Botaniker oder als Mediziner, Mathematiker und Experte für Luft- und Wasserpumpen verdient machen, ohne damit als merkwürdiger Vogel im Flug zwischen den Wissenschaftszweigen aufzufal. Jen. Konnte sich jemand in überschäumendem Erkenntnisdrang nicht schon selbst für ein bestimmtes Fach oder Forschungsgebiet (oder sogar für eine bestimmte Ficherkombination) entscheiden, so wurde die Entscheidung nicht von au~n durch die Institution erzwungen. Denn nicht die Identifikation mit einer fachspezifischen Rolle, sondern vielmehr die mit der Rolle des (möglichst enzyklopädischen) Gelehrten unabhängig von fachspezifischen Anfor· derungen wurde als notwendig erachtet und sozial honoriert. Rollenkonflikte blieben private Angelegenheiten. Die multidisziplinäre Beschlagenheit der meisten Gelehrten des 18. Jahrhunderts lä~t sich übrigens mühelos durch das Konsultieren der biographischen Register der Mitglieder der wissenschaftlichen Akademie in Paris, Berlin, London usw. nachprüfen.
Ganz anders stellt sich die Problematik der Affiliation über Rollenidentifikation unmittelbar nach der Gründerzeit der modernen Psychologie dar, der man seit Wundt auch das Zierwort 'neu' anhängte. (Diese Aussage bezieht sich also auf die Zeit zwischen 1910 und 1935 ·jeweils plus/minus 5.) Zwar hatte sich die Psychologie in einem ersten Schritt mit der Gründung eigener Laboratorien und Institute von anderen Disziplinen abgesetzt und damit eine gewisse Sichtbarkeit (zu diesem wissenschaftssoziologischen Begriffvgl. Merton 1973, S. 448-449 und S. 458) erlangt. Das galt besonders für die Psychologie im Deutschen Reich und in der Doppelmonarchie, doch bereits weniger ausgeprägt für die Psychologie in Frankreich, Italien, im zaristischen Ru~land und in anderen Undern des europäischen Kontinents. (Von der Entwicklung der Psychologie in den USA und in Kanada wird aller­ dings • allein schon wegen der erheblichen rechtlichen und administrativen Gegensitze zur
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europäischen Situation - in diesem Beitrag ginzlich abgesehen.) Von umfassender Autono­ mie der Disziplin kann aber schon deshalb nicht gesprochen werden, weil die Forscher, die nach heutigem Verständnis als Psychologen angesehen werden, ihre akademische Sozialisa­ tion in anderen Fliehern erfahren und nach wie vor innerhalb der universitären Philosophie binnenfachliche Abgrenzungsprobleme und Konflikte um die Verteilung von Ressourcen durchzustehen hatten.
Der Vergleich der jungen akademischen Psychologie mit der ungeflihr gleichaltri­ gen Mikrobiologie in der Leseart Pasteurs mag dies verdeutlichen. Louis Pasteurs wissen­ schaftliche Laufbahn verlief in einem Zwischenbereich zwischen diversen Fiebern; sie streifte mal die Kristallographie, mal die organische Chemie, mal die theoretische Biologie, mal die Physiologie, mal die Parasitologie - und sie endete glorreich in der Mikrobiologie und Immunologie. Affiliationsprobleme plagten weder Pasteur noch die Institution "Wissen­ schaft", die sich mit ihm auseinanderzusetzen hatte. Für angehende lmmunologen und Mikrobiologen der unmittelbaren Folgegeneration hätte eine derartig aufgetächerte Lauf­ bahn jedoch zu schwerwiegenden Affiliations-und Rollenkonflikten geführt. Denn die Gerinnung mikrobiologischer Erkenntnisse zu einem in sich kohärenten Lehrbuchwissen, die im Verlaufvon nur zwanzig Jahren erfolgte Routinisierung der mikrobiologischen Arbeit (Identifikation von Krankheitserregern oder von eindeutig pathogenen Wirkungen von Krankheitserregern; Züchtung von Kulturen; Herstellung von Abwehrstoffen usw.) und die Gründung spezialisierter Forschungsstationen und -instituten schlugen sich nieder in der auch international zu beobachtenden Typisierung der mikrobiologischen Berufslaufbahn mit stabilen Zulassungs- und Anerkennungsmechanismen. Eine solche Normalisierung des wissenschaftlichen Betriebs erfolgte dagegen in der Psychologie (aus welchen Gründen auch immer) weder in einem so kurzen Zeitraum noch mit einer derartigen Eindeutigkeit.
