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Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 1 Brechts Adaptionen der Psychologie Kurt Lewins und ihre Weiterentwicklung fürs epische Theater Erschienen in: Theodor Rippey (Hg.). Das Brecht Jahrbuch 41, S. 219-246 Für die Entwicklung des nicht-aristotelischen, epischen Theaters suchte Brecht bekanntlich Vorbilder aus der Wissenschaft. Der Feldbegriff zog dabei seine Aufmerksamkeit auf sich. Aber nicht nur von der Physik, die seit Faraday magnetische Felder und Feldkräfte erforschte und die sich zugleich vom Atom als einst unteilbares kleinstes Teilchen verabschiedete, ließ sich Brecht anregen, sondern auch vom Psychologen Kurt Lewin. Damit rezipierte und verarbeitete Brecht seit etwa Ende der 1930er Jahre auch einen phänomenologisch und gestaltpsychologisch fundierten Feldbegriff. Die Tatsache der Lewin-Rezeption ist in Sautters Aufsatz zu Brechts logischem Empirismus (1995) aufgearbeitet. Dennoch wurde bislang nicht hinreichend geprüft, inwieweit Lewin als Quelle tatsächlich fungierte und welche Potenziale Brecht damit nicht nur für das Theater eröffnete. Letztlich könnte auch eine an Lewin anschließende Psychologie davon profitieren. 1. Einleitung Die „dialektische Dramatik“ komme, vermerkte Brecht um die Jahreswende 1930/31, „ohne Psychologie“ und „ohne Individuum“ aus und würde, „betont episch, die Zustände in Prozesse auf[lösen]“. 1 Künstlerische Darstellungen, die wie die früheren Bildhauer „das ‚Wesentliche‘, ‚Ewige‘, ‚Endgültige‘, kurz, ‚die Seele‘ ihrer Modelle zu gestalten“ versuchen 2 , gehören für Brecht zu den „falschen Abbildungen des gesellschaftlichen Lebens“. 3 Für das epische Theater gilt daher das experimentelle und kritisch-prüfende Vorgehen der Naturwissenschaften als Vorbild. Auf der Bühne sollen im „experimentellen Theater“ die gesellschaftlichen Verhältnisse so eingefangen werden, dass sie wie Forschungsgegenstände zu erkenn- und veränderbaren Dingen werden. Der Anti- Psychologismus, wie er im eingangs Zitierten propagiert wird, erscheint dabei als folgerichtiger Schritt. Dennoch beschäftigt sich Brecht, um „eine Art wissenschaftliche Haltung“ 4 beim Zuschauer zu wecken, mit psychologischen Fragen. Dass er die Psychologie dabei nicht vollständig zu zerlegen, sondern sogar neu zu denken versucht, zeigt beispielsweise folgende Notiz in seinem Arbeitsjournal aus dem Jahr 1941: „Die Krise der Dramatik ist sehr tief. Es kommt darauf an, reiche, komplexe, sich entwickelnde Figuren zu schaffen – ohne introspektive Psychologie.“ 5 1 B. Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Berlin-Weimar-Frankfurt/M 1989 ff., (im Folgenden zit. BFA), BFA 21, S. 439 2 BFA 22.1, S. 573 (1939/49) 3 Brecht, Bertolt. Kleines Organon für das Theater: mit einem Nachtrag zum Kleinem Organon. Suhrkamp, 1960, S. 25. 4 BFA 21, 440 5 BFA 27, Arbeitsjournal, 21.4.41

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Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht

1

Brechts Adaptionen der Psychologie Kurt Lewins und ihre

Weiterentwicklung fürs epische Theater Erschienen in: Theodor Rippey (Hg.). Das Brecht Jahrbuch 41, S. 219-246 Für die Entwicklung des nicht-aristotelischen, epischen Theaters suchte Brecht bekanntlich Vorbilder aus der Wissenschaft. Der Feldbegriff zog dabei seine Aufmerksamkeit auf sich. Aber nicht nur von der Physik, die seit Faraday magnetische Felder und Feldkräfte erforschte und die sich zugleich vom Atom als einst unteilbares kleinstes Teilchen verabschiedete, ließ sich Brecht anregen, sondern auch vom Psychologen Kurt Lewin. Damit rezipierte und verarbeitete Brecht seit etwa Ende der 1930er Jahre auch einen phänomenologisch und gestaltpsychologisch fundierten Feldbegriff. Die Tatsache der Lewin-Rezeption ist in Sautters Aufsatz zu Brechts logischem Empirismus (1995) aufgearbeitet. Dennoch wurde bislang nicht hinreichend geprüft, inwieweit Lewin als Quelle tatsächlich fungierte und welche Potenziale Brecht damit nicht nur für das Theater eröffnete. Letztlich könnte auch eine an Lewin anschließende Psychologie davon profitieren.

1. Einleitung

Die „dialektische Dramatik“ komme, vermerkte Brecht um die Jahreswende 1930/31, „ohne

Psychologie“ und „ohne Individuum“ aus und würde, „betont episch, die Zustände in

Prozesse auf[lösen]“.1 Künstlerische Darstellungen, die wie die früheren Bildhauer „das

‚Wesentliche‘, ‚Ewige‘, ‚Endgültige‘, kurz, ‚die Seele‘ ihrer Modelle zu gestalten“

versuchen2, gehören für Brecht zu den „falschen Abbildungen des gesellschaftlichen

Lebens“.3 Für das epische Theater gilt daher das experimentelle und kritisch-prüfende

Vorgehen der Naturwissenschaften als Vorbild. Auf der Bühne sollen im „experimentellen

Theater“ die gesellschaftlichen Verhältnisse so eingefangen werden, dass sie wie

Forschungsgegenstände zu erkenn- und veränderbaren Dingen werden. Der Anti-

Psychologismus, wie er im eingangs Zitierten propagiert wird, erscheint dabei als

folgerichtiger Schritt. Dennoch beschäftigt sich Brecht, um „eine Art wissenschaftliche

Haltung“4 beim Zuschauer zu wecken, mit psychologischen Fragen. Dass er die Psychologie

dabei nicht vollständig zu zerlegen, sondern sogar neu zu denken versucht, zeigt

beispielsweise folgende Notiz in seinem Arbeitsjournal aus dem Jahr 1941:

„Die Krise der Dramatik ist sehr tief. Es kommt darauf an, reiche, komplexe, sich

entwickelnde Figuren zu schaffen – ohne introspektive Psychologie.“5

1 B. Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Berlin-Weimar-Frankfurt/M 1989 ff., (im Folgenden zit. BFA), BFA 21, S. 439 2 BFA 22.1, S. 573 (1939/49) 3 Brecht, Bertolt. Kleines Organon für das Theater: mit einem Nachtrag zum Kleinem Organon. Suhrkamp, 1960, S. 25. 4 BFA 21, 440 5 BFA 27, Arbeitsjournal, 21.4.41

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Nicht Auflösung, sondern Komplexität und ein genaueres Verständnis für

Entwicklungszusammenhänge interessieren ihn. Nicht Psychologie per se, sondern

introspektive Psychologie erscheint als Problem.

Obwohl manche Bemerkungen, wie die bereits zitierten, darauf hindeuten, finden wir

bei Brecht aber auch keinen Verfechter einer objektivistischen Psychologie. Noch im gleichen

Zuge wie er die psychologische Methode der Einfühlung zurückweist, kritisiert er auch den

Behaviorismus. Er liest ihn als Symptom kapitalistischer Verhältnisse:

„Die gewöhnlichen behavioristischen Bilder sind sehr flach und verwischt (wenn sie

nicht die Klarheit des Schemas F haben). Auch wenn man nicht nur die biologischen,

sondern auch die sozialen Reflexe sammelt, kommen selten konkrete Figuren heraus.

So wie der K[apitalismus] die Kollektivisierung der Menschen durch Depravation und

Entindividualisierung besorgt und wie zuerst vom K[apitalismus] selber eine Art

‚Gemeineigentum an nichts’ geschaffen wird, so spiegelt die behavioristische

Psychologie zunächst nur die Gleichgültigkeit der Gesellschaft am Individuum ab, von

dem nur gewisse Reflexe Wichtigkeit haben, da ja das Individuum nur Objekt ist.“6

Einer Auflösung des Individuums in Prozesse redet Brecht also keineswegs das Wort. Seine

psychologisch bedeutsame Problemstellung ist der Einzelne im Verhältnis zur Masse durch

die Art der „Kollektivisierung“ als „Depravation“ und „Entindividualisierung“ im

Kapitalismus. Sie berührt die Prozesse der Enteignung an Gemeineigentum und die

Vermassung der Menschen als Lohnabhängige. Damit wirft er die bedeutsame Frage auf, was

die psychologische Grundlage für eine andere Art der Gesellschaftlichkeit des Menschen

wäre. Der in kapitalistischen Verhältnissen entstehende Objektstatus des Individuums

changiert für Brecht zwischen gesellschaftlicher Gleichgültigkeit und einer Wichtigkeit, bei

der – wie er an anderer Stelle sagt – der „Kapitalismus […] allen Fleiß, alles Ingenium, alles

Planen, alle Grausamkeit, alle Tüchtigkeit in die Produktion des Sumpfes“ stecke.7 Der

gemeinte Objektstatus ist damit einer, in der die Subjektivität nicht ausgeschaltet, sondern

instrumentalisiert und produktiv angewendet wird.

Brecht erkennt also die Herrschaftsfunktionalität der Psychologie. Aber er konfrontiert

diese Wissenschaft, wie gesagt, nicht nur mit einer destruktiven Form der Kritik. Es ist unter

anderem die Psychologie seines Zeitgenossen Kurt Lewin (1890-1947), die er in den 1930er

Jahren konstruktiv aufgreift. Ihre Bedeutung für die dialektische Dramatik erscheint zwar

schon dadurch marginal, als sie in Brechts Schriften kaum erwähnt wird. Dennoch lässt sich

zeigen, dass die Überschneidungen zwischen dem lewinschen und dem brechtschen Denkens

6 BFA 27, Arbeitsjournal, 21.4.41 7 BFA 22.2, S. 536 (1939/40)

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nicht unwesentlich sind, trifft der psychologische Feldbegriff, den Lewin entwickelt, auch bei

Brecht das Anliegen, „verbesserte Darstellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens der

Menschen“ und ein neues Verständnis für die darin zum Tragen kommende ‚nicht-

aristotelische‘ Kausalität zu erringen.8

Welchen Einfluss Lewins psychologische und wissenschaftstheoretische

Überlegungen im Einzelnen hatten, lässt sich allerdings nicht mit Exaktheit ermitteln, was

schon mit dem Tatbestand der Rezeption beginnt. Nur in einem Fall ist sicher, dass Brecht

eine Schrift von Lewin kannte. Um das Jahr 1937, auf seiner Reise nach New York, findet

man bei ihm einen Hinweis. In Die Auswahl der einzelnen Elemente9 nimmt er Bezug auf die

frühe Schrift Kriegslandschaft („Psychologie des Schlachtfeldes“) von 1917. In dieser

reflektiert Lewin seine Erfahrungen als Leutnant in der Feldartillerie – er meldete sich 1914

als Freiwilliger.10 Seine zunächst phänomenologische Beschreibung des Schlachtfeldes wird

ein Grundstein für die Psychologie, die er in Berlin in den 1920er und Anfang der 30er Jahren

entwickelt. In seiner Beschreibung der Kriegslandschaft von 1917 wird die

wahrnehmungspsychologische Interpretation der Situation an der Front bedeutsam:

„Sie [die Landschaft, I.L.] erstreckt sich, verhältnismäßig unabhängig von den durch

die besondere Geländeform bedingten Sichtverhältnissen, weit über den Raum hinaus,

den nach optischen Gesetzen die Netzhaut, selbst sukzessiv, widerspiegeln kann; und

diese Ausdehnung, -- das ist wesentlich für die Friedenslandschaft -- geht nach allen

Richtungen gleicherweise ins Unendliche […]. Die Landschaft ist rund, ohne vorne

und hinten.“ -- „Nähert man sich jedoch der Frontzone, so gilt die Ausdehnung ins

Unendliche nicht mehr unbedingt. Nach der Frontseite hin scheint die Gegend

irgendwo aufzuhören; die Landschaft ist begrenzt. Die Begrenztheit der Gegend tritt

beim Anmarsch zur Front bereits beträchtliche Zeit vor dem Sichtbarwerden der

Stellung ein.“11

Lewin beschreibt hier die Landschaft im Sinne der phänomenologischen Vorgehensweise

seines Lehrers Carl Stumpfs12 und führt zugleich eine Reihe von Überlegungen ein, die für

seine Feldtheorie bedeutsam werden. Eine psychologische Situation, so argumentiert er

8 BFA 22.2, S. 387 (1938/39) 9 BFA 22.1, 251ff. 10 Kurt Lewin (1890-1947) studiert ab 1910 in Berlin Philosophie (bei Alois Riehl und Ernst Cassirer) und später Psychologie. Er promoviert bei Carl Stumpf. 1921 wird er Assistent, dann Privatdozent und 1927 Professor am Psychologischen Institut in Berlin. Von 1926-34 sind bei Lewin Handlungen und Affekte Gegenstand seiner Arbeit. Nachdem er 1932 bereits in den USA eine Gastprofessur angenommen hat, bemüht er sich 1933 als Migrant um weitere Anstellungen an dortigen Universitäten. In der Emigration werden Gruppen und ihre Dynamiken zum zentralen Forschungsgebiet. Erst hier spricht Lewin explizit von seiner Theorie als Feldtheorie. 11 K. Lewin (1917), Kurt Lewin Werke (zit. KLW), Band 4, Werkausgabe hg. v. C.-F. Graumann, Stuttgart: Klett 1980, S. 316. 12 H. Lück, Einführung in die „Schriften zur angewandten Psychologie“ Kurt Lewins, Kohlhammer 2009, S. 9

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später, sei immer durch Begrenzungen, Stellungen und Bewegungen im Feld gekennzeichnet.

Sie zu untersuchen, bedeute zu verstehen, wodurch in ihr als ganze bestimmte Spannungen

entstehen, die Menschen zu Handlungen bewegen.13 Eine verallgemeinernde Erklärung

menschlichen Verhaltens ist also bereits in der Kriegslandschaft angelegt. Das Schlachtfeld

wird zu einem Bild für einen psychologischen Feldbegriff, der später durch Anleihen aus dem

Magnetismus und dem topologischen Vektorraum aus der Mathematik ergänzt, aber von einer

Art Physikalismus scharf abgegrenzt wird.

1937 notiert Brecht zu Lewins früher Schrift:

„Die Psychologie sagt uns, dass je nach dem Gebrauch, den die Menschen von einem

Ort machen, ein anderer Augenschein entsteht.“ 14

Den Nachweis (ohne genaue Publikationsangabe) erbringt er in einer Fußnote handschriftlich,

vermutlich beim Zusammenkleben der einzelnen mit der Schreibmaschine getippter

Abschnitte.

Abbildung 1: Brechts Handschrift befindet sich unter der mit Schreibmaschine getippten Zeile

(eigene Aufnahme).15

Brechts Notiz zeugt dabei von einer wahrnehmungspsychologischen Reflexion, die über

Lewins Beschreibung hinausgeht. Sie enthält die praxisphilosophische Idee, das Denken „als

13 In dem Aufsatz „Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie“ nimmt er Anleihen aus der Malerei, um den Begriff der Situation zu erklären: „Die Roller der ‚Situation‘ [...] lässt sich vielleicht am besten durch Hinweis auf gewisse Wandlungen der Malerei wiedergeben. In der mittelalterlichen Malerei gibt es zunächst überhaupt keine Umgebung, sondern nur einen ungegenständlichen (z.B. goldenen) Hintergrund. Auch wenn dann allmählich eine ‚Umgebung‘ auftritt, besteht sie vielfach nur darin, dass neben der einen Person noch andere Personen und Gegenstände auf dem Bilde dargestellt sind. So kommt es bestenfalls zu einem Ensemble von Einzelpersonen, aber jede behält im Grunde doch eine selbständige Existenz. Erst später wird der Raum selbst malerisch existent; es entsteht eine Gesamtsituation. Zugleich wird diese Situation als Ganzes beherrschend und das Einzelne ist das, was es ist – man denke etwa an Rembrandts Gruppenbilder -, sofern es überhaupt noch al Einzelnes bestehen bleibt, nur in und durch die Gesamtsituation.“ (KLW 1, S. 269) 14 BFA 22.1, S. 251. 15 Ich danke Jan Knopf für die Einsicht ins Brecht-Archiv in der Arbeitsstelle Bertolt Brecht in Karlsruhe.

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soziales Verhalten“ zu lesen, d.h. nach dem „Zweck, den es für den Denkenden und für den,

für den gedacht wird, erfüllt“.16

Die Rezeption einer zweiten Quelle, der Aufsatz Der Übergang von der

aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie,17 der im ersten Heft

der Zeitschrift „Die Erkenntnis“ (hrsg. seit 1930 von Rudolf Carnap und Hans Reichenbach)

erscheint, wird von Ulrich Sautter18 vermutet: „Dass Brecht Lewins Ideen zur Kenntnis nahm,

scheint kaum bezweifelt werden zu können.“19 Sicher ist dies allerdings nicht, da sich das

entsprechende Heft nicht im Brecht-Archiv befindet. Hier ist vom ersten Band nur Heft 2-4

(in einem Heft) mit den Seiten 89 bis 339 vorhanden.20 Eine Ankündigung des Artikels ist auf

der Umschlagseite eines Heftes aus dem Nachlass zu lesen. Der Titel dürfte mindestens

Brechts Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.

Das Interesse für das situative Wie des Erkennens als kritisches Welt- und

Selbstverhältnis verbindet die Arbeiten von Brecht und Lewin. Beide greifen die damaligen

wissenschaftstheoretischen Fragen auf, die vor dem Hintergrund technisch verfeinerter

Methoden und neuer Erkenntnisgegenstände in der Physik virulent geworden waren: Lewin

stellt vor allem in Schriften wie Gesetz und Experiment in der Psychologie (1927) und im

bereits genannten Aufsatz zum Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise

in Biologie und Psychologie (1930/31) die Weichen in seiner Disziplin für einen

Paradigmenwechsel, um Gesetzmäßiges im menschlichen Verhalten neu zu verstehen und die

strikte Teilung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden. Er

führt dazu unter anderem den Begriff des Geschehenstypus’ ein und sucht eine Verbindung

zwischen phänomenologischen und mathematisierenden Verfahren.

Brecht nimmt etwa zur selben Zeit Fragen der modernen Physik auf, um mit ihnen

Probleme des Theaters zu artikulieren: Gesellschaftliche Prozesse und Widersprüche,

Bewegungen der Massen, das Verhalten der atomisierten Einzelnen und ihre Beziehungen in

den kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnissen sollen zu Erfahrungs- und

Lerngegenständen werden, obwohl sie sich unmittelbar der Anschaulichkeit und der

Darstellbarkeit entziehen.21 Zwar soll das „Theater im wissenschaftlichen Zeitalter“22 an

einem Geschehen nicht Gesetzmäßiges, sondern das historisch Bedeutsame deutlich

16 BFA 21, S. 424 (1930/31) 17 Der Text entstand auf der Grundlage eines Vortrags, den Lewin am 4.2.1930 in Berlin gehalten hatte. 18 U. Sautter, Brechts logischer Empirismus, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 4, 1995, 687-709. 19 S. 701 20 Für die Auskunft danke ich vom Brecht-Archiv Helgrid Streidt und für den Hinweis Robert Cohen. 21 J. Knopf, Bild des gesellschaftlich Verborgenen in den Dramen Brechts. In: Brecht-Journal. Hg. v. J.K.. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 121-142 22 Brecht, Bertolt. Kleines Organon für das Theater: mit einem Nachtrag zum Kleinem Organon. Suhrkamp, 1960, S. 25.

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machen.23 Aber Brecht arbeitet – ähnlich wie die Physik in der Quantenmechanik – daran, die

gesellschaftlichen Verhältnisse modellhaft bzw. theorieförmig auf die Bühne zu bringen, da

mit der Entstehung kapitalistischer Produktionsverhältnisse das „Unrecht völlig aus dem

Gesichtsfeld verschwunden“ und damit der persönlichen Erfahrung unzugänglich geworden

ist.24 Die Modelle sollen die Zuschauer zugleich zum eigenständigen Denken und zu neuen,

kritischen und experimentellen Aneignungsformen herausfordern.25 Es geht Brecht um eine

Form der Erkenntnis, die über die bloße Empirie hinausgeht – daher auch die Anweisung des

Philosophen an die Schauspieler: „Wenn du fertig bist, sollte dein Zuschauer mehr gesehen

haben als ein Augenzeuge des ursprünglichen Vorgangs.“26 Und: „Wenn du zeigst: es ist so,

so zeige es auf eine Art, dass der Zuschauer sagt: ist es denn so?“27 Wie der

Naturwissenschaftler nach einem Experiment mehr sieht als vorher, insofern er z.B. ein

Problem schärfer oder differenzierter erkennt, so soll also auch das Theater – als Ort für

Versuche28 – die Wahrnehmungsfähigkeit zunächst der Schauspieler und dann der Zuschauer

verändern. Im Messingkauf erklärt der Philosoph entsprechend:

„Die Wissenschaft sucht auf allen Gebieten nach Möglichkeiten zu Experimenten oder

plastischen Darstellungen der Probleme. Man macht Modelle, welche die Bewegungen

der Gestirne zeigen, mit listigen Apparaturen zeigt man das Verhalten der Gase. Man

experimentiert auch an Menschen, jedoch sind hier die Möglichkeiten der

Demonstration sehr beschränkt. Mein Gedanke war es nun, eure Kunst der

Nachahmung von Menschen für solche Demonstrationen zu verwenden. Man könnte

Vorfälle aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen, welche der

Erklärung bedürftig sind, nachahmen, so dass man diesen plastischen Vorführungen

gegenüber zu gewissen praktisch verwertbaren Kenntnissen kommen könnte.“29

Die Erkenntnis, um die es Brecht geht, ist damit wie in der Forschung vor allem eine

vorläufige, eine in Arbeit begriffene, an die praktisch weiter angesetzt werden. Sie erweist

23 BFA 22.1, S. 54: „Alle Typen, die ich schaffe, sind kollektive. Nicht umsonst halte ich es instinktiv für nötig, alle ihre Situationen historisch aufzufassen. Selbst über Geschehnisse meiner Zeit setze ich Jahreszahlen. Ich fixiere also die Zeit, in der dieser Typ auftritt. Ich gebe also diese Situationen preis, soweit sie nicht durch ihn geschaffen werden. Ich halte für historisch, was er sagt.“ 24 BFA 21, S. 437 (1930/31) 25 Vgl. BFA 22.2, S. 721: „Nicht nur gelöste Probleme stellt das Theater dem Zuschauer vor, sondern auch ungelöste. Wenn man sich gegen eine Verwirrung der Beschreibung wendet, entscheidet man sich nicht gegen eine Beschreibung der Verwirrung.“ (Der Philosoph im Messingkauf) Vgl. BFA 21, S. 440: „Der moderne Zuschauer, so wurde vorausgesetzt, wünscht nicht, irgendeiner Suggestion willenlos zu erliegen und, indem er in alle möglichen Affektzustände hineingerissen wird, seinen Verstand zu verlieren. Er wünscht nicht, bevormundet und vergewaltigt zu werden, sondern er will einfach menschliches Material vorgeworfen bekommen, um es selber zu ordnen. Deshalb liebt er es auch, den Menschen in Situationen zu sehen, die nicht so ohne weiteres klar sind, deshalb braucht er weder logische Begründungen noch psychologische Motivierungen des alten Theaters.“ 26 GW 16, S. 582 27 BFA 21, S. 390 (1930/31) 28 J. Knopf, Bertolt Brecht, Reclam 2000, S. 36f. 29 BFA 22.2, S. 715 (B17)

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sich gerade dadurch als nützlich, weil sie dazu antreibt, in weiteren Versuchen über das

