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Lübbe Hermann Lübbe im Gespräch

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Wilhelm Fink

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E-Book ISBN 978-3-8467-5044-5ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5044-9

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort ........................................................................................ 7

01. Moral, mach’ dich klug. Wider den Triumph derGesinnung über die Urteilskraft.Gespräch mit Dieter Schnaas.................................................. 11

02. Die zweite deutsche Demokratie in Ja-Sager-Perspektive.Gespräch mit Jens Hacke ....................................................... 25

03. Carl Schmitt und das Politische.Eine Münstersche Perspektive.Gespräch mit Timo Frasch..................................................... 41

04. Die Normalität des Unnormalen.Über NSDAP-Mitgliedschaften.Gespräch mit Stephan Sattler ................................................. 55

05. Visionen und pragmatische Politiken.Gespräch mit Urs Meier......................................................... 61

06. Die 68er – ein gescheiterter Versuch,die zweite deutsche Demokratie zu delegitimieren.Gespräch mit Hartmuth Becker, Felix Dirsch......................... 67

07. Philosophie zwischen Logik und Ideologie –mit Rückblicken auf die 68er vor dem Ende dermarxistischen Gegenaufklärung.Gespräch mit Joachim Schickel .............................................. 95

08. Netzverdichtung – ein Aspekt zivilisatorischer Evolution.Protokoll eines anonym gebliebenen Podiuminterviews......... 121

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INHALTSVERZEICHNIS6

09. Moderner Historismus. Der kulturelle und politischeSinn der Vergangenheitsvergegenwärtigung.Gespräch mit Claudia Fräss-Ehrfeld ...................................... 125

10. Über Gott und die Welt.Gespräch mit Frank Lorentz und Antonia Loick ................... 131

Nachweise................................................................................... 221

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VORWORT

Die hier gesammelten Interviews sind bis auf eines im jüngst vergan-genen Jahrzehnt veröffentlicht worden – in Magazinen, die in Kios-ken ausliegen, als Hörfunkbeiträge oder auch in Publikumszeit-schriften, die politisch und kulturell spezialisierte Leserinteressen be-dienen. Das umfangreichste Gespräch ist als Resultat der Rundum-Befragung eines Philosophen unter dem passenden Titel „Über Gottund die Welt“ zuerst ins Internet eingestellt gewesen – als Beitrag zueinem exklusiv online präsenten Organ der Vorstellung von Zeitge-nossen in Interviews.

Die kleine Sammlung ist eine Auswahl aus einer Fülle sonstiger,überwiegend kürzerer Interview-Texte, die in Beantwortung vonUmfragen zu aktuellen Ereignissen entstanden sind. Demgegenüberbezieht sich, was hier vorliegt, auf Vorgänge und Bestände der langenDauer oder des anhaltenden Interesses. Die Texte ergänzen insoweitmeine umfangreicheren Publikationen, die zu analogen Themen be-reits vorgelegt worden sind.

Grösser als die Zahl der eigenen Bücher ist die Zahl der Gesprächeüber sie, denen man sich heute als Autor zustellen hat – massenmedi-al oder auch in der Fachöffentlichkeit. Die alte Publikationsform desGesprächs breitet sich wieder aus – bis hin zur Tätigkeit von Sonder-redaktionen für Interviews in Rundfunk und Presse. Das erwähnteSpezialorgan, das im Internet exklusiv Interviews publiziert, passt da-zu.

Wieso finden sich heute Autoren, deren Bücher doch greifbar sind,überdies wie nie zuvor auch noch als Interviewpartner in Anspruchgenommen? Im nützlichen Fall handelt es sich um eine Konsequenzdes Zwangs zur Informationsverdichtung, dem wir wie nie zuvor inder so genannten Wissensgesellschaft unterliegen. In der Beantwor-tung von Interviewerfragen hat man sich kurz zu fassen. Quintessen-zen umfangreicher Druckwerke wollen in drei Sätzen dargebotenwerden. Man möchte mit ihrem Inhalt bekannt gemacht werden, be-vor man sie noch hat lesen können. Autorenbefragungen dienen in-soweit, wie Summaries, der Verbesserung unserer Selektionskompe-

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tenz für zweckmässige und überdies realisierbare Lektüreprogramme.Darüber hinaus reichern sich Möglichkeiten der Erinnerung an gele-gentlich schon Vernommenes an, auf das sich anlasshalber für Zwek-ke genauerer Kenntnisnahme zurückkommen liesse. Schliesslich istbekanntlich die Kunst, sich kurz zu fassen, eine schwierige Kunst,und wo sie einem als beherrschte Kunst auffällig wird, bildet sichVertrauen, dass die Lektüre umfangreicherer Texte sich lohnenkönnte.

Auch für die Autoren selbst sind Interviews über Aufmerksam-keitsgewinne hinaus nützlich. Rascher noch als Rezensionen, die oftauf sich warten lassen, machen sie erfahrbar, was auf die eigenen Be-mühungen aufmerksam werden liess. Nützlicher noch ist zu erfahren,was demgegenüber unbeachtet blieb, obwohl man es selbst als beson-ders wichtig eingeschätzt hatte. So oder so lernt man, dass die Um-stände nicht disponibel sind, die einem ein Echo, kein Echo oderauch ein verzerrtes Echo verschaffen. Günstigenfalls wird man dar-über im Urteil zugleich sicherer, ob man sich an die fraglichen Um-stände besser anpassen sollte, oder auch gerade nicht.

Speziell für Philosophen gibt es noch einen weiteren guten Grund,sich dann und wann Interviewfragen zu stellen. Eine traditionsreichewissenschaftliche Regel hält Wissenschaftler an, über die Sache undnicht über sich selbst zu reden. Kant zum Beispiel stellte sie als Mass-gabe Francis Bacons seiner Kritik der reinen Vernunft als Motto vor-an. Der gute Sinn dieser Massgabe ist nicht zu bestreiten. Die Schwä-che der Eitelkeit, die nur in sehr engen Grenzen erheiternd wirkt unddarüber hinaus peinlich, ist im Intellektuellenmilieu leider nicht sel-ten. Erst recht macht hier das Laster des Moralismus verdriesslich, dassich erlaubt, missliebige Meinungen anderer über Sachen als Belegefür die Zweifelhaftigkeit ihrer Subjekte auszugeben.

Gleichwohl: Gerade in der Philosophie sind Sachmeinungen nichtselten von ephemeren Lebensumständen mitgeprägt – generations-spezifisch oder gar individuell –, und gute Interviewer verstehen es,auch selbstdarstellungsscheue Autoren zu autobiographischen Mit-teilungen zu ermuntern, die die existentielle, ja politische Pragmatikphilosophischer Optionen verständlicher machen.

Es liegt in der historisch-politischen Natur der Sache, dass ich alsdeutscher Angehöriger des Jahrgangs 1926 oft nach meinen Erinne-rung an Nationalsozialismus, Krieg, Gefangenschaft sowie später andie Nachkriegsumstände befragt worden bin, die mein affirmativesVerhältnis zur zweiten deutschen Demokratie begründet und dauer-haft gemacht haben. Das erklärt dann auch das disproportional leb-

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hafte Interesse der Interviewer an meinem Verhältnis zu den Bewegt-heiten, die sich in Deutschland mit dem Stichjahr 1968 verbinden.Ein modernisierungsbedingter Wertewandel im Jahrzehnt um dasfragliche Jahr herum vollzog sich damals weltweit von den USA bisnach Japan und von Paris bis nach Kopenhagen. Im zweigeteiltenDeutschland ging dieser Wandel mit Versuchen einer intellektuellenneuen Linken einher, die politische und moralische Legitimität deswestdeutschen Teilstaats in Nutzung rekanonisierter marxistischerTraditionen zu bezweifeln. Von mir wollte man wissen, wieso ich das,statt für den zukunftsträchtigen Aufbruch einer endlich kritisch ge-wordenen Generation, für einen Reflex neuerlicher deutscher studen-tischer Weltfremdheit hielt. Das Interesse an dieser Frage hielt zumeiner gelegentlichen Verblüffung über Jahrzehnte hin an – gleich-sam komplementär zur Lust älter gewordener 68er an den sich wie-derholenden Feiern des Andenkens an ihre früheren Ungemeinhei-ten. Das eine erwähnte ältere Interview, das zuerst 1980 erschien, do-kumentiert das. Auch im Rückblick erscheint mir der Reideologisie-rungseifer der 68er Jungintellektuellen als Reflex politglaubenstüchti-ger deutscher Verwirrung.

Das alles ist inzwischen tiefe Vergangenheit. Mit dem Zusammen-bruch des real existent gewesenen Sozialismus und seinen weltpoliti-schen Folgen ist auch die altdeutsche Neigung, sich nicht mit sichselbst abfinden zu können, bis auf marginale Reste erloschen. DieNormalität, in der Deutschland sich insoweit jetzt befindet, ist ge-prägt durch die überwiegende Last derselben Probleme, die mutatismutandis sich überall mit der Evolution der modernen Zivilisationverbinden.

Zu diesen Lasten gehören, zum Beispiel, Zukunftsgewissheits-schwund kraft abnehmender Vorhersehbarkeit dieser Evolution, dievon je gegenwärtig gänzlich unbekanntem künftigem Wissen tech-nisch, ökonomisch und kulturell mitgeprägt sein wird. Lastencha-rakter haben zumeist auch die demographischen und damit zugleichsozialpolitischen Folgen steigender Wohlfahrt und überdies die so-zialen und politischen Konsequenzen der unaufhebbar ungleich ver-teilten individuellen und gruppenspezifischen Fähigkeiten der Nut-zung rechtlich gewährleisteter Gleichheit. In der internationalen Po-litik bedrängen uns Globalisierungsfolgen – von der spannungsrei-chen Pluralisierung der Staatenwelt bis zu manifesten ökonomischenKrisen und vom Unkrieg des Grossterrors bis zu unbeherrschbar ge-wordenen Auswirkungen von Migrantenströmen. Sogar die Fällig-keiten institutioneller und rechtlicher Sicherung zensurfreier Vergan-

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genheitsvergegenwärtigungspraxis, die in Europa zu den Erblasten desuntergegangenen Totalitarismus gehören, werden inzwischen welt-weit thematisiert und haben eine neue, spannungsreiche Politikformerzwungen, die Geschichtspolitik nämlich. Schliesslich sind auch diealten Religionen neu zu einem Faktor der internationalen Politik ge-worden. Auch in Europa finden sie sich vom Zusammenbruch dertotalitären Grossideologien begünstigt und von den skizzierten Fol-gelasten der Evolutionsdynamik unserer Zivilisation überdies. DenFrieden lehren alle Religionen zu ihren Bedingungen überall, undselbst das noch kann, unter Umständen, die wohlbekannt sind, politi-sche Konflikte verschärfen. –

Die Philosophie dieser Lage, die ich in meinen Büchern, Aufsätzenund Essays erarbeitet habe, findet sich quintessentiell in den hier ge-sammelten Interviews wieder.