Ich gebe hier von der Annahme aus, d~ in einem noch nicht hinlänglich definier­ ten Fach wie der Psychologie die traditionellen akademischen Affiliationsmechanismen - f d.b. die Unausweichlichkeit der Selbstidentifikation mit einer bestimmten Disziplin und die ; in umgekehrter Richtung verlaufende Anerkennung fachspezifischer Kompetenzen durch die Institution- zu Rollenkonflikten geführt haben (daß sich also die Sachlage in der Psy- . chologie anders verhält als in etwa der nach-pasteurschen Mikrobiologie).lch gehe aufgrund einiger psychologie-historiographischer Voruntersuchungen zur Person Lewins ferner davon aus, daß dieser Rollenkonflikt bei diesem Psychologen nachweisbar ist, und daß die Analyse des Rollenkonflikts über den Zustand der Psychologie in der Phase nach !i91Ö einige erste, bei anderer Gelegenheit zu verfolgende Hinweise gibt.
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Lewins Habilitation an der Berliner Philosophischen Falalltllt
\ Bekanntlich beantragte Lew in Ende 1919 oder Anfang 1920 die Habilitation an der Philoso­ phischen Fakultät der Universielt Berlin mit einer naturphilosophischen Arbeit, die Ende März 1922 unter dem Titel Der Begriff der Genese in Physik, Biologie und Entwiclclungsge­ schichte bei Ferdinand Springer erschien (vgi.Lang, dieser Band). Hans Driesch, seines Zeichens Biologe und Philosoph, hatte den Verlagsdirektor in befürwortendem Sinne bera­ ten (vgl. KLW 2, S. 24). Ob die der Fakultät vorgelegte Typoskriptfassung bereits den Untertitel "Eine Untersuchung zur vergleichenden Wissenschaftslehre• trug, ist mir nicht bekannt.
Carl s,umpf, philosophischen Themen gegenüber mitnichten abgeneigt und mit den Arbeiten Lewins recht gut vertraut, erblickte in der Geneseschrift einen genuin naturphi­ losophischen Beitrag, gegen den er einige gravierende, jedoch keineswegs vernichtende Einwände vorzutragen hatte. Da die Arbeit allemal einige naturWissenschaftliche Themen aufgreife, war Stumpf bereit, die "weiteren Habilitationsstadien" zu empfehlen, vorausge­ setzt, "daji die physikalischen und biologischen Fachmänner der Kommission keine wesent­ lichen Einwendungen zu erheben finden• (KLW 2, S. 19). Aujier Stumpf gehörten der Kommission der Botaniker Gottlieb Johann Friedrich Haberlandt, der Physiker Heinrich Rubens, der Zoologe Karl Heider und die Philosophen Benno Erdmann und Ernst Troeltsch an. Von irgendwelchen Stellungnahmen der beiden letzteren ist nichts bekannt. Sie dürften sich im Hinblick auf die Abwicklung des Geschäfts der Urteilstindung ganz auf den Kolle­ gen Stumpf als des akademischen Ziehvaters Lewins verlassen haben. Heiders Beurteilung fiel kurz aus: "Nach meiner Ansicht ergeben sich vom Standpunkt