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1 Was ist „Lesen durch Schreiben“? Textsammlung Dr. Jürgen Reichen (ab 1981)

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Was ist „Lesen durch Schreiben“?

Textsammlung

Dr. Jürgen Reichen

(ab 1981)

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Inhalt

Anmerkung: Innerhalb des Zeitraums, in dem die hier versammelten Texte entstanden, wurde die deutsche Rechtschreibung „reformiert“ und mehrfach geändert. Zudem war - und ist - die Rechtschreibung in Deutschland und in der Schweiz verschieden (die Schweiz kennt z.B. kein ß). Es wäre daher zuviel Aufwand gewesen, die Texte alle auf den heutigen Stand zu bringen. Die Texte stehen hier in der Form von Rechtschreibung, die bei ihrer Entstehung gültig war.

Seite Text

5 A01 1981 Reichen Lesen durch Schreiben Zur didaktischen Konzeption eines neuen Leselehrganges

15 A02 1984 Reichen Die neue Erstlesemethode „Lesen durch Schreiben“

21 A03 1984 Reichen «Lesen durch Schreiben» als Beitrag zur psycholinguistischen Grundlegung der Rehabilitation funktionaler Analphabeten

26 A04 1986 Reichen LESEN DURCH SCHREIBEN

29 A05 1988 Reichen Zur „Psychologie“ des Erstleselehrgangs ‘Lesen durch Schreiben’

35 A06 1990 Reichen Zur Situation der Leseerziehung in der deutschsprachigen Schweiz

44 A07 1990 Reichen Vugs und Edwi / Wie kleine Kinder Schrift verwenden

51 A08 1990 Reichen Plädoyer für einen Paradigmenwechsel im Erstleseunterricht

59 A09 1990 Reichen Werkstattunterricht: Gemeinsam statt einsam lernen

66 A10 1991 Reichen „Lesen durch Schreiben“ in der Sonderschule: Nicht anders, als in der Regelschule anwendbar“

73 A11 1991 Reichen Schulversagen - das Versagen der Schule - oder: Warum kann Markus L. nicht lesen?

90 A12 1992 Reichen „Lesen durch Schreiben“ - der einzige Leselehrgang mit wirklich emanzipatorischem Anspruch

96 A13 1993 Reichen Aus Fehlern lernen / Gegen die ‘Rotstift-Kultur’ in der Institution Schule

99 A14 1994 Reichen Werkstattunterricht: Zwischenbilanz

101 A15 1994 Reichen Wie lernen Kinder lesen?

106 A16 1994 Reichen Rettet die Mathematik - macht Sachunterricht!

111 A17 1994 Reichen Einige Bemerkungen zum Thema „Hausaufgaben“

113 A18 1995 Reichen Grundschule im Umbruch

119 A19 1996 Reichen „Lesen durch Schreiben“ im Werkstattunterricht / Ein pädagogisch-didaktischer Beitrag zum Hessischen Modellversuch „Neukonzeption des Schulanfangs“

140 A20 1998 Reichen Lesen und Schreiben von Anfang an ? Nein !!!

151 A21 1999 Reichen „Die Zukunft lernt im Kindergarten“ - Tatsache oder nur Wunschdenken?

154 A22 2001 Reichen Lesen durch Schreiben / „Entstehungsgeschichte“ der Methode

160 A23 2003 Reichen Das Geheimnis der Bauecke

175 A24 2007 Reichen Von Pädagräueln und Didadogmen / Plädoyer für einen Paradigmenwechsel

180 B01 1992 Reichen Sachunterricht und Werkstatt / Interview mit Dr. Basil Schader

182 B02 1994 Reichen Interview mit Frauke Langhorst

193 B03 1994 Reichen Ein „Brief-Interview“ mit Ulrike Bersch

199 B04 1994 Reichen Interview mit Kristin Meinzer / Vierzehn Fragen rings um die Rechtschreibung

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Seite Text

210 B05 1995 Reichen Interview mit Markus Peschel

227 B06 1998 Reichen ua. 'Lesen durch Schreiben' / Arbeitskreis Itzehoe / Schlussgespräch

268 C01 1982 Süess u.a. Lesen durch Schreiben, Ein neues Leselernwerk von J. Reichen und Mitarbeitern

277 C02 1982 Inspektorat Schwyz Einführung des Leselehrganges "Lesen durch Schreiben" im Kanton Schwyz

281 C03 1984 Inspektorat Solothurn

Zwischenbilanz zum Leselehrgang "Lesen durch Schreiben"

285 C04 1986 Borchardt LESEN DURCH SCHREIBEN - ein neuer Anfang im 1.Schuljahr

288 C05 1987 Offermann Erfahrungen mit „Lesen durch Schreiben“ im Förderunterricht für ausländische Kinder

291 C06 1987 Mayer Der Leselehrgang 'Lesen durch Schreiben'

299 C07 1987 Freinetgruppe HH Nicht nur eine neue Lesemethode

310 C08 1988 Buser/Moser Lesen durch Schreiben

313 C09 1989 Simon Lesen durch Schreiben

320 C10 1990 Rohner / Sutter Erprobung des Lehrmittels "Lesen durch Schreiben" an Sonderklassen

340 C11 1991 Leibenath Meine Erfahrungen mit „Lesen durch Schreiben“

342 C12 1991 Wohlwendt Lesen durch Schreiben: Erst recht in der Förderschule!

347 C13 1991 ELK Erstleselehrgänge / Berichte aus der Praxis

352 C14 1991 Eberbach-Klemenz Lesen durch Schreiben an der Sprachheilschule

355 C15 1992 Busch Das Vertrauen wird auf eine harte Probe gestellt / Lehrerfortbildung bei „Lesen durch Schreiben“ in Hamburg

357 C16 1993 Stahlschmidt Darstellung, Analyse und Kritik des Leselehrwerks "Lesen durch Schreiben" von Jürgen Reichen

365 C17 1993 Weiß „Lesen durch Schreiben“ / Erfahrungsbericht einer Erstklasslehrerin

369 C18 1993 Wünnenberg Welche Auswirkungen hat die neue Lernmethode "Lesen durch Schreiben" auf das Rollenverständnis von Schüler und Lehrer ?

380 C19 1994 Kammler "Lesen durch Schreiben" mit geistig behinderten Kindern / Erfahrungsbericht

383 C20 1994 Noll Ein Brief

386 C21 1995 Rieder-Oberleitner Es geht auch ohne Fibel / Ein Bericht aus Südtirol

390 C22 1995 Elternmeinungen Lesen durch Schreiben im Urteil von Eltern aus Magdeburg

395 C23 1998 M. P. Theisen Max Ein Brief aus Luxembourg

397 D01 1985 ED Kt. Zürich ERSTLESEMETHODE UND RECHTSCHREIBKOMPETENZ

400 D02 1992 Bonenkamp Werkstattunterricht / Mein ganzheitliches Lehr- und Lernkonzept

405 D03 1992 Brügelmann Man kann diesen Unterricht guten Gewissens praktizieren

412 D04 1994 Brügelmann u.a. Richtig schreiben durch freies Schreiben?

421 D05 1999 Wünnenberg Über das Qualifizierte Nichtstun

432 D06 1999 Hövel Jürgen Reichen und die Freinetpädagogik

437- D07 2008 Reichen Lesenlernen ohne Leseunterricht (Grundschuluntericht)

438 E01 1978 Reichen Zur Theorie und Anwendung «didaktischer Prototypen»

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Einleitung Zu „Lesen durch Schreiben“ gibt es mittlerweile viel Wissen, aber auch viel Halb-Wissen, Nicht-Wissen, Missverständnisse, Vor-Urteile und sogar Verleumdungen. Daher heißt die erste Frage: Was ist „Lesen durch Schreiben“? - Ist es eine Methode des Schriftspracherwerbs? - Ist es (Stichwort: Werkstattunterricht) eine Didaktik des Grundschulunterrichts? - Ist es ein lernpsychologisches Konzept des impliziten (selbstgesteuerten) Lernens? - Ist es eine pädagogische Anthropologie (oder gar Philosophie)? Peinlicherweise weiß ich es selber nicht. Wahrscheinlich spielt alles oben Aufgeführte (und noch einiges mehr) eine Rolle, ist doch das Ganze eine Mischung von „Theorie“ und „Praxis“. Zu „Lesen durch Schreiben“ gibt es theoretische Begründungen, Hinweise zu einem pädagogischen Ver-haltensrepertoire der LehrerInnen, praktische Empfehlungen für einen kindgemäßen Unterricht und didaktisches Material als Lernangebote für Kinder. Im Alltag benutzte ich bislang zumeist den Ausdruck „Leselehrgang“, doch das ist ungenau, missverständlich oder gar falsch. Das Missverständnis kommt daher, dass man allgemein den Begriff „Leselehrgang“ auf das lernende Kind bezieht, während ich es an die LehrerInnen adressiert haben möchte. In der sog. „wissenschaftlichen“ Literatur zum Schriftspracherwerb und zum Unterricht in der Grund-schule wird „Lesen durch Schreiben“ zwar erwähnt, meistens aber nur mit dem ursprünglichen Kommentar-Text, der 1982 beim sabe-Verlag in Zürich veröffentlicht wurde (und der im Moment vergriffen ist). Andere - aus meiner Sicht ebenso relevante Texte wie „Sachunterricht und Sach-begegnung“, „Hannah hat Kino im Kopf“ sowie das Lernpaket „Lara und ihre Freunde“ scheinen in den Hochschulen nicht bekannt zu sein, jedenfalls bleiben sie im allgemeinen unerwähnt. Auch in den drei großen „Fachzeitschriften“ (Grundschule, Grundschulunterricht, Grundschulzeit-schrift) bleibt das Thema „Lesen durch Schreiben“ ausgespart. Der Grundlagenband „Sach-unterricht und Sachbegegnung“ wurde vor Jahren lediglich in der Grundschulzeitschrift rezensiert (als die Grundschulzeitschrift noch nicht zum Verlagsgiganten Klett gehörte), „Hannah hat Kino im Kopf“ sowie das Lernpaket „Lara und ihre Freunde“ wurden nirgendwo besprochen. Zwar bestehen viele weitere Veröffentlichungen zu „Lesen durch Schreiben“, doch sind diese weit-gehend unbekannt, weil sie in speziellen Zeitschriften erschienen, nur behördenintern kursierten oder gar nicht publiziert werden konnten. Damit Studierende (und Interessierte) nun aber trotzdem Zugang zu diesen verstreuten bzw. un-veröffentlichten Aufsätzen, Interviews und Erfahrungsberichten bekommen, haben wir uns ent-schlossen, eine Sammlung der wichtigsten Texte hier vorzulegen. Viele dieser Texte sind älteren Datums, denn damals, als „Lesen durch Schreiben“ neu war, wurde darüber viel diskutiert. Inzwischen scheint „Lesen durch Schreiben“ allgemein bekannt, man weiß: das ist die Arbeit mit einer Anlauttabelle. Diese Verkürzung schmerzt mich, ich gebe es offen zu. „Lesen durch Schreiben“ ist viel mehr und im Kern etwas entscheidend anderes als „die Arbeit mit einer Anlauttabelle“ - dies erfährt man u.a. aus den hier vorgelegten Texten, die daher nachwievor hochaktuell sind. Jürgen Reichen, August 2007

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Text-A01 Jürgen Reichen Lesen durch Schreiben Zur didaktischen Konzeption eines neuen Leselehrganges erschienen in: schweizer schule, Heft 18 / 1981 Vorbemerkung 2008 Der nachstehende Text ist der allererste Text, der das Konzept „Lesen durch Schreiben“ erläuterte. Er ist also gleichsam der Ur-Text, der die Grundgedanken und das praktische Vorgehen bei „Lesen durch Schreiben“ einfach und klar zur Darstellung bringt, ohne die Differenzierungen und Modifikationen, die sich in den anschließenden 27 Jahren ergaben. Wer „Lesen durch Schreiben“ verstehen will, wer verstehen will, wie sich das Konzept bis heute fortentwickelt hat, braucht die Kenntnis dieses Ur-Textes. Denn: Obwohl er aus dem Jahre 1981 stammt, ist er keineswegs veraltet, sind die hier ausgeführten Überlegungen prinzipiell nach wie vor gültig. Es ist die Konsumgüterindustrie, die laufend Ware verkaufen muß, die uns weismacht, dass stets das sog. Neue das Bessere sei. Das mag für Industrieprodukte gelten, für „geistige“ Erzeugnisse ist es jedoch Unsinn. Die Bedeutung eines Textes hat wenig mit dem Zeitpunkt seiner Entstehung zu tun, sondern ausschließlich mit seiner immanenten Qualität. In diesem Sinne ist der nachstehende Text zwar ein „alter“, relevant ist er trotzdem. Binningen, Februar 2008

* * * Seit Arthur Kern in den 30er Jahren die Ganzwortmethode begründete, war die Erstlesedidaktik praktisch während 40 Jahren durch den allseits bekannten Methodenstreit zwischen Analytikern und Synthetikern gekennzeichnet. Da dieser Streit wissenschaftlich nie entschieden werden konnte – keine der beiden Methoden ließ sich gegenüber der andern als überlegen nachweisen – kam es zu der verhängnisvollen Auffassung, im Bereich des Erstlesens sei die Methode als solche überhaupt unwichtig. Unter Lehrern verbreitete sich die fatale Überzeugung, gleichgültig welche Methode man wähle, die Kinder würden das Lesen so oder so erlernen. Lesenlernen wurde als Aufgabe gesehen, die Kinder auf jeden Fall bewältigen unabhängig um die Art des Unterrichts, der Art der Methode und der Art des Lehrmittels, was indirekt dazu führte, dass der Erstleseunterricht als mehr oder weniger unproblematisch betrachtet wurde. Erst als im Verlauf der Jahre zunehmend mehr Schüler mit dem Lesenlernen Schwierigkeiten zeigten und sogenannte Lese- und Rechtschreibschwächen aufwiesen, wurde man sich langsam bewusst, dass möglicherweise die Didaktik des Erstleseunterrichtes doch mehr Probleme stelle als bisher angenommen wurde. Die Folge war, dass sich seit den 70er Jahren die internationale Forschung zunehmend den Problemen des Lesens zuwandte mit dem Erfolg, dass die ausgiebige Erörterung methodischer Spitzfindigkeiten aufgegeben wurde zugunsten einer Betrachtungsweise, die das lernende Kind in den Mittelpunkt rückte. Man erkannte, dass alle bisherigen Lesemodelle zu einseitig waren, indem sie entweder lernpsychologisch oder informationstheoretisch oder linguistisch orientiert waren und

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wies nach, dass ein Lesemodell um so besser ist, je eher es ihm gelingt, alle genannten Aspekte gleichmäßig zu berücksichtigen, weil nur auf diese Weise auch für das Kind Methodenfreiheit möglich ist. Dies aber ist deshalb von grundlegender Bedeutung, weil nur dadurch jedes Kind seinem persönlichen Lernstil entsprechend lernen kann. Denn genau so wie jeder Erwachsene einen eigenen Arbeits- oder auch Lebensstil entwickelt, so wie jeder Lehrer gemäß seiner eigenen Persönlichkeit einen eigenen Unterrichtsstil zeigt, so hat jedes Kind individuelle Lernstile und im speziellen Fall unseres Themas einen individuellen Lesestil. Selbst bei Gebrauch eines einheitlichen Leselehrmittels lernen Kinder auf individuelle, unterschiedliche Art, was gleichzeitig bedeutet, dass Kinder das im Unterricht Angebotene nur zum Teil realisieren. Entsprechend gibt es denn auch Untersuchungen, welche belegen, dass Kinder um so besser lesen lernen, je größer die Lernfreiheit ist, die ihnen zugestanden wird und je weniger der Lehrer „Vollzugsbeamter einer vorgeschriebenen Methode“ sein muss. Dieser knappe Hinweis lässt nun die eigentlich grundlegende Entdeckung der neueren Leseforschung verständlich erscheinen, die man als didaktisches Paradox bezeichnen könnte: Es sind in allen bisherigen Leselehrgängen die vermeintlichen didaktischen Hilfen, welche den Lernprozess der Kinder erschweren. Wer als Lehrer den Kindern zuviel hilft, oder wer ein Lehrmittel verwendet, das vom Gedanken der Hilfeleistung ausgeht, „schickt den Schüler zwar auf einen geraden, breiten Weg, der am Ende aber nicht zum Ziel, sondern in eine Sackgasse führt“ (Hofer). Dabei gilt diese Überlegung nicht nur für Hilfen didaktisch-methodischer Art, sondern auch für Hilfen textlicher Natur. Während sich früher Verfasser von Lesefibeln vor allem darum bemühten, möglichst einfache Texte, die mit einem möglichst gleichbleibenden Wortschatz gestaltet werden konnten, zu erfinden, ist es heute geboten, im Bereich des Erstlesens bereits von Anfang an von komplexen Texten auszugehen. „Jeder neue Text muss unbedingt auch völlig neue Wörter enthalten, da die früheren Vereinfachungen der Fibeln recht eigentlich Fesseln sind, in deren Netz der Leser hängen bleibt.“ (Pregel). Vor diesem „historischen“ Hintergrund ist der Leselehrgang „Lesen durch Schreiben“ weniger eine weitere „Lese-Methode“, sondern vielmehr der ambitionierte Versuch, dem Ideal eines offenen, kommunikativen und durch den Schüler selbstgesteuerten Unterrichts vom ersten Schultag an den Weg zu ebnen. Im Mittelpunkt des Verfahrens steht das lesedidaktische Prinzip „Lesen durch Schreiben“. Lesen und Schreiben (verstanden nicht als motorische Fertigkeit, sondern als geistiger Akt, gesprochene Sprache in Schriftzeichen umzusetzen) sind offensichtlich zusammengehörige Phänomene, welche sich unter einem einheitlichen Gesichtspunkt als analog-gegenläufige Prozesse zeigen, durch welche identische geistige Bedeutungsgehalte entweder vom Medium Sprache ins Medium Schrift oder vom Medium Schrift ins Medium Sprache transportiert werden. Aufgrund dieser prozessualen Zusammengehörigkeit lernen die Schüler im Lehrgang „Lesen durch Schreiben“ zunächst nicht lesen, sondern ausschließlich „schreiben“. Die Fähigkeit zum eigentlichen Lesen stellt sich dann (wie alle bisherigen Erfahrungen gezeigt haben) nach einem halben Jahr des „Schreiben“-Lernens „automatisch“ ein. Im Prinzip ist dieses Verfahren nicht neu, bereits im Altertum wurde es praktiziert und seither bis ins 19. Jahrhundert immer wieder angewandt. Wegen ungenügender didaktisch-methodischer Umsetzungen blieben die prinzipiellen Vorteile des Verfahrens früher jedoch weitgehend wirkungslos. Nur wenn das lesedidaktische Prinzip „Lesen durch Schreiben“ in eine spezifische Lernstrategie – deren Zentrum das selbständige Lernen des Schülers ist – eingebaut wird, lässt es sich erfolgreich verwirklichen. Näheres hierzu wird weiter unten ausgeführt.

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Das erörterte Verfahren hat zur Konsequenz, dass die Fähigkeit des Schülers, ein beliebiges Wort in seine Lautkette zu zerlegen und danach phonetisch vollständig aufzuschreiben das wesentliche Lernziel darstellt. Entsprechend steht die Hinführung zur Lautstruktur der Sprache im Mittelpunkt der Lernanstrengungen des Anfangsunterrichts. Lautanalyse, Lautdiskrimination und Lautzerlegung haben grundlegende Bedeutung, unterrichtliche Lautierungshilfen unterstützen den Erwerb eines differenzierten Artikulationsbewusstseins. Zum Aufschreiben der „Lautketten“ d.h. phonetisch zergliederter Wörter, steht dem Schüler als zentrales Hilfsmittel eine Buchstabentabelle (vgl. Abb.) zur Verfügung, aus welcher er selbständig die richtige Zuordnung eines jeden Buchstabens zu seinem Lautgehalt ablesen kann. Diese Buchstabentabelle gibt dem Schüler einen Schlüssel in die Hand, mit dem er seinen eigenen Lernprozess aufzuschließen vermag; mit ihrer Hilfe kann der Schüler alles schreiben, was er schreiben will.

(Die Originaltabelle ist farbig.)

Der eigentliche Grundauftrag, den die Schüler im Rahmen dieses Lehrgangs jeweils bekommen, besteht daher stets darin, ein vorgegebenes oder selbstgewähltes Wort (bzw. einen Satz) aufzuschreiben, d.h. von der Sprache in die Schrift zu transportieren. Wie das jeweils konkret verläuft, sei an einem Beispiel kurz erläutert. Das Kind will z. B. „Hose“ schreiben. Es überlegt sich, mit welchem Laut das Wort „Hose“ beginnt und sucht dann auf der Buchstabentabelle jenen Gegenstand, der mit dem gleichen Laut beginnt, in diesem Fall der Hut. Nun kann es der Tabelle den Buchstaben „H“ entnehmen und aufschreiben, d. h. abmalen. Danach wiederholt sich der ganze Vorgang mit dem zweiten Laut „O“, der in der Tabelle durch den Osterhasen repräsentiert wird, dann wird das „S“ mit Hilfe des Bildchens Säge gefunden und zum Schluss fügt das Kind dank der Ente auf der Tabelle noch das „E“ an. Zunächst scheint dieser Prozess recht umständlich, doch erreichen die Kinder bald einmal, besonders im Umgang mit der Buchstabentabelle, eine erstaunliche Sicherheit und verlieren kaum noch Zeit mit Such-Arbeit.

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Auf der Basis von Einsicht lernen die Schüler selbständig und selbsttätig. Es steht ihnen frei, welche Wörter sie schreiben. Wer will, kann sogar einfache Sätze oder gar kleinere Geschichten aufschreiben. Schließlich sind sie auch darin frei, diejenigen Buchstaben, die ihnen besser liegen, zuerst „auswendig“ zu lernen und diejenigen, die ihnen Mühe machen, mit Hilfe der Tabelle zu ermitteln. So können sie die Phasen des gesamten Prozesses individuell durchlaufen: 1. Der Schüler lernt mit der Einführung der Buchstabentabelle das Prinzip des Schreibens und

Lesens kennen. Er erfährt: - dass gesprochene Wörter aus Lauten zusammengesetzt sind, - dass geschriebene Wörter aus Buchstaben zusammengesetzt sind, - dass im Prinzip jedem Laut ein Buchstabenzeichen zugeordnet ist und umgekehrt, und

schließlich - dass es auch Ausnahmen und Schwierigkeiten zu dieser Grundregel gibt: Verschiedene Laute (kurze und lange Vokale) werden mit dem gleichen Buchstaben geschrieben, andererseits finden sich für einen gleichen Laut (Fisch/Vogel) verschiedene Buchstaben, bestimmte Laute werden durch zwei Buchstaben repräsentiert (eu/ei) etc... 2. Der Schüler entwickelt grundlegende Lautkenntnisse, d. h. er kennt die wichtigsten Laute und kann sie voneinander unterscheiden; er kann Laute aus einem Wort heraushören oder Wörter, die bestimmte Laute enthalten, nennen; und er kann (mit Hilfe der Buchstabentabelle) zu jedem Laut den entsprechenden Buchstaben schreiben/malen. Gleichzeitig erkennt der Schüler die Bedeutung einer deutlichen Artikulation beim Sprechen. 3. Der Schüler kann mit Hilfe der Buchstabentabelle ein beliebiges Wort phonetisch korrekt aufschreiben. Dieses ist die entscheidende Stufe der Methode. Sie zu erreichen setzt voraus, dass der Schüler in der Lage ist, ein Wort in seine Einzellaute zu zerlegen. Wie bisherige Erfahrungen zeigen, ist dies eine Leistung, die vielen Kindern ganz erhebliche Mühe bereitet. 4. Der Schüler kann Sätze und ganze Texte phonetisch korrekt aufschreiben und lernt es (was eine erhebliche Leistung zu sein scheint), beim Schreiben nach jedem Wort eine Lücke auszulassen. Den Übergang vom Schreiben zum Lesen vollzieht der Schüler selber ohne jegliches Zutun des Lehrers. Dieser Prozess ergibt sich beiläufig aus dem Sachzwang, dass sich der Schüler beim Schreiben immer wieder vergegenwärtigen muss, was er bereits geschrieben hat und was noch fehlt. An sich ist diese Vergegenwärtigung natürlich noch kein Lesen im umfassenden Sinn, da keine Sinnentnahme aus den Schriftzeichen erfolgt, sondern eher umgekehrt eine Sinnunterlegung aber gerade dies bereitet dem späteren Lesen den Boden vor. Beispiel: Der Schüler will „Hamster“ schreiben. Er beginnt, wird aber an dem Punkt, da er bereits „Ham“ geschrieben hat, durch irgend etwas abgelenkt und unterbricht seine Arbeit für einen Moment. Wenn er nun wieder weiterarbeitet, muss er sich vergewissern, wo er aufhörte, d. h. er muss das bereits geschriebene „Ham“ erkennen. Um den entscheidenden Prozess des Übergehens vom Schreiben zum Lesen nicht zu stören, darf im Verlauf des Lernprozesses kein Kind jemals gezwungen werden, etwas zu lesen. Aus motivationspsychologischen Gründen und im Hinblick auf Präfigurationsprozesse bietet aber der

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Unterricht gleichwohl mannigfache Lesemöglichkeiten, z. B. in Form von Überschriften auf Arbeitsblättern, von denen die Kinder dann im Maße ihrer Neugierde zunehmend Gebrauch zu machen beginnen. Zusammenfassung Analysiert man die Grundleistungen, die der Schüler erbringen muss, bis er völlig schreiben und d. h. zugleich lesen kann, dann findet man: er muss das Transformationsprinzip anwenden können, er muss ein Wort in seine Lautstruktur zerlegen können, er muss imstande sein, Buchstaben formgerecht zu „malen“ und er muss schließlich mit der Zeit die Zuordnungen zwischen Lauten und Buchstaben «auswendig» wissen. Nun darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass das vorstehend Ausgeführte eine Vereinfachung darstellt, die wohl im Prinzip zutrifft, nicht jedoch in allen Einzelheiten. Insbesondere gegenüber den erwähnten Phasen 1–4 müssen einige Relativierungen angebracht werden. Dieses Modell suggeriert eine curriculare Abfolge von linearen Lernschritten, die es in dieser Form im wirklichen Lernprozess der Schüler gar nicht gibt, da sich die verschiedenen Phasen stets überlappen. Entsprechend können die einzelnen Übungs- und Lernmaterialien des Lehrganges auch nicht einem chronologischen Einsatzplan zugeordnet werden, sondern verlangen eine flexible und teilweise individuell auf den einzelnen Schüler bezogene Handhabung. Das lesedidaktische Prinzip «Lesen durch Schreiben» kann unterrichtlich nur wirksam werden als Teil einer umfassenderen Lernstrategie, die einige spezifische Schwerpunkte aufweist (und die Ursache dafür ist, dass der Lehrgang manch Ungewohntes enthält, was bisher nicht Bestandteil von Leselehrgängen war). «Durch Schreiben» lernt der Schüler das Lesen nur optimal, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: 1. Das Lernangebot muss dem Schüler selbsttätiges, selbständiges und selbstgesteuertes Lernen ermöglichen. Nachahmungs- und Übungsprozesse sind so weit als möglich einzuschränken. Es soll den Schülern vor allem ein Lernen ermöglicht werden, das einen aktiven Auseinandersetzungsprozess mit dem Lerngegenstand zulässt und die notwendigen Anteile rein rezeptiven Lernens (zuschauen, zuhören, bereits Vorgegebenes lesen) reduziert. Dies verlangt vom Lehrer allerdings ein partnerschaftliches, freiheitliches, nichtautoritäres Erziehungsverhalten und in didaktischer Hinsicht eine spezifische Form methodischer Zurückhaltung. Der Lehrer soll sich als „Organisator der Lernbedingungen“ (Gagné) verstehen – eine Forderung, deren Einlösung anfangs große Mühe bereitet, sind wir es in der unterrichtlichen Arbeit mit Erstklässlern bislang doch kaum gewöhnt, sie einer selbständigen Arbeit zu überlassen und uns als Lehrpersonal aus dem Unterrichtsgeschehen herauszunehmen, uns auf die Rolle des reinen Beraters evtl. Anregers zu beschränken. Soll das hier beschriebene Lehrgangsprinzip in einer Klasse Anwendung finden, kommt diesem Punkt jedoch erhebliche Bedeutung zu. Etwas überspitzt gesagt, muss der Lehrer vor allem darauf achten, „die Schüler bei ihrem Lernen nicht zu stören“! 2. Das Lernangebot muss sich soweit als möglich an Transferprozessen orientieren, was bedeutet, dass eine Beschränkung des Leselehrgangs nur auf Lernangebote zum „Lesenlernen im engeren Sinne“ falsch ist. Zwar können an den Akten des Lesens und Schreibens auf analytischem Wege Einzelfunktionen unterschieden und herausgelöst werden. Ein isoliertes Training solcher Einzelfunktionen bleibt hingegen weitgehend wirkungslos, weil Lesen- und Schreibenkönnen als hochkomplexe Fertigkeiten und Fähigkeiten eingebettet sind in die psychische, insbesondere kognitive Gesamtverfassung der Person des Schülers und daher eine spezifische Ausweitung und Vielfalt der Lernangebote verlangen. Dabei darf man eine Begünstigung des Leselernprozesses

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nicht nur über vielfältige Formen einer sprachlichen Aktivierung erwarten. Im gleichen Maße, in dem Lesenlernen nicht nur etwas mit Sprache zu tun hat, sondern auch mit Wahrnehmen und Denken, sind vor allem auch vielfältige Formen von Wahrnehmungsübungen und kognitiver Aktivierung erforderlich. Kognitive Aktivierung heißt dabei, die Orientierungsfähigkeit und das Anweisungsverständnis der Schüler im weitesten Sinne zu fördern. Dies verlangt eine umfassende Denkerziehung durch ein vielschichtig variables Lernangebot mit stets neuen Aufgaben, mit einem großen Anteil an Wahrnehmungsorientierung, mit Ausgriffen ins Mathematische und Sachkundliche, mit Organisationshilfen, Tabellen und Grafiken, mit Übungen zur Begriffsbildung und zur Bildung von Analogien, mit offenen Situationen sowie Problemstellungen mit mehreren Lösungsmöglichkeiten, etc. 3. Das Lernangebot muss möglichst viele Präfigurationsprozesse auslösen, was u. a. heißt, im Sinne begabungsüberschießender Lernangebote die Schüler gezielt und systematisch „überfordern“. Diese leicht missverständliche Formulierung sei etwas näher erläutert: Die Präfigurationstheorie geht von der Annahme aus, dass ein Schüler im Falle der meisten Fähigkeiten und Fertigkeiten, die er sich erwirbt, zwischen jenem Punkt in der Lernentwicklung, an dem er kompetent über diese Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt, und jenem Anfangspunkt, an dem er diesbezüglich noch ohne jegliche Kompetenz ist, eine Art von Zwischenzone durchläuft, wo er erst bzw. bereits über eine partielle Kompetenz verfügt. Einfacher gesagt: Ehe ein Schüler eine bestimmte Sache „ganz“ kann, kann er sie „halb“ bzw. „teilweise“. In dieser Zwischenzone, die sich weitgehend einem methodisch-didaktischen Direktzugriff entzieht und die wir als Präfigurationsphase ansehen, werden nun Lernleistungen «irgendwie» vorbereitet. Daraus ergibt sich als eine wichtige Konsequenz, dass man nicht länger an die Regel gebunden ist, wonach eine bestimmte Leistung vom Kind zuerst beherrscht werden müsse, ehe man mit der Erarbeitung der nächsthöheren beginnen könne. Man kann auch überlappend vorgehen. Wichtig ist allerdings, dass man auf jeglichen Leistungsdruck verzichtet und durch eine kontinuierliche diagnostische Beobachtung des Entwicklungsstandes der Kinder den Gesamtprozess ihres Lernens annähernd übersieht, d. h. rechtzeitig merkt, wenn man das Präfigurationsprinzip überzieht. Setzt man das Präfigurationsprinzip aber kompetent ein, dann begünstigt man das kindliche Lernen in ganz außerordentlichem Maße, weil eine bestimmte Menge an Lernlücken oder Lerndefiziten besser: an noch offenen Teillernprozessen im Rahmen eines Gesamtlernprozesses nicht nur verkraftet werden können, sondern diesen durch ein komplexes, dynamisches Zusammenwirken geradezu positiv unterstützen. Es kommt erst dann zu Lernstörungen oder zum Lernversagen, wenn die Menge dieser noch nicht oder erst halb gefestigten Teillernprozesse bzw. -lernschritte zu groß wird, oder wenn Leistungen, die den jeweiligen Leistungsstand des Schülers „überfordern“, unter Leistungszwang verlangt werden. Die positiven Möglichkeiten des Präfigurationsprinzips wirken sich also nur aus in einer Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens ohne Druck und Zwang, in welcher Leistung vom Schüler als etwas Positives, das Selbstbewusstsein Stärkendes empfunden werden kann. 4. Das Lernangebot muss „soziales Lernen“ ermöglichen. „Soziales Lernen“ meint dabei zweierlei:

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4.1 Das Mit-Einander- und Von-Einander-Lernen. Verschiedene Formen von Gruppen- und Partnerarbeiten mit vielfältigen Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten sind hier die Grundlage, während der sogenannte „Werkstattunterricht“ den unterrichtlichen Rahmen bildet. 4.2 Das Lernen sozialer Tatbestände. Hier wird der Begriff des sozialen Lernens inhaltlich, im Sinne des sogenannten „situativen Curriculums“ verstanden, d. h. es geht darum, die eigene soziale Situation der Schüler zum Thema und Inhalt des Lernens zu machen. Dies geschieht in den „Rahmenthemen“ des Lehrgangs, in denen soweit als möglich (u.a. auch durch Vor-Formen von projektartigem Lernen) Bezug genommen wird auf die reale Lebenssituation der Kinder. Zusammenfassend kann man sagen, das „Curriculum“ hinter dem Lehrgang orientiere sich nicht an einer linearen Systematik, sondern an der Komplexheit des Gesamtlernprozesses des Schülers, welcher unterstützt wird durch Vorgabe eines offenen didaktischen Arrangements. Wesentlich erscheint dabei das Bemühen, „weiterführendes“ Lernen zu ermöglichen, den weiteren Lernprozess der Schüler offen zu halten und den an sich kumulativen Verlauf eines jeden Lernprozesses zu berücksichtigen. Dies geschieht nicht nur durch eine ausdrückliche Prozessorientiertheit des Lernens, die auf Präfigurations- und Transferprozesse hin angelegt wird, sondern auch durch besondere Beachtung der Motivationsgrundlagen der Schüler. Aus Platzgründen kann jedoch an dieser Stelle nicht mehr auf diesen Punkt eingegangen werden. Statt dessen soll noch kurz etwas über den „Werkstattunterricht“ gesagt sein: Eine ausführliche Darstellung und didaktische Begründung des „Werkstattunterrichts“ (sowie ähnlicher Unterrichtsformen) hat Manfred Bönsch bereits 1979 in dieser Zeitschrift vorgelegt. Während die allgemeine Didaktik (verstanden als Wissenschaft vom Unterricht) bisher mehr planerische, festschreibende, quasi-programmierende Elemente des Unterrichtens diskutiert hat, als offene, spontane, nicht exakt-kalkulierbare, ist in den letzten Jahren unter dem Namen „offene Curricula“ bzw. „kommunikative Didaktik“ eine didaktische Gegenströmung entstanden. Sie geht aus von Überlegungen, die von einer Vermittlungsdidaktik weg und zu einer Didaktik des Lernarrangements hinführen wollen, welches die Lehrer-Schülerbeziehungen und das zentrale Problem der Festlegung von Lerninhalten und Lernanforderungen neu bestimmt. Offener Unterricht verzichtet auf eine einseitig produktorientierte Programmierung des Lernens zu Gunsten eines offenen Arrangements von Lernsituationen und -materialien. Im Rahmen der allgemein vorgegebenen Zielsetzungen sollen dabei auch die Schüler Mitbestimmungsmöglichkeiten hinsichtlich der Methoden und Inhalte des Unterrichts haben. Das aber heißt, dass auch Schülerinteressen, -bedürfnisse, -initiativen zum bestimmenden Moment schulischen Lernens werden können. Der Lehrer hat in diesen Fällen seine alles überdeckende Dominanz zurückzunehmen und sollte sich mehr als Berater, Moderator oder Helfer verstehen. Die Schüler andererseits sind zu größerer Selbständigkeit aufgefordert. Sie sollen selber Entscheidungen treffen und sich kommunikativ und kooperativ mit ihren Kameraden auseinandersetzen. Es ist hier nicht der Ort, ausführliche Vorschläge zur Durchführung von Werkstattunterricht vorzulegen. Nur soviel sei angemerkt: Sowohl der Lehrer als auch die Schüler müssen sich in den Werkstattunterricht einleben. Je mehr der Lehrer den Überblick über den Lehrgang hat und je mehr die Kinder gleichzeitig „schulinformiert“ sind, das heißt den Schulbetrieb und seine Anforderungen kennen, um so mehr ist Werkstattunterricht möglich. Er beginnt kaum mit der eigentlichen „freien Schülerarbeit“, sondern mit Vor-Formen individueller Arbeiten, die der Lehrer

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den einzelnen Schülern zuweist. Er setzt sich dann fort über einen modifizierten Angebots-Unterricht, bei dem die Schüler unter verschiedenen, vom Lehrer bereitgestellten Lernangeboten auswählen, und erst am Schluss wird er zum wirklich „offenen Unterricht“, in dem die Schüler selber ihr Lernen gestalten: Lücken schließen und an Schwächen arbeiten, Kenntnisse ausbauen und vertiefen sowie „Spezialistentum“ betreiben. Die meisten Lehrer, die bisher mit dem Lehrgang arbeiteten, stimmten zwar der Idee des Werkstattunterrichts zu, mit seiner Verwirklichung hatten sie jedoch einige Schwierigkeiten. Zum einen bereiten ihnen die Gestaltung und Organisation des Werkstattunterrichts Mühe; zum zweiten sind sie verunsichert, weil sie weniger „Kontrolle“ über die Kinder haben, weil ihnen der „Überblick“ fehlt; zum dritten fällt ihnen der Rollenwechsel vom „Regisseur“ zum „Souffleur“ des Unterrichts schwer. Dazu kommen Schwierigkeiten auf Seiten der Kinder. Gerade am Anfang des Schuljahres haben knapp schulreife Kinder Einstiegsschwierigkeiten – nicht beim Verstehen der Lerngehalte, aber im Hinblick auf die sehr hohen Anforderungen, die der Lehrgang an die Arbeitshaltung stellt. Das führt zum Problem, dass der Werkstattunterricht dann gerade bei jenen Kindern, deren Arbeitshaltung eine Stützung am nötigsten hätte, den Aufbau einer seriösen Arbeitshaltung u. U. verzögern kann. Werkstattunterricht setzt auch gewisse Randbedingungen voraus. So lässt er sich beispielsweise nicht realisieren in voneinander streng abgegrenzten 45-Minuten-Lektionen, die womöglich noch streng verfächert sind. Im Anfangsunterricht sind statt dessen Doppelstunden, in denen sowohl sprachliche als auch mathematische Lernangebote nebeneinander zur Bearbeitung vorgesehen werden, sinnvoller. Wichtig sind auch vielfältige Material- und Spielangebote, eine Vielfalt in der Raumnutzung mit Spiel-, Lese- und Arbeitsecken sowie variablen Sitzmöglichkeiten (z. B. Teppiche auf dem Boden). Wo es sich machen lässt, sollte auch der Einbezug von Vorräumen, anderen Räumen oder dem Schulhausgang mit in Betracht gezogen werden. Eine wichtige Maßnahme für kommunikativen und offenen Unterricht ist die Öffentlichkeitsarbeit. Die Gefahr des Missverstehens (da wird nur gespielt, was soll schon dabei herauskommen?), Ängste gegenüber Verhaltensweisen, die man vom Schüler nicht erwartet (Kritik, unerschrocken geäußerte Meinungen, ein unerwarteter Grad von Selbständigkeit), sowie Misstrauen (die werden nicht so viel lernen) sind zu erwarten und sollten über eine kommunikativ angelegte und offene Öffentlichkeitsarbeit bei Eltern und Schulbehörden möglichst vermieden werden. Das geschilderte Verfahren hat mehrere prinzipielle Vorteile: 1. Dank der Buchstabentabelle kann von Anfang an mit dem ganzen Alphabet gearbeitet werden, was den Unterricht von den sinnfremden Künstlichkeiten enthebt, die vorab bei der synthetischen Methode durch die vermeintlichen Aufbaufolgen in der Einführung eines Buchstabens nach dem anderen geschaffen werden und in den ersten Phasen des Leseunterrichts den verwendbaren Wortschatz in einer sprachdidaktisch kaum zu rechtfertigenden Weise reduzieren. 2. Die Schüler können selber bestimmen, was sie schreiben wollen, d. h. sie schreiben, was für sie von Interesse und Bedeutung ist. Die informative, kommunikative und expressive Funktion von Texten wird dadurch unmittelbar erlebt und begründet im Schüler das Bewusstsein, dass Geschriebenes Sinn enthält. Gleichzeitig wird Schreiben- und Lesenlernen als ein Prozess erfahren, der ganz eindeutig eigene Kompetenzen erweitert. Hierzu ist freilich erforderlich, dass im Mittelpunkt des Sprachunterrichts vielfältigste Schreibanlässe stehen. Dabei ist es aus

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motivationspsychologischen Gründen unbedingt notwendig, Schreibaufgaben nicht einfach zu verordnen, sondern in einen Kontext einzubringen, in dem sie als natürlich, notwendig oder lustbetont erfahren werden. Unter diesen Aspekten eignen sich zunächst einmal ganz besonders Schreibanlässe im Hinblick auf kommunikative Funktionen, als Briefe, Mitteilungen u.ä. im Rahmen sozialer Situationen, sowie schriftliche Aufzeichnungen, die als Gedächtnisstützen dienen wie etwa Einkaufslisten, Wunschzettel, Hausaufgaben-Heftchen etc. ... Der Lehrer sollte daher jede sich bietende Gelegenheit zu natürlichen Schreibanlässen nutzen und die Kinder zum Schreiben ermutigen. Freilich ist im Auge zu behalten, dass entsprechende Situationen nur selten einen Schreibanlass für eine ganze Klasse abgeben. In der Regel handelt es sich bloß um natürliche Schreibgelegenheiten für einzelne Kinder. Des weiteren kommen Schreibaufgaben im Rahmen von Arbeitsblättern und Spielen in Betracht sofern sie funktional begründet sind und nicht bloß Übungscharakter haben. Solche funktional orientierte Aufgabenstellungen sind vor allem zur Festigung der gerade frisch erworbenen Schreib- und Lesekompetenz von großer Bedeutung. Wenn der Schüler die erste Phase seines Schreiben- und Lesenlernens abgeschlossen hat und sich nun eine erste Stufe von Schreib- und Lesegeläufigkeit aneignen soll, besteht die Gefahr, dass der Lehrer dies unterrichtlich durch häufiges Üben zu erreichen versucht. Erliegt der Lehrer jedoch dieser Gefahr, indem er ein großes Maß an Übungen in den Unterricht einbringt, dann verringert er damit wahrscheinlich die grundlegende Sensibilisierung der Kinder gegenüber der Sinn- und Bedeutungshaftigkeit von Schrift und Sprache, die gerade bei einem Lehrgang nach dem Prinzip „Lesen durch Schreiben“ ursprünglich sehr hoch sein dürfte. Es wäre daher wichtig, auf reine Übungsaufgaben so weit als möglich zu verzichten und Übungseffekte gleichsam als beiläufigen Effekt von primär kognitiven oder kreativen Aufgaben zu erzielen. Mittelpunkt der unterrichtlichen Arbeit ab II. Quartal des 1. Schuljahres ist daher das eigene Gestalten von Lesebüchlein, Geschichten, Liedern u. ä. Hierzu finden sich im Lehrgangsmaterial zahlreiche Anregungen. 3. Das Problem der Sinnentnahme entfällt, da der Sinn dessen, was zu schreiben ist, von vornherein geklärt ist, so dass der Schüler zunächst seine ganze Aufmerksamkeit auf den technischen Umsetzungsprozess richten kann. Damit entfällt auch das Hauptproblem traditioneller Leseverfahren das „Zusammenschleifen“. Gleichzeitig werden die Schüler auf selbstverständliche Weise darauf hinorientiert, dass schreiben informieren und lesen Sinnentnahme bedeutet. 4. Das Schreiben- und Lesenlernen erfolgt hauptsächlich über aktive und kaum über rezeptive Prozesse, also so, wie psycholinguistische Einsichten es nahelegen. Diese lassen erkennen, dass der Anteil von Nachahmungsleistungen (d. h. der Aneignung und Übernahme von lesetechnischen Verfahrensweisen), im Bereich des Lesenlernens recht gering ist und die Kinder vielmehr durch aktive, innere Gestaltungsprozesse die Kompetenz über die Schrift erwerben. 5. Die Schüler entwickeln von Anfang an ein ausdrückliches Rechtschreibebewusstsein und werden auf Orthographieprobleme hin motiviert und orientiert. Bei traditionellen Leselehrgängen fehlt diese Motivierung zunächst. Da die vorgedruckten oder vorgeschriebenen Wörter und Texte, welche die Kinder in traditionellen Verfahren lesen, stets richtig geschrieben sind, haben die Schüler keinen Anlass, sich dessen bewusst zu werden, dass Wörter auch falsch geschrieben sein

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könnten. Begrenzt man zudem das eigene Schreiben der Schüler auf den Bestand des bereits bekannten Fibelwortschatzes, den die Kinder fehlerfrei schreiben (in der Meinung, man müsse die Schüler davor bewahren, falsche Wortbilder zu Gesicht zu bekommen), hält man sie künstlich in einem Schonraum, der eine Scheinsicherheit erzeugt und die Entwicklung eines Problembewusstseins für Rechtschreibung unterbindet. Anders bei „Lesen durch Schreiben“. Hier bewirkt das Verfahren als solches eine positive Rechtschreibehaltung. Durch den Auftrag, Wörter zu schreiben, steht der Schüler von Anfang an vor der Aufgabe, „richtig“ zu schreiben, wobei „richtig“ zunächst nicht orthographische Richtigkeit meint, sondern Verstehbarkeit für einen Leser. Schüler erfahren so von Anfang an, dass Wörter richtig oder falsch geschrieben sein können und dass man sich anstrengen muss, sie richtig zu schreiben – dieses Wissen aber präfiguriert eine Grundhaltung, die für Orhographie-Erfordernisse offen ist, so dass man schon recht bald auch eigentliche Orthographie-Hinweise geben kann. 6. Die Selbständigkeit im Lernen verhindert legasthenische Fehlentwicklungen und vermittelt eine besondere Art von Erfolgserlebnissen, sie stärkt das natürliche Selbstbewusstsein der Schüler. Unter pädagogischen Aspekten betrachtet, ist dies der Hauptvorteil des Verfahrens: „Lesen durch Schreiben“ verschafft dem Schüler die lernmotivierende und selbstbewusstseinshebende Überzeugung, nicht der Lehrer, sondern er selber – ganz alleine – habe sich das Lesen und Schreiben beigebracht. Abschließend sei nicht verschwiegen, dass das Verfahren für den Lehrer auch Probleme in sich birgt. Fast alle Lehrer haben am Anfang mehr oder weniger große Schwierigkeiten, die sie nur durch erhöhte Anstrengungen bewältigen können: - es fehlt ihnen zunächst schlicht die Übersicht über das komplexe, Lehrgangsmaterial - sie müssen sich selber stark umstellen, da die wenigsten in der Ausbildung mit vergleichbaren

Konzeptionen bekannt wurden und nun hinsichtlich ihrer Unterrichtsführung und -gestaltung mit etwas Neuem konfrontiert sind

- sie benötigen mehr Zeit zur Unterrichtsvor- und -nachbereitung - ihre pädagogische Präsenz im Unterricht wird stärker gefordert - sie werden durch Schwierigkeiten des Werkstattunterrichts verunsichert - es wird ihnen die Übersicht und Kontrolle über die Schüler erschwert - sie werden in erhöhtem Maß mit den vielfältigen Begabungsdifferenzen und

Leistungsunterschieden zwischen den Kindern konfrontiert - und schließlich wird ihnen ein großes pädagogisches Zutrauen in die Selbstentwicklungskräfte

und Selbstlernfähigkeiten der Kinder abverlangt. Von daher ist die Verwendung des Lehrgangs nicht jedem Lehrer zu empfehlen. Es gilt, was Kurt Meiers im Geleitwort zum Lehrerkommentar ausführte: „Dieses Leselernwerk ist eine didaktische Provokation, durch das die Palette der Leselernwerke ganz entscheidend bereichert wird. Es bleibt zu hoffen, dass es immer in die Hände geschickter Lehrer kommt, die die in ihm liegenden didaktischen Möglichkeiten in pädagogischer Verantwortung zu nutzen wissen.“

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Text-A02 Jürgen Reichen Die neue Erstlesemethode "Lesen durch Schreiben" erschienen in: Schweiz. Lehrerzeitung / Nr. 6 / 15. März 1984 Da für den Schulanfänger der Leseunterricht im Mittelpunkt des Lerngeschehens der ersten Klasse steht, ist der Erfolg oder der Misserfolg bei diesem Lernprozess für jeden Schüler von entscheidender Bedeutung für sein künftiges Schulschicksal. Im Erstleseunterrieht geht es also um mehr als nur um Lesenlernen, und deshalb ist "Lesen durch Schreiben" eigentlich erst in zweiter Linie, fast nebenbei, ein ErstleseIehrgang. In erster Linie ist es der Versuch, dem Ideal eines offenen, kommunikativen und selbstgesteuerten Unterrichts den Weg zu bereiten, indem die Schüler nicht nur das Lesen, sondern vor allem das Lernen lernen. Der Lehrgang enthält entsprechend manch Ungewohntes, was bisher nicht Bestandteil von Leselehrgängen war. Er geht von der pädagogischen Grundüberzeugung aus, dass die meisten Kinder aus sich heraus lernfähig und lernbereit sind und viele didaktisch-methodische Massnahmen der Schule das kindliche Lernen wahrscheinlich eher stören als unterstützen. Leitend ist die psycholinguistisehe Hypothese, die besagt, dass der Anteil von Nachahmungsleistungen, d. h. Aneignung und Übernahme von lesetechnischen Verfahrensweisen, im Bereich des Lesenlernens recht gering ist, da Kinder vorab durch aktive, innere Gcstaltungsprozesse die Kompetenz über die Schrift erwerben. Entsprechend ist der Selbstaktivität des Schülers ein Maximum an Spielraum zu lassen, sind die unumgänglichen Anteile rezeptiven Lernens so klein wie möglich zu halten. Hierzu bietet die Methode "Lesen durch Schreihen" beinahe ideale Voraussetzungen: 1. Dank der Buchstabentabelle (vgl. Abb. 1) kann von Anfang an mit dem ganzen Alphabet, und d. h. zugleich mit einem unbegrenzten Wortschatz, gearbeitet werden. Dies enthebt den Unterricht von den Künstlichkeiten, die vorab bei der synthetischen Methode durch die vermeintlichen Aufbaufolgen in der Einführung eines Buchstabens nach dem andern geschaffen werden und in den ersten Phasen des Leseunterrichts den verwendbaren Wortschatz in sprachdidaktisch kaum zu rechtfertigender Weise reduzieren.

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2. Die Schüler können selber bestimmen, was sie schreiben wollen. Entsprechend schreiben sie, was für sie von Interesse und Bedeutung ist. So wird die informative, kommunikative und expressive Funktion von Texten unmittelbar erlebt und festigt im Schüler das Bewusstsein, dass Geschriebenes Sinn enthält. Gleichzeitig wird der Prozess des Schreiben- und Lesenlernens als etwas erfahren, was eigene Kompetenzen erweitert und im Alltag gebraucht werden kann.

3. Das Problem der Sinnentnahme entfällt, da der Schüler weiss, was er schreiben will. Der Schüler kann so zunächst seine ganze Aufmerksamkeit auf den technischen Umsetzungsprozess richten. Damit entfällt auch das Hauptproblem traditioneller Leseverfahren - das "Zusammenschleifen". Gleichzeitig wird den Schülern auf selbstverständliche Weise bewusst, dass Schreiben informieren und Lesen Sinnentnahme bedeutet.

4. Das Schreiben- und Lesenlernen erfolgt hauptsächlich über aktive und kaum über rezeptive Prozesse. Die Kinder erwerben die Kompetenz über die Schrift ohne Nachahmungslernen, was zu einer besseren langfristigen Verankerung des Gelernten führt.

5. Lernt der Schüler "durch Schreiben" lesen, dann bleiben ihm Misserfolge beim Lesen weitgehend erspart, da er erst dann im Unterrieht liest, wenn er lesen kann - vorher schreibt er. Die hinlänglich bekannnte Situation, in der ein schwacher Schüler zwangsläufig blossgestellt wird, weil er mühsam einen Text vorstottern muss, während die Klasse mehr oder weniger aufmerksam "mitliest" und die Lehrerin mit Korrekturen "hilft", gehört hier der Vergangenheit an. Langweilige Lesestunden gibt es keine mehr, ein Leseverleider schon im 1. Schuljahr wird vermieden. Zudem werden durch diesen Umstand schwache Schüler in einem Masse psychologisch entlastet, welches kaum hoch genug eingeschätzt werden kann.

6. Die Selbständigkeit im Lernen verhindert legasthenische Fehlentwicklungen und vermittelt Erfolgserlebnisse. Dadurch wird das natürliche Selbstbewusstsein der Schüler immer wieder gestärkt. Unter pädagogischen Aspekten betrachtet ist dies der Hauptvorteil des Verfahrens: "Lesen durch Schreiben" vermittelt dem Schüler die Überzeugung, er selbst habe sich das Lesen und Schreiben beigebracht, nicht die Lehrerin.

BEISPIELE "Bite nit stören" steht in ungelenker Schrift auf einem Zettel, der an Claudias Zimmertüre hängt. Die Mutter, eben im Begriff, Claudia in den Keller zu schicken, stutzt, begreift, lacht in sich hinein und geht selber in den Keller.

Eines Morgens findet Lehrer Franz Büchler (Birsfelden, BL) folgenden Brief von Roland auf dem Pult:

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Yvonne und ihr älterer Bruder Marc streiten sich heftig. Zornentbrannt zieht sich Yvonne an ihren Tisch zurück und beginnt zu schreiben. Kurz darauf stellt sie sich herausfordernd vor Marc hin und hält ihm einen Zettel unter die Nase: "Du Arschloch", steht da gross und deutlich. Yvonne leuchtet der Triumph in den Augen. Jetzt hat sie's ihrem Bruder gegeben, schriftlich, schwarz auf weiss. In der Klasse von Ursula Bruhin (Merlischachen, SZ) schreiben Kinder ihre Entschuldigungen selber:

Als ich in der Klasse von Erika Wirz (Wädenswil, ZH) einen Besuch machte, wurde ich den Schülern von der Lehrerin als der Mann vorgestellt, der den Leselehrgang erfunden habe - die Buchstaben-tabelle und die übrigen Arbeitsblätter. In der Pause unterhielt ich mich mit der Lehrerin - und nach der Pause kam ein kleines Mädchen und drückte mir nachstehenden Zettel in die Hand:

"lch zäichne en Schlumpf", teilt Thomas mit. Nach einiger Zeit, da das entstehende Werk kaum einem Schlumpf ähnelt, interpretiert er die Zeichnung um: "Näi, ich zäichne es Huus, s Huus vom Samichlaus." Dass Thomas zehn Tage vor dem Bündelitag den Samichlaus erwähnt, überrascht den Lehrer, und er verfolgt die Szene aufmerksam. Sandra fragt ganz arglos: "Chuunt de Samichlaus au zu dir?" "Näi, näi", wehrt Thomas erschreckt ab - wobei deutlich wird, dass Thomas ausweicht und Angst hat. (Später stellt sich heraus, dass die Mutter disziplinarische Schwierigkeiten mit Thomas hat, weshalb sie versucht, sich mit massiven Samichlaus-Drohungen bei ihrem Sohn Respekt zu verschaffen.) Der Lehrer merkt, dass Thomas ein Problem hat und schaltet sich ein: "Das müsste man hier anschreiben, damit man weiss, dass es das Haus des Samichlaus ist. Aber das wirst du wohl noch nicht können, denn Samichlaus ist ja kein einfaches Wort." "Moll, ich cha Samichlaus schriibe", widerspricht Thomas und lässt sich herausfordern. Und tatsächlich gelingt es Thomas, "Samichlaus" zu schreiben. Lange und offensichtlich befriedigt blickt Thomas auf das selbstgeschriebene "Samichlaus" - dann geht er durch die Klasse und

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berichtet allen Kameraden: "Das heisst Samichlaus." Wer möchte hier am Phänomen der Wortmagie zweifeln? Thomas hat sich mit dem Aufschreiben ganz offensichtlich einer Angst gestellt und diese "schreibemächtig" verringert. Alle diese Beispiele stammen aus dem 1. Unterrichtsquartal von Kindern, die mit "Lesen durch Schreiben" unterrichtet wurden. Sie sind für die Methode typisch - nicht weil sie belegen, dass die Kinder im Unterricht schreiben lernten, sondern weil sie zeigen, dass die Kinder ihre neuerworbenen Fähigkeiten zu gebrauchen wissen. Schreiben wird zu einem Ausdrucksmittel, das die Kinder - individuell verschieden - ganz natürlich anwenden. Sie schreiben Mitteilungen und Briefe, sie dichten kleine Geschichten, sie führen "Tagebuch", beschriften Zeichnungen, drücken Zu- und Abneigungen aus usw. Sie trennen nicht zwischen Schule und Alltag. Schreiben ist damit nicht etwas, das lediglich zur Schule gehört, sondern etwas, das in den eigenen Alltag einbezogen wird und dadurch einen selbst-aktiven "natürlichen" Zugang zur Schrift und zum Lesen eröffnet. Diese lehrgangsspezifischen Vorteile ermöglichen einen individualisierenden Unterricht, der Lehrern und Schülern grosse Gestaltungsfreiräume eröffnet, welche ihrerseits auf Sozialklima, Arbeitshaltung und Können der Kinder zurückwirken. Ein freies, friedliches Sozialklima mit deutlich verminderter Aggressivität ist als Folge eines Unterrichts mit "Lesen durch Schreiben" oft bis ins 4. Schuljahr hinein feststellbar. Die selbständige Arbeitshaltung und offene Lernbereitschaft der Kinder fallen auf. Die Schüler haben Vertrauen in die eigene Lernfähigkeit; sie haben entsprechende Erfahrungen im Lernen gemacht. Sie sind auf Sprache mit allen dazugehörenden Einzelheiten sensibilisiert, gleichzeitig ist ihre spontane Schreibfreude ungebrochen. Und schliesslich: Sie lesen viel und gerne - mit einem erstaunlichen Sinnverständnis. Freilich ist all dies kein automatisches Begleitprodukt der Arbeit mit dem Lehrgang. "Lesen durch Schreiben" ist kein geschlossenes Lehrsystem, das sich selber als "narrensicher" versteht. Bei mangelhafter Handhabung des Lehrgangs kann eine Klasse durchaus "verunglücken". Da sich der Lehrgang an einer didaktischen Konzeption orientiert, die bisher die wenigsten Lehrerinnen in ihrer Ausbildung kennenlernten, ist ein erfolgreicher Einsatz dieses Lehrgangs nur möglich, wenn Lehrerinnen zum Umdenken bereit sind. Selbst dann noch kommt es häufig zu Phasen der Unsicherheit, die schlaflose Nächte bereiten können. Der wesentlichste Grund hierfür ist im besonderen Lernverständnis zu sehen, von dem der Lehrgang ausgeht. Hinter seiner Lernkonzeption steht die ungewohnte These, Leseunterricht sei um so wirkungsvoller, je unspezifischer er sei. Demgemäss wird zunächst nicht gelesen, und insbesondere gelten die Buchstaben-Lautkenntnisse lediglich als beiläufiges Lernziel. Stattdessen steht eine allgemeine, umfassende Förderung der Sprachkompetenz und einer aufgabenbezogenen Arbeitshaltung im Zentrum des Unterrichts. Hierbei befremdet am meisten die didaktische Geringschätzung der Buchstabenkenntnisse, widerspricht dies doch völlig den Erfahrungen des bisherigen Erstleseunterrichts, welche zu bestätigen scheinen, den Erstklässlern fehlten zum Lesenkönnen vorab die Buchstaben-Lautkenntnisse. Da Lesen ohne diese Kenntnisse nicht möglich ist, müsse die Schule sie vermitteln. Lernpsychologisch ist nun aber gerade die Buchstaben-Laut-Zuordnung sekundär. Nach heutigem Verständnis sind zum Lesenlernen mannigfache syntaktische und semantische Fähigkeiten die viel wichtigeren Voraussetzungen. Da jedoch Schulanfänger einen Teil dieser Voraussetzungen bereits mitbringen, wird weniger offenkundig, dass diese Faktoren die entscheidende Rolle spielen. Dies führt wiederum dazu, dass Lehrerinnen und Laien auch heute noch vielerorts glauben, Kinder würden lesen können, wenn sie die Buchstaben kennen und wissen, wie sie "aneinandergehängt" werden. Dabei ist unmittelbar

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einsichtig, dass "aneinandergehängte Buchstaben" noch keine Wörter, also ohne Information sind. Damit aus "aneinandergehängten Buchstaben" ein Wort wird, ist ein Sinnstiftender Akt erforderlich, d. h. "irgendwoher" muss der Schüler das Verständnis entwickeln, was "das Wort bedeutet". Dieses Verständnis aber wurzelt - das haben neuere Untersuchungen gezeigt - im semantischen und syntaktischen Grundwissen des Schülers, nicht in der Buchstabenkenntnis. Neben einem Umdenken in diesem Punkt ist ein erfolgreicher Unterricht mit dem Lehrgang auch nur möglich bei erhöhter Einsatzbereitschaft der Lehrerin, stellt die Methode doch deutlich höhere Anforderungen an sie als traditionelle Verfahren. Vor allem verlangt "Lesen durch Schreiben" scheinhar Unvereinbares: eine umfassendere, didaktische Vorbereitung und eine stärkere, organisatorisehe Präsenz im Unterricht bei gleichzeitiger Forderung nach didaktischer Zurückhaltung, damit die Selbstentwicklungskräfte und die Selbstlernfähigkeiten der Kinder nicht gestört werden. Ineins damit sind Übersicht und Kontrolle erschwert und dies in einer Lernsituation, welche die Leistungsunterschiede zwischen den Kindern nicht verschleiert, sondern deutlich hervortreten lässt, ja eine Zeitlang sogar noch verschärft, ohne dass die Lehrerin hier eingreifen könnte bzw. sollte. All dies führt dazu, dass u. U. Lehrerinnen von diesem Lehrgang abgeraten werden muss: Wer überzeugt ist, dass Schulanfänger vor allem durch das Gemüt anzusprechen sind, dass ihr Lernprozess aus dem gemüthaften Bereich gespiesen wird und dass der Lehrerin eine stark behütend betreuende Aufgabe zukommt, wird bei "Lesen durch Schreiben" nicht auf seine Kosten kommen. Wer andererseits von einer linearen Curriculum-Vorstellung überzeugt ist, an die Wirkung systematischer und logisch aufgebauter, sich nacheinander folgender Lernschritte glaubt, stark unmittelbar leistungsorientiert ist und auf Effizienz ausgeht, vom Prinzip des nachahmenden Lernens und der Priorität des Übens überzeugt ist, wird mit diesem Lehrgang ebenfalls Schwierigkeiten haben. Schliesslich sollte auch verzichten, wer zwar einen freiheitlichen und kreativen Unterricht vertritt, nicht aber die Forderung nach einer disziplinierten Arbeitshaltung. Denn in diesem Falle besteht die Gefahr, dass die Hauptforderung von "Lesen durch Schreiben" unerfüllt bleibt. Ein Lehrer kann nur solche Lehrgegenstände didaktisch erfolgreich vermitteln, die er selber als lehrwürdig erachtet. Vorbehalte der Lehrerin, beispielsweise gegenüber einem Lehrmittel, übertragen sich unweigerlich auf eine Klasse, und echte Wirkungsmöglichkeiten des Lehrmittels werden vertan. Weil zudem ein Lehrmittel wie "Lesen durch Schreiben" Risiken birgt und es für manche Lehrkräfte zu einer Frage des Mutes wird, ob sie mit diesem Lehrmittel arbeiten wollen oder nicht, wäre es ganz entscheidend, dass die Lehrerin frei wählen kann. Für mich persönlich gibt es in diesem Zusammenhang nichts Unerfreulicheres als eine Bevormundung im Lehrmittelbereich. Ich bedaure die Lehrerinnen, die "Lesen durch Schreiben" verwenden möchten, doch von den Behörden die Erlaubnis nicht erhalten. Noch mehr aber bedaure ich Kolleginnen, die gegen "Lesen durch Schreiben" Vorbehalte haben, dessenungeachtet aber mit dem Lehrgang arbeiten sollen. Als Autor freut mich natürlich, wenn Lehrerinnen mit "Lesen durch Schreiben" arbeiten - freiwillig und aus Überzeugung.