Bestehende hinauszudenken, und so im Sinne der Wissenschaft prognostisch denken zu

können. So erklärt der Philosoph im Messingkauf:

„Ihr müsst wissen, mich verzehrt eine unersättliche Neugier, die Menschen angehend;

ich kann nicht genug von ihnen sehen und hören. Ich will immer wissen, wie ihre

Unternehmungen zustande kommen und ausgehen, und ich bin darauf aus, einige

Gesetzlichkeiten darin zu erkennen, die mich instand setzen könnten, Voraussagen zu

machen.“30

1931 plante Brecht einen „Marxistischen Klub“ für „marxistische Studien“ zu gründen. Ob er

jemals tagte, ist nicht überliefert.31 Zum Kreis eingeladen werden sollte vermutlich auch Kurt

Lewin. Brecht stellte handschriftlich eine Liste zusammen, auf der der Name – allerdings

nicht ganz leserlich – auftaucht. In Schreibmaschinenschrift übertragen findet man auf einem

anderen Dokument den Namen „Karl Lewin“.32 Als Referatsthemen wurden u.a. „Das

Weltbild der bürgerlichen Physik“ und der „Behaviorismus(Psychologie)“ festgehalten.33

Persönlich haben Brecht und Lewin sich wohl erst in der Emigration kennengelernt. In

New York, im Frühjahr 1943, notiert Brecht mit einem ironisch-abschätzigen Unterton:

„Neue Bekanntschaft: Kurt Lewin, der in Iowa unter Scouts und Arbeitern ‚Führerbenehmen‘

ausbildet und mich einlädt, interessiert an dem ‚Bösen Baal dem asozialen‘“34 – ein

unvollendetes Lehrstück-Projekt. Beide waren allerdings schon in Berlin mit Karl Korsch

befreundet.35 Lewin kennt ihn seit Studienzeiten.3637

Im Folgenden gehe ich der Frage nach, inwieweit Brecht und Lewin mit dem

Feldbegriff an einem ähnlichen Problem arbeiten, wenn auch auf recht unterschiedlichen

Gebieten, und inwiefern sich dabei der Einfluss der Diskussionen in der Physik und der

Philosophie ihrer Zeit bemerkbar macht. Damit zeige ich, inwiefern Lewins psychologischer

Feldbegriff für Brecht eine andere Bedeutung hat als der der Physik. Des Weiteren gehe ich

Spuren nach, die darauf hindeuten, dass Brecht auch von Lewins Schrift zum Übergang der

aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie Kenntnis nahm.

Hierbei werden auch über Lewin hinausführende Gedankengänge herausgearbeitet, die über

30 BFA 22.2, S. 780 31 E. Wizisla, Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft, Suhrkamp 2004, S. 81 32 S. 325f 33 S. 327 34 BFA 27, Arbeitsjournal, S. 150 35 U. Sautter, Brechts logischer Empirismus, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 4, 1995, 701. 36 Lewin verfasst zusammen mit Karl Korsch den Vortrag Mathematic Construct in Psychology and Sociology für den 5. Internationalen Kongress der Einheitswissenschaft, veröff. 1939. BFA 27, S. 456 37 Korsch, K., Gesamtausgabe Bd. 8, Briefe 1908-1939, Amsterdam, S. 365. Anders als in der Korsch-Ausgabe wir in der BFA angegeben, dass Lewin „der Berliner Gruppe der Gesellschaft für empirische Philosophie nahe[stehe] und […] dort 1930 die Bekanntschaft mit Karl Korsch“ gemacht habe. BFA 27, S. 456

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die „Einzelpsyche“ hinaus den Weg für eine Psychologie kollektiver Lern- und

Veränderungsprozesse bereiten.

2. Der Kontext der 1930er Jahre

Die positivistischen Strömungen des Logischen Empirismus (Hans Reichenbach, Rudolf

Carnap, Otto Neurath u.a.) sind sowohl für Brecht383940 als auch für Lewin41 wichtige

Bezugspunkte. Für letzteren ist vor allem die Idee einer Einheitswissenschaft, das heißt die

Überwindung des „radikalen Zweischnitts zwischen Natur- und Geisteswissenschaften“

bedeutsam.42 Darüber hinaus hat die Schule der Gestalttheorie (Wolfgang Köhler, Max

Wertheimer u.a.) Einfluss auf seine Arbeiten. Lewins Werke werden ihr teilweise

zugerechnet, obwohl sie sich weit über den Rahmen der Untersuchung von Gestaltgesetzen

hinaus bewegen.

Gemeinsame Bezugspunkte für Brecht und Lewin sind um 1930 in der Physik die

Entdeckungen der Quantenmechanik (Max Planck, Werner Heisenberg, Nils Bohr u.a.) und

der Relativitätstheorie (Albert Einstein).

Max Planck veröffentlicht 1900 die Forschungsarbeit, wonach die Energie von

elektromagnetischer Strahlung von Atomen nicht gleichmäßig, sondern in Sprüngen

(Quanten) freigegeben oder aufgenommen wird -- das nach ihm benannte Plancksche

Wirkungsquantum. Ein physikalisches System kann demnach bei einer gegebenen

harmonischen Schwingung Energie nur in diskreten Beträgen, in einem ganzzahligen

Vielfachen des Schwingungsquants, aufnehmen oder abgeben. Der Begriff des

Quantenobjekts vereint dabei Eigenschaften, die sich im Paradigma der bisherigen Physik

gegenseitig ausschlossen. Er überwirft sich mit dem Grundbegriff der Materie der klassischen

Physik.

Das Atom, das einst Unteilbare, wird teilbar. 1913 entwickelt Nils Bohr sein

Atommodell, in dem Elektronen in Schalen um den Atomkern kreisen. Mit Hilfe neuer

Apparaturen werden Beobachtungen an Elektronen möglich. 1927 wird das berühmte

Doppelspaltexperiment durchgeführt, in welchem sich erklärungsbedürftige Inferenzmuster

zeigen, da etwas entweder nur Teilchen oder nur Welle, aber nicht beides gleichzeitig sein

konnte. Die Quantentheorie wird Katalysator für eine philosophische Wende.

38 Vgl. W. Hecht (Hg.), Brecht 73; Berlin 1973 39 U. Sautter, Brechts logischer Empirismus, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 4, 1995, 687-709. 40 Uludag, K., Brechts Übertragungen aus den physikalischen Theorien, Institut für kritische Theorie (Hrsg.), Brecht – Eisler – Marcuse. 100 Jahre. Hamburg: Argument 1999, S. 21-32 41 Vgl. Anmerkungen teils von Lewin teils vom Herausgeber, Alexandre Métraux, zu Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie in der Werkausgabe zur Wissenschaftstheorie, KLW 1, S. 273-278 42 Ebd., S. 272

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Aber schon davor stellte der Feldbegriff in der Physik mechanische, an materiellen

Eigenschaften ansetzende Erklärungen in Frage. Michael Faraday macht 1845 Beobachtungen

von polarisiertem Licht unter magnetischem Einfluss und benutzt zur Beschreibung den

Begriff des „Magnetfeldes“. 1852 beschreibt er in dem Aufsatz Über den physikalischen

Charakter der magnetischen Kraftlinien, wie das Magnetfeld ganz anders als das

Gravitationsfeld Kraftlinien hätte, die vergrößert, verkleinert und abgelenkt werden könnten

und zwar in Abhängigkeit zum jeweiligen Medium. Er folgert, dass es Ursachen außerhalb

der materiellen Eigenschaften des untersuchten Gegenstands geben müsse. Dazu müsste man

elektromagnetische Wirkungen aber auch in einem perfekten Vakuum untersuchen.43 Da ihm

dafür die Möglichkeiten fehlen, schließt er auf veränderbare Eigenschaften des „Äthers“, die

das Verhalten der Lichtstrahlen bestimmen würden. Seine Äthertheorie rekurriert damit

immer noch auf mechanische Eigenschaften eines Mediums als etwas Ursächliches. Der

Feldbegriff blieb so mit der Verknüpfung des Äthers vom Raumbegriff kaum unterscheidbar.

Erst durch die Arbeiten von Planck zur Wärmestrahlung rückte er an den modernen

Systembegriff heran.44.

Die allgemeine Relativitätstheorie Einsteins schafft den Durchbruch, den Raum in

Abhängigkeit der Bewegung der Materie zu denken. Die Annahme von Feldeigenschaften,

welche sich durch die Beziehung zwischen den Feldelementen ergeben, befördert eine

systemtheoretische Begriffsbildung. Der Feldbegriff steht damit für eine höhere Ordnung, die

es theoretisch durch die spezifischen Relationen und nicht mehr allein durch die Elemente

und ihre Wesenseigenschaften zu bestimmen gilt.

Werner Heisenbergs Unschärferelation (1927) formuliert die Einsicht, dass sich exakte

Messungen des Orts und des Impulses bei einem Elektron zur gleichen Zeit ausschließen. Der

Zusammenhang erklärt sich nach Heisenberg aus den Eigenschaften eines Quants – oder

anders gesagt, aus der Schwierigkeit, dass sich die räumliche Position eines Elektrons nur

messen lässt, wenn man es mit Licht bestrahlt, damit also die Schwingung des Elektrons

beeinflusst. Weil sich der Ort des Elektrons umso genauer bestimmen lässt, je kürzer die

Wellenlänge des Lichts ist, schlussfolgert er, habe jeder Messvorgang Auswirkungen auf die

Bewegung des Elektrons. Heisenberg vermutet, dass die Unschärfe der Messung

unüberwindbar sei, weil mit kürzeren Lichtwellen auch der Rückstoß, mit dem ein

abgelenktes Photon auf das Elektron wirkt, größer würde, so dass mit größerer Präzision der

Ortsbestimmung sich zugleich die Genauigkeit der Geschwindigkeitsbestimmung verringere.

Allerdings ist aus heutiger Sicht die Annahme einer direkten Beziehung zwischen dem

43 M. Faraday, On the Physical Character of the Lines of Magnetic Force, Philosophical Magazine and Journal of Science, Vol. 3, No. 20, June 1852, pp. 401-427

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Messvorgang und der Ungenauigkeit fragwürdig.45 Der indirekte Weg der Erkenntnis, der

aufgrund der Art der Forschungsgegenstände auf Apparaturen und theoretisches Denken

zurückgreifen muss, stellt sich erneut als Problem einer unerreichbaren Unabhängigkeit von

Messprozedur und des zu vermessenden Systems dar.

2.1 Adaptionen bei Brecht Die Unschärfe, dass „das Untersuchte [...] durch die Untersuchung verändert“ wird,46

interpretiert Brecht nicht als Unzulänglichkeit der Wissenschaft oder der Methoden, sondern

wendet sie als Bestätigung der philosophischen Einsicht, dass „man die Dinge erkennen

[kann], indem man sie ändert.“47 Die Unschärferelation wird zu einer Formel für das

Entwicklungsverhältnis von praktischem und gedanklichem Handeln. Sie ist in Brechts

Schriften ein wiederkehrendes Denkbild. So fragt der Philosoph im Messingkauf:

„Die Physiker sagen uns, dass ihnen bei der Untersuchung der kleinsten Stoffteilchen

plötzlich ein Verdacht gekommen sei, das Untersuchte sei durch die Untersuchung

verändert worden. Zu den Bewegungen, welche sie unter den Mikroskopen

beobachten, kommen Bewegungen, welche durch die Mikroskope verursacht sind.