des Biologen keine Einwendungen gegen die Zulassung des Habilitationsbewerbers" (KLW 2, S. 20). Was denn für die Zulassung plädiere, darüber schwieg sich der verehrte Gutachter diskret aus. Haber­ landt und Rubens vermochten aus der Habilitationsschrift keine nutzbringenden Erkenntnis­ se zu gewinnen; sie wollten aber auch nicht gegen die Zulassung votieren, da - wie Rubens sich ausdrückte- "der Schwerpunkt der Arbeit auf rein philosophischem Gebiet liegt" (KL W 2, S. 20). So war anscheinend keiner der Gutachter bereit, die Habilitation Lewins zu verei-
l teln. Und dennoch zog Stumpf am 27. März 1920 seinen Antrag auf Zulassung zurück, und zwar mit der folgenden Begründung: "Da man von einer naturphilosophischen Habil[itati­ ons]schrift verlangen muJJ, daji auch Naturforscher selbst gewisse Anregungen darin finden, keiner der HH (sc. Herren) Kollegen aber etwas Verdienstliches in dieser Beziehung er­ wähnt, und da ich ohnedies selbst nicht unerheblich Ausstellungen zu machen hatte ... "
. (KLW 2, S. 21). Die Ablehnung der Fakultät wurde Lewin am 26. Mai mitgeteilt. Zugleich gab man ihm die Möglichkeit, mit einer anderen Arbeit einen zweiten Anlauf zur Habilitati­ on zu nehmen. So stand demnach nicht Lewins Befähigung zur akademischen Laufbahn zur
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Debatte, sondern allein das Dokument, das seine Affiliation zu einem bestimmten, institu­ tionell und sozial eindeutig definierten Fach (Naturwissenschaft oder Philosophie) besiegeln
sollte. Beim zweiten Anlauf gelang dann die Habilitation. Die Bewerbung wurde am 28.
Juni 1920 eingereicht, am 9. Juli von der Fakultät registriert; am 10. Oktober lag Stumpfs Gutachten vor, in dem es heijJt: die Arbeit Ober experimentelle Untersuchungen mm Grund­ gesetz der Assoziation ist eine Erweiterung seiner Dissertation, quantitativ umfangreich, qualitativ exakt durchgeführt, ebenso kühn in ihren Zielen wie umsichtlieh in der Anord­ nung der Versuche. Es handelt sich um nichts Geringeres als um die UmstofJung des allge­ meinen Assoziationsgesetzes ... Vf. (sc. Verfasser] setzt an Stelle des Assoziationsgesetzes in seiner obigen [sc. in seiner bis dahin akzeptierten] Form die Tatsache der Übung von Tätigkeiten und schliejJt mit einer Theorie der Übung und des Lernens" (KLW 2, S. 23). (Die von Stumpf erwähnte Dissertation Lewins ist während des Ersten Weltkriegs erschie­ nen (vgl. Lewin, 1917]). Und diesmal verschlugs dem Philosophen Erdmann die Stimme nicht, denn auch er votierte am 17. Oktober in befürwortendem Sinne. Am 4. November wurde der Bewerber von der Fakultät einstimmig zur Habilitation zugelassen, und Ende des Jahres wurde ihm die philosophische venia legendi verliehen.