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Lesen durch Schreiben (Kurzbeschreibung) Methode Ausgehend von der Überlegung, dass Lesen und Schreiben prozesshaft zusammengehören, lernen die Schüler im Lehrgang "Lesen durch Schreiben" zunächst nicht Lesen, sondern ausschliesslich "Schreiben", wobei "Schreiben" nicht als motorische Fertigkeit verstanden wird, sondern als der geistige Akt, Sprache mit Schriftzeichen auszudrücken. Grundaufgabe Das wesentliche Lernziel ist die Fähigkeit des Schülers, ein beliebiges Wort in seine Lautabfolge zu zerlegen und danach phonetisch vollständig aufzuschreiben. Zu diesem Zweck vermittelt der Lehr-gang dem Schüler von Anfang an Einsicht in das Prinzip unserer Lautschrift und stellt die Hinführung zur Lautstruktur der Sprache in den Mittelpunkt der Lernanstrengungen des Anfangsunterrichts. Für die praktische Arbeit steht dem Schüler als zentrales Hilfsmittel eine Buchstabentabelle zur Verfügung, aus welcher er die richtige Zuordnung eines jeden Buchstabens zu seinem Lautgehalt ablesen kann. Mit dieser Hilfe kann er prinzipiell alles schreiben, was er schreiben will. Es wird also von Anfang an mit dem gesamten Laut- und Buchstabenbestand gearbeitet, so dass der Wortschatz keinerlei Einschrän-kungen unterliegt. Hinführung zum Lesen Im Rahmen des Unterrichts wird der Schüler nie zum Lesen gezwungen. Man wartet, bis er von sich aus liest. Um die Lesemotivation des Schülers zu steigern, enthält der Lehrgang viele Leseanreize, vor allem in Form von Überschriften auf Arbeitsblättern und einem begleitenden Leseangebot. Das eigent-liche Lesen stellt sich als Begleitprodukt "wie von selbst" ein. Gestaltung des Unterrichts Damit das lesedidaktische Prinzip "Lesen durch Schreiben" voll zur Geltung kommt, soll der sprach-lichen Eigeninitiative der Schüler grösstmöglicher Spielraum gewährt werden, d. h. die Schüler sollen das "Schreiben" weitgehend selbständig lernen. Zu diesem Zweck wird das Schreibenlernen der Schüler (1) durch verschiedene - lernpsychologisch begründete Unterstützungsmassnahmen (wie z. B. Förde-

rung des Anweisungsverständnisses, kognitive Orientierung, Begünstigung von Präfigurations-prozessen u. ä.) abgerundet;

(2) thematisch in Schreibanlässe eingebettet, die für das Kind von unmittelbarer persönlicher Bedeu-tung sind (z. B. bei projektähnlichem Unterricht) und

(3) schulpädagogisch gesehen durch einen Kind-orientierten Unterrichtsstil der Lehrerin begleitet. Lehrgangsmaterial Der Lehrgang geht von der Annahme aus, dass das Lernen von Lesen und Schreiben eine komplexe Leistung von Sprach-, Wahrnehmungs- und Denkprozessen darstellt. Entsprechend enthält der Lehr-gang neben eigentlichen Lernangeboten zum Schreiben und Lesen auch solche im Bereich von Spra-che, Denken und Wahrnehmen. Inhaltlich gliedert sich das Lehrgangsmaterial nach Art eines Bau-kastensystems in sogenanntes Basismaterial und vier begleitende Rahmenthemen. Das Basismaterial enthält ein offenes Materialangebot in Form von Arbeitsblättern, didaktischen Spielen sowie Lern- und Übungsprogram men, bei denen das Lern-Kontrollgerät SABEFlX verwendet wird. Die Rahmenthemen bestehen dagegen aus gesamtunterrichtlich ausgearbeiteten Unterrichtsvorschlägen, welche ein Gegengewicht zum Basismaterial bilden. Sie haben Schul- und Alltagssituationen der Schüler zum Thema, bieten Möglichkeiten zu sozialem Lernen und schaffen Erlebnisfelder, in denen zum Ausgleich der individuellen freien Lernsituation die ganze Klasse an einem gemeinsamen Thema arbeitet.

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Text-A03 Jürgen Reichen «Lesen durch Schreiben» als Beitrag zur psycholinguistischen Grundlegung der Rehabilitation funktionaler Analphabeten erschienen in: Grissemann, H. (Hrsg.): Spätlegasthenie und funktionaler Analphabetismus. Bern/Stuttgart/Toronto 1984) Für die Rehabilitation erwachsener, funktionaler Analphabeten dürfte eine blosse Wiederholung lesedidaktischer Bemühungen, wie sie die betroffenen Kursteilnehmer bereits während ihrer Schulzeit kennenlernten, kaum von Erfolg gekrönt sein. Deshalb wird hier ein neues Verfahren vorgestellt, das sich im Erstleseunterricht von Schulanfängern bewährt hat. Ausgehend von der Überlegung, dass Lesen und Schreiben prozesshaft zusammengehören, lernen die Schüler im Lehrgang «Lesen durch Schreiben» zunächst nicht Lesen, sondern ausschliesslich «Schreiben», wobei «Schreiben» nicht als motorische Fertigkeit verstanden wird, sondern als Kodierung. Lernt der Schüler solcherart «Schreiben», dann stellt sich die Fähigkeit zum Lesen im engeren Sinne mit der Zeit «von selbst» ein. Lesen im engeren Sinne wird zunächst einmal aus dem Unterricht ausgespart. Der Schüler wird nie zum Lesen aufgefordert, man wartet konsequent, bis er von sich aus liest. Dadurch bleiben ihm anfänglich Misserfolgserlebnisse beim Lesen erspart, und die potentielle Lesemotivation wird durch nichts beeinträchtigt. Anstelle von Leseforderungen tritt als grundlegendes Lernziel die Fähigkeit des Schülers, ein beliebiges Wort in seine Lautabfolge zu zerlegen und danach phonetisch vollständig aufzuschreiben. Zu diesem Zweck vermittelt der Lehrgang dem Schüler von Anfang an Einsicht in das Prinzip unserer Lautschrift und stellt die Hinführung zur Lautstruktur der Sprache in den Mittelpunkt der Lernanstrengungen des Anfangsunterrichts. Lauterkennung, Lautunterscheidung und Lautzerlegung haben grundlegende Bedeutung; der Erwerb eines differenzierten Artikulationsbewusstseins ist unabdingbar - und erfordert vorn Schüler einiges an anspruchsvolller Lernarbeit. Vor allem das Abhören der Lautgestalt eines Wortes und deren phonetische Aufgliederung in eine Lautkette bereitet vielen Schülern grosse Schwierigkeiten. Im Unterricht helfen dabei vielfältige Spiele und Übungen zum Lautieren bei der Überwindung. Im Mittelpunkt steht eine Bilder-Buchstabentafel (vgl. Abb.), aus der sich das Kind, sofern es Anlaute von Wörtern isolieren kann, die zum selbständigen Schreiben von Wörtern notwendigen Buchstaben auffinden kann. Will es z. B. «Hut» schreiben, dann macht es sich zuerst klar, mit welchem Laut das Wort «Hut» beginnt. Anschliessend sucht es auf der Buchstabentabelle jenen Gegenstand. dessen Name mit dem gleichen Laut beginnt - in unserem Falle: «Hexe». Jetzt entnimmt es der Tabelle den Buchstaben «H» und kann ihn «abmalen». Danach wiederholt sich der ganze Vorgang mit dem zweiten Laut «U», der in der Tabelle durch «Uhr» repräsentiert ist. Und schliesslich fügt das Kind am Schluss auf gleiche Weise noch ein «T» an.

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Es kann also mit dieser Bilder-Buchstabentafel prinzipiell alles schreiben, was es will: es wird von Anfang an mit dem gesamten Laut- und Buchstabenbestand gearbeitet, so dass der Wortschatz keinerlei Einschränkungen unterliegt. Die Buchstabentabelle macht darüber hinaus auch Übungen zur Buchstaben-Laut-Zuordnung überflüssig. Schreibt der Schüler nämlich mit Hilfe der Buchstabentabelle - und diese Hilfe soll er solange beanspruchen dürfen, als er will - immer wieder selbstgewählte Wörter und Texte, dann speichert er die Buchstaben-Laut-Zuordnung mit der Zeit und kann eines Tages ohne Tabelle schreiben. Der Erfolg dieser Methode ist an eine grundsätzliche Bedingung geknüpft: Der Unterricht muss so weit als möglich «offen» gestaltet werden, die Schüler sollen das Schreiben weitgehend selbständig lernen. Zwingt der Unterricht den Schüler auf einen festgelegten Lernweg mit einer bestimmten chronologischen und sachlogischen Lernschrittabfolge, dann besteht die Gefahr, dass er das individuelle Lernpotential des einzelnen Schülers zu wenig ausnützt. Im Unterricht von Schulanfängern wird versucht, «Lesen durch Schreiben» zu ermöglichen durch - Schaffung vielfältiger, möglichst natürlicher Schreibanlässe, die für das Kind von unmittelbarer

persönlicher Bedeutung sind wie z.B. Briefe, Einkaufslisten, Wunschzettel an verschiedene Empfänger, Mitteilungszettel

- Ausnützen des Bedürfnisses, Eigenes zu gestalten, Verfassen von selbstgeschriebenen und -illustrierten Büchlein durch die Lernenden

- einen Unterrichtsstil des Lehrers mit didaktischer Zurückhaltung nach dem Prinzip der minimalen Hilfe, um dadurch ein möglichst selbstgesteuertes Lernen zu unterstützen.

Es drängt sich nun auf, das Vorgehen «Lesen durch Schreiben», so wie es für Erstklässler

konzipiert wurde, im Einsatz bei erwachsenen Analphabeten zu modifizieren - aber unter Beibehaltung der grundlegenden Faktoren. Dabei lassen folgende Momente diese Methode als besonders geeignet erscheinen für die Therapie erwachsener Analphabeten:

- Der Wortschatz, an dem sich der Lernprozess vollzieht, ist von Anfang an uneingeschränkt. - ie Probanden können selbst bestimmen, was zu schreiben ist. Eine Lernarbeit im Bereich

persönlicher Interessen und Bedürfnisse wird dadurch stark begünstigt.

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- Das besonders heikle Problem des «Zusammenschleifens» und der Sinnentnahme, über welches gerade erwachsene Analphabeten zum grösseren Teil gestrauchelt sein dürften, entfällt, weil einem Schreiber jeweils bereits bekannt ist, was er schreiben will.

- Rezeptive Arbeitsformen, die ein besonders hohes Mass an Aufmerksamkeit und Konzentration erfordern, kommen kaum vor, weil das Schreiben ein aktives Lernen notwendig macht.

- Es ergeben sich keine psychischen Belastungen durch Versagen beim Vorlesen, da dieses entfällt. Diese Erleichterungen in der Anfangsphase dürfte im Falle erwachsener Analphabeten wahrscheinlich gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Eine resignative Demotivation, ein Leseverleider als Vorwand einer Vermeidungsstrategie im Hinblick auf mögliche Sozialblamagen bleibt ausgeschlossen.

Da davon auszugehen ist, dass die Probanden an massiven Selbstwertstörungen leiden, welche einem erfolgreichen Lernprozess störend in die Quere kommen können, scheint es mir von besonderer Bedeutung, dass sie sich in der Therapie in jeder Beziehung ernstgenommen wissen können. Und so wie in den Therapiebereichen «Lebensdialog» und «Einzelfallhilfe» offen und anteilnehmend auf sie eingegangen werden soll, ist auch eine Offenlegung des didaktischen Vorgehens mit einer Betrachtung der Lernprozesse nötig, d.h. auch bezüglich der Lernvorgänge muss Transparenz geschaffen werden. Ein funktionaler Analphabet ist ja nicht bloss jemand, der nicht ausreichend lesen und schreiben kann, oft ist er ein Mensch, der sich selber eine «Erklärung» zurechtlegt, warum ausgerechnet er unter all den andern, die lesen und schreiben lernten, hier gescheitert ist. Das Ausmass und die Differenziertheit therapeutischer Erklärungen und Auseinandersetzungen sind jeweils auf die Persönlichkeit der Klienten abzustimmen. Der Respekt vor der prinzipiellen Mündigkeit eines jeden Menschen verbietet die Benutzung «didaktischer Gängelbänder» bei funktionalen Analphabeten. «Einsichtiges Lernen» ist die Grundvoraussetzung des Lernerfolgs. Ich gehe daher davon aus, dass die Probanden zu Beginn der Therapie mit einigen lern- und sprachpsychologischen Grundtatsachen vertraut zu machen sind. Dieser «Meta-Unterricht» als «Unterricht über Leseunterricht» kann allerdings dem eigentlichen Leseunterricht nicht vorgeschaltet werden, sondern muss ihn begleiten. In den einzelnen Unterrichtsstunden wird eine Verteilung nötig werden. Die Unterrichtsstunden können nach folgendem Standardablauf gegliedert werden: Anknüpfen an Aktualitäten, Lebensdialog, gemeinsame Aktivitäten Individuelles Arbeiten und «Meta-Unterricht/Lerntheorie» Fragen, Diskussionen, Besprechung der Hausaufgaben Die nachstehend kurz skizzierten «Meta-Informationen» sind hier nicht in einer Sprache abgefasst, die man in der konkreten Arbeit mit funktionalen Analphabeten so verwenden könnte. Diese Sprache muss ganz nahe derjenigen sein, die die Probanden selber sprechen. Entsprechende Formulierungen zu finden, ist nicht nur eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, ich glaube sie kann auch erst geleistet werden, wenn man die Leute, mit denen man sprechen wird, auch bereits kennt. Zu diesem Meta-Unterricht gehören u.a. folgende Informationseinheiten: (1) Die Methode «Lesen durch Schreiben» ist nicht ganz neu. Es ist die Methode des klassischen Altertums! In den Schreibschulen der alten Griechen und Römer lernten die Schüler nicht lesen, sondern ausschliesslich schreiben. Wir müssen annehmen, dass die Menschen sich zuerst

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mündlich miteinander verständigen konnten und erst später dazu übergingen, die gesprochene Sprache zu fixieren, zu schreiben. Bei diesem Vorgang, dem Erfinden des Schreibens, dürfen wir annehmen, dass die betreffenden Leute der Struktur, der Bauform unseres Geistes gefolgt sind. Und dies wiederum gestattet die Annahme, dass Schreibenlernen eigentlich der natürlichere Vorgang ist, als Lesenlernen. Lesen stellt sich bei diesem Vorgehen mit der Zeit als ein «automatisches» Begleitprodukt ein. (2) Dieser Weg braucht seine Zeit. Die Eigentätigkeit, die Schwierigkeiten, Wörter lautlich aufzugliedern und ihnen Buchstaben aus der Tabelle zuzuordnen, die Speicherung dieser Buchstaben macht Geduld notwendig. (3) Es ist ein Irrtum zu meinen, man könne lesen, wenn man die Buchstaben kennt. Man kann sehr wohl alle Buchstaben kennen und doch nicht lesen. Nicht die Buchstabenkenntnis ist entscheidend, sondern die allgemeine Sprachkompetenz. Die Förderung von Sprachverständnis und Sprachausdruck ist das Entscheidende. Die Buchstaben braucht man zunächst gar nicht zu kennen, denn diese kann man auch aus der Buchstabentabelle ablesen. (4) Obwohl im Alltag die Kommunikation in Mundart erfolgt, bezieht sich Lesen und Schreiben auf das Hochdeutsche bzw. die Schriftsprache. Das Schreiben und Lesen in der Schriftsprache ist viel einfacher als im Dialekt. (5) Obwohl für das Lesen- und Schreibenkönnen die allgemeinen Sprachfähigkeiten die wichtigsten Grundlagen sind, gehören zu den Voraussetzungen auch Wahrnehmungsfähigkeiten. Beim Lesen müssen bestimmte Schriftformen erkannt werden. Auch in Leselernkursen für Erwachsene müssen allfällige Schwächen der Gliederung und Unterscheidung in besonderen Trainings berücksichtigt werden. (6) Das gleiche gilt für die Feinmotorik. Obwohl auch die Computertastatur in das Lernen einbezogen wird, ist die Entwicklung der eigenen Handschrift unerlässlich. Wer hier mit dem «Malen» der Buchstaben Mühe bekundet, muss ebenfalls zuhause üben, d.h. seine Hand- und Fingermuskulatur lockern und zum Schreibablauf koordinieren lernen. (7) Vorerst ist die normgerechte Rechtschreibung sekundär. Zentrales Ziel ist Lesenkönnen. Die Schwierigkeiten bei der Rechtschreibung sind ihre Unregelmässigkeiten, ihre historischen Setzungen, die nur teilweise aus einem Regelsystem ableitbar sind. Die Meisterung dieser Schwierigkeiten steht in einem geringen Zusammenhang mit der Lesefertigkeit. Deshalb gilt für den ersten Kursteil: geschrieben ist dann richtig, wenn ein anderer, der das liest, die Information versteht. (8) In der deutschen Sprache lassen sich rund 45 Einzellaute auditiv isolieren, das Alphabet hat jedoch nur 26 einzelne Schriftzeichen. Das Schriftsystem überbrückt diese Mengenungleichheiten, indem bestimmte Schriftzeichen verschiedene Lautwerte haben können: - Einzelne Buchstaben tönen verschieden (kurze und lange Vokale). - Verschiedene Laute werden durch zwei- und dreigliedrige Grapheme dargestellt (ei, ch, sch

etc.). - Gewisse Buchstaben tönen manchmal überhaupt nicht (e hinter i bei ie/stumme h). - V und F sind verschiedene Buchstaben,entsprechen aber dem gleichen Laut. - Viele Laute unterscheiden sich nur unmerklich voneinander (b/p, d/t, g/k, t/s/z etc.). - Viele Wörter werden überhaupt anders geschrieben als man sie hört. Verschlusslaute klingen

beispielsweise im Auslaut hart, werden aber mit dem Graphem dargestellt, das dem weichen zugeordnet ist (Wind, Kalb).

Unregelmässigkeiten gibt es nun aber nicht nur in der Lautrepräsentation einzelner Schriftzeichen, sondern auch in den Gestaltmerkmalen der Buchstaben selbst. Für einen Nichtschreiber und

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Nichtleser sind besonders die kaum zu begründenden Grenzen zwischen irrelevanten und relevanten Gestaltmerkmalen verwirrlich. Für eine präzise Buchstabenerfassung ist eine genaue Merkmalanalyse notwendig, aufgrund derer gelernt wird, relevante und irrelevante, gleichbleibende und veränderbare Einzelmerkmale am Buchstabenmaterial zu unterscheiden. (9) Schreiben ist im Lesekurs für Erwachsene das Wichtigste. Diese Tätigkeit sollte auch ausserhalb des Kurses geübt werden. Günstig ist das gemeinsame Lösen von Kreuzworträtseln mit einem Partner. Dadurch wird das letztliche Hauptziel - stilles Lesen als Informationsentnahme - fast beiläufig erreicht. Lautes Vorlesen hingegen ist für Lesekurse mit Erwachsenen verboten. Ein Vorleser - vor allem wenn er nicht so gut lesen kann - würde nur vom Publikum gehemmt. Stilles Lesen ist die Aktivitätsform um die es geht. Deshalb steht in diesen Kursen im Vordergrund: Schreiben von Informationen für die anderen Kursteilnehmer, stilles Lesen der Informationen anderer Kursteilnehmer - nötigenfalls mit Lesehilfen durch die Schreiber, Ausführungen von Aktivitäten, die sich auf die lnformationsentnahme beziehen. Lesen und Schreiben sollen dabei möglichst persönlichen Bedürfnissen und sachlichen Notwendigkeiten entsprechen. Für die Selbstkontrolle des stillen Lesens können technische Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden, z.B. Profax und die Heinevetter-Geräte, sowie das Computerprogramm „Lesen durch Schreiben“ (schweiz. Ausgabe erhältlich bei Scola-Verlag, Zürich) Formen des praktischen Unterrichts mit erwachsenen Analphabeten Besser als ein starr curricular aufgebauter Kurs dürfte eine offene Unterrichtsorganisation sein, die man jeweils unterteilt in Bereiche des «Lebensdialogs» und eines «Werkstattunterrichts». Beim «Lebensdialog» wird - im Rahmen eines gruppentherapeutischen Ansatzes - mit den Kursteilnehmern über allgemein interessierende Themen aus Beruf, Freizeit, Familie etc. gesprochen. Allgemeines Ziel dieses Gesprächs wäre die Steigerung der Ich-Stärke sowie die Förderung der Sprachkompetenz der Teilnehmer. Hier wird über aktuelle Themen diskutiert, werden eigene Erlebnisse berichtet, Kurzvorträge gehalten etc. Zugleich wird versucht, das Besprochene zu strukturieren, indem überall dort, wo das ohne Künstlichkeiten möglich ist, eine begleitende Verschriftlichung erfolgt. Wer z. B. einen Kurzvortrag hält, soll den Titel seines Vortrags anschreiben, soll evtl. einen Tageslichtprojektor verwenden und dort Stichworte notieren etc. Im «Werkstattunterricht» sind freie Arbeitsgruppierungen und selbständige Auswahl von Arbeitsthemen, Trainingsformen, Lerngeräten möglich. Es könnten bearbeitet werden: - Gestaltungen im Zusammenhang mit dem Lebensdialog - Ausführungen von Tätigkeiten nach schriftlichen Instruktionen (Basteln, Spielen, Kochen) - Gespräche über kurze (dem Lernstand angemessene) Ausschnitte aus Zeitungen und

Zeitschriften - Aufstellen von Ferien- und Reiseplänen (auch Traumreisen) an Prospekten und Fahrplänen - Lebenspraktisch notwendige Arbeiten (Ausfüllen von Formularen, Schreiben von Inseraten,

Briefen, Bearbeiten von Übungsblättern für die theoretische Autoführerprüfung u. a.) Wichtig sind aber auch Wahrnehmungs- und Konzentrationsübungen wie sie im Material für Schulkinder entwickelt wurden (vgl. auf der Homepage von www.heinevetter-verlag.de die entsprechenden Hinweise)

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Text-A04 Jürgen Reichen LESEN DURCH SCHREIBEN erschienen in: Meiers, K. (Hrsg.) Fibeln und erster Leseunterricht / Beiträge zur Reform der Grundschule Arbeitskreis Grundschule, Frankfurt/M 1986 Mit der Methode "Lesen durch Schreiben" beschäftigt sich das Kind im Unterricht zunächst nicht mit dem Lesen, sondern es lernt, wie die gesprochene, gehörte Sprache aufgeschrieben wird. Das Lesen eignet sich das Kind durch das Schreiben an - und zwar, wie bisherige Erfahrungen zeigen, gleichsam als "automatisches Begleitprodukt" des Schreibenlernens. Im Unterricht wird also "geschrieben, nicht gelesen", was einen störungsfreien Verlauf des Leselernprozesses an sich bewirkt. Die hinlänglich bekannte Situation, in der ein schwacher Schüler zwangsläufig blossgestellt wird, weil er mühsam einen Text vorstottern muss, während die Klasse mehr oder weniger aufmerksam "mitliest" und die Lehrerin mit Korrekturen "hilft", entfällt, wodurch schwache Schüler in hohem Masse psychologisch entlastet werden und die Lesemotivation ungebrochen erhalten bleibt. Die Methode zeigt, wie ein beliebiges Wort in seine Lautkette zerlegt und danach phonetisch vollständig aufgeschrieben werden kann. Deshalb steht die Lautstruktur der Sprache im Mittelpunkt des Anfangsunterrichts. Dabei erfordert vor allem das Abhören der Lautgestalt eines Wortes und deren phonetische Aufgliederung in eine L-Au-T-K-E-TT-E richtiger Reihenfolge anspruchsvolle Lernarbeit. In der Unterrichtspraxis helfen vielfältige Spiele und Übungen zum Lautieren bei diesem Lernprozess. Zudem bietet der Lehrgang als zentrales Arbeitsmaterial eine Bilder-Buchstabentafel an (vgl. Abb.)7, aus der sich das Kind, sobald es das Anlautverfahren beherrscht, (was in der Regel sehr schnell der Fall ist), die zum Schreiben notwendigen Buchstaben selbständig holen kann. Will es z.B. "Hut" schreiben, dann macht es sich zuerst klar, mit welchem Laut das Wort "Hut" beginnt. Nun sucht es auf der Buchstabentafel jenen Gegenstand, dessen Name mit dem gleichen Laut beginnt - auf der Buchstabentafel "Hexe" - und "schreibt" den Buchstaben "H" usw.

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Mit dieser Bilder-Buchstabentafel kann das Kind alles schreiben, was es will, und das bedeutet: es wird von Anfang an mit dem gesamten Laut- und Buchstabenbestand gearbeitet, sodass der Wortschatz keinen Einschränkungen unterliegt. Die Buchstabentafel macht darüberhinaus Übungen zur BuchstabenLaut-Zuordnung überflüssig. Schreibt das Kind mit Hilfe der Buchstabentafel - und diese Hilfe soll es solange beanspruchen dürfen, als es will - immer wieder selbstgewählte Wörter und Texte, dann verinnerlicht es die Buchstaben-Laut-Kenntnisse mit der Zeit und kann aufgrund der begleitenden, unbemerkten Mitübung schliesslich ohne Tabelle schreiben. Im Unterschied zu klassischen Lesemethoden, bei denen aus Gründen der didaktischen Vereinfachung eine Abfolge chronologischer Lernschritte mehr oder weniger zwingend vorgegeben ist, verläuft der Lernprozess beim Lehrgang "Lesen durch Schreiben" individuell und weitgehend selbstgesteuert. Hinter seiner Lernkonzeption steht die ungewohnte These, Leseunterricht sei umso wirkungsvoller, je unspezifischer er sei. "Lesen durch Schreiben" ist deshalb eigentlich erst in zweiter Linie ein Leselehrgang. In erster Linie ist es der Versuch, dem Ideal eines offenen, kommunikativen und selbstgesteuerten Unterrichts den Weg zu bereiten, in dem die Schüler nicht nur das Lesen, sondern vor allem das Lernen lernen. Also nicht Lesetechnik wird vermittelt, sondern eine allgemeine, umfassende Förderung der Sprachkompetenz und eine aufgabenbezogene Arbeitshaltung stehen im Zentrum des Unterrichts. Der Lehrgang geht von der pädagogischen Grundüberzeugung aus, dass die meisten Kinder aus sich heraus lernfähig und lernbereit sind und viele didaktisch-methodische Massnahmen der Schule das kindliche Lernen wahrscheinlich eher stören als unterstützen. Leitend ist die psycholinguistische Hypothese, die besagt, dass der Anteil von Nachahmungsleistungen, d.h. Aneignung und Übernahme von lesetechnischen Verfahrensweisen, im Bereich des Lesenlernens recht gering ist, da Kinder vorab durch aktive, innere Gestaltungsprozesse die Kompetenz zu Lesen und Schreiben erwerben. Entsprechend ist bei "Lesen durch Schreiben" der Selbstaktivität des Kindes ein Maximum an Spielraum gelassen, sind die unumgänglichen Anteile rezeptiven Lernens klein gehalten. Der Lehrgang orientiert sich an der Idee des "offenen" Unterrichts. Er geht davon aus, dass Schreiben- und Lesenlernen nicht als isolierte Vorgänge betrachtet werden dürfen. Schreib- und Leselernprozesse sind eingebettet in die Gesamtheit aller Lernprozesse, mit denen sich ein Kind jeweils auseinanderzusetzen hat. Ein Leselehrgang sollte sich daher nicht an der linearen Systematik einer Abfolge vermeintlich aufeinanderaufbauender Lernschritte orientieren, sondern an der Komplexität des Gesamtlernprozesses der Kinder. So "bequem" das Modell einer curricularen Abfolge linearer, aufeinanderfolgender und -aufbauender Lernschritte für die Schule auch sein mag - im wirklichen Lernprozess der Kinder gibt es diese Stufenfolge nicht. Zwingt der Unterricht das Kind gleichwohl auf einen zum Voraus festgelegten Lernweg mit einer bestimmten chronologischen und sachlogischen Lernschrittabfolge, dann beeinträchtigt und/oder stört man damit das individuelle Lernpotential des einzelnen Kindes. Angemessener ist die Vorgabe eines offenen, didaktischen Angebots, bei dem die einzelnen Übungs- und Lernmaterialien flexibel handhabbar sind. "Lesen durch Schreiben" versucht dies zu ermöglichen durch - ein breitgefächertes Lernangebot zur Auswahl unter Einschluss der Bereiche Sprache, Denken, Wahrnehmen, Mathematik und künstlerisches Gestalten (sog. Werkstattunterricht) - verschiedene lernpsychologisch begründete Unterstützungsmassnahmen wie z.B. Förderung des Anweisungsverständnisses, der kognitiven Orientierung, Begünstigung von Übertragungseffekten etc. - Schaffung vielfältiger, möglichst natürlicher Schreibanlässe, die für das Kind von unmittelbarer persönlicher Bedeutung sind, wie z.B. Briefe, Einkaufslisten, Notizen u.ä. - Ausnützen der natürlichen Lernbereitschaft und des Bedürfnisses, Eigenes zu gestalten, wie z.B. selbstgeschriebene und -illustrierte Büchlein - einen

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Kind-orientierten Unterrichtsstil der Lehrerin mit didaktischer Zurückhaltung nach dem Prinzip der minimalen Hilfe, um dadurch ein möglichst selbstgesteuertes Lernen zu unterstützen Entsprechend enthält der Lehrgang Ungewohntes, was bisher nicht Bestandteil von Leselehrgängen war, das Hauptstück klassischer Lehrgänge, ein Textbuch, fehlt. Das Lehrgangsmaterial enthält nur ein begleitendes Leseangebot in Form von 8 einfachsten Minileseheftchen, welche vorab das eigene Gestalten von Leseheftchen durch die Kinder anregen wollen. Inhaltlich gliedert sich das Lehrgangsmaterial nach Art eines Baukastensystems in sog. Basismaterial und vier begleitende Rahmenthemen. Das Basismaterial enthält ein offenes Materialangebot in Form von Arbeitsblättern, didaktischen Spielen sowie Lern- und Übungsprogrammen, bei denen das Lern-Kontrollgerät SABEFIX verwendet wird. Dabei geht es zur Hauptsache um die Förderung und Erweiterung von Wahrnehmungsfähigkeiten, Sprachkompetenz, Konzentrationsvermögen, Arbeitshaltung, Anweisungsverständnis und Lesefähigkeiten im weitesten Sinne. Die Rahmenthemen bestehen dagegen aus gesamtunterrichtlich ausgearbeiteten Unterrichtsvorschlägen, welche ein Gegengewicht zum Basismaterial bilden. Sie bestehen ebenfalls aus Arbeitsblättern und didaktischen Spielen sowie einigen Leseheftchen und haben Schul- und Alltagssituationen der Kinder zum Thema, bieten Möglichkeiten zu sozialem Lernen und schaffen Erlebnisfelder, in denen zum Ausgleich der individuellen freien Lernsituation die ganze Klasse an einem gemeinsamen Thema arbeitet. Ein Unterricht, der primär auf Selbststeuerungsprozesse beim Lernen abstellt, setzt pädagogischen Optimismus voraus, eine Überzeugung dass Selbstentwicklungskraft und Selbstlernfähigkeit der Kinder so gross sind, dass allzu starke didaktische Führung unnötig ist, dass Kinder im Prinzip sehr viel mehr verstehen und leisten können, als ihnen der Anfangsunterricht meistens zutraut, und es für die Lehrerin vor allem darauf ankommt, die Kinder bei ihrem selbständigen Lernen nicht zu stören - denn selbstgesteuertes Lernen ist, wenn es gelingt, sicherlich jene Form von Unterricht, welche legasthenische Fehlentwicklungen verhindert, Erfolgserlebnisse vermittelt, einen langfristigen Lernertrag sichert, umfassende Einsicht in Sachverhalte ermöglicht, ausgeprägte Transfereffekte zeitigt und die Motivation kontinuierlich steigert. Die Methode "Lesen durch Schreiben" hilft dabei, selbständiges Lernen zu ermöglichen und stärkt dadurch die natürliche Entwicklung des Selbstbewusstseins der Kinder. Unter pädagogischen Aspekten betrachtet ist dies der Hauptvorteil des Verfahrens: "Lesen durch Schreiben" vermittelt dem Kind die Überzeugung, es selbst habe sich das Schreiben beigebracht, nicht die Lehrerin.

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Text-A05 Jürgen Reichen Zur "Psychologie" des Erstleselehrgangs 'Lesen durch Schreiben' erschienen in: Der Jugendpsychologe / August 1988 Einem Wunsch der Redaktion entsprechend, wird nachfolgend nicht der Erstleselehrgang 'Lesen durch Schreiben' dargestellt, sondern "die Psychologie, die dahintersteckt". Ein Stück Kenntnis des Lehrgangs wird mithin vorausgesetzt. Wer den Lehrgang nicht kennt, sich aber in didaktisch-methodischer Hinsicht dafür interessiert, kann beim sabe-Verlag (Gotthardstrasse 52, 8002 Zürich) unentgeltlich eine ausführliche Informationsbroschüre bekommen. Wenn von der "Psychologie" die Rede ist, die "hinter dem Lehrgang steckt", dann sollte man weder an eine allgemein-psychologische Konzeption noch an eine bestimmte Lernpsychologie denken. Im Grunde geht es nur um einige "psychologische Alltagstheoreme", die bestenfalls einer "kritischen Bewährung" durch Unterrichtspraxis ausgesetzt waren. In seiner Ausgabe vom 7. März 1988 brachte der "Sihltaler" einen Artikel zu 'Lesen durch Schreiben'. Ein Reporter und ein Fotograf besuchten eine Schulklasse und berichteten darüber u.a.: "Als wir zum ersten Mal in die Klasse kamen, glaubten wir zuerst, die Kinder hätten eine Art 'Freistunde'. Zwar waren alle eifrig in ein Tun vertieft, aber fast alle arbeiteten etwas anderes: Zwei Mädchen und ein Knabe sassen in einer Lese-Ecke und lasen einander aus einem Büchlein die Geschichte eines entflogenen Wellensittichs - Pieps mit Namen - vor. Ein Mädchen legte mit farbigen Holzwürfeln anspruchsvolle Mosaikmuster nach Vorlage. Vier Kinder spielten eine Art 'mathematisches' Spiel mit verschiedenfarbigen Scheiben, Dreiecken, Rechtecken und Quadraten aus Holz. Mehrere Kinder rechneten, eines mit einem 'umgekehrten' Taschenrechner (der im Leuchtfeld Aufgaben stellte, deren Resultat man eintippen musste). Ein Mädchen malte ein seltsames Tier. Wir hielten es für eine Art 'Meerschweinchen mit Horn', erfuhren dann aber von Sharon, dass das ein 'Kamuffel' sei und Kamuffels seien keine Tiere. Ein weiteres Mädchen - Samantha - beschäftigte sich mit einer Art Zusammensetzspiel, dessen Sinn wir zuerst nicht verstanden. Samantha klärte uns jedoch auf, dass es sich um ein Lernprogramm handle und dass man mit dem Zusammensetzspiel (SABEFIX) die Richtigkeit seiner Lösungen kontrollieren könne. Besonders auffällig waren uns zwei Knaben, die vor einer Schreibmaschine sassen und nach eigenem Bekunden einen 'Kriminalroman' dichteten. Tatsächlich tippten die beiden mit grossem Fleiss - zwar keinen 'Kriminalroman' im erwachsenen Sinn, dafür aber eine handfeste Räubergeschichte vom "berümden Reuber Hozenbloz". Schliesslich entdeckten wir auch noch die Lehrerin. Zusammen mit drei Italienerkindern spielte sie eine Art Lese-Lotto. Dabei ging es nicht nur darum, dass man die aufgerufenen Kärtchen ergatterte, wer ein Kärtchen ablegen wollte, musste zusätzlich in schriftdeutsch etwas über das Kärtchen erzählen, z.B. 'Das ist ein Ball. Damit kann man tschutten. ... Tee trinke ich wenig, ich habe lieber Cocci' etc. ... Wir waren sehr beeindruckt vom Eifer und der Konzentration, mit denen die Kinder arbeiteten, auch über die entspannte und friedliche Atmosphäre, nur war uns schleierhaft, was das alles mit Lesenlernen zu tun haben sollte?

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'Um das zu verstehen,' erklärte uns die Lehrerin, 'muss man wissen, dass die Methode 'Lesen durch Schreiben' von zwei grundlegenden Prinzipien ausgeht, die zu einer Veränderung des Leseunterrichts führen: Zum einen steht der Lehrgang auf der pädagogischen Grundüberzeugung, dass die meisten Kinder aus sich heraus lernfähig und lernbereit sind und nicht von aussen dazu angehalten werden müssen; zum andern orientiert er sich an der ungewohnten Auffassung, Leseunterricht sei umso wirkungsvoller, je unspezifischer er sei, d.h. je weniger er sich nur mit Lesen beschäftigt.' ..." Der Lehrgang vermittelt nicht Lesetechnik, sondern eine allgemeine, umfassende Förderung und Erweiterung des Sprachkönnens, der Wahrnehmungs- und Lesefähigkeiten sowie einer disziplinierten Arbeitshaltung (Konzentrationsvermögen und Anweisungsverständnis); er beschränkt sich nicht auf Lesen und Schreiben im engeren Sinne, sondern umfasst auch mathematische Aufgaben, Arbeiten mit Puzzles und Bauklötzen, Spielen und Basteln usf. usf. Die Materialien, die zum Lehrgang gehören, sind entsprechend keine Fibel im herkömmlichen Sinne, sondern ein strukturiertes Materialangebot im Baukastensystem. Es besteht aus Rahmengeschichten (Themen), Arbeitsblättern, Leseheften, Spielen und SABEFIX-Programmen für Klassen-, Gruppen-, Partner- und Einzelarbeit mit den Schwerpunkten: - Wahrnehmungs- und Konzentrationsübungen - Anregungen zum Schreiben (Schreibanlässe) - Begriffsbildung und Wortschatz - Denkerziehung sowie - "Brücken zur Mathematik". Auffällig an diesen Schwerpunkten ist dabei, dass zwar der Ausdruck "Mathematik" auftaucht, nicht jedoch der Begriff "Lesen", eine irgendwie paradoxe Situation, die jedoch dem Lehrgang voll entspricht, ist doch 'Lesen durch Schreiben' das Paradox eines Leselehrgangs ohne eine einzige Stunde Leseunterricht. Dieses Paradox ist der augenscheinlichste Hinweis auf die "Psychologie, die hinter dem Lehrgang steckt" und auf die ich nun endlich zu sprechen komme. Bei der Entwicklung des Lehrgangs (die sich im übrigen über mehrere Jahre hinzog), waren eigene Unterrichtserfahrungen als Primarlehrer in Basel massgeblich, sowie eine - im weitesten Sinne genommene - "phänomenologische Haltung", die sich am Vorbild meines akademischen Lehrers, Prof. H. Kunz (Basel) zu orientieren suchte. Diese Haltung zieht u.a. Konsequenzen aus der Überlegung, dass psychologische Vorgänge/Prozesse derart vielschichtig sind, dass unser derzeitig noch immer rudimentäres Wissen darüber nicht ausreicht, sie wirklich zu begreifen. Ehe eine angemessene Erkenntnis möglich ist, müssten wir viel mehr und viel genauere Kenntnisse über die Phänomene als solche haben. "Vorschnelle" Erklärungsversuche, Theorien - und mögen sie noch so ausgefeilt sein - stehen dabei einer angemessenen Erkenntnis eher im Weg. Zuerst gilt es, immer wieder von Neuem auf die Phänomene selbst zu schauen, auch wenn diese noch so banal scheinen, und die mannigfachen, vermeintlich klaren, in Tat und Wahrheit aber ungeprüften Selbst-verständlichkeiten, in denen wir so oft befangen sind (vor allem im Schulunterricht), durch möglicherweise "dumme" Fragen kritisch zu überprüfen. Im Zusammenhang mit 'Lesen durch Schreiben' sind es vorab zwei solcher Fragen, die eine bestimmende Rolle spielen. Die eine ist die - offenbar für viele Lehrerinnen und Lehrer irritierende - Frage: was ist ein Kind? Diese Frage ist leicht zu verstehen, aber schwer zu beantworten. Sie führt uns zur Einsicht, dass der Bestand an eindeutig gesichertem, hieb- und stichfestem Wissen über Kinder noch sehr gering

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ist und dass unsere Vorstellungen über Kinder kultur- und zeitbedingt sind. So wissen wir seit der "Geschichte der Kindheit" von P. Ariès, München 1978 (dtv), dass Kindheit in der Gestalt, die wir kennen, nicht lediglich ein Ergebnis natürlicher Entwicklung, sondern eine Kulturerscheinung ist. Kindheit ist nicht nur eine von der Entwicklung der Spezie Mensch her gegebene Konstante, sondern auch das Ergebnis der Erwartungen und Praktiken der erziehenden Erwachsenen. Da Kinder sich ständig an Welt und Umwelt anpassen, ist Kindheit stark beeinflusst von der Gesellschaft, die sie hervorbringt. Epochen und Kulturkreise unterscheiden sich daher hinsichtlich der für sie typischen Kinder recht beträchtlich. Etwas vom wenigen, das wissenschaftlich gesichert ist und für Pädagogik und Schule zentrale Bedeutung hat, ist das universal feststellbare Bedürfnis aller Kinder nach "selbst bestimmter Eigenaktivität". Schon das Baby ist von Anfang an aktiv. Es begrüsst eine stimulierende Umgebung und geht so gleich daran, im Rahmen seiner Möglichkeiten diese Umgebung für sich so zu organisieren, dass es sie bewältigen kann. Aber auch durch die ganze weitere Kindheit nimmt das Kind aktiv an seiner Umweltanpassung teil. Es "bringt von Anfang an sein Lernen selbst in Gang" (PIAGET), macht damit Erfahrungen über seine Umwelt und fügt diese zu einem Weltbild zusammen. Dabei lernt das Kind das, was es lernt, stets selbst. Niemand anderer kann - gleichsam stellvertretend - etwas für das Kind lernen. Lernprozesse können zwar von aussen angebahnt, unterstützt - aber auch gestört - werden, letztlich sind sie nur erfolgreich, wenn das Kind sie sich durch Selbststeuerung zu eigen macht. Daher nimmt es auch Erfahrungen und Erkenntnisse, die ihm beispielsweise Erwachsene vermitteln wollen, nur in dem Masse auf, wie sie ihm relevant erscheinen und begreiflich sind. Andernfalls werden die vermittelten Erfahrungen und Erkenntnisse vom Kind in Form und Inhalt verzerrt. Diese Einsicht führte zur einen der beiden grundlegenden Überzeugungen hinter 'Lesen durch Schreiben', nämlich dass - wie schon erwähnt - die meisten Kinder aus sich heraus lernfähig und lernbereit sind und nicht von aussen dazu angehalten werden müssen! Die andere Grundüberzeugung hinter dem Lehrgang wird verständlich, wenn man "phänomenologisch" an die andere Grundfrage geht, die sich im Zusammenhang mit Leseunterricht stellen muss; der Frage: Was ist lesen? Zu fragen, was lesen sei, heisst zu fragen, wie es der menschliche Geist "eigentlich" anstellt, aus einer Menge in bestimmter Weise angeordneter Punkte, Striche, Bogen und ähnlichem z.B. den Begriff "Umweltschutz" zu entnehmen? Diese Frage hat es bekanntlich "in sich" und ist bis heute nicht beantwortet. Mir jedenfalls scheint, dass trotz mannigfacher Erklärungsversuche und trotz schöner Theorien über "Hypothesentestende Verfahren" etc. niemand wirklich weiss, was Lesen eigentlich ist. Und so lange wir das nicht wissen, so glaube ich, können wir auch keine Didaktik entwickeln, wie Lesen gleichsam mit Erfolgsgarantie zu lehren wäre. Denn: Das Lesen "könnend ausüben" ist etwas anderes als das Lesen "lernen". Und dieses ist noch einmal etwas anderes als das Lesen "lehren". Lesen"lehren" impliziert zu wissen, was Lesen"lernen" erfordert und dies verlangt, dass man weiss, was Lesen "ist". Aus meiner Sicht wäre für eine Lerntheorie bzw. Didaktik des Lesenlernens dies die grundlegende Voraussetzung, doch gerade an der gebricht es uns.

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Nun bringt uns natürlich die Feststellung, dass wir nicht wissen, was Lesen "eigentlich" ist, nicht weiter. Auf dieser Ebene des Überlegens wissen wir "eigentlich" überhaupt nichts. Trotzdem haben wir durchaus ein Alltagsverständnis von Lesen. Sie, liebe Leserin, lieber Leser, lesen ja jetzt gerade und wissen, dass Sie lesen und was "es" ist. Was ist es ? Vor Jahren arbeitete ich in einem Vorschulprojekt mit und erinnere mich an folgende Begebenheit: Ich war mit der Kindergärtnerin noch ehe die Kinder kamen im Kindergarten. Die Kindergärtnerin musste etwas in einem Buch nachschlagen. Während sie las, kam das erste Mädchen herein, wollte sie begrüssen, vermied es jedoch, sie zu stören und stand staunend, sie still betrachtend, neben ihrem Pult. Einer Eingebung folgend fragte ich das Kind flüsternd: "Was macht sie?" "Sie liest." "Was ist das?" Fragender Blick und dann die phänomenologisch interessante Antwort: "Sie guckt ins Buch." Inzwischen wurde die Kindergärtnerin auf uns aufmerksam, schaltete sich ein, hielt dem Kind das Buch hin und meinte: "Möchtest du auch ins Buch gucken?" Das Kind guckte - ich hatte den Eindruck: etwas verunsichert ins Buch und als ich es fragte: "Liest du jetzt auch?" schüttelte es stumm den Kopf. Auf die Nachfrage: "Warum nicht?" meinte es nach einer kleinen Pause: "Das Buch erzählt mir nichts." Damals habe ich leider versäumt, von diesem Mädchen zu erfahren, wie es zu seiner Formulierung kam. Ich finde aber, sie bezeichne sehr treffend den Unterschied zwischen dem, der lesen kann und dem der es nicht kann. Leser wie Analphabeten können in ein Buch "gucken". Doch dann passiert beim Leser etwas anderes als beim Analphabeten. Was? Nachstehend finden sich zwei Kästchen: Was geschieht wenn mein Blick darauf fällt?

Nun weiss ich zwar nicht, was bei Ihnen passiert, bei mir ist es folgendes: Ich erkenne links die Abbildung eines Apfels und zwar ohne dass ich mir einer inneren Aktivität bewusst würde, ohne dass ich einen spezifischen Willensakt vollziehen muss. Mein Blick fällt auf die Abbildung und ohne irgendein weiteres Zutun meinerseits erkenne ich "den Apfel". Die Apfelbedeutung der Abbildung teilt sich mir gleichsam automatisch - quasi von ihr selbst her - mit. Interessanterweise geschieht mir beim Kästchen rechts Ähnliches. Ohne irgendein besonderes Zutun erkenne ich die Bedeutung "Birne". Sobald mein Blick auf das Wort fällt, erkenne ich die "Birne". Auch hier teilt sich die Birnenbedeutung des Wortes gleichsam automatisch - quasi von ihm selbst her - mit. Als kompetenter Leser "hänge ich keine Laute aneinander", ich "schleife nichts zusammen" und ich bin mir auch nicht bewusst, einen sinnstiftenden Akt vorzunehmen. Ich "teste keine Hypothesen" und frage mich nie, was "das da heissen könnte"? Ja, bei meinem Lesen kommt es nicht einmal zu einer innergedanklichen Artikulation, d.h. ich lese mir in Gedanken nicht selber vor, ich höre keine Worte im inneren Gespräch, ich erfasse die Bedeutung

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von "Birne" direkt auf der Ebene der Begrifflichkeit unter Umgehung einer innerlich hörbaren Wortgestalt. Ich erlebe das Lesen als etwas, bei dem ich von Wörtern automatisch "angesprungen" werde und mich dagegen nicht einmal "wehren" kann. D.h. wenn mein Blick auf Wörter fällt, "sprechen" sie zu mir, selbst wenn ich, etwa im Falle von Reklame oder Propaganda, sie gar nicht "anhören" will. Dies ist für mich "Lesen" und hat rein gar nichts mit dem zu tun, was ich in vielen Schulklassen mit traditionellem Erstleseunterricht antreffe, bzw. mit dem, was ich als Erstklässler vor über 40 Jahren selber kennenlernte (und bei dem ich übrigens auch nicht lesen lernte). Es handelt sich um einen reinen Automatismus bei dem didaktisch nur die Frage interessant ist, wie er zustande kommt? Ich weiss es nicht und ich glaube, dass es auch sonst niemand weiss. Und da ich es nicht weiss, kann ich lesen auch nicht lehren - und tue es auch gar nicht. Ich lehre Kinder nicht lesen, sondern "schreiben", d.h. verschriften. Hier weiss ich genau, was ich tue und kann es den Kindern einsichtig machen. Aufgrund einer - zugegebenermassen spekulativen, doch wie mir scheint dennoch naheliegenden Überlegung stelle ich mir nämlich vor, dass unsere Vorfahren, die als erste mit Schrift umgingen "damals" nicht das Lesen, sondern das Schreiben "erfanden". Irgendwie ist mir das logisch, jedes Lesen setzt voraus, dass das, was gelesen wird, vorher geschrieben wurde: allem Lesen geht ein Schreiben voraus. Deshalb soll sich das Kind bei meiner Methode im Unterricht zunächst nicht mit dem Lesen beschäftigen, sondern mit dem Schreiben. Es soll lernen, wie die gesprochene, gehörte Sprache aufgeschrieben (verschriftet) wird. Das Lesen wächst dem Kind dann selbstgesteuert durch das Schreiben zu, gleichsam als "automatisches Begleitprodukt" des Schreibenlernens. Wenn die Kinder "schreiben" können, dann können sie eines Tages automatisch, quasi über Nacht, auch lesen, d.h. sie erleben, dass sie von Wörtern "angesprungen" werden. Auf Anhieb können sie dann alles lesen (was sie verstehen) nicht nur bestimmte Texte mit begrenztem Wortschatz. Dann und erst dann - wird auch im Unterricht gelesen; dann aber ist für die betreffenden Kinder der Leselehrgang 'Lesen durch Schreiben' abgeschlossen. Lehrt man Kinder auf diese Weise lesen, d.h. ohne vorherige Leseübungen, dann führt das zu einem störungsfreien Verlauf des (uns unbekannten!) Leselernprozesses an sich. Die hinlänglich bekannte Situation, in der ein schwacher Schüler zwangsläufig blossgestellt wird, weil er mühsam einen Text vorstottern muss, während die Klasse mehr oder weniger aufmerksam "mitliest" und die Lehrerin mit Korrekturen "hilft", entfällt, wodurch schwache Schüler in hohem Masse psychologisch entlastet werden und die Lesemotivation ungebrochen erhalten bleibt. Was das gerade für schwache Kinder bedeutet, braucht hier nicht betont zu werden. Mit diesen kurzen Hinweisen hoffe ich gezeigt zu haben, wie die zweite Grundüberzeugung hinter dem Lehrgang verstanden sein möchte - die ungewohnte Auffassung, Leseunterricht sei umso wirkungsvoller, je unspezifischer er sei, d.h. je weniger er sich nur mit Lesen beschäftigt!

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Zusammenfassung Die "Psychologie, die hinter dem Lehrgang steckt", geht von der Überzeugung aus, dass die meisten Kinder aus sich heraus lernfähig und lernbereit sind und viele didaktisch-methodische Massnahmen der Schule das kindliche Lernen wahrscheinlich eher stören als unterstützen. Leitend ist die psycholinguistische Hypothese, die besagt, dass der Anteil von Nachahmungsleistungen, d.h. Aneignung und Übernahme von lesetechnischen Verfahrensweisen, im Bereich des Lesenlernens recht gering ist, da Kinder vorab durch aktive, innere Gestaltungsprozesse die Kompetenz zu Lesen und Schreiben erwerben. Entsprechend ist bei "Lesen durch Schreiben" der Selbstaktivität des Kindes ein Maximum an Spielraum gelassen, sind die unumgänglichen Anteile rezeptiven Lernens klein gehalten. Der Lehrgang orientiert sich an der Idee des "offenen" Unterrichts. Er geht davon aus, dass Schreiben- und Lesenlernen nicht als isolierte Vorgänge betrachtet werden dürfen. Schreib- und Leselernprozesse sind eingebettet in die Gesamtheit aller Lernprozesse, mit denen sich ein Kind jeweils auseinanderzusetzen hat. Daher folgt der Lehrgang nicht der linearen Systematik einer Abfolge vermeintlich aufeinander aufbauender Lernschritte, sondern richtet sich an der Komplexität des Gesamtlernprozesses der Kinder aus. So "bequem" das Modell einer curricularen Abfolge linearer, aufeinander folgender und -aufbauender Lernschritte für die Schule auch sein mag - im wirklichen Lernprozess der Kinder gibt es diese Stufenfolge nicht. Zwingt der Unterricht das Kind gleich wohl auf einen zum Voraus festgelegten Lernweg mit einer bestimmten chronologischen und sachlogischen Lernschrittabfolge, dann beeinträchtigt und/oder stört man damit das individuelle Lernpotential des einzelnen Kindes. Die Vorgabe eines offenen, didaktischen Angebots, bei dem die einzelnen Übungs- und Lernmaterialien flexibel handhabbar sind, ist angemessener. Dies setzt freilich pädagogischen Optimismus voraus, eine Überzeugung, dass Selbstentwicklungskraft und Selbstlernfähigkeit der Kinder so gross sind, dass didaktische Führung vielfach unnötig ist, dass Kinder im Prinzip sehr viel mehr verstehen und leisten können, als ihnen der Anfangsunterricht meistens zutraut, und es für die Lehrerin vor allem darauf ankommt, die Kinder bei ihrem selbständigen Lernen nicht zu stören. Die Methode "Lesen durch Schreiben" hilft dabei, selbständiges Lernen zu ermöglichen. Wo sie kompetent eingesetzt wird, ist sie jene Form von Unterricht, welche legasthenische Fehlentwicklungen verhindert, Erfolgserlebnisse vermittelt, einen langfristigen Lernertrag sichert, umfassende Einsicht in Sachverhalte ermöglicht, ausgeprägte Transfereffekte zeitigt, die Motivation kontinuierlich steigert und die natürliche Entwicklung des Selbstbewusstseins der Kinder stärkt. Unter pädagogischen Aspekten betrachtet ist dies der Hauptvorteil des Verfahrens: "Lesen durch Schreiben" vermittelt dem Kind die Überzeugung, es selbst habe sich das Lesen bei gebracht, nicht die Lehrerin.

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Text-A06 Jürgen Reichen Zur Situation der Leseerziehung in der deutschsprachigen Schweiz erschienen in: ELLER, W./HLADCZUK, J.: International Handbook of Reading Education, Westport 1990 Die kleine Schweiz, mitten in Europa gelegen, grenzt im Norden an die Bundesrepublik Deutschland, im Osten an Oestreich, im Süden an Italien und im Westen an Frankreich. Diese Nachbarschaften bestimmen das Sprachverhalten der Schweizer - die Schweiz ist drei bzw. vier-sprachig. Der grösste Teil der Schweizer (65%), spricht deutsch; im Westen, an der Grenze zu Frankreich wird französisch gesprochen (18%); und im Süden, in der Nachbarschaft Italiens italienisch (10%). Dazu kommt noch eine kleine Minderheit von 1%, die in einer Bergregion Graubündens lebt und rätoromanisch - eine aussterbende Sprache - spricht. Neben diesen vier "schweizerischen Sprachen" sind aufgrund eines hohen Anteils von Ausländern, die in der Schweiz leben, (ca. 15% der Wohnbevölkerung) in bestimmten Regionen, Gemeinden bzw. Stadtquartieren zusätzlich spanisch, türkisch, jugoslavisch und griechisch alltäglich. Im Schulunterricht spielen diese letzteren Sprachen aber keine Rolle². In den Schulen sind, je nach Landesgegend, ausschliesslich deutsch, französisch und italienisch massgeblich. Dies erscheint zunächst naheliegend, aufgrund einer schweizerischen Besonderheit besteht hier aber gleichwohl ein erhebliches Problem: In der Schweiz ist nämlich deutlich zu unterscheiden zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch; denn nur im schriftlichen Bereich kommen die jeweiligen Standardsprachen zu Geltung, während in der mündlichen Kommunikation überall regional modifizierte Mundarten gesprochen werden. Dies gilt vor allem für den deutschsprachigen Teil der Schweiz, wo die Standardsprache weitgehend der Hochsprache in der Bundesrepublik entspricht, die verschiedenen schweizerischen Mundarten davon aber sehr beträchtlich abweichen und als sogenanntes "Schweizerdeutsch" in Deutschland selber kaum verstanden wird. Dieser Unterschied zwischen einheimischen Dialekten und der Standardsprache, die im Schulunterricht verlangt wird, ist die Ursache eines schweizerischen Dauerkonflikts, weil Schüler und Lehrerschaft immer wieder ihrer natürlichen Neigung zum Gebrauch der Mundart nachgeben, anstatt die Standardsprache zu benutzen. In regelmässigen Zeitabständen erlassen deshalb die Schulbehörden Aufrufe zugunsten der Standardsprache bzw. werden die Lehrer auf die Vorschriften hingewiesen, dass im Unterricht die Standardsprache massgeblich sei. Es wird befürchtet, dass der ungehemmte Gebrauch der Mundart im Unterricht einem Hauptlehrziel des Unterrichts abträglich sei: dem kompetenten Gebrauch der Hochsprache. Nur die ² Auf der Grundlage bilateraler Staatsverträge mit den Herkunftsländern der Fremdarbeiter bestehen allerdings Möglichkeiten, dass die ausländischen Kinder ein paar Stunden pro Woche einem Unterricht in ihrer Muttersprache und von Lehrkräften ihres Herkunftslandes erteilt besuchen können. 1. Hochsprache erleichtert die Kommunikation unter den verschiedensprachigen Landesteilen der Schweiz, sie ist also von innenpolitischer Bedeutung; aufgrund der schweizerischen Auslandabhängigkeit, vorab gegenüber der Bundesrepublik, ist sie aber auch aussenpolitisch und nicht zuletzt wirtschaftlich sehr bedeutsam.

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2. Die Schweiz ist wie die USA ein Bundesstaat. Entsprechend den 50 amerikanischen Einzelstaaten ist die Schweiz in 26 Kantone gegliedert, denen die abschliessende Zuständigkeit für Schule und Unterricht zukommt. Der Leseunterricht ist daher - wie aller Unterricht - dezentralisiert. Auch innerhalb der einzelnen Kantone gibt es keine zentralisierten Verfahren, in der Schweiz haben die Lehrer sog. "Methodenfreiheit", d.h. der einzelne Lehrer ist in der Wahl des Verfahrens persönlich frei. Dazu muss folgendes erläutert werden: Im Unterschied zu manchen anderen Staaten, nicht zuletzt der USA, werden in der Schweiz die Lehrer sehr gut besoldet. Die Lehrerlöhne in der Schweiz gehören zur Weltspitze. Aufgrund dieses hohen Lohnniveaus sind auch die Qualifikationsansprüche hoch und aufgrund eines hohen Qualifikationsniveaus - sowie vor dem Hintergrund einer alten freiheitlichen Tradition in der schweiz. Politik - gewährt man in der Schweiz dem einzelnen Lehrer einen grossen Freiraum bei der Gestaltung und Durchführung des Unterrichts. Für den Erstleseunterricht bedeutet das z.B., dass jeder Lehrer selber entscheidet, nach welcher Methode er vorgehen will; dass er in der Regel unter verschiedenen Lehrmitteln auswählen kann, ja, dass es ihm sogar prinzipiell freigestellt ist, nach einem "selbsterfundenen" Verfahren mit "selbstgestaltetem" Unterrichtsmaterial vorzugehen. 3. In der Schweiz bestehen im Bereich der Leseerziehung für Mädchen und Knaben keinerlei Unterschiede in den Zielen. Auch gibt es im Grunde keine unterschiedlichen Zielsetzungen zwischen den Schulstufen. Im Bereich der gesamten Schulen, Volksschulen als auch höheren Schulen, gibt es in puncto Leserziehung eigentlich überall nur zwei Ziele: a. Die Schüler sollen lernen, einen alters- bzw. stufengemässen Text inhaltlich zu verstehen (sinnerfassendes Lesen) b. Bei den Schülern soll die Freude am Lesen geweckt und bekräftigt werden, sie sollen wenn möglich Freude und Verständnis für Literatur (Lyrik und Prosa) entwickeln Trotz grosser Anstrengungen der Schulen werden diese Ziele leider nur unzureichend erreicht. Die Erfolgsquote ist relativ gering und in den letzten Jahren stetig zurückgegangen. Aus den "pädagogischen Rekrutenprüfungen" des Jahres 1984 (das ist eine grossangelegte Untersuchung, welche jährlich im Rahmen der Armee mit den jungen Soldaten über jährlich wechselnde Themenbereiche durchgeführt wird) weiss man: 17 Prozent der jungen Schweizer sind in der Lage, die allgemeine Bedeutung eines leicht abstrakten Zeitungsartikels zu erfassen. Das heisst aber umgekehrt, dass 83 Prozent dazu nicht in der Lage sind. 38 Prozent verstehen die Angaben eines Faltprospektes der Schweizerischen Bundesbahnen über Abonnementtarife, also 62 Prozent nicht. Das sind Zahlen, die Besorgnis erwecken müssen. Die Lesekenntnisse reichen offenbar gerade noch aus, um Aufschriften wie zum Beispiel 'Eingang um die Ecke' zu lesen, aber wenn es darum geht, einen etwas schwierigeren Zusammenhang zu verstehen, dann gelingt dies nicht mehr. Vor hundert Jahren war das Niveau noch höher, vor dem ersten Weltkrieg sogar deutlich höher: Anno 1879 erreichten zwei Drittel der Rekruten zufriedenstellende Noten, 1913 waren es sogar neun Zehntel. Angesichts solcher Verhältnisse kann es dann auch nicht mehr verwundern, dass nur wenige Schweizer wirklich Leser sind. Jene, die aus Lust lesen, befinden sich in einer Minderheit; ihre Zahl wird auf ungefähr zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung geschätzt. Die obenerwähnten Zielsetzungen sind übrigens auch Teil des Fremdsprachen-Unterrichts an den höheren Schulen; auch dort ist die Beschäftigung mit der jeweiligen - englischen, französischen, spanischen, italienischen - Literatur ein massgeblicher Teil des Unterrichts - und auch dort gelingt es der Schule offenbar nicht, zum Lesen zu motivieren. Trotzdem ist Umgang mit Literatur die einzige Form der "Leseerziehung" in der Erwachsenenbildung. "Literarische Kränzchen" an der Volkshochschule (d.h. gemeinsame Lektüre und Diskussion eines Textes) oder Seminare der

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gewerkschaftlichen Bildungsarbeit etwa zum Thema "Wie man eine Zeitung liest" wären hiezu Beispiele. 4. Bis vor wenigen Jahren war der Analphabetismus in der Schweiz kein Thema. Hätte jemand anno 1980 nach der Verbreitung des Analphabetismus in der Schweiz gefragt, so hätte er unisono die Antwort erhalten, in der Schweiz gäbe es keine Analphabeten. Inzwischen haben sich die Verhältnisse diesbezüglich sehr geändert. Aufgeschreckt durch einen Artikel im deutschen Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", der 1983 die Bundesrepublik Deutschland mit der Erkenntnis schockte, dass es auch in den hochentwickelten Industrienationen erwachsene Analphabeten gibt, muss auch die Schweiz zur Kenntnis nehmen, dass trotz ihres gutausgebauten Schulsystems einzelne Kinder Analphabeten bleiben, bzw. nach Verlassen der Schule in den Analphabetismus zurückfallen. Zur Zeit der wirtschaftlichen Hochkonjunktur bis in die 70er-Jahre gab es offenbar genügend Arbeitsplätze, so dass sich Analphabeten in gesicherten "Nischen" einrichten und wirtschaftlich überleben konnten. Mit dem Rückgang des Wirtschaftswachstums und dem Aufkommen von Arbeitslosigkeit auch in der Schweiz wurde aber der Analphabetismus für die Betroffenen zu einem schweren Handicap, das nicht länger zu verbergen war der Analphabetismus wurde öffentlich bekannt. Heute sind etwa 20'000 - 30'000 erwachsene Schweizer als Analphabeten erkannt, da man aber von einer beträchtlichen Dunkelziffer ausgehen muss, dürfte die wahre Zahl erheblich höher liegen. Wie sich die Analphabeten auf die verschiedenen Schulstufen verteilen, lässt sich nicht eruieren. Es steht lediglich fest, dass Knaben stärker betroffen sind als Mädchen. Es gibt keine echten Erhebungen. Das Thema wird tabuisiert. Da die Betroffenen für ihre Umgebung und die Schulen, die sie besuchen, eine ziemliche "Peinlichkeit" darstellen, kommt es zu einer "Koalition des Verschweigens", hinter der sich die Analphabeten verstecken können. Erst seit kurzem ist das Tabu gefallen und da zeigt sich nun, dass vorab in den Berufsschulen ein grosser Teil der Jugendlichen, die eine Berufslehre absolvieren, mit Lesen und Rechtschreibung schier unüberwindliche Schwierigkeiten haben. Auf Initiative von Prof. H. Grissemann (Institut für Sonderpädagogik/Universität Zürich) haben sich daher in den letzten Jahren überall lokale Initiativgruppen gebildet, welche Kurse für erwachsene Analphabeten organisieren und durchführen. Die Nachfrage übersteigt das Angebot inzwischen dreifach, da aber noch keine klaren Regelungen der Finanzierung bestehen, hängt es noch häufig vom Zufall ab, ob ein bestimmter Kurs durchgeführt werden kann oder nicht. Die Behörden halten sich noch zurück, und da ihnen gesetzliche Grundlagen fehlen, erfolgt auch keine regelmässige Finanzierung. 5. Leseunfähigkeit wurde in der Schweiz in den letzten 30 Jahren unter der Bezeichnung "Legasthenie" diagnostiziert und therapiert. Dabei bewegten sich sowohl Diagnose als auch Therapie auf wenig gesichertem Boden. Je nach Auslegung des Legasthenie-Begriffs gelten rund 5% der Schüler als Legastheniker im engeren Sinne; nimmt man all diejenigen zum Massstab, die eine Therapie bekommen oder mindestens gezielten Nachhilfeunterricht, so sind es etwa 15% der Schüler (wobei sich hier aber viele Fremdarbeiterkinder dazugesellen, die in erster Linie wegen ungenügender Deutschkenntnisse betreut werden müssen). Unter den Legasthenikern sind die Knaben stärker vertreten, das Verhältnis Knaben : Mädchen beträgt etwa 6 : 4. Diese Rate gilt für alle Altersklassen, sie ist mehr oder weniger stabil. Die einzige Differenz in den Altersklassen ist eine stark rückläufige Therapiebereitschaft bei den Knaben; mit dem Älterwerden verlieren sie zusehends die Motivation, gegen die Legasthenie anzukämpfen.