Andrerseits werden auch die Instrumente wahrscheinlich durch die Objekte, auf die sie

eingestellt werden, verändert. Das geschieht, wenn Instrumente beobachten, was

geschieht erst, wenn Menschen beobachten?“48

Das Augenmerk auf die Lern- und Handlungsfähigkeit der Subjekte legend spielt Brecht auch

bei der Bestimmung des „eingreifenden Denkens“ auf Heisenberg an: Zu wählen seien

„solchen Definitionen, die die Handhabung des definierten Feldes gestatten“: „Unter den

determinierenden Faktoren tritt immer das Verhalten des Definierenden auf.“49 Damit stellt

Brecht wie auch Lewins phänomenologische Reflexion der Kriegslandschaft die Subjekt- und

Praxisabhängigkeit des jeweiligen Feldverständnisses in den Vordergrund. Auch die

Vorstellungen von einem physikalischen Feld bzw. Raum, der nicht mehr absolut, sondern

relativ zu den in ihm befindlichen Elementen existiert, wird von Brecht aufgegriffen:

44 http://www.physikdidaktik.uni-karlsruhe.de/altlast/14.pdf 45 Die Unschärfebeziehung ist mittlerweile in der Physik anders interpretiert worden. Experimente, mit denen die Messungenauigkeit aus der Differenz einer schwachen und einer normalen Messung berechnet werden konnten, zeigten, dass die Unschärfe nicht so auftritt, wie Heisenberg sie angenommen hatte. Die Unschärfe bleibt als Tatsache dabei erhalten, wird aber nicht länger in erster Linie auf die Störung des Elektrons durch ein willkürlich darauf gerichtetes Photon zurückgeführt. R. Scharf, Der große Heisenberg irrte, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Beilage: Naturwissenschaft, 17.11.12. Online verfügbar: http://www.faz.net/aktuell/wissen/physik-chemie/quantenphysik-der-grosse-heisenberg-irrte-11959435.html . 46 BFA 22.2, S. 730 47 BFA 21, S. 425 48 BFA 22.2, S. 730 49 GW 20, S. 168

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„Die Relativitätsphysiker machen die Eigenschaften des Raums abhängig von der

Verteilung der Materie. Ich bin unfähig, solche Sätze zu lesen, ohne an so was wie

‚soziale Räume‘ zu denken.“50

Aus dem methodisch-technisch unüberwindbaren Problem der Unschärfe resultieren

seinerzeit auch wissenschaftstheoretische Überlegungen, wie man bei Untersuchungen mit

vielen gleichzeitig wirkenden Gesetzmäßigkeiten umzugehen hat. Angesichts sich komplex

überlagernder und wechselwirkender Naturgesetzmäßigkeiten, bei welchen sich nicht mehr

im Einzelnen untersuchen lässt, was Ursache und was Wirkung war, wird als Lösung eine

lineare und absolute Vorstellung von Kausalität zugunsten einer strukturalen und statistischen

aufgegeben. Brechts Me-Ti greift diese Frage auf und rückt die Indetermination bei

quantenphysikalischen Experimenten in die Nähe der Eigensinnigkeit menschlichen

Verhaltens:

„Eben jetzt stellt die Physik fest, dass die kleinsten Körper unberechenbar sind, ihre

Bewegungen sind nicht vorauszusagen. Sie erscheinen wie Individuen, mit eigenem

freien Willen begabt. Ihre Bewegungen sind nur deshalb schwer oder nicht

vorauszusagen, weil für uns zu viele Determinierungen bestehen, nicht etwa gar

keine.“51

Brecht erkennt, dass zur Lösung dieses Problems der Feldbegriff relevant ist. Die Annahme

eines Feldes ist aber nicht Selbstzweck. Die Eigenschaften eines Feldes müssen dazu dienen,

Einzelfälle erklären zu können. Ihre Erklärung bleibt allerdings vage, im Rahmen

‚statistischer Kausalität‘:52

„‚Die Welt ist ausdeterminiert‘ ist ein leerer Satz, da er nicht für die Menschen gilt.“ --

„Die Fragestellung Determinismus od er Indeterminismus ist völlig hoffnungslos.

Wenn alles, was geschieht, determiniert ist, sind die Ketten der Determinierungen

unendlich, und unendliche Ketten können wir nicht überblicken. So ist also ein

völliges Ausdeterminieren unmöglich.“53

Brecht folgt sozusagen dem „Skandal der Quantenmechanik“, „dass trotz vollständiger

Bekanntheit des Systems nur Wahrscheinlichkeiten voraussagbar sind“54, und hebt hervor:

„Die Wahrscheinlichkeitskausalität der Physiker erlaubt jedenfalls gewisse Aussagen

auch bei unregelmäßigen und komplexen Ereignissen.“55

50 BFA 27, Arbeitsjournal, 7.1.42 51 GW 12, S. 568 52 vgl. W.F. Haug, Philosophieren mit Brecht und Gramsci, Hamburg 1996, S. 54 53 BFA, AJ 23.3.42 54 Uludag, K. a.a.O., S. 28 55 BFA 27, AJ, 23.03.42

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Brecht inspiriert der Rekurs auf Wahrscheinlichkeiten, weil sie ihm für die Dramatik nützlich

erscheinen. Die Neigung des Alltagsverstands und des pseudowissenschaftlichen Denkens,

das sichtbare Verhalten von Menschen verdoppelnd aus ihrem jeweilig angenommenen

inneren Wesen zu erklären, soll dadurch irritiert und überwunden werden. Brecht hofft, im

Zuschauer ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass „nicht nur die Verhältnisse zwischen den

Menschen […] zu Prozessen“ wurden, sondern auch „der Mensch selber“.56 Aber er wendet

sich zugleich gegen die Affirmation dieser Auflösung des Menschen in Prozesse und macht

genau hieran die Unzulänglichkeit der Psychologie fest:

„Das Unteilbare, das Individuum, in seine Bestandteile zerfallend, erzeugte die

Psychologie, die den Bestandteilen nachging, natürlich ohne sie wieder zu einem

Individuum zusammenzubringen.“57

Auf die Psychologie Kurt Lewins trifft diese Kritik jedoch nicht zu. In welcher Weise sie

Brecht nachweisbar und möglicherweise inspirierte, verdient daher herausgearbeitet zu

werden.

3. Der Feldbegriff – seine Bedeutung in der lewinschen Psychologie und im brechtschen

Theater

3.1 Bezüge zur Gestalttheorie bei Lewin Bei Wertheimer fasst der Feldbegriff Strukturierungen des Sehfeldes.58 Beispielsweise

erscheine „ein homogenes Feld“ wie eine weiße Fläche „als Ganzfeld, es setzt einer

‚Trennung‘, ‚Zerreißung‘, ‚Unterbrechung‘ Widerstand entgegen.“ Erst die Diskontinuität

einer Figur-Grund-Beziehung erzeuge Aufmerksamkeit für etwas:

„Aufmerksamkeitsverteilung, Fixation usw. bedingen sich unter natürlichen

Verhältnissen in der Regel sekundär von den Konstellationsverhältnissen im Ganzen

her, wieder in erster Linie von der ‚Hauptverteilung‘ in großen Zügen her. […]

Künstlich erzielte Verschiebung des Aufmerksamkeitsbereiches setzt unter Umständen

andere, neue Feldbedingungen.“59

Mit diesem Feldbegriff lassen sich so verallgemeinernd Anordnungen von Elementen dahin

untersuchen, ob sie zu einer Figur- bzw. Gestaltwahrnehmung führen.

Lewin arbeitet an ähnlichen wahrnehmungspsychologischen Fragen, wenn er z.B. von

Dingen spricht, die „Aufforderungscharakter“ hätten. Damit meint er, dass sich Dinge im

56 BFA 21, 320 57 BFA 21, S. 435 (1930/31) 58 Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt, Psychologische Forschung, 4. Jg., H. 1, 1923, 301-350; S. 347ff. 59 Ebd.

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Gesichtsfeld eines Menschen selten neutral, sondern mal als interessant, mal als abstoßend für

jemanden darstellen. Der Begriff ist sowohl ein phänomenologischer im Sinne einer konkret

beschreibenden Erfahrungskategorie als auch ein theoretisierender, indem er auf die Relation

zwischen situativ wahrgenommener Brauchbarkeit und Interessantheit eines Gegenstands

abhebt. Lewin interpretiert diese Relation dabei nicht nur wahrnehmungs-, sondern auch

verhaltenspsychologisch als eine spezifische Beziehung zwischen Person und Umwelt. Die

Veränderung im Verhalten wie der Umschlag in einer Handlung, die zunächst attraktiv

erschien, hin zur Sättigung und Übersättigung, wonach eine Handlung, häufig in einer

hochemotionalen Weise, unter- oder sogar ganz abgebrochen wird, ist Thema seiner

Forschung Ende der 1920er Jahre. Seinen Feldbegriff wird er später im Hinblick auf solche

spontanen Bewertungsmustern konstruieren und diese mit Begriffen der Physik, den Vektoren

und den Valenzen, belegen. Sie stehen dabei im Dienste des „Grundsatzes der konkreten

Ursachen“, das heißt, dass „nur existierende Fakten das Verhalten beeinflussen“ können.

Abgelehnt werden damit Vorstellungen der „älteren Assoziationstheorie“, die „die Frage:

‚Warum verhält sich eine Person auf die und die Weise?‘ häufig mit dem Hinweis auf ein

ähnliches Verhalten in der onto- oder phylogenetischen Vergangenheit der betreffenden

Person“ beantwortet.60 Lewin sucht so eine strikte Trennung zwischen historischen und

topologischen Erklärungsansätzen hervorzuheben und definiert den letzteren durch das

Postulat, dass „nur der gegenwärtige Zustand der Person ihr gegenwärtiges Verhalten

beeinflusst“ und somit nur die genaue Erforschung der „spezifischen dynamischen

Eigenschaften des dann gegenwärtigen Lebensraums“ Rückschlüsse auf Gesetzmäßigkeiten

erlaubten.61 Solche Überlegungen überträgt er schließlich auf das psychologische Gebiet der

Gruppendynamik.

Einem Brief von Korsch aus dem Jahre 1937 ist zu entnehmen, wie er Lewin von

gestalttheoretischen Theoremen bei der Analyse dynamischer Einheiten, d.h. der dynamischen

Beziehungen in Gruppen, abrät. Er weist ihn auf Ungenauigkeiten in seiner Argumentation

hin, dass Lewin zwar einerseits von „dynamischen Einheiten verschiedenen Grades“ als

„gestalten of greater or less unity“ spricht, dann aber die Gradunterschiede in Abhängigkeit

der Art der Kommunikation nicht genauer berücksichtigen würde: „Von der Art des

communicating process hängt nicht nur der degree, sondern auch die Existenz der

communication ab.“62 Man erkennt hier die systemtheoretische Grundproblematik, ob sich die

Einheit bzw. das aus Elemente entstehende Gebilde eines Ganzen dominant als Struktur

60 K. Lewin, Psychoanalyse und Topologische Psychologie (1936), In: Schriften zur Angewandten Psychologie, hg. v. H. Lück, Krammer 2009, S. 123f. 61 S. 125 62 S. 632ff. Der Brief an Kurt und Gertrud Lewin ist in Seattle geschrieben und auf den 3.5.1937 datiert.

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(Gestalt/System) oder als Prozess (Kommunikation) herleiten lässt. Korsch weist auf die

Wechselwirkung zwischen beidem hin. Erst wenn strukturell betrachtet zwei Elemente mit

einander verkoppelt sind, können sich Grade der Einheitlichkeit eines Ganzen unterscheiden.

Für eine Theorie gesellschaftlicher Widersprüche ist dies bedeutsam.

Korsch wendet ferner ein, dass „für Deine ‚gestalten of greater or less unity’ [...] in

keiner Weise mehr die Definition“ passe, „dass ‚a change of one part results in a change in all

other parts“. Dieses ‚all‘ wirke „unverifizierbar, mystisch“ und widerspräche seiner

„Unterscheidung der Grade von dynamic unity“.63 Im Gestaltbegriff scheinen damit zwei

Erkenntnisperspektiven zu konfligieren: Einerseits geht es um dynamische Veränderungen,

mit denen erklärt wird, wie sich eine Einheit als Gestalt (als Ganzes) formiert, aber auch

wieder (partiell) auflösen können (Perspektive der Emergenz); andererseits soll wiederum die

Einheit die Stärke von Abhängigkeiten oder Beziehungen in einem Feld und die daraus

folgenden Prozesse erklären (Perspektive der systemischen Folgen). Das ‚Unverifizierbare‘

wäre demnach, der Struktur eines Feldes als Ganzes Macht zuzusprechen, die allen in ihr

enthaltenen Elementen gegenüber determinierend ist (Strukturdeterminismus). Der Gedanke

eines ausdeterminierten Systems ist hierin angelegt. Er widerspricht der Einsicht, dass

Dynamiken auch ein bestimmtes System, in dem sie gründen, sprengen und überschreiten

können.64

In Lewins Aufsatz zum „Übergang von der aristotelischen zu galileischen Denkweise

in Biologie und Psychologie“ tritt die von Korsch hervorgehobene Problematik noch nicht in

Erscheinung. Er behandelt die Kausalitätsproblematik aus psychologischer Sicht und stellt

zunächst einmal die Weichen für ein nicht-aristotelisches Kausalitätsverständnis. Sofern

Brecht über Korsch oder über die Ankündigung auf einer Rückseite der Zeitschrift von

Lewins Beitrag erfuhr, dürfte dieser, wie gesagt, bei ihm Interesse geweckt haben.

3.2 Der erste Band der „Erkenntnis“ und Lewins Beitrag Zunächst ein paar Informationen zu der damals unter neuem Titel erscheinenden Zeitschrift:65

In derselben Ausgabe betont Reichenbach, dass es Aufgabe der Wissenschaft sei,

insbesondere der Philosophie, „wissenschaftliche Entdeckungen mit der Welt des täglichen

Lebens zu einem einheitlichen Weltbild zusammenzufügen.“66 Denn wenn „die Philosophen

63 S. 633 64 Langemeyer, Ines, Das Wissen der Achtsamkeit. Kooperative Kompetenz in komplexen Arbeitsprozessen. Münster: Waxmann 2015. 65 Der frühere Titel war „Annalen der Philosophie“. 66 Reichenbach schreibt zur Programmatik der Zeitschrift:

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Entdeckungen wie die relativistische Zeitlehre, die nicht-euklidischen Raumformen, die

quantenmechanische Begrenzung des Kausalitätsgedankens Arbeitshypothesen oder Fiktionen

genannte haben, so haben sie damit [einen] Grenzstrich gezogen“, wodurch die „Wissenschaft

ein Sonderdasein“ erhalte.67 Zwischen Empirismus und Theorieentwicklung klaffe die

philosophische Aufgabe, Verbindungen zu schaffen, die nicht rein spekulativer Natur sind.

Carnap erklärt vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit einer Einheitswissenschaft.

„Hier liegt […] die Quelle [einer] unglücklichen Spaltung, und der wissenschaftlich

Ungeschulte wird sie bei aller Tapferkeit seines Lernbedürfnisses nicht überbrücken,

wenn nicht von Seiten der Philosophie her zuvor der Weg zur Einheit aufgezeigt

worden ist.“68

In Wege der wissenschaftlichen Weltauffassung69 bestimmt Otto Neurath als deren

„Grundeinsichten“, dass „zwischen den verschiedenen Wissenschaftsgebieten nur praktische

und keine prinzipiellen Grenzen bestehen.“70 Der Logische Empirismus lehnt – in Carnaps,

Hahns und Neuraths Worten – die „dunklen Fernen und unergründlichen Tiefen“ der

metaphysischen Wesensschau ab.71 Carnaps Anliegen in seinem Beitrag Die alte und die

neue Logik ist es, die „Prädikatenlogik“ zu einer „Logik der Relationen“ zu erweitern, weil

erstere nur eine Ursache anzugeben vermag.72

„Unsere Zeitschrift will keine Lehrmeinungen, keine ausgedachten Systeme, keine Begriffsbildung; sie will Erkenntnis. Die ‚Erkenntnis’ ist eine Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie. Sie ist nicht festgelegt auf die Methoden eines philosophischen Systems, sie sieht Philosophie nicht in einem Eigenrecht der Vernunft gegründet, welche unabhängig von den Fachwissenschaften Erkenntnisse allgemein verpflichtender Art aufrichten könnte, sondern sie will Philosophie nach den Methoden der Einzelwissenschaften treiben, ohne das Vorurteil einer übergreifenden Erkenntnis a priori allein aus der Fragestellung konkreter Probleme heraus. Die Form der Zeitschrift ist der gegebene Ausdruck für eine solche Philosophie, in der es Einzelprobleme unabhängig vom Rahmen eines Systems zu lösen gibt und in der Erkenntnisse von vielen zum Bau einer Gesamtwissenschaft zusammengetragen werden - der es um ‚Erkenntnis‘ zu tun ist in dem gleichen Sinn wie jeder Fachwissenschaft. Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (Hrsg.), Die Erkenntnis, Band I, Leipzig 1930-31, zugleich "Annalen der Philosophie", Bd. 9, S. 50 67 S. 50 68 S. 50f. 69 Im Heft aus dem Nachlassbestand finden sich zu Neuraths Artikel Anstreichungen und Kommentare von Brecht. 70 S. 313f 71 Carnap, Hahn, Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung: Der Wiener Kreis 1929, S. 15 72 Carnaps Anliegen korrespondiert mit Lewins Forderung nach Funktionsbegriffen und mit Brechts Interesse für die Überwindung einer eindimensionalen Vorstellung Kausalität – in der Prädikatenlogik wie folgt beschrieben: „Wenn jeder Satz einem Subjekt ein Prädikat zuschreibt, so kann es im Grunde nur ein Subjekt geben, das Absolute; und jeder Sachverhalt muss darin bestehen, dass dem Absoluten ein gewisses Prädikat zukommt.« (1930/31, 18, zit. nach Ulrich Sautter 1995, S. 698f).

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Lewin greift dasselbe Problem in der Psychologie auf, so der Herausgebers des ersten

Bandes der Kurt Lewin Werkausgabe Alexandre Métraux:73 Der Begriff der

Einheitswissenschaft solle für Lewin „mehr besagen […] als die sicherlich richtige

Behauptung, dass alle Wissenschaften gleichermaßen aus ‚begrifflichem‘ Material bestehen“,

vielmehr gehe es um die Aufhebung des „radikalen Zweischnitts in Natur- und

Geisteswissenschaften“.74

Lewin rückt dazu „Fragen der Dynamik“75 in den Mittelpunkt, die die „massiven

Unterschiede der Denkweise“ in der Physik Galileis und Aristoteles’ zutage treten lassen.76 Er

sieht den Mangel der aristotelischen Physik darin, dass sie einem Gegenstand per

Klassifikation ein Wesen zuordnet und darüber „sein Verhalten in positiver und negativer

Hinsicht“ erklärt.77 Aristoteles‘ „Klassifikationen bewegten sich häufig in Gegensatzpaaren

(wie warm und kalt, feucht und trocken) und trügen einen ‚absoluten‘, starren Charakter.“78

Seine Begriffe seien „anthropomorphe,“ „unexakte“ Veranschaulichungen und implizieren

Werte: während den Himmelskörpern vollendete Kreisbewegungen zukämen, sei die

‚irdische‘ Welt „ihrem Wesen nach minderer Art.“79

Statt der absoluten Gegensätze findet Lewin bei der moderne Physik fließende

Übergänge, denn „an die Stelle von ‚Substanzbegriffen‘ treten ‚Funktionsbegriffe‘.“80 Die

aristotelischen Substanzbegriffe würden eine Abstraktion der Art vollziehen, dass der

„Aufstieg zum Allgemeinen zugleich ein Fortlassen der konkreten Unterschiede bedeutet.“ So

sei man gezwungen, „sich entweder auf einen engen Gegenstandbereich zu beschränken oder

bei der Ausdehnung des Bereiches die Begriffe immer mehr zu verdünnen.“81 Damit kann

Aristoteles „gesetzlich und [...] begrifflich“ nur fassen, „was ausnahmslos geschieht“ und

ferner, „was häufig geschieht“; das Kriterium für Gesetzlichkeit ist die „Regelmäßigkeit,“

„mit der gleiche Vorgänge in der Natur vorkommen.“82 Im Vordergrund stehe der „stärkste

Grad des Allgemeinen,“83 „ausgeschlossen aus dem Kreise des begrifflich Fassbaren, nur

‚zufällig‘, ist das Einmalige, das Individuum als solches“84,85.

73 K. Lewin, Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie. In: Die Erkenntnis 1931, Bd. 1, S. 421-466. Zugleich: In C.-F. Graumann (Werk-Hrsg.) & A. Métraux (Hrsg.), Kurt Lewin Werkausgabe: Band 1.Wissenschaftstheorie (S. 233–278). Stuttgart, Germany 1981: Klett- Cotta. (zit. KLW 1) 74 S. 272, Fußnote 3 75 S. 234 76 Ebd. 77 S. 236 78 ebd. 79 S. 235f 80 S. 236 81 ebd. 82 S. 237 83 S. 238 84 S. 237

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Während die Begriffe der aristotelischen Physik „ursprünglich“ „auf die

‚Wirklichkeit‘ im speziellen Sinn der historisch-geographischen Gegebenheit“ bezogen

seien,86 wende die neue Physik dieses Verständnis von Empirie: „Es ist dasselbe Gesetz, das

den Lauf der Gestirne und das Fallen des Steines bestimmt.“87 Ein „funktionelleres Denken“

löse das begriffliche Raster der aristotelischen Klassen ab und operiere mit „konditional-

genetischen Begriffen“88.

FÜR ARISTOTELES GALILEI

1. ist das Regelmäßige das Häufige das Individuelle

ü ý gesetzlich þ zufällig

ü | ý gesetzlich | þ

2. sind Kriterien der Gesetzlichkeit

Regelmäßigkeit Häufigkeit

besondere Kriterien sind unnötig

3. ist das, was historisch-geographisch gegebenen Fällen gemeinsam ist

ein Ausdruck des Wesens der Sache

ein ‚Zufall‘ (nur historisch bedingt)

Tabelle 189

Bei Aristoteles gehe die Begriffsbildung an den Problemen eines komplexen dynamischen

Geschehens vorbei.

„Ein Hauptcharakteristikum der aristotelischen Dynamik ist der

Umstand, dass das Geschehen mit Hilfe von Begriffen erklärt wird,

die wir heute als spezifisch ‚biologisch‘ oder psychologisch

empfinden: Jeder Gegenstand strebe, sofern er nicht durch andere

Gegenstände daran gehindert wird, zu seiner Vollendung, zur

Realisierung seines eigentlichen Wesens.“

Deshalb fassten die aristotelischen Begriffe die Zusammenhänge lediglich auf

eine Weise, dass

„ganz generell die Ursache eines physikalischen Geschehens eine

enge Verwandtschaft mit psychologischen ‚Trieben‘ [hat]: Der

Gegenstand strebt auf ein bestimmtes Ziel zu; soweit es sich um

Bewegungen handelt, tendiert er zu jenem Ort, der dem Gegenstand

85 Vgl. Aristoteles, Die Poetik, Reclam,S. 28f/29f. 86 S. 239 87 S. 243 88 S. 241 89 S. 278

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wesensmäßig zukommt. So strebt das Schwere nach unten, und zwar

um so stärker, je schwerer es ist, das Leichte aber nach oben.“ 90

Die Dynamik des Geschehens ist hier nur durch einen einzigen Vektor darstellbar, während

bei der modernen Physik das „Zueinander mehrerer physikalischer Fakten“, d.h. die

„Beziehung des Gegenstandes zur Umgebung“ untersucht wird.91 Die Erkenntnismethode

darf die Einflüsse der „Situation,“ in denen sich der Gegenstand befindet, nicht mehr

ausschalten, sondern muss sie begrifflich genau erfassen. „Sie nimmt auf die Gesamtsituation

in ihrer vollen, konkreten Individualität Bezug, also auf das So-Sein der Situation in jedem

einzelnen Zeitmoment.“92 Experimente müssten deshalb einer ganz anderen Zielsetzung

unterworfen werden. Zur Theorieentwicklung sollten sie nicht mehr nur gleiche Vorgänge zu

reproduzieren versuchen. Das bloße Reproduzieren kann aus Lewins Sicht eine Theorie weder

bestätigen noch widerlegen. Stattdessen müssten Experimente dazu dienen, einen „‚reinen‘

Geschehenstypus“ zu produzieren, um Gesetzmäßigkeiten begrifflich „rekonstruieren“ zu

können.93 Dabei käme es darauf an, „solche Situationen herzustellen, dass sich dieser ‚reine‘

Geschehenstypus faktisch ergibt, beziehungsweise dass er begrifflich aus dem tatsächlichen

Geschehen rekonstruiert werden kann.“94 Wie häufig ein Geschehen empirisch vorkommt, ist

für diese Frage irrelevant. Nur das, was zwingend eintritt, könne gesetzmäßig sein. Letzteres

sei mit konditional-genetischen Begriffen zu fassen. Historisch-geographische Begriffe

könnten hinzugenommen werden, um ein Geschehen über seine nicht-gesetzmäßigen

Zusammenhänge hinaus zu erhellen.

Psychologische Forschung könne entsprechend menschliches Handeln nur in Bezug

zum Kontext einer Situation untersuchen. Anders gesagt, sei die „Dynamik des Geschehens

[...] allemal zurückzuführen auf die Beziehung des konkreten Individuums zur konkreten

Umwelt und, soweit es sich um innere Kräfte handelt, auf das Zueinander der verschiedenen

funktionellen Systeme, die das Individuum ausmachen.“ 95

Alle darin wirkenden Kräfte und „Geschehensdifferentiale“ wären für die

Theoriebildung bedeutsam. Denn es änderten sich nicht nur Kräfte innerhalb einer Situation,

sondern „mit dem Geschehen auch […] die Gesamtsituation“.96 Mit dieser Anlehnung an die

Gestaltpsychologie grenzt sich Lewin davon ab, Menschen über ein „Gesetz des

Durchschnittsverhalten“ erklären zu wollen oder sie als milieudeterminiert zu bezeichnen.97

90 S. 258 91 S. 259 92 S. 264 93 Ebd. 94 Ebd. 95 S. 270 96 S. 271 97 S. 268

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Der psychologische Gesetzesbegriff ist im Begriff des Geschehenstypus zu verankern. Dazu

schlägt Lewin vor, Experimente zu wiederholen, wobei man sie, um den Geschehenstypus zu

bestimmen, systematisch variiert und die „Geschehensdifferenziale“ in den Blick nimmt.98

Wie er in Gesetz und Experiment in der Psychologie schreibt, seien eben nicht gleiche

Ergebnisse von Bedeutung sondern verschiedene Fälle,99 weil,

„die Bestimmung eines empirischen Typus, zumal wenn es sich um

einen konditional-genetischen Typus eines Dinges oder Geschehens

handelt, nicht durch eine Wesensschau geschehen kann (auch nicht

durch direkte Wahrnehmung), sondern durch eine Untersuchung der

dynamisch konstituierenden Faktoren, die nur durch die reale

Veränderung realer Situationen zu erreichen ist.“100

Auf diese Weise nimmt der Gesetzesbegriff die konditional-genetischen Zusammenhänge auf,

während die historisch-geographischen Bedingungen nur erhellen, warum z.B. ein

bestimmtes Geschehen in bestimmten Situationen häufig oder selten auftritt.101 In dieser

Schlussfolgerung vollzieht Lewin eine ähnliche Trennung von Ebenen, wie sie die Physik

seiner Zeit vornimmt.

Da der Kontrollierbarkeit physikalischer Systeme in experimentellen Situationen

Grenzen gesetzt sind, muss die Wissenschaft einen Weg jenseits der direkten Wahrnehmung

einschlagen. Empirische Arbeiten müssen indirekt bzw. theoretisch verfahren, indem

planmäßige Eingriffe in ein komplexes System einem Ergebnis gegenübergestellt werden. Für

das Zusammenhangsdenken wird die Spekulation unentbehrlich.102 Die Beziehung zwischen

Theorieebene und Beweisebene ist weniger selbstverständlich und braucht einen eigenen

philosophischen Denkrahmen. In einem postum erschienen Aufsatz über Ernst Cassirers

Beitrag zur Wissenschaftsphilosophie nimmt Lewin dieses Problem erneut in den Blick:

„In der Physik tritt auf der Grundlage einer zunehmenden engen gegenseitigen

Abhängigkeit von Tatsachenfeststellungen und Theorie ein entsprechender Wandel

ein.“103

Noch einmal Bezug nehmend auf Cassirers Schrift zu Substanzbegriff und Funktionsbegriff

von 1910 weist er auf die Notwendigkeit einer reflektierten Verknüpfung zwischen

theoretischer Arbeit und indirekter Methode hin:

98 S. 263f 99 Lewin, K., Gesetz und Experiment in der Psychologie, KLW 1, 1981 (original erschienen 1927), S. 287 100 S. 291 101 S. 288 102 Uludag, K. a.a.O., S. 29. 103 K. Lewin, Cassirers Wissenschaftsphilosophie und die Sozialwissenschaften, KLW 1, 1981 (original erschienen 1949), S. 353

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„Kein Physiker experimentiert und misst in Wahrheit mit dem Einzelinstrument, das er

sinnlich vor Augen hat; sondern er schiebt ihm in Gedanken ein ideales Instrument

unter, in dem alle zufälligen Mängel, die dem besonderen Werkzeug notwendig

anhaften, ausgeschaltet sind. Messen wir etwa die Intensität eines elektrischen Stromes

durch die Tangentenbussole, so müssen die Beobachtungen, die wir zunächst an einem

konkreten Einzelapparat machen, ehe sie physikalisch verwendbar sind, zuvor auf ein

allgemeines geometrisches Modell bezogen und übertragen werden.“104

Dementsprechend wäre es notwendig, „bessere Begriffe und die Theoriebildung auf höheren

Ebenen zu entwickeln.“105 Schließlich resümiert Lewin noch einmal, worin die Parallelen

seines psychologischen Ansatzes und der Physik des zwanzigsten Jahrhunderts bestehen,

wobei nicht nur Cassirers Einfluss, sondern auch der der Gestalttheorie deutlich erkennbar

wird:

„Logisch gesehen gibt es keinen Grund für eine Unterscheidung zwischen der

Realität eines Moleküls, eines Atoms oder eines Ions oder, allgemeiner gesagt,

zwischen der Realität eines Ganzen oder derjenigen seiner Teile. […] Im

sozialen wie im physischen Feld sind die strukturellen Eigenschaften eines

dynamischen Ganzen von den strukturellen Eigenschaften der Teilbereiche

verschieden. Beide Eigenschaftsmengen müssen untersucht werden. Wann das

eine und wann das andere wichtig ist, hängt von der zu beantwortenden Frage

ab. Aber einen Realitätsunterschied zwischen ihnen gibt es nicht.“106

Für Lewin ist damit die Einheit der Wissenschaften in dieser methodologischen Einsicht

begründet. Die Gültigkeit von theoretisch-begrifflicher Erkenntnis interpretiert er ähnlich wie

Brecht praxeologisch, d.h. als eine praktische Beziehung zur Welt, worin die jeweiligen

Erkenntnisprobleme letztendlich gründen: „Die Realität dessen, worauf der Begriff sich

bezieht, ist dadurch gegeben, dass man etwas damit tut, und nicht dadurch, dass man es

anschaut.“107

3.3 Hinweise auf eine Verarbeitung des lewinschen Beitrags bei Brecht Obwohl es ungewiss ist, ob Brecht die „Erkenntnis“ schon mit dem ersten Heft las, lässt sich

vermuten, dass er über Gespräche mit Korsch von Lewins Argumenten und Arbeiten erfuhr.

Es finden sich in Brechts theoretischen Schriften einige Stellen, wie die über „Die Kausalität

104 Ebd. 105 S. 354 106 S. 356 107 S. 358

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in nichtaristotelischer Dramatik“, die den Eindruck erwecken, als ob er auf Lewins Beitrag

rekurrieren würde:

„Die Gestirnbahnen werden, wie man uns sagt, nicht eben von den perfektesten

Kreisen oder Ellipsen gebildet. Man kommt der wirklichen Bewegungsweise der

Gestirne am nächsten, wenn man sie sich in riesigen Röhren kriechend vorstellt: die

Röhren sind mathematische Figuren, aber die Gestirne haben in ihnen viel Freiheit,

und sie nutzen sie aus.“ 108

Brecht spielt hier nicht nur auf die statistische Kausalität an, sondern rekurriert

möglicherweise auch auf den von Lewin kritisierten unwissenschaftlichen Schluss der

aristotelischen Physik, dass sich die himmlichen Körper – im Unterschied zu den irdischen –

in „perfekten Kreisen oder Ellipsen“ bewegen müssten. Brecht folgt in derselben Schrift

eventuell noch einem weiteren Argument Lewins, die universelle Kausalität bzw. den

Strukturdeterminismus im Verhältnis zum Individuellen betreffend, wobei er wie dieser ein

‚Gesetz des Durchschnittsverhaltens‘ im Sinne einer pseudowissenschaftlichen Betrachtung

der Beziehung zwischen Individuum und Masse von einer gesetzmäßigen unterscheidet:

„Es würde uns an ihm [dem Individuum, I.L.] etwas fehlen, nämlich etwas

Individuelles, wenn es allzu widerspruchslos der gesetzmäßigen Bewegung der Masse

folgen würde, das wäre bei ihm der Sonderfall. Bedeutet das, dass wir mit dem

Individuum nichts mehr zu tun haben wollen, ihm gegenüber resignieren, keine

Kausalität mehr bei ihm festsetzen oder feststellen wollen? Keineswegs. Wir haben

lediglich unsere Ansprüche verschärft. [...] Wir müssen in gewissen Lagen mehr als

eine Antwort, Reaktion, Handlungsweise erwarten, ein Ja und ein Nein; beides muss

einigermaßen begründet, mit Motiven versehen erscheinen. Die Aufmerksamkeit, das

kausale Interesse, des Zuschauers muss auf die Gesetzmäßigkeit in den Bewegungen

der Massen der Individuen eingestellt werden. Er muss solche Massen hinter den

Individuen sehen, die Individuen als Massenteilchen in einer massenmäßigen

Reaktion, Handlungsweise, Entwicklung betrachtet.“109

An anderer Stelle wird Brechts Kritik am Durchschnittsbegriff noch deutlicher; sie wird hier

aber zugleich flankiert von einer Kritik an Verallgemeinerungen, die „größere Einheiten wie

Klassen“ für Kausalitätsbeziehung, also einen Strukturdeterminismus heranziehen und damit

die Ohnmacht des Einzelnen bloß affirmativ verdoppeln. Dies erinnert an Lewins Ablehnung

gegenüber Klassifikationen, die z.B. individuelles Verhalten als „milieudeterminiert“ zu

108 BFA 22.1, S. 395 (1938/39) 109 S. 396

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erklären meinen und dabei nur vom Besonderen immer mehr abstrahieren. Hier setzt zugleich

Brechts Kritik an einer affirmativen Psychologie an:

„Das Missverhältnis zwischen der Quantität der Einflüsse und der Kleinheit des ihnen

sich anpassenden Menschen, die sich in der Unbestimmtheit und Geringfügigkeit der

Folgen seiner Handlungen kundgibt, ist zu groß. […] Der ‚Durchschnitt‘ ist eine

wirklich nur gedachte Linie, und daher ist kein einziger Mensch in Wirklichkeit ein

Durchschnittsmensch. Die völlige Totheit der Type, ihre Billigkeit, Falschheit,

Unlebendigkeit ist notorisch.“110

All dies sind sicherlich nicht belastbare Funde, um annehmen zu können, dass Brecht Lewins

Beitrag zur „Erkenntnis“ kannte. Stärker wiegt dafür eine andere Stelle, wo er vorschlägt,

„den Einzelfall, mit dem wir es in der Dramatik zu tun haben, als solchen bezeichnen“ und

„seine Abweichungen vom ‚Gesetzmäßigen‘ immer wieder angeben“.111 Dies muss uns nach

der Lewin-Lektüre aufhorchen lassen, da Brecht hier einen Hauptgedanken der lewinschen

Psychologie in eigene Worte fasst, Erkenntnis gerade nicht aus der Bestätigung über

Häufigkeiten, sondern aus den ‚Geschehensdifferenzialen‘ systematisch variierter Situationen

zu ziehen.

3.4 Feldtheorie bei Lewin Ein „grundlegendes Kennzeichen der psychologischen Feldtheorie“ liege „in der Forderung,

das Feld, durch welches ein Individuum bestimmt ist, nicht in ‚objektiven, physikalischen‘

Begriffen zu beschreiben, sondern in der Art und Weise, wie es für das Individuum zu der

gegebenen Zeit existiert“.112 Wir erkennen hier, dass Lewin auch in späteren Jahren nicht von

phänomenologischen Erfahrungsbegriffen absieht, sondern diese in seine Feldtheorie zu

integrieren versucht. Sie steht im Dienst seiner Forderung nach gesetzmäßiger Erkenntnis,

weshalb er glaubt, aus der empirischen Untersuchung der Feldbedingungen im Verhältnis zur

psychologischen Situation (die z.B. Bedürfnisse und Vorsätze eines Einzelnen mit

einschließe) ein Ableitungssystem (‚system of deduction‘) gewinnen zu können. Allerdings

wären nicht konkrete Verhaltensweisen von Menschen daraus ableitbar, sondern lediglich ein

kohärentes System möglicher Ereignisse („a coherent system of ‚possible‘ events that are in

their totality an expression of the particular characteristics of this situation’).113 Diese

Annahme ist freilich gewagt, erkennt Lewin doch selbst, wie schnell sich in einem Moment

110 BFA 22.2, S.692 (1941/42) 111 BFA 22.1, S. 388 (1938/38) 112 K. Lewin, Feldtheorie und Lernen (1942), In: ders., Feldtheorie in den Sozialwissenschaften, Verlag Hans Huber, 2012, S. 103f. 113 Lewin, K., Principles of Topological Psychology, New-York—London 1936.

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die Bedeutung einer Tätigkeit subjektiv verändern kann114, wodurch sich sogleich eine

Situation im psychologischen Sinne gewaltig ändern würde. Lewin changiert zwischen

solchen phänomenologischen Akzentuierungen subjektiver Bedeutungen als

ausschlaggebende Umbildungen einer Situation und systemtheoretischen Überlegungen, die

ihre Erklärungskraft zum Teil aus Alltagseinsichten nehmen, dass z.B. ein Fluss für einen

Nichtschwimmer eine geographische Grenze darstellt und seine Lokomotion notwendiger

Weise unterbricht. Im übertragenen Sinne sollen Grenzen aber auch in der Bedeutung von

psychologischen Widerständen fungieren. So spricht er beispielsweise von einer Schwächung

von Grenzen zwischen „Regionen“ im Lebensraum eines Menschen, weshalb er die

Abhängigkeit und die Unabhängigkeit solcher Regionen zum Forschungsgegenstand macht.

Im Sinne einer Makro-Mikro-Dynamik wird bei Lewin dadurch auch die Beziehung von

historisch-gesellschaftlichen Veränderungen bzw. historisch-geographischen Bedingungen

auf individuelles Verhalten und Differenzen zwischen dem beobachteten Verhalten gefasst:

„There is no doubt that a weakening or loss of the boundaries between the different

regions of the environment can lead to a marked fluidity of the whole field. This can

be observed in the social field in revolutionary times when the barriers between groups

or barriers established by prohibitions break down; or when a child has been brought

up in strict obedience is suddenly placed in a field in which barriers of prohibition are

not clearly evident. The individual differences in such cases show that in addition to

the solidity of special boundaries one always has to deal with the general stability of

the particular life space.“115

Diese Übersetzung historisch-gesellschaftlicher Verhältnisse und subjektiver Veränderungen

von Wahrnehmungs- und Handlungsweisen in eine teils systemtheoretische Sprache bei

Lewin bleibt jedoch prekär. Die Feldtheorie nivelliert die Differenzen zwischen

gesellschaftlichen und subjektiven Grenzen, weshalb die konkreten Vermittlungsprozesse

zwischen Gesellschaft und Individuum aus dem Blick zu geraten drohen. Sie werden

insgesamt zugunsten einer Forschung nach gesetzmäßigen Zusammenhängen vernachlässigt.

3.5 Der Feldbegriff bei Brecht Der Feldbegriff wird bei Brecht in mehreren Hinsichten aktualisiert und interpretiert:

1. Das Feld wird verwendet für den Ort, an dem gesellschaftliche Verhältnisse aktualisiert

werden, denen der Denkende (auch als Betrachter) aber nicht neutral gegenübersteht. Er bleibt

114 Lewin, K., Field Theory and Learning, p.226, In K. Lewin, Resolving social conflicts & field theory in social sciences (pp. 212–230). Washington, DC: American Psychological Association. (Original work published 1942) 115 Lewin, K., Principles of Topological Psychology, New-York—London 1936.

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nicht außerhalb des Feldes, sondern muss sich immer als ein Teil der Verhältnisse mitdenken.

Brecht schafft mit dem Feldbegriff ein verändertes Bewusstsein für die Subjekt-Objekt-

Problematik.116

2. Aus 1. folgt, dass das Feld als Konstellation von Kräfteverhältnissen und Dynamiken

verstanden werden muss. In dieser Konstellation sollen die Denkenden sich selbst und die

Veränderbarkeit des Feldes begreifen. Das Feld wird damit Gegenstand des „eingreifenden

Denkens“.

3. Das Feld wird phänomenologisch für die szenische Darstellung gesellschaftlicher

Verhältnisse interpretiert als „doppelter Aspekt“ von Orten, der auf ihre gesellschaftliche

Verwertung verweist. Damit rückt das Problem kapitalistischer Verwertungspraxis und

antagonistischer Verhältnisse in den Blick.

Die hier aufgeführten Aspekte sind genauer zu erläutern. Bei allem geht es um Brechts

Ansatz, auf der Bühne eine Erkenntnis über das Gesellschaftliche nicht einfach nur

darzustellen, sondern über die Beziehung zwischen den Schauspielern bzw. über die

Beziehung zwischen Schauspielern und Zuschauern das Denken praktisch werden zu lassen.

Diese Beziehung ist nicht mehr nur eine erkenntnistheoretische,117 sondern vor allem eine

pädagogische und politische. Damit gilt es, nicht nur den Inhalt des Denkens (eine andere

Wahrheit anstelle jener ‚falschen Abbildungen‘, s.o.), sondern überhaupt die Relation von

Denken und Handeln umzuformen. Die idealistisch gefasste Subjekt-Objekt-Beziehung, die

ersterem eine gewisse Souveränität und Macht gegenüber dem letzteren unterstellt, wird

umgebaut in eine Feld-Person-Beziehung, in der die „subjektive Tätigkeit“ (Marx)

maßgeblich ist:

„Nicht das Verhalten kommt aus der Anschauung, sondern umgekehrt. Es soll also die

Anschauung aus dem Verhalten kommen.“118

Sich handlungsfähig zu machen in den Verhältnissen, an denen man teilhat, sind für die

Veränderungen des Denkens und überhaupt das Wachsen der eigenen Persönlichkeit

wesentlich geworden. Dies ist Hintergrund für Brechts Reflexion „Über die Person“:

„‚Ich‘ bin keine Person. Ich entstehe jeden Moment, bleibe keinen. Ich entstehe in

Form einer Antwort. In mir ist permanent, was auf solches antwortet, was permanent

bleibt. […] Ich könnte die Selbstkontrolle der Materie sein.“ 119

116 Hier ist David Robert zu widersprechen, dass Brecht durch die Gleichsetzung von Wissenschaftlichkeit und gesellschaftlichem Experiment Gefahr laufen würde, die Subjekt-Objekt-Trennung unkritisch zu übernehmen (S. 58). D. Robert, Brecht and the idea of a scientific theatre, in: Brecht Performance, 1987, H. 13, S. 41-60. 117 Vgl. „Wie sollte das Faktum begriffen werden, dass alles aber auch alles zur Ware geworden war? Die Begriffe selber waren zur Waren geworden. Die Rolle der Sprache war unbegrenzt, aber sie eignete sich nur mehr zum Missbrauch.“ BFA 21, S. 437 118 BFA 21, S. 402 (1930/31) 119 BFA 21, S. 404 (1930/31)

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Die Praxisphilosophie Brechts fasst entsprechend „unter Denken nicht jene Tätigkeit, die alle

andere Tätigkeit ausschließt, das was von den Philosophen gemeinhin reines Denken genannt

wird“120, sondern ein subjektiv tätiges In-der-Welt-Sein. So liest Brecht, wie selbst das „reine

Denken“ der idealistischen Philosophie eigentlich als ein praktisches in der Geschichte

auftritt, so, wenn Kant auf das „Ding an sich“ kommt:

„Die Frage nach dem Ding an sich wird gestellt in einer Zeit, wo auf Grund der

ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklung die Verwertung aller Dinge in Angriff

genommen wird. Die Frage aber zielte nicht nur ab auf die Auffindung neuer

Brauchbarkeiten an den Dingen, sondern bezeichnete auch den Widerspruch zu einer

Betrachtung der Dinge nur nach Verwertbarkeit hin […] Es entstanden dem

Betrachtenden Dinge, welche eigentlich Verhältnisse waren, und Beziehung zwischen

Menschen oder Dingen nahmen Dingcharakter an. […] Die Dinge sind für sich nicht

erkennbar, weil sie für sich auch nicht existieren können.“121

Der Feldbegriff wird daher als Referenzfolie benötigt, um die gesellschaftlich-strukturellen

Zusammenhänge menschlicher Praxis, die die „Dinge“ also hervorbringen, in ihrem

vermeintlich reinen Objektstatus in Frage zu stellen. Die praxisphilosophische Kritik an der

Objektform leugnet dabei an den Dingen nicht ihren „Dingstatus“, sondern historisiert den

Verdinglichungsprozess als Effekt von Feldkräften, indem sie das Auftreten der Dinge in

einem Feld rekonstruiert.

Deshalb folgert Brecht, dass die theoretische Arbeit des „eingreifenden Denkens“

immer der Praxis folgen müsse: „In der Praxis muss man einen Schritt nach dem anderen

machen – die Theorie muss den ganzen Marsch enthalten.“122 Die Begriffe, mit denen man

denkt, sollen – wie Brecht mit Lewin sagen könnte – bei der Erfassung größerer

Zusammenhänge sich nicht „verdünnen,“ d.h. sie dürfen sich nicht immer weiter vom

konkreten Praxisbereich entfernen und müssen statt auf Eigenschaften, auf die im Feld

wirkenden Kräfte abgestellt sein.123

Dazu dient bei Brecht auch das auf Carnap und Wittgenstein rekurrierende Programm

einer Sprachkritik,124 wo der Feldbegriff eine sprachphilosophische Anwendung findet:

Über eingreifende Sätze (um 1931):

120 BFA 21, S. 409f. 121 BFA 21, S. 412 122 BFA 21, S. 302 123 Pierre Bourdieu hebt auf diese relationale Denkweise in seiner Schrift Die Genese der Begriffe Habitus und Feld ab. Bourdieu, P., Der Tote packt den Lebenden, Hamburg 1997, 67. 124 Vgl. Haug, W.F., Philosophieren mit Brecht und Gramsci, Argument: Hamburg 1996

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„1) Die auftretenden oder zu konstruierenden (zusammenfassenden)

Sätze müssen da gefasst werden, wo sie als ein Verhalten wirken, also

nicht nur einseitig als Spiegelungen, Ausdrücke, Reflexe.

2) Die Sätze müssen aus den Köpfen auf die Tafeln.

3) Auf den Tafeln müssen sie ergänzt werden durch andere Sätze, die

sie benötigen, mit denen vereint sie auftreten. Es müssen die

Tangenten zu politischen Sätzen gezogen werden. Dies nennt man

‚das B zum A suchen‘. Aufzusuchen sind also die Strukturen von

Satzkonglomeraten, Ganzheiten. Dies nennt man ‚das Konstruieren

eines axiomatischen Feldes‘.

4) Zu lernen ist: Wann greift ein Satz ein?“125

Die Sprachkritik wird dadurch ein Ort des Lernens, die Brecht immer wieder mit

Handlungsanweisungen wie den folgenden verknüpft:

„Suche die Situationen auf, in welchen die gegebenen Sätze auftauchen

könnten. Von welcher Seite könnten sie auftauchen und zu welchem Zweck

gesagt werden.“126

„Was greift wo ein? Auflösung der Kategorien. Die Zertrümmerung des

‚beschränkten Zusammenhangs‘. Wohin führt dies und das? […]

Bereitstellung der Zitate. Lehre des Zitierens. Lehre der eingreifenden

Definition. Die Interessenangleichung.

[…]

Operieren mit widerspruchsvollen Fakten und Sätzen. (Der Widerspruch soll

nicht entfernt, wohl aber synthetischen höheren Begriffen untergeordnet

werden. Aufsuchen solcher Begriffe.)“127

Denn „Erkenntnistheorie muss vor allem Sprachkritik sein.“128 In diesem Sinne ist

auch Brechts Erklärung zu einer Katharsis durch Theorie zu verstehen: „Sie [die

ganze Theorie] ist lediglich eine Erklärung von Praxis, dazu da, die Praxis zu

säubern.“129

Aber in der Praxis stehen die Denkenden niemals vollständig außerhalb des Feldes,

welches sie zu begreifen versuchen. „Man konnte verhältnismäßig leicht“, schreibt Brecht

über die idealistische Philosophie, „die Unabhängigkeit des Denkens von der Art und Weise,

wie die Menschen ihre Existenz mit und gegeneinander sicherten, behaupten, solange diese

125 BFA 21, S. 525 126 BFA 21, S. 523 (1931/32) 127 BFA 21, S. 537, Ziele der Gesellschaft der Dialektiker 128 BFA 21, S. 413 (1930/31)

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Art und Weise einigermaßen stabil waren, d.h. sich nicht zu ändern schienen, etwas von

Schicksal an sich hatten.“ Die Feldabhängigkeit und die neuen Felddynamiken der

Gesellschaft erkennend interessiert sich Brecht vor allem für die neuen gesellschaftlichen

„Stoffe“ (die Energieressourcen: „Petroleum“ und – in Anlehnung an Foucault gesagt – die

regierungsmäßigen Probleme: Ehe, Krankheit, Geld, Krieg etc.), auf die die Menschen mit

„neuen Beziehungen“ und neuen Denkformen antworten. Die „Stoffe“ sind aber nicht

„Dinge“, sondern gesellschaftliche Verhältnisse zwischen den Menschen und zwischen den

Kollektiven. Sie müssen auf der Bühne als „Kraftfelder“ in Erscheinung treten:

„Das Petroleum sträubt sich gegen die fünf Akte, die Katastrophen

von heute verlaufen nicht geradlinig, sondern in der Form von

Krisenzyklen, die ‚Helden‘ wechseln mit den einzelnen Phasen, sind

auswechselbar und so weiter, die Kurve der Handlungen wird durch

Fehlhandlungen kompliziert, das Schicksal ist keine einheitliche

Macht mehr, eher sind Kraftfelder mit entgegenwirkenden

Strömungen zu beobachten, die Mächtegruppen selber zeigen nicht

nur Bewegungen gegeneinander, sondern auch in sich selber usw.

usw. ....“130

Der Feldbegriff, wie ihn Brecht aus Lewins Schrift Kriegslandschaft kennenlernt, erweist sich

dabei anders als der der Physik für die Widersprüchlichkeit der Praxis als anschlussfähig.131

Er regt Brecht mehrfach an, den gesellschaftlichen Gebrauch eines Ortes zu reflektieren:

„Ein Hügel erscheint dem Soldaten anders als dem Bauern. Ob er sonnig oder schattig

ist, verschwindet als Merkmal für den Soldaten, dem es für seine Deckung darauf

ankommt, wie er eingesehen werden kann, und sein Neigungswinkel mag für beide

Betrachter wichtig sein, aber in sehr verschiedener Weise wichtig, denn für das

Erklimmen mag er kein besonderes Hindernis bilden, wenn er die Saat schon durch die

Abfließbarkeit des Wassers gefährdet. Ein Acker mag klein sein, solange er nicht im

Sperrfeuer liegt, ein Obstbaum kann eine ganze Gegend beherrschen, wenn er einen

Zielpunkt abgibt usw.“132 133

129 BFA 27, AJ, 15.1.41 130 BFA 21, 303 131 vgl. K. Lewin, Kriegslandschaft 1917, a.a.O. 132 BFA 22, 254 133 Die Argumentation erinnert dabei nicht nur an Lewins Aufsatz zur „Kriegslandschaft“, sondern auch an Spinozas Ethik. Spinoza erklärt im zweiten Teil, wie die „Verkettung von Ideen“ entsteht, welche als unklare und verworrene Ideen einen „Mangel an Erkenntnis“ darstellen (vgl. Ethik, Teil II, Lehrsatz 28). Die Verworrenheit komme nicht durch Irrtum an sich zustande, sondern dadurch, wie „diese Verkettung […] der Ordnung und Verkettung der Affektionen des menschlichen Körpers“ entspricht. „Wenn man z.B. das Wort ‚Apfel‘ denkt, so denkt man auch sogleich an die Frucht Apfel, die doch mit jenem artikulierten Laut keiner Ähnlichkeit noch sonst etwas gemein hat, außer dass der Körper des Menschen häufig von diesen beiden affiziert

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Brecht überdenkt vor diesem Hintergrund auch die Gestaltung seines Bühnenbilds:

„Der Bühnenbau, gezwungen, das Charakteristische herauszuarbeiten, muss sich

entscheiden, welchen von beiden Aspekten, die dem Augenschein entsprechen, er

berücksichtigen will. Er mag für eine Schlachtszene den einen und für eine bukolische

Szene den andern wählen, aber was macht er, wenn er in der Schlachtszene neben

Soldaten Bauern dieser Gegend oder unter den Soldaten einen solchen Bauern hat?“

Brecht selbst gibt darauf die Antwort, die wiederum an das ambivalente Quantenobjekt

erinnert:

„Wir benötigen vielleicht gerade den doppelten Aspekt.“

In einer weiteren Notiz kommt er auf diese Einsicht noch einmal zurück und hebt den

Unterschied zwischen gesellschaftlichen Praxen heraus, welche die kapitalistische

Produktionsweise betreffen:

„Der Acker ist ein Kartoffelfeld und ein Schlachtfeld. Er ist es nicht zu gleicher Zeit.

Die Fabrik ist zu gleicher Zeit ein Ort der Produktion und der Ausbeutung.“134

Die szenische Darstellung, wie sich das Ineinander antagonistischer Praxisformen einfachen

Erklärungen entzieht, wird entsprechend retrospektiv im Arbeitsjournal am Stück „Mutter

Courage“ positiv hervorgehoben:

„Die ‚Mutter Courage‘ durchstudierend, sehe ich mit einiger

Zufriedenheit, wie der Krieg als riesiges Feld erscheint, nicht

unähnlich den Feldern der neuen Physik, in denen die Körper

merkwürdige Abweichungen erfahren. Alle Berechnungsarten des

Individuums, gezogen aus Erfahrungen des Friedens, versagen; [...]

Aber es bleiben die Kräfte, welche auch den Frieden zu einem Krieg

machten, die unnennbaren.“135

Die Möglichkeit, Ursachen beobachten zu können, wird dabei nicht nur durch das Ineinander

von Destruktion und Produktion, Fremd- und Selbstbestimmung problematisch. Sie ist nach

wie vor auch ein Problem geschichtlicher Prozesse, weil der gesellschaftliche Zugang zu dem,

was determinierend war, verloren gehen kann.

wurde, d.h. dass der Mensch häufig das Wort ‚Apfel‘ gehört hat, während er zugleich die Frucht sah. So wird jeder von einem Gedanken auf einen anderen verfallen, je nachdem seine Gewohnheit die Bilder der Dinge im Körper geordnet hat. Der Soldat z.B. wird beim Anblick der Spuren eines Pferdes im Sand sogleich von dem Gedanken eines Pferdes auf den Gedanken eines Reiters und diesem auf den Gedanken des Krieges usw. kommen. Der Bauer dagegen wird von dem Gedanken des Pferdes auf den Gedanken eines Pflugs, Ackers usw. verfallen. So wird jeder, je nachdem er es gewohnt ist, die Bilder der Dinge auf die eine oder andere Weise zu verknüpfen und zu verketten, von einem Gedanken auf diesen oder jenen Gedanken kommen.“ (Spinoza, B. de, Die Ethik, Lat./Dt. v. J. Stern, Reclam 1977) Brechts Sprachkritik ist offensichtlich auch von dieser Seite inspiriert. 134 Ebd. 135 Arbeitsjournal, BFA 27, 5.1.41

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„Es wird vielleicht in späteren Zeiten schwierig sein, die Ohnmacht der Völker in

diesen unseren Kriegen zu begreifen. Ihre Ursachen sind vergänglich.“136

Das Erkennen-Können selbst gehört zu einem Feld und ist wie dieses ein geschichtlich

vergängliches Phänomen. Interessant wird daher in der Fortsetzung dieser Stelle, wie Brecht

den Feldbegriff noch einmal wendet; man muss ihn hierbei als einen Gegenbegriff zu einem

ahistorischen ‚System‘-Denken lesen:

„Da ist das Phänomen, das ich mangels eines plastischeren Ausdrucks

immer das Feldphänomen nenne. Die Probleme werden von ganzen

Völkern immer als Feldprobleme angesehen und behandelt. D.h. sie

werden z.B. jetzt als lediglich auf dem kapitalistischen Feld lösbar

(und überdenkbar) angesehen. Dadurch entsteht eine erstaunliche

Neutralisierung der inneren Widersprüche der Völker, welche nicht

einen Augenblick verschwinden, aber eben ‚auf diesem Feld keine

Rolle spielen‘. Man kann es auch so ausdrücken: am Zug ist die und

die Klasse, das und das Regime, forciert wird der und der Ausweg,

eingeschlagen ist eine bestimmte Richtung usw., und bevor die

Möglichkeiten (wirklichen und scheinbaren) dieses Feldes

ausgebildet, eingesetzt, erschöpft und diskreditiert sind, entsteht kein

neues Feld. Das Feld selber mag die Vernunft nicht befriedigen (die

Fantasie mag andere Felder sichten, die Erfahrung andere Felder

anraten), auf dem eben funktionierenden Feld der Praxis operiert doch

noch genügend Vernunft für die Zwecke des ganzen Volkes und die

Zwecke der Rechtfertigung.“137

Erst wenn der Feldbegriff nicht selbst schon mit dem Ganzen (bspw. einem System)

gleichgesetzt wird, in welchem einzelne Kräfte aufeinandertreffen, sondern lediglich als Ort

eines Gebrauchs verstanden wird, wo gesellschaftliche Verhältnisse aktualisiert, umkämpft

und verändert werden, und wenn dabei mitgedacht wird, dass die darin um Erkenntnis

ringenden Subjekte, ihre Praxen über den vorgegebenen Rahmen hinausführen und mit ihnen

andere Felder eröffnen könnten, erst dann ist er für Brecht anschlussfähig. Seine Fragen

bleiben nicht rein durch Wissenschaft lösbare, sondern werden zu praktischen und

136 AJ 14.6.40 137 ebd.

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politischen, zu Fragen der Hegemonie.138 Eine Psychologie, die sich in den Dienst dieses

Anliegens stellt, ist uns noch immer aufgegeben.

Autorin: Prof. Dr. Ines Langemeyer Professur für Lehr-Lernforschung, Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik Institut für Berufspädagogik und Allgemeine Pädagogik/House of Competence Hertzstraße 16 Geb.: 06.41 (Westhochschule) Raum: 232 (2. Stock) 76187 Karlsruhe +49 (0) 721 608 41640 www.lehr-lernforschung.org [email protected]

138 Vgl. die Unterschiede in erkenntnistheoretischen Fragen zwischen Lewin und seinem Kollegen aus Moskau, Lev S. Vygotskij, Langemeyer, I. (2011), 'Science and Social Practice: Action Research and Activity Theory as Socio-Critical Approaches', Mind, Culture, and Activity, 18: 2, 148-160.