Gleichgültig, ob man sich von der Annahme leiten läfJt, dajJ Stumpf durch takti­ sches Kalkül das Problem der Affiliation Lewins umgangen hat, oder ob man von der ganz anders lautenden Annahme ausgeht, dap Lewin seine akademische Laufbahn mit einer unverkennbar philosophisch-wissenschaftstheoretischen Arbeit nicht gefährden wollte: im Ergebnis wurde durch den Habilitationsvorgang die Rolle des jungen Akademikers im Spannungsfeld zwischen den Naturwissenschaften, der Philosophie und der (noch?) philo­ sophischen Subdisziplin Psychologie nicht geklärt, sondern verwaltungstechnisch verdrängt. Das Thema des Hauptbeitrags im Habilitationspaket - beim zweiten Anlauf handelte es sich um eine kumulierte Habilistion - war zwar eindeutig psychologisch. Doch auch vom Stand­ punkt der Philosophie konnte man ihm etwas abgewinnen. Der Assoziationismus hatte auf allen Fronten den Rückzug angetreten - in der Erkenntnistheorie nicht weniger als in der Psychologie-, und zudem war die Philosophie selbst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts auch damit beschäftigt, ihr Verhältnis zu den empirischen Wissenschaften zu klären: sei es durch die weitere Empirisierung ursprünglich nur im Medium der Reflexion angegangener Fragestellungen, sei es durch die Wendung ins Meta-Wissenschaftliche. Innovativ waren die experimentellen Untersuchungen Lewins zum Assoziationsgesetz aller­ dings nicht. Stumpfs Aussage über die Umstojmng des Assoziationsprinzips klingt wie ein redundanter Nachsatz zu der 1913 unter dem Patronat Külpes von Selz durchgeführten Widerlegung eben dieses Prinzips.
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Anfang 1921 war Lewins Qualifikation zum akademischen Lehrer und universitär einge­ bundenen Forscher sozial durch die Institution anerkannt. Die Affiliationsproblematik und der damit einhergehende Rollenkonflikt blieben dadurch jedoch unverändert bestehen. Es stellt sich nun die Frage, wie Lewin mit diesem Konflikt umgegangen ist, nachdem die Konfliktlösung durch die Fakultät nicht herbeigeführt oder sogar erzwungen worden war.
Mit Beginn des Sommersemesters 1921 nahm Lewinseine Lehrtätigkeit auf. Bis Ende des Wintersemesters 1931ß2 summierten sich die angekündigten Lehrveranstaltun­ gen, die er selbständig anbot oder an denen er als Mitveranstalter teilzunehmen gedachte, auf insgesamt siebzig. Ab Sommersemester 1932 las Lewin nicht mehr in Berlin. Die quan­ titative Erfassung der Lewinsehen Unterrichtstätigkeit fu~t auf der Durchsicht der Vorle­ sungsverzeichnisse der Universität Berlin. Ob die angekündigten Lehrveranstaltungen in jedem Falle auch durchgeführt wurden, lie~ sich bisher nicht nachprüfen. Wihrend des Sommersemesters 1932 und des Wintersemesters 1932ß3 war Lewin übrigens auf eigenen Wunsch beurlaubt und hielt sich mit einer Gastprofessur in den USA auf. Nach Deutschland kehrte er über die Westroute zurück, die ihn zuerst nach Japan, dann in die UdSSR führte. Anfang Apri11933 wurde er gegen seinen Willenaufgrund des Gesetzes zur Wiederherstel­ lung des Berufsbeamtenturns erneut (und unwiderruflich) beurlaubt.
Von den oben genannten siebzig Veranstaltungen behandelten zwanzig ein philo­ sophisch-wissenschaftstheoretisches Thema und fünfzig ein psychologisches. Daraus ist zu ersehen, da~ parallel zu den psychologischen die philosophisch-wissenschaftstheoretischen Interessen nach wie vor Bestand hatten, ungeachtet der Tatsache, da~ die Habilitation auf­ grund einer psychologischen und eben nicht aufgrund einer genuin philosophischen Arbeit erreicht worden war.
Die genannten Zahlen besagen als solche jedoch nicht sonderlich viel. Will man aus der Verteilung der Lehrveranstaltungen auf bestimmte Themen historiographisch rele­ vante Folgerungen ziehen, kann man sich eine AufschlüsseJung schlechterdings nicht erspa­ ren. Wihrend der Privatdozentenzeit (also bis zum Ende des Wintersemesters 1926) hat Lewin 21 Lehrveranstaltungen angekündigt - davon zwölf im Bereich der Philosophie und neun in dem der Psychologie. Damit war sein gesetzlich festgelegtes Lehrdeputat erschöpft. Freiwillig, doch - wie es scheint - nicht ungern, wirkte er zusätzlich an fünf Praktika in Psychologie mit.
Als au~rplanmi~iger Professor hatte er ab Wintersemester 1926/27 ein verdoppel­ tes Deputat zu bewilligen. Doch an seiner Gewohnheit, alternierend Psychologie und Philo­ sophie in Vorlesungen und Seminaren zu dozieren, änderte sich nicht viel. Von den 23 selb­ stiindig angebotenen Lehrveranstaltungen entfielen 15 auf die Psychologie und deren acht auf die Philosophie. Der Rest des Deputats, insgesamt 21 Veranstaltungen für die Zeit von
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/Wrt Lewin im philosophisch-psyclwlogisclwn Rolknlrortflilll
Oktober 1926 bis März 1932, wurde auf Praktika verwandt, von denen die meisten gemein­
sam mit Wolfgang Köhler durchgeführt worden sind.
Seinen philosophisch-wissenschaftstheoretischen Interessen hat Lewin während
seiner Berliner Zeit freien Lauf gelassen. Auch wurde er von der Institution nicht angehal­
ten, die ihm zugestandene Lehrfreiheit auf eine bestimmte Weise zu interpretieren. Anders
gesagt: was er tat, entsprach dem rechtlich abgesicherten Handlungsrahmen. Er hätte von
Rechts wegen die Möglichkeit gehabt, sich im Sinne des zweiten Habilitationsverfahrens auf
die Psychologie zu konzentrieren, und er hätte von Rechts wegen nicht minder die Möglich­
keit gehabt, die übliche Universitätsphilosophie (also: die Philosophiegeschichte nach dem
drögen Schema "Grundprobleme der Philosophie von Descartes bis Kant", mit dem sich
andere auch in der Psychologie tätige Zeitgenossen durchaus zufrieden gaben) zu vertreten,
stat{iiiit der vergleichenden Wissenschaftslehre neue Wege philosophischer Erkenntnis
abzutasten.
Provenienz hat sich Lewin keiner Richtung der Philosophie seiner Zeit angeschlossen.
Vielmehr hat er bei Philosophen geholt, was er brauchte - oder was er zu verarbeiten ver­
mochte. Anleihen machte er beim Neukantianismus nicht weniger als beim Logischen
Empirismus, bei der Phänomenologie nicht weniger als beim Vitalismus. Auffällig ist
zudem, da~ manche seiner mit Vorliebe zitierten Autoren Lehrer, Kollegen oder Freunde
waren. Dies ist unzweifelhaft bei Alois Riehl, Edmund Husserl, Ernst Cassirer und Hans
Reichenbach der Fall.
Nun könnte man geneigt sein, die philosophisch-wissenschaftstheoretische
Komponente im Schaffen Lewins als einen Versuch zu deuten, den Zugang zu einem Ordi­
nariat für die noch traditionelle Fächerdreieinigkeit Philosophie/Psychologie/Pädagogik durch einschlägige Kompetenzbeweise zu erleichtern. In den Berufungskommissionen sa~n immerhin auch Professoren, deren Lehrgebiet mehr oder weniger auf eine Spielart der
damaligen Philosophie beschränkt war. In einer Situation der Konkurrenz zwischen mehre­
ren Bewerbern mit unterschiedlich gewichteten Fachkompetenzen hätte dann wohl derjenige die meisten Aussichten auf Erfolg gehabt, der in der Psychologie nicht weniger als in der Philosophie bewandert gewesen wäre und mit originellen Arbeiten die Aufmerksamkeit der
Fachöffentlichkeit auf sich gelenkt haben würde. In diesem Falle wäre Lewins philoso­
phisch-psychologische Doppelspurigkeit - oder, wenn man seine entwicklungspsychologi­
schen Untersuchungen der Sparte der Pädagogik zuschlägt: seine philosophisch-psycholo­ gisch-pädagogische Dreisporigkeil - eine Antwort auf die institutionell verankerte Dreiei­
nigkeit der besagten Fächer gewesen. Oder anders gesagt: es hätte sich um Lewins Reaktion
auf eine durch soziale Definitionen noch unabgeschlossene Rollendifferenzierung innerhalb eines lediglich mit administrativen Mitteln einheitlich definierten, inhaltlich aber heteroge­ nen Bereichs der Lehr- und Forschungstätigkeiten gehandelt.