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Über die Gründe der Legasthenie glaubte man vor 30 Jahren ziemlich gut Bescheid zu wissen. Inzwischen hat man aber diese Sicherheit eingebüsst, und je mehr Erfahrungen man mit Legasthenie und Legasthenikern machte, umso zweifelhafter wurden die "Erkenntnisse" auf die man sich berief. Heute ist man an einem Punkt angelangt, da man sich eingestehen muss: genaugenommen weiss man eigentlich überhaupt nichts. Massgebliche Fachleute wie Prof. Hans Grissemann (Institut für Sonderpädagogik/Universität Zürich) oder Dr. Heinz Ochsner (Leiter der Arbeitsstelle für präventive Unterrichtsdidaktik/Erziehungsdirektion Zürich) haben gerade in den Tagen, da der vorliegende Text entstand, in der "Schweizerischen Lehrerzeitung" wie auch in namhaften Tageszeitungen auf die vielen Ungereimtheiten im schweizerischen "Legasthenie-Betrieb" hingewiesen und den "Abschied" von der Legasthenie eingeleitet. Wenn hier von "Legasthenie-Betrieb" die Rede ist, dann ist der Ausdruck nur verständlich, wenn man die diesbezüglichen Gepflogenheiten in der Schweiz kennt, weshalb kurz auf diesen Punkt eingegangen werden soll: Legasthenie gilt als Behinderung, die einer teilweisen Invalidität gleichgesetzt wird und deren Behandlung von der Eidgenössischen (= staatlichen) Invalidenversicherung finanziert bzw. teilweise subventioniert wird. Dank dieser Finanzierung hat sich in der Schweiz ein recht umfangreicher "Legasthenie-Betrieb" etabliert, (entsprechend der überall zu machenden Erfahrung, dass man eine Leistung, die bezahlt wird, auch in Anspruch nimmt). So sind in der deutschsprachigen Schweiz etwa 6000-7000 Logopädinnen und Legasthenietherapeutinnen im Einsatz, umgerechnet auf die USA würde das etwa 350 000 - 400 000 amerikanischen Therapeuten entsprechen. Bekundete ein Kind im Lesen (und/oder der Rechtschreibung) Mühe, dann dachte die Lehrerin, es könne sich um "Legasthenie" handeln und schickte das Kind zum nächsten schulpsychologischen Dienst zur Untersuchung. Eine solche Untersuchung erstreckte sich früher auf senso- motorische Funktionen, Intelligenz und Persönlichkeitsmerkmale und bei auffälliger Diskrepanz zwischen dem Leistungsmesswert eines Lesetests mit dem Intelligenzquotienten wurde auf Legasthenie geschlossen. Zur Diagnose gab es dabei kein Standardverfahren, jeder Schulpsychologe arbeitete mit den Tests, die ihm geeignet erschienen. In der Regel waren und sind es deutsche Tests, als schweizerisches Eigenprodukt ist nur der "Zürcher Lesetest" von Grissemann zu nennen. War die Legasthenie "bestätigt", bekam das Kind eine Therapie bei einer heilpädagogisch vollausgebildeten Logopädin oder - bei weniger gravierenden Leistungsschwächen - Nachhilfeunterricht bei einer sog. Legasthenietherapeutin (meist ehemalige Lehrerinnen mit einer Zusatzausbildung). Die übliche Legasthenietherapie operierte mit Übungen, die vor allem die senso-motorischen Funktionen betreffen und hatte die Stärkung der Leistungsfreude und Erfolgszuversicht zum Ziel. Da nun aber Therapieerfolge immer nur bei einem Teil der Legastheniker eintraten, ein anderer Teil aber therapieresistent blieb, kam schon früh der Verdacht auf, dass irgendetwas mit Diagnose und Therapie der Legasthenie nicht stimmt. Schon Ende der 70er-Jahre kamen Bedenken auf, dass die gängigen Vorstellungen und Praktiken der Realität legasthenischer Lernprobleme nicht gerecht würden; man sprach damals vom "Unfug mit der Legasthenie" bzw. von Legasthenie als einer "Leerformel". Inzwischen hat man begonnen, besser zu differenzieren und unterscheidet eine eigentliche, primäre Legasthenie von uneigentlichen, sekundären Formen, deren Ursache man in "schlechtem Unterricht" sieht und entsprechend "didaktogene" Legasthenie heisst.

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In dieser Situation wurden Forderungen nach präziseren Diagnosen, klareren Therapiekonzepten, verbesserter Ausbildung der Therapeutinnen und strengeren Kontrollen laut. Die Ausbildung neuer Legasthenietherapeutinnen wurde an vielen Orten sistiert. Die Schulpsychologen stellen ihre Diagnosen zurückhaltender, und die Legasthenietherapeutinnen sind von spezialisierten Trainingsprogrammen abgekommen, um sich mehr der allgemeinen sprachlichen und psychologischen Förderung der lese-rechtschreibschwachen Kinder zu widmen, denn die Hoffnung, durch Verbesserung der visuellen und auditiven Wahrnehmung, des Reihenfolgegedächtnisses, der Raum-Zeit-Organisation, der Augenfolgenbewegungen usw. direkt auf die Fälle primärer Legasthenie Einfluss zu nehmen, hat sich nicht erfüllt. Man sieht heute ein, dass sich eine primäre sprachliche Codierschwäche durch blosse Funktionsübungen nicht beheben lässt und rückt vom unklaren Begriff "Legasthenie" ab. Stattdessen spricht man - zum Ende des Jahres 1988 - von "Schwierigkeiten in der Aneignung der schriftlichen Sprache", ohne dass man dadurch schon etwas an Erkenntnissen gewonnen hätte. Denn in Ermangelung besserer Lösungen operiert man derzeit weiter mit den gängigen Konzepten und versucht "irgendwie" die Probleme zu bewältigen, die lese-rechtschreibschwache Kinder uns aufgeben. 6. In der Schweiz tut man sich nur mit der Legasthenie schwer, sie scheint das einzige schwerwiegende Problem in der Leseerziehung zu sein. Probleme, die andere Länder zusätzlich haben, sind uns erspart. Insbesondere braucht die Schweiz keine Lese-Bereitschafts-Programme für Schüler, die bis jetzt noch keine Primärerziehung hatten. In der Schweiz besteht - anders als in den USA für alle Einwohner eine allgemeine Meldepflicht bei den Behörden des Wohnortes, aufgrund derer die Behörden alle schulpflichtigen Kinder registriert haben - mit der Folge, dass auch wirklich alle schulpflichtigen Kinder die Schule tatsächlich besuchen. Es gibt keine Kinder ohne Primärerziehung und entsprechend sind irgendwelche Lese-Bereitschafts-Programme unnötig. 7. Die Lehrerqualifikation und Lehrerausbildung ist - wie das gesamte Schulwesen - Sache der Kantone. Von ganz speziellen Modifikationen abgesehen ist es in der Regel jedoch so, dass Volksschullehrer eine allgemeine 12-13jährige Schulbildung aufweisen müssen, die mit der Matur oder einem Diplom abgeschlossen wurde. Daran anschliessend erfolgt dann eine spezifische 2-3jährige Berufsausbildung zum Lehrer in einem Lehrerseminar. Lehrer der sekundär bzw. tertiär Stufe brauchen in jedem Fall die Matur, anschliessend müssen sie ein universitäres Fachstudium absolvieren, an das sich jeweils noch 1-2 Semester pädagogidsch-didaktische Ausbildung an einem Lehrerseminar anschliessen. Die Erwachsenenbildung ist in der Schweiz zu über 90% privatisiert. In diesem Bereich bestehen keine staatlichen Qualifikationsvorschriften. Die einzelnen Anbieter von Bildungsangeboten für Erwachsene bestimmen frei, wen sie mit Lehraufgaben betrauen wollen. Meistens ist es aber so, dass in diesem Bereich ehemalige oder noch amtierende Lehrer(innen) tätig sind, weil es sich hier meistens lediglich um Nebenerwerb handelt. Eigentliche "Leselehrer" gibt es in der Schweiz nicht. Allenfalls im Bereich der Logopädie/Legasthenietherapie gibt es Lehrkräfte mit heilpädagogischer Zusatzausbildung, die sich beruflich weitgehend mit "Lesenlehren" - aber nicht im Rahmen von Unterricht, sondern im Rahmen von Therapiestunden - beschäftigen. Nimmt man "Leseerziehung" in einem weiteren Sinne, dann sind natürlich alle Lehrkräfte, die an den höheren Schulen Sprachen und die entsprechende Literatur unterrichten, "Leselehrer". Hier ist die Berufsvoraussetzung ein Fachstudium der entsprechenden Sprache und der pädagogisch-didaktischen Zusatzausbildung, wie sie generell für Lehrer(innen) der Sekundär- und Tertiärstufe verlangt wird.

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Was das Verhältnis der Geschlechter betrifft, ist es auch in der Schweiz so, dass der Anteil der weiblichen Lehrkräfte umso geringer ist, je älter die Schüler/Studenten sind. Während im Kindergarten fast ausschliesslich Frauen erzieherisch tätig sind (99%), finden wir z.Z. im Bereich der Primarschule ca. 60% Lehrerinnen, im Bereich der Sekundarstufe 45% Lehrerinnen, im Bereich der tertiären Erziehung noch 27% Lehrerinnen und in der Erwachsenenbildung noch 17% weiblicher Lehrkräfte. 8. Im Bereich des Lesenlernens wurden in den letzten Jahren überall in der deutschsprachigen Schweiz erhebliche Anstrengungen unternommen, den Erstleseunterricht auf eine solide Grundlage zu stellen. Die Fibeln, die man früher benutzte und die relativ starr der sog. "Buchstabenmethode" (=synthetisch) oder der "Ganzwortmethode" (=analytisch) verpflichtet waren, wurden weitgehend abgelöst durch Erstleselehrgänge, die wissenschaftlich fundiert sind. Dabei haben sich drei Lehrmittel herauskristallisert, die den Erstleseunterricht inzwischen dominieren: a. "Lesen, Sprechen, Handeln" von Prof. Dr. H. Grissemann. Das Werk ist eine schweizerische

Eigenentwicklung und vertritt ein methodenintegrierendes Verfahren, bei dem neben Buchstaben und ganzen Wörtern insbesondere auch Wortteile (Silben, Morpheme, Signalgruppen, Segmente usw.) eine wesentliche Rolle spielen.

b. "Der Lesespiegel" von Prof. Dr. K. Meiers. Das Werk ist die schweiz. Modifikation eines deutschen Lehrmittels, das im wesentlichen der "Buchstabenmethode" folgt, aber einen sehr hohen Steilheitsgrad aufweist und insbesondere dem gleichzeitigen Selber-Schreiben der Kinder grosse Bedeutung zumisst.

c. "Lesen durch Schreiben" von Dr. J. Reichen. Das Werk ist eine schweizerische Eigenentwicklung und beschreitet einen methodisch anderen Weg: hier lernen die Kinder zunächst nicht lesen, sondern "verschriften", während das LesenKönnen sich als automatisches Begleitprodukt des Schreiben-lernens entwickelt.

Im weiterführenden Leseunterricht figurieren als Quellenmaterial zur Hauptsache "literarische" Texte, daneben finden Sachtexte sowie Zeitschriften- und Zeitungsartikel Verwendung. Die Texte sind als Textsammlungen (sog. Lesebücher) für jeden Schüler gratis verfügbar, daneben besteht an manchen Orten die Möglichkeit der Ausleihe ganzer Klassenserien (d.h. das gleiche Buch kann in 30 Expl. geliehen werden). Mit der Verbreitung des Fotokopierens und aufgrund eines de facto aufgehobenen Urheberschutzes sind aber in den letzten Jahren praktisch alle Schulen dazu übergangen, das als unterrichtlich geeignet erscheinende Textmaterial durch Fotokopieren für die Schüler verfügbar zu machen. Das Fotokopieren hat in den letzten Jahren derart überhand genommen, dass die Lehrmittelhersteller ihre Textsammlungen (Lesebücher) praktisch nicht mehr absetzen können und die Verlegung solcher Bücher nur noch über ganz erhebliche staatliche Druckkostenzuschüsse möglich ist. Aus bildungspolitischen Überlegungen wollen verschiedene Schulbehörden den Gebrauch solcher Textsammlungen durchsetzen, mit der Folge, dass sie den Schülern zwar abgegeben werden, unterrichtlich von der Lehrerschaft jedoch kaum oder gar nicht darauf eingegangen wird. Fotokopierte Texte stehen in entsprechender Menge und Qualität auch in allen anderen Sprachen z.V., in denen unterrichtet wird. "Unbrauchbare" Materialien gibt es eigentlich nicht mehr, sie werden heute durch Kopieren "brauchbar" gemacht oder problemlos ersetzt - wenn einer Lehrerin

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die staatliche Textsammlung nicht zusagt (und das ist in einem zunehmenden Ausmass der Fall), kopiert sie einfach Texte, die ihr eher geeignet erscheinen. 9. In der Schweiz gibt es im Bereich der obligatorischen Schulzeit eigentlich nur staatliche Schulen. Zwar bestehen einige Privatschulen, meist weltanschaulicher Ausrichtung (Rudolf-Steiner-Schulen, evangelische, katholische und jüdische Privatschulen), aber diese fallen zahlenmässig so wenig ins Gewicht, dass man sie vernachlässigen kann. Man kann also sagen, dass in der Schweiz die Leseerziehung in den Schulen praktisch ausschliesslich von der öffentlichen Hand finanziert wird. Nimmt man die Aufwendungen für Bibliotheken dazu, ändert das Bild kaum, denn auch die weitaus meisten Bibliotheken werden vom Staat geführt oder zumindest finanziell unterstützt. Eine andere Situation besteht in der Erwachsenenbildung. Diese ist in der Schweiz, auch dort wo es sich nicht um innerbetriebliche Weiterbildungseinrichtungen handelt, weitgehend in privaten Händen. So gehört beispielsweise die grösste Einrichtung für Erwachsenenbildung mit Schulungsräumen überall im Land, die "Klubschule Migros", einer Lebensmittel- und Warenhauskette. Hier wird das Bildungsangebot ausschliesslich vom Benutzer bezahlt. 10. Die Schweiz ist ein reiches Land. Daher kann sie sich trotz ihrer Kleinheit in vielen Bereichen eine Forschung leisten, die internationale Anerkennung findet. Leider gilt dies nicht für die Bildungsforschung und schon gar nicht für die Leseforschung. Es gibt bis anhin keine nennenswerte Schul- und Bildungsforschung, ausgenommen in rudimentären Ansätzen, und eine Leseforschung gibt es im Grunde gar nicht. Einzig an der Universität Zürich werden gelegentlich Arbeiten zu diesem Thema gemacht: - an der Abteilung angewandte Psychologie hat Prof. F. Stoll ein Interesse an Fragen rings um

das Lesen und vermag manchmal einen Studenten dazu zu bringen, seine Lizentiatsarbeit oder Dissertation in diesem Gebiet zu machen. Es geht da z.B. um die Bedingungen der Textverständlichkeit (Auswirkungen der Gliederung, der Vorausinformation usw.), um Fragen der Lesetechnik sowie der wahrnehmungspsychologischen und physiologischen Voraussetzungen (Augenbewegungen) des Lesens etc.

- am Institut für Sonderpädagogik beschäftigt sich Prof. H. Grissemann intensiver mit Fragen der Legasthenie (d.h. mit ihrer Entstehung, Verhütung und Heilung) und des funktionalen Analphabetismus etc.

- am Publizistischen Seminar bearbeitet Prof. U. Saxer Fragen des Lesens im Rahmen der Medienwissenschaft, etwa Einfluss des Fernsehens auf das Lesen oder die Konkurrenz zwischen Fernsehen und Lesen u.ä.

Daneben gibt es gelegentlich kleinere Erhebungen und Literaturstudien, die als sog. Diplomarbeiten an Ausbildungsinstitutionen für Lehrerinnen, Heilpädagogen und Sozialarbeiter entstehen (z.B. Lehrerseminare, Schulen für Sozialarbeit, Heilpädagogische Seminare u.ä.), die aber in aller Regel wissenschaftlichen Ansprüchen nicht zu genügen vermögen. In der permanenten Erhebung über Bildungsforschungs- und Entwicklungsprojekte, welche die schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (in Aarau) im staatlichen Auftrag durchführt, scheinen Arbeiten zum Thema "Lesen" nur zufällig vorhanden. Es gibt vor allem Einzelarbeiten, die ohne Bezug untereinander stehen, während eigentliche Schwerpunkte nicht auszumachen sind. Nur in vier Bereichen gibt es mehr als eine Arbeit - Erhebungen zur Legasthenie - Analysen über die Inhalte von Lesebüchern, insbesondere zur Frage von

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Geschlechtsrollenklischees - "Evaluationen" neuer Ersteleselehrgänge - Untersuchungen zum Leseverhalten im Zeitalter des Massenfernsehens Aber auch diese Arbeiten werden im Grund von niemandem richtig zur Kenntnis genommen und haben kaum Einfluss auf die Leseerziehung in der Schweiz. Es gibt bei uns keine "fliessende foci" der Leseforschung, weil es keine Leseforschung gibt. 11. Wie aus dem zuvor Dargelegten ersichtlich wird, war "Leseerziehung" in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten kein Thema. Aus vier Gründen dürfte sich dies in der näheren Zukunft aber ändern. a. Das Bekanntwerden von erwachsenen Analphabeten, bzw. das Phänomen eines sekundären

Analphabetismus (Spätlegasthenie) hat den Nationalstolz mancher Schweizer berührt. Medien, Gewerkschaften sowie das Schweiz. Arbeiterhilfswerk empfanden diese Erscheinung als "Skandal" und schufen mit viel Idealismus Abhilfe.

b. Der Rückgang der Lesekompetenz und des Interesses am Lesen, das durch viele Indizien belegt ist, hat zwar noch nicht die Bildungspolitik, aber die Kulturpolitik aufgeschreckt und beispielsweise das Schweiz. Jugendbuchinstitut (Zürich) bewogen, eine grossangelegte Studie zum Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen in Auftrag zu geben.

c. Die Erkenntnis, dass die bisherigen Therapieverfahren bei primärer Legasthenie nichts nutzen, hat bei der staatlichen Invalidenversicherung die Frage aufkommen lassen, ob sie eigentlich einen "Leerlauf" finanziert und ob man das nicht bleiben lassen sollte? Heilpädagogische Seminare (Ausbildungsinstitutionen) und Legasthenietherapeuten, als Hauptnutzniesser dieser Gelder, wurden dadurch alarmiert. Immerhin können auch sie sich der Überlegung nicht verschliessen, dass möglicherweise die der Legasthenie-Therapie zugrundeliegenden Theorien über den Leselernprozess (und seiner Störungen) nicht stimmen.

d. Der neue Leselehrgang 'Lesen durch Schreiben', hat durch sein ganz anderes methodisches Vorgehen und die unterrichtlichen Erfolge, die damit verbunden sind, an vielen Schulen einen Anstoss zum Überdenken des bisherigen Leseunterrichts gegeben.

Im anderen Vorgehen von 'Lesen durch Schreiben' steckt implizit eine Kritik am bisherigen Erstleseunterricht; eine kritische Betrachtung legen aber auch die erwachsenen Analphabeten, bzw. das Phänomen eines sekundären Analphabetismus (Spätlegasthenie); der Rückgang der Lesekompetenz und des Interesses am Lesen; sowie das weitgehende Versagen der bisherigen Therapieverfahren bei primärer Legasthenie nahe. Ich wage daher die Prognose, dass in der Schweiz in den nächsten 5-10 Jahren der Leseunterricht und das Lesenlernen erhöhtes wissenschaftliches Interesse finden werden und dass es in der Theorie des Lesenlernens zu einem Paradigmenwechsel kommen wird, in dem Sinne als man die primäre Orientierung des Lesenlernens an der Graphem-Phonem-Korrespondenz aufgeben wird. 12. Zusammenfassung Die Schweiz ist ein kleines, überschaubares und reiches Land, das föderalistisch gegliedert ist. Die staatliche Hoheit über die Schulen steht den Gliedstaaten, den sogenannten Kantonen zu, weshalb das Schulwesen (und mithin auch die Leseerziehung) stark dezentralisiert ist. Das öffentliche Schulwesen hat überall ein hohes Niveau. Die Schulen sind gut ausgestattet, der Schulbesuch ist kostenlos, die Lehrerschaft wird gut bezahlt und ist gut qualifiziert - allerdings auf einem vorwissenschaftlichen Niveau. Folge ist, dass es kaum Privatschulen gibt und eigentlich fast alle Kinder ihrer Schulpflicht in den öffentlichen Schulen nachkommen.

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In diesem öffentlichen Schulsystem schien der Leseunterricht bis vor wenigen Jahren keine Probleme aufzuwerfen. Eine Ausnahme bildeten lediglich die sogenannten Legastheniker. Die Legasthenie war das einzige deutliche Indiz dafür, dass möglicherweise doch nicht alles in der deutschschweizerischen Leseerziehung vollkommen war. Legasthenie war auch der einzige Bereich, wo mit wissenschaftlichen Methoden und auf wissenschaftlichem Niveau gearbeitet wurde.

In jüngster Zeit mehrten sich nun aber die Anzeichen, dass es in der schweizerischen Leseerziehung doch mehr Probleme gibt, als man früher meinte. Immer weniger sind die Schüler im Stande, einen alters- bzw. stufengemässen Text inhaltlich zu verstehen, und immer weniger Schüler haben Freude am Lesen, haben Freude und Verständnis für Literatur (Lyrik und Prosa), wie es doch eigentlich in der Absicht der deutschschweizerischen Leseerziehung wäre. Trotz grosser Anstrengungen der Schulen werden die Ziele der Leseerziehung leider nur noch unzureichend erreicht, ist die Erfolgsquote relativ gering. Die in der Schule vermittelten Lesekenntnisse entfalten sich offensichtlich nicht mehr ohne weiteres zur selbständig geübten und gebrauchten Fähigkeit, geschriebene Texte zu verstehen; was in unserer Welt nicht nur einen persönlichen, kulturellen Verlust bedeutet, sondern eine ausserordentlich schwerwiegende soziale Behinderung darstellt.

Der vielfach festgestellte Rückgang der Lesefähigkeit bei Heranwachsenden und das auch in der Schweiz auftretende Symptom des funktionalen Analphabetismus geben denn auch Anlass zur Sorge und es ist weitherum unbestritten, dass neue Anstrengungen zur Leseförderung notwendig sind. Die Frage ist: Welche?"

Eine allgemein akzeptierte Antwort hat noch niemand. Aber die alten Fragen werden heute mit strengeren wissenschaftlichen Methoden neu angegangen. Dabei ist bemerkenswert, dass nicht mehr Einzelaspekte Gegenstand der Überlegungen sind. Vielmehr geht es in einem umfassenderen Sinn um ein besseres Verständnis des kindlichen Lernens überhaupt, insbesondere der sprachlichen Informationsverarbeitung und des Sprachgedächtnisses in der fortschreitenden Entwicklung des Kindes. Neue Formen des Erstleseunterrichts und ein sorgfältigerer Umgang mit dem Phänomen der "Legasthenie" sind hierbei die Wegbereiter. Publikationen BAER, J.R.: Der Leselernprozess bei Kindern, Beltz-Verlag, Basel/Weinheim 1979 BONFADELLI, H.: Leseverhalten bei Kindern und Jugendlichen in der Schweiz, Schweiz. Jugendbuch-Institut, Zürich 1988 GRUBER, Ch.: Lesen und Verstehen (Pädagogische Rekrutenprüfung), Eidg. Drucksachen- und Materialzentrale, Bern 1985 SAXER, U./BONFADELLI, H.: Lesen, Fernsehen und Lernen, Verlag Klett und Balmer, Zug 1984 SAXER, U./BONFADELLI, H./HÄTTENSCHWILER, W.: Die Massenmedien im Leben von Kindern und Jugendlichen, Verlag Klett und Balmer, Zug 1980 STOLL, F.: Vers une théorie de la lecture, "Bulletin de l'Association Belge pour la Lecture", 3/1978 TAUBER, M.: Leserangepasste Verständlichkeit: der Einfluss von Lesbarkeit und Gliederung am Beispiel von Zeitungsartikeln, Lang-Verlag, Frankfurt a.M./Nancy/New York 1984 GRISSEMANN, H.: Spätlegasthenie und funktionaler Analphabetismus, Huber-Verlag, Bern/Stuttgart/Toronto 1984 GRISSEMANN, H./LINDER, M.: Zürcher Lesetest, Huber-Verlag, Bern/Stuttgart/Toronto 1980 OCHSNER, H.: Legasthenie - was ist das?, Pädagogische Abteilung, Erziehungsdirektion Zürich, 1988 WETTSTEIN, P.: Schulversuch zur individuellen Förderung von Unterstufenschülern mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten durch Lehrer und Eltern, Heilpädagogisches Seminar Zürich, 1980

Lehrmittel GRISSEMANN, H.: Lesen - Sprechen - Handeln, Interkantonale Lehrmittelzentrale, Luzern 1980 OCHSNER, H.: Besser lesen und schreiben, Schubiger-Verlag, Winterthur 1977 REICHEN, J.: Lesen durch Schreiben, sabe-Verlag, Zürich 1987

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Text-A07 Jürgen Reichen Vugs und Edwi / Wie kleine Kinder Schrift verwenden erschienen in : Reformatio, Heft 6, Zürich/Bern 1990 Was in einem Kind vorgeht, wenn es in der 1. Klasse schreiben (und lesen) lernt und damit Zugang zur Welt der Schrift bekommt, ist noch kaum bekannt. Zwar erkennt man in der Erstlesedidaktik die Vorteile eines frühen Schreibens seit einigen Jahren immer deutlicher und hat entsprechend überall begonnen, bereits bei Erstklässlern das Schreiben zu fördern. Aber weil dies nur bei der Methode "Lesen durch Schreiben" (d.h.: lesen lernen, indem man schreiben lernt) wirklich konsequent gemacht wird, sind erst wenige Erkenntnisse zum Erstschreiben vorhanden. In der Bundesrepublik Deutschland haben sich verschiedene Autoren (z.B. HANS BRÜGELMANN, GUDRUN SPITTA, GERHEID SCHEERER-NEUMANN u.a.) des Themas angenommen, auch einzelne Fallstudien angestellt, für eine Art "Entwicklungspsychologie des Schreibens" reichen diese aber noch nicht aus. Deshalb stütze ich mich im nachfolgenden auf eigene Beobachtungen an meinen letzten Erstklässlern, sowie auf Mitteilungen von Kolleginnen und Kollegen, die ähnlich unterrichten wie ich. Wenn Kinder nicht über Lesevorgänge sondern "durch Schreiben" zum Verständnis der Schrift gelangen, haben sie die Möglichkeit, ihr Lernen grundsätzlich selbständig und eigenaktiv zu betreiben. Sie können schreiben, was sie wollen. Entsprechend schreiben sie, was für sie von Interesse und Bedeutung ist, so dass sie die informative, kommunikative und expressive Funktion von Texten unmittelbar erleben. Gleichzeitig wird der Prozess des Schreiben- (und Lesen)lernens als etwas erfahren, das eigene Kompetenzen erweitert und im Alltag gebraucht werden kann. Mit dem Erwerb der Sprechsprache wird das kleine Kind zunächst "Vollmitglied" der familiären und nachbarschaftlichen Gemeinschaft. Es kann jetzt seine Wünsche und Bedürfnisse äussern, es kann am Gespräch teilnehmen und - entscheidend für seine Entwicklung - es kann Fragen stellen und Antworten verstehen (sofern es Antworten bekommt). Weil es darüberhinaus nun auch Teile des Fernsehprogramms versteht, erhält es zusätzlich Zugang zu einem grösseren Kultursegment und lernt, medial vermittelte "Wirklichkeit aus zweiter Hand" kennen. Mit dem Erwerb der Schriftsprache und dem Verstehen von Schrift wird das Kind gleichsam "Vollmitglied" der Weltgemeinschaft. Literatur, Wissenschaft, Geschichte, Religion, Recht, Wirtschaft usw. sind zum grössten Teil in Büchern festgehalten und dokumentiert. In Büchern ist Poesie, Wahrheit und Wissen enthalten - und das Schriftverständnis eröffnet den Zugang dazu. Gleichzeitig gibt das Schreibenkönnen dem Kind Ausdrucksformen höherer Form an die Hand. Wenn Kinder Schrift benutzen, haben sie zunächst grosse Mühe, teilweise auch feinmotorisch. Trotzdem sind sie normalerweise stark fasziniert und benutzen Schrift auf geradezu selbstverständliche Art. Werden sie regelmässig zum Schriftgebrauch angeregt, dann schreiben sie mit grosser Freude. Schreiben wird zu einem neuen Ausdrucksmittel, das die Kinder selbstredend individuell verschieden - ganz natürlich und unbefangen anwenden. Sie beschriften und erläutern Zeichnungen, sie benutzen Schrift um ihre Zuneigung (evtl. auch Abneigung) zu zeigen, sie schreiben Mitteilungen und Briefchen, dichten kleine Geschichten, gestalten ein "Album" oder

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führen gar ein "Tagebuch", stellen "Scherz-Zettel" her, die sie ihren Kameraden heimlich an den Rücken heften usw. Dabei zeigt sich eine interessante Entwicklung der schriftlichen Ausdrucksformen, die in gewisser Weise parallel verläuft mit dem Anwachsen der Schreibkompetenz und die in einer vorläufigen Folge von "Funktionsstufen" charakterisiert werden kann. Im Rahmen dieser Stufenfolge hat Schreiben für die Kinder zunächst eine blosse Funktion des Benennens, wird dann benutzt zu Zwecken der Erläuterung, bildet sich aus zur Ausdrucksform und kulminiert in Versuchen, Sprache für Beeinflussungen zu verwenden. Am Anfang, wenn das Kind mit grossem Einsatz erste Wörtlein schreiben kann, dient das Schreiben lediglich einer nochmaligen Benennung: Gegenstände, Abbildungen werden explizit schriftlich benannt. Neben der Abbildung eines Elefanten steht dann "ELEvAnt", auf dem Etui des Schülers klebt ein Zettel mit der Anschrift "EDWI". Auf der nächsthöheren Stufe hat das Schreiben eine Art Erläuterungsfunktion, d. h. die Schrift findet Verwendung für zusätzliche Informationen. Mit Hilfe der neuerworbenen Schreibkompetenz erläutert das Kind Sachverhalte, die ohne diese Erläuterung nicht selbstverständlich wären. Dass ein in einem Tierbuch abgebildeter Elefant ein Elefant ist, erkennen wir im allgemeinen auch wenn nicht das Wort "ELEvAnt" daneben steht. Hingegen erkennen wir in manchen Kinderzeichnungen aufgrund einer wenig realistischen Darstellungsweise nicht unbedingt, dass ein gemaltes Tier ein Panther sein soll - hier hilft die schriftliche Erläuterung. Ein treffendes Beispiel hierzu lieferte mein Erstklässler Pascal bereits in der zweiten Schulwoche, als er mir eine Zeichnung von einem Wald brachte: Bäume, Blumen, Pilze, ein grosses Spinnennetz und unten rechts, sehr unbeholfen ein Tier, das ich nicht identifizieren konnte. Daneben stand: "VUGS". "Weisst du", erklärte mir Pascal entschuldigend, "ich kann nicht gut Füchse zeichnen, und damit du weisst, dass das der Fuchs ist, habe ich es dazu geschrieben." Vielleicht sollte man an dieser Stelle einem möglichen Missverständnis vorbeugen. Kinder schreiben am Anfang nicht deshalb nur einzelne Wörter, weil sie nicht mehr schreiben können, sondern weil sie für mehr keine Zeit haben. Grundsätzlich können sie alles schreiben, was sie wollen, aber ihr Schreiben ist enorm zeitaufwendig. Weil sie nicht in unserem Sinne schreiben, sondern ihre Wörter der gehörten Lautgestalt des Wortes entlang Zeichen um Zeichen konstruierend aufbauen, brauchen sie viel Zeit. Ich schätze, dass Pascal für seinen "VUGS" etwa 30-40 Minuten benötigte. Es ist mithin nicht verwunderlich, dass der Schriftgebrauch erst dann eine abgerundete Ausdrucksform bekommt, wenn das Kind eine erste Stufe der Schreibgeläufigkeit erreicht hat. Sobald das der Fall ist, benutzen Kinder Schrift häufig zu Ausdruckszwecken. Das erste, was meistens ausgedrückt wird, sind Bekundungen von Zuneigung. Dabei entstehen häufig kleine Liebesbriefchen: "MAMI ich lipe tich" steht zusammen mit einem gemalten Herz auf einem Zettel, der mit Magnetknopf am Kühlschrank hängt oder "SchLAF gud Mami" wird heimlich aufs Kopfkissen gelegt. Aber auch die Lehrerin, der Lehrer erhält Bekundungen der Zuneigung. In der achten Schulwoche fand der Lehrer Franz B. den folgenden Brief von Roland auf seinem Pult:

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Das obige Beispiel von Roland ist in einem weiteren Punkt typisch für die vorherrschende Schriftverwendung von Erstklässlern: im Zentrum ihres freiwilligen, spontanen, nicht durch die Lehrerin angeordneten Schreib-Tuns steht die Kombination von Zeichnungen mit Texten. Dabei zeigt sich im Verlauf der Zeit eine deutliche Schwerpunktverlagerung: zu Beginn der Entwicklung findet man Zeichnungen mit erläuterndem Text, am Schluss Texte mit erläuternden Zeichnungen:

Die letzte Stufe von Schriftverwendung ist die Stufe von Beeinflussungsversuchen. Mit Hilfe von Schrift und der "Mächtigkeit" von Sprache versuchen schon Erstklässler sich nicht nur auszudrücken, sondern Einfluss zu nehmen. Kinder realisieren sehr rasch, auch ohne dass man sie eigens darauf hinweist, dass schriftlich Festgehaltenes präziser ist, mithin einen irgendwie höheren, verbindlicheren Stellenwert hat und mehr gilt als das blosse Wort, das mit seinem Ausgesprochenwerden im Raum verhallt und "vorbei" ist. Dass in der Schule schriftliche Prüfungen wesentlicher sind als mündliche, wissen sie häufig von älteren Schülern und dass in der Welt der Erwachsenen schriftlich fixierte Verträge grössere Geltung haben (obwohl das Obligationenrecht auch die mündliche Vereinbarung schützt) leuchtet ihnen ein; sie begreifen, warum eine

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schriftliche Beleidigung zivilrechtlich einklagbar ist, während das mit einem mündlich ausgesprochenen Schimpfwort weniger geht: Als Yvonne von ihrem älteren Bruder Marc wieder einmal schikaniert und geschlagen wurde, zog sich Yvonne zornentbrannt in die Küche zurück und begann zu schreiben. Anschliessend stellte sie sich herausfordernd vor Marc hin und hielt ihm einen Zettel unter die Nase: "PLÖDER AF" stand da gross und deutlich. - Damit hatte sie's ihrem Bruder "gegeben", schriftlich, schwarz auf weiss. Als ich vergangenen Herbst vergessen hatte, die Halbklasse A über eine Stundenplanänderung zu orientieren und die Halbklasse A deshalb nicht am "Blupofon"-Konzert teilnehmen konnte, (Konzert einer umherziehenden Artistengruppe mit ausgedienten Ofenrohren) legte Marijana schriftlich - und daher besonders nachdrücklich - Protest ein:

Ich habe auch Formen "stillen" Protestes angetroffen. Als ich im Winter einmal - psychologisch sehr ungeschickt, wie ich inzwischen begriffen habe - Rechenaufgaben der Schüler nach der Kontrolle in den Papierkorb warf (weil ich mit diesen Übungsaufgaben kein "Museum" einrichten wollte und die Blätter früher oder später ohnehin auf dem Müll gelandet wären) reagierte Daiana betroffen. Sie widmete die Seite 31 ihres "Albums" diesem Vorfall:

Die skizzierte Stufenfolge in der Schriftverwendung ist keine zeitliche Folge und auch nur bedingt eine der Schreibkompetenz. Entscheidend sind die geistige Reife des Kindes und die Situation. Entsprechend können sich die Stufen. bzw Funktionen im Schreibverhalten der Kinder vermischen. So zeigt das nachstehende Samichlaus-Beispiel von Thomas, dass Schriftgebrauch zu Beeinflussungszwecken unter besonderen Umständen schon bei Kindern mit erst wenig Schreibkompetenz auftreten kann; ein Kind kann nur schon über das Verschriften eines einzigen - oder sogar seines ersten - Wortes versuchen, von der Macht der Sprache Gebrauch zu machen.

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Es war etwa in der achten Schulwoche, Mitte Juni (das Beispiel stammt aus der Zeit, als das Schuljahr noch nach Ostern begann). Thomas teilt mit: "Ich zaichne en Schlumpf". Nach einiger Zeit, da das entstehende Werk kaum einem Schlumpf ähnelt, interpretiert er die Zeichnung um: "Näi, ich zäichne es Huus - s Huus vom Samichlaus“ (Samichlaus = St. Nikolaus. In der Schweiz kommt am 6. Dezember ein richtiger Nikolaus ins Haus, mit Sack und Rute, und möchte wissen, ob die Kinder das ganze Jahr über auch anständig und lieb gewesen seien. Natürlich gibt es viele, gute Dinge aus dem Nikolaus-Sack). Dass Thomas zehn Tage vor dem Bündelitag (in der Schweiz der 1. Sommer-Ferientag, an dem das „Bündel geschnürt“ wird, um in die Ferien zu verreisen) den Samichlaus erwähnt, überrascht die Lehrerin, und sie verfolgt die Szene aufmerksam. Sandra fragt ganz arglos: "Chunnt de Samichlaus au zu dir?" "Näi, näi", wehrt Thomas erschreckt ab - wobei deutlich wird, dass Thomas ausweicht und Angst hat. (Später stellt sich heraus, dass die Mutter disziplinarische Schwierigkeiten mit Thomas hat, weshalb sie versucht, sich mit massiven Samichlaus-Drohungen bei ihrem Sohn Respekt zu verschaffen.) Die Lehrerin ahnt, dass Thomas ein Problem hat und schaltet sich ein: "Das ist aber ein schönes Haus, so mitten im Wald. Und das da? Ist das der Stall für den Esel? Vielleicht sollte man das Haus anschreiben, damit man weiss, dass hier der Samichlaus wohnt. Aber das wirst du wohl noch nicht können, denn Samichlaus ist ja kein einfaches Wort." "Moll, ich cha Samichlaus schriibe", widerspricht Thomas und lässt sich herausfordern. Und tatsächlich gelingt es Thomas, "Samichlaus" zu schreiben. Lange und offensichtlich befriedigt blickt er auf das selbstgeschriebene Wort - dann geht er durch die Klasse und berichtet allen Kameraden: "Das heisst Samichlaus." Wer möchte hier am Phänomen der Wortmagie zweifeln? Thomas hat sich mit dem Aufschreiben ganz offensichtlich seiner Angst vor dem Samichlaus gestellt und diese "schreibemächtig" verringert. Ein Aspekt, der Laien angesichts der ersten Schreibprodukte von Erst- und Zweitklässlern häufig irritiert, ist der normative. Die kindlichen Schreibungen stecken voller Fehler: die Kinder schreiben orthographisch laut- statt dudengemäss, sie verwenden mundartliche statt hochdeutsche Ausdrücke und Wendungen, ihr Stil ist "Rede" statt "Schreibe". Diese Fehler sind vielen Erwachsenen ein Riesenproblem - und den Kindern überhaupt nicht. Die Forderungen Konrad Duden's werden schlicht ignoriert (was, wie Erfahrungen aus dem Unterricht zeigen, ohne Folgen bleibt. Bei pädagogisch vernünftiger Haltung der Lehrerin löst sich das Problem von selbst). Der Unterschied zwischen Mundart und Standardsprache wird "übersprungen"; jedenfalls scheint er Erstklässlern subjektiv keine Schwierigkeiten zu bereiten. Objektiv ist ihre Sprache natürlich nicht standardgemäss. Samuel schrieb zu einer Ferienzeichnung "Die Sone scheint auf denen bergen" und hielt dies durchaus für "Schrift"deutsch; während ich erst nach einigem Nachdenken erfasste, dass er nicht " ... auf den Bergen", sondern " ... auf diesen Bergen" meinte. Er hatte "falsch" übersetzt: " ... uff däne Bärge." wurde " ... auf denen ..." Die Kinder wissen, dass man beim Schreiben Schriftdeutsch verwendet, erfassen auch Unterschiede, bleiben in ihrer Unbekümmertheit aber unbelastet gegenüber ihren hochsprachlichen Unbeholfenheiten. Anders ist es mit dem Verhältnis "Rede"/"Schreibe". Kinder haben Schwierigkeiten mit den Unterschieden zwischen gesprochener und geschriebener Sprache. Die andere Syntax und vor allem die grössere Präzision, die schriftliche Sprache auszeichnet und erfordert, bereiten vielen Kindern erhebliche Mühe. Sie sind anfänglich nicht im Stande, komplexere Sachverhalte, die sie mündlich durchaus verstehen, schriftlich zu formulieren. Sie scheinen unbewusst zu verstehen,

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dass geschriebene Sprache nicht nur präziser, sondern dadurch auch verbindlicher ist und haben teilweise eine Scheu davor. Als ich gegen Ende des 1. Schuljahrs in meiner Klasse "Lernverträge" einführte, wo Kinder notierten, welches Arbeitspensum sie sich in den kommenden Wochen vornehmen wollten, da weigerte sich Ivan zuerst, seinen Vertrag zu unterschreiben, obwohl die Arbeitsauswahl von ihm freigewählt und zusammengestellt war. Er ahnte die Verbindlichkeit des schriftlichen Vertrags und wollte sich nicht festlegen. Die längere "Haltbarkeit" und die grössere Verbindlichkeit schriftlich festgehaltener Sprache, also das, worin die Schriftsprache der Sprechsprache überlegen ist, wird von den meisten Kindern instinktiv erfasst. Sie schreiben nicht nur, weil sie in der Schule schreiben müssen und weil "das Mami" sich darüber freut. Alle Beobachtungen belegen, dass Kinder die Schrift zu brauchen wissen, und prinzipiell die selben Formen brauchen, wie auch Erwachsene. (Lediglich ästhetische Aspekte scheinen zu fehlen. Die Schönheit eines Buchstabens, der mögliche ästhetische Wert einer Schrift scheinen noch ausserhalb des Horziontes von Erstklässlern zu stehen. Zierbuchstaben oder kalligrafische Bemühungen anderer Art konnte ich nie ausmachen. Das einzige Gestaltungselement, das man beobachten kann, sind frühe Versuche in verbundener Schrift (beispielsweise einen Text mit einer verbunden geschriebenen Überschrift zu versehen). Verbunden zu schreiben, wenigstens den eigenen Namen, hat aber wahrscheinlich nichts mit einer Art Schönheitsbedürfnis zu tun, sondern entspringt dem Wunsch nach schulischem Weiterkommen, um die nächste Beherrschungsstufe von der Druckschrift zur Schreibschrift zu erreichen. Sogar die für mich höchste Form des Schreibens, die schreibende Vergewisserung im Denken, findet sich. Was Marco in seinem "Meinungsbuch" eingetragen hat, imponiert mir und das naiv-metaphysische Lebensgefühl, das Matthias mit seiner unbeholfenen Zeichnung einer Rollbrettbahn - als Teil der Schöpfung - zum Ausdruck bringt, erfüllt mich mit Staunen, ja ich bewundere die Tiefe seiner Darstellung.

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Wie Kinder mit Schrift umgehen ist alles in allem zutiefst erstaunlich und manchmal sogar beglückend. Es gibt eigentlich nur einen Wermuthstropfen. Bei den vielfältigen individuellen Unterschieden zwischen Kindern gibt es leider auch solche, die, in sogenannt "schriftfernen Milieus" aufwachsend, letztlich keine tiefere Beziehung zur Schrift, zum Lesen und Schreiben entwickeln. Diese Kinder könnten an sich zwar lesen und schreiben, aber es fehlt ihnen jegliche Motivation - sie tun es nicht von sich aus. Was ihnen dadurch an Lebenschancen und -qualität entgeht, lässt sich kaum ermessen. Ihnen den Zugang zur Schrift gleichwohl zu öffnen, ist das Ziel vieler Lehrerinnen und Lehrer.

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Text-A08 Jürgen Reichen Plädoyer für einen Paradigmenwechsel im Erstleseunterricht (Beitrag zur UNESCO-Tagung „Probleme der Alphabetisierung“ vom 4. - 7. November 1990 in Bregenz) Weltweit sind in der jüngeren Generation die Lese- und Schreibfähigkeiten stark rückläufig. Für diesen schockierenden Befund wird allgemein das Fernsehen verantwortlich gemacht: Weil die Leute immer mehr fernsehen, statt Bücher zu lesen, gehen ihre Lesefähigkeiten zurück; die in der Schule einstmals erworbene Schriftsprachkompetenz verkümmert infolge Nichtgebrauchs. Nun steht zwar der Rückgang der Lesefähigkeiten in einem direkten Verhältnis zum Fernsehkonsum. Aber die ganze Erklärung kann das Phänomen Fernsehen nicht sein. Üblicherweise können wir doch die Erfahrung machen, dass wir eine Sache, die wir wirklich gelernt haben, nicht mehr verlernen (höchstens einige Einzelheiten vergessen). Daher stellt sich für mich im Falle der rückläufigen Lesefähigkeiten eine andere Frage: Wurden Lesen und Schreiben in der Schule überhaupt richtig und angemessen vermittelt? Muss man nicht auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Lese-SchreibFähigkeiten vieler Leute im Alltag überhaupt erst verkümmern können, weil sie in der Schule nur unzureichend gelernt wurden? Ich gehe jedenfalls im Nachfolgenden davon aus, dass vor allem der Erstleseunterricht falsch konzipiert ist. Er errichtet nur ein brüchiges Fundament, das weiterführenden Lernprozessen keine tragfähige Basis bietet. Im ersten Moment mag diese Behauptung befremden. Nachdem die Leute früher offenbar besser lesen konnten, wäre ja zu folgern, der Leseunterricht sei früher besser gewesen. Das war er natürlich nicht. Aber früher waren die Alltagsverhältnisse anders: weil es kein Fernsehen (und kein Telefon!) gab, waren die Leute eher aufs Lesen (und Schreiben!) angewiesen. Der Alltag machte Lesen und Schreiben erforderlich und war so eine Ergänzung und ein Korrektiv zum Schulunterricht. Die in der Schule nur schwach entwickelten Lese- und Schreibfähigkeiten wurden durch den Alltagsgebrauch gestärkt. Heute ist diese "Alltagsunterstützung" für das Schreiben und Lesen geringer und nun wird erkennbar, dass der Lese- und Schreibunterricht mangelhaft ist. Dies hätte man allerdings auch schon früher bemerken können - wenn wir den Skandal "Legasthenie" mit anderen Augen betrachtet hätten. Aber weil Gründe und Ursachen der "Legasthenie" kaum im Schulunterricht, sondern vorab bei den betroffenen Kindern und ihren Milieus gesucht wurden, war Legasthenie kein Hinweis auf einen prinzipiell verfehlten Leseunterricht. Warum eigentlich nicht? Wenn einzelne Kinder mit unseren "normalen" Methoden nicht zurechtkommen, heisst das doch nicht zum vornherein, dass die Kinder "anormal" sind. Ihr Versagen kann auch an den Methoden liegen. Nachdem überall sonst in der Methodik der Grundsatz gilt, dass sich die Tauglichkeit einer Methode am "pädagogischen Notfall", also da wo Minderbegabung und Leistungsbeeinträchtigung vorliegen, zu bewähren habe, wäre Legasthenie ein Anlass, über unsere Erstlesemethoden nachzudenken. Wie bekannt, wurde das bislang nicht ausdrücklich gemacht. Dabei sind unsere üblichen Verfahren m.E. grundsätzlich unzureichend und werden nur praktiziert, weil sie nicht prinzipiell

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diskutiert und überprüft werden. Dies hat historische Gründe: Für den Leseunterricht stand die Methodenfrage während Jahrzehnten unter dem Unstern "Methodenstreit". Dieser jahrzehntelang dauernde Konflikt, der manch ein menschliches Zerwürfnis mit "kriegsähnlichen" Zuständen in vielen Lehrerkollegien zur Folge hatte und in der Sache unentschieden blieb, wurde nicht wissenschaftlich, sondern "psychologisch" gelöst - Methodenfragen wurden zum Tabu, d.h. aus Furcht vor einem neuen Methodenstreit werden methodische Fragen nicht mehr gestellt. So verständlich diese Haltung auch sein mag, der Sache des Lesens dient sie nicht. Nun wird das Unzulängliche des herkömmlichen Leseunterrichts allerdings auch von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Nachdem der schleichende Zerfall unserer Lesekultur aber ein Prozess ist, der die Gesellschaft zentral berührt, stellt sich die Frage, woher dieses Desinteresse rührt? Ich kann es mir nur so vorstellen: Der massgebende Teil dieser Öffentlichkeit (Kulturschaffende, Journalisten, Führungskräfte in Politik, Verwaltung und Wirtschaft) kann gut lesen und schreiben und glaubt, er habe es in der Schule gelernt. Ein Anlass zur Kritik am schulischen Leseunterricht besteht für diesen Personenkreis nicht. Dabei können diejenigen, die problemlos lesen und schreiben können, dieses nicht wegen, sondern trotz des schulischen Leseunterrichts. Wer eine derart provokative Behauptung aufstellt, muss diese begründen. Deshalb frage ich: Was tun Sie, wenn Sie den Blick auf die folgende Zeile richten? Caprivi lerko ten hokker, en dano lasar. Lesen Sie? Ich meine nein. Da von Lesen nur dann zu reden ist, wenn man verstanden hat, was man liest, Sie den Text den Extra-Zeile aber nicht verstehen, können Sie ihn nicht lesen. Was Sie können ist, den Text laut vorlesen (jedenfalls in deutscher Betonung). Diese Feststellung ist wichtig, denn offenbar ist lautes Vorlesen etwas anderes als durch Lesen verstehen und auch möglich ohne Sinnverständnis. Erinnern Sie sich nun an die Schulzeit: Im Erstleseunterricht lernten Sie nicht in erster Linie lesen als verstehen, sondern "laut Vorlesen". Gute Noten bekamen jene Kinder, die schön und fliessend vorlesen konnten. Ob der Text auch verstanden war, wurde im allgemeinen nicht ausdrücklich überprüft, sondern stillschweigend vorausgesetzt in der Annahme, wer einen Text vorlesen könne, würde ihn auch verstehen. Doch gerade dies ist nicht der Fall: Man kann einen Text auch vorlesen, wenn man ihn nicht versteht! Wenn Lesen "Verstehen" bedeutet, das laute Vorlesen das Verstehen aber nicht garantiert, dann fragt sich natürlich, was braucht es denn, damit man versteht? Vor Jahren unternahm ich den Versuch, die "Phänomenologie des Geistes" von HEGEL zu lesen - und konnte praktisch nichts verstehen. Das hat mich geärgert, und nachdem ich den Text nicht verstand, wollte ich wenigstens wissen, warum. Dabei stiess ich auf drei Punkte: - fehlender Wortschatz/Begrifflichkeit - mangelhafte Vorkenntnisse - zu wenig Intelligenz Was hingegen keine Rolle spielte, war die Lesetechnik. Vorlesen konnte ich den HEGEL problemlos, sogar mit rhetorischer Raffinesse, nur verstehen konnte ich ihn nicht. Da es aber wohl für jeden Menschen, der die Lesetechnik beherrscht, einen Text in seiner Muttersprache gibt, den er trotz Lesetechnik nicht versteht, hat das Konsequenzen. Wesentlich für die Leseerziehung ist nicht die Förderung der sog. Lesetechnik. Wichtig ist: - hohe Sprachkompetenz (Erweiterung von

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Wortschatz/Begriffssystem) - Vermittlung einer systematischen Welt-, Sach- und Lebenskenntnis - intensive Denkschulung. Die hergebrachte Lesetechnik ist unwichtig, ja womöglich sogar schädlich, gaukelt sie dem Kind doch vor, mit ihr könne es lesen, dabei ist sie bloss eine Technik des Umwandelns von Zeichen in Laute. Mit ihr kann man Vorlesen, aber nicht unbedingt Texte verstehen. Wir müssen daher unsere Frage nochmals stellen: Was heisst lesen? Was geschieht, wenn Ihr Blick auf die nachstehenden Kästchen fällt?

Wenn Ihnen Vergleichbares passiert wie mir, dann ist es folgendes: Ich erkenne links die Abbildung eines Apfels und zwar "sofort" und gleichsam "automatisch", also ohne dass ich einen spezifischen Willensakt vollziehen muss. Die Apfelbedeutung der Abbildung teilt sich mir ohne irgendein besonderes Zutun meinerseits - quasi von ihr selbst her - mit. Interessanterweise geschieht mir beim Kästchen rechts Ähnliches. Sobald mein Blick auf das Wort fällt, erkenne ich ohne besonderes Zutun seine Bedeutung. Als kompetenter Leser "hänge ich keine Laute aneinander", ich "schleife nichts zusammen" und ich bin mir auch nicht bewusst, einen sinnstiftenden Akt vorzunehmen. Ich "teste keine Hypothesen" und frage mich nie, was "das da heissen könnte"? Ja, bei meinem Lesen kommt es nicht einmal zu einer innergedanklichen Artikulation, d.h. ich lese mir in Gedanken nicht selber vor, ich höre keine Worte im inneren Gespräch, ich erfasse die Bedeutung von "Birne" direkt auf der Ebene der Begrifflichkeit unter Umgehung einer innerlich hörbaren Wortgestalt. Ich erlebe das Lesen als etwas ähnliches wie das Betrachten von Dingen oder Abbildungen. Ich sehe eine Kuh und die Erkenntnis, dass es sich um eine Kuh handelt, erschliesst sich mir von selbst, so als ob ich gleichsam von der Bedeutungshaftigkeit ihres "Kuh-Seins" angesprungen würde. Bei Wörtern ist es ähnlich, auch von ihnen werde ich "angesprungen" und kann mich dagegen nicht einmal "wehren". D.h. wenn mein Blick auf Wörter fällt, "erschliesst" sich mir ihre Bedeutung, selbst wenn ich, etwa im Falle von Reklame oder Propaganda, sie gar nicht wissen will. Dies ist für mich "Lesen" und hat nichts mit dem zu tun, was ich in vielen Schulklassen mit traditionellem Erstleseunterricht antreffe. Es handelt sich um einen reinen "Automatismus" bei dem didaktisch nur die Frage interessant ist, wie er zustande kommt. Was heisst Lesen? Wie schafft es der menschliche Geist eigentlich, aus einer Menge von Punkten, Strichen, Kurven, deren Abbilder auf unsere Netzhaut treffen, z.B. den Begriff "Umweltschutz" zu entnehmen? Wie Sie wissen gibt es auf diese Frage zur Zeit keine abschliessende Antwort. Beim kompetenten Leser "funktioniert" das Lesen einfach, so wie unsere Verdauung funktioniert, unsere Atmung, unser Kreislauf usw. Didaktisch ist dabei lediglich von Belang, dass der Leser das Lesen irgendwann irgendwie gelernt hat. Und für schulische Zwecke würde es zunächst völlig ausreichen, wenn wir wüssten, wie er es lernte, welche Lernprozesse beteiligt sind. Dass es die Lernprozesse waren, welche der schulische Leseunterricht organisierte, bezweifle ich. Wäre das der Fall, dann hätten wir nicht die Probleme, die wir mit dem Lesen haben, dann könnten fast alle

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Leute gut lesen und schreiben. Die Sache liegt anders und - jedenfalls didaktisch - viel einfacher, als man denkt. Halten wir noch einmal fest, worauf es beim Lesen ankommt: auf das Verstehen von Sprache, welche in der Form optischer Zeichen (Buchstaben) verschlüsselt ist, durch Lichtwellen auf unsere Netzhaut gelangt und in unserem Geist verstanden wird. Nun ist dies gewiss ein Wunder, aber kein singuläres. In anderer Form, nämlich in akustischer, ist es ein tägliches Ereignis, mit dem wir nicht im entferntesten soviel Probleme haben: mit unserer mündlichen Kommunikation. Lesen muss ähnlich sein wie Hören. Zwar hat man immer schon Schreiben mit Sprechen und Lesen mit Hören verglichen, aber den Vergleich m.E. nicht konsequent zu Ende gedacht. Deshalb frage ich jetzt: was heisst eigentlich hören? Wie schafft es der menschliche Geist eigentlich, aus einer Folge von immer wieder gleichen Lauten, deren Nachhall in einem zeitlichen Hintereinander auf unser Trommelfell trifft, eine sprachliche Bedeutung zu entnehmen? Auf diese Frage wissen wir ebenfalls keine endgültige Antwort. Wir wissen auch hier höchstens Zweierlei: - Bei kleinen Kindern funktioniert es noch nicht. Sie hören wohl Laute, verstehen sie aber nicht. Sie müssen dies zuerst lernen. - Wenn man "es kann", dann funktioniert es automatisch, so wie unser ganzer Organismus funktioniert. Für das Folgende ist nun wichtig, dass das Eigentliche an der Sprache nicht die "Geräusche" sind, mit deren Hilfe wir uns im Alltag unterhalten. Der Kern der Sprache sind Begriffe und die Strukturen, mit denen begriffliche Zusammenhänge darstellbar werden. Der Begriff ist etwas rein Geistiges. Mit seiner Hilfe können wir uns hier und jetzt sowohl über das Hier und Jetzt als auch über raum-zeitlich nicht anwesende Dinge unterhalten. Aber weil wir uns nicht telepathisch verständigen können, müssen wir den Begriff zum Kommunizieren in ein hier und jetzt anwesendes physikalisches Medium "einpacken" und "transportabel" machen. Dies kann auf vielfältige Weise geschehen: z.B. mit Hilfe von Kehlkopfgeräuschen (d.h. Lauten, die wir hören) oder durch Graphitspuren auf Papier (d.h. Buchstaben, die wir sehen); durch Rhythmen (wie man sie als Kombination von kurz/lang im Morse-Alphabet benutzt, und die man hören oder sehen kann); durch taktile Signale (Blindenschrift, die sich ertasten lässt); aber auch durch mathematische Varianten (Digital-Code im Computer, der sich als Magnetstruktur speichern lässt). Wir können also Begriffe auf die verschiedensten Weisen durch eine entsprechend vereinbarte Codierung symbolisch darstellen. Bei der gesprochenen Sprache geschieht dies durch Laute, bei der geschriebenen durch Buchstaben, das aber ist der einzige Unterschied, im Prinzip sind die Handhabung der Sprechsprache und die der Schreibsprache gleich. In der Schule lernten wir freilich anderes. Da wurde das Lesen dem Hören nachgeordnet. Doch fragt sich: Verstehen wir Geschriebenes tatsächlich nur, nachdem es in eine Lautfolge umgesetzt wurde oder verstehen wir direkt? Setzen wir Zeichen in Laute um und Laute in Begriffe oder können wir evtl. Zeichen direkt einem Begriff zuordnen? Beim Vorlesen sucht man über die Laute zu verstehen. Wie aber ist das beim stillen Lesen? Setzen wir beim stillen Lesen auch Zeichen in Laute um? Oder anders gefragt: Ist stilles Lesen eigentlich ein inneres Sich-selber-Vorlesen?

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Nun weiss ich natürlich nicht, wie das bei Ihnen ist. Meine Selbsterfahrung zeigt Verschiedenes: manchmal lese ich mir selber vor, "höre" also den Text im inneren Selbstgespräch, manchmal verstehe ich ganze Textpassagen unmittelbar, indem ich den Sinn direkt den Buchstaben entnehme (überfliegendes Lesen), meist jedoch ist es gleichsam ein "halbes Vorlesen", wo mir scheint, dass ich Wörter an-artikuliere, d.h. mit einer inneren Artikulation anfange, diese aber nicht fertig mache. In der Selbstbeobachtung diesen Phänomenen nachzuspüren, ist nicht ganz einfach. Und auch die Frage, inwieweit wir beim stillen Lesen den Text innergedanklich artikulieren und wieweit nicht, ist schwierig. Darum möchte ich für unseren Zusammenhang lediglich auf Zweierlei verweisen: 1. Beim stillen Lesen ist das Artikulieren des Textes im inneren Selbstgespräch nicht Voraussetzung für das Verstehen. Wir können jedenfalls im Grossen und Ganzen - von den Buchstaben direkt zum Begriff "wechseln". Das bezeugen alle geübten Leser, vor allem die sog. "Schnellleser", die im Stande sind, die Informationen einer ganzen Seite mit einem Blick zu erfassen. Vor dieser Höchstform des Lesens erweist sich die Orientierung am Laut als unnötiger, vielleicht sogar schädlicher Umweg! 2. Wenn ich innergedanklich noch immer einen Teil des Textes ausartikuliere, gleichsam als Begleitphänomen, dann - so vermute ich, stammen diese Artikulationsreste daher, dass ich als Kind früher lernte, dass Lesen ein Vorlesen sei. Es handelt sich also um Überreste eines falschen Lernverfahrens. Für diese Vermutung spricht die Beobachtung, dass Kinder, die nicht auf herkömmliche Weise lesen lernten, innergedanklich nicht artikulieren. Solche Kinder verstehen den Sinn von Texten durchaus, sind aber interessanterweise zunächst nicht in der Lage, den Text laut vorzulesen. Sie erfassen den Inhalt unartikuliert und erzählen dann sinngemäss, was sie gelesen haben. Hören und Lesen sind analoge Prozesse. Wenn ich über die sprachlichen Verständnisvoraussetzungen verfüge, deren es bedarf, um eine bestimmte Aussage zu verstehen, wenn ich also die verwendeten Begriffe kenne und ein minimales Vorwissen über die abgehandelte Sache habe, dann ist lesen als "sehendes Sprachverstehen" etwas Vergleichbares wie Zuhören, also "hörendes Sprachverstehen". Beim hörenden Sprachverstehen treffen hintereinander Laute aufs Trommelfell, die unser Geist "autonom zusammenschleift", d.h. versteht; beim sehenden Sprachverstehen treffen Nacheinander Zeichen auf die Netzhaut und werden verstanden. Es ist deshalb je länger je weniger einsehbar, warum es einfacher sein soll, aus einer flüchtigen Lautfolge "Sinn" zu entnehmen als aus einer stehenden Buchstabenkette: eine Lautkette, welche eine Botschaft transportiert ist nicht weniger abstrakt als eine Buchstabenkette. An sich gäbe es keinen Grund, das Hören als den einfacheren Vorgang zu betrachten als das Lesen. Und das ist es ja auch nicht: für den kompetenten Leser ist es sogar einfacher (jedenfalls wenn es sich um grössere und komplexe Informationsmengen handelt), Informationen lesend als hörend aufzunehmen. Wenn die beiden Vorgänge Hören und Lesen für viele Leute trotzdem nicht vergleichbar sind, d.h. wenn vielen Leuten zwar nicht das Hören und Sprechen, wohl aber das Lesen und Schreiben Mühe bereitet, dann liegt das nicht an den Phänomenen selbst, sondern an der Art und Weise, wie der Umgang mit ihnen erlernt wurde.

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Da bei uns alle Leute Sprechen und Hören können, gibt es diesbezüglich kaum Probleme - und für die kleinen Kinder, die es lernen, auch keine (schon gar keine staatlichen) didaktischen Hilfen. Weil andererseits nicht alle Leute mit Leichtigkeit Schreiben und Lesen können, gilt dies als etwas Anspruchsvolleres und als etwas, das die Kinder nur mit schulischer Hilfe lernen können. Daher lernen die Kinder Sprechen und Hören eigenaktiv und freiwillig in der natürlichen Alltagswelt; Lesen und Schreiben hingegen müssen sie fremdgesteuert in der Kunstwelt Schule lernen. Sprechen und Hören lernen die Kinder problemlos, Lesen und Schreiben lernen sie in der Schule teilweise mühsam und teilweise gar nicht. Muss das so sein? Nachdem die Handhabung der Zeichensprache vergleichbar ist mit der der Lautsprache, und nachdem beide Fähigkeiten erlernt werden müssen, denke ich, es müssten beiden Fähigkeiten auch vergleichbare Lernprozesse zugrundeliegen. Und wenn das so ist, dann heisst das: Lesen und Schreiben sollten Kinder so lernen, wie sie einige Jahre zuvor Hören und Sprechen lernten. Dass wir das bis anhin nicht so machten, liegt nicht in der - vermeintlich unterschiedlichen - Natur der beiden Lernbereiche, sondern ist Folge der historisch gewordenen Lernbedingungen (ein Punkt, auf den ich aus Platzgründen hier aber nicht eingehen kann). Wie lernen kleine Kinder Hören und Sprechen? Auch dieser Frage kann ich hier nur rudimentär nachgehen. Wichtig ist in unserem Zusammenhang zweierlei: 1. Entgegen der gängigen Meinung ist der Spracherwerb nicht das Produkt von Nachahmungsvorgängen. Es gilt ein Grundsatz von WYGOTSKI: Man lernt eine Sprache, insofern und insoweit als man sie braucht. Dabei ist das vorrangige Bedürfnis des Kindes nicht, verstehen zu wollen, was andere ihm sagen, etwa um zu erfahren, was die Mutter von ihm will, sondern das Kind will sprechen: es will sich mitteilen, will seinem Wollen Ausdruck geben und seine Wünsche kund tun. Die Sprache wird eigenaktiv erworben, wobei in der Regel das Sprechen vor dem Hören kommt, das Kind lernt gleichsam Hören durch Sprechen. 2. Kleine Kinder lernen die Sprache, ohne dass sie bei diesem Lernprozess von didaktisch geschultem Fachpersonal unterstützt oder begleitet werden. Der wohl wichtigste Lernprozess im Leben eines jeden Menschen wird ohne didaktische oder schulische Unterstützung bewältigt. Alles, was schulisches, didaktisch "durchdachtes" Lernen auszeichnet, fehlt hier: es gibt keine Lehrmittel, keine Lehrziele, keine Sprachlernstunden, keine Übungen, keine Prüfungen, keine Dauerkorrekturen und keine Zensuren. Niemand lehrt das Kind, wie der Begriff "Bleistift" in eine Folge von Lauten einzubringen ist, es macht auch niemand Lautübungen mit ihm - das schon gar nicht! - und niemand tut dieses oder ähnliches, weil alle solchen Massnahmen ganz offensichtlich unnötig sind. Der Spracherwerb vollzieht sich inzidentell: scheinbar von selbst, quasi nebenbei, ohne ausdrückliche Bemühung. Vor allem erwerben Kinder ihre Sprache nicht durch papageienartiges Nachplappern und nicht durch gezielte Übungen zum Nachsprechen von Lauten, Wörtern oder Sätzen, die ihnen Erwachsene vorsagen. Ihr Spracherwerb ist grundsätzlich aktiv und kreativ (etwa wenn sie eigene Begriffe bilden oder sich durch sprachliche Eigenkonstruktionen ausdrücken). Sie ahmen Sprache nicht nach, sondern erfinden und entdecken sie und korrigieren sie höchstens an der Erwachsenensprache.

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Vergleicht man die wesentlichen Merkmale des alltäglichen Sprech-Spracherwerbs kleiner Kinder mit denjenigen des schulischen Schrift-Spracherwerbs der Primarschüler, dann zeigt sich, dass die Schule alles Entscheidende gerade in entgegengesetzter Weise macht und wahrscheinlich gerade deshalb falsch. Im herkömmlichen Leseunterricht wird der Text nicht primär lesend verstanden, sondern laut vorgelesen. Das heisst: Der geschriebene Text wird in Sprechsprache über-setzt, als Sprechsprach-Botschaft angehört und dann - evtl. - verstanden. Beim Lesenlernen wird das Kind gezwungen, sich Buchstaben einzuprägen und diese mit einem Lautwert zu verbinden. Beim Lesen hat es dann jedes Zeichen in den zugehörigen Laut umzusetzen, soll daraufhin die Laute aneinanderhängen (zusammenschleifen) und der so entstandenen Lautgestalt einen Sinn entnehmen. Doch gerade dieses Verfahren versagt bei erwachsenen Analphabeten (die als kleine Kinder alle im Stande waren, sich eigenaktiv die Sprech-Sprache anzueignen). Zwar kennen fast alle von ihnen die Buchstaben und ihre Lautbedeutung, sie können Buchstaben auch aneinanderhängen - aber verstehen den Sinn des Geschriebenen trotzdem nicht. Mich erstaunt dies nicht. Das übliche Verfahren beschreitet einen Umweg und die weitverbreitete Meinung, Buchstaben seien als Lautrepräsentanten die "Träger" der geschriebenen Botschaft, man müsse die Buchstaben kennen, um die Botschaft zu verstehen, ist falsch. Wäre es so, dann wäre auch das Verstehen mündlicher Mitteilungen an die Vorkenntnis der Laute gebunden. Doch so ist es ja nicht - beim Sprechspracherwerb lernt das Kind keine Laute (es benutzt allenfalls welche) und beim Zuhören hören wir ebenfalls keine Laute, sondern verstehen Mitteilungen. Kinder zu zwingen, sich in endlosen Übungsreihen Buchstaben-Lautverbindungen einzuprägen, ist daher unnötig, ja sogar schädlich. Die Phonem-Graphem-Korrespondenz ist ein Konstrukt unseres analysierenden Verstandes, mit den geistigen Prozessen des Lesens und Verstehens hat sie m. E. nichts zu tun. Der Prozess des verstehenden Lesens ist ein geistiger Wahrnehmungsakt, die Wahrnehmungspsychologie aber weiss seit Jahrzehnten, dass unsere Wahrnehmung "kategorial" ist. D.h.: Unser Wahrnehmen ist zwar an Sinneseindrücke gebunden, aber was wir erleben (und verstehen!), sind nicht diese Sinneseindrücke als solche. Wir nehmen nicht Farben, Formen, Kontraste, Helligkeiten, Laute, Rhythmen, Düfte, Temperaturwerte usw. wahr, sondern Dinge und Ereignisse. Wir bemerken nichts von schnellen Luftdruckschwankungen, sondern hören eine Melodie; erleben nicht die Anwesenheit bestimmter Aerosole, sondern den Duft frischer Rosen. Ich höre kein Rattern, sondern das Vorbeifahren der Eisenbahn; sehe nicht unzählige Farbpunkte, die sich additiv gruppieren, wie die Elementenpsychologie meinte und der Pointillismus malte, sondern einen Baum, einen Tisch ... . Es ist gleichsam so, als ob unser Geist aufgrund eines allgemeinen und übergreifenden Weltwissens die Sinneseindrücke zwar benutzt, dann aber zugunsten der Realität kreativ modifiziert, und wirklichkeitsgemäss, ganzheitlich wahrnimmt. Entsprechend "hören" wir (ich wiederhole es) im Gespräch keine Laute, sondern stets eine Botschaft und der kompetente Leser "sieht" keine Buchstaben, er versteht sprachliche Aussagen. Wenn der Umgang mit Sprache sowohl mündlich wie schriftlich vergleichbar ist, wenn also Sprechen und Hören analog dem Schreiben und Lesen sind, und wenn hörendes Sprachverständnis erworben wird, indem das Kind aktiv spricht (Hören durch Sprechen), dann liegt die Annahme nahe, dass das Lesen schreibend gelernt wird - am besten so, wie kleine

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Kinder das Sprechen und Hören lernen: selbstgesteuert und eigenaktiv, ohne Didaktik und Lernzwang. Schreiben ist die Grundlage des Lesens, so wie es ja auch sachlogisch der ursprünglichere Akt ist: zuerst muss ein Text aufgeschrieben sein, bevor man ihn lesen kann. Dass uns im Alltag Lese- und Schreibfähigkeiten zunehmend Mühe bereiten findet hier seinen Grund: Weil wir im Alltag viel (auch innerlich) sprechen, macht uns das Hören keine Mühe; weil aber viele Leute im Alltag kaum schreiben, fehlt ihnen die Grundlage zum Lesen. Wer das Lesen fördern will, muss demnach beim Schreiben ansetzen - und da ist es besonders dringlich, dass das Schreiben erleichtert wird, d.h. nicht durch vorzeitige Rechtschreib- und Schriftnormanforderungen belastet bleibt. Mithin sind andere Erstleseverfahren erforderlich, die den Schrift-Spracherwerb am Sprech-Spracherwerb ausrichten und von Anfang an das Verstehen - und nur das Verstehen - ins Auge fassen. Eine entsprechende Methode ist vor einigen Jahren von mir entwickelt worden: "Lesen durch Schreiben". So wie beim alltäglichen Sprech-Spracherwerb das eigene, aktive Sprechen des Kindes (nicht das Zuhören) im Vordergrund steht, ist hier das eigene, aktive Schreiben des Kindes der Mittelpunkt. Im Rahmen eines offenen Unterrichts lernt das Kind zunächst nicht Lesen, sondern wie Sprache verschriftet wird. Das Lesenkönnen entwickelt sich dann als "automatisches Begleitprodukt" des Schreibens. Dabei wird keine Lesetechnik vermittelt, statt dessen wird eine umfassende Förderung und Erweiterung des Sprachkönnens, der Wahrnehmungs- und Verstehensfähigkeiten angebahnt. Endziel ist von Anfang an die Höchstform des Lesens: das direkte Verstehen von Sprache ohne Umweg über den Laut. Wer auf dieser Leistungsstufe lesen kann, kann unbeschadet zuweilen einen Fernseh-Krimi anschauen, ohne dass er befürchten muss, er "verlerne" das Lesen wieder. Es bleibt eine letzte Frage: Wenn die Leute, die lesen können, dieses nicht wegen, sondern trotz des Erstleseunterrichts können, wie haben sie es dann gelernt? Ich denke: durch das eigene Schreiben im 2. Schuljahr. Wer im Anschluss an das laute Vorlesen des 1. Schuljahrs (welches bei Lichte betrachtet kein Lesen ist) im Verlauf des 2. Schuljahrs auch selbstgesteuert schreiben lernte, lernte eines Tages "durch Schreiben" auch das Lesen.

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Text-A09 Jürgen Reichen Werkstattunterricht: Gemeinsam statt einsam lernen erschienen in Magazin Primarschule 2/1990 "Wir lernen gemeinsam" - was kann das in unserem Schulsystem bedeuten? Wer ist "Wir"? Was heisst "gemeinsam"? Und was soll das sein: gemeinsam lernen? Wir: Von "Wir" kann meiner Meinung nach nur die Rede sein, wenn in diesem Plural die Lehrerin miteingeschlossen ist. "Wir lernen gemeinsam" heisst dann: "Die Schüler und die Lehrerin lernen gemeinsam". "Wir" erfordert, dass die Lehrerin mitlernt. Zwar hat sie nicht mehr "den Stoff" zu lernen, doch kann sie durch subtile Beobachtung der Kinder und durch ein offenes Eingehen auf das kindliche Lernen - vorab indem sie den Eigenwert des Kindlichen grundsätzlich anerkennt - ihre eigene pädagogische, didaktische, sozialpsychologische und lernpsychologische Kompetenz stetig erweitern. Eine Lehrerin, die selber lernfähig geblieben ist, und bereit ist, von ihren Schülern zu lernen, begünstigt mit ihrer lernoffenen Haltung das "Wir"-Gefühl in der Klasse sehr viel nachhaltiger als mit ihrer Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Heiterkeit etc. Gemeinsam: Der Mensch ist zwar ein sozial lebendes Geschöpf, trotzdem bleibt er unaufhebbar Individuum. Wir können unsere Erlebnisse, Gedanken, Stimmungen, Gefühle einander höchstens mit-teilen, an den Erlebnissen, Gedanken, Stimmungen, Gefühlen der anderen innerlich teilnehmen können wir aber nicht. Auch das Lernen ist ein innerer Vorgang, der grundsätzlich individuell bleibt. Gemeinsam ist lediglich der äussere Rahmen, in dem der Prozess abläuft. Dieser Rahmen kann ganz verschieden sein. Wenn er von vielen Einzelnen her akzeptiert wird und Zustimmung erfährt (wenn also die beteiligten Individuen "ja" zu ihm sagen), dann kann er eine "Wir"-Stimmung begründen und dann - so denke ich - kann er "gemeinsam" genannt werden. Aus dieser Vorbedingung heraus ist für mich auch klar, was "gemeinsam" hier bedeuten kann - schlicht und einfach: miteinander statt gegeneinander, sich ergänzen statt behindern, sich unterstützen statt konkurrenzieren u.ä.m. Lernen: "Gemeinsam lernen" ist in gewisser Weise ein Widerspruch in sich. Was Hänschen lernt, lernt er selbst. Keine Lehrerin, keine Kameraden und keine Eltern können ihm das Lernen abnehmen und quasi an seiner Statt etwas für ihn lernen. Es kann auch niemand an seinem inneren Lernprozess wirklich teilnehmen - der Lernprozess ist ein absolut individueller Vorgang. Daher lernt Hänschen grundsätzlich am besten, wenn man seinem Lernen möglichst viel individuellen Entfaltungsspielraum lässt. Dieser Entfaltungsspielraum wird jedoch durch einen gemeinsamen Rahmen von Äusserlichkeiten eher beschnitten als freigehalten. Je gemeinsamer, einheitlicher der Rahmen, umso weniger wird wirklich gelernt. Sollen in einer Schulklasse alle in der gleichen Art und Weise zur gleichen Zeit das Gleiche lernen, dann wird erstens nicht wirklich gelernt und zweitens entsteht auch keine Gemeinsamkeit - es fehlt die innere Zustimmung der Beteiligten. Ich war meinen Kameraden nie ferner und meine Abneigung gegenüber bestimmten Formen der Gemeinsamkeit war nie grösser als bei den sog. Marschübungen und der Zugschule in der Rekrutenschule, wo 20 - 100 junge Männer in den Gleichschritt gezwungen wurden und alle ihre Bewegungen hätten synchronisieren sollen. Hier war der äussere Rahmen, einschliesslich

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die uniforme Bekleidung, aufs höchste vereinheitlicht gemeinsam - und gleichzeitig das Gemeinsamkeit stiftende "Wir"-Gefühl aufs tiefste gestört. Gemeinsamkeit entsteht nur aus zustimmender Individualität. Daher ist für mich die geeignetste Möglichkeit, gemeinsames Lernen zu ermöglichen, ein umfassender Werkstattunterricht. Weil Werkstattunterricht von den Schülern in hohem Mass bejaht wird und zugleich ihre Individualität im Höchstmass respektiert, hat er alle Chancen, ein "Wir"-Gefühl zu begründen und dadurch gemeinsames Lernen zu begünstigen. Ein solcher Werkstattunterricht soll - mindestens 50% der Unterrichtszeit umfassen - ein grosses, abwechslungsreiches Lernangebot unter Einschluss von Freiräumen (Stichwort:

"freies" Lernangebot) aufweisen - gemeinsam geplant und verantwortet werden (Stichworte: Gemeinsam planen / Lernverträge /

Förderung von Selbstbeurteilungs-Fähigkeiten) - und nach dem Prinzip der Kompetenz- und Aufgabendelegation organisiert sein Nun ist hier nicht der Ort, eine umfassende Darstellung des Werkstattunterrichts zu geben. Dies scheint mir im Übrigen auch nicht mehr erforderlich. Seit Käthi Zürcher und Franz Schär im Kt. BE, sowie eine Arbeitsgruppe des SIPRI-Projektes im Kt. ZH dem Werkstattunterricht vor ein paar Jahren den Weg bereiteten, ist er inzwischen didaktisches Allgemeingut geworden.1) In seiner Grundidee - als "didaktisches Schwedenbüffet" mit verschiedenen Lernangeboten, aus dem die Schüler frei, wenngleich nach bestimmten Regeln auswählen - ist er mittlerweile weit verbreitet. Unklar scheinen hingegen einige Aspekte im Hinblick auf das gemeinsame Lernen. So wird gegenüber dem Werkstattunterricht gelegentlich die Befürchtung geäussert, er fördere seiner starken Individualisierung wegen eine soziale Vereinzelung der Schüler, begünstige einen ungehemmten Egoismus und bewirke eine "Ellbogen"-Mentalität. Ich halte diese Befürchtung für grundlos. Der Werkstattunterricht, den ich kennenlernte und selber erteile schafft im Gegenteil ein friedliches Miteinander mit einer ausgeprägten "Wir"-Stimmung. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Die Freiräume und Selbstbestimmungsmöglichkeiten, die der Werkstattunterricht dem Schüler gewährt bzw. belässt, vermindern soziale Spannungen und Frustrationen. Die freieren Sozialformen führen zu mehr Gesprächen und Zusammenarbeit und bewirken insgesamt ein friedlicheres Sozialklima. Dieses wird zusätzlich begünstigt. wenn die Lehrerin ihren Unterricht mit den Kindern gemeinsam plant und zwar jeweils am Ende des Quartals für das nächstfolgende: Schüler und Lehrerin wählen die interessierenden Sachthemen, setzen Schwerpunkte im Übungsprogramm, stellen Rahmenbedingungen auf und stecken sich Ziele in Form von Lern- und Arbeitsverträgen. Durch die gemeinsame Planung identifizieren sich die Schüler mit dem Unterricht. Entsprechend gross ist daher ihre Motivation - sie freuen sich auf die Arbeit, denn sie wollen das, was sie selbst tun können, auch selber tun. Dieses Selber-tun-Dürfen und Selbst-entscheiden-Können ist in einem Höchstmass lernfördernd (sofern sich die Schüler auf die Hilfe, das Vertrauen und das Einverständnis der Lehrerin verlassen können, das ihnen Sicherheit und Geborgenheit gibt).

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Diese gemeinsame Planung wird anschliessend individuell in Form von "Lernverträgen" festgeschrieben: Im Rahmen ihrer Möglichkeiten setzen sich die Schüler selbständig Lern- und Arbeitsziele und treffen mit der Lehrerin Vereinbarungen über die Schwerpunkte ihrer Arbeit, d.h. sie legen fest, was sie in einer Woche/einem Quartal erarbeiten und erreichen wollen. Diese Vereinbarungen und Absichten werden am Anschlagsbrett ausgehängt und sind für die Mitschüler einsehbar. Die Eltern erhalten eine Kopie "zur Kenntnis". Mit persönlichen Lernverträgen übernehmen die Schüler bewusst ein Stück Selbst-Verantwortung für ihre Lernprozesse. Aus dieser entsteht eine starke Anteilnahme, welche zur Folge hat, dass sie nicht nur selbständiger, sondern auch ziel-, verantwortungs- und lernbewusster arbeiten. Mit ihrer Selbständigkeit wächst auch ihre Sozialkompetenz, jedenfalls wenn die Selbständigkeit als freie Entfaltung des eigenen Willens nicht willkürlich und vermessen wird. Deshalb müssen Selbständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstentfaltung gebunden bleiben an Selbstbewusstsein, Selbstdisziplin, Selbstkritik, Selbstbegrenzung und Selbstbescheidung. Verantwortliche Selbständigkeit erfordert eine sachliche Selbstbeurteilung und nüchterne Selbsteinschätzung. Der Schüler muss also lernen, seine Arbeit selbstkritisch zu beurteilen, etwa indem er am Ende einer Unterrichtsstunde/eines Tages über seine Arbeit, sein Verhalten und sein Lernen nachdenkt. Im Vergleich mit sich selbst kann er so erfahren, wo er sich überschätzte bzw. Illusionen hingab, wo er sich vermehrt anstrengen muss etc. aber auch - was sehr wesentlich ist - dass er sein Lernen beeinflussen kann. Die Lehrerin unterstützt den Schüler bei diesem Entwicklungsprozess, indem sie - z.B. am Ende einer Woche - die Selbsteinschätzung des Schülers ergänzt mit Beobachtungen, die sie gemacht hat. Diese Mitteilung kann mündlich erfolgen oder schriftlich ins Wochenplanheft. Ein gemeinsam geplanter, in Lernverträgen festgeschriebener und selbstbeurteilter Werkstattunterricht fördert die Selbständigkeit der Schüler ungemein - doch kann man sich natürlich fragen, wo denn nun der Beitrag an ein "Wir"-Gefühl liegt? Ein starkes "Wir"-Gefühl mit einer gemeinsamen Verantwortung für das Lernen aller entsteht, wenn die Selbständigkeit der Schüler gleichsam "belohnt" wird, indem ihnen die Lehrerin Entscheidungskompetenzen überträgt, d.h. den Unterricht so weit als möglich nach dem Prinzip der Kompetenz- und Aufgabendelegation gestaltet: Kompetenz- und Aufgabendelegation bedeutet: im Rahmen einer Lernwerkstatt jeden Schüler mit bestimmten, effektiven Funktionen der Lehrerrolle verantwortlich zu betrauen. Dabei bedeutet effektive Funktion nicht, einem bestimmten Schüler zum Beispiel die Verantwortung für das Giessen der Zimmerpflanzen o.ä. zu übertragen, sondern ihm beispielsweise die Befugnis über Anordnung, Kontrolle und Korrektur der Hausaufgaben zu geben. In der Wirtschaft ist Kompetenz- und Aufgabendelegation nichts ungewöhnliches. Und aus der Wirtschaft weiss man auch, dass sich sogenannte "gute" Chefs von "schlechten" nicht zu letzt dadurch unterscheiden, dass gute Chefs delegieren können, während schlechte bei allen Angelegenheiten meinen, sie müssten sie selber erledigen. Dieses Modell ist - ein Stück weit - auch auf die Schule übertragbar. Die "gute" bzw. professionell souveräne Lehrerin fördert die

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Selbständigkeit der Schüler eben dadurch, dass sie ihnen Selbständigkeit gewährt, d.h. darauf verzichtet, alles selber vorzugeben, vorzumachen, anzuleiten etc. Im Rahmen von Werkstattunterricht ist eine solche Kompetenz- und Aufgabendelegation sehr gut möglich, weil man jedem Schüler Aufgaben zuweisen kann, die traditionell zu den Funktionen der Lehrerin gehören. So lässt sich z.B. jedem Schüler die Zuständigkeit für ein Lernangebot der Werkstatt übertragen. Neben seiner Hauptaufgabe, in der Werkstatt zu arbeiten und zumindest die obligatorischen Lernangebote zu erledigen, übernimmt der Schüler noch die Betreuung eines der Lernangebote, d.h.: - er ist für sein Angebot "Experte" und kann seinen Kameraden bei allfälligen Schwierigkeiten

helfen; - er beschafft und verwaltet allenfalls zum Angebot gehöriges, besonderes Material, - er führt eine Klassenliste und weiss, wer das Angebot bearbeitet hat und wer nicht; - er mahnt bei "obligatorischen" Angeboten die Kameraden, die in der Bearbeitung des

Angebots im Verzug sind; - er nimmt die Arbeitsergebnisse entgegen und korrigiert sie bei Bedarf; also alles, was sonst die Lehrerin rings um ein Angebot tut, erledigt nun der zuständige Schüler. Beispiele entsprechender "Pflichtenhefte" finden sich im Text „Werkstattunterricht“, der im Download-Bereich des Verlags Heinevetter, Hamburg (www.heinevetter-verlag.de) frei zugänglich ist. Selbstverständlich sind nicht alle Aufgaben und Funktionen, die man an die Schüler delegieren kann, gleicherweise attraktiv bzw. mit echten Kompetenzen ausgestattet. Da jedoch grundsätzlich alle Aufgaben und Funktionen unter denen ausgelost werden, die sich darum bewerben und mithin Chancengleichheit besteht, ist eine allgemeine Legitimation der Schüler untereinander gewährleistet. Eine kleine Einschränkung ergibt sich lediglich bei jenen Aufgaben, die spezifische "Qualifikationen" erfordern (Korrektur-Büro, Computer-"Chef" u.ä.), aber da es sich ja hier nicht um willkürliche Einschränkungen handelt, werden auch diese allgemein anerkannt. Zudem gilt eine bestimmte Kompetenz- und Aufgabendelegation nur für eine begrenzte Zeitdauer, sodass es im Verlauf eines Schuljahres zu einem minimalen Ausgleich kommt. Da auch eine Werkstatt nicht von Anfang an vollständig mit Lernangeboten bestückt ist, sondern über eine gewisse Zeit hinweg neue Lernangebote mit neuen "Pflichtenheften" hinzukommen, ergeben sich für Schüler, die vielleicht etwas weniger attraktive Betreuungspflichten haben, immer wieder neue Chancen. Individuelle Stärken und Schwächen der einzelnen Schüler bringen es natürlich mit sich, dass nicht jedes Kind für jede Aufgabe gleichermassen geeignet ist. Doch das darf die Lehrerin nie dazu bewegen, ein Kind zum Vornherein von bestimmten Kompetenzdelegationen auszuschliessen. Es sei nochmals mit Nachdruck betont: die ausserordentliche unterrichtliche Gesamtwirkung, welche man mit einer umfassenden und echten Kompetenz- und Aufgabendelegation erzielen kann, ist gebunden an die Voraussetzung absoluter Chancengleichheit für alle Schüler. Nur so entsteht eine generelle Legitimation, in der die Schüler bereit sind, auch Anweisungen und Aufträge von Kameraden entgegenzunehmen. Fühlen sich einzelne Kinder ausgeschlossen, ist damit zu rechnen, dass sie den Unterricht sabotieren. Begründete Einschränkungen und individuelle Anpassungen kann die Lehrerin in der Gestaltung der Pflichtenhefte vornehmen. Die Details der Pflichtenhefte sollen nämlich erst nach der Auslosung und dem Zuschlag einer Aufgabe im Gespräch zwischen Lehrerin und Schüler

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abschliessend festgelegt werden. In diesem Gespräch kann, ja muss man dann modifizieren. Ist z.B. ein schwacher Schüler Vortrags-"Chef" geworden, dann verzichtet man auf die Protokollierung der Klassenurteile im Anschluss an die Vorträge und begnügt sich mit der Organisation der Vorträge etc. Kompetenz- und Aufgabendelegation hat eine Reihe von Vorteilen. Sie entlastet einmal die Lehrerin von Routineverpflichtungen und bringt eine spürbare Erleichterung in organisatorischer Hinsicht, so dass sie Zeit und Kraft gewinnt. Viel wichtiger sind jedoch die Vorteile, welche die Kompetenz- und Aufgabendelegation für die Schüler bedeutet. Sie - fördert die Selbständigkeit - stärkt das Selbstvertrauen - steigert das Verantwortungsgefühl - vertieft das Beziehungsgeflecht unter den Kindern und steigert das "Wir"-Gefühl - führt zu einem allgemeinen Lernaustausch, regt weiteres Lernen an und motiviert zusätzlich

(zum Beispiel wenn ein Schüler aufgrund der zufälligen Ämter-Verteilung zum "Chef" eines Lernangebots wurde, das ihn an sich nicht so sehr interessiert hätte)

Diese positiven Wirkungen entfaltet die Kompetenz- und Aufgabendelegation allerdings nur - und das soll nochmals wiederholt werden! - wenn sie (1) echt ist, d.h. wirkliche Lehrerkompetenzen überträgt, weil sie getragen wird von einem prinzipiellen Vertrauen der Lehrerin den Schülern gegenüber und (2) alle Schüler gleichberechtigt beteiligt, auch die schwachen oder vorgeblich unzuverlässigen! "Ämter" wie etwa Reinigung der Wandtafel, Öffnen der Fenster während der Pause etc., wie sie immer schon vergeben wurden, sind nicht lernwirksam, da es sich im Grunde um wenig attraktive und wenig beliebte "Ämter" handelt; damit die Kompetenz- und Aufgabendelegation die obenerwähnten positiven Wirkungen entfaltet, müssen die Schüler mit wirklichen Kompetenzen und Verantwortungen betraut werden. Noch wesentlicher als die Übertragung echter Kompetenzen ist jedoch die Gleichberechtigung unter den Schülern. Wer einzelnen seiner Schüler aus charakterlichen, disziplinarischen oder leistungsmässigen Gründen die Übernahme einer effektiven Verantwortung nicht zutraut und diese Schüler vom System der klasseninternen Kompetenz- und Aufgabendelegation ausschliessen will, sollte auf entsprechende Massnahmen verzichten. Eine "halbherzig" praktizierte Kompetenz- und Aufgabendelegation führt nicht einfach nur zur halben positiven Wirkung, sondern wirkt sich gerade umgekehrt verheerend aus. Gerade schwache oder sogenannt "schwierige" Schüler reagieren auf eine echte Kompetenz- und Aufgabendelegation besonders gut, weil sie hier eine Möglichkeit haben, sich vertieft in die Klasse zu integrieren und sich nicht mehr an den Rand gedrängt fühlen: Kompetenz- und Aufgabendelegation bedeutet nämlich ineins Anerkennung der Person des Schülers, ist von der Lehrerin bestätigtes Zutrauen in sein Können und seine Integrität. Eine Unterrichtsorganisation mit weitreichender Kompetenz- und Aufgabendelegation ist keine Sache, die man anordnen kann und auch keine Sache, die sich innert einer Woche entwickelt. Eine solche Unterrichtsorganisation ist das Ergebnis eines längeren Prozesses, der, wenn er richtig verläuft, bei Kindern aber zu einem ausserordentlichen Grad an Selbständigkeit und Gemeinsamkeit führt.

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Wenn es stimmt, dass sich früh übt, "wer ein Meister werden will", dann ist ein umfassender Werkstattunterricht mit gemeinsamer Planung, Lernverträgen, Selbstbeurteilung und weitgehender Kompetenz- und Aufgabendelegation schon im 1. Schuljahr zu beginnen. Ich unterrichte zur Zeit Erstklässler und bei diesen funktioniert das System bereits - zwar noch nicht umfassend und reibungslos, doch in erkennbaren Ansätzen. Dass es zuweilen noch einzelne Schwierigkeiten gibt, tut m.E. der Sache keinen Abbruch, Kompetenzen und Aufgaben für andere verantwortlich zu übernehmen ist ein Lernprozess und verläuft wie alle Lernprozesse nicht immer kontinuierlich, sondern mit Stockungen und evtl. sogar Rückschlägen. Beispiel: Remy, ein schwacher Schüler (POS-Kind), der u.a. grosse Mühe bekundet, in seinem persönlichen Schulmaterial Ordnung zu halten, der regelmässig ein Heft vergisst oder ein Arbeitsblatt "vernuscht" und sich auf meine entsprechenden Vorhaltungen hin bisher kaum einsichtig oder gar besserungswillig zeigte, also die Tragweite seiner Unordentlichkeit noch nicht einzusehen vermochte, reagierte erstmals schuldbewusst, nach dem er als "Zeichnungschef" die gesammelten Zeichnungen, die ihm die Klassenkameraden anvertrauten, unauffindbar verlegte. Der Kommentar seines Sitznachbars - sinngemäss: "Wenn du deine Zeichnung verlierst, ist mir das egal, aber wenn du meine verloren hast, werde ich wütend" - hat ihn erstmals betroffen gemacht. Die Sache war ihm echt peinlich und ging ihm nahe genug, so dass ich überzeugt bin, Remy habe diese "Lektion" gelernt. Dass die Zeichnungen verschwunden blieben, ist zwar leicht ärgerlich, weil mit ihrem Verlust aber ein Persönlichkeitsgewinn für Remy "bezahlt" werden kann, hält sich der Ärger bei mir in engen Grenzen (zumal die Zeichnungen irgendeines Tages ja doch auf dem Müll landen, der Zuwachs an Verantwortungsbewusstsein bei Remy aber bleibt). Natürlich kann man sich fragen, ob der Ausdruck "Chef" glücklich gewählt sei und - was für mich schwerer ins Gewicht fällt - ob Kompetenz- und Aufgabendelegation nicht zu einer unbemerkten Hierachisierung bzw. einer Hierachieinflation führt. Ich gebe offen zu, dass ich auf diese Frage noch keine Antwort weiss. Der Begriff "Chef" stammt von den Kindern selbst. Sie sind alle gerne "Chef" und es ist ihrem Selbstbewusstein offensichtlich förderlich, dass sie Kompetenzen haben. Auch gefällt ihnen, dass sie mit ihren Fragen und Anliegen nicht dauernd zu mir kommen müssen, sondern unterein ander operieren können - es entsteht eine Art "Gegenmacht" gegen die Dominanz meiner Lehrerstellung. Als ich beispielsweise kürzlich Karin beim Verabschieden zurückhielt und meinte, sie könne den "Little Professor" (eine Art Taschenrechner) nicht nach Hause mitnehmen, berief sie sich auf die Erlaubnis des "Chefs" - und ich musste dies akzeptieren (denn andernfalls hätte ich die ganze Institution der Kompetenz- und Aufgabendelegation untergraben). Ich habe bislang auch nie bemerkt, dass die "Amts"-Autorität eines "Chefs" von den Kameraden missachtet bzw. vom "Chef" selbst missbraucht worden wäre. Die Kinder nehmen ihre Verpflichtungen sehr ernst. Natürlich gibt es Unterschiede der "Amtsführung": weil grundsätzlich alle Kinder gleichberechtigt sind und alle Ämter für alle offenstehen, so dass meistens ein Zufallsentscheid den "Chef" bestimmt, ist es in meiner Klasse beispielsweise dazu gekommen, dass zwei ganz unterschiedliche Kinder die Verantwortung für unsere "Leihbibliothek" (Bücher der Regenbogen-Lesekiste) übernommen haben. Die Kinder dürfen die Leseheftchen nach Hause mitnehmen, sind aber gehalten, dem "Chef" Meldung zu machen. Der "Chef" trägt in seiner Klassenliste ein, wer welches Leseheft zu Hause hat und ist dafür besorgt, dass die Hefte nach angemessener Zeit wieder zurückgebracht werden. Matthias aus der Abteilung A betreut dieses Amt umsichtig und gewissenhaft. Er ist stets informiert über ausgeliehene Lesehefte. Hassan, der "Chef" aus Abteilung B, übt sein Amt dagegen nur rudimentär aus, d.h. er arbeitet nicht

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kontinuierlich und führt seine Liste nicht sorgfältig. Nur wenn er zufällig entdeckt, dass sich ein Kind ohne ihn vorher zu befragen an der Regenbogen-Lesekiste zu schaffen macht, wird ihm sein Amt wieder bewusst - er erhebt dann deutlich Einspruch, weil man ihn überging. Kürzlich bekam ich mit, dass der so getadelte Fabian sich wehrte und gegen Hassan ins Feld führte, er würde die Liste ja doch nicht richtig führen und da hätte es gar keinen Sinn, ihm Meldung zu machen. Darauf hat Hassan reagiert (ähnlich wie Remy). Ich jedenfalls bin überzeugt, dass auch Hassan, lässt man ihm nur Zeit und schenkt ihm weiterhin Vertrauen, ein zuverlässiger "Chef" wird. 1) ZÜRCHER, K.: Werkstatt-Unterricht, Zytglogge Werkbuch, Zytglogge Verlag, Bern 1987 REICHEN, J.: Hinweise zum Werkstattunterricht, in: 'Lesen durch Schreiben', Heft 2, sabe-Verlag, Zürich 1982

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Text-A10 Jürgen Reichen „Lesen durch Schreiben“ in der Sonderschule: Nicht anders, als in der Regelschule anwendbar“ erschienen in: VBL-Bulletin 1/91 (Bulletin des Vereins der Logopäden im Kanton Bern)

Seit 'Lesen durch Schreiben' publiziert ist, wird mir immer wieder die Frage gestellt, ob dieser so anders geartete didaktische Ansatz auch im Sonderschulbereich Anwendung finden könne, und falls ja, wie denn der Lehr gang auf besondere heilpädagogische Probleme eingehe. Dabei geht es im Prinzip immer um die Grundfrage, ob 'Lesen durch Schreiben' die zusätzlichen didaktischen Hilfen ermöglicht oder wenigstens zulässt, die man für den Sonderschüler als notwendig betrachtet. Mit anderen Worten ist es die Frage, ob die "hohe Einstiegshürde", die der Lehrgang in jedem Fall - speziell aber im Bereich der akustischen Differenzierung - darstellt, für den Sonderschüler mit entsprechenden didaktischen "Hilfen" verringert werden könnte und welche "Hilfen" das sind. Im Einzelnen geht es um Fragen, wie sie etwa kürzlich von der Redaktion der VBL-Mitteilungen im Zusammenhang mit sprachbehinderten Kindern aufgeworfen wurden: − Werden schwächere Schüler, sowie Schüler mit Schwierigkeiten in der Wahrnehmung nicht

durch die Fülle des Materials überfordert?

− Sind nicht gerade bei sprachbehinderten Kindern besondere Schwierigkeiten bei der auditiven Differenzierung zu erwarten? Wird in der Praxis nicht übersehen, dass es sehr viel Vorarbeit in Richtung auditiver Aufgliederung braucht?

− Was halten Sie vom Kompromiss, mit sprachbehinderten Schülern zuerst ausgiebig auditiv zu arbeiten, damit aber die Erwartungen der Kinder an die Schule nicht enttäuscht werden, parallel zur auditiven Arbeit ganzheitlich zu lesen und auch zu schreiben?

− Welche Empfehlungen geben Sie für einen Zweitleseunterricht, d.h. für den Unterricht nach dem Erlernen der lautgetreuen Schreibung?

Falsch gestellte Fragen Ich gehe gerne auf diese Fragen ein, muss aber gleich zu Beginn gestehen, dass mir diese Fragen "Bauchweh" bereiten - nicht etwa, weil ich sie nicht beantworten könnte, sondern weil ich glaube, dass sie falsch gestellt sind. So verständlich diese (und vergleichbare) Fragen auch scheinen - aus der Konzeption von 'Lesen durch Schreiben' heraus betrachtet sind es unspezifische Fragen, d.h. Fragen nach Problemen, die es bei 'Lesen durch Schreiben' so nicht gibt (weshalb solche und ähnliche Fragen in aller Regel denn auch nur von Kolleginnen und Kollegen gestellt werden, die den Lehrgang nicht aus eigener Unterrichtsarbeit kennen). Solche Fragen wachsen aus dem Boden einer traditionellen Didaktik, welche den "Lernstoff" in kleine, systematisch aufeinanderaufbauende "Portionen" gliedert und das Kind dann in kleinen Schritten "zum Ziel führt". In diesem Lernmodell ist das lernbehinderte Kind ein Kind, für das die "normale Lernschrittlänge" zu gross ist, weshalb man diese "normalen" Lernschritte für den Sonderschüler in nochmals kleinere unterteilt. Prototyp eines solchen - maximal kleinschrittigen - Vorgehens im Bereich des Lesenlernens ist die bekannte Fibel von Käthi Aeschbach, welche vom SHG-Verlag eigens für Sonderklassen vertrieben wird. Didaktik der kleinen Schritte prinzipiell verfehlt

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Mit dieser Art Didaktik kann ich nichts anfangen; ja ich halte ein kleinschrittiges Vorgehen für prinzipiell verfehlt und stehe daher auch der üblichen Heilpädagogik recht kritisch gegenüber. Zwar kam der Heilpädagogik in den 50er und 60er-Jahren in der Schweiz eine Vorreiterrolle zu, in der sie zu einer allgemeinen Schärfung des Problembewusstseins beitrug und bei der Überwindung vieler "Pädagreuel" mithalf; inzwischen hat sie diese Vorreiterrolle jedoch eingebüsst, ja im Moment steht sie m. E. sogar in der Gefahr, hinter der allgemeinen pädagogisch-didaktischen Entwicklung nachzuhinken: Nirgend wo sonst wird so dogmatisch-verbissen an überholten Konzepten festgehalten wie in der Heilpädagogik.

Die Gründe hierfür sehe ich in der scheinbaren Plausibilität und dem Wissenschaftsanspruch des traditionellen Konzepts. Schwachen und/oder lernbehinderten Schülern soll ein Lernweg in kleinsten Schritten angeboten werden, auf dem sie ohne (wieder) zu scheitern Erfolge erleben sollen und dadurch neue Motivation gewinnen kön nen. Um dies zu ermöglichen orientiert man sich an drei - gleichsam "klassischen" Leitprinzipien: - vom Leichten zum Schweren - Isolierung von Schwierigkeiten - Fehlervermeidung Alle diese drei Leitprinzipien werden von 'Lesen durch Schreiben' als falsch angesehen und "auf den Kopf" ge stellt. Bei 'Lesen durch Schreiben' verläuft der Lernprozess umgekehrt vom Schweren zum Leichten, Schwierigkeiten werden ins Zentrum gerückt und Fehler sind in grossem Umfang "gestattet".

„Lesen durch Schreiben“ grundsätzlich anders

'Lesen durch Schreiben' folgt damit einer grundsätzlich anderen Konzeption. Hier ist eine systematische Gliederung in kleine und kleinste Lernschritte unerwünscht, ja im Grunde genommen unmöglich - und zum Glück auch nicht nötig: Mit 'Lesen durch Schreiben' lernen Kinder nachweislich ohne "kleine und kleinste Schritte". Der zentrale Begriff von 'Lesen durch Schreiben', gleichsam der Angelpunkt des Ganzen, ist der Begriff "selbstgesteuertes Lernen". Mit 'Lesen durch Schreiben' sollen die Kinder selbstgesteuert lesen und schreiben lernen. Ich halte wenig vom "Lernen durch Instruktion", sondern befürworte die Idee eines "Lernens durch Gebrauch". In der Förderung der Kinder gebe ich nichts auf trainingsorientierte Konzepte, welche isolierte Teilleistungen ansprechen wollen; stattdessen gebe ich einer Didaktik reicher Schriftspracherfahrung und des entdeckenden Lernens den Vorzug. Nun lässt sich die Idee des selbstgesteuerten Lernens im Rahmen eines kurzen Artikels natürlich nicht ausführlich darstellen. In unserem Zusammenhang ist die strittige Frage die, ob selbstgesteuertes Lernen auch beim Sonderschüler möglich sei, oder ob es nicht gerade umgekehrt den Sonderschüler ausmacht, nicht selbstgesteuert Lernen zu können. Mit besonderer Schärfe stellt sich diese Frage, wenn es sich beim Sonderschüler um ein sprachbehindertes Kind handelt, denn zwischen lernbehinderten und "normalen" Kindern sind gerade sprachliche Differenzen am deutlichsten: die Qualität der Wörter und die Satzstrukturen unterscheiden sich signifikant. Neuere Untersuchungen lassen sogar den Schluss zu, dass der Kern aller Lernbehinderung eine Sprachbehinderung ist, dass Sprachstörungen gleichsam die Lernbehinderung an sich darstellen. Denn dort, wo die sprachlichen Mittel zur Strukturierung und Reflektion der gegenständlichen Erfahrung nicht mehr ausreichen, wo die sprachlichen Möglichkeiten das logisch schlussfolgernde Denken, das Verallgemeinern und formelhafte Zusammenfassen nicht mehr erlauben, findet jeder Lernprozess seine Grenze. Sprachbehinderte Kinder im engeren Sinne sind mithin der Prototyp des Lernbehinderten.

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Angesichts dieses Sachverhalts scheint mir besonders interessant, dass aufgrund unserer Erfahrungen mit 'Lesen durch Schreiben' bei Sonderschülern eindeutig festgestellt werden kann: auch der Sonderschüler kann selbstgesteuert lernen, ja, gerade für ihn kommt eigentlich gar nichts anderes in Betracht. Wer ihm die Fähigkeit zur Selbststeuerung abspricht, entmündigt ihn in verantwortungsloser Weise.

Wer aus der traditionellen Heilpädagogik kommt, dem tönen diese Aussagen womöglich fremd in den Ohren. Es gibt aber viele Sonderlehrerinnen, welche erfolgreich mit dem Lehrgang arbeiten. 'Lesen durch Schreiben' bei verhaltensgestörten und/oder lernbehinderten Kindern einzusetzen ist durchaus möglich, sofern die Lehrerin eine entsprechende Haltung einnehmen kann. Das Problem bei 'Lesen durch Schreiben' ist nicht der Lehrgang als solcher, sondern die Haltung der Lehrerin dazu. Wer sich "voll und ganz" auf den Lehrgang einlässt, sich seiner Philosophie anschliessen kann, hat damit Erfolg, wer sich nur partiell aufs Konzept einlässt, wird enttäuscht.

Mit 'Lesen durch Schreiben' ist selbstgesteuertes Lernen möglich, aber nur wenn die Lehrerin über eine schülerbezogene Grundhaltung verfügt und didaktische Zurückhaltung walten lässt. Das Entscheidende an 'Lesen durch Schreiben' sind nämlich nicht irgendwelche methodischen "Mätzchen" oder typische Arbeitsmittel des Lehrgangs (wie etwa der SABEFIX oder die Buchstabentabelle), das Entscheidende ist eine besondere "pädagogische Philosophie", die sich mit den drei Begriffen selbstgesteuertes Lernen, schülerbezogene Grundhaltung und didaktische Zurückhaltung umreissen lässt. Und nur wer sich auf den Boden dieser "Philosophie" stellt, kann das Konzept wirklich verstehen. Schülerbezogene Grundhaltung

Schülerbezogene Grundhaltung heisst unbedingtes Vertrauen der Lehrerin in die Lernfähigkeit der Kinder und zeigt sich im Bemühen, den Kindern - auch und gerade dem Sonderschüler - nicht mit Vorerwartungen (Vor-Urteilen) zu begegnen, d.h. die Schüler auf gar keinen Fall von einer Vorerwartung her auf ein bestimmtes Leistungsniveau festzulegen. Sie versagt sich, dem einen Schüler stets schwierige, dem andern immer leichte Aufgaben zu stellen, dem einen viel, dem andern wenig zuzumuten. Ihr ist bewusst, dass Schüler sich weniger in ihren Fähigkeiten unterscheiden als in der Art ihres Lernens und in der Zeit, die sie dafür benötigen. Sie weiss: schwächere Schüler brauchen nicht unbedingt leichtere Aufgaben, sondern mehr Lernhilfe, nicht weniger Belastung, sondern mehr Unterstützung, nicht Schonung, sondern Zuwendung, nicht Abbau der in sie gesetzten Erwartungen, sondern Aufbau ihrer Lernbereitschaft und Zuversicht. Didaktische Zurückhaltung

Didaktische Zurückhaltung ist bei der Lehrerin die wohl entscheidendste Voraussetzung, um den Schülern ein selbstgesteuertes Lernen zu ermöglichen. Sie ist jene Art didaktischer Bescheidenheit, in der die Lehrerin primär günstige Lernbedingungen schafft und sich weniger als didaktische Hebamme versteht.

Didaktische Zurückhaltung heisst, den Schülern Lerngelegenheiten anzubieten und dann den Lernprozess nicht zu behindern. Die Schule, vorab die Sonderschule, legt häufig zu grosses Gewicht auf das Bemühen, Schülern zu "helfen". Hilfe kann auch kontraproduktiv wirken. Es liegt da ein didaktisches Paradoxon vor: Wer als Lehrerin den Kindern zu viel hilft oder Lehrmittel verwendet, die primär vom Gedanken der Hilfestellung ausgehen, führt seine Schüler in eine Sackgasse.

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Viele didaktische Hilfen zeigen sich in der Analyse als Versuche zur Vereinfachung von Problemen, als Umweg zum Ziel (via Vorstufen) oder als Vorzeichnung des Lernweges. Das sind aber für das Lernen meistens ungeeignete Massnahmen. Auch MEIERS betont, dass Kinder nicht "kleinschrittig" lernen. Wird ihnen ein Lernprozess in kleinste Schritte aufgelöst, so fehlt das Antriebsmoment zum Selberprobieren. Sie brauchen deutlich erlebte, aber überwindbare Lernwiderstände, um eine gesunde Lernfreude aufrechtzuerhalten. Didaktische Zurückhaltung zeigt sich also im behutsamen Umgang mit sogenannten "Hilfen" und hält sich mit Hilfe stellungen zurück nach dem Prinzip der minimalen Hilfe. Dieses von mir vertretene Prinzip der minimalen Hilfe wird gelegentlich (böswillig?) als Prinzip der Nicht-Hilfe missverstanden. Ich lehne aber Hilfen keinesfalls ab, wenn sie erforderlich sind, glaube aber, dass im allgemeinen zu viel und zu schnell - und d.h. ineins: falsch geholfen wird. Ziel unserer Bemühungen sollte nicht die Hilfe sein, sondern die Hilfe zur Selbsthilfe. Dazu kommt, dass Hilfen nur dort zu leisten sind, wo Probleme bestehen. Was ein Problem ist und was nicht, ist aber häufig Ermessenssache. So gibt es z.B. Leute, die sofort, wenn sie bei einem Kind gelegentliche Verwechslungen der d/b-Schreibung feststellen, eine LegasthenieTherapie anordnen und erst dadurch eine häufig harmlose Sache überhaupt erst zum Problem werden lassen; während andere Kolleginnen sowas gelassener angehen, weil sie wissen, dass sich das vermeintliche "Problem" zumeist von selbst legt. Nun ist mir natürlich durchaus bewusst, dass diese Haltung auch ihre Kehrseite hat. Didaktische Zurückhaltung ist als Geduld sicherlich eine pädagogische Königstugend und viele Entwicklungs- und Lernschwierigkeiten brauchen zu ihrer Überwindung hauptsächlich Geduld. Geduld haben, den Kindern Zeit lassen und als Lehrerin warten - das spielt in der Praxis von 'Lesen durch Schreiben' eine grosse Rolle, auch wenn ich natürlich weiss, dass Warten allein noch keine Didaktik und schon gar keine Therapie ist. 'Lesen durch Schreiben' ist denn auch keineswegs ein Lehrgang, der nur Geduld verlangt. Wir fordern viel mehr: einerseits das, was pädagogisch und didaktisch immer schon geboten war: Zuneigung zu den Kindern und Ermutigung der Kinder, andererseits aber auch Geduld, Möglichkeiten der Selbststeuerung und ein anspruchsvolles, vielseitiges (Breitband-)Lernangebot. Eigentlich "funktioniert" 'Lesen durch Schreiben' nur in der Kombination dieser drei Dinge - nach dem Motto: gib Zeit, gib Lernfreiheit, gib ein Breitband-Lernangebot. Breitband-Angebot Dabei sind Zeit-lassen und Freiheit-einräumen eine Sache der Einstellung, das Breitband-Angebot eine Sache didaktischen Fleisses. Denn dieses Breitband-Lernangebot, das besagt schon der Begriff, muss man zum Teil selber beschaffen. D.h. man muss das Angebot von 'Lesen durch Schreiben' ergänzen, nicht unbedingt durch weiteres "Papier", aber durch Spiele, durch Bastelmöglichkeiten, durch andere Arbeiten: mit Würfeln, Bauklötzen, Murmeln usw. Je breiter man dieses Lernangebot ausbaut, umso mehr besteht die Chance, dass schwächere Kinder bzw. Kinder, die lernbehindert sind, in diesem breitgefächerten Lernangebot Lernmöglichkeiten finden, an denen sie ihre Schwierigkeiten kompensatorisch überwinden können. Diese allgemeine Empfehlung mag natürlich einem heilpädagogischen Anspruch herkömmlicher Art nicht zu genügen. In diesem Rahmenkonzept fehlt die sogenannte "gezielte Förderung". Doch diese fehlt mit Absicht - 'Lesen durch Schreiben' lehnt die "gezielte Förderung" in der bisherigen

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Weise ab. Mit der Frage nach der "gezielten" Förderung sitzen wir jenem traditionellen Denken auf, das im Grunde genommen von einer Art Defizittheorie ausgeht: Kinder haben eine ganze Reihe von Defiziten, die man "gezielt" abbauen muss. Dabei wird so getan, als ob wir genau wüssten, worin diese Defizite wirklich bestehen, wie sie zustande gekommen sind und wie wir sie gezielt und richtig beheben können. In hamburgischen Schulversuchen mit sog. Integrationsklassen, wo einzelne Sonderschüler in einer Regelklasse sind, aber spezifisch betreut werden, entwickelten die Lehrerinnen besondere pädagogische und heilpädagogische Kompetenzen, die dem, was bisher durch die Sonderpädagogik praktiziert wurde, weit überlegen ist. Einerseits begannen sich Fachkenntnisse im engeren Sinne, wie z.B. Sprachheilkenntnisse usf., mit der Zeit abzuschleifen. Andererseits veränderte sich ihre Sicht der Kinder. Die Lehrerinnen richteten sich an anderen Schwerpunkten aus und ersetzten den bisher in Hamburg üblichen Jahres-Förderungsplan durch ein dynamisches Förderkonzept. In diesem Konzept wird keine Sprachheiltherapie nach vorgegebenem Muster mehr praktiziert, sondern man geht individualisierend vor. Der bisherige Trend, durch immer aus gefeiltere diagnostische Erhebungen immer mehr Störungen und Schwierigkeiten zu "erkennen" und mit Hilfe von immer mehr Experten und Spezialisten anzugehen, wurde damit gebrochen. Gleichzeitig wurde die Grundthese von 'Lesen durch Schreiben' bestätigt: Weil wir eigentlich gar nicht genau erkennen können, was bei einem lernbehinderten Kind im einzelnen "schief" läuft, bieten wir in einem Breitband-Lernangebot alles Mögliche an, in der Hoffnung, dass sich das Kind aus diesem Angebot intuitiv richtig herausnimmt, was es braucht. Unterbreite also den Kindern ein Breitband-Angebot, lass sie selbstgesteuert und mit Freude lernen und unterstelle, dass sie auch auf diese Weise gefördert werden. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sich zeigen sollte, dass das nicht genügt, kann dieser unspezifische Unterricht auf der Grundlage des "didaktischen Schrotschusses" immer noch ergänzt werden durch therapeutisch spezifischere Massnahmen. Beantwortung der Fragen Nach dieser kurzen Darstellung der "heilpädagogischen Position" von 'Lesen durch Schreiben' kann ich nunmehr die eingangs gestellten Fragen im Einzelnen beantworten. Frage: Werden schwächere Schüler, sowie Schüler mit Schwierigkeiten in der Wahrnehmung nicht durch die Fülle des Materials überfordert? Antwort: Ich denke nein, denn wenn ein offener Werkstattunterricht mit einem reichhaltigen (Breitband-)Lernangebot praktiziert wird, wie es im Konzept von 'Lesen durch Schreiben' vorgesehen ist, dann kann es gar nicht zur Überforderung kommen: das Kind ist in seinem Lernen frei und braucht sich nur solchen Lernangeboten zuzuwenden, die es bewältigen kann. Wenn sich ein Kind gleichwohl "übernimmt" sei es infolge eines unangemessenen Ehrgeizes oder wegen mangelhafter Fähigkeit, die Konsequenzen seiner Arbeitsauswahl abzuschätzen - dann kann die Lehrerin immer noch mit einem klärenden Gespräch diese "Selbst"überforderung relativieren. Natürlich hat der Leselehrgang eine Fülle von Material, doch ist es keineswegs erforderlich, dass ein Kind alles Material bearbeitet. Das Kind soll lesen und schreiben lernen und dazu braucht es in der Regel nur einen (individuell allerdings verschiedenen!) Teil des Materials.

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Frage: Sind nicht gerade bei sprachbehinderten Kindern besondere Schwierigkeiten bei der auditiven Differenzierung zu erwarten? Wird in der Praxis nicht übersehen, dass es sehr viel Vorarbeit in Richtung auditiver Aufgliederung braucht? Antwort: Selbstverständlich sind gerade bei sprachbehinderten Kindern besondere Schwierigkeiten in der auditiven Differenzierung zu erwarten. Aber das ist doch kein Grund, darauf zu verzichten - im Gegenteil: weil man Schwierigkeiten nicht dadurch überwindet, dass man ihnen aus dem Weg geht, bin ich der Meinung, dass man mit sprachbehinderten Kindern erst recht Artikulieren und Auflautieren betreiben sollte. Dabei möchte ich an dieser Stelle eine Einschränkung machen und die Bedeutung des "Auflautierens" relativieren. Entscheidend ist aus heutiger Sicht "phonologische Bewusstheit" und nicht unbedingt auch "phonologisches Können". D.h. das Kind muss einen Auflautierungs-Prozess, den die Lehrerin vormacht, hörendverstehend begleiten können, ein anspruchsvolles Wort selber akustisch zu gliedern, ist nicht unbedingt erforderlich. Im z.Z. im Handel erhältlichen Lehrerkommentar zu 'Lesen durch Schreiben' ist diese Relativierung noch nicht vorgenommen, sie wird aber im Rahmen der nächsten Überarbeitung folgen. Frage: Was halten Sie vom Kompromiss, mit sprachbehinderten Schülern zuerst ausgiebig auditiv zu arbeiten, damit aber die Erwartungen der Kinder an die Schule nicht enttäuscht werden, parallel zur auditiven Arbeit ganzheitlich zu lesen und auch zu schreiben? Antwort: Absolut gar nichts. Es sind solche Kompromisse, die didaktisch völlig verfehlt sind und zum Misserfolg führen, weil sie bei vielen Kindern psychologisch verheerend wirken. Wer lautiert, der vermittelt dem Kind Einsicht in das Lautprinzip der Verschriftung. Wenn dann aber ganzheitlich geschrieben (d.h. abgeschrieben!) und gelesen (d.h. auswendiggelernt nachgesprochen!) wird, dann wird nicht dieser Einsicht entsprechend gehandelt. Die Kinder werden einem nicht-einsehbaren Leer-Getue ausgesetzt und in ihrem Lerneifer an der Nase herumgeführt. Denn das Kind kann bei diesem "ganzheitlichen Kompromiss" seine beginnende Einsicht nicht unterbringen und erfährt lediglich und überdeutlich, dass es eben gerade nicht lesen und schreiben kann. Zudem spürt es den konzeptionellen Widerspruch. Vermischung gegensätzlicher Grundprinzipien ist immer unvereinbar: Man kann mit Kindern traditionell arbeiten. Das mag nicht "das Gelbe vom Ei" sein, aber die Kinder wissen, woran sie sind: die Lehrerin sagt, wo's lang geht und die Kinder haben dem zu entsprechen. Man kann mit Kindern auch "offen" arbeiten und die Kinder selbständig lernen lassen, dann wissen sie ebenfalls, woran sie sind. Eine Verschmelzung beider Konzepte kommt aber immer schief heraus: die Kinder sind ohne Orientierung, sie wissen nicht mehr genau, wo der Lehrerin zu folgen ist und wo sie selbständig vorgehen sollen. Und was noch schlimmer ist: sie fühlen intuitiv, warum die Lehrerin nur "halboffen" mit ihnen arbeitet - weil sie nämlich in der Handhabung des offenen Konzepts unsicher ist, weil sie sich nicht getraut, offen zu arbeiten, kurz: weil sie professionell nicht souverän ist! Das aber mindert den Respekt der Kinder vor der natürlichen Autorität der Lehrerin - sie trauen ihr didaktisch nicht mehr über den Weg und der Misserfolg ist vorprogrammiert. Frage: Welche Empfehlungen geben Sie für einen Zweitleseunterricht, d.h. für den Unterricht nach dem Erlernen der lautgetreuen Schreibung?

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Antwort: Ich weiss nicht, wie ich die Frage verstehen muss. Steht dahinter die Annahme, die Kinder lernen zuerst eine lautgetreue Schreibung und anschliessend die dudenorientierte Schreibweise? Falls ja, gibt es von mir nur eine Empfeh lung: die Kinder im Rahmen natürlicher Schreibanlässe viel Vernünftiges und Sinnvolles schreiben lassen und auf traditionellen Rechtschreibunterricht verzichten. Die Rechtschreibung kommt mit der Zeit von selbst. Die jüngsten Forschungen belegen es: der Schriftspracherwerb folgt einem PIAGET'schen Stufenmodell, bei dem sich Lese- und Schreibkompetenzen wechselweise stützen und vorwärtstreiben. Dieser Prozess ist weitgehend "naturwüchsig", d.h. er entzieht sich didaktischer Beeinflussung. Der übliche Rechtschreibunterricht nutzt nichts und schadet viel.

*** Es wurden mir einige Fragen gestellt, und ich habe ver sucht, sie zu beantworten. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass die Fragesteller mit meinen Antworten nicht viel anfangen können, da die Fragen ein Dilemma ansprechen. Zwar muss jede Methode, jegliche didaktische Konzeption überhaupt, also auch 'Lesen durch Schreiben', auf die Frage antworten, welche Hilfen für Kinder mit Entwicklungs- und Lernschwierigkeiten angeboten werden. Aber diese Frage konnte bislang von niemandem abschliessend beantwortet werden. Seit 'Lesen durch Schreiben' verlegt ist, wurde schon fünfmal erwogen, ein spezifisches Ergänzungsangebot für schwächere bzw. lernbehinderte Schüler zu entwickeln; doch jedes Mal sind die entsprechenden Projekte - sobald es ernst gelten sollte von den initiierenden Sonderlehrerinnen wieder gestoppt worden, weil das geplante Ergänzungsangebot letzten Endes doch nicht für nötig erachtet wurde. Die "sonderpädagogischen" Fragen bestehen also weiter. Vielleicht liefert in naher Zukunft ein Bericht aus dem Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen neue Aufschlüsse. Der Kanton St. Gallen hat im Rahmen eines grösseren Schulversuchs die Verwendungsfähigkeit von 'Lesen durch Schreiben' im Bereich der Sonderschulen, speziell der Einführungsklassen, abgeklärt und festgestellt, dass sich das Konzept bewährt, wenn die Lehrerschaft Vorurteile ablegt und Unsicherheiten überwindet. Dass 'Lesen durch Schreiben' keine spezifischen Massnahmen heilpädagogischer Natur anbietet, scheint kein Problem zu sein. Heildidaktik gibt es nicht Für mich ist das klar. Ich frage Sie: Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass wir zwar den Begriff "Heil-Pädagogik" kennen, nicht aber einen Ausdruck wie "Heil-Didaktik". Und falls Ihnen das schon aufgefallen ist, haben Sie sich gefragt, warum es den Begriff "Heil-Didaktik" nicht gibt? Als logopädisch vorgebildet wissen Sie, dass Wörter/Begriffe für Dinge/Sachen und Sachverhalte/Beziehungen stehen und dass es für alle Dinge/Sachen und Sachverhalte/Beziehungen einen Ausdruck, einen Begriff gibt. Aus dem Fehlen eines Begriffes "Heil-Didaktik" schliesse ich, dass es eine entsprechende "Sache" nicht gibt, d.h. es gibt nur eine "Normal-Didaktik". Ich persönlich stehe jedenfalls auf der Überzeugung, dass die entscheidenden Merkmale, welche die didaktische Qualität eines Unterrichts ausmachen, stets die selben sind, dass es also diesbezüglich zwischen Regel- und Sonderschule keine Unterschiede gibt. Der "gute" Regelunterricht entspricht dem "guten" Sonderschulunterricht und was ein "guter" Leselehrgang im Regelbereich ist, ist auch ein guter Lehrgang in der Sonderschule.

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Text-A11 Jürgen Reichen Schulversagen - das Versagen der Schule Oder: Warum kann Markus L. nicht lesen? Kritische Anmerkungen zum herkömmlichen Erstleseunterricht erschienen in: KAZIS, C.(Hrsg.): Buchstäblich sprachlos, Basel 1991 Markus L. ist heute etwa 38jährig. Er lebt in bürgerlichen Verhältnissen, hat Familie, bekleidet in der Baufirma, wo er arbeitet, eine Vertrauensstellung und ist in seiner Wohngemeinde ein angesehener Mann. Aber Markus L. kann nicht lesen und nicht schreiben, obwohl er 10 Jahre lang in der Schweiz zur Schule ging. Seit ich ihn kenne, beschäftigen mich Fragen zum Lesen- und Schreibenlernen intensiver als je zuvor. Denn Markus ist ein eindeutiger Fall: Er ist intelligent, nicht neurotisch, hat keine neurologischen Ausfälle, kurz gesagt: er ist völlig "normal". Das aber heißt: Es ist auch völlig klar, wer an seinem Analphabetismus schuld ist: die Schule. Zur Zeit ist Markus dabei, Lesen und Schreiben zu lernen. Er ist auf einem guten Weg und das stimmt zuversichtlich. ***** Seit einigen Jahren wird die Lesedidaktik durch das Phänomen erwachsener Analphabeten beunruhigt. Diese Unruhe ist noch gewachsen, seit deutlich wird, daß der inzwischen so benannte "funktionale Analphabetismus" nur die Spitze eines Eisbergs ist. Denn auch das altvertraute Problemfeld "Legasthenie" bereitet neues Ungemach, weil immer offensichtlicher wird, daß die bisherigen Therapieverfahren letztlich nichts fruchten. Vor allem aber - und das ist nun höchst bedenklich - schockiert die Tatsache, daß in der jüngeren Generation die Lese- und Schreibfähigkeiten rückläufig sind. Immer weniger sind die Schüler im Stande, einen altersgemäßen Text inhaltlich zu verstehen, und immer weniger Schüler, aber auch Erwachsene, interessieren sich fürs Lesen. Immer weniger haben Freude an anspruchsvollen Texten, einem der wichtigsten Ziele unserer Lese-Erziehung. Im Rahmen der sogenannten "pädagogischen Rekrutenprüfungen" 1) hat man 1984 bei 35.000 Rekruten die Lesefähigkeiten und das Leseverhalten untersucht, analog wie bereits im Jahre 1913 bzw. 1879. Ergebnis: 17 Prozent der jungen Schweizer sind in der Lage, die allgemeine Bedeutung eines leicht abstrakten Zeitungsartikels zu erfassen. Umgekehrt heißt das, daß 83 Prozent dazu nicht in der Lage sind. 38 Prozent verstehen die Angaben eines Faltprospektes der Schweizerischen Bundesbahnen über das Halbpreisabonnement (in Deutschland ist dies die Bahn-Card), die anderen 62 Prozent nicht. Diese Zahlen sind besorgniserregend. Die Lesekenntnisse reichen offenbar gerade noch aus, um Aufschriften wie zum Beispiel "Eingang um die Ecke" zu lesen, aber wenn es darum geht, einen etwas schwierigeren Zusammenhang zu verstehen, dann gelingt dies offenbar nur noch einer Minderheit. Vor hundert Jahren war die Lesefähigkeit besser, vor dem ersten Weltkrieg sogar deutlich: 1879 erreichten zwei Drittel der Rekruten zufriedenstellende Noten, 1913 waren es sogar neun Zehntel. Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen?

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Für die Lehrerschaft ist die Sache klar, für sie steht der Schuldige fest: das Fernsehen. Weil die Leute immer mehr fernsehen, statt Bücher zu lesen, gehen ihre Lesefähigkeiten zurück; die in der Schule einstmals erworbene Schriftsprachkompetenz verkümmert infolge Nichtgebrauchs. Nun ist wohl nicht zu bestreiten, daß der - im übrigen weltweit feststellbare - Rückgang der Lesefähigkeiten etwas mit dem Fernsehen zu tun hat, denn er steht in seinem Ausmaß in einem direkten Verhältnis zum Fernsehkonsum. Aber die ganze Erklärung kann das nicht sein. Üblicherweise können wir doch die Erfahrung machen, daß wir eine Sache, die wir wirklich gelernt haben, nicht mehr verlernen (höchstens einige Einzelheiten vergessen). Daher stellt sich für mich im Falle der rückläufigen Lesefähigkeiten eine andere Frage: Wurden Lesen und Schreiben in der Schule überhaupt richtig und angemessen vermittelt? Muß man nicht auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß die Lese-Schreib-Fähigkeiten vieler Leute im Alltag überhaupt erst verkümmern können, weil sie in der Schule nur unzureichend gelernt wurden? Schlechte Leser dürfen als Hinweis auf Unterrichtsmängel betrachtet werden. Sie bestätigen, was Kritiker seit längerem beanstanden: Im schulischen Leseunterricht werden drei gravierende Fehler gemacht: - im Umgang mit Literatur ist er häufig von motivationstötender Langeweile, - als weiterführender Leseunterricht weiß er nicht, was lesen heißt und verwechselt lautes Vorlesen

mit Lesen, nicht wissend, daß lautes Vorlesen die Sinnentnahmen erschwert oder gar verunmöglicht, statt garantiert oder doch wenigstens erleichtert,

- vor allem aber ist der Erstleseunterricht falsch konzipiert; er legt ein brüchiges Fundament, das weiterführenden Lernprozessen keine tragfähige Basis bietet. Im ersten Moment mögen diese Behauptungen befremden. Weil die Leute früher besser lesen konnten, erwecken sie den Anschein, der Leseunterricht sei früher besser gewesen. Das war er natürlich nicht. Aber früher waren die Alltagsverhältnisse anders: Weil es kein Fernsehen (und kein Telefon!) gab, waren die Leute eher aufs Lesen (und Schreiben) angewiesen. Der Alltag machte Lesen und Schreiben erforderlich und war so eine Ergänzung und ein Korrektiv zum Schulunterricht. Die in der Schule nur schwach entwickelten Lese- und Schreibfähig-keiten wurden durch den Alltagsgebrauch gestärkt. Heute jedoch fehlt im Alltag vieler Menschen das Lesen und Schreiben. Entsprechend ist auch vielen Kinder nicht bewußt, daß Lesen und Schreiben einen außerschulischen Gebrauchswert hat. Auf die Frage nach dem Sinn des Lesens und Schreibens antworten Erstkläßler mit Aussagen wie:

- "Damit ich nicht dumm bleibe." - "Wenn tüchtig üben, zweite Klasse kommen." - "Für die Schule, fürs erste Schuljahr kann man das gebrauchen."

Solche Antworten belegen, daß Lese- und Schreibmotivationen nicht mehr ausgeprägt sind und die Einsicht in die Bedeutung der Schriftsprache weitgehend fehlt.

*** Im Leseunterricht sollen die Schüler lernen, einen alters- und stufengemäßen Text inhaltlich zu verstehen, das heißt seinen Sinn zu erfassen; gleichzeitig soll die Lust am Lesen geweckt und bekräftigt werden, sie sollen wenn möglich Freude an und Verständnis für Literatur und Information entwickeln.

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Diese Ziele werden allgemein nicht in Frage gestellt. Andererseits scheint aber der allgemeine Konsens die Erkenntnis zu verhindern, daß es sich bei diesen Zielen zur Leseerziehung um eine Chimäre handelt: Sie werden nämlich nicht erreicht, und kaum jemand scheint dies zu bemerken oder zu beanstanden. Ich vermute, dieser Mißerfolg blieb - wie viele andere "Flops" der Schule auch -, bisher verborgen, weil wir es uns leisten, das System Schule keiner externen, unabhängigen Erfolgskontrolle auszusetzen. Niemand untersucht letztlich, ob die Schüler wirklich lesen können. Wir stützen uns ab auf die Selbst-Evaluation der Lehrerschaft und glauben vertrauensvoll den Lehrerinnen und Lehrern, wenn sie uns versichern, daß sie einen erfolgreichen Unterricht erteilen und ihre Schüler gut lesen können.

Heute müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß dieser schulische Leseunterricht doch nicht so erfolgreich ist, wie man gerne glauben möchte. Es sind starke Zweifel angebracht, und dies um so mehr, als es eigentlich schon früher Gründe genug gegeben hätte, den herkömmlichen Leseunterricht in Frage zu stellen: wenn wir den Skandal "Legasthenie" mit anderen Augen betrachtet hätten.

Wir haben Gründe und Ursachen der "Legasthenie" immer bei den betroffenen Kindern und ihren Milieus gesucht, selten im Schulunterricht, und entsprechend galt Legasthenie nie als Beleg für einen prinzipiell verfehlten Leseunterricht.

Doch wenn einzelne Kinder mit unseren "normalen" Methoden nicht zurechtkommen, heißt das noch nicht, daß die Kinder "anormal" sind. Ihr Versagen kann auch an den Methoden liegen. Jedenfalls gilt überall sonst in der Methodik der Grundsatz, daß sich die Tauglichkeit einer Methode am "pädagogischen Notfall", also da wo Minderbegabung und Leistungsbeeinträchtigung vorliegen, zu bewähren habe. Darauf weist die Heilpädagogik schon seit langem hin. Daß es Legasthenie in unseren Schulen gibt, wäre demnach ein Anlaß, über unsere Erstlesemethoden nachzudenken.

Bisher ergriff man diese Gelegenheit aber nicht. Man trennte das Phänomen Legasthenie vom Unterricht und betrachtete es für sich selbst. Orientiert am traditionellen Leseunterricht, den man höchstens punktuell in Frage stellte, entwickelte man ein aufwendiges Diagnose-Instrumentarium samt ausgeklügelten Therapieverfahren und richtete einen kostspieligen Betrieb ein, obwohl sich sowohl Diagnose als auch Therapie stets auf wenig gesichertem Boden bewegten.

In Fachkreisen nahm man nicht zur Kenntnis, daß die meisten Vorstellungen über Legasthenie von der Wirklichkeit nicht bestätigt werden und verdrängte mehr als dreißig Jahre lang die Tatsache, daß die allgemein übliche Therapie bei wirklicher Legasthenie nichts nutzt; ignorierte, daß Übungen zur Verbesserung der sensomotorischen Funktionen (visuelle und auditive Wahrnehmung, Reihenfolge-Gedächtnis, Raum-Zeit-Organisation, Augenfolgenbewegungen usw.) höchstens Teilerfolge erbrachten.

Dabei kam schon in den siebziger Jahren der Verdacht auf, daß irgendetwas mit der Diagnose und der Therapie der Legasthenie nicht stimmt; daß die gängigen Vorstellungen und Praktiken der Realität legasthenischer Lernprobleme nicht gerecht würden. Man sprach damals vom "Unfug mit der Legasthenie", bzw. von Legasthenie als einer "Leerformel", und erstmals wurde vermutet, daß mindestens gewisse Formen dieser Lese-/Schreibschwäche Folgen von "schlechtem Unterricht" sind. Viel fruchtete aber auch diese Einsicht nicht, lediglich das Vokabular wurde um einen neuen Begriff erweitert: Fortan gab es auch noch eine "didaktogene" Legasthenie.

So glaubten die Fachleute fast 30 Jahre lang, über die Ursachen der Legasthenie Bescheid zu wissen. Erst seit kurzem verlor sich diese Sicherheit: Je mehr Erfahrungen und Umgang man mit

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Legasthenie und Legasthenikern hatte, um so zweifelhafter wurden die "Erkenntnisse", auf die man sich berief. Und heute sind endlich namhafte Experten bereit, einzugestehen: Eigentlich weiß man überhaupt nichts. Maßgebende Fachleute wie Prof. Hans Grissemann vom Institut für Sonderpädagogik/Universität Zürich oder Dr. Heinz Ochsner, Leiter der Arbeitsstelle für präventive Unterrichtsdidaktik/Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, haben begonnen, auf die vielen Ungereimtheiten im schweizerischen "Legasthenie-Betrieb" hinzuweisen und den "Abschied von der Legasthenie" einzuläuten. Die Erkenntnis, daß die bisherigen Therapieverfahren bei wirklicher Legasthenie nichts nutzen, hat bei der staatlichen Invalidenversicherung die Frage aufkommen lassen, ob sie eigentlich einen "Leerlauf" finanziert, den man bleiben lassen sollte? Vielerorts wurde die Ausbildung neuer Legasthenie-TherapeutInnen sistiert. Die Schulpsychologen stellen ihre Diagnosen zurückhaltender, und die Legasthenie-TherapeutInnen sind von spezialisierten Trainingsprogrammen abgekommen, um sich mehr der allgemeinen sprachlichen und psychologischen Förderung der lese-rechtschreibschwachen Kinder zu widmen.

Anlaß, am schulischen Leseunterricht zu zweifeln, hätte uns neben der Legasthenie seit ein paar Jahren allerdings auch das Phänomen der erwachsenen Analphabeten geben können, aber auch dieses bewirkte keinen Wendepunkt in der öffentlichen Aufmerksamkeit dem Leseunterricht gegenüber. Mit der "Erklärung", daß die erwachsenen Analphabeten erst nach dem Verlassen der Schule analphabetisch wurden, indem sie das Lesen und Schreiben, das sie in der Schule beherrschten, später verlernten, war einer prinzipiellen Kritik am Leseunterricht die Spitze wiederum genommen.

Entsprechend sind erwachsene Analphabeten bei uns kein lernpsychologisches oder didaktisches Problem, sondern ein sozialpsychologisches. Analphabetismus ist eine Angelegenheit der Sozialfürsorge, der gewerkschaftlichen Selbsthilfe und allenfalls der Heilpädagogik, nicht jedoch der Bildungspolitik. Die Schule fühlt sich nicht angesprochen. Das Thema wird, wenn es denn überhaupt einmal in der Presse auftaucht, im Umkreis des Feuilletons aufgegriffen, nicht aber in bildungspolitischen Betrachtungen. Während die Kulturpolitik alarmiert ist, verhalten sich Schule und Bildungspolitik, d. h. Lehrerschaft, Schulbehörden und Erziehungsdirektoren so, als ob sie alles nichts anginge.

Dabei ist unbestritten, daß neue Anstrengungen zur Leseförderung notwendig sind. Der erste Schritt dazu ist, den bisherigen Leseunterricht prinzipiell in Frage zu stellen und noch einmal grundsätzlich zu überlegen: Was heißt lesen? Wie wird es eigentlich erlernt?

Von der Lehrerschaft kann dies nicht erwartet werden. Lehrerinnen und Lehrer sind oft befangen in vorgefaßten Lehrmeinungen und methodischen Schematismen, halten am sogenannt Bewährten fest, sind häufig "betriebsblind" gegenüber der Alltagsroutine und nennen den vorschnellen und gedankenlosen Rückgriff auf didaktische Rezepte "Erfahrung".

Entsprechend überrascht es auch niemanden, der um die wirklichen Verhältnisse weiß, daß es im Bereich des Erstlesens über 60 Jahre lang keine wirklichen Neuerungen gab. Außenstehende wundern sich vielleicht, denn in der Arbeitswelt werden - aufgrund des ökonomischen und politischen Konkurrenzdrucks - Produktionsverfahren, Organisationsmodelle und Marketingmethoden dauernd überprüft, in Frage gestellt und weiter entwickelt. In der Schule aber geschieht nichts Vergleichbares. Weil das staatliche Schulmonopol Konkurrenz weitgehend unterbindet, fehlt es ihr am belebenden Wettbewerb, und ihr schon sprichwörtlicher Entwicklungsrückstand wird kontinuierlich größer.

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Wer in der Wirtschaft mit überholten oder gar verfehlten Methoden arbeitet, ist bald pleite. Nicht so die Schule; ihr sind Methodenfragen ein heißes Eisen! Die Lehrerschaft fürchtet nichts so sehr wie "Methodenzwang", nichts hält sie so hoch wie "Methodenfreiheit", und jeder Lehrer, jede Lehrerin behält sich vor, den Schülern Lesen und Schreiben so beizubringen, wie er/sie es für gut hält.

Die Verfechter der Methodenfreiheit haben zunächst gute Argumente für sich. Unterrichten kann nicht auf Schematas reduziert werden. Jedes Kind muß auf individuelle Weise angesprochen werden, und jede Lehrerin, jeder Lehrer kann ihre/seine pädagogische Persönlichkeit nur in Freiheit und Verantwortung zur Wirkung bringen.

Auf der anderen Seite begegnet aber das Kind im Unterricht nicht nur der Lehrerin/dem Lehrer, sondern auch dem Lernstoff. Und dieser hat jeweils eigene Gesetzlichkeiten, die beim Lernen beachtet sein wollen, soll es gelingen. Da bei vielen Lernstoffen die Aneignung anstrengend und schwierig ist, versucht die Didaktik das Lernen mit geeigneten Methoden zu erleichtern und zwischen dem Kind und dem Stoff zu vermitteln. Doch muß diese Vermittlung stimmig sein, gerade dies ist aber bei den bisherigen Erstlesemethoden nicht der Fall.

Die üblichen Verfahren sind unzureichend und leben davon, daß sie nicht grundsätzlich diskutiert und überprüft werden. Dies hat historische Gründe: Für den Leseunterricht stand die Methodenfrage während Jahrzehnten unter einem Unstern, dem sogenannten Methodenstreit zwischen der "Buchstaben"- und der "Ganzwort"-Methode. Dieser jahrzehntelang andauernde Streit, der in der Geschichte der Pädagogik inzwischen legendär ist, kreiste um die Frage, welche Methode die bessere sei: die "Buchstaben"-Methode, bei der die Kinder lernten, wie man einzelne Buchstaben "zusammenhängt" oder die "Ganzwort"-Methode, bei der die Kinder zuerst ganze Wörter "lesen" lernten und erst später mit den Einzelbuchstaben vertraut gemacht wurden. Der Streit führte zu manch einem menschlichen Zerwürfnis mit "kriegsähnlichen" Zuständen in vielen Lehrerkollegien, und konnte trotz unzähliger Untersuchungen doch nicht endgültig entschieden werden: Keine Methode erwies sich eindeutig als die bessere, so daß man sich nach Jahrzehnten darauf einigte, die beiden Methoden zu mischen.

Die andere Denkmöglichkeit, daß nämlich der Methodenstreit unentschieden enden mußte, weil beide Methoden falsch sind, blieb außer Betracht - denn Methodenfragen waren inzwischen tabu. Daß gerade Lesedidaktiker Methodenfragen nicht fundamental aufzuwerfen wagen, weil sie instinktiv einem neuen, möglichen Methodenstreit aus dem Weg gehen wollen, ist auf diesem Hintergrund leicht einsehbar.

Nun wird das Unzulängliche unseres herkömmlichen Leseunterrichts allerdings auch von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Nachdem der schleichende Zerfall unserer Lesekultur m. E. aber ein Prozeß ist, der unsere Gesellschaft zentral berührt, stellt sich die Frage, woher dieses Desinteresse, diese Blindheit rührt?

Ich kann es mir nur so vorstellen: Der maßgebende Teil dieser Öffentlichkeit (Kulturschaffende, Journalisten, Führungskräfte in Politik, Verwaltung und Wirtschaft) kann gut lesen und schreiben und glaubt, er habe es in der Schule gelernt. Ein Anlaß zur Kritik am schulischen Leseunterricht besteht für sie nicht. Dabei können diejenigen, die problemlos lesen und schreiben können, dieses nicht wegen, sondern trotz des schulischen Leseunterrichts.

Zwar verlangt die Schule das Lesen, aber - unwissentlich - lehrt sie es ungenügend bzw. sogar falsch. Und weil die frühere "Alltagsunterstützung" zugunsten des Schriftgebrauchs zusehends

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schwindet, bleibt der Umgang mit der Schriftsprache rudimentär, die Lese- und Schreibfähigkeit verkümmert. Wenn das Fundament brüchig oder schief ist, kann darauf kein Haus errichtet werden.

Wer eine derart provokative und - falls sie zutrifft - folgenreiche Hypothese aufstellt, muß diese begründen. Ich versuche dies, indem ich nochmals grundsätzlich die Frage aufwerfe: Was heißt eigentlich lesen?

Um diese Frage zu beantworten, scheint mir eine methodische Vorüberlegung erforderlich.

Wir Menschen sind meistens neugierig und wißbegierig. Aber wir mögen es bequem. Wir möchten schon über alles Bescheid wissen, meist aber nur, wenn wir uns deswegen nicht allzusehr anstrengen müssen. Gefragt ist im allgemeinen Wissen, das gleichsam auf dem Silbertablett serviert wird. Wirkliches Wissen ist aber nicht zum Gratistarif zu haben. Es setzt geistige Anstrengungsbereitschaft und Wahrheitswillen voraus. Und es bedeutet: Eine Frage immer wieder neu zu stellen und immer wieder ganz von Anfang an zu beantworten, d. h.: bereits vorliegende Erklärungen zu ignorieren und zunächst möglichst rein und unbefangen an das befragte Phänomen als solches heranzugehen.

Eine solche Haltung ist in der Psychologie als phänomenologische Haltung bekannt. Sie zieht u. a. Konsequenzen aus der Überlegung, daß psychologische Vorgänge/Prozesse derart vielschichtig sind, daß unser derzeit noch immer rudimentäres Wissen darüber nicht ausreicht, sie wirklich zu begreifen. Ehe eine angemessene Erkenntnis möglich ist, müßten wir viel mehr und viel genauere Kenntnisse über die Phänomene als solche haben. Verfrühte, vorschnelle Erklärungsversuche bzw. Theorien - und mögen sie noch so ausgefeilt sein - stehen deshalb einer angemessenen Erkenntnis eher im Weg. Vor jeder Theoriebildung gilt es, immer wieder von neuem auf die Phänomene selbst zu schauen, auch wenn diese noch so banal scheinen, und die mannigfachen, vermeintlich klaren, in Tat und Wahrheit aber ungeprüften Selbstverständlichkeiten, in denen wir so oft befangen sind (vor allem im Schulunterricht), durch möglicherweise "dumme" Fragen kritisch zu überprüfen. Das zeigt nicht zuletzt der Bereich des Erstlesens, wo wir "gedankenlos" bloße Theorien als Tatsachen ansehen, etwa wenn jedermann glaubt, Lesen- und Schreibenlernen habe ein ausgedehntes Buchstabentraining zur Voraussetzung.

In diesem Sinne phänomenologisch zu fragen, was lesen sei, heißt zu fragen, wie es der menschliche Geist "eigentlich" anstellt, aus einer Menge in bestimmter Weise angeordneter Punkte, Striche, Bogen und Ähnlichem z.B. den Begriff "Umweltschutz" zu entnehmen?

Diese Frage ist bis heute nicht beantwortet. Zwar gibt es in der Wissenschaft mannigfache Erklärungsversuche und komplizierte Theorien, wonach Lesen ein "hypothesentestendes Verfahren" sei; aber eine Erklärung ist dies keineswegs, sie verschiebt lediglich die Frage nach dem Geheimnis des Lesens auf eine andere Ebene. Ich gehe daher nicht auf diese Theorien ein, sondern bleibe bei der These, daß niemand wirklich weiß, was Lesen eigentlich ist.

Nun bringt uns aber die Feststellung, daß wir nicht wissen, was Lesen "eigentlich" ist, nicht weiter. Wenn wir anfangen, nach dem "Eigentlichen" zu fragen, dann geraten wir früher oder später in die Erkenntnistheorie, und das bedeutet in eins: in prinzipielle Schwierigkeiten. Erkenntnistheoretisch gesehen wissen wir "eigentlich" überhaupt nichts. Trotzdem haben wir durchaus ein Alltagsverständnis von Lesen. Sie lesen ja jetzt gerade und wissen, daß Sie lesen, und was "es" ist. Was ist es? Wissen Sie es? Wir machen ein kleines "Experiment". Was tun Sie, wenn Sie den Blick auf das folgende Kästchen richten:

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Caprivi lerko ten hokker, en dano lasare, bing bong.

Lesen Sie? Oder fühlen Sie sich wie ein Analphabet? Wahrscheinlich ergeht es Ihnen wie den meisten Leuten Sie verstehen nicht, was der Text im Kästchen heißt. Nur - wenn Sie nicht verstehen, kann man dann von Lesen sprechen? Ich meine nein! Von Lesen ist dann und nur dann zu reden, wenn man verstanden hat, was man liest. Den Text im Kästchen können Sie nicht verstehen, also nicht lesen. Was Sie können ist, den Text laut vorlesen, vielleicht nicht in der angemessenen Betonung, sondern nach den Betonungsgewohnheiten der deutschen Sprache. Aber Sie können den Text laut vorlesen - auch wenn Sie ihn nicht verstehen. Diese Feststellung müssen Sie sich merken. Im Hinblick auf die Frage, was Lesen sei, ist sie ein erster wichtiger Gesichtspunkt: Lautes Vorlesen ist etwas anderes als durch Lesen verstehen.

Lesen (und Verstehen) ist etwas grundsätzlich anderes als lautes Vorlesen. Lesen bedeutet, einem geschriebenen Text den sprachlichen Sinn zu entnehmen, Vorlesen bedeutet dagegen bloß, eine Buchstabenfolge in eine Lautfolge umzuwandeln. Hierzu ist jedoch kein Sinnverständnis nötig. Auch wer nicht finnisch versteht, kann einen finnischen Text - nicht mit finnischer, aber mit deutscher Betonung - vorlesen.

Erinnern Sie sich an die erste Schulzeit: Im traditionellen Erstleseunterricht lernten Sie nicht in erster Linie lesen, sondern "laut Vorlesen". Gute Noten bekamen jene Kinder, die schön und fließend vorlesen konnten. Ob sie den Text auch verstanden hatten, wurde im allgemeinen nicht ausdrücklich überprüft, es wurde stillschweigend vorausgesetzt. Man hat unüberprüft angenommen, wer einen Text vorlesen könne, würde ihn auch verstehen. Gerade dies ist aber nicht der Fall. In der vorher erwähnten pädagogischen Rekrutenprüfung konnten alle Rekruten den Zeitungsartikel laut vorlesen, den nur 17 Prozent verstanden haben. Man kann es deshalb nicht genug in Erinnerung rufen und wiederholen: Man kann einen Text auch dann laut vorlesen, wenn man ihn nicht versteht. Und genau aus diesem Grund gibt es unter den Laut-Lesern so viele Leer-Leser, d. h. "Leser" ohne Sinnverständnis.

Verantwortlich für diese Fehlleistung ist der Schulunterricht. Er hat das Problem des Verstehens überhaupt nicht explizit gemacht, sondern fast ausschließlich Techniken des lauten Vorlesens geübt.

Wenn Lesen "verstehen" bedeutet, das laute Vorlesen das Verstehen aber nicht garantiert, dann fragt sich natürlich, was braucht es denn, damit man versteht? Ich weiß nicht, ob Sie sich diese Frage schon einmal stellten, denke aber, daß Sie schon Anlaß gehabt hätten. Oder saßen Sie noch nie vor einem Text, der für Sie keinen Sinn ergab?

Vor Jahren, während meines Philosophiestudiums, unternahm ich den Versuch, die "Phänomenologie des Geistes" von HEGEL zu lesen, ein deutsch geschriebenes Buch, von dem ich aber damals trotz guter Lesetechnik praktisch nichts verstand. Das hat mich geärgert, und nachdem ich den Text nicht verstand, wollte ich wenigstens wissen, warum ich ihn nicht verstand, und stieß auf drei Punkte:

1. Fehlender Wortschatz, fehlende Begrifflichkeit

HEGEL hat wie jeder große Philosoph seine eigene Sprache, seine eigene Begrifflichkeit entwickelt und wenn man die nicht kannte und als Leser bereits mitbrachte, hatte man eine erste Klippe, an der das Verständnis auffuhr.

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2. Fehlende Vorkenntnisse

Kein Text beginnt beim Punkt Null, jeder Text setzt Vorkenntnisse voraus (über die Welt, den Menschen usw.). Bei HEGEL war das die gesamte Philosophiegeschichte vor seiner Zeit und wenn man über diese nicht Bescheid wußte, dann hatte man eine zweite, noch höhere Klippe, an der das Verständnis scheiterte.

3. Mangelnde Intelligenz

Schließlich kam ich nicht umhin, auch einzugestehen, daß Verstehen auch etwas mit Intelligenz zu tun hat und für HEGEL war ich einfach nicht klug genug.

Was bei mir und Hegel aber wirklich keine Rolle spielte, war eine ungenügend entwickelte Lesetechnik. Vorlesen konnte ich den HEGEL problemlos, sogar mit rhetorischer Raffinesse, nur verstehen konnte ich ihn nicht. Meine Sprachkompetenz, mein Weltwissen und meine Intelligenz waren unzureichend.

Es gibt wohl für jeden Menschen, der die Lesetechnik beherrscht, einen Text in seiner Muttersprache, den er trotz Lesetechnik nicht versteht. Das aber hat m.E. klare didaktische Konsequenzen:

Lesetechnik ist absolut unnötig, ja vielfach sogar schädlich (was später noch näher erläutert wird). Wichtig ist statt dessen:

1. Hohe Sprachkompetenz (Erweiterung von Wortschatz/Begriffssystem) 2. Vermittlung einer systematischen Welt-, Sach- und Lebenskenntnis 3. Intensive Denkschulung

Schädlich ist die bisherige Lesetechnik zunächst, weil sie dem Kind vorgaukelt, mit ihr könne es lesen, dabei ist sie bloß eine Technik des Umwandelns von Zeichen in Laute. Mit ihr kann man Vorlesen, aber nicht unbedingt Texte verstehen.

Wir müssen unsere Frage erneut stellen: Was heißt lesen? Nachstehend finden Sie zwei Kästchen: Was geschieht, wenn Ihr Blick darauf fällt?

Nun weiß ich zwar nicht, was bei Ihnen passiert, bei mir ist es folgendes: Ich erkenne links die Abbildung eines Apfels, und zwar, ohne daß ich mir einer inneren Aktivität bewußt würde, ohne daß ich einen spezifischen Willensakt vollziehen muß. Mein Blick fällt auf die Abbildung, und ohne irgendein weiteres Zutun meinerseits erkenne ich "den Apfel". Die Apfelbedeutung der Abbildung teilt sich mir gleichsam automatisch - quasi von ihr selbst her - mit.

Interessanterweise geschieht mir beim Kästchen rechts Ähnliches. Ohne irgendein besonderes Zutun erkenne ich die Bedeutung "Birne". Sobald mein Blick auf das Wort fällt, erkenne ich die "Birne". Auch hier teilt sich die Birnen-Bedeutung des Wortes gleichsam automatisch - quasi von selbst - mit. Als kompetenter Leser "hänge ich keine Laute aneinander", ich "schleife nichts zusammen", und ich bin mir auch nicht bewußt, einen sinnstiftenden Akt vorzunehmen. Ich "teste keine Hypothesen" und frage mich nie, was "das da heißen könnte"? Ja, bei meinem Lesen

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kommt es nicht einmal zu einer innergedanklichen Artikulation, d. h. ich lese mir in Gedanken nicht selber vor, ich höre keine Worte im inneren Gespräch, ich erfasse die Bedeutung von "Birne" direkt auf der Ebene der Begrifflichkeit unter Umgehung einer innerlich hörbaren Wortgestalt.

Ich erlebe das Lesen als etwas Ähnliches wie beim Betrachten von Dingen oder Abbildungen. Ich sehe eine Kuh und die Erkenntnis, daß es sich um eine Kuh handelt, erschließt sich mir von selbst, ich werde gleichsam von der Bedeutungshaftigkeit ihres "Kuh-Seins" angesprungen. Bei Wörtern ist es etwas Ähnliches, ich werde automatisch von ihnen "angesprungen" und kann mich dagegen nicht einmal "wehren". D. h. wenn mein Blick auf Wörter fällt, "erschließt" sich mir ihre Bedeutung, selbst wenn ich, etwa im Falle von Reklame oder Propaganda, sie gar nicht wissen will. Dies ist für mich "Lesen", und dies hat nichts mit dem zu tun, was ich in vielen Schulklassen mit traditionellem Erstlese-Unterricht antreffe, bzw. mit dem, was ich als Erstkläßler vor über 40 Jahren selber kennenlernte (und bei dem ich übrigens auch nicht lesen lernte). Es handelt sich um einen reinen Automatismus, bei dem didaktisch nur die Frage interessant ist, wie er zustande kommt.

Was also heißt Lesen? Wie schafft es der menschliche Geist, aus einer Menge von Punkten, Strichen, Kurven, deren Abbilder auf unsere Netzhaut treffen, einen begrifflichen Bedeutungszusammenhang zu entnehmen?

Derzeit gibt es auf diese Frage wie gesagt keine abschließende Antwort, d. h. es gibt keine Erklärung, wie es "funktioniert". Es funktioniert einfach, so wie unsere Verdauung funktioniert, unsere Atmung, unser Kreislauf, usw.

Nun wissen wir zwar nicht, wie der menschliche Geist beim Lesen vorgeht, aber wir wissen, daß er es irgendwann, irgendwie gelernt hat. Und für schulische Zwecke würde es zunächst völlig ausreichen, wenn wir wüßten, wie er es lernte, welche Lernprozesse beteiligt sind. Daß es die Lernprozesse waren, welche der schulische Leseunterricht organisierte, bezweifle ich. Wäre das der Fall, dann hätten wir nicht die Probleme, die wir mit dem Lesen haben, dann könnten fast alle Leute gut lesen und schreiben.

Die Sache liegt anders und - jedenfalls didaktisch - viel einfacher, als man denkt. Halten wir noch einmal fest, worauf es beim Lesen ankommt: auf das Verstehen von Sprache, welche in der Form optischer Zeichen (Buchstaben) verschlüsselt ist, durch Lichtwellen auf unsere Netzhaut gelangt und in unserem Geist verstanden wird.

Nun ist dies gewiß ein Wunder, aber kein singuläres. In anderer Form, nämlich in akustischer, ist es ein tägliches Ereignis, mit dem wir nicht im entferntesten soviel Probleme haben: mit unserer mündlichen Kommunikation. Lesen muß ähnlich sein wie Hören. Zwar hat man immer schon schreiben mit sprechen und lesen mit hören verglichen, aber den Vergleich m. E. nicht konsequent zu Ende gedacht. Deshalb frage ich jetzt: Was heißt eigentlich hören? (Wobei ich nicht das Geräusch vorbeifahrender Autos oder das Zwitschern der Vögel meine, sondern das Hören und Verstehen von Sprache). Frage ich genau, was sich da abspielt, dann muß ich fragen: Wie schafft es der menschliche Geist eigentlich, aus einer Folge von immer wieder gleichen Lauten, deren Nachhall in einem zeitlichen Hintereinander auf unser Trommelfell trifft, einen sprachlich-begrifflichen Bedeutungszusammenhang zu entnehmen?

Auf diese Frage wissen wir ebenfalls keine endgültige Antwort. Wir wissen auch hier höchstens zweierlei:

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- Bei kleinen Kindern funktioniert es noch nicht. Sie hören wohl Laute, verstehen sie aber nicht. Sie müssen dies zuerst lernen.

- Wenn man "es kann", dann funktioniert es automatisch, so wie unser ganzer Organismus funktioniert.

Bevor wir nun mit unseren Überlegungen fortfahren, sind einige Betrachtungen zur Sprache anzustellen:

Das eigentliche an der Sprache sind nicht die "Geräusche", mit deren Hilfe wir uns im Alltag unterhalten. Der Kern der Sprache sind Begriffe und die Strukturen, mit denen begriffliche Zusammenhänge darstellbar werden. Wenn ich an jenes Ding denke, das ich zwischen den Fingern halte und mit dessen Hilfe ich auf Papier schreiben und zeichnen kann, das ich wieder spitzen muß, wenn die Mine abbricht, dann kann ich dieses Ding zwar bezeichnen mit der Buchstabenreihe "Bleistift" oder einem entsprechenden Geräusch aus meinem Kehlkopf - das Geräusch bzw. die Buchstabenreihe sind aber offensichtlich nicht der Gegenstand und sie sind auch nicht der Begriff. Der Begriff ist mehr als der Name. Im Begriff ist unser ganzes Wissen über das Ding enthalten, wozu man es braucht, wie man damit umgeht, woraus es gemacht ist, wer seine Verwandten sind (Farbstifte, Kugelschreiber) usw.

Die Buchstabenreihe bzw. das Kehlkopfgeräusch können schon deshalb nicht der Begriff sein, weil z.B. Russen, die ebenfalls Bleistifte benutzen, und mithin über den gleichen Begriff verfügen, mit einer anderen Reihe von Zeichen (kyrillische Schrift) operieren, weil Franzosen das Kehlkopfgeräusch "crayon" bzw. die Engländer das Kehlkopfgeräusch "pencil" benutzen, usw. Der Begriff ist etwas rein Geistiges - er kann auch nicht zwischen die Finger genommen werden, aber der Begriff, als Kern der Sprache, kann von einem Menschen zum anderen weitergegeben werden, auch dann, wenn das Ding selbst nicht anwesend ist. Mit Hilfe von Begriffen können wir uns hier und jetzt über raum-zeitlich nicht anwesende Dinge unterhalten. Zum Kommunizieren müssen wir den Begriff lediglich in ein hier und jetzt anwesendes physikalisches Medium "einpacken" und "transportabel" machen.

Dies kann auf vielfältige Weise geschehen: z.B. mit Hilfe von Kehlkopfgeräuschen (d. h. Worten, die wir hören) oder durch Graphitspuren auf Papier (d. h. Buchstaben, die wir sehen); durch Rhythmen (wie man sie als Kombination von kurz/lang im Morse-Alphabet benutzt und die man hören oder sehen kann); durch taktile Signale (Blindenschrift, die sich ertasten läßt); aber auch durch mathematische Varianten (Digital-Code im Computer, der sich als Magnetisierungsstruktur speichern läßt).

Kurz, Menschen verfügen über eine Begriffssprache und können Begriffe auf die verschiedensten Weisen durch eine entsprechend vereinbarte Codierung symbolisch darstellen. Bei der mündlichen Sprache geschieht dies durch Laute, bei der geschriebenen durch Buchstaben, das aber ist der einzige Unterschied: Im Prinzip sind die Handhabung der Sprechsprache und die der Schreibsprache gleich.

An dieser Stelle erhebt sich nun eine Frage, deren Bedeutung im Moment vielleicht nicht einsichtig ist, die aber im Hinblick auf meine Schlußfolgerungen geklärt werden muß. Es ist die Frage: Ist Lesen dem Hören nach- oder gleichgeordnet? D. h.: Verstehen wir Geschriebenes erst, wenn es in eine Lautfolge umgesetzt wurde, oder verstehen wir direkt? Setzen wir Zeichen in Laute um und Laute in Begriffe, oder können wir evtl. Zeichen direkt einem Begriff zuordnen?

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In der Schule lernten wir beim lauten Vorlesen, wie man Zeichen in Laute umsetzt, und dann sollten wir den Lauten - nachdem sie "zusammengeschliffen" wurden - einen "Sinn" entnehmen.

Wie aber ist das beim stillen Lesen? Setzen wir beim stillen Lesen auch Zeichen in Laute um? Oder anders gefragt:

Ist stilles Lesen eigentlich ein inneres Sich-selber-Vorlesen?

Nun weiß ich natürlich nicht, wie das bei Ihnen ist. Meine Selbsterfahrung zeigt Verschiedenes: Manchmal lese ich mir selber vor, höre also den Text im inneren Selbstgespräch, manchmal verstehe ich ganze Textpassagen unmittelbar, indem ich den Sinn direkt den Buchstaben entnehme (überfliegendes lesen), und manchmal ist es gleichsam ein "halbes Vorlesen", wo mir scheint, daß ich Wörter an-artikuliere, d. h. mit einer inneren Artikulation anfange, diese aber nicht fertig mache.

In der Selbstbeobachtung diesen Phänomenen nachzuspüren, ist nicht ganz einfach. Und auch die Frage, inwieweit wir beim stillen Lesen den Text innergedanklich artikulieren und wieweit nicht, ist schwierig. Darum möchte ich für unseren Zusammenhang lediglich auf Zweierlei verweisen:

1. Prinzipiell ist festzuhalten, daß beim stillen Lesen ein vollständiges Ausartikulieren des Textes im inneren Selbstgespräch nicht Voraussetzung für das Verstehen ist. Wir können - jedenfalls im Großen und Ganzen - von den Buchstaben direkt zum Begriff "wechseln". Das bezeugen alle geübten Leser, vor allem die sog. "Schnell-Leser", die im Stande sind, die Informationen einer ganzen Textseite gleichsam mit einem Blick zu erfassen, wobei eine der Voraussetzungen dieses Könnens der Verzicht auf innergedankliche Artikulation ist. 2. Wenn ich innergedanklich noch immer einen Teil des Textes ausartikuliere, gleichsam als Begleitphänomen, dann - so vermute ich - stammen diese Artikulationsreste daher, daß ich als Kind früher lernte, daß Lesen ein Vorlesen sei. Es handelt sich also um Überreste eines falschen Lernverfahrens. Für diese Vermutung spricht die Beobachtung, daß Kinder, die nicht auf herkömmliche Weise lesen lernten, sondern ausschließlich "durch Schreiben" - ich werde später auf diese Alternative noch zu sprechen kommen - innergedanklich nicht artikulieren. Solche Kinder verstehen den Sinn von Texten durchaus, sind aber interessanterweise zunächst nicht in der Lage, den Text laut vorzulesen. Sie erfassen den Inhalt unartikuliert und erzählen dann sinngemäß, was sie gelesen haben. Sie folgen dem Text unmittelbar verstehend, während traditionell unterrichtete Kinder, die man didaktisch starr an Buchstabengruppen, Signalgruppen und dgl. "angenagelt" hat, eigentlich nur durch den Text "stolpern" und zum Verstehen einen Umweg über die Artikulation machen müssen. Die Eingangsfrage, ob Lesen dem Hören nach- oder gleichgeordnet sei, ist damit beantwortet: Lesen ist dem Hören gleichgeordnet, Hören und Lesen sind analoge Prozesse. Wenn ich über die sprachlichen Verständnisvoraussetzungen verfüge, deren es bedarf, um eine bestimmte Aussage zu verstehen, wenn ich also die verwendeten Begriffe kenne und ein minimales Vorwissen über die abgehandelte Sache habe, dann ist lesen als "sehendes Sprachverstehen" etwas Vergleichbares wie zuhören, also "hörendes Sprachverstehen". Beim hörenden Sprachverstehen treffen hintereinander Laute aufs Trommelfell, die unser Geist "autonom zusammenschleift", d. h. versteht; beim sehenden Sprachverstehen treffen nacheinander Zeichen auf die Netzhaut und werden verstanden. Ich kann deshalb je länger je weniger einsehen, warum es einfacher sein soll, aus einer flüchtigen Lautfolge "Sinn" zu entnehmen als aus einer stehenden Buchstabenkette: Eine Lautkette, welche

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eine Botschaft transportiert, ist nicht weniger abstrakt als eine Buchstabenkette. An sich gäbe es keinen Grund, das Hören als den einfacheren Vorgang zu betrachten als das Lesen. Und das ist es ja auch nicht: für den kompetenten Leser ist es sogar einfacher (jedenfalls wenn es sich um größere und komplexe Informationsmengen handelt), Informationen lesend als hörend aufzunehmen.

Wenn die beiden Vorgänge Hören und Lesen für viele Leute trotzdem nicht vergleichbar sind, d. h. wenn vielen Leuten zwar nicht das Hören und Sprechen, wohl aber das Lesen und Schreiben Mühe bereitet, dann liegt das nicht an den Phänomenen selbst, sondern an der Art und Weise, wie der Umgang mit ihnen erlernt wurde.

Da bei uns alle Leute Sprechen und Hören können, gibt es diesbezüglich kaum Probleme - und für die kleinen Kinder, die es lernen, auch keine (schon gar keine staatlichen) didaktischen Hilfen. Weil andererseits nicht alle Leute mit Leichtigkeit Schreiben und Lesen können, gilt dies als etwas Anspruchsvolleres und als etwas, das die Kinder nur mit schulischer Hilfe lernen können.

Daher lernen die Kinder Sprechen und Hören eigenaktiv und freiwillig in der natürlichen Alltagswelt; Lesen und Schreiben hingegen müssen sie fremdgesteuert in der Kunstwelt Schule lernen. Sprechen und Hören lernen die Kinder problemlos, Lesen und Schreiben lernen sie in der Schule teilweise mühsam und teilweise gar nicht. Muß das so sein?

Nachdem die Handhabung der Zeichensprache vergleichbar ist mit der Lautsprache, und nachdem beide Fähigkeiten erlernt werden müssen, denke ich, es müßten beiden Fähigkeiten auch die gleichen Lernprozesse zugrundeliegen. Und wenn das so ist, dann heißt das: Lesen und Schreiben sollten Kinder so lernen, wie sie einige Jahre zuvor Hören und Sprechen lernten.

Daß wir das bis heute nicht so machten, liegt nicht in der - vermeintlich unterschiedlichen - Natur der beiden Lernbereiche, sondern ist Folge der historisch gewordenen Lernbedingungen.

Ich kann nicht ausführlich auf diesen Punkt eingehen, doch sei mir ein Hinweis gestattet. Wenn wir die bei uns gängigen Leselehrmethoden historisch zurückverfolgen, dann gelangen wir ins Mittelalter, in eine Zeit, in der Schreiben und Lesen ein eifersüchtig gehütetes Herrschaftswissen der Kirche und des Adels war. In jener Zeit galt es den Herrschenden als unerwünscht, daß jedermann lesen und schreiben könne. Und um möglichst viele Leute vom Lesen und Schreiben fernzuhalten, wurden die einfachen Lehrmethoden, die aus der Antike überliefert waren, ersetzt durch umständliche Methoden, die einen natürlichen Zugang zur Schrift verstellten.

Während die alten Griechen und Römer den Zugang zur Schrift "durch Schreiben" gewannen, "erfand" das Mittelalter das Lesenlernen auf der Grundlage von Buchstabenkenntnissen, und das ist exakt der Weg, auf dem bis zum heutigen Tag die Schüler nur mühsam oder gar nicht lesen lernen - eine Sache, die im Mittelalter erwünscht war, heute aber beklagt wird.

Nun werden diese Zusammenhänge, so kurz wie sie hier nur angetönt werden konnten, möglicherweise nicht ganz klar. Ich denke aber, sie werden deutlicher, wenn wir den Sprech-Spracherwerb der Kinder ins Auge fassen. Es wurde ja bereits postuliert: Lesen und Schreiben sollten Kinder so lernen, wie sie einige Jahre zuvor Hören und Sprechen lernten.

Wie aber lernten sie Hören und Sprechen?

Vor dieser Frage ist in unserem Zusammenhang zunächst Folgendes besonders wichtig: Den meisten Menschen scheint klar zu sein, wie Kinder sprechen lernen: Sie hören die Erwachsenen sprechen und ahmen dann nach was sie hören, solange bis sie es selber können. Die Erklärung wirkt auf den ersten Blick einleuchtend. Entsprechend ist sie weitverbreitet, auch in Lehrerkreisen.

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Doch sie ist falsch! Entgegen der gängigen Meinung ist der Spracherwerb kein Nachahmungslernen, das belegen alle genaueren Beobachtungen:

- Auch taube Säuglinge und Kleinkinder plappern. Nie hören sie Sprache, können also auch keine je nachahmen und doch "sprechen" sie.

- Kinder, die täglich stundenlang vor dem Fernseher sitzen und fremdsprachige Programme ansehen, lernen die Fremdsprache nicht . Daß ein Kind passiv einer Sprache ausgesetzt ist, reicht nicht aus. Wichtig, ja entscheidend ist, daß es selber Sprache anwendet. Eine Sprache lernt nur, wer sie selber produziert!

- Kinder taubstummer Eltern, die sich mit ihnen in einer Zeichensprache verständigen, aber sonst durchaus eine Menge gesprochener Sprache zu hören bekommen, lernen zuerst die Zeichensprache und erst später die Lautsprache.

- Auch Kinder in sehr frühen Stadien des Spracherwerbs sagen bereits, was sie noch nie gehört haben. Im Alter von 2 Jahren sind gerade 20 Prozent ihrer Äußerungen direkte Nachahmungen von Gehörtem, mit drei Jahren gar nur noch 2 Prozent. Die Nachahmungstheorie übersieht die Eigentätigkeit des Kindes. Das Kind spricht vieles, was ihm Erwachsene nie vorgesprochen haben. Wer mit kleinen Kindern Kontakt hat, weiß, daß diese immer wieder Wendungen und Ausdrücke benutzen, die "selbsterfunden" sind. Niemand sonst benutzt diese Wendungen und Ausdrücke, also können sie auch nicht nachgeahmt werden.

Für die Sprachforschung gilt ein Grundsatz, den WYGOTSKI in "Denken und Sprechen" formulierte: Man lernt eine Sprache nur, insofern und insoweit als man sie braucht (aus WYGOTSKI, L.S.: Denken und Sprechen, Berlin, 1964). Dabei ist das vorrangige Bedürfnis des Kindes nicht, verstehen zu wollen, was andere ihm sagen, - etwa um zu erfahren, was die Mutter von ihm will. Das Kind will also nicht in erster Linie hören lernen, sondern sprechen: es will sich mitteilen, will seinem Wollen Ausdruck geben und seine Wünsche kundtun.

Die sprachlichen "Neuschöpfungen", die dabei entstehen, sind Folgen seiner erst unvollkommenen Sprachkenntnisse. Weil der Erwerb des Wortschatzes mit der Erlebnisfülle und dem Äußerungsbedürfnis des Kindes nicht Schritt hält, macht es aus der Not eine Tugend und formt spontan aus seinem kargen Wortschatz neues Sprachgut: für Zigarre "die Rauche", für Zange "die Zwicke", für Trompeter "Blaserich", für die Tätigkeit des Pianisten "Klavieren", usw.

Das Kind erwirbt also die Sprache nicht nachahmend, sondern eigenaktiv. Das ist der eine wesentliche Punkt für unsere Betrachtung. Der zweite, womöglich noch wichtigere Punkt, ist die Tatsache, daß kleine Kinder die Sprache lernen, ohne daß sie bei diesem Lernprozeß von didaktisch geschultem Fachpersonal unterstützt oder begleitet werden. Der wohl wichtigste Lernprozeß im Leben eines jeden Menschen wird ohne didaktische oder schulische Unterstützung bewältigt.

Niemand kommt auf die Idee, man müsse kleinen Kindern den Zugang zu rund 50.000 Begriffen der deutschen Sprache didaktisch erleichtern; etwa indem man mit ihnen zuerst die 10 wichtigsten Wörter der Welt lernt und danach die nächsten 20, 30 wichtigen Wörter; oder indem man vom Kind verlangt, es solle sich zuerst einmal korrekt in Form von Hauptsätzen ausdrücken, ehe es beginnt, Nebensätze zu bilden; oder indem man festlegt, zuerst solle sich das Kind in der Gegenwartsform ausdrücken lernen, ehe es die Vergangenheitsform benutzt; oder indem man vereinbart, zuerst wird die Einzahl gelernt und wenn die gekonnt ist, darf die Mehrzahl verwendet werden usw. Alles, was schulisches, didaktisch "durchdachtes" Lernen auszeichnet, fehlt hier: es gibt keine Lehrmittel, keine Lehrziele, keine Sprachlernstunden, keine

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Übungen, keine Prüfungen, keine Dauerkorrekturen und keine Zensuren. Niemand lehrt das Kind, wie der Begriff Bleistift in eine Folge von Lauten einzubringen ist, es macht auch niemand Lautübungen mit ihm - das schon gar nicht! - und niemand tut dieses oder ähnliches, weil alle solchen Maßnahmen ganz offensichtlich unnötig sind. Der Spracherwerb vollzieht sich (wie Fachleute es nennen) inzidentell: scheinbar von selbst, quasi nebenbei, ohne ausdrückliche Bemühung. Das einzige Mittel, ihn zu verhindern, wäre völlige Isolierung. Er läßt sich auch nicht beschleunigen und ist so gut wie immun gegen erzieherische Anstrengungen. Im Gegenteil: großer pädagogischer Eifer scheint der Sprachentwicklung eher schlecht zu bekommen. CAZDEN untersuchte 1965, wie sich verschiedene pädagogische Stile auf den Spracherwerb auswirken. 2) Sie verglich drei Gruppen von Kindern, alle drei Jahre alt. In der einen blieben die Kinder sprachlich sich selber überlassen. In der zweiten wurden sie niemals korrigiert, aber möglichst viel in Gespräche verwickelt, so daß sie viel Sprache hörten und selber ausprobierten. In der dritten wurden die meisten ihrer Äußerungen - didaktisch überlegt - aufgegriffen, berichtigt und erweitert. Entgegen der Erwartung, daß diese letzte Gruppe nach einigen Monaten die größten Fortschritte gemacht hätte, war ihr Fortschritt in Wirklichkeit der geringste. Die größten Fortschritte machte die mittlere Gruppe. Entscheidend für den Spracherwerb scheint also zu sein, daß das Kind viel Sprache hört und vorallem selber spricht. Belehrungen helfen ihm nicht; sie halten es sogar eher auf.

Zusammenfassend läßt sich sagen: Alle Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte verweisen auf die Fähigkeit des Kindes, sich Sprache grundsätzlich selbst anzueignen:

Kinder erwerben ihre Sprache nicht durch papageienartiges Nachplappern und nicht durch gezielte Übungen zum Nachsprechen von Lauten, Wörtern oder Sätzen, die ihnen Erwachsene vorsagen. Ihr Spracherwerb ist grundsätzlich aktiv und kreativ (etwa wenn sie eigene Begriffe bilden oder sich durch sprachliche Eigenkonstruktionen ausdrücken). Sie ahmen Sprache nicht nach, sondern erfinden und entdecken sie und korrigieren sie höchstens an der Erwachsenensprache.

Vergleicht man die wesentlichen Merkmale des alltäglichen Sprech-Spracherwerbs kleiner Kinder mit denjenigen des schulischen Schrift-Spracherwerbs der Primarschüler, dann zeigt sich, daß die Schule alles Entscheidende gerade in entgegengesetzter Weise macht - und wahrscheinlich gerade deshalb falsch.

der alltägliche Sprech-Spracherwerb: der herkömmliche schulische Schrift-Spracherwerb: kommt ohne didaktisch geschultes Fachpersonal aus braucht didaktisch geschultes Fachpersonal geschieht freiwillig und eigenaktiv geschieht unfreiwillig und aufgezwungen ist lernmäßig selbstgesteuert und kreativ ist lernmäßig fremdgesteuert und nachahmend hat zur Grundlage das eigene, aktive Sprechen, das verstehende Hören ist sekundär, d. h. das Kind lernt Hören durch Sprechen

Grundlage sind passiv aufzunehmende, vorgegebene Texte, eigenes Schreiben ist sekundär, d.h. das Kind lernt Schreiben durch Lesen

ist kategorial orientiert, weiß nichts von Lauten und übt keine Laute

ist elementenhaft orientiert, vermittelt Buchstabenkenntnisse und übt Buchstaben

macht überhaupt keine Übungen macht hauptsächlich Übungen ist nicht systematisch, hat keinen"curricularen" Aufbau, sondern ist individuell

ist "systematisch", hat einen "curricularen" Aufbau und ist an der Klasse ausgerichtet

Diese Unterschiede sind wichtig: der alltägliche Sprech-Spracherwerb kleiner Kinder funktioniert glänzend, der schulische Schrift-Spracherwerb der Schüler funktioniert zunehmend schlechter. Die

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Gründe für das Versagen des Leseunterrichts werden einsichtig, sobald man sich nochmals vergegenwärtigt, was er eigentlich macht und d. h. falsch macht. Im herkömmlichen Leseunterricht wird der Text nicht primär lesend verstanden, sondern laut vorgelesen, das heißt: Der geschriebene Text wird in Sprechsprache übersetzt, als Sprechsprach-Botschaft angehört und dann evtl. verstanden. Beim Lesenlernen muß sich das Kind die Form aller Buchstaben einprägen und diese mit einem Lautwert verbinden. Beim Lesen hat es dann jedes Zeichen in den zugehörigen Laut umzusetzen, soll daraufhin die Laute aneinanderhängen (zusam-menschleifen) und der so entstandenen Lautgestalt einen Sinn entnehmen. Doch gerade dieses Verfahren versagt bei erwachsenen funktionalen Analphabeten und Legasthenikern (die als kleine Kinder alle im Stande waren, sich eigenaktiv die Sprech-Sprache anzueignen). Zwar kennen fast alle von ihnen die Buchstaben und ihre Lautbedeutung, sie können Buchstaben auch aneinander hängen - aber verstehen den Sinn des Geschriebenen trotzdem nicht. Die traditionelle Lesetechnik orientiert sich an der sog. Graphem-Phonem-Korrespondenz und zwingt folglich die Kinder, sich in endlosen Übungsreihen Buchstaben-Lautverbindungen einzuprägen. Doch gerade dies ist unnötig, ja sogar schädlich. Die Phonem-Graphem-Korrespondenz ist ein Konstrukt unseres analysierenden Verstandes, mit den geistigen Prozessen des Lesens und Verstehens hat sie m. E. nichts zu tun. Der Prozeß des verstehenden Lesens ist ein geistiger Wahrnehmungsakt, die Wahrnehmungspsychologie aber weiß seit Jahrzehnten, daß unsere Wahrnehmung "kategorial" ist. D. h.: Unser Wahrnehmen ist zwar an Sinneseindrücke gebunden, aber was wir erleben, sind nicht diese Sinneseindrücke als solche. Wir nehmen nicht Farben, Formen, Kontraste, Helligkeiten, Laute, Rhythmen, Düfte, Temperaturwerte usw. wahr, sondern Dinge und Ereignisse. Wir bemerken nichts von schnellen Luftdruckschwankungen, sondern hören eine Melodie; erleben nicht die Anwesenheit bestimmter Aerosole, sondern den Duft frischer Rosen, sehen keine elektromagnetische Strahlung mit einer Wellenlänge von 500 bis 550 Nanometer, sondern eine grüne Wiese. Ich höre kein vages Rattern, sondern das Vorbeifahren der Eisenbahn; ich sehe nicht unzählige Farbpunkte, die sich irgendwie gruppieren, wie die Elementenpsychologie meinte und der Impressionismus bzw. Pointillismus malte, sondern ich sehe einen Baum, einen Tisch.

Es ist gleichsam so, als ob unser Geist aufgrund eines allgemeinen und übergreifenden Weltwissens die Sinneseindrücke zwar benutzt, dann aber zugunsten der Realität kreativ modifiziert, und wirklichkeitsgemäß, ganzheitlich wahrnimmt. Entsprechend hören wir im Gespräch auch keine Laute, sondern stets eine Botschaft und der kompetente Leser nimmt keine Buchstaben wahr, sondern Begriffe.

Lesen heißt verstehen. Deshalb muß man von Anfang an das Verstehen - und nur das Verstehen - ins Auge fassen, das aber heißt: es sind andere Methoden nötig.In der Theorie und Praxis des Lesenlernens muß es zu einem Paradigmenwechsel kommen: Wir müssen unsere bisherige Orientierung an der Graphem-Phonem-Korrespondenz über Bord werfen und statt dessen den Schrift-Spracherwerb in Analogie zum Sprech-Spracherwerb orientieren, d. h.: Aneignung des optischen Codes am Vorbild des akustischen.

Ich selbst habe eine entsprechende Methode vor einigen Jahren entwickelt. Sie heißt "Lesen durch Schreiben" (siehe letzte Seite). Nach anfänglich beträchtlichem Widerstand der Schulbehörden ist sie inzwischen in den meisten Deutschschweizer Kantonen und einigen Ländern der Bundesrepublik Deutschland gestattet und bewährt sich durchgehend. So wie beim alltäglichen Sprech-Spracherwerb das eigene, aktive Sprechen des Kindes (nicht das Zuhören) im

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Vordergrund steht, ist bei "Lesen durch Schreiben" das eigene, aktive Schreiben des Kindes der Mittelpunkt.

Das Kind lernt im Unterricht zunächst nicht lesen, sondern es lernt, wie die gesprochene Sprache aufgeschrieben wird. Das Lesenkönnen entwickelt sich dann als "automatisches Begleitprodukt" des Schreibens.

Im Rahmen eines offenen Unterrichts gestattet die Methode ein eigenaktives Lernen, so daß der Lernprozeß für jedes Kind individuell verläuft. Der Lehrgang steht auf der pädagogischen Grundüberzeugung, daß die meisten Kinder aus sich heraus lernfähig und lernbereit sind und nicht von außen dazu angehalten werden müssen. Es wird auch keine Lesetechnik vermittelt, statt dessen wird eine umfassende Förderung und Erweiterung des Sprachkönnens, der Wahrnehmungs- und Verstehensfähigkeiten angebahnt. Schreiben- und Lesenlernen werden also nicht als isolierte Vorgänge betrachtet, sondern sind eingebettet in die Gesamtheit aller Lernprozesse, mit denen sich ein Kind auseinanderzusetzen hat, und im Unterschied zu den "klassischen" Lesemethoden, bei denen ein "System" von Lernschritten zwingend vorgegeben ist, orientiert sich dieser Leselehrgang nicht an einer Abfolge vermeintlich aufeinanderaufbauender Lernschritte, sondern an der Komplexität des Gesamtlernprozesses der Kinder. Schreiben ist die Grundlage des Lesens, so wie es ja auch sachlogisch der ursprünglichere Akt ist: Zuerst muß ein Text aufgeschrieben sein, bevor man ihn lesen kann. Daß uns im Alltag Lese- und Schreibfähigkeiten zunehmend Mühe bereiten, findet hier seinen Grund: Weil wir im Alltag viel (auch innerlich) sprechen, macht uns das Hören keine Mühe; weil aber viele Leute im Alltag kaum schreiben, fehlt ihnen die Grundlage zum Lesen.

Wer das Lesen fördern will, muß demnach beim Schreiben ansetzen - und da ist es besonders dringlich, daß das Schreiben erleichert wird, d. h. nicht durch vorzeitige Rechtschreib- und Schriftnormanforderungen belastet bleibt.

*** Wenn der Umgang mit Sprache sowohl mündlich wie schriftlich vergleichbar ist, wenn also Sprechen und Hören analog dem Schreiben und Lesen sind und wenn hörendes Sprachverständnis erworben wird, indem das Kind aktiv spricht (Hören durch Sprechen), dann liegt die Annahme nahe, daß das Lesen schreibend gelernt wird - und zwar so, wie kleine Kinder das Sprechen und Hören lernen:

Selbstgesteuert und eigenaktiv, ohne Didaktik und Lernzwang.

Und so haben, wie ich meine, letztlich auch alle Leute, die lesen können, lesen gelernt: nicht wegen, sondern trotz des Leseunterrichts - im 2. Schuljahr mit dem einsetzenden Schreiben. Mit anderen Worten: Wer im Anschluß an das laute Vorlesen des 1. Schuljahrs im Verlauf des 2. Schuljahrs auch selbstgesteuert schreiben lernte, lernte eines Tages "durch Schreiben" auch das Lesen.

Warum aber - und damit komme ich auf die Eingangsfrage zurück - lernte Markus L. nicht lesen? Weil er laut vorlesen mußte, anfänglich aber (ganz natürlich) Mühe damit hatte, alle Schulkameraden jedoch zuhörten und ihn angesichts seiner Schwierigkeiten verlachten, bildete sich, da er ein sensibler Knabe war, ein Trauma. Die Dauerkorrekturen des Lehrers, dem jegliches Verständnis für den tieferen Sinn von Verlesungen abging, trieben ihn in die Resignation und

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verbauten weitere Lernschritte. So erwarb er sich zwar Buchstabenkenntnisse, er konnte auch ansatzweise vorlesen, aber er verstand nicht: denn er konnte nicht schreiben.

Seit einigen Monaten lernt Markus wieder schreiben - mit Hilfe eines Computerprogramms. Niemand lacht ihn aus, und Fehler kann er als solche akzeptieren, denn der Computer meldet Fehler, ohne gleichzeitig zu tadeln. Markus ist wieder motiviert und seine Fortschritte sind unübersehbar:

Jetzt wird er es schaffen.

1) GRUBER, Ch.: Lesen und Verstehen (Pädagogische Rekrutenprüfung), Eidg. Drucksachen- und Materialzentrale Bern, 1985: Bei den "pädagogischen Rekrutenprüfungen" handelt es sich um großangelegte, sozialwissenschaftliche Untersuchungen, die im Rahmen der Schweizer Armee über jährlich wechselnde Themenbereiche durchgeführt werden. Sie wurden bereits im letzten Jahrhundert eingerichtet und erbrachten bis heute ein hochinteressantes Datenmaterial, in dem sich der gesellschaftliche Wandel der Schweiz im 20. Jahrhundert spiegelt. Interessant sind diese Daten vorallem auch deshalb, weil bestimmte Problemkreise im Verlaufe der Jahre mehrfach untersucht wurden, so daß Vergleiche möglich werden.

2) CAZDEN, C.B.: Environmental Assistance to the Child's Acquisition of Grammar. Dissertation, Harvard University, Cambridge MA 1965

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Text-A12 Jürgen Reichen "Lesen durch Schreiben" - der einzige Leselehrgang mit wirklich emanzipatorischem Anspruch erschienen in: PÄD EXTRA, Heft 6/1992 "Lesen durch Schreiben", genauer gesagt: Lesenlernen auf dem Weg des freien Verschriftens, ist zunächst eine "Methode", ein Lernkonzept, gefasst in einem Leselehrgang und didaktisch aufbereitet in einem Lernpaket mit vielfältigen Unterrichtsmaterialien. Im wesentlichen beruht das Konzept auf drei Prinzipien, die in ihrem Zusammenwirken eine Öffnung des Unterrichts verwirklichen: 1. Lesedidaktisches Prinzip: Lesen durch Schreiben Bei "Lesen durch Schreiben" gibt es keine Fibel. Ausgehend von der Überlegung, dass Lesen und Schreiben prozesshaft zusammengehören, lernen die Kinder im Lehrgang "Lesen durch Schreiben" zunächst nicht Lesen, sondern ausschliesslich "Schreiben", wobei "Schreiben" nicht als motorische Fertigkeit verstanden wird, sondern als der geistige Akt, Sprache mit Schriftzeichen auszudrücken. Das wesentliche Lernziel ist die Fähigkeit des Kindes, ein beliebiges Wort phonetisch vollständig aufzuschreiben. Zu diesem Zweck vermittelt der Lehrgang dem Kind von Anfang an Einsicht in das Prinzip der Lautschrift und stellt die Hinführung zur Lautstruktur der Sprache in den Mittelpunkt der Lernanstrengungen des Anfangsunterrichts. Zentrales Arbeitsmaterial ist eine Bilder-Buchstabentafel (vgl. Abb.), von der das Kind die zum Schreiben notwendigen Buchstaben abmalen kann. Das erlaubt ihm, von Anfang an selbständig alles zu schreiben, was es will, und das bedeutet: es wird von Anfang an mit dem gesamten Lautund Buchstabenbestand gearbeitet, sodass der Wortschatz keinen Einschränkungen unterliegt. Darüberhinaus macht die Buchstabentabelle Übungen zur Buchstaben-Laut-Zuordnung überflüssig. Schreibt das Kind mit ihrer Hilfe - und diese Hilfe soll es solange beanspruchen dürfen, als es will - immer wieder selbstgewählte Wörter und Texte, dann verinnerlicht es die Buchstaben-Laut-Kenntnisse incidentell und kann aufgrund der begleitenden, unbemerkten Mitübung nach relativ kurzer Zeit ohne Tabelle schreiben.

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Zum Lesen wird das Kind im Rahmen des Unterrichts nie aufgefordert oder gar gezwungen. Man wartet, bis es von sich aus liest. Zwar enthält der Lehrgang durchaus vielfältige Leseanreize, vor allem in Form von Überschriften auf Arbeitsblättern und einem begleitenden Leseangebot, doch dienen diese nur dazu, die Lesemotivation der Kinder zu steigern. Das eigentliche Lesen stellt sich nämlich als automatisches Begleitprodukt des Verschriftens "von selbst" ein. 2. Lernpsychologisches Prinzip: selbstgesteuertes Lernen Im Unterschied zu klassischen Lesemethoden, bei denen aus Gründen der didaktischen Vereinfachung eine Abfolge chronologischer Lernschritte mehr oder weniger zwingend vorgegeben ist, verläuft der Lernprozess beim Lehrgang "Lesen durch Schreiben" individuell und weitgehend selbstgesteuert. Weil die Methode an sich dem Kind ein aktives, nicht rezeptives Lernen gestattet, kann jedes Kind grundsätzlich unterrichtsunabhängig sein Lernen vorantreiben - etwas, was viele Kinder denn auch tun. Der Lehrgang orientiert sich nämlich an der ungewohnten These, Leseunterricht sei umso wirkungsvoller, je unspezifischer er sei. "Lesen durch Schreiben" ist deshalb eigentlich erst in zweiter Linie ein Leselehrgang - in erster Linie ist es der Versuch, einen offenen, kommunikativen und selbstgesteuerten Unterricht zu ermöglichen. Nicht Lesetechnik wird vermittelt, stattdessen stehen im Mittelpunkt des Unterrichts eine allgemeine, umfassende Förderung und Erweiterung von Sprachkompetenz, Wahrnehmungsfähigkeiten, Lesefähigkeiten im weitesten Sinne (Verständnis von Bildern, Pictogrammen, Verkehrszeichen, Gestik und Mimik u.ä.) sowie einer aufgabenbezogenen Arbeitshaltung (Konzentrationsvermögen und Anweisungsverständnis). Weil der Lehrgang von der Annahme ausgeht, dass das Lernen von Lesen und Schreiben eine komplexe Leistung von Sprach-, Wahrnehmungs- und Denkprozessen darstellt, enthält er neben eigentlichen Lernangeboten zum Schreiben und Lesen auch solche im Bereich von Sprache, Denken und Wahrnehmen. Entsprechend gliedert sich das Lehrgangsmaterial nach Art eines Baukastensystems in verschiedene Teile, hauptsächlich in sogenanntes Basismaterial und vier begleitende Rahmenthemen. Das Basismaterial enthält ein offenes Materialangebot in Form von Arbeitsblättern, didaktischen Spielen sowie Lern- und Übungsprogrammen, bei denen das Lern-Kontrollgerät SABEFlX verwendet wird. Die Rahmenthemen bestehen dagegen aus gesamtunterrichtlich ausgearbeiteten Unterrichtsvorschlägen, welche ein Gegengewicht zum Basismaterial bilden. Sie haben Schul- und Alltagssituationen der Kinder zum Thema, bieten Möglichkeiten zu sozialem Lernen und schaffen Erlebnisfelder, in denen zum Ausgleich der individuellen freien Lernsituation die ganze Klasse an einem gemeinsamen Thema arbeitet. 3. Schulpädagogisches Prinzip: Werkstattunterricht Der Lehrgang steht auf der pädagogischen Grundüberzeugung, dass die meisten Kinder aus sich heraus lernfähig und lernbereit sind und viele didaktisch-methodische Massnahmen der Schule das kindliche Lernen vermutlich eher stören als unterstützen. Leitend war auch die psycholinguistische Hypothese, die besagt, dass der Anteil von Nachahmungsleistungen, d.h. Aneignung und Übernahme von lesetechnischen Verfahrensweisen, im Bereich des Lesenlernens recht gering ist, da Kinder vorab durch aktive, innere Gestaltungsprozesse die Kompetenz zu Lesen und Schreiben erwerben. Entsprechend ist bei "Lesen durch Schreiben" der Selbstaktivität des Kindes ein Maximum an Spielraum gelassen, sind die unumgänglichen Anteile rezeptiven Lernens klein gehalten. Der Lehrgang orientiert sich an der Idee des "offenen" Unterrichts. Er geht davon aus, dass Schreiben- und Lesenlernen nicht als isolierte Vorgänge betrachtet werden dürfen. Schreib- und Leselernprozesse sind eingebettet in die Gesamtheit aller Lernprozesse, mit denen sich ein Kind auseinanderzusetzen hat. Der Leselehrgang folgt daher nicht der linearen Systematik einer Reihe vermeintlich aufeinanderaufbauender Lernschritte, sondern der Komplexität des Gesamtlernprozesses der Kinder. So "bequem" das Modell einer curricularen Abfolge linearer, aufeinanderfolgender und -aufbauender Lernschritte für die Schule auch sein mag - im wirklichen Lernprozess der Kinder gibt es diese Stufenfolge ja nicht. Zwingt der Unterricht das Kind gleichwohl auf einen im Voraus festgelegten Lernweg mit einer bestimmten chronologischen und sachlogischen Lernschrittabfolge, dann beeinträchtigt und/oder stört man damit das individuelle

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Lernpotential des einzelnen Kindes. Angemessener ist die Vorgabe eines offenen, didaktischen Angebots, bei dem die einzelnen Übungs- und Lernmaterialien flexibel benutzbar sind. "Lesen durch Schreiben" ermöglicht dies durch - ein breites Lernangebot zur Auswahl: Sprache, Denken, Wahrnehmen, Mathematik und künstlerisches

Gestalten - diverse lernpsychologisch begründete Unterstützungsmassnahmen wie z.B. Förderung des

Anweisungsverständnisses, der kognitiven Orientierung, Begünstigung von Übertragungseffekten etc. - Schaffung vielfältiger, möglichst natürlicher Schreibanlässe, die für das Kind persönliche Bedeutung

haben, wie z.B. Briefe, Geschichten, Notizen u.ä. - Ausnützen der natürlichen Lernbereitschaft und des Bedürfnisses, Eigenes zu gestalten, wie z.B.

selbstgeschriebene und -illustrierte Büchlein - einen Kind-orientierten Unterrichtsstil mit didaktischer Zurückhaltung (Prinzip der minimalen Hilfe)

*** Das Konzept von "Lesen durch Schreiben" hat sich seit über 20 Jahren bewährt und findet zunehmend Anerkennung. Sein Erfolg ist allerdings abhängig vom Können und einer bestimmten Haltung der Lehrerin. Da sich der Lehrgang an einer didaktischen Konzeption orientiert, die bisher die wenigsten Lehrerinnen in ihrer Ausbildung kennenlernten, ist ein erfolgreicher Einsatz dieses Lehrgangs nur möglich, wenn Lehrerinnen zum Umdenken bereit sind. Selbst dann noch kommt es häufig zu Phasen der Unsicherheit, die schlaflose Nächte bereiten können. Der wesentlichste Grund hierfür ist im besonderen Lernverständnis zu sehen, von dem der Lehrgang ausgeht. Hinter seiner Lernkonzeption steht ja, wie schon erwähnt, die ungewohnte These, Leseunterricht sei um so wirkungsvoller, je unspezifischer er sei. Demgemäss wird zunächst nicht gelesen, und insbesondere gelten die Buchstaben-Lautkenntnisse lediglich als beiläufiges Lernziel. Stattdessen steht eine allgemeine, umfassende Förderung der Sprachkompetenz und einer aufgabenbezogenen Arbeitshaltung im Zentrum des Unterrichts. Hierbei befremdet am meisten die didaktische Geringschätzung der Buchstabenkenntnisse, widerspricht dies doch völlig den Erfahrungen des bisherigen Erstleseunterrichts, welche zu bestätigen scheinen, den Erstklässlern fehlten zum Lesenkönnen vorab die Buchstaben-Lautkenntnisse. Da Lesen ohne diese Kenntnisse nicht möglich sei, müsse die Schule sie vermitteln. Lernpsychologisch ist nun aber gerade die Buchstaben-Laut-Zuordnung sekundär. Nach heutigem Verständnis sind zum Lesenlernen mannigfache syntaktische und semantische Fähigkeiten die viel wichtigeren Voraussetzungen. Da jedoch Schulanfänger einen Teil dieser Voraussetzungen bereits mitbringen, wird weniger offenkundig, dass diese Faktoren die entscheidende Rolle spielen. Dies führt wiederum dazu, dass Lehrerinnen und Laien auch heute noch vielerorts glauben, Kinder würden lesen können, wenn sie die Buchstaben kennen und wissen, wie sie "aneinandergehängt" werden. Dabei ist unmittelbar einsichtig, dass "aneinandergehängte Buchstaben" noch keine Wörter, also ohne Information sind. Damit aus "aneinandergehängten Buchstaben" ein Wort wird, ist ein Sinnstiftender Akt erforderlich, d. h. "irgendwoher" muss der Schüler das Verständnis entwickeln, was "das Wort bedeutet". Dieses Verständnis aber wurzelt - das haben neuere Untersuchungen gezeigt - im semantischen und syntaktischen Grundwissen des Schülers, nicht in der Buchstabenkenntnis. Neben einem Umdenken in diesem Punkt ist ein erfolgreicher Unterricht mit dem Lehrgang auch nur möglich bei erhöhter Einsatzbereitschaft der Lehrerin, stellt die Methode doch deutlich höhere Anforderungen an sie als traditionelle Verfahren. Vor allem verlangt "Lesen durch Schreiben" scheinhar Unvereinbares: eine umfassendere, didaktische Vorbereitung und eine stärkere, organisatorisehe Präsenz im Unterricht bei gleichzeitiger Forderung nach didaktischer Zurückhaltung, damit die Selbstentwicklungskräfte und die Selbstlernfähigkeiten der Kinder nicht gestört werden. Ineins damit sind Übersicht und Kontrolle erschwert und dies in einer Lernsituation, welche die Leistungsunterschiede zwischen den Kindern nicht verschleiert, sondern deutlich hervortreten lässt, ja eine Zeitlang sogar noch

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verschärft, ohne dass die Lehrerin hier eingreifen könnte bzw. sollte. All dies führt dazu, dass man nur Lehrerinnen zu diesem Lehrgang raten kann, welche in der eigenen Biografie dem Prinzip der Offenheit verpflichtet sind. Entscheidend ist letztlich, dass "Lesen durch Schreiben" erheblich mehr ist, als bloss ein Leselehrgang. Über das Lesedidaktische im engeren Sinne hinausgehend ist es der ehrgeizige Versuch, einer anderen Art von Elementarunterricht den Weg zu bereiten, bei dem unter der Leitidee einer klar emanzipatorischen Zielorientierung die Ermöglichung selbstgesteuerten Lernens im Mittelpunkt steht. Erreicht wird das durch den eigentlichen "Trick" des Leselehrgangs: er nimmt sich das überaus erfolgreiche Lernen der Kleinkinder im Vorschulalter zum Vorbild und bietet ein Unterrichtsmaterial an, das diesbezüglich kindgerecht ist. Auf das Lesenlernen bezogen bedeutet das: "Lesen durch Schreiben" versucht, den Schriftspracherwerb am Vorbild des kleinkindlichen Sprechspracherwerbs zu organisieren. Das wird möglich, wenn man sich vor Augen hält, wie kleine Kinder die (Sprech-)Sprache lernen. Nun kann an dieser Stelle zwar nur rudimentär auf diese überaus wichtige und spannende Frage eingetreten werden, doch zwei entscheidende Punkte sollen kurz zur Darstellung kommen: 1. Entgegen der gängigen Meinung ist der Spracherwerb nicht das Produkt von Nachahmungsvorgängen. Es gilt ein Grundsatz von WYGOTSKI: Man lernt eine Sprache, insofern und insoweit als man sie braucht. Dabei ist das vorrangige Bedürfnis des Kindes nicht, verstehen zu wollen, was andere ihm sagen, etwa um zu erfahren, was die Mutter von ihm will, sondern das Kind will sprechen: es will sich mitteilen, will seinem Wollen Ausdruck geben und seine Wünsche kund tun. Die Sprache wird eigenaktiv erworben, wobei in der Regel das Sprechen vor dem Hören kommt, das Kind lernt gleichsam Hören durch Sprechen. 2. Kleine Kinder lernen die Sprache, ohne dass sie bei diesem Lernprozess von didaktisch geschultem Fachpersonal unterstützt oder begleitet werden. Der wohl wichtigste Lernprozess im Leben eines jeden Menschen wird ohne didaktische oder schulische Unterstützung bewältigt. Alles, was schulisches, didaktisch "durchdachtes" Lernen auszeichnet, fehlt hier: es gibt keine Lehrmittel, keine Lehrziele, keine Sprachlernstunden, keine Übungen, keine Prüfungen, keine Dauerkorrekturen und keine Zensuren. Niemand lehrt das Kind, wie der Begriff "Bleistift" in eine Folge von Lauten einzubringen ist, es macht auch niemand Lautübungen mit ihm - das schon gar nicht! - und niemand tut dieses oder ähnliches, weil alle solchen Massnahmen ganz offensichtlich unnötig sind. Der Spracherwerb vollzieht sich inzidentell: scheinbar von selbst, quasi nebenbei, ohne ausdrückliche Bemühung. Vor allem erwerben Kinder ihre Sprache nicht durch papageienartiges Nachplappern und nicht durch gezielte Übungen zum Nachsprechen von Lauten, Wörtern oder Sätzen, die ihnen Erwachsene vorsagen. Ihr Spracherwerb ist grundsätzlich aktiv und kreativ (etwa wenn sie eigene Begriffe bilden oder sich durch sprachliche Eigenkonstruktionen ausdrücken). Sie ahmen Sprache nicht nach, sondern erfinden und entdecken sie und korrigieren sie höchstens an der Erwachsenensprache. Vergleicht man die wesentlichen Merkmale des alltäglichen Sprech-Spracherwerbs kleiner Kinder mit denjenigen des schulischen Schrift-Spracherwerbs der Primarschüler, dann zeigt sich, dass die Schule alles Entscheidende gerade in entgegengesetzter Weise macht und wahrscheinlich gerade deshalb falsch.

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der alltägliche Sprech-Spracherwerb: der herkömmliche schulische Schrift-Spracherwerb:

kommt ohne didaktisch geschultes Fachpersonal aus braucht didaktisch geschultes Fachpersonal

geschieht freiwillig und eigenaktiv geschieht unfreiwillig und aufgezwungen

ist lernmäßig selbstgesteuert und kreativ ist lernmäßig fremdgesteuert und nachahmend

hat zur Grundlage das eigene, aktive Sprechen, das verstehende Hören ist sekundär, d. h. das Kind lernt Hören durch Sprechen

Grundlage sind passiv aufzunehmende, vorgegebene Texte, eigenes Schreiben ist sekundär, d.h. das Kind lernt Schreiben durch Lesen

ist kategorial orientiert, weiß nichts von Lauten und übt keine Laute

ist elementenhaft orientiert, vermittelt Buchstabenkenntnisse und übt Buchstaben

macht überhaupt keine Übungen macht hauptsächlich Übungen

ist nicht systematisch, hat keinen"curricularen" Aufbau, sondern ist individuell

ist "systematisch", hat einen "curricularen" Aufbau und ist an der Klasse ausgerichtet

Diese Unterschiede sind wichtig: nachdem der alltägliche Sprech-Spracherwerb kleiner Kinder glänzend funktioniert, der schulische Schrift-Spracherwerb der Schüler hingegen zunehmend schlechtere Resultate erbringt, können diese Unterschiede Hinweise liefern, inwiefern der traditionelle Erstleseunterricht falsch konzipiert ist. Dass ich diesen traditionellen Leseunterricht für prinzipiell verfehlt halte, brauche ich nicht näher auszuführen. Aus diesem Grunde beschäftigt mich auch ein Problem, das ich zum Schluss aus persönlicher Betroffenheit ansprechen möchte. Seit "Lesen durch Schreiben" zunehmend Anerkennung findet, wird das Konzept nicht nur von zunehmend mehr LehrerInnen aufgegriffen, es wird auch zunehmend halbherzig aufgegriffen - und dadurch in seinem Wirkungspotential geschwächt. Aufgrund des Erfolgs, den konsequent mit "Lesen durch Schreiben" arbeitende LehrerInnen haben, greifen - leider - immer mehr LehrerInnen zum Lehrgang, die der Sache eigentlich nicht so ganz trauen, die sich vom traditionellen Unterricht nicht völlig lösen können und immer noch an den Wert von Buchstabenkenntnissen glauben, meinen, man müsse im Erstleseunterricht Üben, lautes Vorlesen pflegen usw. Solche KollegInnen vermischen dann die Idee von "Lesen durch Schreiben" mit traditionellen Ansätzen und sind dann davon überzeugt, mit ihren individuellen Mischungen hätten sie nun "das Gelbe vom Ei". Aber das ist falsch. Das willkürliche Vermischen verschiedener Erstleselehrgänge ist eine Unart, die mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen ist. Lehrerinnen und Lehrer irren, wenn sie meinen, sie könnten durch eine Vermischung verschiedener Leselehrgänge gleichsam das "Beste" aus jedem Konzept bekommen und kumulativ steigern. Jede Mischung ist grundsätzlich schlechter, als das Ursprungskonzept. Im Falle von "Lesen durch Schreiben" lässt sich jedenfalls belegen, dass Lehrkräfte mit dem Leselehrgang umso mehr Erfolg haben, je ausschliesslicher sie sich an die Konzeption halten und je ausschliesslicher sie mit dem vom Heinevetter-Verlag gelieferten Material arbeiten und umso weniger Erfolg je mehr sie mit anderen Konzepten "mischen", d.h. mit Dritt- oder Eigenproduktionen operieren. Das vom Heinevetter-Verlag gelieferte Material ist schliesslich zum Vornherein auf das Konzept von "Lesen durch Schreiben" zugeschnitten, was für andere Materialien nicht gilt. Wer mischt ist entweder gedankenlos-naiv oder arrogant-überheblich und ich halte es offen gesagt für befremdlich, wenn LehrerInnen die gerade erst beginnen, das Gesamtkonzept von "Lesen durch Schreiben" kennenzulernen, daran herumverändern. Wer Material "verbessert" bzw. durch vorgeblich "besseres" ersetzt, obschon er wahrscheinlich noch um den "springenden Punkt" bei "Lesen durch Schreiben" ringen muss und mit grösster Wahrscheinlichkeit ausserstande sein dürfte, die lernpsychologischen Tiefenstrukturen im Material zu erkennen, handelt im besten Fall aus Unkenntnis, wenn nicht aus Dummheit, Überheblichkeit oder Anmassung. Man kann die lernpsychologischen Tiefenstrukturen nicht ungestraft verändern oder ignorieren. Wenn ich ein Bild machen darf: Man kann ein Automobil mit Bezin, Dieselöl oder el. Strom betreiben. Und jeder dieser

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Fahrzeugtypen hat seine Vor- und Nachteile. Man kann aber nicht die Nachteile des Elektromobils mit den Vorteilen des Benzinmotors ausgleichen, indem man Bezin in die Batterie schüttet.

*** Zusammenfassend lässt sich sagen, dass "Lesen durch Schreiben" gegenüber traditionellen Fibellehrgängen eine ganze Reihe massgebender Vorteile aufweist: 1. Dank der Buchstabentabelle kann von Anfang an mit dem ganzen Alphabet, und d. h. zugleich mit einem unbegrenzten Wortschatz, gearbeitet werden. Dies enthebt den Unterricht von den Künstlichkeiten, die vorab bei der synthetischen Methode durch die vermeintlichen Aufbaufolgen in der Einführung eines Buchstabens nach dem andern geschaffen werden und in den ersten Phasen des Leseunterrichts den verwendbaren Wortschatz in sprachdidaktisch kaum zu rechtfertigender Weise reduzieren. 2. Die Schüler können selber bestimmen, was sie schreiben wollen. Entsprechend schreiben sie, was für sie von Interesse und Bedeutung ist. So wird die informative, kommunikative und expressive Funktion von Texten unmittelbar erlebt und festigt im Schüler das Bewusstsein, dass Geschriebenes Sinn enthält. Gleichzeitig wird der Prozess des Schreiben- und Lesenlernens als etwas erfahren, was eigene Kompetenzen erweitert und im Alltag gebraucht werden kann. 3. Das Problem der Sinnentnahme entfällt, da der Schüler weiss, was er schreiben will. Der Schüler kann so zunächst seine ganze Aufmerksamkeit auf den technischen Umsetzungsprozess richten. Damit entfällt auch das Hauptproblem traditioneller Leseverfahren - das "Zusammenschleifen". Gleichzeitig wird den Schülern auf selbstverständliche Weise bewusst, dass Schreiben informieren und Lesen Sinnentnahme bedeutet. 4. Das Schreiben- und Lesenlernen erfolgt hauptsächlich über aktive und kaum über rezeptive Prozesse. Die Kinder erwerben die Kompetenz über die Schrift ohne Nachahmungslernen, was zu einer besseren langfristigen Verankerung des Gelernten führt. 5. Lernt der Schüler "durch Schreiben" lesen, dann bleiben ihm Misserfolge beim Lesen weitgehend erspart, da er erst dann im Unterricht liest, wenn er lesen kann - vorher schreibt er. Die hinlänglich bekannnte Situation, in der ein schwacher Schüler zwangsläufig blossgestellt wird, weil er mühsam einen Text vorstottern muss, während die Klasse mehr oder weniger aufmerksam "mitliest" und die Lehrerin mit Korrekturen "hilft", gehört hier der Vergangenheit an. Langweilige Lesestunden gibt es keine mehr, ein Leseverleider schon im 1. Schuljahr wird vermieden. Zudem werden durch diesen Umstand schwache Schüler in einem Masse psychologisch entlastet, welches kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. 6. Die Selbständigkeit im Lernen verhindert legasthenische Fehlentwicklungen und vermittelt Erfolgserlebnisse. Dadurch wird das natürliche Selbstbewusstsein der Schüler immer wieder gestärkt. Unter pädagogischen Aspekten betrachtet ist dies der Hauptvorteil des Verfahrens: "Lesen durch Schreiben" vermittelt dem Schüler die Überzeugung, er selbst habe sich das Lesen und Schreiben beigebracht, nicht die Lehrerin.

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Text-A13 Jürgen Reichen Aus Fehlern lernen Gegen die 'Rotstift-Kultur' in der Institution Schule erschienen in: Hamburg Macht Schule / Heft 6/93 / Alle Leute waren einst Kinder und gingen selber zur Schule. Daher sind alle in Schulfragen "Experten". Sie haben Schule erlebt, wissen wie Schule "ist" und so wie sie Schule erlebt haben, soll diese auch bei ihren Kindern sein, sie ist dann wiedererkennbar. In diesem "Erfahrungszirkel" sind auch die meisten LehrerInnen, LehrerbildnerInnen und ErziehungswissenschafterInnen gefangen: sie gingen als Kind meist gern zur Schule, waren erfolgreiche SchülerInnen und haben daher aus eigener Sicht wenig Grund, die traditionelle Schule und den traditionellen Umgang mit Schülern in Frage zu stellen, mit der Folge, dass diese Haltung grundsätzliche Schulreformen blockiert. Dieses Phänomen ist nicht auf die Schule beschränkt. Die Kulturgeschichte belehrt uns, dass es gemeinhin 50 Jahre dauert, bis eine gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis an der Basis einer Gesellschaft ankommt - da kann man sich natürlich nicht wundern, dass der Fortschritt eine Schnecke ist. Zwar wird scheinbar viel über Schule und Unterricht nachgedacht und geforscht; es gibt unzählige Publikationen, Tagungen und Symposien; überall laufen "Projekte", sind irgendwelche "Schulversuche" in Erprobung, so dass man die Schule ständig in einer Fortschrittsbewegung wähnen könnte; doch bei Lichte besehen, bleibt fast alles an der Oberfläche und gefangen in allgemeinen, nie überprüften Selbstverständlichkeiten. Und so dominiert in unseren Schulen noch immer die 'Rotstift-Kultur' - oder drastischer ausgedrückt: der 'Rotstift-Wahn'. Denn es ist ein Wahn, zu glauben, man könne das Lernen von Kindern voranbringen und erfolgreich anleiten, indem man Fehler vermeidet, bzw. konsequent "korrigiert". Dieser Wahn errichtet (1) in den Schulen lediglich "potemkinsche Dörfer", er verunglimpft (2) den Eigenwert des Kindlichen und wirkt (3) alles in allem kontraproduktiv. (1) Wird Schülern gegenüber der Anspruch erhoben, es dürften keine Fehler sein, wird einer Art Heuchelei Vorschub geleistet: Wo im Leben klappt denn immer alles? Missverständnisse, Fehler, Pannen, Unfälle sind der Alltag. Wo keine Fehler vorkommen dürfen, wo immer alles klappen muss, und dann doch Fehler vorkommen und nicht alles klappt, kommt es zu dem, was früher in der DDR der Fall war: man errichtet "Potemkinsche Dörfer", Statistiken werden gleichsam "offiziell" gefälscht, der Alltag wird propagandistisch geschönt und Wirklichkeit im Ganzen verdrängt. Doch glaube nur keiner, dass das nur in der DDR so war - Ansätze hierzu gibt es überall. (2) Dass wir unsere Kinder lieben und ehrlich bemüht sind, ihnen ein Höchstmass an Bildung zu ermöglichen, garantiert noch lange nicht, dass unsere Bemühungen auch angemessen und richtig sind. Es ist hier wie bei der weitverbreiteten "Meerschweinchen-Liebe": die Tatsache, dass die meisten Kinder ihre Meerschweinchen lieben, hat keinen Einfluss darauf, dass diese Tiere, gemessen an den Kriterien ihrer naturgemässen Lebensweise, in unseren Wohnungen zu einem geradezu erbärmlichen Vegetieren gezwungen werden.

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Wenn ich daran denke, was ich persönlich allgemein am allerwenigsten mag, dann sind es genau die zwei Dinge, die sich Kinder - zu Hause und in der Schule -dauernd gefallen lassen müssen: Zum einen kann ich es überhaupt nicht leiden, wenn andere mir vorschreiben (wollen), was ich zu tun habe, denn ich halte mich für mündig genug, in eigener Regie zu entscheiden. Zum anderen mag ich nicht, wenn mich andere kritisieren und mich auf Fehler hinweisen, denn ich halte mich für selbstkritisch. Fühle ich mich ungerechtfertigt kritisiert, reagiere ich "empört", trifft die Kritik zu, ist es mir äusserst "peinlich". Genau diese zwei Dinge machen wir immer wieder mit Kindern: dauernd werden sie in der Schule fremdbestimmt, sollen sie stets tun, was Lehrer Innen (und Eltern) verlangen und erfahren dabei hauptsächlich und dauernd, was sie wieder "falsch" gemacht haben. Diese permanente Be-Urteilung und Ver-Urteilung kindlicher Leistungen mit dem "Rotstift" verletzt m.E. die Würde des Kindes, zumindest missachtet sie den Eigenwert des Kindlichen. Jeder Mensch, auch wir Erwachsenen, möchte um seiner selbst willen geliebt werden, nicht bloss wegen seiner Vorzüge, d.h.: der Schüler will grundsätzlich, mit seinen Fehlern respektiert sein und nicht nur als "fehlerfreier" Schüler. Ist Ihnen noch nie aufgefallen: die Feststellung "falsch" hat immer - selbst wenn es so nicht gewollt ist - einen tadelnden Beigeschmack. Ein neutrales Falsch gibt es nicht. (3) Eine der Hauptaufgaben der Schule ist, das Lernen der SchülerInnen zu fördern und zu unterstützen. Doch diese Aufgabe wird massiv gestört, wenn Fehlervermeidung und Fehlerverfolgung dabei leitend sind. Lernen bedeutet doch, eine Sache, die man jetzt noch nicht weiss, jetzt noch nicht kann, nachher zu wissen bzw. zu können. Das heisst ineins, dass Lernen zunächst immer eine Überforderung darstellt und mithin in höchstem Masse "fehleranfällig" ist. Die Forderung, keine Fehler zu machen, ist von hier aus geradezu lernbehindernd. Fehler zu machen, ist ja gerade das Kennzeichen des Lernenden. Nun lernt man bekanntlich nur, wenn man motiviert ist. Das ist zwar eine Binsenwahrheit, sie wird aber noch immer erst unzureichend beachtet. Die Psychologie hat eine ganze Reihe motivierender Faktoren herausgestellt und systematisiert und beispielsweise für das Lernen intrinsische Motivierung als wirkungsvoller nachgewiesen als extrinsische. Sie weiss sogar ganz genau, welcher Motivationsfaktor bei Lernen der wirkungsmächtigste ist: die Antizipation (Vorwegnahme) des Erfolgserlebnisses. Diese ist umso motivierender, je schwieriger die gestellte Aufgabe ist. Bei leichten Aufgaben, wo man glaubt, man schaffe sie „mit links“, wird wenig Anstrengungsbereitschaft mobilisiert, bleibt die Motivation schwach. Bei Aufgaben andererseits, die als zu schwer taxiert werden, wo man sich nicht zutraut, die Sache zu bewältigen, resigniert man vor der Aufgabe und ist daher nur unzureichend motiviert. Den stärksten Motivationsschub entwickeln Aufgaben, die man zwar als schwierig, aber noch als lösbar betrachtet. Wird dabei aber die Forderung erhoben, man dürfe keine Fehler machen, dann wird die "Antizipation des Erfolgserlebnisses" in der Regel zur Illusion, d.h. die Motivation wird gelähmt. Erfolgreiches Motivieren ist weniger Sache eines "Know-hows". Es geht mehr um eine Haltung und ist eine Frage des Standpunktes: Wir können bei unseren SchülerInnen beklagen, was sie alles nicht können, nicht wissen und falsch machen und uns dabei als "didaktischer Sisyphus" sinnlos verausgaben; oder wir können uns freuen über das, was sie bereits wissen, können und richtig machen und aus dieser Empfindung heraus - gemeinsam mit den Kindern - Energie und Freude für die weitere Arbeit schöpfen. Das funktioniert (ich weiss es aus aus eigener Erfahrung)

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und erfordert letztlich nur eins: auf die Wörter "falsch" bzw. "Fehler" verzichten. "Falsch" gibt es nicht, höchstens "noch nicht richtig". Vor 4 Jahren hatte ich in meiner damaligen 1. Klasse u.a. einen Jungen namens Benjamin; ein knapp durchschnittlich begabter Junge aus einfachen Verhältnissen, etwas schwerfällig und gleichzeitig eigentümlich verträumt. Beni, der wie meine ganze Klasse durch Schreiben lesen lernen sollte, hatte mit dem Verschriften Probleme - er gehörte zu den wenigen Schülern jener Klasse, die es in der 3. Schulwoche noch immer nicht konnten. Meinen didaktischen Überzeugungen gemäss liess ich ihn aber in Ruhe, beobachtete ihn lediglich unbemerkt und war zunächst beruhigt, weil er sich anstrengte. Trotzdem war ich etwas in Sorge und ziemlich erschrocken, als er mir Mitte dritter Woche sein erstes selbstgeschriebenes Wort brachte:

"Oh Gott, auch das noch", dachte ich, sah bereits eine Schwerstlegastheniker-Karriere für Beni voraus und wollte ihm grade erklären, dass da alles "falsch" sei, als ich zu meinem Glück noch rechtzeitig in seine Augen sah - er strahlte mich mit einer derartigen Freude und einem solchen Stolz an, dass ich im gleichen Augenblick wusste, wenn ich dem Jungen nun eröffne, es sei "falsch", was er da geschrieben habe, dann wird er für lange, womöglich für seine ganze Schulzeit "geknickt" sein und da übernahm eine Art Intuition bei mir die Führung und statt "falsch" sagte ich anerkennend: "Aha, ein Bagger - und rückwärtsfahren kann er auch." Beni guckte mich daraufhin leicht verunsichert an - und ich fragte nach "Kann dein Bagger nicht rückwärts fahren?" "Doch, warum?" "Ja weisst du, du hast Bagger rückwärts geschrieben und da dachte ich, du hast das mit Absicht gemacht, damit man weiss, dass er auch rückwärts fahren kann." Damit war die Sprachregelung gefunden, um Beni zu erläutern, wie er künftig schreiben soll: "Klar, dass ein Bagger nichts taugt, wenn er nicht rückwärtsfahren kann, aber in der Regel fährt er vorwärts". Beni hatte es verstanden, stolz ging er durch die Klasse und erzählte allen, dass er Bagger geschrieben habe - und erst noch rückwärts. Nicht geknickt, sondern gestärkt fühlte er sich, denn er hatte gleich zwei Leistungen erbracht: er konnte (1) schreiben und (2) zusätzlich auch noch rückwärts schreiben; ich aber war "für alle Zeiten" vom Begriff "falsch" geheilt und verinnerlichte unabdingbar den Grundsatz: Was ein Kind trägt und weiterträgt ist nicht der Hinweis auf gemachte Fehler, sondern die Anerkennung erbrachter Leistung.

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Text-A14 Jürgen Reichen Werkstattunterricht: Zwischenbilanz erschienen in: Schweizer Lehrerinnen- und Lehrerzeitung, Heft 2/1994 In der Innovationsforschung gibt es eine Faustregel, wonach eine Schulreform erfolgreich ist, wenn sie innert 10 Jahren 10% der Lehrerschaft erreicht. Vor diesem Massstab ist die mehr oder weniger durchgängige Einführung des Werkstattunterrichts in der Deutschschweiz eine der wenigen erfolgreichen Reformen der letzten Jahre. Dieser Erfolg ist umso bemerkenswerter, weil er sich anfänglich gegen den ausdrücklichen Widerstand der Behörden und eine überhebliche Ignoranz der sog. Fachkreise durchsetzten musste. Entsprechend ist der Erfolg ein Erfolg der Lehrerschaft: LehrerInnnen, die positive Erfahrungen mit Werkstattunterricht machten, verbreiteten das Konzept bei ihren KollegInnen und bestätigten damit all jene, die sich als Wegbereiter dieser Unterrichtsform seit nunmehr über 10 Jahren engagiert dafür eingesetzt haben. Für die Schule erwächst aus dieser Entwicklung ein grosses Stück pädagogisch-didaktischen Zugewinns, was ein Grund zur Freude ist. Diese Freude darf uns aber nicht blind machen für die Tatsache dass sich der Werkstattunterricht letztlich nicht seiner pädagogisch-didaktischen Qualitäten wegen durchgesetzt hat, und auch nicht wegen des Engagements der Lehrerschaft, sondern als Folge einer tiefgreifenden Veränderung in der Wirtschaft: Der verstärkte Wettbewerbsdruck einerseits, die durchgreifende "Computerisierung" andererseits haben die Qualifikationsansprüche an künftige MitarbeiterInnen dramatisch verändert. Weil sich der internationale Wettbewerb ausserordentlich verschärft hat, wird auf dem Weltmarkt nur noch jener mithalten können, der Produkte und Dienstleistungen mit besserem Preis-Leistungsverhältnis anzubieten hat, als seine Konkurrenz. Für die Schweiz als kleines Land ohne Rohstoffe, aber einem hohen Lebensstandard und hohem Lohnniveau heisst das: wir müssen besser sein als die anderen. Besser sein bedeutet aber in Zukunft: kreativer sein. Was früher bloss Teil von Sonntagsreden war, wird heute alltagsnotwendig: die Schweiz kann nur mit einem "Rohstoff" wirtschaften - dem Gedankenreichtum, der unseren "grauen Zellen" erwächst. Unsere bisherigen Tugenden wie Fleiss, Ordnungssinn, Gehorsam, Genauigkeit u.ä.m., welche unseren Qualitätsanspruch begründeten, sind künftig kein Wettbewerbsvorsprung mehr; sie sind inzwischen ubiquitär geworden: "intelligente Maschinen" lösen weltweit den lediglich zuverlässigen Mitarbeiter ab. Alles, was in Produktion, Verwaltung, ja sogar Forschung Routineabläufe sind, wird zunehmend von Mikrochips, Industrierobotern und PC-Programmen übernommen, so dass für menschliches Mitarbeiten nur das übrigbleibt, was die Computer nicht können: sie sind nicht kreativ und nicht teamfähig. Kreativität und Sozialkompetenz sind daher die Schlüsselqualifikationen der Zukunft, gerade diese aber hat der traditionelle Unterricht ziemlich vernachlässigt. Der Werkstattunterricht - aber auch andere offenere Lernformen wie etwa Wochenplanarbeit oder Projektunterricht - sind hier der Ausweg, jedenfalls wenn es gelingt, auch in diesen Lernformen einen minimalen Qualitätsanspruch durchzuhalten. Leider ist das vorderhand noch nicht gewährleistet.

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Seit der Werkstattunterricht nämlich allgemein Verbreitung fand, haben sich die pädagogischen und didaktischen Ansprüche an diese Unterrichtsform enorm verflacht. Angesichts der Ausgangsbedingungen - anfänglicher Widerstand der Behörden und Gleichgültigkeit der Fachwelt - kann das nicht verwundern, auf die Zukunft bezogen wird aber nur eine Fortentwicklung durch Vertiefung erfolgreich sein. Für diese Fortentwicklung stehen zwei Aufgaben im Vordergrund: a) Einführung des Werkstattunterrichts auch auf der Sekundarstufe I b) Qualitative Verbesserung der Lernangebote im Werkstattunterricht In den letzten 10 Jahren hat sich der Werkstattunterricht in der Primarschule zwar durchgesetzt, eine abschliessende Legitimierung wird ihm aber nur zukommen,wenn auch die Sekundarstufe I diese Unterrichtsform praktiziert. Hier waren und sind bislang die Vorbehalte erheblich (Stichwort: höhere Fachansprüche); hier gibt es mehr organisatorische Hindernisse (Stichwort: Fachlehrersystem mit Zwang zur Teamarbeit bei Werkstattunterricht); hier sind aber auch die Chancen grösser (Stichwort: mehr Lernselbständigkeit der Sekundarschüler). Daher kommt dem Projekt "Erweiterte Lernformen" der NW-EDK eine Schlüsselstellung zu - ihm ist ein durchschlagender Erfolg zu wünschen. Was die qualitative Verbesserung von Lernangeboten betrifft, muss man sich klar machen, dass der Werkstattunterricht als Unterrichtsform zunächst 'didaktisch neutral' ist. Bildende Wirkung kann er nur auslösen, wenn die Lernangebote, welche eine Unterrichtswerkstatt enthält, in sich ein Bildungspotential enthalten. Vor diesem Hintergrund sind nun aber die vielfältigen didaktischen Fragwürdigkeiten, die inzwischen als Kopiervorlagen für Werkstattunterricht die Praxis überschwemmen, eine ernsthafte Gefahr. Dieser wird nur begegnet werden können, wenn der unermüdliche Einsatz vieler LehrerInnen zur Erstellung von Werkstattmaterialien endlich behördlich unterstützt und gleichzeitig kritisch begleitet wird: durch eine fachliche Lektorierung der entstehenden Lernangebote. Wenn dieses gelingt, können wir die nächsten 10 Jahre Werkstattunterricht mit Zuversicht auf uns zukommen lassen.

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Text-A15 Jürgen Reichen Wie lernen Kinder lesen? erschienen im Rahmen einer Artikelreihe von Balhorn/Büchner in (erschienen in der Zeitschrift "Grundschulunterricht", Heft 9, 1994, S. 69ff) Wie lernen Kinder lesen? Wohl die meisten Leute, aber auch viele LehrerInnen, halten das im Grunde für eine rein rhetorische Frage, denn eigentlich weiss doch jedermann, wie Kinder lesen lernen: so, wie man selber vor Jahren in der Schule lesen lernte. Unklar - und weitgehend offen - ist die Frage seltsamerweise nur, sobald man sich ausgiebig und grundsätzlich mit ihr beschäftigt. Wie lernen Kinder lesen? ist aber lediglich grammatikalisch gesehen eine korrekte Frage; auf dem Hintergrund eines auf Wahrheit ausgerichteten Erkenntnisinteresses ist sie unpräzise und m.E. sogar irreführend. Sie setzt stillschweigend die Annahme voraus, dass Lesen gelernt wird und nur noch geklärt werden müsse, wie. Aber trifft diese Annahme wirklich zu? Beziehe ich mich auf die bisherige Artikelreihe von Inge Büchner/Heiko Balhorn, dann scheint es so. Die Frage "Wie lernen Kinder lesen?" wird hier als grundsätzlich beantwortbare und weitgehend als bereits beantwortete Frage aufgefasst - und die zugehörige Antwort wird im Prinzip auch schon gegeben: "Lesen lernt man durch Lesen"! Inge Büchner und Heiko Balhorn haben mich eingeladen, zu dieser These Stellung zu nehmen - im Wissen darum, dass ich die These verwerfe. Ich habe die Einladung angenommen, obwohl die Begrenzungen, die ein Zeitschriftenartikel stets mit sich bringt, differenzierte Überlegungen ausschliessen. Dies möge mir zugute gehalten werden, wenn meine Gedankenführung allzu vereinfacht und verkürzt erscheint. Ich gehe davon aus, dass die Frage "Wie lernen Kinder lesen?" eine falsch gestellte Frage ist, denn Lesen wird gar nicht gelernt - es wird "plötzlich gekonnt". Gelernt wird das Schreiben und wer schreiben kann, kann eines Tages, ohne irgend ein Zutun, auf einmal - eben plötzlich - lesen! Das ist das wesentliche Ergebnis aus 24 Jahren Arbeit mit dem Leselehrgang "Lesen durch Schreiben"¹. Dabei ist für mich verstehbar: Wer zum ersten Mal mit dieser Behauptung konfrontiert wird, muss zunächst abwehrend und irritiert reagieren. Aber die Behauptung lässt sich belegen. Woher wissen wir eigentlich, dass Lesen gelernt wird? Die Tatsache, dass kleine Kinder, die zunächst nicht lesen können, irgendwann im Verlauf ihrer Entwicklung über diese Fähigkeit verfügen, ist streng genommen ja noch kein Beweis dafür, dass sie es lernten, d.h. dass das Lesenkönnen Ergebnis eines Lernprozesses ist. Wir meinen natürlich, weil wir die Kinder einem Leseunterricht unterwerfen, und sie zu gewissen, didaktisch ausgeheckten Verhaltensweisen zwingen, das würde dazu führen, dass sie es lernen. Nur - was ist mit den Kindern, die trotz unserer unterrichtlichen Massnahmen nicht (oder nur unzureichend) lesen können? Und was ist mit den Kindern, die auch ohne Schulunterricht Leser wurden? Offenbar gibt es Kinder, bei denen unser Leseunterricht versagt, und Kinder, die ihn nicht brauchen. Die allgemeine Meinung, wer lesen könne, hätte dies in der Schule gelernt, kann auch ein Irrtum sein. Alle feststellbaren Tatsachen könnten nämlich auch als Placebo-Effekt erklärt werden. Weil die ganze Gesellschaft glaubt, dass man im schulischen Leseunterricht lesen lerne, glauben das selbstredend auch die Kinder - und dieser Glaube ist es dann, der die Lesekompetenz freisetzt. Nur der Glaube bewirkt, dass Kinder eines Tages lesen können. Und daher ist das Ganze vielleicht auch über einen

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anderen Auslöser möglich. Vielleicht stellen wir eines Tages fest, dass wir mehr erreichen, wenn wir auf den traditionellen Leseunterricht verzichten und mit den Kindern stattdessen afrikanische Regentänze aufführen - interessanter dürfte das für die Kinder allemale sein. Nun behaupte ich natürlich nicht, dass man über afrikanische Regentänze zum Leser wird (meine These heisst ja, dass man durch Schreiben lesen kann), aber ich möchte dafür plädieren, den bisherigen Leseunterricht einmal grundsätzlich in Frage zu stellen - nicht nur, weil er seine behauptete Lernwirkung nicht nachweisen kann, sondern mehr noch, weil sie offenkundig nicht besteht. Wenn man im traditionellen Leseunterricht tatsächlich lesen lernen würde - warum ist dann das Ergebnis so deprimierend? Das ist es leider, auch wenn es sich erst langsam herumspricht. Schon seit einigen Jahren wird die Lesedidaktik durch das Phänomen erwachsener Analphabeten beunruhigt. Diese Unruhe ist noch gewachsen, seit deutlich wird, dass der inzwischen so benannte "funktionale Analphabetismus" nur die Spitze eines Eisbergs ist. Noch schockierender ist nämlich die Tatsache, dass in der jüngeren Generation die Lese- und Schreibfähigkeiten sich generell verschlechtern. Immer weniger sind Schüler im Stande, einen altersgemässen Text inhaltlich zu verstehen, und immer weniger Schüler, aber auch Erwachsene, interessieren sich fürs Lesen. In der Schweiz gibt es innerhalb der Armee eine altehrwürdige Institution mit dem Namen "pädagogische Rekrutenprüfung"². In diesem Rahmen hat man 1984 bei 35'000 Rekruten die Lesefähigkeiten und das Leseverhalten untersucht, analog wie bereits im Jahre 1913 bzw. 1879. Ergebnis: 17 Prozent der jungen Schweizer sind in der Lage, die allgemeine Bedeutung eines leicht abstrakten Zeitungsartikels zu erfassen. Umgekehrt heisst das, dass 83 Prozent dazu nicht in der Lage sind. 38 Prozent verstehen die Angaben eines Faltprospektes der Schweizerischen Bundesbahnen über das Halbpreisabonnement (in Deutschland: BahnCard), 62 Prozent nicht. Anfangs Mai 1994 wurden in der Schweiz die Ergebnisse aus den Rekrutenprüfungen 1991 veröffentlicht: Es sieht nun in puncto lesen etwas besser aus - 25 Prozent verstehen mittlerweile einen durchschnittlichen Zeitungsartikel. Trotzdem bleiben diese Zahlen besorgniserregend. Die Lesekenntnisse reichen offenbar gerade noch aus, um Aufschriften wie zum Beispiel "Eingang um die Ecke" zu lesen, aber wenn es darum geht, einen etwas schwierigeren Zusammenhang zu verstehen, dann gelingt dies offenbar nur noch einer Minderheit. Aus Deutschland sind mir keine vergleichbaren Untersuchungen bekannt, trotzdem gehe ich davon aus, dass die deutsche Situation der schweizerischen vergleichbar sei. Soweit bisher Ergebnisse der grossen Vergleichsstudie der "International Association for the Evaluation of Educational Achievement" (IEA) aus dem Jahr 1991 veröffentlicht wurden, geht aus diesen jedenfalls hervor, dass die schweizer Ergebnisse besser sind als die deutschen, das aber bedeutet: in beiden Ländern ist Lesekompetenz nicht in dem Ausmass vorhanden, wie man es eigentlich erwarten möchte - für mich ein Grund, über die Frage "Wie lernen Kinder lesen?" gründlicher nachzudenken. Das erfordert, dass wir uns zuerst darüber verständigen, was Lesen eigentlich ist - und was es nicht ist. Vielleicht scheint das unnötig, denn die Schule hat ja immer schon lesen unterrichtet, "weiss" mithin, was es ist. Sie hatte bisher auch nie Probleme festzustellen, ob ein Kind lesen

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kann oder nicht. Will eine Lehrerin wissen, ob z.B. Evi lesen kann, gibt sie dem Kind einen Text, lässt das Kind vorlesen und wenn das klappt, nimmt sie an, das Kind könne lesen. Leider ist dies ein fataler Irrtum! Warum? Sie können lesen, sonst wären Sie bei diesem Artikel nicht zu dieser Stelle vorgedrungen. Und nun sollen Sie - im Sinne eines kleinen "Experimentes" - Ihr Lesenkönnen "beweisen". Ich bitte Sie, lesen Sie den folgenden Satz vor:

Caprivi lerko ten hokker, en dano lasare, bing bong. Konnten Sie den Satz vorlesen? Ja? Haben Sie ihn verstanden? Nein? Hm, können Sie nun lesen oder nicht? Ich denke: Sie können den obigen Satz vorlesen, lesen können Sie ihn nicht (denn Sie verstehen ihn nicht). Die Frage ist nun, ob vorlesen Lesen ist oder nicht. Ich kann dieser Frage hier nur verkürzt nachgehen, bin aber in diesem Punkt ganz "radikal": von Lesen ist dann und nur dann zu reden, wenn man verstanden hat, was man liest. Vorlesen gilt daher nicht, denn man kann einen Text auch dann laut vorlesen, wenn man ihn nicht versteht. Lesen (als Verstehen) ist etwas grundsätzlich anderes als lautes Vorlesen. Lesen bedeutet, einem geschriebenen Text den sprachlichen Sinn zu entnehmen, Vorlesen bedeutet dagegen bloss, eine Buchstabenfolge in eine Lautfolge umzuwandeln. Hierzu ist jedoch kein Sinnverständnis nötig. Auch wer nicht Finnisch versteht, kann einen finnischen Text - nicht mit finnischer, aber mit deutscher Betonung - vorlesen. Erinnern Sie sich an die erste Schulzeit: Im traditionellen Erstleseunterricht lernten Sie nicht in erster Linie lesen, sondern "laut vorlesen". Gute Noten bekamen jene Kinder, die schön und fliessend vorlesen konnten. Ob sie den Text auch verstanden hatten, wurde im allgemeinen nicht ausdrücklich überprüft, es wurde stillschweigend vorausgesetzt. Man hat unüberprüft angenommen, wer einen Text vorlesen könne, würde ihn auch verstehen. Gerade dies ist aber nicht der Fall. In der vorher erwähnten pädagogischen Rekrutenprüfung konnten alle Rekruten den Zeitungsartikel laut vorlesen, den nur 17 Prozent verstanden haben. Man kann deshalb nicht genug in Erinnerung rufen und wiederholen: man kann einen Text auch dann laut vorlesen, wenn man ihn nicht versteht. Und genau aus diesem Grund gibt es unter den Laut-Lesern so viele Leer-Leser, d.h. "Leser" ohne Sinnverständnis. Verantwortlich für diese Fehlleistung ist sicher zum allergrössten Teil der bisherige Schulunterricht. Er hat das Problem des Verstehens überhaupt nicht explizit gemacht, sondern fast ausschliesslich Techniken des lauten Vorlesens geübt - leider! Wir wissen nun, was lesen nicht ist, aber was ist es? Büchner/Balhorn schreiben: "Lesen ist - ein komplexer Prozess. Damit hätten wir die ganze Fülle, die alles sagt und uns dennoch nicht weiterhilft." Wie wahr! Wenn wir trotzdem weiterkommen wollen, brauchen wir aber eine mindestens pragmatische "Definition", so, wie sie uns beispielsweise Kinder liefern: Lesen ist, wenn man weiss, was da geschrieben steht. Das ist vielleicht nicht unbedingt wissenschaftlich formuliert, entspricht aber in etwa einer gängigen Alltagsdefinition: lesen heisst, einen alters- und stufengemässen Text inhaltlich verstehen, seinen Sinn erfassen. Diese Definition greift nun aber zu kurz. Das Beispiel "Knnn S ds hr lsn?", das Büchner/Balhorn in Folge 1 unterbreiten, könnte für den, der sinnversteht, was diese Frage ohne Vokale meint, nach obiger Definition lesen sein, ist aber für mich mehr und zugleich auch weniger als lesen. Warum? Es geht hier um Verstehen über den Weg von Erschliessen, Erraten, Dazuvermuten. Aber Erschliessen, Erraten, Dazuvermuten ist kein praktikables Lesen, es dauerte viel zu lange, um in solcher Weise etwa einen Roman zu "lesen", es würde wohl den meisten auch keinen Spass

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bereiten, wir würden dann auf die freiwillige Lektüre verzichten. Lesen muss auch schnell gehen, "wie radfahren" meinen ja Büchner/Balhorn in Folge 2. Wer zu langsam radfährt, kann das Gleichgewicht nicht halten und wer zu langsam liest hat Mühe zu verstehen und verliert die Freude am Lesen. Für mich heisst lesen daher: auf einen Text blicken und im gleichen Moment (was ineins bedeutet: ohne inneres Vorlesen) verstehen, was er aussagt. Nun, nachdem Lesen "definiert" ist, können wir zu unserer eigentlichen Frage zurück: Wie lernen Kinder lesen?. "Lesen lernt man durch Lesen" - schreiben Büchner/Balhorn und das tönt ja auch wirklich gut, nicht wahr? Es erinnert an so eingängige Slogans wie "Klavierspielen lernt man durch Klavierspielen", "Radfahren lernt man durch Radfahren" usw. Ich wiederhole mich, es tönt wirklich gut und es scheint ja auch was dran zu sein, denn Geografie lernt man kaum im Chemielabor und Mathematik nur ausnahmsweise im Schwimmbad. Zudem sind die Beispiele und praktischen Anregungen, die in der Artikelserie bisher geboten wurden, ja auch allesamt unterrichtlich sehr gut brauchbar und didaktisch ausgesprochen praktikabel. Trotzdem - "Lesen lernt man durch Lesen" ist keine Antwort. Es ist eine Tautologie. Sicher, wer bereits Lesen kann, kann sein Lesen verbessern, wenn er liest und liest und liest. Doch wie soll jemand lesen, der es noch nicht kann? Was kann ein kleines Kind, das auf einen Text blickt und dabei nichts vom Inhalt mitbekommt (so wie ich nichts aus einem Text in hebräischer oder russischer Schrift erfahre) unternehmen, damit es beim Auf-den-Text-Blicken weiss, was er besagt? Es muss schreiben lernen, denn wie Büchner/Balhorn richtig feststellen: "Beim Lesen geht es ... um Alles oder Nichts, beim Schreiben kann ich mit einer Zwischenstufe schon erfolgreich sein." Schreiben ist die Grundlage des Lesens - aus verschiedenen Gründen, auf die hier aus Platzmangel jedoch nicht eingegangen werden kann. Nur der universelle Grund sei erwähnt: Schreiben ist der sachlogisch in jedem Fall ursprünglichere Akt: zuerst muss ein Text aufgeschrieben sein, bevor man ihn lesen kann. Lesen - als sofortiges Verstehen im Moment des Texterblickens - lernt man durch schreiben, am besten mit dem Leselehrgang "Lesen durch Schreiben". Das ist natürlich zunächst eine blosse Behauptung und muss es im Rahmen dieses Artikels auch bleiben. Trotzdem darf die Behauptung aufgestellt werden, denn der Leselehrgang "Lesen durch Schreiben" bewährt sich seit mehreren Jahren durchgehend. Bei diesem Leselehrgang lernt das Kind nicht Lesen, sondern seine Gedanken aufzuschreiben. Das Lesenkönnen ergibt sich dann wie von selbst als "automatisches Begleitprodukt" des Schreibens. Im Rahmen eines offenen Unterrichts gestattet die Methode ein eigenaktives Lernen, so dass der Lernprozess für jedes Kind individuell verläuft. Der Lehrgang steht auf der pädagogischen Grundüberzeugung, dass die meisten Kinder aus sich heraus lernfähig und lernbereit sind und nicht von aussen dazu angehalten werden müssen. Der Lehrgang ist dabei gleichsam ein paradoxer Lehrgang, denn es ist ein Leselehrgang ohne eine einzige Stunde Leseunterricht. Es werden auch keine Lesetechniken vermittelt, es wird nie "lesen" geübt und es gibt kein Vorlesen, statt dessen wird eine umfassende Förderung und Erweiterung des Sprachkönnens, der Wahrnehmungs- und Verstehensfähigkeiten angebahnt. Im Unterschied zu den "klassischen" Lesemethoden, bei denen ein "System" von Lernschritten zwingend vorgegeben wird, und bei denen man eine stufenweise, kontinuierliche Annäherung ans Lesen (oder nur Vorlesen?) über angeblich leseähnliche Vorstufen des Entzifferns, bzw. Laut-Zeichen-Zuordnens versucht, orientiert sich "Lesen durch Schreiben" nicht an einer Abfolge vermeintlich aufeinanderaufbauender Lernschritte, sondern an der Komplexität des Gesamtlernprozesses der Kinder. Und obwohl man

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mit den Kindern keinerlei lesetechnischen Übungen macht, können sie trotzdem nach kurzer Zeit lesen - im Sinne der vorherigen "Definition", d.h. auf einen Text blicken und gleichzeitig wissen, was er besagt. Dabei ist das wohl Verblüffendste die Tatsache, dass das Lesenkönnen bei den meisten Kindern plötzlich, auf einmal da ist. Diese Plötzlichkeit kann den Blick auf andere Zusammenhänge öffnen. Abwegig ist es nicht, denn ganz offensichtlich ereignen sich im menschlichen Geist viele Dinge blitzartig, plötzlich, und es hat seinen guten Grund, warum die Sprache vom Geistesblitz, von Gedankenblitz redet. Wer schreiben lernt, kann eines Tages plötzlich lesen und dann durch Lesen lesen lernen, so wie es Ivan Marugg am Ende der ersten Klasse beschrieb:

¹ Reichen, J.: Lesen durch Schreiben, Zürich 1982 erhältlich bei Verlag Otto Heinevetter, Lehrmittel GmbH, Papenstr. 41, 22089 Hamburg, Tel. 040-25 90 19/ Fax 040-251 21 28 Gegen Einsendung eines adressierten und frankierten Rückantwortumschlags (Format C5) erhalten Sie eine ausführliche, kostenlose Informationsbroschüre (Best. No. 4575) ² Bei den "pädagogischen Rekrutenprüfungen" handelt es sich um grossangelegte, sozialwissenschaftliche Untersuchungen, welche im Rahmen der Schweizer Armee über jährlich wechselnde Themenbereiche durchgeführt werden. Sie wurden bereits im letzten Jahrhundert eingerichtet und erbrachten bis heute ein hochinteressantes Datenmaterial, in dem sich der gesellschaftliche Wandel der Schweiz im 20. Jahrhundert spiegelt. Interessant sind diese Daten vorallem auch deshalb, weil bestimmte Problemkreise im Verlaufe der Jahre mehrfach untersucht wurden, so dass Vergleiche möglich werden.

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Text-A16 Jürgen Reichen Rettet die Mathematik - macht Sachunterricht! erschienen in: Die Grundschulzeitschrift, Heft 74/1994 In all den Jahren, in denen ich selber unterrichtete, war ich mit meinem Mathematikunterricht eigentlich nie recht zufrieden. Während ich in Lesen, Sprache, Sachunterricht ja manchmal sogar im musischen Bereich für mich selber immer wieder mal ein Erfolgserlebnis hatte, blieb das im Mathematikunterricht weitgehend aus. Dabei habe ich persönlich keine Schwierigkeit mit dem Fach, wohl aber mit seiner Didaktik: vor der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen eines offenen Mathematikunterrichts in der Grundschule stiess ich immer nur an die Grenzen, während die Möglichkeiten seltene Ausnahme blieben. Dem Problem, wie Mathematisches mit dem Alltagsleben der Kinder verbunden werden könnte, damit sie systematische Mathematikkenntnisse auch in einem offenen Unterricht erwerben können, war ich nicht gewachsen. Nun bin ich freilich nicht Experte auf dem Gebiet - und das könnte der Grund für mein Ungenügen sein - aber eigentlich glaube ich das nicht, denn das, was uns die "Experten" liefern, befriedigt mich, offen gestanden, noch weniger - und so stehe ich mit meinen Problemen noch immer da "wie der Esel am Berg". Klar ist für mich der didaktische Ausgangspunkt: Mathematische Erkenntnisse eröffnen zwar die einzigen quantitativen Zugänge zur Welt und zur Umwelt, für Kinder bleibt diese Funktion des Mathematischen zunächst jedoch verborgen, denn für sie kommt Mathematik im Alltag - ausser im Zusammenhang mit Geld - nicht vor. Zwar wäre unsere ganze Zivilisation mit allen ihren Errungenschaften und in allen ihren Funktionsabläufen ohne Mathematik nicht möglich, aber diese Mathematik wird meistens nicht sichtbar, sie hat gleichsam eine strukturelle Hintergrundfunktion, welche die Kinder selber kaum wahrnehmen. Deshalb müsste diese Hintergrundsfunktion des Mathematischen aufgezeigt werden, damit mathematische Zusammenhänge einsichtig würden - doch gerade diese Aufgabe ist bisher nicht wirklich gelungen. Nun ist hier nicht der Platz für ausführliche Erörterungen dieser Probleme. Mir selber scheint, ich hätte nach vielerlei Wegen und Irrwegen für mich einen Ansatzpunkt gefunden, den ich nachfolgend vorstelle - wenngleich mit der Einschränkung, dass ich mir nachwievor nicht ganz sicher bin. In der Antike wurde die Mathematik den Künsten zugerechnet - und Kunst ist sie womöglich noch heute, denn: Was macht sie eigentlich? Sie zieht nach den Methoden der Logik aus vorgegebenen Grundsätzen (Axiomen) Schlüsse und ist somit ein reines Produkt unseres Geistes, das in der Wirklichkeit gar nicht vorkommt. Entsprechend sind die Schöpfungen der Mathematik künstliche Gebilde: harmonische Gefüge von Definitionen, Sätzen und Beweisen, die in ihren besten Manifestationen den Charakter - und auch den Rang - von Kunstwerken haben. Mit Kunstwerken teilen sie die folgenden Eigenschaften: - sie sind nutzlos; - sie sind elitär; - ihre Erschaffung erfordert nicht nur technisches Können, sondern insbesondere auch Fantasie; - ihre Bewertung erfolgt durch den Konsensus der Sachverständigen.

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Wenn Mathematik aber Kunst ist, müsste dann ihre Didaktik nicht analog der Kunstdidaktik sein? Müssten wir dann Mathematik nicht so betreiben, wie wir das Musizieren, Malen, Werken usw. mit den Kindern angehen: entspannt, lustbetont, spielerisch und mit viel Fantasie? Ich weiss es nicht. Kunstdidaktik ist nicht grade meine Stärke, ich bin da ziemlich ahnungslos, nur mit den Ausdrücken "entspannt, lustbetont, spielerisch und Fantasie" weiss ich etwas anzufangen. So begann ich, mich im Mathematikunterricht zu "entspannen", d.h. vom systematischen Curriculum und den Lehrmitteln zu lösen. Und statt ausgeklügelte Lernstrategien zu planen, setzte ich meine Zeit dafür ein, die Kinder umfassend zu beobachten. Da gab es manche Überraschung und da lernte ich einiges. Natürlich ist dies ein Lernen an Einzelfällen, von dem zunächst ungewiss bleibt, wie weit es allgemein gilt, doch wenn man das weiss, können auch Einzelbeobachtungen die Richtung weisen, wie folgende Beispiele aus dem ersten Halbjahr meiner letzten 1. Klasse zeigen. Man merkt da, wo Kinder unerwartet Schwierigkeiten haben (Tatjana), wie sie in entsprechenden Situationen Eigenkräfte entwickeln (Miro) oder hochmotiviert weit abheben (Marco): Tatjana: Sie soll beim Geldspiel DM 11.-- für den Tierarzt zahlen und legt zwei 1 Mark-Stücke so nebeneinander, dass es wie 11 aussieht. Weil sie sonst eine sehr gute Schülerin ist, halten sie die Mitspieler für eine raffinierte Betrügerin und reklamieren. Es gibt Streit, Tatjana weist die Vorwürfe zurück, fängt an zu weinen - und gibt mir die Schuld: ich hätte gesagt, es komme auf die Stelle an. Miro: Er interpretiert in einem Lesetest die Frage: "Was gibt vierzehn weniger sechs?" missverständlich als "vier zehn", was mundartlich "vier Zähne" bedeutet. Wie er mir als Ergebnis "nul" bringt, meinte ich, das könne er aber besser, da ich sein Missverständnis nicht realisiere. Er geht an den Platz zurück, verbessert sich und präsentiert mir dann "dswai undernul" (zwei unter Null). Marco: Nachdem der Unterschied zwischen Zahl und Ziffer geklärt, das Prinzip des Stellenwerts verstanden und die Möglichkeiten des Sortenverwandelns eröffnet waren, wussten alle Erstklässler die "schriftliche Addition" zu handhaben. Marco war dermassen fasziniert von diesem Weg, dass er wie in einem Rausch unzählige "Mega- Giga-Super-Rechnungen" löste. Das mindeste waren Rechnungen, die sich von links nach rechts über zwei Heftseiten erstreckten, die grösste war die "Gulliver"-Rechnung, eine Addition zweier Zahlen, die auf drei aneinandergeklebten Blättern 86 cm mass - und korrekt (!) addiert war.

3458753987435628761984534672981298532720982345875398743562876198453467 +9812985327209812345875398743562876198453467298129853272098234587539874 13271739314645441107859933416544174731174449644005252015661110785993341

Beobachtungen dieser Art begründen natürlich noch keinen anderen Mathematikunterricht, nimmt man jedoch Beobachtungen dazu, wie sie hier in den Beispielen "Weihnachts-Bäckerei", "Feldmessen" und "Bestimmungsschlüssel" geschildert werden, dann wird die These plausibel, die uns tatsächlich weiterbringen könnte: der Mathematikunterricht muss Sachunterricht werden. Die grundlegenden Zielsetzungen eines modernen Mathematikunterrichts entsprechen nämlich ziemlich genau einigen Zielen im Sachunterricht:

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- Objekte und ihre Eigenschaften vergleichen, unterscheiden, ordnen, katalogisieren, einander zuordnen und miteinander verknüpfen

- Begriffe bilden, Analogien erkennen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede an verschiedenen Sachverhalten finden, feststellen und beschreiben

- mathematische Strukturen an Modellen und in der Umwelt erkennen - Sachverhalte in der Sprache (d.h. im Zeichensystem) der Mathematik beschreiben. Diese Verwandtschaft der Zielsetzungen ist begründet in einer Verwandtschaft der Sache. Das ist keine neue Erkenntnis. Aufgrund der wechselseitigen Beziehungen zwischen Mathematik und Umwelt, welche die Grundlage für das rechnerische Denken bilden, wurde im Elementarunterricht immer schon ein anschaulicher und handlungsorientierter Rechen- bzw. Mathematikunterricht gefordert, standen für die Didaktik immer schon zwei Fragen im Mittelpunkt: - Wo können mathematische Begriffe in der Wirklichkeit angewandt werden? - Welche Situationen der Umwelt gestatten es, eine mathematische Struktur zu finden? Man suchte die Antwort in der Forderung, Mathematikunterricht solle umweltbezogene Probleme und Fragestellungen aufgreifen, damit der Schüler erkenne, in welchem Masse mathematische Denk- und Betrachtungsweisen in der Umwelt Bedeutung haben. Doch gerade dieser Weg erwies sich als Sackgasse. Das Kind erfasst entsprechende Zusammenhänge nur wenn es wirklich motiviert ist und das ist es nur bei anders gerichtetem Ansatz, d.h. wenn der Sachunterricht anhand seiner genuinen Sachprobleme eine für die Lösung dieser Probleme sinnvolle und notwendige Mathematik betreibt. Deshalb ist Mathematik auf Sachunterricht angewiesen, denn ihm gelingt ohne viel Aufhebens, jene mathematischen Einsichten zu vermitteln, mit denen sich der Mathematikunterricht schwer tut; er kann jene Ziele erreichen, an denen der Mathematikunterricht bisher oft scheiterte. Überall wo der Sachunterricht Sachverhalte mathematisiert: quantitativ festhält, in Tabellen gliedert, in Diagrammen ordnet, in Raum-Zeit-Relationen einbringt, auf Wahrheitsgehalt überprüft usw. - und ein zeitgemässer Sachunterricht macht das - bahnt er der Mathematik den Weg. Beispiel „Weihnachts-Bäckerei„ Als ich vor einigen Jahren mit meinen damaligen Drittklässlern in der Vorweihnachtszeit Plätzchen buk und diese wirklich "exzellent" geraten waren, fanden zwei Mädchen, "die könnten wir doch verkaufen". Die Idee fand Zustimmung und spontan meinte man, eine Tüte solle SFr. 2.-- kosten. Da gab ich zu bedenken, dass wir ja allein schon für das Rohmaterial mehr bezahlten und die "Betriebskosten" (Löhne für die "Bäcker", Miete für die Backstube, usw.) überhaupt ausser Acht liessen. Das leuchtete den Kindern ein - und nun wollten sie wissen, was die Plätzchen effektiv kosteten. Anhand der Backrezepte und deren Gewichtsangaben und mit Hilfe einer Liste über Preise der Zutaten (Zucker, Mehl usw.), die sie von mir erbaten, gelang es ihnen, hochmotiviert, wie sie waren, die Kosten zu ermitteln - um zuletzt enttäuscht einsehen zu müssen, dass sie mit ihrer Plätzchen-Bäckerei kommerziell nicht konkurrenzfähig wären.

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Plätzchen backen wir in der Vorweihnachtszeit immer noch, und die Frage, was sie kosten würden, ist inzwischen ein Lernangebot in der Unterrichtswerkstatt "Bäckerei Simon". Nicht alle Kinder bearbeiten es mit Begeisterung, aber sie lassen sich herausfordern und bewältigen dabei arithmetische Probleme, die sie im Mathematikunterricht eigentlich noch nicht "gehabt" haben. Beispiel „Feldmessen“ Bei uns hat im 4. Schuljahr das Thema "Plan und Karte" Tradition, und "traditionell" ging ich es früher auch an. Die Kinder erfuhren, wo auf der Karte Norden ist, lernten einige Signaturen und sollten begreifen, was ein masstäblich verkleinertes Abbild der Wirklichkeit ist - was sie in aller Regel nie wirklich verstanden. Auch bei Sandro war das der Fall, und darüber wäre nichts weiteres zu berichten, hätte Sandro nicht einen älteren Bruder gehabt, der ein höchst erfolgreicher Orientierungsläufer war. Vom Bruder wusste Sandro, wer einen OL gewinnen will, muss ein guter Läufer sein und kompetent mit Karte und Kompass umgehen können. Sandro versuchte, seinem Bruder nachzueifern, und daher wollte er über Karten alles ganz genau wissen! Aber weil er nur ein knapp begabter Schüler war, hatte er hierbei erhebliche Mühe - und ich auch, denn es gelang mir nicht, ihm das Prinzip massstäblicher Verkleinerung so zu erklären, dass er es verstanden hätte. Ich stellte zwar in der Umgebung der Schule kleinere Orientierungsaufgaben, bei denen die Kinder bestimmte Gebäude finden sollten, aber das klappte schlecht. Die Karte war veraltet, es waren im Quartier einige Strassen neu dazugekommen und die Kinder orientierten sich - wie alle Anfänger - nach dem Strassennetz und nicht nach Richtungen und Distanzen. Sandro, im Schatten seines Bruders, war mehr als nur frustriert, und als ich ihm zum 4. Mal die Masstäblichkeit vergeblich zu erläutern suchte, resignierte er: "Das verstehe ich nie. Das verstehen nur die, die die Karte gemacht haben." "Aha", schoss es mir da durch den Kopf. Das wars - den Satz umkehren und ein didaktisches Prinzip ist gefunden. Wenn Kinder selber eine Karte zeichnen und vermessen, dann verstehen sie, um was es geht. Fortan machten wir das so: mit Kompass, Messschnüren, "Markierungsstäben" und Taschenrechnern vermassen wir gruppenweise die Umgebung des Schulhauses und erstellten darüber einen Riesenplan - massstabgerecht. Und was niemand erwartet hätte: Es klappte. Erläutert werden musste wenig und die Mathematik, die hier gefragt war, wurde zum Selbstläufer. Hochmotiviert und im Rahmen eines sinnvollen Tuns machten die Kinder Berechnungen weit ausserhalb des normalen Mathe-Stoffs. Zugegeben: Mit Hilfe von Taschenrechnern, die sie aber auch selber organisierten und für die sie keine Einführung brauchten. Seither baut der Unterrichtsvorschlag "Skizze, Plan und Karte" (Verlag Heinevetter, Hamburg) auf dem eigenen Kartenzeichnen auf und bewirkte in allen Klassen, von denen ich erfuhr, einen nachhaltigen "Mathe-Schub". Beispiel „Bestimmungsschlüssel“ Als ich mit einer 4. Klasse "Lernort Wald" (Heinevetter-Verlag, Hamburg) erprobte, hielt die Gruppe "Minizoo" verschiedene Insekten, Spinnen und Gliederfüssler gefangen, deren Namen niemand wusste. Auch Tierbücher brachten uns nur teilweise weiter und wir wollten schon an die Uni Zürich schreiben, als Sonja von ihrem Vater erfuhr, dass es Bestimmungsschlüssel gäbe. Das fand die Gruppe gross, bis sie enttäuscht feststellte, dass der Schlüssel von Sonjas Vater alle überforderte. Da war nun guter Rat teuer - als Sonja unvermittelt vorschlug: "Dann machen wir halt einen eigenen Schlüssel". Und das machten die tatsächlich. Den unbekannten Tieren gaben sie eigene Namen und legten dann in einer Mischung von Baum- und Flussdiagramm

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Unterscheidungsmerkmale fest, mit denen die 17 Tiere ihres "Minizoos" klar bestimmt waren. Natürlich war dieser "Schlüssel" nur grade für diese 17 Tiere zu gebrauchen, er war biologisch unsystematisch und mathematisch assymetrisch, aber er war praktikabel - und wenn Besucher des Zoos wissen wollten, was No. 5 für ein Tier sei, dann fanden sie das mit dem Schlüssel heraus: "Rückwärtsfühlerkäfer". Auch hier wieder: Wenn eine natürliche, wirkliche Situation Lösungen erfordert, dann sind Kinder dazu fähig und mobilisieren Kompetenzen, wie man sie in einer Mathe-Schulstunde praktisch nie feststellen kann.

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Text-A17 Jürgen Reichen Einige Bemerkungen zum Thema „Hausaufgaben“ erschienen in „Fragen und Versuche“, Zeitung der Pädagogik-Kooperative, Heft 68, Juli 1994 (Der Text ist die „briefliche“ Antwort auf eine Anfrage zum Thema, die Walter Hövel im März 1994 an verschiedene KollegInnen richtete.) Basel, den 12. April 1994 Lieber Walter, zu deinem Hausaufgaben-Brief will ich auch etwas beitragen, denke ich müsse, bitte aber darum, meine Worte nicht auf die Goldwaage zu.legen, denn deinem Brief gemäss ist das, was jetzt folgt, die spontane Antwort auf deine Anfrage: Hausaufgaben sind auch eines jener Strukturelemente von Schule, für das es keinerlei pädagogische Rechtfertigung gibt. Wie andere, ähnliche Strukturelemente ist das Ganze nur herrschaftssoziologisch zu verstehen: die wesentliche Funktion von Hausaufgaben ist, mitzuhelfen, eine wirkliche Volksbildung zu verhindern, also mit dazu beizutragen, dass das Volk einerseits pseudoinformiert manipulierbar bleibt (für Politik, Wirtschaft und Kirche), andererseits dass Bildung Privileg der Eliten bleibt. Hausaufgaben erfüllen ihre Funktion in dieser Angelegeneheit in Dreierlei Weise: 1. Sie verstärken die Ungleichheit der Bildungschancen, denn es ist unmittelbar einsichtig, dass von Hausaufgaben jene Kinder am meisten profitieren, denen zu Hause bei den Hausaufgaben geholfen wird, während Kinder, die ganz auf sich allein gestellt sind, weil ihre Eltern den Lebensunterhalt verdienen müssen, und also bei den Hausaufgaben keine Unterstützung erhalten, benachteiligt (ein weiteres Mal benachteiligt!) werden. 2. Betrachtet man, was in den Grundschulen tatsächlich als Hausarbeiten aufgegeben wird, dann sind es meistens Arbeiten, welche die - wiederum die Grundschicht benachteiligende - Vorherrschaft des Formalen befestigen. Es geht selten um kreative Dinge, um Sacheinsicht, um Sozialkompetenz - die Regel sind fremdbestimmte, disziplinierende Übungsaufgaben und Wiederholungen, (un-)geistige Fliessband- und Sklavenarbeit (Schönschreibaufträge, endlose Rechenpäckchen, Rechtschreibung und Grammatik, Auswendiglernen) - kurz: die langweiligen, die toten Dinge des "Stoffes", die aber, weil sie als Hausaufgaben deklariert werden, eine "Bildungswichtigkeit" erfahren, die ihnen eigentlich nicht zukommt. Alles das, was eine emanzipierende Didaktik überwinden möchte - und was auch den LehrerInnen in der Schule gemeinhin wenig Spass bereitet - wird durch die, von den Leuten als so wichtig erachteten, Hausaufgaben legitimiert - gedankenlos zwar, ohne pädagogisch zutreffende Gründe, dafür aber nachhaltig. 3. Hausaufgaben gestatten der Schule, vorab dem Gymnasium, Verantwortung abzuwälzen: in der häuslichen Arbeit müssen alle jene Lücken geschlossen werden, welche die Schule offen ließ, müssen die Kinder die didaktischen Versäumnisse aufarbeiten, welche eigentlich den Lehrerinnen

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anzutasten wären. Schlecht präsentierter, schlecht erklärter "Stoff" muss zu Hause angeeignet werden, denn in der nächsten Klausur wird er verlangt. Und weil ein Teil der Kinder dank häuslicher Unterstützung (oder gar zusätzlichem Privatunterricht) die Klausur besteht, ist der unzulänglich arbeitende Lehrer "aus dem Schneider". Gäbe es keine Hausaufgaben, würden die didaktischen Versäumnisse der Schule aufgedeckt - daran hat aber niemand wirklich Interesse. Weil die natürlichen Begabungs- und Leistungsunterschiede nicht so groß sind, wie das Lohngefälle zwischen Spitzenverdienern und unteren Einkommensbezügern, muss ja künstlich selektioniert werden, ist die Ellbogengesellschaft zwingend - und diese findet ihren natürlichsten Verbündeten in einer unzulänglichen Schule mit inkompetenten LehrerInnen (und das haben wir ja!).

*** Noch ein Nachtrag: In einem Themenheft über Hausaufgaben dürfte meiner Ansicht nach ein Hinweis auf das "Lehrstück Schwyz" nicht fehlen. In der Schweiz hat der Kanton Schwyz letztes Jahr die Hausaufgaben abgeschafft und verboten. Das hat zu einem Entrüstungssturm in der Öffentlichkeit geführt, der beinahe die Wiederwahl der Kantonsregierung gefährdet hätte. Vielleicht habt ihr Kontakte zu Freinet-Leuten in der Schweiz, die euch zu dieser Geschichte detailliert dokumentieren können, was ich nicht kann. Mir fehlen die Unterlagen und ich habe auch keine Zeit, ihnen nachzugehen. Ich weiss nur, dass sich die Sache inzwischen beruhigt hat, so dass die Chance besteht, dass diese Pionierleistung Nachahmer finden wird. Mit sehr herzlichen Grüssen aus der Schweiz Jürgen Reichen

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Text-A18 Jürgen Reichen Grundschule im Umbruch (Unveröffentlichtes Manuskript. Der Text entstand 1995 für die „Nullnummer“ einer projektierten psychologischen Zeitschrift, die dann aber nicht realisiert wurde) Die Grundschule ist im Umbruch - zwischen alten, aber massiv drängender gewordenen Problemen und neuen Anforderungen bzw. Lösungsansätzen. Alte Probleme, mit denen sie sich schon früher schwer tat, haben sich massiv verschärft, gleichzeitig sind die Qualifikationsansprüche der Wirtschaft unter dem internationalen Wettbewerbsdruck stark gestiegen. In den Grundschulen aber sitzt die erste Generation von Kindern, die mit 16 TV-Programmen aufwuchs und die Schule als 17. Programm missversteht - und gleichzeitig als das weitaus langweiligste ansieht. Kürzungen der Finanzmittel, bürokratische Hemmnisse, unklare Ziele und eine unübersichtliche "Erlasslage" bewirken ein Übriges - immer mehr ausgebrannte LehrerInnen treten vorzeitig in den Ruhestand und belasten zusehends die öffentlichen Kassen. Vor dieser Krise kehren immer mehr LehrerInnen den bisherigen Unterrichtsformen eigeninitiativ den Rücken und verwirklichen mit Lust und Engagement neue, sogenannte "offene Konzepte", in denen Kinder freudig, kreativ, selbständig und gemeinsam miteinander lernen und arbeiten. Mit diesen "offenen Formen" werden Probleme lösbar, doch der Durchbruch zu diesen Formen ist trotz Erfolgen in Frage gestellt. Die Behörden unterstützen sie nur halbherzig (dabei wäre dies die Reform, die wirklich etwas "bringt" und erst noch gratis zu bekommen wäre). Hochschulen und Studienseminare verstehen sie nicht und disqualifizieren sie überheblich als "nicht wissenschaftlich". Eltern sind verunsichert und daher gelähmt. Nur die Wirtschaft könnte entsprechende Entwicklungen verstärken wenn sie denn endlich einmal laut und deutlich sagte, was wirklich Sache ist. Kinder waren schon immer der Spiegel ihrer Zeit. Im Verhalten der Kinder werden Lebensbedingungen sichtbar - und die haben sich im Laufe der letzten dreissig Jahre einschneidend verändert. Damit aber veränderten sich auch die Aufgaben der Pädagogik. Zunehmende Verstädterung, Veränderung der Wohnverhältnisse, viele Einzelkinder, Zunahme des Strassenverkehrs sowie ein grosses Medienangebot (Bilderbücher und Comics, Radio, Cassettenrecorder, Grammophon, Fernseher und Video, Computerspiele), insbesondere der weitverbreitete Fernsehmissbrauch, führen dazu, dass heute der unmittelbare Erfahrungs-, Spiel- und Lebensraum der Kinder enger ist als früher. Vielen Schulanfängern fehlen daher direkte Umwelt- und Sozialerfahrungen, statt dessen verfügen sie über eine Vielzahl unzusammenhängender, halbverstandener Buch- und Fernsehkenntnisse. Ihr Bewegungsbedürfnis bleibt oft ungestillt, und sie sind häufig nicht in der Lage, den rezeptiven Anforderungen der Schule zu genügen oder gar Interesse entgegenzubringen. Viele Kinder verbringen inzwischen mehr Zeit vor dem Fernseher als in der Schule - mit der Folge, dass eine passive Konsumhaltung zur Gewohnheit wird. Im Unterricht sind die Schüler dann unaufmerksam, unmotiviert und zum Teil leistungsunwillig, zudem machen sich immer mehr Disziplinarprobleme bemerkbar. Auffällig ist des weiteren eine ausgeprägte Anspruchshaltung mit eskalierenden Konsumwünschen. Viele Eltern erfüllen ihren Kindern offenbar jeden Wunsch und ersparen ihnen jede Anstrengung - und

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die solcherart verwöhnten "Paschas und Prinzessinnen" bringen dann eine unrealistische Anspruchshaltung in die Schule mit. Angesichts dieser Situation gelingt es der Schule immer weniger, die Schüler mit Unterrichtsangeboten zu motivieren, bei denen formalisiertes Üben überwiegt. Die Schule müsste daher "die Konkurrenz mit den Medien dort suchen, wo sie unschlagbar ist: im Stiften von sozialen Prozessen und der Vermittlung von Erlebnissen und Erfahrungen aus erster Hand." (R. KRETSCHMANN 1988) Gerade das hat aber die Schule bisher nur unzureichend praktiziert. Für ihren heutigen Zustand ist denn auch nicht das Fernsehen verantwortlich zu machen, sondern didaktische Fehlentwicklungen. Unter den Zwängen einer wachsenden Stoffülle einerseits und der Forderung nach Lernökonomie andererseits schieben sich immer stärker Lehrmittel und Medien "zwischen Schüler und Wirklichkeit und halten ihm diese vom Leibe, anstatt sie ihm zugänglich zu machen. Sie fungieren immer seltener als Mittler zwischen Mensch und Sache, sondern ersetzen die letztere und täuschen deren Anwesenheit vor. So sind denn unsere Schulstuben immer seltener Orte der Anschauung und echte Stätten der Begegnung mit wirklichen Gegen-Ständen und Lebe-Wesen, sondern - wie WAGENSCHEIN es nennt - didaktisch hochgerüstete 'Instruktionsanlagen' und 'Belehrungsumwelten'." (U. P. MEIER, 1989). So geht es heute ganz einfach nur darum, Kindern wieder elementare Lernerfahrungen zu ermöglichen, weil das ausserschulische Leben ihnen diese vielfach nicht mehr zu bieten vermag. Die Schule von heute (und von morgen) hat ihre Funktion neu zu bestimmen. Es geht nicht mehr vorrangig darum, primäre Erfahrungen, welche von den Kindern "mitgebracht" werden, kulturtechnisch zu verarbeiten, sondern im Gegenteil, es geht darum, den jungen Menschen primäre Erfahrungen zuerst zu ermöglichen. Nur so kann die Grundschule - besser: Grund-Schule - jenes Fundament bilden, das den "Standort Deutschland" die nächsten 20-30 Jahre zu tragen vermag. Schon vor Jahren schrieb Prof. Meinhard Miegel, der in Bonn das "Institut für Wirtschaft und Gesellschaft" leitet (vgl. "DIE ZEIT", Nr. 12 / 15. März 1991), dass in modernen Industriegesellschaften Ideen zur wichtigsten Ressource geworden sind und nur Ideenreichtum moderne Industriegesellschaften vor ihrem Absturz bewahrt. "Dabei wäre es eine verhängnisvolle Fehleinschätzung, innovative Kräfte als unerschöpfliche und damit stets verläßliche Quelle anzusehen. Vielmehr dürften sie in entwickelten Industrieländern die knappste Ressource überhaupt und ihrer Erschöpfung nahe sein. Jedenfalls signalisiert nicht zuletzt der Berg ungelöster Probleme einen existenzbedrohenden Ideenmangel. Die spektakuläre Wissensmehrung der jüngeren Vergangenheit hat hier viele auf eine falsche Fährte gelockt. Denn mit Wissen allein werden Probleme nicht gelöst. Ideen und ihre Durchsetzung sind etwas qualitativ anderes als Wissen." Diese Einsicht bricht sich jedoch erst allmählich Bahn. Noch immer dominiert in den Grundschulen ein formaler Leistungsbegriff. "Kreative Lösungen, Flexibilität, Engagement, soziale Kompetenz, experimentelles Handeln, vernetzendes Denken, Ausdauer, Frustrationstoleranz - all das, was die moderne Arbeitswelt abverlangt, bleibt schulisches Zufallsprodukt." (Rosemarie Raab, Hamburger Schulsenatorin in einem Interview mit FOCUS, Nr. 13/1995) Unter dem Druck der

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Leistungsgesellschaft steht noch immer das Erreichen formaler Ziele im Vordergrund, dominiert der lehrerorientierte Klassenunterricht, dreht sich noch immer alles darum, den Schülern möglichst rasch möglichst viel Wissen zu vermitteln, und statt bei den Dingen zu verweilen und mit ihnen praktisch umzugehen, geht der Unterricht allzu schnell über zur Theorie, zum abstrakten Begriff. Das kann nicht so bleiben - Grund genug also, sich ernsthaft mit der Grundschule zu beschäftigen, denn "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!" Wie eine zeit- und kindgemässe Grundschule aussehen müsste, ist als Konzept der "offenen" Grundschule bekannt. Dieses wird bereits vielerorts von engagierten LehrerInnen eigeninitiativ - und sehr erfolgreich - verwirklicht, obwohl es viel Kraft erfordert: sie müssen nicht nur ein anspruchsvolles Unterrichtsarrangement vorbereiten, sondern zusätzlich den verwöhnten "Paschas und Prinzessinnen" die Anstrengung des Lernens abverlangen. Anders als das Fernsehen, das auf Amusement hin angelegt ist, ist Lernen ja stets ein Akt, der Konzentration, Mühen und Entbehrungen mit sich bringt. Zudem lassen sich eine "gute Arbeitshaltung", geistige Disziplin, genaues Beobachten, präzises Fragen sowie kritisches Denken nicht einfach "anbefehlen", entwickeln sich aber im "offenen" Unterricht, jedenfalls dann, wenn dieser ein attraktives Arrangement bietet. Leider wissen einzelne Schulbehörden, Eltern aber auch Teile der Lehrerschaft den Wert lebendiger und schüleraktiver Lernformen immer noch nicht richtig einzuschätzen. Zwar sieht der "offene" Unterricht von aussen manchmal etwas unperfekt und ungestüm aus, aber er hinterlässt eine bleibende Wirkung und wird von den Kindern als bedeutungsvoll und "prima" erlebt. Gegner führen eine Reihe von "Mängeln" ins Feld, die nur vor dem - überholten - Werthorizont der alten Lernschule Mängel sind. Wer die Qualität des Unterrichts bloss anhand leicht feststellbarer äusserlicher Zeichen beurteilt (ruhig sitzen; schön auf die Linien schreiben; tägliche Rechtschreibübungen, viele Hausaufgaben usw.) ist kurzsichtig und fragt nicht, welchen Preis die Kinder dafür zahlen. Der traditionelle, rigide und formale Unterricht ist nämlich nicht nur geisttötend, er fügt auch der werdenden Persönlichkeit der Kinder häufig Wunden zu, die kaum zu heilen sind. Vor allem aber versagt er dort, wo er hartnäckig und ideologisch verbohrt immer wieder seine Geltung beanspruchen will: im Leistungsbereich - denn im traditionellen Unterricht wird effektiv zuwenig und vor allem das Falsche gelernt! "Im Prinzip" weiss man das allgemein und entsprechend sind denn auch alle neueren Richtlinien und Lehrpläne - jedenfalls auf dem Papier - der Idee der "Öffnung" verpflichtet, aber in der Breite stagniert die Entwicklung - gesellschaftliche und politische Umstände gewähren ihr keine Schubkraft. Äussserlich tat sich zwar in den letzten Jahren eine ganze Menge und viele Schulen entwickelten ein eigenes "Profil" mit Schulfesten und erlebnishafter Pausenhofgestaltung, mit pädagogischem Mittagstisch und Besuchstagen u.ä.m.; aber im Kern, im innersten Lernverständnis, tat sich nichts. Zwar sind alle neueren Lehrpläne dem Prinzip der Öffnung verpflichtet, doch dieses Prinzip wird von der Schulaufsicht weder durchgesetzt noch nachhaltig unterstützt. In NRW, das bildungspolitisch zu den fortschrittlicheren Bundesländern gehört, sollen nach Einschätzung des Kultusministeriums zirka 5% der Schulen "offen", d.h. also im Sinn und Geist der Lehrpläne arbeiten - und das gilt bereits als Erfolg! Nun kommt es zwar weniger auf die Quantität als auf die Qualität an - aber hier sind doch ein paar Fragezeichen anzubringen. Aller Einsatz wird m.E. wirkungslos, wenn die Erneuerung der Grundschule nicht auch im Zentrum erfolgt - beim Lernverständnis. Gerade hier aber liegt noch vieles im Argen. Noch immer baut das vorherrschende Lernverständnis auf den Wert der Übung. Es dominiert das dem Kind aufgezwungene Nachahmungslernen anhand des "didaktischen Dreischritts": (1) Die Lehrerin

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zeigt, gibt, macht vor (2) Die Kinder wiederholen, ahmen nach (3) Die Kinder üben und üben solange bis der Stoff sitzt. Dieses Nachahmungslernen mit anschliessender Dauerübung ist nicht der didaktische "Königsweg". Wer tiefer in die Problematik von Lernprozessen eindringt, stellt sehr bald fest, dass selbstgesteuertes Lernen durch Selbstentdeckung mit lediglich funktional-begleitender Mitübung das überlegenere Lernverfahren ist. Solange aber aufgezwungenes Nachahmungslernen mit anschliessendem Üben, Üben, Üben dominant bleibt, werden alle anderen "Reformen" randständig und d.h. zugleich wirkungslos bleiben. Und die Grundschule wird abschliessend auch ihre Probleme nicht lösen können, von denen sie inzwischen ja mehr als genug hat. Zur kindgemässen und zukunftsoffenen Schule, in der Kreativität, Mitmenschlichkeit, Zusammenarbeit, kritische Urteilsfähigkeit und altersgemässe Mündigkeit im Zentrum stehen, wird sie erst, wenn allgemein akzeptiert wird, dass das Üben das grösste aller Übel ist! Solange aber diese heilige Kuh noch auf der Weide grast (und auch noch besonders gehätschelt wird) gilt in aller Schärfe, was der Münchner Psychologieprofessor Lückert schon 1970 ganz klar formulierte: "Die Grundschule ist eine staatliche Verdummungsanstalt" - und das ist sie - bei Gott! - und bis heute. "Macht Unterricht die Kinder dumm?" überschrieb erst kürzlich Prof. Hans Brügelmann (Gesamtuniversität Siegen) einen Artikel in der schweizerischen Schulzeitschrift "die neue schulpraxis" (Heft 12/1994) - eine Frage, die es in sich hat (und die von Brügelmann bejaht wurde). "Ein 27 Jahre alter Hirte hat 25 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Hirte?" Der Drittklässler Sebastian antwortet, indem er alle drei Zahlen addiert, sein Kamerad Dennis zählt die ersten beiden zusammen und zieht vom Ergebnis die dritte ab - begründet haben die beiden Jungen ihr Vorgehen wie folgt: Die Ziegen muss man dazuzählen, meint Sebastian, denn die laufen ja nicht weg; während Dennis umgekehrt meint, die laufen weg, (weil der Hirte nämlich nicht aufpasst). Solche Aufgaben "rechnen" nur etwa 10% der Erstklässler, in der 2. Klasse aber, nachdem die Kinder mehr als ein Jahr "didaktisch betreut" worden sind, lassen sie sich bereits zu einem Drittel auf solche Aufgaben ein, und in den dritten und vierten Klassen "bearbeiten" mehr als der Hälfte aller Kinder solche "Aufgaben". Erst in der Sekundarstufe scheint sich der Verstand wieder etwas stärker durchzusetzen. Es ist hier nicht der Ort, an dem näher auf diese Problematik einzugehen wäre, ich stehe aber mit meinem Namen dazu, dass in den Schulen "Verdummungsprozesse" ablaufen - ob mit oder ohne Absicht bleibe dahingestellt. Zwar wird regelmässig der mündige Bürger beschworen, doch in den Schulen dominiert Unterricht, der den fügsamen Untertan "formt", so dass die Frage entsteht, warum die Auseinandersetzung mit diesem Problem, welches bei Erkenntnistheoretikern, Wahrnehmungs-, Lern- und Denkpsychologen durchaus bekannt ist, gemieden wird wie die Pest? Eine Debatte hierüber dürfte allerdings problematisch werden. Zum einen fühlen sich ja alle Leute, nicht zuletzt Politiker, in Schulfragen als Experten, denn alle gingen jahrelang selber zur Schule - und niemand denkt, dass er "verdummt" wurde; "nichts auf der Welt ist so gerecht verteilt worden wie der Verstand, denn jeder glaubt, genug davon mitbekommen zu haben." (Billy Graham) Zum anderen scheuen Schulbehörden Effizienzprüfungen: Bei solchen Überprüfungen käme womöglich heraus, dass Kinder bei der Lehrerin X sehr viel können, bei der Lehrerin Y sehr wenig - und wer wollte es dann den Eltern verdanken, wenn alle ihr Kind zu Frau X schicken wollen und niemand zu Frau Y. Was macht dann die Behörde, welche Frau Y - auf Lebenszeit verbeamtet - nicht loswerden (und auch nicht ändern) kann, denn die Frau hat "Methodenfreiheit". Selbst wenn wir annehmen, dass Behörden wissen, was guten Unterricht auszeichnet (was ich persönlich allerdings in vielen Fällen bezweifle), können sie das doch nicht laut und deutlich benennen und einfordern, hängen ihnen doch wie Mühlsteine LehrerInnen am Hals, die nicht willens und/oder

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nicht fähig sind, guten Unterricht zu erteilen. Also äussert sich die Kritik in vagen Allgemeinplätzen. Dabei darf es aber nicht bleiben. Wir finden nur aus der Sackgasse heraus, wenn endlich eine deutliche und substantielle Kritik erfolgt - die auch gehört wird. Und weil, wie die Verhältnisse derzeit nun einmal sind, nur die Wirtschaft hierzu die Möglichkeit hat, wiederhole ich meine Aufforderung, die Wirtschaft möge endlich laut und deutlich sagen, was wirklich Sache ist. Die Wirtschaft weiss, dass es in Zukunft nicht mehr Arbeit für alle Arbeitswilligen geben wird, und dass künftig nur die Kreativen, Kooperationsfähigen, Initiativen, Selbstverantwortlichen Arbeitschancen haben werden. Sie weiss auch, so hoffe ich wenigstens, dass unser noch immer von formalem Wissen dominierter Grundschul- und Schulunterricht gerade diese Fähigkeiten mehr oder weniger blockiert oder sogar zerstört. Deshalb stellt sich die Frage: Warum sagt sie dieses nicht laut und deutlich und am richtigen Ort? Interessiert sie sich nicht für diese Probleme, weil sie ihre Arbeitsplätze ohnehin zunehmend dorthin verlagert, wo sie die kreativen Mitarbeiter findet? Oder drückt sie dieses Problem nicht, weil sie ohnehin mit viel Aufwand und Kosten in "Psychoweekends" und "Kreativworkshops" u.ä. nachholen muss, was in der Schule versäumt wurde? Oder kommt ihr gar gelegen, dass unser Schulunterricht die kreativen und kommunikativen Potentiale bei den Kindern verdirbt, weil sie künftig eh nicht alle Arbeitswilligen beschäftigen kann und im Fehlen von kreativen und sozialen Kompetenzen eine einfache Ausrede hat, mit der sich die Nicht-Beschäftigung eines grossen Bevölkerungsteils begründen lässt? Sowas kann doch langfristig keine Strategie sein, denn eine Bevölkerung ohne Arbeitseinkommen kann ja dann auch nicht die Waren kaufen, welche die Kreativen in anderen Ländern produzieren. Deshalb stellt sich wirklich die Frage: Warum sagt die Wirtschaft der Bevölkerung (und den Kultusministerien) nicht laut und deutlich, um was es geht, was wirklich wichtig ist und was nicht? Wichtig ist z.B. Teamfähigkeit - solange aber alle Abschlussprüfungen in Schule, Lehre und Studium Einzelprüfungen sind, wird Teamfähigkeit nicht gefördert. Wichtig ist, dass man sinnverstehend lesen kann. Einen Text schön und mit Betonung vorzulesen ist hingegen völlig unwichtig (nur die wenigsten werden NachrichtensprecherInnen bei Radio und Fernsehen). Textverständnis ergibt sich nämlich nicht aus dem Vorlesen, die Annahme, wer einen Text vorlesen könne, könne lesen, d.h. habe den Text verstanden, ist falsch. Das hängt mit der Tatsache zusammen, dass man einen Text nicht verstehen muss, um ihn trotzdem laut vorlesen zu können: auch wer nicht Finnisch kann, kann einen finnischen Zeitungsartikel, sieht man einmal von der finnischen Betonung ab, laut vorlesen. Eigentlich sollte man das Vorlesen verbieten, denn es ist nicht nur unwichtig, sondern nachgewiesenermassen geradezu schädlich! Stunden um Stunden eine Schreibschrift zu üben, ist sinnlose Zeit- und Kraftvergeudung. Zum Lesen ist diese Schrift ja denkbar ungeeignet, jede Zeitung, die in Schreibschrift erschiene, wäre in kurzer Zeit pleite, so dass das einzige Argument zugunsten dieser Schrift das Geschwindigkeitsargument ist: von der Mehrheit der Leute kann sie schneller geschrieben werden als die Druckschrift. Doch dieses Argument ist überholt, denn heute haben wir mit der Tastaturschreibung eine noch schnellere Schrift. Wozu brauchen wir also noch eine Schreibschrift? Die US-Amerikaner kennen keine - und sind trotzdem die Wirtschaftsmacht Nr. 1. Das "Normalverfahren" bei den vier arithmetischen Grundoperationen (und, weg, mal, durch) "ordnungsgemäss" zu beherrschen, ist im Zeitalter der Taschenrechner obsolet, zumal dann, wenn darob der Gewinn mathematischer Einsichten auf der Strecke bleibt. Mathematische Zusammenhänge zu verstehen ist entscheidend, nicht ein didaktisches Dogma, das diese

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Einsichten blockiert. Vor allem aber sollte die Wirtschaft laut und deutlich sagen, dass das "Prunkstück" des bisherigen Grundschulunterrichts, der Grammatik- und Rechtschreibunterricht, absolut unwichtig und kontraproduktiv ist: Grammatikalisches Können beherrschen alle Menschen implizit. Man muss grammatikalische Regeln nicht bewusst kennen, um sich trotzdem in völliger Entsprechung zu diesen Regeln grammatikalisch korrekt auszudrücken. Alle Naturvölker beherrschen die Grammatik implizit, sprechen ihren Regeln gemäss und haben in bewusster Weise keine Ahnung von diesen Regeln. Bei der Rechtschreibung ist es ähnlich. Möglicherweise würde sie sich implizit entwickeln, wenn man sie in Ruhe liesse, so, wie sich die Sprechnorm beim mündlichem Spracherwerb der kleinen Kinder auch von selbst und implizit ergibt. Niemand korrigiert kleine Kinder dauernd unter normativen Aspekten, wenn sie Ausdrücke und Wendungen benutzen, die der Norm nicht entsprechen. Man weist sie nicht permanent auf ihre "Fehler" hin und macht nicht ständig (Sprech-)"Diktate" mit ihnen - man weiss, dass sich die Norm "von selbst" einstellt. Unsere ganze "Rechtschreiberei" ist doch bei Lichte betrachtet absurd. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts gab es keine Rechtschreibung. Goethe konnte keine Rechtschreibung, trotzdem gab es damals eine hochentwickelte Wissenschaft, Literatur und Philosophie. Wie absurd das Ganze ist, zeigen nicht zuletzt die immer wieder angesagten und manchmal auch versuchten "Reformen". Betrachtet man genauer, was die "Ortho-Grafen" in ihrer Regelungswut fordern, kann man wirklich nur mit Walter Boehlich von "halben Lösungen und ganzen Idiotien" sprechen. (vgl. Titanic 1/1995) Selbst wenn die Leute in der Rechtschreibung schlechter wären, als sie es heute sind, was würde das ändern? Rechtschreibung sei wichtig, wird gebetsmühlenartig landauf, landab betont. Frage: Warum eigentlich? Für wen eigentlich? Ich sage nein! Sie ist unerheblich - totes Wissen, mit dem man auf dem Weltmarkt keine müde Mark verdienen kann. Man sollte sich doch wirklich mal die Frage stellen, was man eigentlich von dieser Rechtschreibung hat? Glaubt denn irgend jemand, dass ein amerikanischer Konsument, der ein deutsches Produkt kaufen soll, damit der deutsche Export floriert, sich dafür interessiert (und seine Kaufentscheidung davon abhängig macht), ob der deutsche Hersteller die Rechtschreibung beherrscht? Man muss Mathematik können, Physik, Chemie, Psychologie, Ökonomie usw. aber nicht Rechtschreibung. Rechtschreibung zum zentralen Selektionskriterium zu machen, wie das in Deutschland der Fall ist, führt dazu, dass wir den braven Angepassten, den Bürokraten und Ordnungsfanatikern, den "Erbsenzählern" usw. die Zukunft anvertrauen, während die Kreativen, die Eigenwilligen, die sich eigene Gedanken machen, auf der Strecke bleiben. Wer will das so?

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Text-A19 Jürgen Reichen "Lesen durch Schreiben" im Werkstattunterricht Ein pädagogisch-didaktischer Beitrag zum Hessischen Modellversuch "Neukonzeption des Schulanfangs" Bericht zu Handen des hessischen Kultusministeriums / Mai 1996 Der gesellschaftliche Wandel der letzten 20-30 Jahre ließ auch die Schule nicht unberührt. Ein "Schulanfang", wie ihn ILSE LICHTENSTEIN-ROTHER in ihrem berühmten Buch 1954 erstmals konzipierte, scheint heute nicht mehr möglich. Unsere Auffassungen von Unterricht und Lernen, unser Verständnis von Kindheit, vor allem aber die Kinder selbst, haben sich tiefgreifend gewandelt. Das heißt nun freilich nicht, daß überhaupt alles anders geworden sei - trotz der wesentlichen Veränderungen, die Kindheit heute festlegen, sind ein paar wesentliche Phänomene gleich geblieben. So ist z. B. ein erfolgreicher Schulstart noch immer für jedes Kind von eminenter Bedeutung für die gesamte Schulzeit überhaupt, denn in den ersten zwei Schuljahren werden die Grundlagen für alles weiterführende Lernen gelegt. Dabei bildet nachwievor die Einführung in die Kulturtechniken - Lesen / Schreiben / Rechnen - den unterrichtlichen Schwerpunkt. Zwar hat der "sozial pädagogische Auftrag" der Schule in den letzten Jahren enorm - und zu Recht - an Wichtigkeit gewonnen und entsprechend hat das soziale Lernen in der Schule einen hohen Stellenwert erhalten, trotzdem gilt aber noch immer, daß soziales Lernen nicht auf Kosten eines Kompetenzverlustes in den Kulturtechniken gehen darf. So wird auch weiterhin die Einstellung des Kindes zur Schule weitgehend mit seinen Erfolgs- oder Mißerfolgserlebnissen im Bereich der Kulturtechniken zusammenhängen. Dabei ist für die Schulanfänger (und deren Eltern) insbesondere der Leseunterricht das erste zentrale Erfahrungsfeld schulischen Lernens. Weil das Lesenlernen traditionellerweise im Mittelpunkt des Lerngeschehens der ersten Klasse steht, ist der Erfolg oder der Mißerfolg bei diesem Lernprozeß für jeden Schüler von entscheidender Bedeutung für sein künftiges Schulschicksal. Es gilt immer noch, was HEYER schon 1975 festhielt: "Wer mit dem Lesenlernen gut hinkommt, wird auch weiterhin mit dem Lernen in der Schule gut zurechtkommen, einfach, weil man ihm dies zutraut, weil er es selbst von sich erwartet. Wer mit dem Lesenlernen nicht zurechtkommt, wer dabei scheitert, lernt leider nicht nur ein bißchen später lesen - das wäre nicht weiter beunruhigend! - er lernt zugleich, beim Lernen in der Schule Mißerfolge von sich zu erwarten und zu haben, trotz aller Anstrengungen." (Heyer, P.: Scheitern schon beim Lesenlernen? "Die Grundschule", Heft 6/1975.) Der Erstleseunterricht ist deshalb für den Unterricht überhaupt von Bedeutung und hat über den Bereich des Lesens hinaus auch einen maßgeblichen Einfluß auf den schulischen Lernstil, den sich das Kind aneignet, auf die Weiterentwicklung seiner Lern- und Leistungsmotivation sowie auf die Prägung seiner sozialen Rolle als SchülerIn. Was "Schule" bedeutet, was vom Kind in seiner Rolle als SchülerIn gefordert wird und wieweit es selbst erwarten darf, diese Forderungen zu erfüllen, dies erfährt das Kind eindringlich im Erstleseunterricht. Eine "Neukonzeption des Schulanfangs" wie sie der hessische Modellversuch anstrebt, wird daher nur erfolgreich sein, wenn es gelingt, den Schriftspracherwerb überzeugend in der Konzeption zu berücksichtigen.

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Jedes Konzept bleibt in den Wind geschrieben, wenn es sich nicht umsetzen läßt - und zwar unter realistischen, alltäglichen Bedingungen. Das überzeugendste Konzept ist wertlos, wenn es z.B. unbezahlbare Kosten verursacht oder die LehrerInnen professionell und/oder nervlich überfordert. Gefragt sind mithin stets kostenneutrale, lehrerverträgliche, kindgemäße und elternfreundliche Unterrichtsformen, die bildungswirksam und sozialpädagogisch erfolgreich sind! Mit dem Leselehrgang "Lesen durch Schreiben" kann ein wirkungsvoller Beitrag an solch hochgesteckte Ziele geleistet werden. Wird der Leselehrgang in einem "Werkstattunterricht" mit "Kompetenz- und Aufgabendelegation" umgesetzt, dann bietet er eine realistische Erfolgschance für den Modellversuch, nicht zuletzt deshalb, weil die innovativste Randbedingung des Versuchs, die halbjährliche Einschulung - und d.h. eine alters-stark-gemischte Zusammensetzung der Klassen hier nicht eine erschwerende Bedingung darstellt, wie das bei traditionellem Fibeluntericht der Fall wäre, sondern sich geradezu erleichternd auswirkt. Es ist hier nicht der Ort, "Lesen durch Schreiben", "Werkstattunterricht" sowie "Kompetenz- und Aufgabendelegation" im Einzelnen darzustellen. Hierzu darf auf bestehende Literatur verwiesen werden. 1) Mithin ist der Lehrgang nur soweit zu erläutern, als er für den Modellversuch relevant ist, d.h. inwieweit er spezifischen Zielsetzungen des Modellversuchs entspricht. Wesentliches Ziel des Modellversuchs ist es ja, durch konzeptionelle Veränderungen neue Formen von Unterricht für das 1. und 2. Schuljahr zu entwickeln und zu erproben, damit allen Kindern ein erfolgreicher Schulstart gelingt. Dabei steckt in dieser Zielsetzung das Eingeständnis, daß die bisherigen Formen des Anfangs- bzw. des Fibelunterrichts, den erfolgreichen Schulstart für alle immer weniger gewährleisten. Veränderte gesellschaftliche bzw. bildungspolitische Rahmenbedingungen lassen den Schulstart bei einer wachsenden Zahl von Kindern problematisch werden oder gar mißglücken, so daß sich in den letzten Jahren die Zahl der Rückstellungen erhöhte. Dazu kommt, daß immer mehr Eltern ihr Kind von sich aus zurückstellen, weil sie befürchten, daß es den schulischen Anforderungen zu wenig genüge. Das führt entsprechend für eine wachsende Zahl von Kindern zu einer - in jeder Hinsicht unerwünschten - Verlängerung der Schulzeit. In der größeren Anzahl von Rückstellungen (und in der Tatsache, daß kaum noch jemand sein Kind freiwillig vorzeitig einschult) drückt sich implizit eine wachsende Kritik an der überkommenen Arbeitsweise der Grundschule im Anfangsunterricht aus: Offenbar wird befürchtet, daß der Unterricht im 1. Schuljahr für heutige Kinder nicht mehr adäquat gestaltet wird. Dieser impliziten Kritik - die selbstverständlich auch unter erziehungswissenschaftlichen Aspekten begründbar ist - entspricht der hessische Modellversuch, indem er einerseits alle schulpflichtigen Kinder, unabhängig darum, ob sie nach alter Betrachtungsweise schulfähig wären oder nicht, einschult, andererseits jedoch der nunmehr sehr viel größeren Bandbreite im Entwicklungsstand der Kinder durch neue Rahmenvorgaben begegnet, welche die innere Differenzierung erleichtern (halbjährliche Einschulung, individuelle Verweildauer im 1. und 2. Schuljahr, Integration von sozialpädagogischer Arbeit in die schulische). Didaktisch entscheidend ist die Vorgabe offener Unterrichtsformen, wie sie in der Presse-Information des hessischen Kultusministeriums vom 16. Februar 1994 formuliert wurde: "Es wird hochdifferenziert gearbeitet. Die Angebote müssen den Voraussetzungen, die jedes einzelne Kind mitbringt, entsprechen. Die Kinder müssen Gelegenheit und Anleitung zum selbständigen Arbeiten erhalten. Formen des offenen Unterrichts müssen Grundlage der Unterrichtsplanung sein."

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"Lesen durch Schreiben" im Rahmen von "Werkstattunterricht" mit "Kompetenz- und Aufgabendelegation" leistet dieses, ohne daß die LehrerInnen hierzu "pädagogische Genies" sein müssen - vorausgesetzt sie kennen nicht nur die Didaktik des Lehrgangs, sondern auch das spezifische Verständnis von Schule, Kind und Lernen, auf dem der Leselehrgang beruht.

*** Der Begriff "Schule" läßt sich wissenschaftlich sehr differenziert und in verschiedenen Kontexten definieren: soziologisch, organisatorisch, bildungstheoretisch, gesellschaftspolitisch usw. Wir begnügen uns hier mit einer vorwissenschaftlichen Alltagsdefinition: Schule ist eine Einrichtung für Kinder, in der sie für das spätere Leben wichtige Dinge lernen sollen. In dieser Definition sind vier Begriffe wesentlich: Schule, Kind, lernen, lebenswichtig. Alle vier Begriffe scheinen alltäglich klar und eines weiteren Nachdenkens nicht bedürftig. Dem ist aber nicht so. Die Organisation von Schule muß immer wieder überdacht werden; was wichtig ist, verschiebt sich im Wechsel der Zeiten (von der Sütterlin-Schrift redet heute niemand mehr); auch Kindheit unterliegt dem gesellschaftlichen Wandel und die Theorien des Lernens werden kontinuierlich fortentwickelt. Im Zusammenhang mit dem Modellversuch haben die beiden Begriffe "Kind" und "lernen" besondere Bedeutung: a) Was ist ein Kind? Diese Frage scheint überflüßig, da alle die Antwort zu kennen wähnen. Doch seit es eine Forschungsrichtung gibt, die genau diese Frage thematisiert, müssen wir unsere bisherigen Antworten relativieren. So hat beispielsweise P. Ariès in seiner "Geschichte der Kindheit" 2) gezeigt, daß Kindheit in der Gestalt, die wir kennen, nicht ein Ergebnis natürlicher Entwicklung, sondern eine Kulturerscheinung ist, d.h. Kindheit ist keine von der Entwicklung der Spezie Mensch her gegebene Konstante, sondern vorab das Ergebnis der Erwartungen und Praktiken der erziehenden Erwachsenen. Kindheit ist nicht eindeutig bestimmbar, es gibt keine psychologischen Merkmale, mit denen sich Kinder von Nicht-Kindern (Erwachsenen) klar und eindeutig unterscheiden lassen. Weil das Menschenbaby in einem außergewöhnlich unentwickelten Zustand zur Welt kommt, ist seine Entwicklung vom Moment der Geburt an fortgesetzten sozial bestimmten Einwirkungen unterworfen. Die Möglichkeiten, Mensch zu werden und zu sein, sind daher so zahlreich wie die menschlichen Kulturen. Und in dem Maße, wie der Mensch seine eigene Natur konstruiert, müßten sich in verschiedenen Gesellschaften markante Unterschiede in dem zeigen, was als Kindheit gilt. Das ist in der Tat so: Einzelne Epochen unterscheiden sich hinsichtlich der Behandlung der Kinder und dessen, was man als Verhalten von ihnen erwartet, gewaltig voneinander. Kindheit, wie wir sie kennen, ist zum größten Teil erst in den letzten 300 Jahren "erfunden" worden. An kulturell unabhängigen psychologischen Konstanten im Verhalten, Erleben und Denken von Kindern sind lediglich fünf wissenschaftlich eindeutig nachgewiesen:

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1. Bei Kindern sind bestimmte, allgemeinmenschliche Bedürfnisse sehr viel stärker ausgeprägt als bei Erwachsenen, nämlich das Bedürfnis nach Bewegung, Aktivität, Abwechslung und Zuwendung. 2. Alles Lernen des Kindes ist letztlich selbstgesteuert: Das Kind bringt sein Lernen selbst in Gang (Piaget) - schon als Baby. Schon das Baby ist von Anfang an aktiv. Es fühlt sich in einer stimulierenden Umgebung wohl und geht sogleich daran, im Rahmen seiner Möglichkeiten diese Umgebung für sich so zu organisieren, daß es sie bewältigen kann. Aber auch durch die ganze weitere Kindheit ist das Kind aktiv an seiner Umweltanpassung beteiligt. Es bringt sein Lernen immer wieder selbst in Gang, macht Erfahrungen mit seiner Umwelt und fügt diese zu einem Weltbild zusammen. Was das Kind lernt, lernt es selbst. Niemand anderer kann - gleichsam stellvertretend - etwas für das Kind lernen. Lernprozesse können zwar von außen angebahnt, unterstützt, aber auch gestört werden, letztlich sind sie nur erfolgreich, wenn das Kind sie sich durch Selbststeuerung zu eigen macht. 3. Zu formalen Operationen ist das Kind nur fähig, wenn es älter als 11 Jahre ist und speziell dafür geschult wurde. 4. Kinder sind nicht weniger intelligent als Erwachsene. Intelligenz als weitgehend angeborenes Vermögen, Zusammenhänge zu erkennen und nachzuvollziehen, ist grundsätzlich altersunabhängig. Altersabhängig sind lediglich Umfang und Qualität der Informationen, die jeweils in intelligentes Verhalten einfließen. 5. Die anthropologische Anpassungsfähigkeit ist bei Kindern besonders ausgeprägt. Einer der größten Vorzüge der Gattung Mensch ist eine unglaubliche Anpassungsfähigkeit. Der Mensch allein hat es fertig gebracht am Nordpol, in der Wüste, in Waldgebieten, im Gebirge, in den Tropen, im Grasland, am Meer - einfach überall - sich niederzulassen und einzurichten. Überall konnte der Mensch überleben, weil er in hohem Maße anpassungsfähig war. Bei Kindern ist diese Fähigkeit noch größer. Nun ist Anpassungsfähigkeit ganz sicher ein Vorteil, doch gibt es auch einen unerfreulichen Nachteil: den Opportunismus. Alle Menschen, Erwachsene und Kinder sind anpassungsfähig, aber auch opportunistisch. Das hat Folgen auch für die Schule: Die gesellschaftliche Grundlage des kindlichen In-der-Welt-Seins ist seine Abhängigkeit von den Erwachsenen. Kinder wissen intuitiv, daß sie in unserer Gesellschaft alleine nicht überleben können. Sie sind angewiesen auf den "Goodwill" der sie umgebenden Erwachsenenwelt. Und diesen "Goodwill" sichern sie sich in der Regel dadurch, daß sie versuchen, artige, brave, folgsame Kinder zu sein. Alle Kinder machen nämlich die Erfahrung, daß sie geliebt und gelobt werden, wenn sie den Erwartungen der Erwachsenen genügen und daß sie Ärger bekommen, u.U. sogar massiv Ärger, wenn sie diese Erwartungen nicht erfüllen. Also versuchen alle Kinder zuerst mal den Erwartungen, die man an sie richtet, zu entsprechen, indem sie sich "opportunistisch" anpassen, sogar an Erwartungen, die von einer genuin pädagogischen Betrachtungsweise her eigentlich als negativ einzustufen sind. Dabei spielen nicht nur ausdrücklich vorgebrachte Erwartungen eine Rolle, sondern auch die nicht formulierten, unbewußten, die sich unserer Kontrolle entziehen, die aber aufgrund der hohen Sensibilität und Hellhörigkeit der Kinder von diesen intuitiv erspürt und nach Möglichkeit ebenfalls erfüllt werden. Diese Anpassungsfähigkeit ist eine der wesentlichen Voraussetzungen von Erziehung - die Chance der Schule, jedoch verbirgt sie in ihrer opportunistischen Variante die wirklichen Interessen und

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Bedürfnisse der Kinder und führt zu Fehlurteilen - das Risiko von Schule. Es gab in der bisherigen Geschichte der Pädagogik keine Idee, und wäre sie noch so abwegig gewesen, die nicht ihre Befürworter gefunden hätte - und Kinder, die angeblich "begeistert" waren. (Hier liegt übrigens mit ein Grund für die eigentümliche Tatsache, daß auch wenig taugliche Methoden erfolgreich scheinen. Wenn die Lehrerin von der Methode überzeugt ist, dann ist sie in ihrer Klasse damit ein Stück weit erfolgreich - die Kinder spüren die Begeisterung der Lehrerin und um sie nicht zu kränken, um ihren "Goodwill" nicht zu verlieren, tun sie opportunistisch so, wie wenn sie auch begeistert wären.) Diesen fünf besonderen Merkmalen des Kindseins, insbesondere dem Bedürfnis aller Kinder nach selbstbestimmter Eigenaktivität, hat der überkommene Unterricht bisher nur unzureichend entsprochen - und weil die Kinder sich intelligent und ausgeprägt opportunistisch verhielten, hat er dies gar nicht mal bemerkt. (Ein intelligentes Kind, das um seine Abhängigkeit von der Lehrerin weiß, wird sich natürlich deren "Goodwill" nicht durch unliebsame Kritik verscherzen.) Daß die Grundschule neuerdings auf diese, ihre Defizite aufmerksam wurde, liegt in der schwindenden Fähigkeit bzw. Bereitschaft von immer mehr Schulanfängern, folgsam, kritiklos und leistungsadäquat schulischen Verhaltensnormen und Leistungsansprüchen zu entsprechen. Ein zunehmend "gestörteres" Verhalten einer zunehmend größeren Zahl von Kindern stellt die Schule inzwischen vor Probleme, die sie mit dem Blick auf eine "veränderte Kindheit" erst annäherungsweise zu begreifen beginnt. In den letzten 20-30 Jahren haben sich auch die Lebensformen unserer Kinder beträchtlich gewandelt. Ein durchschnittlicher Schulanfänger kam früher noch mit vielfältigen Umwelt- und Sozialerfahrungen in die Schule und weil er einen großen Teil der Freizeit zusammen mit anderen Kindern im Freien zubrachte, war er imstande, konzentriert und aufmerksam am Schulunterricht teilzunehmen. Heute ist dies kaum noch der Fall. Verstädterung, Veränderung der Wohnverhältnisse, Einzelkindsituation, Zunahme des Straßenverkehrs sowie ein riesiges Medienangebot (Bilderbücher und Comics, Radio, Cassettenrecorder, Grammophon, Fernseher und Video, Computerspiele), insbesondere der weitverbreitete Fernsehmißbrauch, führen dazu, daß heute der unmittelbare Erfahrungs-, Spiel- und Lebensraum der Kinder enger ist als früher. Vielen Schulanfängern fehlen direkte Umwelt- und Sozialerfahrungen, statt dessen verfügen sie über eine Vielzahl unzusammenhängender, halbverstandener Fernsehkenntnisse. Ihr Wortschatz hat sich verengt. Viele Alltagsbegriffe, die vor 25 Jahren noch allgemein bekannt waren, sind es heute nicht mehr, wobei dies nicht etwa nur für fremdsprachige Kinder gilt, nein auch deutsche Kinder kennen teilweise selbst Begriffe wie Hammer, Zange oder Säge nicht mehr - dafür werfen sie mit Ausdrücken aus der Konsumwelt um sich, die keinen Sinn haben! In den städtischen Wohnverhältnissen bleibt häufig das kindliche Bewegungsbedürfnis ungestillt, so daß die Kinder immer weniger in der Lage sind, den rezeptiven Anforderungen der Schule zu genügen. Jüngste Untersuchungen belegen, daß viele Kinder mittlerweile mehr Zeit vor dem Fernseher verbringen als in der Schule. Eine passive Konsumhaltung wird zur Gewohnheit, im Unterricht sind die Kinder unaufmerksam und leistungsunwillig. Zudem machen sich vermehrt Disziplinarprobleme bemerkbar. Viele Kinder haben und machen in der Schule Probleme - und dies beileibe nicht nur in Schulen an sogenannten "sozialen Brennpunkten". Dabei sind vielfältige Angststörungen das verbreitetste Phänomen. Im geschützten Rahmen - bei Mama oder einer Therapie - leisten die Kinder, was von

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ihnen verlangt wird. Im Schulzimmer aber versagen sie und haben nicht formulierbare Ängste. Weil zudem in Deutschland bildungspolitisch das Ziel einer "vollen Integration" angestrebt wird, kommen zunehmend Kinder in die Schule, die nach alter Auffassung nicht schulreif sind, so daß in Zukunft allerlei Verhaltensauffälligkeiten den Anfangsunterricht vor neue Herausforderungen stellen. Sollen angesichts dieser Umstände die Leistungsstandards langfristig nicht absinken, muß die Schule diesen Auswirkungen unserer heutigen Lebensgewohnheiten entgegentreten - und zwar in zweifacher Weise. Zum einen muß sie durch geeignete sozial-pädagogische Maßnahmen der Gefahr der sozialen Vereinzelung - während das Kind fernsieht, spielt es nicht mit anderen - begegnen und durch vermehrte Zusammenarbeit die Sozialkompetenz der Kinder fördern. Zum zweiten muß sie unter der Leitidee "Didaktische Aktivierung" den Kindern so weit wie möglich Gelegenheit einräumen, im Unterricht eigene Aktivität zu entfalten. Die Schule scheint dies zu wissen. Aber bislang "packt" sie es nicht, obwohl die pädagogische Haltung, die für entsprechende Umorientierungen erforderlich wäre, mittlerweile in breiten Kreisen der Lehrerschaft vorhanden ist. Was fehlt? Nach meinem Dafürhalten fehlt es weitgehend an "didaktischer Präzision". Was angesichts einer "veränderten Kindheit" heute von der Schule gefordert wäre, ist nämlich nach dem bisherigen Lernverständnis der Grundschule (Lernen durch Übung nach dem Prinzip Nachahmung) gar nicht zu leisten. Dies wird nur möglich sein, wenn ein anderer Lernbegriff - etwa nach dem Motto "Lernen ohne Belehrung" - zum Tragen kommt. Mir scheint der zur Zeit aktuelle schulische Lernbegriff weitgehend ungeklärt, und ich stehe unter dem befremdenden Eindruck, daß die Schule nicht wirklich weiß, was Lernen heißt. Lernen wird mit Arbeiten verwechselt. b) Was heißt lernen? Auch diese Frage mag überflüßig erscheinen, glauben doch alle zu wissen, was gemeint ist - obwohl die wenigsten LehrerInnen Ergebnisse der wissenschaftlichen Lerntheorie kennen. Spricht man sie auf dieses Manko an, verweisen sie auf die Schulferne der Lernpsychologie und die abstrakt-verstiegene Begrifflichkeit, der sie sich bedient. Nun trifft dieser Vorwurf natürlich zu und erklärt ein gut Stück der immer wieder beklagten Theorie-Praxis-Kluft, er eignet sich aber auch gut als Ausrede für die eigene Ignoranz: Schule greift selbst das nicht auf, was ihr aus der Lerntheorie gesichert nützen könnte. Nun kann hier selbstredend keine Lerntheorie entfaltet werden, aber zwei Hinweise sind erforderlich: - Das meiste und wesentlichste Lernen findet nicht in der Schule statt. - Die lernintensivste Etappe im menschlichen Lebensablauf ist die Vorschulzeit. Akzeptiert man, daß außerhalb der Schule mehr gelernt wird als innerhalb, ja daß am meisten gelernt wird in der Zeit, bevor man die Kinder in die Schule schickt, daß also das Lernen außerhalb der Schule effizienter ist, muß doch die Frage gestattet sein, ob die Schule das Lernen womöglich falsch betreibt, ob schulisches Lernen nicht erfolgreicher wäre, wenn es sich am nichtschulischen Lernen orientieren würde? Der Leselehrgang "Lesen durch Schreiben" und die

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Unterrichtsform "Werkstattunterricht" versuchen dies, sie orientieren sich am äußerst erfolgreichen Lernen des Vorschulkindes. Grundlage des Leselehrgangs "Lesen durch Schreiben" ist nämlich der Versuch, den Schrift-Spracherwerb des Kindes in Analogie zu seinem früheren Sprech-Spracherwerb zu orientieren, d.h.: Aneignung des optischen Codes am Vorbild des akustischen. Analysiert man den Prozess des Sprechsprachwerbs, dann zeigt sich zunächst, daß das Kind die Sprache nicht nachahmend erwirbt, sondern eigenaktiv. Das ist der eine wesentliche Punkt für die Betrachtung: eigenaktiv! Der zweite, womöglich noch wichtigere Punkt ist die Tatsache, daß kleine Kinder in den Familien sprechen lernen, ohne daß sie bei diesem Lernprozeß von didaktisch geschultem Fachpersonal unterstützt oder begleitet werden. Der wohl wichtigste Lernprozeß im Leben eines jeden Menschen wird ohne didaktische oder schulische Unterstützung bewältigt. Niemand kommt auf die Idee, man müsse kleinen Kindern den Zugang zu rund 50 000 Begriffen der deutschen Sprache didaktisch erleichtern; etwa indem man mit ihnen zuerst die 10 wichtigsten Wörter der Welt lernt und danach die nächsten 20, 30 wichtigen Wörter; oder indem man vom Kind verlangt, es solle sich zuerst einmal korrekt in Form von Hauptsätzen ausdrücken, ehe es beginnt, Nebensätze zu bilden; oder indem man festlegt, zuerst solle sich das Kind in der Gegenwartsform ausdrücken lernen, ehe es die Vergangenheitsform benutzt; oder indem man vereinbart, zuerst wird die Einzahl gelernt und wenn die gekonnt ist, darf die Mehrzahl verwendet werden usw. Alles, was schulisches, didaktisch "durchdachtes" Lernen auszeichnet, fehlt hier: es gibt keine Lehrmittel, keine Lehrziele, keine Sprachlernstunden, keine Übungen, keine Prüfungen, keine Dauerkorrekturen und keine Zensuren. Niemand lehrt das Kind, wie der Begriff Bleistift in eine Folge von Lauten einzubringen ist, es macht auch niemand Lautübungen mit ihm, das schon gar nicht! - und niemand tut dieses oder ähnliches, weil alle solchen Maßnahmen ganz offensichtlich unnötig sind. Der Spracherwerb vollzieht sich inzidentell: scheinbar von selbst, quasi nebenbei, ohne ausdrückliche Bemühung. Das einzige Mittel, ihn zu verhindern, wäre völlige Isolierung. Er läßt sich auch nicht beschleunigen und ist so gut wie immun gegen didaktische Anstrengungen. Im Gegenteil: großer pädagogischer Eifer scheint der Sprachentwicklung eher schlecht zu bekommen. CAZDEN 3) untersuchte schon 1965, wie sich verschiedene pädagogische Stile auf den Spracherwerb auswirken. Sie verglich drei Gruppen von Kindern, alle drei Jahre alt. In der einen blieben die Kinder sprachlich sich selber überlassen. In der zweiten wurden sie niemals korrigiert, aber möglichst viel in Gespräche verwickelt, so daß sie viel Sprache hörten und selber ausprobierten. In der dritten wurden die meisten ihrer Äusserungen - didaktisch überlegt - aufgegriffen, berichtigt und erweitert. Entgegen der Erwartung, daß diese letzte Gruppe nach einigen Monaten die größten Fortschritte gemacht hätte, war ihr Fortschritt in Wirklichkeit der geringste. Die größten Fortschritte machte die mittlere Gruppe. Entscheidend für den Spracherwerb scheint also zu sein, daß das Kind viel Sprache hört und vorallem selber spricht. Belehrungen helfen ihm nicht; sie halten es sogar eher auf. Damit wird keineswegs behauptet, der Spracherwerb erfolge unter keinerlei steuerbaren Bedingungen. Es ist offensichtlich, daß Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel und überhaupt Leute, die mit kleinen Kindern zu tun haben durch ihr eigenes Verhalten den Spracherwerb der Kinder positiv beeinflussen oder negativ beeinträchtigen können. Aber bei diesen Bedingungen geht es

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nicht um didaktische Faktoren, sondern um pädagogische und psychologische. Im wesentlichen kommt es darauf an, daß die Kinder geliebt werden, daß sie sich von ihrer Familie angenommen fühlen, daß sie die Möglichkeit haben, die Welt über ihre Umwelt eigenaktiv zu erkunden, (daß man ihnen beispielsweise gestattet, mit Sand und Wasser zu spielen, auch wenn dabei die Hose schmutzig wird - es sei hier an den Begriff der "anregungsreichen Umgebung" erinnert, wie er für die Vorschulpädagogik ganz zentral ist), und es kommt darauf an, daß man auf ihre Kommunikationsbedürfnisse in einer liebenswerten, toleranten geduldigen Art eingeht, daß man versucht, ihnen zuzuhören und zu verstehen, wenn sie etwas berichten wollen und sie nicht mit diesem entsetzlichen "Sei jetzt still" als Störfaktor dauernd vor "die Glotze" abschiebt. Wenn aber diese gleichsam sozial-emotionalen Bedingungen gegeben sind, dann lernen Kinder die Sprache, ohne daß dazu besondere, didaktisch ausgeklügelte Maßnahmen erforderlich wären. Ähnliche Feststellungen gelten auch für andere Lernbereiche. Wir wissen alle aus Erfahrung, wie effizient das vor- und außerschulische Lernen der Kinder ist. Betrachtet man dieses Lernen näher, dann zeigt sich, daß es sich überwiegend um ein spielerisches, inzidentelles Lernen handelt, das völlig frei ist von Zeit-, Leistungs- und Ergebniszwang. Sein Erfolgsgeheimnis ist in zwei Faktoren zu suchen: Es verläuft ohne Beteiligung didaktisch geschulten Fachpersonals und entspricht der Strukturbeziehung "systematisches Lernangebot/unsystematisches Lernen". Das heißt für die Schule weder Abschaffung der LehrerInnen (sondern "didaktische Zurückhaltung") noch bedeutet es Verzicht auf systematisches Lernen (nur Verzicht auf erzwungene Systematik). Der Lern-Gegenstand des Vorschulkindes ist die gesamte (Um-)Welt und dieses natürliche Lernangebot ist universal gegliedert, ist systematisch strukturiert. Das Kind aber geht unsystematisch an dieses Lernangebot heran, unsystematisch und trotzdem (oder gerade deshalb?) erfolgreich. Die Theorie nennt solches Lernen "selbstgesteuert", d.h. "vom Selbst" - nicht vom bewußten Ich - gesteuertes "inzidentelles" Lernen. Inzidentelles oder "beiläufig begleitendes" Lernen bedeutet, daß Kinder weniger dasjenige lernen, was man ihnen "offiziell", also curricular durchdacht, didaktisch geplant und unterrichtspraktisch gesteuert "beibringen" will, sondern häufiger sich Dinge aneignen und beherrschen, die gar nicht im Vordergrund standen - eben "beiläufig begleitend". Dabei hat inzidentelles Lernen wahrscheinlich sowohl eine anthropologische als auch eine sozialpsychologische Grundlage: Anthropologische Konstanten sind sehr hartnäckig. So hat auch der moderne Mensch in wesentlichen Belangen immer noch die Züge steinzeitlicher Jäger und Sammler. Die derzeitige Menschheitssituation vor steinzeitlichem Hintergrund zu analysieren, macht Sinn und erhellt viele der Fehlentwicklungen, in denen wir derzeit stecken, das können wir von der Kulturanthropologie überzeugend erfahren. Stellen wir uns aber den steinzeitlichen Jäger und Sammler vor, dann ist klar, daß dieser mit wachen Sinnen durch die Welt streifen mußte, wenn er nicht verhungern oder zur Beute größerer Raubkatzen (Säbelzahntiger) werden wollte. Seine mögliche Nahrung wurde ihm nicht auf dem "Präsentierteller" angeboten und die potentiellen Feinde näherten sich perfiderweise auch hinterrücks. Eßbare Wurzeln sind oberirdisch unsichtbar, Nester mit Vogeleiern sind getarnt, ja die meisten "Früchte" des Waldes muß man suchen. Hasen, Rehe usw. verstecken sich und wenn sie auf Nahrungssuche sind, dann huschen sie geduckt und leise durch Gehölz und Wiesen.

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Ich will hier nicht weitermachen, denn das Wesentliche dürfte klar sein: der Urmensch war verloren, wenn er auf das abstellte, was offen zutage lag. Dieses, das wußte er, war nicht relevant, das Relevante lag im Verborgenen, war irgendwo im Hintergrund versteckt. Deshalb wurde beim Menschen habituell, das, was offen auf dem "Präsentierteller" angeboten oder gar aufgedrängt wird, als das Nicht-Entscheidende anzusehen. Und diese Haltung empfiehlt sich nachwievor auch für den modernen Menschen. Da überschütten uns Politik und Wirtschaft laufend mit Werbung und Propaganda, da verkommt Information zum Infotainment, da macht man uns gern ein X für ein U vor, während uns die eigentlich relevanten Informationen unter der Kategorie Staats- und Geschäftsgeheimnisse vorenthalten werden. Und selbst Information, die uns zugänglich ist, muß als relevante zunehmend bezahlt werden, gratis ist nur Werbung, PR und Hofberichterstattung. Wer mit beiden Beinen im Leben steht, weiß, daß verloren ist, wer den marktschreierisch und grell daherkommenden Verheißungen der Werbung verfällt - das Wichtige findet sich immer im Kleingedruckten. Und deshalb bin ich überzeugt, daß sich aufgrund des untrüglichen Überlebensinstinkts, der die Kinder auszeichnet, dieses Phänomen auch in der Schule wiederholt. In den letzten Jahren erreichte der Frontalunterricht die Kinder bekanntlich immer weniger. Parallel zur immer größeren Raffinesse der Marketingstrategien, die das Kind und sein Taschengeld - vor allem aber den künftigen Konsumenten - überall umgarnen, sind in den Kindern auch Abwehrkräfte gewachsen. Sie sperren sich gegen "Information", welche mit großem Trara an sie herangetragen wird, egal, ob das vom Fernsehen oder von der Lehrerin kommt. Man schilt sie dann als unaufmerksam und konzentrationsschwach, dabei gehen sie (anthropologisch, d.h. steinzeitlich ausgerichtet) einfach davon aus, daß das eigentlich Wichtige im Hintergrund verbleibt - womit sie im Prinzip ja auch völlig recht haben. Wer weiß, möglicherweise stellt sich demnächst heraus, daß wir künftig die relevanten Informationen didaktisch verbergen müssen, wenn wir wollen, daß sie die Kinder erreichen. So wie im allgemeinen die unterschwelligen Wahrnehmungen die wirksameren sind, müssen wir womöglich relevante Informationen indirekt vermitteln: je relevanter, desto indirekter. Diese Forderung wirkt im Moment befremdlich und wie sie praktisch zu realisieren wäre, ist auch noch nicht abschließend geklärt, klar ist nur, daß direkte Belehrungen weniger wirksam sind als indirekte Angebote, die von den Kindern eigenaktiv, selbständig "entdeckt" d.h. bemerkt werden.

*** Soll die geplante Neukonzeption des Schulanfangs nicht "Sozialromantik" bleiben, müssen die tatsächlichen Gegebenheiten in den Schulen ins Auge gefaßt werden. Der Schulanfang, es wurde schon mehrfach betont, hat sich verändert; Kinder, die heute eingeschult werden, zeigen andere Verhaltensweisen als frühere Generationen. Zwar hatte die Schule immer schon ihre liebe Müh' und Not mit aggressiven, kontaktgestörten, antriebsschwachen oder begriffsstutzigen Kindern, doch scheint deren Zahl in den letzten Jahren gestiegen zu sein. Zu diesen "alten" Verhaltensauffälligkeiten, die immer schon die Kräfte der LehrerInnen strapazierten, sehen wir uns neuerdings mit zwei weiteren Erscheinungen konfrontiert, die es als "Massenphänomene" früher so nicht gab: Heutige Kinder zeigen ein erhöhtes emotionales Anlehnungsbedürfnis und lassen praktisch jegliche Eigeninitiative vermissen. Unabhängig um die Gründe, woher das kommen könnte, zeigt sich die Situation in einer durchschnittlichen ersten Klasse für die Lehrerin so, daß sie permanent von Kindern angegangen wird, die alle "an ihrem Rockzipfel hängen" und alle

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gleichzeitig etwas von ihr wollen - und wer ausnahmsweise nicht an ihrem Rockzipfel hängt und nichts von ihr will, sitzt mitnichten arbeitend am Platz, sondern macht "irgendetwas", im besten Fall spielen, im schlechten lärmen und streiten. Kinder, deren kognitive Entwicklung sehr wohl so weit vorangeschritten ist, daß sie problemlos schulischen Anforderungen genügen könnten, genügen diesen Anforderungen dann, wenn die Lehrerin neben ihnen sitzt und ihnen begütigend, aufmunternd den Arm um die Schultern legt, sie also emotional über Gebühr beachtet. Sollen die gleichen Kinder jedoch alleine arbeiten, blockieren sie. Wer entsprechende Situationen nicht aus eigener Erfahrung kennt, kann sich kaum vorstellen, wie kraft- und nervenzehrend dies ist, wie sehr ein Schulvormittag mit so einem "Gewusel" von 20-30 Kindern Energie kostet und die LehrerInnen täglich an den Rand der Erschöpfung treibt. Außenstehende können sich auch nicht vorstellen, daß man dieses "Gewusel" nicht abstellen kann - das mag früher gegangen sein, als man Kinder noch durch eine einmalige Aufforderung dazu brachte, sich alle ruhig an ihre Plätze zu setzen. Heute sind diese Zeiten vorbei - und das bedeutet gleichzeitig: Alleinarbeit, wie sie früher möglich war, ist da kaum noch durchzusetzen - ebensowenig wie frontale Kollektivarbeit. Soll diese Situation trotzdem pädagogisch-didaktisch angemessen bewältigt werden, müssen wir die Gründe suchen, die dieses Verhalten erklären könnten. Da wir das eine oder andere Kind dieser Art auch früher schon hatten, fragt sich natürlich, warum dieser Typus in den letzten Jahren so sehr zugenommen hat? Zunächst ist festzustellen, daß dieses besondere Anlehnungsbedürfnis keineswegs nur bei Kindern auszumachen ist, die zuhause unter emotional wenig tragenden Bedingungen aufwachsen, nein, auch gut betreute, in liebevoller, fürsorglicher Umgebung aufwachsende Kinder zeigen dieses Verhalten - womöglich noch in erhöhtem Maß. Wenn es aber nicht emotionale Frustration ist, die diese Kinder so außerordentlich anlehnungsbedürftig werden läßt, dann kann der Grund eigentlich nur Angst vor Leistungsversagen und Ablehnung sein. Diese Annahme könnte auch erklären, warum Kinder, die in der Vorschule wenig Nähe- und Beachtungsbedürfnisse zeigten, diese Anlehnungsbedürftigkeit mit dem Eintritt in die Schule verstärken, und zwar auch dann, wenn sie in der 1. Klasse dieselbe Lehrerin haben wie in der Vorschule. Daß Kinder heute mehr diffuse Ängste haben ist verstehbar. Gerade intelligente, wache, neugierige Kinder bekommen dank der Dauerpräsenz von Fernsehen und Radio halbverstanden vielerlei Bedrohliches mit. Sie erfahren von Naturkatastrophen und Terroranschlägen, von Unglücksfällen und Verbrechen, von Kriegen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, sie hören von Arbeitslosigkeit usw. und werden mit den diffusen Ängsten, die so entstehen, überfordert. Zu diesen gleichsam allgemeingesellschaftlichen "Angstmachern" kommen häufig noch private. Die heutige Elterngeneration ist es gewohnt, Beziehungsprobleme offen zu diskutieren, und Kinder, die sensibel genug sind, die Dramatik einer Ehe zu erspüren, fürchten sich und fürchten um ihre Eltern. Wenn aber die innerste Gefühlsebene, der engste Kreis um das Kind herum, keine sichere Geborgenheit für die Zukunft verspricht - wie soll ein Kind dann ruhig, gelassen und fröhlich seine "Aufgaben" anpacken? Zumal es ja eindrücklich erfährt und dies nicht nur von den Eltern, sondern auch der Verwandt- und Nachbarschaft - wie wichtig Schulerfolg ist. Grade die

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begabten Kinder ahnen deutlich, daß ihnen mit dem Schriftspracherwerb gleichsam die erste gesellschaftlich auferlegte Bewährungsprobe bevorsteht. Sie spüren die großen Erwartungen, die man an sie richtet, nicht zuletzt dann, wenn sie Eltern haben, die sich erzieherisch fürsorglich um sie bemühen. Aus Versagensangst verweigern sie Leistung - jedenfalls dann, wenn sie keine direkte Unterstützung durch die Lehrerin haben. Nun könnte man ja denken, in diesem Fall müßte man einfach die Leistungsanforderungen senken, dann trauen sich diese Kinder. Leider geht dies nicht. Weil dieses Phänomen vermehrt intelligente Kinder betrifft, können diese Kinder genau einschätzen, daß man sie lediglich mit Einfachst-Anforderungen konfrontiert, die eigentlich unwesentlich sind. Sie verweigern sich dann in diesem Fall, weil sie nicht herausgefordert werden und sich langweilen. An schwierige Leistungen gehen sie erst heran, wenn sie Gewähr haben, aufgrund gemachter Erfahrung zu wissen, daß sie das Verlangte können. In den "Lesen durch Schreiben"-Klassen ließ sich in den letzten Jahren deutlich beobachten, daß Kinder von dem Moment an zu eigeninitiativer Alleinarbeit zu bewegen waren, von dem an sie selbsteinsichtig wußten, "wie Schreiben geht" und daß sie es, jedenfalls auf dem Niveau lautgetreuen Schreibens, das im ersten Schuljahr legitim ist, können. So ist es die Kunst erfolgreicher Unterrichtsführung und erfolgreichen Lehrerverhaltens, diesen Moment so bald als möglich zu erreichen, denn dieses ist der Moment, da das "Anfangschaos" in offen geführten Klassen in geordnete Bahnen übergeht.

*** Wenn vorstehende Überlegungen zutreffen, dann braucht die Lehrerin einer integrativen Klasse, die jahrgangsübergreifend zusammengesetzt ist und halbjährlich Schulanfänger - u.U. auch "schulunreife" - aufzunehmen hat, einen Leselehrgang, der individuelles, eigenaktives, selbstbestimmtes, lehrerunabhängiges, inzidentelles Lernen erlaubt, sie braucht "Lesen durch Schreiben" - einen Lehrgang, der zugleich den vorher erwähnten Konstanten im Verhalten, Erleben und Denken von Kindern entspricht: - Er berücksichtigt das erhöhte Bedürfnis nach Bewegung, Aktivität, Abwechslung und

Zuwendung - Er gestattet eigenaktives, selbstgesteuertes Lernen - Er verlangt von Kindern keine formalen Operationen - Er unterfordert nicht ihre Intelligenz und zwingt sie nicht zu opportunis tischer Verstellung, weil

sie frei lernen und so sie selbst sein dürfen. Das Entscheidende bei "Lesen durch Schreiben" ist die pädagogische Grundüberzeugung, daß die meisten Kinder aus sich heraus lernfähig und lernbereit sind. In einer Atmosphäre, in der sie sich wohl fühlen, müssen sie nicht von außen dazu angehalten werden. Als Konzept "Lesen durch Schreiben" bedeutet es: durch eigenes, freies Schreiben (d.h. Verschriften) das Lesen zu lernen. Im Unterricht wird also nicht gelesen, sondern die Kinder lernen, wie man etwas aufschreibt. Das Lesenkönnen entwickelt sich dann als 'automatisches Begleitprodukt' des Schreibens. Die Methode läßt das Kind erfahren, wie ein Wort als L-Au-T-K-E-TT-E Laut für Laut bzw. Buchstabe um Buchstabe aufgeschrieben wird. Wesentlichstes Lernziel ist, ein beliebiges Wort phonetisch vollständig aufzuschreiben. Zu diesem Zweck vermittelt der Lehrgang dem Kind von Anfang an Einsicht in das Prinzip der Lautschrift und stellt die Hinführung zur Lautstruktur der Sprache in den Mittelpunkt der Lernanstrengungen des Anfangsunterrichts.

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Zentrales Arbeitsmaterial ist eine Anlauttabelle, mit deren Hilfe das Kind die zum Schreiben notwendigen Buchstaben selbständig finden und abmalen kann. Das erlaubt ihm, auch wenn es noch nicht über Buchstabenkenntnisse verfügt, von Anfang an alles zu schreiben, was es will. Es wird also von Anfang an mit dem gesamten Laut- und Buchstabenbestand gearbeitet, so daß der Wortschatz keinen Einschränkungen unterliegt. Darüberhinaus macht die Buchstabentabelle Übungen zur Buchstaben-Laut-Zuordnung überflüßig. Schreibt das Kind mit ihrer Hilfe - und diese Hilfe soll es solange beanspruchen dürfen, als es will - immer wieder selbstgewählte Wörter und Texte, dann verinnerlicht es die Buchstaben-Laut-Kenntnisse inzidentell und kann aufgrund der begleitenden, unbemerkten Mitübung nach relativ kurzer Zeit ohne Tabelle schreiben. Im Unterschied zu klassischen Lesemethoden, bei denen aus Gründen der didaktischen Vereinfachung eine Abfolge chronologischer Lernschritte mehr oder weniger zwingend vorgegeben ist, verläuft der Lernprozeß beim Lehrgang "Lesen durch Schreiben" individuell und weitgehend selbstgesteuert. Hinter seiner Lernkonzeption steht die ungewohnte These, Leseunterricht sei umso wirkungsvoller, je unspezifischer er sei. Daher wird auch keine Lesetechnik vermittelt und die sonst vorherrschenden Übungen zum Einprägen der Buchstaben-Laut-Verbindung sind überflüßig und entfallen gänzlich: statt formalem Üben ist "kognitive Aktivierung" angesagt. Im Zentrum des Unterrichts stehen eine allgemeine, umfaßende Förderung und Erweiterung des Sprachvermögens, der Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten sowie eine disziplinierte, aufgabenbezogene Arbeitshaltung (Konzentrationsvermögen und Anweisungsverständnis). Der Selbstaktivität des Kindes wird ein Maximum an Spielraum gelassen, weshalb sich der Lehrgang an der Idee des "offenen" Unterrichts orientiert. Er geht davon aus, daß Schreiben- und Lesenlernen nicht als isolierte Vorgänge betrachtet werden dürfen, sondern daß Schreib- und Leselernprozesse eingebettet sind in die Gesamtheit aller Lernprozesse, mit denen sich ein Kind auseinanderzusetzen hat. Der Leselehrgang orientiert sich daher nicht an der linearen Systematik einer Abfolge vermeintlich aufeinanderaufbauender Lernschritte, sondern an der Komplexität des Gesamtlernprozesses der Kinder. So "bequem" das Modell einer Abfolge linearer, aufeinanderfolgender und -aufbauender Lernschritte für die Schule auch sein mag - im wirklichen Lernprozeß der Kinder gibt es diese Stufenfolge ja nicht. Zwingt der Unterricht das Kind trotzdem auf einen im voraus festgelegten Lernweg mit einer bestimmten Lernschrittabfolge, dann beeinträchtigt und/oder stört er damit das individuelle Lernvermögen des Kindes. Angemessener ist ein offenes Unterrichtsangebot, weshalb das Lehrgangsmaterial von "Lesen durch Schreiben" in der Art eines Baukastens gegliedert ist, das sich für Werkstattunterricht eignet. Werkstattunterricht bedeutet: Unterricht in einer Lernwerkstatt. D.h. den Kindern steht zu einem bestimmten Thema ein vielfältiges Arrangement von Lernsituationen und Lernmaterialien für Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit zur Verfügung. Dabei lassen sich die Lernangebote in der Regel im Selbststudium nutzen und ermöglichen dem Kind freie Wahl der Aufgabenfolge, Zusammenarbeit mit Kameraden, Selbstkontrolle u.ä.m. Im Werkstattunterricht wird nicht lektionenweise mit einer Klasse in einem Fach gearbeitet, sondern in Zeitblöcken, individualisiert und oft fächerübergreifend. Es werden verschiedene Arbeitsplätze mit wenigen obligatorischen und vielen freiwilligen Lernangeboten eingerichtet. Einzelne Angebote können auf einer Ablage (Fenstersims/Materialtisch) bereitstehen. Die Kinder arbeiten nicht alle gleichzeitig an der gleichen Aufgabe und können selbständig entscheiden, wann sie welches Lernangebot bearbeiten. Sie sind zu Initiative und aktiver Selbständigkeit herausgefordert, da sie unabhängig arbeiten und sich selber kontrollieren müssen.

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Das selbständige Auswählen der angebotenen Aufgaben erlaubt, persönlichen Lerninteressen nachzugehen. Dabei können sich die Kinder mit Kameraden zusammentun, sich im Klassenzimmer frei bewegen, miteinander sprechen und je nach Lernangebot zu zweit oder in Gruppen zusammenarbeiten. Die Kinder bestimmen mithin weitgehend selber über Zeitpunkt, Tempo und Rhythmus der Arbeit, über deren Sozialform und die Auswahl von Lernangeboten. Die Individualisierung des Lernens ist fast vollständig, weil aber auch die Möglichkeit von Gruppen- oder Partnerarbeit besteht, wird auch die Gemeinschaftsbildung gefördert. Da die Lernangebote vielschichtig sind und Gelegenheit bieten, das vorgegebene Pensum hauptsächlich aktiv zu bewältigen, kommt das ermüdende passiv-rezeptive Lernen kaum vor. Das selbständige Lernen wird gefördert und das zunehmende Bewußtsein des Selberkönnens wirkt sich positiv auf die Anstrengungsbereitschaft und die Lernmotivation aus. Die Lehrerin wird zur Beraterin, Moderatorin oder Helferin, welche Lernprozesse (wenn möglich indirekt) anregt, indem sie Aufgaben, Anschauungsmaterial, Hilfsmittel für Experimente usw. bereitstellt und die Kinder allenfalls berät. Dabei läßt ihr das weitgehend selbständige Arbeiten der Schüler ausreichend Zeit, sich gezielt um einzelne Kinder zu kümmern. Das Klassenzimmer hat verschiedene Arbeitsbereiche (Malecke, Lesenische, Mathematiktisch usw.). Arbeitsmaterialien und Lernangebote sind frei zugänglich. Weil das Material nicht von allen Kindern gleichzeitig beansprucht, sondern gleichsam im Turnus benutzt wird, ist eine Anschaffung in Klassenstärke nicht nötig. Auch können Leihmaterialien verwendet werden, um ein vielfältiges Angebot zu ermöglichen. Bei der praktischen Durchführung von Werkstattunterricht sind besondere organisatorische Maßnahmen erforderlich, auf die hier jedoch nicht eingegangen werden soll. Wesentlicher für das Gelingen von Werkstattunterricht ist die Einstellung der Lehrerin, ihre pädagogische Grundhaltung und ihr konkretes Verhalten. Sie muß akzeptieren können, daß die besonderen Organisationsformen und die anderen Zielprioritäten im Werkstattunterricht auch ihre Rolle verändern. Sonst wichtige Aufgaben der Lehrerin entfallen: Vermittlung von Wissen, Erklärung, Darbietung, Demonstration mit Rückfragen sowie die Organisation und Anleitung zu stetem Üben. Stattdessen rücken in den Mittelpunkt: - Entwickeln und Bereitstellen von Materialien und Lernangeboten - "Management" im Klassenzimmer - Verfügbar machen von Ressourcen im Klassenzimmer und außerhalb - Unterrichten einzelner Kinder und kleiner Gruppen - "Diagnostizieren" von Fähigkeiten und Bedürfnissen einzelner Kinder - Anregen von Fragen, Aktivitäten, Überlegungen und Lernprozessen der Kinder - Gespräche mit Kindern über Erfahrungen und Ergebnisse - Partnerschaftliche Kontrolle von Arbeitsverhalten und Lernfortschritten. Im Werkstattunterricht muß die Lehrerin ihre eigene Rolle immer wieder über denken. Sie muß stets einen Ausgleich finden zwischen Anregen/Vorschlagen/Helfen einerseits und Gewährenlassen/Entdeckenlassen/Selbermachenlassen andererseits. Dieses subtile Abwägen macht letztlich die Schwierigkeit, aber auch den Reiz des Werkstattunterrichts aus.

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Gelegentlich wird gegenüber dem Werkstattunterricht die Befürchtung geäußert, er fördere seiner starken Individualisierung wegen eine soziale Vereinzelung der Kinder, begünstige einen ungehemmten Egoismus und bewirke eine "Ellbogen"-Mentalität. Diese Befürchtung ist jedoch grundlos. Abgesehen davon, daß ja nicht aller Unterricht in der Form von Werkstattunterricht durchgeführt wird, gibt es auch innerhalb des Werkstattunterrichts Phasen gemeinsamer Tätigkeit. Da werden die Kinder zu Beginn, am Schluß oder in der Mitte eines Unterrichtshalbtages zusammengerufen für - Musizieren und Singen (Kreisspiele) - Kreisgespräche über Unterrichtsprobleme oder aktuelle Fragen Vorstellen von Schülerarbeiten (eigene Geschichten, Vorträge, Tischtheater, Pantomimen u.ä.) Konzentrationsübungen (Anweisungsdiktate, Schnellrechnen, Reaktionsübungen). Diese gemeinsamen Phasen schaffen ein Gegengewicht zur zentrifugalen Tendenz des Werkstattunterrichts und sind bei den Kindern sehr beliebt, womit sich Werkstattunterricht als ein besonders geeigneter Rahmen für gemeinsames Lernen erweist. Ich möchte dies kurz begründen: Jede demokratische Schule verfolgt das Doppelziel "Individualisierung und Gemeinschaftsbildung", nach dem Motto: Wir lernen gemeinsam! Doch was soll das effektiv heissen? Wer ist "Wir"? Was heißt "gemeinsam"? Und was soll das sein: gemeinsam lernen? (a) Von "Wir" kann meiner Meinung nach nur die Rede sein, wenn in diesem Plural die Lehrerin miteingeschlossen ist. "Wir lernen gemeinsam" heißt dann: "Die Schüler und die Lehrerin lernen gemeinsam". "Wir" erfordert, daß die Lehrerin mitlernt. Zwar hat sie nicht mehr "den Stoff" zu lernen, doch kann sie durch subtile Beobachtung der Kinder und durch ein offenes Eingehen auf das kindliche Lernen - vorab indem sie den Eigenwert des Kindlichen grundsätzlich anerkennt - ihre eigene pädagogische, didaktische, sozialpsychologische und lernpsychologische Kompetenz stetig erweitern. Eine Lehrerin, die selber lernfähig geblieben ist, und bereit ist, von ihren Schülern zu lernen, begünstigt mit ihrer lernoffenen Haltung das "Wir"-Gefühl in der Klasse sehr viel nachhaltiger als mit ihrer Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Heiterkeit etc. (b) Der Mensch ist zwar ein sozial lebendes Geschöpf, trotzdem bleibt er unaufhebbar Individuum. Wir können unsere Erlebnisse, Gedanken, Stimmungen, Gefühle einander höchstens mit-teilen, an den Erlebnissen, Gedanken, Stimmungen, Gefühlen der anderen innerlich teilnehmen können wir aber nicht. Auch das Lernen ist ein innerer Vorgang, der grundsätzlich individuell bleibt. Gemeinsam ist lediglich der äußere Rahmen, in dem der Prozeß abläuft. Dieser Rahmen kann ganz verschieden sein. Wenn er von vielen Einzelnen her akzeptiert wird und Zustimmung erfährt (wenn also die beteiligten Individuen "ja" zu ihm sagen), dann kann er eine "Wir"-Stimmung begründen und dann - so denke ich - kann er "gemeinsam" genannt werden.

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Aus dieser Vorbedingung heraus ist für mich auch klar, was "gemeinsam" hier bedeuten kann - schlicht und einfach: miteinander statt gegeneinander, sich ergänzen statt behindern, sich unterstützen statt konkurrenzieren u.ä.m. (c) "Gemeinsam lernen" ist in gewißer Weise ein Widerspruch in sich. Was Hänschen lernt, lernt er selbst. Keine Lehrerin, keine Kameraden und keine Eltern können ihm das Lernen abnehmen und quasi an seiner Statt etwas für ihn lernen. Es kann auch niemand an seinem inneren Lernprozeß wirklich teilnehmen - der Lernprozeß ist ein absolut individueller Vorgang. Daher lernt Hänschen grundsätzlich am besten, wenn man seinem Lernen möglichst viel individuellen Entfaltungsspielraum läßt. Dieser Entfaltungsspielraum wird jedoch durch einen gemeinsamen Rahmen von Äußerlichkeiten eher beschnitten als freigehalten. Je gemeinsamer, einheitlicher der Rahmen, umso weniger wird wirklich gelernt. Sollen in einer Schulklasse alle in der gleichen Art und Weise zur gleichen Zeit das Gleiche lernen, dann wird erstens nicht wirklich gelernt und zweitens entsteht auch keine Gemeinsamkeit - es fehlt die innere Zustimmung der Beteiligten. Ich war meinen Kameraden nie ferner und meine Abneigung gegenüber bestimmten Formen der Gemeinsamkeit war nie größer als während meiner soldatischen Grundausbildung, bei den sog. Marschübungen und der Zugschule in der Schweizer Armee, wo 20 - 100 junge Männer in den Gleichschritt gezwungen wurden und alle ihre Bewegungen hätten synchronisieren sollen. Hier war der äußere Rahmen - einschließlich die Bekleidung - aufs höchste vereinheitlicht gemeinsam - und gleichzeitig das Gemeinsamkeit stiftende "Wir"-Gefühl aufs tiefste gestört. Gemeinsamkeit entsteht nur aus zustimmender Individualität und daher ist für mich der Werkstattunterricht die beste Möglichkeit, gemeinsames Lernen zu ermöglichen. Weil er von den Kindern in hohem Maß bejaht wird und zugleich ihre Individualität im Höchstmaß respektiert, hat er alle Chancen, ein "Wir"-Gefühl zu begründen und dadurch gemeinsames Lernen zu begünstigen. Aller Werkstattunterricht, den ich kennenlernte und selber erteile, zeichnete sich stets durch ein auffallend friedliches Miteinander mit einer ausgeprägten "Wir"-Stimmung aus. Die Gründe dafür liegen für mich auf der Hand. Die Freiräume und Selbstbestimmungsmöglichkeiten, die der Werkstattunterricht dem Kind gewährt bzw. beläßt, vermindern soziale Spannungen und Frustrationen. Die freieren Sozialformen führen zu mehr Gesprächen und Zusammenarbeit und bewirken insgesamt ein friedlicheres Sozialklima. Das organisatorische und erzieherische (!) Kernstück des Werkstattunterrichts ist die "Kompetenz- und Aufgabendelegation" (das "Chefsystem" wie diese Organisationsstruktur von den Kindern genannt wird). Im Hinblick auf die wesentlichen Ziele der Persönlichkeits- und Sozialerziehung ist sie die wirkungsvollste Maßnahme, denn hier wird im Rahmen des gesamten Unterrichts bzw. im Zusammenhang einer Lernwerkstatt jedes Kind mit bestimmten, effektiven Funktionen der Lehrerrolle alleinverantwortlich betraut. Dabei bedeutet "effektive Funktion der Lehrerrolle" nicht, den Kindern beispielsweise die Verantwortung für das Gießen der Zimmerpflanzen zu übertragen (das zwar auch), sondern beispielsweise die abschließende Befugnis zu Anordnung, Kontrolle und Korrektur der Hausaufgaben. In der Wirtschaft ist Kompetenz- und Aufgabendelegation nichts Ungewöhnliches. Sie ist ein Stück weit auch auf die Schule übertragbar. Die "gute" bzw. professionell souveräne Lehrerin fördert die Selbständigkeit und das Pflicht- bzw. Verantwortungsbewußtsein der Schüler eben dadurch, daß sie alleinverantwortliche Selbständigkeit gewährt.

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Im Werkstattunterricht ist Kompetenz- und Aufgabendelegation besonders gut möglich, weil man hier jedem Kind Aufgaben zuweisen kann, die traditionell zu den Lehrerfunktionen gehören. So läßt sich z.B. jedem Kind die Zuständigkeit für ein Lernangebot der Werkstatt übertragen. Neben seiner Hauptaufgabe, in der Werkstatt zu arbeiten, ist das Kind noch verantwortlich für eines der Lernangebote: - Es ist für "sein" Angebot "Experte" und kann den Kameraden helfen - Es beschafft und verwaltet Material zum Angebot. - Es führt eine Liste und weiß, wer das Angebot bearbeitet hat - Es mahnt obligatorische Angebote an. - Es nimmt Ergebnisse entgegen und korrigiert bei Bedarf. Kompetenz- und Aufgabendelegation in diesem Sinne ist eine ausgeprägte Form des Helferunterrichts mit vielen Vorteilen: - Sie bietet schwachen Schülern die Möglichkeit einer längerdauernden Lernhilfe sowie den

Vorteil kindgemäßer Erklärungsweisen, da der Kamerad in Sprache, Denkweise und Anschauungsart dem schwachen Schüler näher steht, als die Lehrerin.

- Sie festigt die Kenntnisse des helfenden Schülers, weil dieser selber profitiert, wenn er andern etwas erklärt oder beibringt.

- Sie begünstigt die Kooperation in der Klasse. - Sie entlastet die Lehrerin. Damit Helferunterricht nicht mit der Zeit zu einer Schülerhierarchie führt, ist freilich strikte darauf zu achten, daß alle Kinder, wenn möglich mehrfach, als Helfer bzw. "Chef" eingesetzt werden. Die Lehrerin sollte darüber Buch führen. Schwache Schüler können zu Helfern "ausgebildet" werden, indem man sie mit Vorausinformationen versorgt, die sie an die Kameraden weitergeben, z.B. im Fall einer Verbreitung von Regeln zu bestimmten Spielen im Lawinensystem. Der Helfereinsatz kann gerade solche Kinder sehr stark motivieren. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen profitieren vom Helferunterricht jene schwachen Schüler am meisten, die selber - zumeist bei jüngeren Schülern in anderen Klassen - als Helfer eingesetzt waren. Werkstattunterricht ermöglicht ja überhaupt, daß Kinder von ihren Kameraden lernen bzw. die Kameraden lehren, was lernpsychologisch beides höchst wirkungsvoll ist. Kinder lernen und entwickeln sich in Auseinandersetzung mit anderen. Durch den Austausch von Lernerfahrungen lernen sie, ihre Schwierigkeiten und Erfolge zu verstehen und im persönlichen Erfahrungszusammenhang einzuordnen. Gleichzeitig lernen sie auch, andere besser zu verstehen und sich solidarisch-unterstützend zu verhalten. Sie lernen ihre eigenen Ansprüche anzumelden und durchzusetzen, bei gleichzeitiger Rücksichtnahme auf Ansprüche Anderer. Kompetenz- und Aufgabendelegation im umfaßenden Sinne geht allerdings über den Werkstattunterricht hinaus. Auch aus dem allgemeinen Unterrichtsbetrieb können Kinder Kompetenzen und Aufgaben übernehmen. Dabei kann eigentlich fast alles, was gemeinhin zum Verantwortungsbereich der Lehrerin gehört, an die Klasse übertragen werden. Beispiele:

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SPIELCHEF Erteilt die Spielerlaubnis, d.h. er ist v.a. dafür zuständig, daß Kinder beliebte Spiele erst dann zum zweiten oder dritten Mal vornehmen, wenn die anderen Anwärter wenigstens einmal zum Zug gekommen sind. Sammelt bei "halbstrukturierten" Spielen, zu denen Regeln erst noch zu entwickeln sind, die Regelvorschläge und organisiert die Erprobung der neuerfundenen Regeln. COMPUTERCHEF Ist zuständig für alle Fragen am Computer und beispielsweise berechtigt, "Computerprüfungen" abzunehmen und dafür "Diplome" auszustellen, die zu einer erweiterten Computerbenutzung berechtigen. (Die erste Prüfung kann z. B. darin bestehen, einen kleinen Text in den PC einzugeben und über den angeschlossenen Drucker auszudrucken. Mit dem so erworbenen "Diplom" ist das Recht verbunden, am Computer besonders beliebte Spiele zu spielen, die den anderen wegen "geheimer" Paßwörter nicht zugänglich sind.) VORTRAGSCHEF Bespricht mit den Kameraden mögliche Vortragsthemen, führt am Anschlagsbrett eine Liste der Themen, organisiert die Reihenfolge. Hält nach den Vorträgen in einem Kurzprotokoll fest, wie die Klasse einen Vortrag nach Inhalt und Rhetorik beurteilt. LESECHEF Verwaltet die Texte, die zur Werkstatt gehören; mahnt zu lange Ausleihfristen an, damit auch andere Kinder zum Lesen kommen können. Nimmt eine allfällige Verständnisüberprüfung vor. Kopiert allenfalls Texte für einzelne Mitschüler u.a.m. LIEDERCHEF Ermittelt bei den Kameraden Wunschlieder, führt am Anschlagbrett das entsprechende Verzeichnis, prüft in den Gedichtheften nach, ob die Schüler ihre Wunschlieder sauber und fehlerfrei abgeschrieben hat, organisiert in Absprache mit der Lehrerin, daß die Wunschlieder gesungen werden. HAUSAUFGABENCHEF Erfahrungen legen nahe, mit diesem Amt nicht einen Schüler allein zu betrauen, sondern ein Doppelteam einzusetzen. Das Chefpaar ist dann zusammen für die Hausaufgaben verantwortlich. Es legt einvernehmlich fest, welche Hausaufgaben die Klasse bekommt und kontrolliert die Erledigung. Die Lehrerin hat damit nur dann zu tun, wenn ihr die Chefs mitteilen, daß Aufgaben nicht gemacht wurden. (Es werden auf diese Weise nicht weniger Hausaufgaben erteilt; die Erfahrungen zeigen das Gegenteil. Weil die Chefs die Aufgaben selber auch machen müssen - im Unterschied zur Lehrerin -, sind die Aufgaben bei der Klasse auch besser legitimiert.) KORREKTURBÜRO Die 4 - 6 besten Rechtschreiber der Klasse bilden das Korrekturbüro mit dem Auftrag, alle von den Schülern frei formulierten Texte zuerst durchzusehen, ehe sie der Lehrerin zur Schlusskorrektur unterbreitet werden. Diese Einrichtung hat mehrere positive Auswirkungen: Kinder aus Elternhäusern, wo Rechtschreibung ein hehres Bildungsziel darstellt und die bei freien Texten entsprechend ängstlich sind, können sich entspannen. Sie bringen der Lehrerin jetzt vorkorrigierte Texte mit deutlich weniger Fehlern und müssen sich nicht schon auf dem Weg zur

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Lehrerin verkrampfen. In der entlasteten Atmosphäre der Vorkorrektur bleibt mancher Hinweis zusätzlich hängen. Innerhalb des Korrekturbüros selber kommt es immer wieder zu Diskussionen über orthographische Unsicherheiten, in welche die jeweiligen Textschreiber einbezogen sind, was zu einer Vertiefung des Problembewußtseins beiträgt und die Schüler häufiger zum Wörterbuch greifen läßt. Schließlich entwickelt sich bei den Mitgliedern des Büros ein großes Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Rechtschreibung in der ganzen Klasse. Selbstverständlich sind nicht alle Funktionen, die man an Kinder delegieren kann, gleich attraktiv bzw. mit Kompetenzen ausgestattet. ("Ämter" wie etwa Wandtafelreinigen, Fensteröffnen in der Pause usw. stärken zwar das Pflichtgefühl, fördern hingegen die Kooperations- und Kommunikationsfähigkeiten weniger.) Da jedoch grundsätzlich alle Aufgaben und Funktionen unter denen verlost werden, die sich darum bewerben und mithin Chancengleichheit besteht, ist eine allgemeine Legitimation der Kinder untereinander gewährleistet. Eine kleine Einschränkung ergibt sich lediglich bei Aufgaben mit besonderen Qualifikationen (Korrekturbüro, Computer-"Chef" o.ä.), aber da sich die Einschränkungen aus dem Sachverhalt ergeben, werden auch diese anerkannt. Zudem gelten solche Kompetenzdelegationen nur für begrenzte Zeit, so daß es während des Schuljahrs zu einem gewissen Ausgleich kommt. Daß nicht jedes Kind für jede Aufgabe gleich geeignet ist, darf die Lehrerin keinesfalls dazu bewegen, ein Kind zum Vornherein von bestimmten Kompetenzdelegationen auszuschließen. Es sei mit Nachdruck betont: die außerordentliche unterrichtliche Gesamtwirkung, welche man mit einer umfaßenden und echten Kompetenz- und Aufgabendelegation erzielen kann, ist gebunden an die Voraussetzung absoluter Chancengleichheit für alle Kinder. Nur so entsteht eine allgemeine Legitimation, in der die Kinder bereitwillig Anweisungen und Aufträge von Kameraden entgegennehmen. Fühlen sich einzelne ausgeschlossen, so ist damit zu rechnen, daß sie den Unterricht sabotieren. Begründete Einschränkungen und individuelle Anpassungen kann die Lehrerin in der Gestaltung der Pflichtenhefte vornehmen, indem sie deren Details erst nach der Verlosung festlegt. Im Gespräch mit dem jeweiligen "Chef" kann, ja muß man modifizieren, verzichtet also z.B. bei einem schwachen Schüler als Vortrags-"Chef" auf die Protokollierung der Klassenurteile im Anschluß an die Vorträge und begnügt sich mit der Organisation der Vorträge. Kompetenz- und Aufgabendelegation hat Vorteile für die Lehrerin: Sie wird entlastet von Routineverpflichtungen und spürbar erleichtert in organisatorischer Hinsicht, so daß sie Zeit und Kraft für die pädagogische Betreuung der Klasse gewinnt. Wichtiger sind jedoch die Vorteile für die Kinder. Es wird: - die Selbständigkeit gefördert - das Selbstvertrauen gestärkt - das Verantwortungsgefühl gesteigert - das Beziehungsgeflecht unter den Kindern vertieft - ein allgemeiner Lernaustausch in Gang gebracht, weiteres Lernen an geregt und zusätzlich

motiviert (etwa wenn ein Kind zufällig verantwortlich für ein Lernangebot wurde, für das es sich sonst nicht interessiert hätte)

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Ihre positiven Wirkungen entfaltet die Kompetenz- und Aufgabendelegation allerdings nur - und das sei wiederholt! - wenn sie echt ist und alle Kinder gleichberechtigt sind. Eine halbherzig praktizierte Kompetenzdelegation führt nicht einfach nur zur halben positiven Wirkung, sondern wirkt sich umgekehrt verheerend aus. Gerade schwache oder sogenannt "schwierige" Schüler reagieren auf eine echte Kompetenz- und Aufgabendelegation besonders sensibel, weil sie hier eine Möglichkeit haben, sich von ihrer Randstellung her zu integrieren. Kompetenz- und Aufgabendelegation bedeutet so ineins Anerkennung des Kindes, ist von der Lehrerin bestätigtes Zutrauen in sein Können und in seine Integrität. Eine Unterrichtsorganisation dieser Art läßt sich nicht plötzlich anordnen und auch nicht innert einer Woche entwickeln. Vielmehr ist sie das Ergebnis eines längeren Prozesses, der aber, wenn er richtig verläuft, bei den Kindern zu einem außerordentlichen Grad an Selbständigkeit und Verantwortungsbewußtsein führen kann. Wenn es stimmt, daß sich früh übt, "wer ein Meister werden will", dann ist ein umfaßender Werkstattunterricht mit gemeinsamer Planung, Lernverträgen, Selbstbeurteilung und weitgehender Kompetenz- und Aufgabendelegation schon im 1. Schuljahr zu beginnen. Ich unterrichte zur Zeit Erstklässler und bei diesen funktioniert das System zwar noch nicht umfaßend und reibungslos, doch in erkennbaren Ansätzen. Daß es zuweilen noch einzelne Schwierigkeiten gibt, tut m.E. der Sache keinen Abbruch, Kompetenzen und Aufgaben für andere verantwortlich zu übernehmen ist ein Lernprozeß und verläuft wie alle Lernprozeße nicht immer kontinuierlich, sondern mit Stockungen und evtl. sogar Rückschlägen. Beispiel: Remy, ein schwacher Schüler (MCD-Kind), der u.a. große Mühe bekundet, in seinem persönlichen Schulmaterial Ordnung zu halten, der regelmäßig ein Heft vergißt oder ein Arbeitsblatt "vernuscht" und sich auf meine entsprechenden Vorhaltungen hin bisher kaum einsichtig oder gar besserungswillig zeigte, also die Tragweite seiner Unordentlichkeit noch nicht einzusehen vermochte, reagierte erstmals schuldbewußt, nachdem er als "Zeichnungschef" die gesammelten Zeichnungen, die ihm die Klassenkameraden anvertrauten, unauffindbar verlegte. Der Kommentar seines Sitznachbars - sinngemäß: "Wenn du deine Zeichnung verlierst, ist mir das egal, aber wenn du meine verloren hast, werde ich wütend" - hat ihn erstmals betroffen gemacht. Die Sache war ihm echt peinlich und ging ihm nahe genug, so daß ich überzeugt bin, Remy habe diese "Lektion" gelernt. Daß die Zeichnungen verschwunden blieben, ist zwar leicht ärgerlich, weil mit ihrem Verlust aber ein Persönlichkeitsgewinn für Remy "bezahlt" werden kann, hält sich der Ärger bei mir in engen Grenzen (zumal die Zeichnungen irgendeines Tages ja doch auf dem Müll landen, der Zuwachs an Verantwortungsbewußtsein bei Remy aber bleibt). Natürlich kann man sich fragen, ob der Ausdruck "Chef" glücklich gewählt sei und - was für mich schwerer ins Gewicht fällt - ob Kompetenz- und Aufgabendelegation nicht zu einer unbemerkten Hierachisierung bzw. einer Hierachieinflation führt. Ich gebe offen zu, daß ich auf diese Frage noch keine Antwort weiß. Der Begriff "Chef" stammt von den Kindern selbst. Sie sind alle gerne "Chef" und es ist ihrem Selbstbewußtein offensichtlich förderlich, daß sie Kompetenzen haben. Auch gefällt ihnen, daß sie mit ihren Fragen und Anliegen nicht dauernd zu mir kommen müssen, sondern untereinander operieren können - es entsteht eine Art "Gegenmacht" gegen die Dominanz meiner Lehrerstellung. Als ich beispielsweise kürzlich Karin beim Verabschieden

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zurückhielt und meinte, sie könne den "Little Professor" (eine Art Taschenrechner) nicht nach Hause mitnehmen, berief sie sich auf die Erlaubnis des "Chefs" - und ich mußte dies akzeptieren (andernfalls hätte ich die ganze Institution der Kompetenz- und Aufgabendelegation untergraben). Ich habe bislang auch nie bemerkt, daß die "Amts"-Autorität eines "Chefs" von den Kameraden mißachtet bzw. vom "Chef" selbst mißbraucht worden wäre. Die Kinder nehmen ihre Verpflichtungen sehr ernst. Natürlich gibt es Unterschiede der "Amtsführung": Weil grundsätzlich alle Kinder gleichberechtigt sind und alle Ämter für Alle offenstehen, so daß meistens ein Zufallsentscheid den "Chef" bestimmt, ist es in meiner Klasse beispielsweise dazu gekommen, daß zwei ganz unterschiedliche Kinder die Verantwortung für unsere "Leihbibliothek" (Bücher der Regenbogen-Lesekiste) übernommen haben. Die Kinder dürfen die Leseheftchen nach Hause mitnehmen, sind aber gehalten, dem "Chef" Meldung zu machen. Der "Chef" trägt in seiner Klassenliste ein, wer welches Leseheft zu Hause hat und ist dafür besorgt, daß die Hefte nach angemessener Zeit wieder zurückgebracht werden. Matthias aus der Abteilung A betreut dieses Amt umsichtig und gewißenhaft. Er ist stets informiert über ausgeliehene Lesehefte. Hassan, der "Chef" aus Abteilung B, übt sein Amt dagegen nur rudimentär aus, d.h. er arbeitet nicht kontinuierlich und führt seine Liste nicht sorgfältig. Nur wenn er zufällig entdeckt, daß sich ein Kind ohne ihn vorher zu befragen an der Regenbogen-Lesekiste zu schaffen macht, wird ihm sein Amt wieder bewußt - er erhebt dann deutlich Einspruch, weil man ihn überging. Kürzlich bekam ich mit, daß der so getadelte Fabian sich wehrte und gegen Hassan ins Feld führte, er würde die Liste ja doch nicht richtig führen und da hätte es gar keinen Sinn, ihm Meldung zu machen. Darauf hat Hassan reagiert (ähnlich wie Remy). Ich jedenfalls bin überzeugt, daß auch Hassan, läßt man ihm nur Zeit und schenkt ihm weiterhin Vertrauen - ein zuverläßiger "Chef" wird. Skeptiker und Spötter werden jetzt natürlich wissen wollen: ... und was macht eigentlich die Lehrerin, wenn die Kinder alle ihre Funktionen übernommen haben? Nun - sie ist da. Sie liebt die Kinder, ermutigt sie, bestätigt sie, bietet ihnen Lerngelegenheiten, organisiert eine Hintergrundsdisziplin und beflügelt mit ihrer offenen, großzügigen und entgegenkommenden Art Motivation und Lerneifer der Klasse. So passen "Lesen durch Schreiben" im Werkstattunterricht mit Kompetenz- und Aufgabendelegation geradezu optimal zu den Zielsetzungen des hessischen Modellversuchs "Neukonzeption des Schulanfangs". Eine Lehrerin und eine Klasse, die Werkstattunterricht gewöhnt sind, in der durch das "Chefsystem" zunehmend mehr von selbst "läuft" und die Lehrerin "nur" als "Hintergrundsmoderatorin" amtet, bilden ein soziales Gebilde, das die halbjährliche Einschulung von 6-7 Kindern, auch wenn diese sehr sehr unterschiedlich sind, optimal gewährleisten kann. Während der Großteil der Klasse werkstattmäßig weitgehend unabhängig von der Lehrerin arbeiten kann, betreut von jeweils im einzelnen durchaus qualifizierten "Chefs", hat die Lehrerin Zeit und Kraft, sich intensiv um die Neulinge und deren Schriftspracherwerb zu kümmern. Und in Phasen, in denen sie sich nicht der Neulinge annehmen kann, sind für diese ältere Kameraden vorhanden, welche als emotionale und didaktische Ansprechpartner fungieren. Dabei ist der Helferunterricht, der hier praktiziert wird, besonders wirkungsvoll, denn die Helferunterstützung, welche die "Großen" den "Kleinen" gewähren ist echt - und die Verantwortung, welche von den "Großen" getragen wird, ebenfalls. Wenn es die Lehrerin fertig bringt, den veränderten Ansprüchen an ihre neue Rolle zu entsprechen, d.h. wenn sie loslassen kann, den Kindern wirklich vertraut und vieles zutraut, sich didaktisch zurückhält und nach dem Prinzip der "minimalen Hilfe" arbeitet, wenn sie auf

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"kognitive Aktivierung" baut statt auf formales Üben und mit wirklich pädagogischer Geduld "aktiv wartet" bei Kindern, die zunächst mit den Leistungsansprüchen der Schule Mühe haben, und wenn sie, dies vor allem, auf "inzidentelles" Lernen setzt und Lernen nicht mit Arbeiten verwechselt, dann eröffnet "Lesen durch Schreiben" im Werkstattunterricht mit Kompetenz- und Aufgabendelegation einer Schule, die integrativ und jahrgangsgemischt mit halbjährlicher Einschulung arbeitet Chancen, die in ihrer positiven Auswirkung noch gar nicht abschließend abzusehen sind. Ich jedenfalls glaube, ein solches Konzept kann für alle zu einem Glücksfall werden. 1) REICHEN, J.: Lesen durch Schreiben - Lehrgangskommentar (Klassenmaterial), Best. Nr. 4578 - Schülermaterial (Einzelmaterial), Best. Nr. 4577 - SABEFIX-Kontrollspiel (Gruppenmaterial), Best. Nr. 4579 - Lernsoftware / Lesen durch Schreiben / Disketten 1-3 / Best. Nr. 4251,52,53 Zum Werkstattunterricht bzw. Kompetenz- und Aufgabendelegation: REICHEN, J.: Sachunterricht und Sachbegegnung, Best. No. 4211 Verlag Otto Heinevetter, Lehrmittel GmbH, Hamburg 2) P. Ariès, Geschichte der Kindheit, München 1978 (dtv) N. Tucker, Was ist ein Kind? Stuttgart 1979 N. Postman, Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt a.M. 1983 3) CAZDEN, C.B.: Environmental Assistance to the Child's Acquisition of Grammar. Dissertation, Harvard University, Cambridge MA 1965

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Text-A20 Jürgen Reichen Lesen und Schreiben von Anfang an ? Nein !!! (mit einer Diskussion zwischen Heiko Balhorn und Jürgen Reichen im Anhang) erschienen in: Schatzkiste Sprache 1 / Von den Wegen der Kinder in die Schrift herausgegeben von Heiko Balhorn/Horst Bartnitzky/Inge Büchner/Angelika Speck-Hamdan Arbeitskreis Grundschule - Der Grundschulverband und DGLS - Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben / 1998 Wer als Lehrerin möchte, dass Kinder einmal wirklich lesen können und am Lesen Freude haben, muss am Anfang darauf verzichten! Wer nämlich mit Kindern liest, die es zur Gänze noch gar nicht können, muss tun, was der Fibelunterricht tut und dies ist abschliessend kontraproduktiv, denn mit der Fibel lernt man gar nicht lesen, sondern bestenfalls "erlesen" d.h. bloss entziffern. Selbsterfahrung, klassische Befunde der Wahrnehmungspsychologie und neuere Erkenntnisse zur Neurophysiologie des Gehirns dokumentieren: Kompetentes Lesen funktioniert nicht so, wie das sogenannte "Erlesen", das man den Kindern im Fibelunterricht aufzwingt, wo das Kind am Wortanfang beginnend Buchstabe um Buchstabe einem Laut zuordnen soll, diese Laute laut sprechen muss, um schliesslich durch entsprechend schnelles Zusammenziehen bzw. "Zusammenschleifen" aus dem hörbaren Wort den Sinn zu entnehmen. Mein Orientierungs- und Zielpunkt ist das kompetente Lesen derer, die mit einem einzigen Blick auf geschriebene Begriffe und Sätze den Sinn derselben unmittelbar, sofort verstehen, ohne irgend ein willentlich-bewusstes inneres Tun in Gang zu setzen. Mein kompetenter Leser verfügt über ein implizites Können - er muss nur auf Text blicken und im gleichen Augenblick versteht er ihn, ohne dass er irgendetwas "tun" muss. Wenn ich mich selber beim Lesen beobachte, dann habe ich eigentlich gar nicht das Gefühl, dass ich lese, ich habe eher umgekehrt das Gefühl, dass ich vom Text "belesen", "angelesen" werde - man verzeihe mir, meine sprachliche Hilflosigkeit - jedenfalls tue ich bewusst nichts anderes als auf den Text zu blicken und dann werde ich von diesem gleichsam "angesprungen", es widerfährt mir Lesen, der Text drängt sich mir auf, und ich kann mich gar nicht entziehen. Zugegeben: die Selbsterfahrung und -beobachtung bleibt diffus, trotzdem ist eindeutig, dass ich nichts von dem tue oder erlebe, was der Fibelunterricht betreibt: ich bilde keine Lautreihe entlang der Buchstabenreihe. Ich bestreite nicht, dass auch auf diese Weise der Sinn eines kurzen Textes herausgearbeitet werden kann - nur denke ich, man sollte ein solches Verfahren nicht Lesen nennen, sondern Rückübersetzen, Entziffern, Enträtseln, Herausfinden o.ö. Dieses Verfahren ist ineffizient und so anstrengend, dass "Lesen" auf diese Weise unmöglich Spass machen kann. Nun strebt der Fibelansatz abschliessend natürlich nicht das "Entziffern" an. Er behauptet, das "Erlesen" als bewusstes Handhaben der "Graphem-Phonem-Korrespondenz", geübt durch das "variantenreiche" Kombinieren, Gruppieren und Umgruppieren von Buchstaben sei eine zwingende Vorstufe des Lesens, aus der im Verlauf der Zeit, durch häufiges Üben eine sogenannte Automatisierung erreicht werde. Ich bestreite dies und lehne dementsprechend die im traditionellen Unterricht vermittelte Lesetechnik ab. Diese Technik ist schädlich, nachdem sich der menschliche Geist dieser Technik ja gar nicht bedient. Dementsprechend lässt sich auch problemlos belegen, dass es diese Technik

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nicht braucht - Kinder, die z.B. strikte nach der Methode "Lesen durch Schreiben" unterrichtet werden, können sehr wohl lesen, ohne dass man ihnen diese Techniken "beibrachte". Anders als die Befürworter der Fibel sehe ich in dieser "Lesetechnik" keine Vorstufe, keine nützliche und schon gar keine zwingende, sondern häufig eine Sackgasse, aus der weniger begabte Kinder nicht mehr herausfinden und daher auch niemals richtige Leser werden. Es sei wiederholt: Wenn kompetente Leser lesen, dann hängen sie keine Buchstaben hintereinander, auch nicht ganz schnell, sondern sie erfassen Begriffe in einem einzigen Erkenntnisakt der Gleichzeitigkeit und nicht eines Hintereinanders. Wenn man eine Theorie oft genug hört, hält man sie irgendwann unreflektiert für wahr, vergessend, dass es eine Theorie ist: d.h. ein Erklärungsversuch, der zwar nicht gegen eindeutig erkannte Tatsachen formuliert sein darf, aber Erkenntnislücken mit Vermutungen oder Spekulationen füllt. Und deshalb muss jede Theorie immer wieder mal grundsätzlich in Frage gestellt werden - und zwar unter Beachtung der schlichten erkenntnistheoretischen Einsicht, dass alle unsere Antworten, Feststellungen usw. die unser "Wissen" ausmachen, das Ergebnis der Fragen sind, die wir stellten oder nicht stellten, bzw. der Beobachtungen, die wir machten oder nicht machten. Dazu kommt - verschärfend - im Schulbereich, dass alles, was wir an Kindern feststellen, nicht Feststellungen an "Naturgeschöpfen" sind, sondern Beobachtungen an Kindern, die in einer bestimmten Art und Weise - und meistens noch mit erheblichem Druck - instruiert (!) wurden. Erziehung geht doch von der Prämisse aus, dass man heranwachsende Kinder in ihrem Verhalten verlässlich beeinflussen könne, d.h. dass Kinder etwas so tun, wie wir es ihnen beigebracht haben. Wird nun ein Kind im Fibeluntericht didaktisch angeleitet, bzw. bedrängt und gezwungen, Buchstaben zu kombinieren und herumzugruppieren und dazu laut Laute zu sprechen und zusammenzuschleifen usw. usw. dann tut ein wohlerzogenes Kind das auch, denn es wird ihm ja, schon Monate vor dem Schuleintritt, immer wieder deutlich gesagt, dass es zu tun habe, was die Lehrerin fordert. Wenn man dann anschliessend beobachtet, wie zwei Kinder aus der Klasse von Kollegin X scheinbar von sich aus mit Buchstabenkärtchen OMA zu OMO variieren, und daraus den Schluss zieht, dass dies den Leselernprozess beschleunigend unterstützt, dann ist dieser Schluss für mich falsch. Nach meiner Meinung hat sowas weniger mit den Kindern und mehr mit der Lehrerin X zu tun. Die Lehrerin erwartet letztlich von den Kindern, dass sie mit Buchstaben Wörter legen und verändern, denn sie hat das den Kindern gezeigt und ihnen "weis" gemacht, dass man auf diese Weise lesen lerne - und das wollen die Kinder ja auch. Bei mir machen Kinder nie so etwas - wobei das auch in meinem Fall nicht an den Kindern liegen muss: ich erwarte sowas nicht, finde es falsch und meine Kinder halten sich dann daran. Leitend bleibt ein Grundgedanke von KANT: unsere sog. Erfahrungen sind von uns miterzeugt, mitabhängig. Empirische Erkenntnisse gelten nur innerhalb der Methoden, die sie hervorbrachten und entsprechend sind Beobachtungen an Kindern nicht übertragbar, sie gelten nur innerhalb eines Horizontes in dem vergleichbare methodische Repertoires zur Anwendung gelangen. Daher ist die Frage prinzipiell strittig, ob die Gleichzeitigkeit im Erfassen von Wörtern durch eine frühere Stufe des nacheinander Erlesens von Buchstaben vermittelt wird oder ob nicht umgekehrt dieses "Hintereinander-Lesen" sich störend, verlangsamend, blockierend auf das abschliessende Lesenkönnen auswirkt?

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Ich neige der zweiten Auffassung zu. Für mich ist "Blitzlesen" (wie es in einem Computer-Programm von TRAEGER genannt wird, weil hier der zu lesende Text auf dem Bildschirm nur für Sekundenbruchteile präsentiert wird) die abschliessende Hochform des Könnens, diese ist anzustreben und nichts anderes. Der Fibelunterricht aber erschwert (bzw. verunmöglicht in vielen Fällen), dass man dahin gelangen kann. Zwar wissen wir von PIAGET, dass es in der Entwicklung von Können Stufen gibt, auf denen man unterschiedlich vorgeht, so dass man nicht unbesehen stets die Höchstform zum Modell dafür erklären darf, wie sich der Anfänger zu benehmen hat - das zeigt sich ja beispielsweise beim Rechtschreiben, das wir nicht von Anfang an erwarten können. Doch diese Einschränkung gilt nicht in allen Fällen niemand kommt auf die Idee, einem kleinen Kind, das Gehen lernt, eine Krücke oder einen Rollator aufzuzwingen, um ihm das Lernen zu erleichtern und es vor Stürzen zu bewahren. Hier gibt es keine Zwischenstufen. Und das scheint mir auch beim Lesen so. Wenn ich davon ausgehe, dass Lesen eine Sache der Augen ist, ein Akt verstehenden Sehens, dann empfiehlt sich, die wahrnehmungspsychologischen "Gesetze des Sehens" zur Kenntnis zu nehmen. Für das Lesen heisst das u.a., das Verhältnis von "hintereinander" und "gleichzeitig" bzw. von "Ganzheit" und "Teil" zu klären. Unsere Sprache hat eine Struktur des Hintereinanders, während unser Sehen im wesentlichen gleichzeitig und ganzheitlich funktioniert. Ereignen sich in meiner Umgebung mehrere Ereignisse gleichzeitig - was ja laufend vorkommt - so kann ich diese Gleichzeitigkeit sprachlich nicht ausdrücken, ich muss die verschiedenen Ereignisse nacheinander erzählen, sehen kann ich aber alles zugleich: einen Verkehrsunfall; das abgedrehte, verbeulte Auto; den verletzt am Boden liegenden Radfahrer; die Frau, die erste Hilfe leistet; die heranfahrende Sanität; die Zuschauer usw. usw. Da es nun beim Lesen um Sprache geht, scheint auch beim Lesen ein "Hintereinander" angesagt, so wie beim Sprechen oder Hören eines Wortes eine lineare Abfolge von Lauten auszumachen ist. Doch beim Sehen trifft dies nicht zu: die Buchstaben eines geschriebenen Wortes werden nicht hintereinander, sondern ganzheitlich-gleichzeitig erfasst. Unser Wahrnehmen hat prinzipiell eine ganzheitliche Tendenz. Wir nehmen jede Situation, in die wir geraten, zunächst einmal ganzheitlich wahr. Wenn ich eine Wiese sehe, dann sehe ich die Wiese und nicht diesen einzelnen Grashalm und den Grashalm daneben und den dritten und den vierten und den fünften usw. Ich kann zwar einen einzelnen Grashalm für sich ins Auge fassen, das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich gemeinhin eine Wiese und nicht Tausende von additiv zusammengefassten Grashalmen sehe; mit dem Perspektivenwechsel wird nicht die ganzheitliche Tendenz der Wahrnehmung ausgehebelt, sondern lediglich das Verhältnis des Ganzen zum Teil variiert. Wenn das Haus das Ganze ist, dann ist das Zimmer ein Teil. Wenn das Zimmer das Ganze ist, dann ist die Sitzgruppe das Teil; ist die Sitzgruppe das Ganze, dann ist der Stuhl ein Teil; ist der Stuhl das Ganze, dann ist das Sitzkissen ein Teil, ist das Sitzkissen das Ganze, dann ist der Knopf das Teil usw. Diese fortlaufende Gliederung bei ganzheitlicher Tendenz könnte man "Ganzheit mit Teilen", oder besser: "gegliederte Ganzheit" nennen: Wir nehmen durchwegs, immer und überall, gegliederte Ganzheiten wahr, d.h. die Ganzheit "Pferd", aber gegliedert mit Kopf, Leib, Beinen, Mähne, Schweif usw.

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Was heisst das nun in puncto Lesen? Was ist hier die Ganzheit? Das Buch? Das Kapitel? Der Abschnitt? Der Satz? Das Wort? Die Silbe? Der Buchstabe? Im Fibelunterricht scheint es der Buchstabe zu sein - Buchstaben werden eingeführt, geübt, sind manchmal wochenweise Unterrichtsthema (und weil man ganzheitlich unterrichten möchte, geschieht es "mit allen Sinnen", wie häufig stolz betont wird), kurz: die Vermittlung von Buchstabenkenntnissen steht im Mittelpunkt des Fibelunterrichts. Für mich jedoch ist der Buchstabe recht unwichtig, das Wort ist entscheidend! Beim Lesen sehen wir zwar irgendwie beiläufig - auch Buchstaben, aber der kompetente Leser nimmt in der Regel immer ganze Wörter wahr; sie sind schliesslich auch die kleinste Einheit, die noch Bedeutung enthält. Diese These, wahrnehmungspsychologisch schon immer belegt, wird neuerdings auch von der modernen Gehirnforschung gestützt. Zwar konkurrieren auch hier zwei Modelle, ein "neurologisches", das WERNICKE ca. 1874 formulierte; und ein "kognitives", das 100 Jahre später zuerst von LaBERGE & SAMUELS (1974) entwickelt wurde, doch in der Frage, wie das Gehirn die semantische Bedeutung einer gesehenen Buchstabenfolge, also die Bedeutung eines gelesenen Wortes, erfasst, häufen sich die Befunde zugunsten der moderneren Theorien: Die neurologischen Modelle basieren im wesentlichen auf Prozessen, die hintereinander (seriell) und reflexartig ablaufen, während die kognitiven Modelle eine streng parallele Arbeitsweise des Gehirns postulieren, die durch Gleichzeitigkeit und hohe Flexibilität der Verarbeitungsvorgänge geprägt ist. Nach WERNICKE und seinen Nachfolgern haben visuelle Wortformen nur über phonologische Recodierung zu semantischen Codes Zugriff, d.h. gelesene (also gesehene) Wörter müssen zuerst laut oder innergedanklich gesprochen werden, bevor ihre Bedeutung erfasst werden kann. An diesem älteren Modell orientiert sich der Fibelunterricht - und tatsächlich kann man in der Grosshirnrinde beim lauten Vorlesen passende Verarbeitungswege nachweisen; Verarbeitungswege, welche anatomischen Modellen der Sprachorganisation anscheinend eine Grundlage bieten. Diese anatomischen Modelle haben den Vorzug, dass sie mit den Defiziten von Patienten mit Gehirnschäden im Einklang stehen - aber die Sprachverarbeitung gesunder Versuchspersonen können sie nicht erklären, denn das gesunde Gehirn arbeitet flexibel und simultan. Beim Lesen z.B. erkennt das Gehirn mehrere Buchstaben gleichzeitig und es gibt Experimente, die nahelegen, dass man Wörter vor den Buchstaben, aus denen sie bestehen, erkennt. Entsprechend spricht man in der Forschung vom Wortüberlegenheits-Effekt (word superiority effekt) und sieht eine direkte Verbindung von den visuellen Codes zu den semantischen; d.h.: die inhaltliche Bedeutung eines gesehenen (gelesenen) Wortes wird unmittelbar und ohne den Umweg über eine phonologische Codierung direkt verstanden. Wenn wir annehmen, "Blitzlesen" sei das Können, um das es geht und das "Entziffern", das die Fibel lehrt, sei kontraproduktiv, dann stellt sich nun aber die Frage, wie kann das Kind "Blitzleser" werden? Was kann ein kleines Kind, das auf einen Text blickt und dabei nichts vom Inhalt mitbekommt (so wie ich nichts aus einem Text in hebräischer oder russischer Schrift erfahre) unternehmen, damit es beim Auf-den-Text-Blicken weiss, was er besagt? Ganz einfach: es muss schreiben bzw. verschriften lernen, denn mit Schreiben beginnt der "natürliche" Lernprozess, das Schreiben ist der sachlogisch in jedem Fall ursprünglichere Akt und kommt immer zeitlich zuerst.

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Lesen und Schreiben sind ja nicht irgendwann einmal einfach "vom Himmel gefallen", sondern sind Kulturprodukte, d.h. es waren Menschen, die unser Schriftsystem erfunden und entwickelt haben. Dabei konnte diese Erfindung nicht gegen die Funktionsweise unseres Geistes/Gehirns entstehen, sondern musste der Struktur des menschlichen Geistes/Gehirns entsprechen. Nun war ich zwar persönlich nicht mit dabei, als unsere Vorfahren vor Jahrtausenden begannen, mit Schrift zu hantieren, trotzdem weiss ich, dass damals nicht das Lesen, sondern das Schreiben "erfunden" wurde - eben weil man ein Wort (einen Text) grundsätzlich erst dann und nur dann lesen kann, wenn dieses Wort vorher - von mir selber oder von jemand anderem - geschrieben wurde! Nur weil unsere Schulen seit Jahrhunderten umgekehrt vorgingen und zuerst lesen und erst später schreiben vermittelten, scheint uns dieses natürlich. Dabei ist doch zuerst schreiben und dann lesen der natürliche Weg, nur dann wiederholt das Kind in seiner eigenen Lebensgeschichte gleichsam die Kulturgeschichte der Menschheit - ein Vorgehen, das entwicklungspsychologisch gesehen besonders wirksam ist. Dass eine entsprechende Praxis "funktioniert", kann anhand des Lehrgangs "Lesen durch Schreiben" belegt werden. Wer diesen Lehrgang so einsetzt, wie ich ihn konzipiert habe (und ihn nicht bloss auf eine Anlauttabelle reduziert), betreibt keinerlei Buchstabentraining und liest nie mit Kindern, die es nicht können, schon gar nicht laut vorlesend. Lernt das Kind, wie Sprechsprache aufgeschrieben (verschriftet) wird, ergibt sich als "automatisches Begleitprodukt" des Schreibens das Lesenkönnen: die Kinder erleben, dass sie von Wörtern "angesprungen" werden. Dann, erst dann, lesen wir mit ihnen und erst dann (also gleichsam erst in einer zweiten Phase) beginnt bei uns ein eigentlicher Leseunterricht - als Phase der Optimierung, bei der positive Wirkungen funktional begleitender Mitübung von mir nicht bestritten wird, nach dem Motto: Gut liest, wer viel liest. Viel liest, wer gern liest. Gern liest, wer gut liest. Lit: Metzger, W.: Gesetze des Sehens. Frankfurt/M. 1953 Posner, M.I./Raichle, M.E.: Bilder des Geistes, Hirnforscher auf den Spuren des Denkens. Heidelberg, Berlin, Oxford 1996 Geschwind, N.: Die Grosshirnrinde. In: Spektrum der Wissenschaft, Nov. 1976, S. 126-195. Spitzer, M.: Geist im Netz, Modelle für Lernen, Denken und Handeln. Heidelberg, Berlin, Oxford 1996

*** HEIKO BALHORN fragt nach: Lieber Jürgen Ich wende mich mit diesem offenen Brief an Dich und zugleich an die Leserlnnen unseres Buches, weil mich Dein Aufsatz provoziert hat und ich einen Klärungsbedarf sehe. Wir beide kennen einander gut. Wir haben viel miteinander diskutiert, auch öffentlich. Ich will Deine Verdienste hier nicht aufführen. Das ist überflüssig. Du warst so mutig, mich mit Studenten in Deine Hamburger 1. Klasse einzuladen und mit uns im Anschluss zu diskutieren. Dein Umgang mit den Kindern hat uns beeindruckt. Wir sahen einen authentischen, emotional präsenten, zugewandten und im besten Sinne des Wortes - professionellen Lehrer. Vor diesem Hintergrund: Dein Aufsatz hat zwei Fehler. Fehler im Sinne von: ihm fehlt etwas.

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• Erstens: Du klärst nicht, wie Kinder lesen lernen. • Zweitens: Du setzt Dich nicht mit - Dir bekannten - Einwänden auseinander. Dass Kinder - und zwar unter sehr verschiedenen Bedingungen - lesen lernen, ist unbestreitbar. Auch die nur synthetisch oder nur analytisch unterrichteten Kinder haben es gelernt. Andere lernen es mit dieser, jener oder keiner Fibel, andere vor der Schule vom großen Bruder und wieder andere gar nicht. Sie zeigen uns, dass sie es unabhängiger von unserer Methodik, von unserer Theorie tun, unabhängiger, als es uns manchmal lieb sein dürfte. Aber diese Tatsache darf nicht in eine methodische Beliebigkeit führen. Du behauptest nun, dass es nur so gehe, oder doch gehen sollte, wie Du es denkst. - Das hat ja was. - Aber wenn Du das behauptest - dann musst Du das plausibel machen. Und das sehe ich nicht. Es wäre ja nun schön, wenn wir diese Frage empirisch beantworten könnten. Etwa so: Von REICHEN unterrichtete Kinder lernen in einem Jahr lesen, die von ANDRESEN, BERGK, BRÜGELMANN oder SPITTA, die allesamt auch auf das Lesen selbst setzen, nicht (oder nicht so gut, so schnell, so perfekt, so verständnisvoll, so motiviert, so dauerhaft usw.) Aber so einfach geht's ja leider / Gott sei Dank nicht. Und dennoch: Es gibt guten und (vorsichtig) weniger guten Unterricht. Und - wiederum mit aller Vorsicht - die Unterrichtserfolge werden zwar durch eine Vielzahl von Faktoren mitbestimmt, der Lehrer einschließlich seines Lehr-Lernkonzepts, ist jedoch der bestimmende Faktor. Auch wenn wir das komplizierte Bedingungsgefüge in seinen Wirksamkeiten empirisch kaum fassen können, es kann nicht beliebig sein, es kann nicht jeder tun, was er will. Wir alle müssen uns der Diskussion stellen und mit Argumenten für unsere Position streiten. (Ich habe im dritten Jahrbuch mit HANS BRÜGELMANN um den Begriff des didaktischen Kunstfehlers gestritten und würde das gern fortsetzen.) In diesem Sinne meine Frage: Wieso stört in Deinen Augen das Lesen das Lesenlernen? Und ich rede hier nicht vom Vorlesen sinnverdünnter Texte von Kindern für Kinder, die das gleiche Buch vor sich haben. Und auch nicht vom „Fehlerlesen“ und anderen abwegigen Praxen. Ich denke an das Lesen, das Kinder eben praktizieren, wenn sie wissen wollen, was da steht. Du sagst, Lesen sei, wenn uns die Bedeutung eines Wortes anspringe, ähnlich wie bei einem Bild. Klar, das kennt jeder. Meine Tochter hat es mir vorgemacht. Sie war damals fünf. „Du, lass uns mal zu OTTO-VERSAND fahren. Dann les' ich dir vor, dass da OTTO steht.“ Und natürlich lesen wir Erwachsenen so, wie Du es beschreibst. Viele Wörter lesen wir „auf einen Blick“. Geübt, wie wir sind, nutzen wir dabei alles Mögliche: Wortgestalten, morphematische Einheiten, Textrestriktionen, Sinnerwartungen. Aber wie ist es mit komplex gebildeten Wörtern? Wie liest Du: Desoxyribonucleinsäure, Vervielfältigungsmöglichkeiten u. ä.? