Laurence Sterne Tristram Shandy - Anaconda Verlag · Tristram Shandy Gentleman(York und London...

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Laurence Sterne Tristram Shandy Aus dem Englischen von Ferdinand Adolph Gelbcke Anaconda

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Page 1: Laurence Sterne Tristram Shandy - Anaconda Verlag · Tristram Shandy Gentleman(York und London 1759–1767) Die Übersetzung folgt der Ausgabe Sterne’s Tristram Shandy, Leipzig:

Laurence Sterne

Tristram Shandy

Aus dem Englischen von Ferdinand Adolph Gelbcke

Anaconda

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Titel der englischen Originalausgabe: The Life and Opinions ofTristram Shandy Gentleman (York und London 1759–1767)Die Übersetzung folgt der Ausgabe Sterne’s Tristram Shandy, Leipzig:Bibliographisches Institut o. J. [1865–1870]. Der Text wurde behutsam überarbeitet und den Regeln derneuen deutschen Rechtschreibung angepasst.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: James Gillray (1757–1815), Portrait of a Man, publishedby Hannah Humphrey in 1803, © Courtesy of the Warden and Scholarsof New College, Oxford / bridgemanart.comUmschlaggestaltung: www.katjaholst.deSatz und Layout: Andreas Paqué, www.paque.dePrinted in Czech Republic 2012ISBN [email protected]

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Erstes Buch

1. Kapitel

Ich wollte, mein Vater oder meine Mutter, oder vielmehrbeide (denn es war doch beider gemeinsame Pflicht) hättenein wenig bedacht, was sie taten, als sie mich in die Weltsetzten. Hätten sie ernstlich erwogen, wie viel von dem,was sie vornahmen, abhinge – dass es sich nicht allein da-rum handelte, ein vernünftiges Wesen hervorzubringen,sondern dass möglicherweise die glückliche Körperbildungund das Wohlbefinden dieses Wesens, vielleicht seine geis-tigen Fähigkeiten und die Eigentümlichkeit seines Charak-ters, ja (wie kaum anders anzunehmen) wohl gar dasSchicksal seines ganzen Hauses durch die Stimmungen undNeigungen, die zu jener Zeit in ihnen obwalteten, ihreRichtung erhalten würden; hätten sie alles das, sage ich,pflichtgemäß erwogen und demzufolge gehandelt, so wür-de ich – das ist meine feste Überzeugung – eine andere Fi-gur in der Welt gespielt haben, als die ist, in welcher michder Leser nun bald sehen wird. – Fürwahr, die Sache istnicht so unwesentlich, als vielleicht mancher glaubt. Werhätte nicht schon von den animalischen Geistern gehörtund wie sie vom Vater auf den Sohn übergehen usw. usw.?Nun – verlasst Euch auf mein Wort – neun Zehntel allerklugen oder dummen Streiche eines Menschen, seiner Er-folge oder Misserfolge in dieser Welt hängt von den Bewe-gungen und der Tätigkeit dieser Geister, von der Art undWeise, wie sie in Gang gebracht werden, ab; denn sind sieeinmal im Gang, dann ist nichts mehr zu machen – gut

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oder übel, vorwärts geht’s wie toll, und da sie immer undimmer wieder denselben Weg laufen, so gibt das bald eineStraße so glatt und bequem wie eine Chaussee, von der sie,wenn sie erst einmal daran gewöhnt sind, der Teufel selbstnicht wegtreibt.

»Hast du auch nicht vergessen, die Uhr aufzuziehen, lie-ber Mann?«, fragte meine Mutter. – »Gott im Himmel!«,rief mein Vater außer sich, aber mit gedämpfter Stimme –»hat seit der Erschaffung der Welt wohl je ein Weib denMann durch eine so alberne Frage gestört!« – – Bitte, wasmeinte Ihr Vater? – Nichts!

2. Kapitel

Nun – an sich scheint mir diese Frage weder gut noch übelzu sein. – So muss ich Ihnen sagen, Sir, dass es wenigstenseine höchst unzeitige Frage war, denn sie zerteilte und zer-streute die animalischen Geister, die den Homunculus beider Hand nehmen und sicher an den Platz hinführen soll-ten, der zu seiner Aufnahme bestimmt war.

Der Homunculus, Sir, obgleich er dem Auge der Torheitund des Vorurteils in diesem leichtfertigen Zeitalter als et-was Gemeines und Lächerliches erscheinen mag, wird vondem Auge der Vernunft und Wissenschaft doch als ein We-sen angesehen, das seine ihm zustehenden Rechte hat undvon diesen Rechten geschützt ist. Die Philosophen, die dasAllerkleinste durchdringen und doch – nebenbei gesagt –ein so umfassendes Verständnis haben (weshalb ihr Geist zuihren Forschungen in umgekehrtem Verhältnis steht), be-weisen uns unwiderleglich, dass der Homunculus von der-selben Hand erschaffen, in demselben Naturgang erzeugt,mit derselben Kraft und Fähigkeit zur Fortbewegung be-gabt ist wie wir; dass er, wie wir, aus Haut, Haar, Fett,

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Fleisch, Venen, Arterien, Sehnen, Nerven, Muskeln, Kno-chen, Mark, Gehirn, Drüsen, Geschlechtsteilen, Säften undGliedmaßen besteht; dass er große Lebhaftigkeit besitztund gänzlich und wahrhaftig und in der vollen Bedeutungdes Wortes ebenso gut unseresgleichen ist als der Lord-kanzler von England. Man kann ihm Gutes erweisen, mankann ihn kränken, man kann ihm Genugtuung geben; erhat mit einem Wort dieselben Ansprüche und Rechte, wiesie nach Tully, Pufendorf oder den besten ethischenSchriftstellern den Menschenkindern überhaupt zukom-men.

Wie nun, Sir, wenn ihm irgendein Unfall auf seinemWeg zugestoßen wäre? – oder wenn mein junges Herr-chen, in kläglicher Furcht vor einem solchen (denn so einBürschchen fürchtet sich leicht), das Ziel seiner Wanderungkaum, kaum erreicht hätte? – wenn seine Muskelkraft undMännlichkeit zu einem Fädchen dahingeschwunden, seineanimalischen Geister über alle Begriffe geschwächt wordenwären? Was dann, wenn er in diesem zerrütteten Nerven-zustand neun lange, lange Monate als eine Beute plötzli-chen Schreckens, melancholischer Träume und Einbildun-gen hätte daliegen müssen? – Ich zittre, wenn ich nur da-ran denke, wie das den Grund gelegt haben würde zutausend Schwächen, sowohl körperlichen als geistigen, de-nen dann später keine Kunst, weder des Arztes noch desPhilosophen, je wieder hätte abhelfen können.

3. Kapitel

Vorstehende Anekdote verdanke ich meinem Oheim,Herrn Toby Shandy, welchem mein Vater, der ein trefflicherNaturphilosoph und ein passionierter Analytiker war, die-sen Unfall oft und mit Schmerzen geklagt hatte; besonders

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