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schaftstheoretischer Eklektizismus schlecht in das Normalbild der Universitätsphilosophie
paf\te, und dap seine Wissenschaftslehre die Affiliation - sei es zur Psychologie - sei es zur
Philosophie nicht gestärkt hat. Das regt einen alternativen Deutungsversuch an.
Lewins Wissenschaftslehre als multidisziplinilrer Ansatz
Die frühesten erhaltenen AufSätze Das Erhallungsprinzip in der Psychalogk von 1911 (vgl.
KLW 1, S. 81-86) Erhaltung, Identililt und Verlinderung in Physik und Psychologie von 1912 (vgl. KLW 1, S. 87-110) können wie die späteren Beiträge, angefangen vom Aufsatz
für die Stumpf-Festschrift Psychologische und sinnespsychologische Begriffsbildung von
1918 (vgl. KLW 1, S. 127-151) über die Geneseschrift (vgl. KLW 2, S. 47-318) bis zu den
bekannten Aufsätzen der späten Berliner Zeit, als Annäherungen an eine vertretbare, jeden­
falls an eine auf zureichenden Plausibilitätsgründen beruhende Bestimmung des Gegen­
stands psychologischer Forschung und der Struktur der Psychologie als Wissenschaft ver­
standen werden. Die philosophisch-wissenschaftstheoretische Komponente wäre dann integ­
raler Bestandteil psychologischer Forschungstätigkeit selbst gewesen. Das würde dann allerdings dem Rollenkonflikt eine andere Prägung geben. Denn es stünde nicht mehr die
Rollenfindung im Spannungsverhältnis zwischen der akademischen Philosophie und der
akademischen Psychologie (ungeachtet ihres institutionellen Unterbaues), sondern die
Definition der Rolle des forschenden Psychologen in Abgrenzung zur damals in Ansätzen
definierbaren Rolle des bereits etablierten Psychologen auf dem Spiel.
Eine auch nur oberflächliche Betrachtung der philosophisch-wissenschaftstheoreti­
schen Beiträge Lewins scheint dieser Deutung Auftrieb zu geben. Wie vergewissert sich die
Psychologie ihres Gegenstandes? Mit dieser Frage setzen sich die frühesten Arbeiten Lewins auseinander. Im Versuch, diese Frage zu beantworten, gerät Lewin in die Problematik des Existenzbegriffs, auf die die Geneseschrift, bereits wissenschaftsvergleichend, ausführlich
eingeht (s. wieder Lang, dieser Band), deren Relevanz für die Psychologie von Stumpf indes
nicht erkannt worden zu sein scheint. Und in der gesamten vergleichenden Wissenschafts­
lehre steht die Bedingung der Möglichkeit der Psychologie thematisch im Vordergrund.
Aufgabe dieser vergleichenden Wissenschaftslehre war es, analytisch - und eben nicht
normativ - Maf\stäbe zu erarbeiten, an denen der Fortschritt psychologischer Erkenntnis
bemessen werden könnte. Das würde verstehbar machen, warum nicht das Wesen der Wissenschaft (oder der wissenschaftlichen Erkenntnis) philosophisch-abstrakt, sondern die Entwicklung der Wissenschaftlichkeit in den einzelnen Disziplinen wissenschaftstheore­
tisch-konkret Gegenstand der vergleichenden Wissenschaftslehre war. Wie vor ihm schon
William Whewell Licht in die differenzierte Wissenschaftlichkeit der akademischen Fächer
hatte bringen wollen ("Wir können am ehesten hoffen, einigen Fortschritt in Richtung auf
eine Philosophie der Wissenschaft zu machen, wenn wir uns der Philosophie der Wissen-
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Kun Lewin im philosophisch-p.sychologischert RolkllktM/Iib
schaften zuwenden", hatte der englische Gelehrte festgestellt, nachzulesen in der zweiten Auflage von Whewells Philosophy of the lnductive Sciences, Band 1, S. 2 (1841), hier zitiert nach Elkana, 1986, S. 314), so versuchte Lewin durch ~veAaalysen dem Kern der psychologischen Forschung Profil zu geben. Dies geschah einerseits durch die Herausarbei­ tuns der geschichtlichen Gleichliufigkeiten zwischen den Wissenschaften sowie der erst im Vergleich erfafibaren Defizite der psychologischen Wissenschaftlichkeit. Es geschah ande­ rerseits durch die Bestimmung dessen, was den Gegenstand der Psychologie von demjeni­ gen anderer Wissenschaften (etwa der Sinnesphysiologie, der Physiologie, der Soziologie usw.) unterscheidet. (Dabei entwickelte Lewinseinen Ansatz wohl völlig unabhängig von Whewell; auf irgendwelche Hinweise einer wie auch immer ausgeprägten Vertrautheit mit dessen Ideen bin ich jedenfalls bis heute noch nicht gestof'en.)
Dafl es Lewin in der Tat um die Bedingungen der Möglichkeit der Psychologie als einer Wissenschaft (und nicht um die Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaft am Paradigma der Psychologie) ging, liflt sich an der im Aufsatz Gesetz und Experiment in der
Psychologie (vgl. KLW 1, S. 279-320) angestrebten Verschränkung von Statistik und sub­ stantiellem Verständnis psychologischer Erkenntnis ablesen. Eine gewisse Desillusionierung mufl Lewin befallen haben, als er feststellte, dafl die modernen Massenversuche es nicht mehr auf die Bestimmung psychischer Prozesse, sondern auf die Verteilung von Eigenschaf­ ten (gleichgültig, ob erworben oder ob angeboren) in Populationen abgesehen hatten, also zunehmend in ein funktionelles Verständnis psychologischer Erkenntnis abzugleiten droh­ ten. Und wenn nicht die akademische Psychologie insgesamt den Wundtschen Anspruch auf Bestimmung der Natur psychischer Prozesse aufgegeben hatte, so hatte sich durch die Verbreitung der Psychotechnik (die das Bild der psychologischen Forschung mitfirbte) doch eine Tendenz zur Verwechslung des methodisch Verrichteten mit dem Gegenstand der Erkenntnis ergeben.
Gegen diese Tendenz gerichtet versteht sich Lewins Intention, wie Newton dereinst die Natur von Gravitation und Ucht aufzuklären sich bemüht hatte, die Natur psychischer Kräfte auf den Begriff zu bringen - oder, bescheidener formuliert, zu verstehen, was es denn hief'e, in der Psychologie mit den Ambitionen eines Newton zu arbeiten. Dies alles übrigens nicht nebenher, den Wonnen der Sonntagsphilosophie frönend, sondern aus der Notwendig­ keit heraus, dem psychologischen Forschungsprozell eine übersichtliche und zuverlässige Begriffs- und Methodenblaupause zu unterlegen.
Dafl die Affiliationsproblematik und der Rollenkonflikt, wie immer man beide ausdeuten und einschätzen mag, aus dem Wissenschaftsmilieu der deutschen Psychologie sich ergeben haben, darauf deutet die Tatsache, dafl die Verhältnisse in dieser Hinsicht durch die Emigration Lewins in die USA schlagartig bereinigt worden sind: die philoso­ phisch-wissenschaftstheoretische Komponente entfiel einfach. Welche Rollenkonflikte im &il womöglich entstanden sind, müflte geprüft und diskutiert werden. Man kann aber wohl
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davon ausgehen, ~ sie für Lewin von anderer Art gewesen sind