Zürich, Sommer 2010 Hermann Lübbe

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MORAL, MACH’ DICH KLUG

Wider den Triumph der Gesinnungüber die Urteilskraft

Gespräch mit Dieter Schnaas

Herr Professor Lübbe, die Globalisierung ist uns als zunehmend ver-flochtene Wirtschaftswelt ein Begriff, als Bezeichnung für den internatio-nalen Austausch von Menschen, Waren, Informationen. Wie steht es umdie kulturellen Folgen der globalen Erschließung unseres Planeten?

Mit der sogenannten Globalisierung expandieren über große Räumehinweg unsere wechselseitigen Abhängigkeiten. Das ist trivial. Nicht-triviale Folgen dieses Vorgangs spiegeln sich im Funktionswandel dergroßen politischen Utopien. Vormodern verlegten die europäischenDenker ihre Entwürfe idealer Zustände literarisch-fiktiv in ferne un-bekannte Räume. Nachdem die letzten weißen Flecken der Erdkartegetilgt waren, projizierte man die Bilder besseren Lebens in die Zeit,in die Zukunft...

…die Kommunismus und Nationalsozialismus gewaltsam in die Gegen-wart zu holen versuchten…

…und die uns damit die Erfahrung verschafft haben, dass der Ver-such, die Erde politisch endgültig heil und sauber zu machen, höl-lisch endet. Seither sind es vor allem Schreckensvisionen, die in denUtopien unsere Zukunftsvorstellungen prägen. Das lässt sich prag-matisch für einen besseren Umgang mit Lebensvoraussetzungennützlich machen, von denen wir global abhängig und die zugleichknapp sind – Energiereserven, nachhaltig ertragsfähige Böden, Mee-resressourcen oder auch weltweit funktionsfähige Systeme der Ge-währleistung von Sicherheiten wider die Gefahren bellizistischer Glo-balisierung, die wir als Weltkriege bereits hinter uns haben.

Und die Weltraumfahrt mit ihren Mond- und Mars-Eroberungen bietetder Erschöpfung des globalen Raumes keinen utopischen Fluchtpunktmehr?

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GESPRÄCH MIT DIETER SCHNAAS12

Im Gegenteil: Die Weltraumfahrt hat uns wie nie zuvor die Unaus-weichlichkeit unserer irdischen Lage anschaulich werden lassen. Wassehen wir denn? Schön schimmert unser blauer Planet vor dem Dun-kel des Kosmos – und ringsum nichts als eisige, giftgasige, staubigeoder glühende, also unbetretbare Wüsten. Entsprechend ist für Welt-raumfahrer stets die Rückkehr zur Ende zwingend. Geotrope Astro-nautik – so hat der Philosoph Hans Blumenberg das genannt. Erneutist die Erde in eine Mittelpunktstellung eingerückt – nicht kosmolo-gisch selbstverständlich, aber lebensweltlich. Man könnte von einerpost-kopernikanischen Konterrevolution sprechen.

Jürgen Habermas hat im Zusammenhang einer auf sich selbst zurückge-worfenen Menschheit von der Notwendigkeit gesprochen, eine „Weltzivil-gesellschaft“ zu organisieren.

Die Idee einer Weltbürgerlichkeit schießt über alle völkerrechtspoli-tisch sinnvollen Ziele hinaus. Für die Gewährleistung unserer Bürger-und Menschenrechte bleiben wir für vorerst unabsehbare Zeit auf un-sere nationalen und auf einige wenige supranationale Zugehörigkeits-verhältnisse verwiesen. Nichtdestoweniger gibt es inzwischen, weitüber die Völkerrechtsordnung hinaus, eine dramatisch verlaufendeVerdichtung globaler Beziehungen, die ich gern, nicht zuletzt des re-ligionspolitischen Anklangs wegen, „Zivilisationsökumene“ nenne.Ökumene – das ist der bewohnte Erdkreis, und die moderne Zivili-sation umspannt ihn technisch und informationell, ökonomisch undorganisatorisch. Je mehr darüber die Menge dessen wächst, was unsinsoweit aneinander angleicht, umso anfälliger und wichtiger wirduns zugleich, was uns herkunftsabhängig voneinander verschiedensein und meistens auch bleiben lässt – sprachlich und kulturell, poli-tisch und religiös.

Sie halten nichts von zivilreligiösen Ansprüchen und universell geltenden,die Menschheit verbindlich einenden Grundwerten?

In der klassischen europäischen Ethik und Politik kommt der Wert-begriff gar nicht vor. Er entstammt – keineswegs zufällig – der Öko-nomie. Es handelt sich um einen Begriff für die schwankende, sichändernde Intensität unserer Schätzung von Gütern. Für Wüstenbe-wohner ist Wasser überaus wertvoll. Anderswo überschwemmt es uns.

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Gerechtigkeit war für die Schwachen stets wertvoller als für die Star-ken, und auf die Religionsfreiheit wissen sich vor allem die jeweiligenMinderheiten angewiesen. Nicht die Religionsfreiheit ist somit, alsGrundwert, zugleich auch ein Höchstwert, vielmehr die Religionselbst, für die wir, nämlich unter Religionsfeinden oder Eiferern an-derer Religionen, auf den Rechtsschutz der Religionsfreiheit angewie-sen sind. Und so in allem – von der Meinungsfreiheit bis zur Wissen-schaftsfreiheit und von der Eigentumsfreiheit bis zur freien Berufs-wahl.

Sie schätzen die Demokratie demnach ausdrücklich nicht als Demonstra-tion des Mehrheitswillens, als konsensuale Volks-Demokratie, sondern alsformale Bedingung maximaler Freiheit zum jeweiligen Anderssein?

In Demokratien legitimieren sich politische Entscheidungen stattdurch Wahrheit durch Mehrheit. Der Wille der jeweiligen Mehrheitbleibt freilich nur dann gesamthaft akzeptabel, wenn seine Zustän-digkeit strikt eingeschränkt ist. Die sogenannten Grundwerte lassensich rechtlich als Ausgrenzungen derjenigen Lebensbereiche auffassen,in denen wir gerade nicht Mehrheitsentscheidungen unterworfen seinmöchten und die man daher auch nicht demokratisieren kann. Intotalitären Systemen hingegen wurde und wird just diese liberalegrundrechtliche Selbstbegrenzung des Demokratieprinzips aufgeho-ben. Die Demokratie wird total: Nichts als der unwidersprechlicheVolkswille – vertreten durch den Führer der regierenden Einheits-partei – realisiert sich. Neinsager gelten als Verräter der Wahrheit,und die Abstimmungsmehrheiten liegen entsprechend bei nahezu100 Prozent. Joseph Goebbels nannte das „veredelte Demokratie“.

Globale Herausforderungen wie Klimaschutz, Energiesicherheit, Erhal-tung der Artenvielfalt erfordern nicht nur Koexistenz, sondern Kooperati-on und Konsens. Wie soll der möglich sein, wenn Sie Differenz zumobersten Gestaltungsprinzip einer liberalen Weltordnung erklären?

Ihre Frage beruht auf einem Missverständnis. Die liberale Freisetzungunterschiedlicher Meinungen und Interessen macht ja nicht mehr-heitsunfähig. Sie macht ganz im Gegenteil Mehrheitsentscheidungenzwingend. Im Unterschied zu Glaubensfragen oder auch Überlebens-fragen, die tatsächlich kompromissunfähig sind, bringen sich die von

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Ihnen exemplarisch genannten Probleme über den Druck trivialerund damit unwidersprechlicher Notlagen zur Geltung. Was heißtdas? Gemeint sind, zum Beispiel, leere Netze von Dorschfischern,Ströme von Migranten auf der Flucht vor diktatorischer Volksreini-gungspraxis, drohender Zugriff von Terroristen auf atomare Waffenin destabilisierten Staaten. Kurz: Nicht die kulturelle und moralischeSensibilität von Intellektuellen lässt uns erkennen, was gegensteuerndzu tun oder zu lassen ist, vielmehr die Trivialität des Unerträglichen.

Warum die Unterscheidung – und warum die Trivialisierung?

Das Wort „trivial“ hat in den Ohren von Feuilletonisten keinen gu-ten Klang. Indessen: Man darf das Triviale nicht mit dem Banalenverwechseln. Das Triviale ist, wie wir auch aus der europäischen Bil-dungsgeschichte wissen könnten, das Fundamentale und damit dasüberall Unentbehrliche. Generell beruht die Expansionskraft der mo-dernen Zivilisation auf dieser pragmatischen Evidenz des Trivialen.Die Vorzüge einer verlässlicheren Trinkwasserversorgung sind keinerOffenbarung bedürftig. Um zu begreifen, was unsere Kinder überden Besuch besserer Schulen gewinnen können, erübrigt sich dieLektüre ideologischer Beipackzettel. Zum Ankauf eines Kühlschrankswerden wir durch die Werbung inspiriert und nicht durch einen Zi-vilisationsmissionar.

Sie meinen, die im Wesentlichen westliche Zivilisationsmoderne über-fremdet keine Herkünfte, wie Kulturkritiker gerne monieren, sondern imGegenteil: Sie empfiehlt sich als attraktives Angebot, das keine Kulturausschlagen kann?

So ist es.

Und die moderne Informations- und Nachrichtentechnik beschleunigtdiesen Prozess?

Selbstverständlich. Der Globus ist ein nachrichtentechnisch integriertesSystem. Das hat kulturelle Konsequenzen, die auch politisch wirksamsind. Man erfährt und sieht, wie Menschen anderswo leben – oft bes-ser. Die Überwindung der Armut erscheint als erreichbares Ziel.

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MORAL, MACH’ DICH KLUG 15

Na ja, besonders steil theoretisierende Zeitgenossen rufen bereits einenWeltkrieg um Rohstoffe und Wohlstand aus.

Das Ausrufen von Weltkriegen unterlässt man besser. Gleichwohl:Die Menge gefährlicher Konflikte ist groß, und religiöse Fanatismenscheinen erneut ansteckend zu wirken. Aber Gegenkräfte gibt es auch– nicht nur den omnipräsenten guten Willen, sondern auch unserewachsende Angewiesenheit auf Güter, für die gilt, dass sie sich ent-weder kooperativ oder gar nicht nutzen lassen – von den Frequenzendes Funkverkehrs über die rechtlichen und technischen Sicherungssy-steme des Schiffs- und Flugverkehrs bis zur Freiheit der Meere. Dro-hungen mit dem Entzug von wichtigen Gütern, die sich in nationa-lem Monopolbesitz befinden – Weltschifffahrtskanäle zum Beispieloder auch wichtige Erdölreserven – wären tatsächlich sehr gefährlich.Aber kann denn jemand sich solche Drohungen heute politisch nochleisten? Sind nicht gerade die Emirate am Golf ihrerseits vom frikti-onslosen Ölexport nahezu vollständig abhängig? Sind vom terrorfähi-gen Fundamentalismus nicht auch islamische Staaten bedroht? Dar-aus ergeben sich Interessenkonvergenzen – und auf sie zu verweisenheißt ja nicht, die Welt schönzureden.

Der Islam, jedenfalls in seiner fundamentalistischen Form, scheint vonden trivialen Lebensvorzügen des Westens nicht umfassend begeistert zusein. Ist er zivilisationsresistenter als andere Glaubensrichtungen – undwenn ja: warum?

Die großen Weltkulturen scheinen sich tatsächlich nach größerenoder geringeren Graden ihrer Aufgeschlossenheit für zivilisatorischeModernisierungsprozesse zu unterscheiden. Jedermann fallen sogleicheinige afrikanische Länder ein, die entwicklungsgehemmt zu seinscheinen. China hingegen ist derzeit das auffälligste und zugleichweltpolitisch bedeutendste Gegenbeispiel. Worauf beruhen solcheUnterschiede? Das ist eine Frage, die uns zumeist überfordert. Abereinige wirksame Faktoren lassen sich doch benennen – Familien-strukturen zum Beispiel, die Emanzipationsprozesse begünstigen,Sparkapitalbildung erlauben und damit die Finanzierung von qualifi-zierender Ausbildung der Kinder und es nahelegen, Töchter nicht nurehefähig, sondern auch berufsfähig werden zu lassen.

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GESPRÄCH MIT DIETER SCHNAAS16

Eine glückende Globalisierung, so verstanden, bedeutet Wohlstandsex-pansion durch technisch-wissenschaftlichen Fortschritt bei unbedingterWahrung kultureller Vielfalt. Heißt das im Umkehrschluss, dass Außen-politik sich nicht prioritär auf wertegebundene Ziele, sondern daraufkonzentrieren sollte, die globale Kooperation zu organisieren, ohne die dieLebensvorzüge der Moderne nicht zu genießen sind?

So geschieht es ja längst. An der Entwicklung des Völkerrechts ist dasablesbar. Über 4000 internationale Regierungsorganisationen sindheute bereits mit Zuständigkeiten von kontinentaler, ja globalerReichweite tätig – von der WTO bis zur OECD und von der UNObis zum Europarat. Die Zahl der international tätigen Unternehmen,Verbände, humanitären Organisationen liegt noch einmal um dasFünf- bis Sechsfache höher. Das ist der institutionelle und organisato-rische Aspekt der Globalisierung. Wir finden uns wie nie zuvor welt-weit durch rechtlich kompatibel gemachte und damit zugleich ge-schützte Interessen verbunden.

Was bedeutet das für die Universalität der Menschenrechte, für den zen-tralen kulturellen Wert der abendländischen Aufklärung?

Die Menschenrechte, die über mannigfache Deklarationen schon vorJahrzehnten völkerrechtliche Geltung erlangt haben, gewinnen welt-politische Lebenskraft weniger über Auftritte westlicher Kulturpropa-gandisten als über die Evidenz der Leiden von Menschen, die zu Op-fern der Missachtung ihrer Rechte wurden.

Sie argumentieren funktional.

„Funktional“ – das gilt in Deutschland merkwürdigerweise als einemoralisch defizitäre Eigenschaft. Das beruht auf der Orientierung angroßen Ausnahmelagen des Lebens, in denen die Moral uns tatsäch-lich Opfer, ja Selbstaufopferung abverlangt. Im Alltag hingegen, auchim politischen Alltag, empfiehlt sich die Moral durch ihre Nützlich-keit. Keine Mutter wäre in der Lage, ihr Kind zu erziehen, wenn sienicht wüsste, wie hilfreich ihm gute Moral im Leben sein wird.

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Hat der aufgeklärte Westen, weil er diese Lektion gelernt hat, heute einenzivilisatorischen Vorsprung?

Was ist heute noch der „Westen“? Schon im 19. Jahrhundert ist diewissenschaftlich-technische Zivilisation, ursprünglich europäisch-amerikanischer Herkunft, in Japan indigen geworden. Aus Indien be-ziehen wir heute Software und Stahl, Korea baut unsere Tanker. UndChina exportiert nicht nur Feuerwerk. Eines Tages wird auch seineParteidiktatur zerfallen.

Warum sollte sie? Ist China nicht das herausragende Beispiel dafür, dassWohlstandszuwachs in einer Diktatur möglich ist, dass Kapitalismusauch in autoritären Regimen gedeiht?

Übergangsweise sind Industrialisierungsprozesse tatsächlich mit auto-ritären Strukturen verbindbar. Sehr hohe Zivilisationsniveaus verlan-gen indessen lokale und regionale politische Selbstbestimmung, über-dies freie Bildung, freie Märkte. Freiheit, gewiss, ist ein Ideal, aber dieUnwiderstehlichkeit dieses Ideals beruht pragmatisch auf der Un-möglichkeit, ohne Freiheit gutes Leben politisch dauerhaft zu ma-chen. Entsprechend hat der amerikanische Soziologe Talcott Parsonsden Untergang des Sowjet-Systems bereits 1964 vorausgesagt.

Die Sowjetunion war pure Plan- und Misswirtschaft, sie hatte einenideologischen Überschuss ohne realwirtschaftliche Entsprechung. Davonkann im totalitären China keine Rede sein.

Eben. Der Kommunismus marxistisch-leninistischer Prägung – einerder schrecklichsten Exportartikel des Westens – wird in China nurnoch museal verehrt. Maos Konterfei blickt stumm in die Menge,seine widerwärtige Kulturrevolution, die leider in Europa den Beifallzahlloser Intellektueller fand, ist längst abgetan, gleichfalls der Ein-heitslook der blauen Ameisen. Chinesen in Mengen begegnen unsheute im Louvre und als Studenten in Harvard – und das hat Konse-quenzen. Ein Hongkong-Chinese sagte mir gelegentlich, dass gemein-sam mit dem Anstieg des Wohlfahrtsniveaus auch in China dieSelbstbestimmungsansprüche der nicht chinesischen Völkerschaftendes Landes – der Tibeter, der Mongolen, der Uiguren – an Intensitätgewännen.

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Der Regionalismus ist ein Gewinner der Modernisierung?

So ist es. Wir kennen das aus der jüngsten Geschichte Europas. DieZahl der souveränen Nationalstaaten hat sich allein in der östlichenHälfte unsere Kontinents mit Einschluss der ehemaligen Herrschafts-gebiete des osmanischen Reiches in weniger als 80 Jahren verneun-facht. Schottland ist parlamentarisiert, der neue Kanton Jura hat sichvon Bern separiert, und Belgien wird nur noch durch die Krone zu-sammengehalten. In Barcelona ist die Staatssprache katalanisch. Sinddas nationalistische Regressionen? Die Kausalitäten liegen genau um-gekehrt: Je unauflöslicher wir in der zusammenwachsenden Welt mit-einander verbunden sind, umso entschiedener beanspruchen wirSelbstbestimmung im jeweils eigenen Haus. Wer sich durch die Weltmit Hilfe eines elementaren Englisch bewegt, spricht nach seinerHeimkehr am liebsten flämisch oder sorbisch oder friesisch.

Wenn die wissenschaftlich-technische Moderne, wie Sie sagen, die her-kunftskulturelle Selbstbestimmung fördert…

…dann zerfällt der Totalitarismus definitiv. Auf ihn immerhin dür-fen wir inzwischen als auf ein politisches Phänomen der Vergangen-heit zurückblicken – Nationalsozialismus sowohl wie Internationalso-zialismus.

Bleibt die Technik als Weltgeist der Moderne? Entschuldigung, aber Siesind wirklich sehr optimistisch!

Optimismus gilt in Deutschland seit Schopenhauer als ruchlos. Ichbevorzuge eine andere Lesart. In ernsten Lagen ist Zuversicht einerder wichtigsten Faktoren, die darüber entscheiden, ob wir dem Ernstder Lage gewachsen sein werden. Zuversicht stärkt Handlungskraftund sie ist deswegen, statt leichtfertig, just in Krisenlagen verpflich-tend. Und was die zivilisatorische Modernisierung anbetrifft: Auchnoch zur Bewältigung ihrer unleugbaren ernsten Folgeschäden blei-ben wir auf die Mittel der modernen Zivilisation angewiesen. Gleich-zeitig wächst mit der Höhe des Wohlfahrtsniveaus unsere Empfind-lichkeit gegenüber den Folgeschäden.

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MORAL, MACH’ DICH KLUG 19

Warum? Weil uns das kognitive Verständnis für die Modernisierungspro-zesse fehlt?

Nein. Weil wir Erfahrungen mit unüberwindbaren Grenzen unsererKönnerschaft machen – Erfahrungen, die metaphysischer Natur sind.Was alles können heutzutage unsere Ärzte! Und wie eindringlich er-fahren wir gerade deshalb die Grenzen ihrer Kunst. Kurzum: Wirmachen in der Moderne mehr denn je die religionsnahe Erfahrung,dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.

Demnach wäre die Religion der zweite Gewinner der Modernisierung?

So ist es. Der Glaube, die wissenschaftliche und politische Aufklärungwerde die Religion zum Verschwinden bringen, hat sich als intellek-tueller Aberglaube herausgestellt. Die noch vor 100 Jahren vermuteteKonkurrenz wissenschaftlicher und religiöser Weltbilder besteht garnicht. Wieso nicht? Weil mit den dramatischen Fortschritten des wis-senschaftlichen Wissens dessen pragmatische Relevanz zunimmt undseine weltanschaulich-existenzielle Bedeutung abnimmt. Je tiefer dieForschung in die Dimensionen des sehr Großen, des sehr Kleinenund des sehr Komplizierten eindringt und je schneller sich sogleichdas wissenschaftliche Wissen mehrt oder ändert, umso weniger be-deutet es lebensweltlich, ob unser Schulwissen noch einem älterenQuarkmodell verhaftet oder up to date ist.

Die verhinderte Niederlage der Religion macht sie noch nicht zum Sieger.

Was heißt hier „Sieger“? Darwin liegt in Westminster Abbey, derPapst hat sich für Bedrängnisse durch die Kirche entschuldigt, deneneinst Galilei ausgesetzt war. Ändert das irgendetwas an der wie eh undje verbliebenen Unverfügbarkeit des Unterschieds, den es macht, zusein statt nicht zu sein – eine Unverfügbarkeit, deren Aufdringlichkeitja sogar noch wächst, wenn wir unglücklicherweise fänden, es wärebesser, man wäre nie geboren? Kurz: Unverfügbarkeitserfahrungenverschwinden über zivilisatorische Modernisierungsprozesse nicht. Siewerden aufdringlicher. Das begünstigt neue Frömmigkeiten.

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GESPRÄCH MIT DIETER SCHNAAS20

Wie kommen Sie darauf?

Karl Marx fand, Menschen beteten, solange sie sich nicht anders zuhelfen wüssten – mit den wissenschaftlich-technischen Könner-schaftszuwächsen verschwänden fortschreitend frühere Bet-Anlässe.Realistischer ist es zu sagen, dass die Feststellung, jetzt könne mannur noch beten, in Fällen an Aufdringlichkeit gewinnt, in denen manuns mit modernem technischen Aufwand wie nie zuvor zu helfenbemüht ist – und dennoch vergeblich.

Sie meinen, der metaphysische Kern der Religion rückt modernisierungs-abhängig wieder ins Zentrum unseres zunehmend wissenschaftlichen Be-wusstseins?

Unsere Könnerschaften wachsen. Aber die Umstände, von denen un-sere nach Raum und Zeit höchst unterschiedlichen Könnerschaftenabhängig sind, stehen ja ihrerseits nie vollständig zur Disposition un-serer Könnerschaften. Diese bleiben damit ihrerseits in das überall inder Welt religiös kultivierte Verhältnis der Menschen zu ihren un-verfügbaren Daseinsvoraussetzungen einbezogen. Halbe Aufklärunghat die religiöse Kultur bedrängt. Uneingeschränkte Aufklärung, hy-perrealistisch, begünstigt sie.

Erklären Sie’s an einem Beispiel.

„Gottes Wille“ sagt man in einigen norddeutschen Dörfern zur Bei-leidsbekundung am Grabe. Das ist ein gänzlich unpragmatischesWort letzter Instanz. Sollen wir stattdessen sagen: „Schade! Wären dieErgebnisse der jüngsten Stammzellenforschung schon verfügbar ge-wesen, hätte der liebe Verstorbene vielleicht noch drei weitere Jahreleben können“? Wohlgemerkt: Eine Polemik gegen die Stammzel-lenforschung ist das nicht – ganz im Gegenteil. Es handelt sich ledig-lich darum, den zivilisatorischen Fortschritt einerseits und Elemen-targegebenheiten unseres Lebens andererseits, an denen der Fort-schritt nichts ändert, in die lebenspraktisch richtige Beziehung zuein-ander zu bringen.

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MORAL, MACH’ DICH KLUG 21

Demnach wäre Religion das, was man schon immer vermuten durfte:Kompensation?

Wie das Stichwort „funktional“, so hat auch das Stichwort „kompen-satorisch“ bei unseren Zivilisationskritikern einen unguten Klang.Unsere Weltverbesserer möchten Schäden, statt sie zu kompensieren,an der Wurzel heilen und damit Kompensationen überflüssig ma-chen. Machen Sie das einmal bei unseren Altersschwächen, denen wirmit allerlei nützlichen Mitteln kompensatorisch aufzuhelfen suchen!Auf die jüdisch-christliche Religion bezogen, heißt das: Ohne denSündenfall und seine Folgen wären die aufwendigen Heilstaten Got-tes, von denen die Bibel berichtet, gegenstandslos. Die Rückkehr insParadies würde uns tatsächlich kompensationsunbedürftig existierenlassen. Den Versuch einer solchen Rückkehr unterlässt man besser;von seinen höllischen Folgen sprachen wir schon.

Warum glauben Sie ausgerechnet an die Religion als Gewinner der Mo-dernisierung? Es gibt auch andere Kompensationen, die uns das Lebenverschönern können: Kunst, Musik…

…Verschönerungen aller Art, unsere Museen, Denkmalsszenerien,wohlrestaurierte Altstädte, unsere maritime Archäologie, das alles ge-hört dazu. In der Tat: Die Trivialität des zivilisatorischen Fortschrittsintensiviert und sublimiert unsere ästhetischen Ansprüche und machtsie zugleich breitenwirksam. Auffällig ist heute eine Präferenz fürsKlassische. So nennen wir, was alt, aber unbeschadet seines Altersnicht veraltet ist.

Klassische Musik wird vor allem von Menschen jenseits der 50 gehört –und dann meist zur „Abend-Behübschung“, wie Dirigent Nikolaus Har-noncourt sehr zu Recht beklagt.

Für Kulturkritik gibt es in der modernen Zivilisation stets guteGründe; ändern daran lässt sich wenig. Es ist unvermeidlich: In allenmodernen, nämlich egalitär verfassten Gesellschaften driften unsereAnspruchs- und Partizipationsniveaus immer weiter auseinander –nach oben wie nach unten. Im Sport ist es ja auch so und in denSchulen desgleichen. Könner und Versager begegnen uns gleichzeitighäufiger – auch moralisch.

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GESPRÄCH MIT DIETER SCHNAAS22

Das hört sich nicht danach an, als würde auch die Moral, wie Sie be-hauptet haben, zu den Modernisierungsgewinnern zu zählen sein.

Sie ist es tatsächlich. Je moderner wir leben, umso größer wird derAnteil derer, die sich nicht selber helfen können. Entsprechendwächst die moralische Sensitivität, die sich auf die Opfer der Moder-nisierungsprozesse bezieht. Wir ertragen schlechter als früher die Fol-gen des Versagens anderer – und die moderne Kultur ist eine, die unsin Bezug auf das Insgesamt unserer Lebensleistungen einen rasch an-wachsenden Anteil von Leistungen zugunsten der Schwachen abver-langt. Wer diesen Satz nicht akzeptiert, ist nicht in der Lage, die mo-derne Universalität des Sozialstaates zu verstehen. Gleichzeitig erzeugtder Wohlfahrtsstaat eine neue, zusätzliche Moral, denn er wird über-all zwangsläufig dann unbezahlbar, wenn mit ihm nicht zugleich diestrenge moralische Erwartung an alle Profiteure des Wohlfahrtsstaatesverbunden wäre, dass sie das Maximale zu tun haben, sich zuwen-dungsunbedürftig zu machen.

Die Politik will mehr, sie pocht auf Chancengleichheit.

Chancengleichheit ist ein klassisches Postulat moderner Bildungs-und Sozialstaatlichkeit. Aber die Bedingungen, von denen unsereChancennutzungsfähigkeiten abhängen, lassen sich ihrerseits nur inengen Grenzen egalisieren. Dass das so ist, wissen die Bürger gemein-hin besser als unsere um Betreuungsgelegenheiten konkurrierendenParteien. Abstimmungen sind entsprechend besser als Wahlen geeig-net, Bürgererfahrung und Parteienmeinung einander zuzuordnen.Die Volksrechte sind die Rechte, mit denen die Bürger ihre Erfah-rung zur Geltung bringen, dass sie selbst die Zahler der Wohltatensind, mit denen die Politik sie bedenkt. Deshalb werden die Volks-rechte umso zwingender, je moderner wir leben.

Wie bitte? Die Politik legt prekäre Entscheidungen gern in die Hände ei-ner Kommission, also möglichst weit weg vom Bürger. Und auch die gän-gige Kulturkritik hat stets behauptet: Je moderner wir leben, umso ab-hängiger sind wir von Fachleuten.

Das Gegenteil ist in wohlbestimmter Hinsicht der Fall. Je mehr wirin der Tat von den Leistungen der Experten abhängig werden, umso

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entschiedener wird zugleich der Vorbehalt unseres Urteils über dieBekömmlichkeit dieser Leistungen in Anspruch genommen. JederArztbesuch lehrt es. Je tiefer und potenziell hilfreicher die ärztlicheKönnerschaft eingreift, umso entschiedener verlangen wir Aufklärungüber Nebenfolgen und Risiken, und schließlich erklären wir unter-schriftlich, dass wir sie akzeptieren – oder eben auch nicht. Auf diePolitik übertragen heißt das, der Zivilisationsprozess erzwingt kraftder Abhängigkeit unserer Lebensvoraussetzungen vom Wissen undKönnen der Experten mehr Demokratie.

Warum spricht sich das bis Deutschland nicht herum?

Es gibt eine traditionsbedingte deutsche Schwäche des Sinns für diemoralische und politische Bedeutung der jeweils eigenen individuel-len und kollektiven Interessen. Common Sense ist ins Deutsche nichtvoll übersetzbar. Gemeinsinn – das wäre die einschränkungslose indi-viduelle Orientierung an den Zwecken der Allgemeinheit. CommonSense hingegen ist der alltagspraktisch und bürgerschaftlich entwik-kelte Sinn dafür, dass just mit der Verfolgung gemeinverträglicher ei-gener Zwecke auch der Allgemeinheit am besten gedient ist.

Demnach wären weder Pflicht- noch Nutzenethik modern, wohl aber ei-ne Moral aus Evidenz?

Moral ist nützlich, Pflichterfüllung unentbehrlich. Entbehrlich ist dasMoralisieren, weil es bei auftretenden Schwierigkeiten meist nicht angutem Willen mangelt, sondern an zuverlässiger Kenntnis von Sach-und Wirkungszusammenhängen.

Was meinen Sie damit?

Ich antworte mit einer kleinen Geschichte. Eine Kirchengemeindebeschloss die Neumöblierung ihres Gemeindehauses mit gartenfähi-gen Tropenholzmöbeln. Helles Empören: Schöpfungsbewahrung!Rettet den Regenwald! Ein Holzfachmann meinte hingegen: Einzigals bewirtschafteter Forst ließe der Regenwald sich auf Dauer rettenund dafür brauche man einen florierenden Holzmarkt. Wer hatrecht? Schwer zu sagen! Evident ist: Guter Wille allein wäre mit derfälligen Antwort überfordert.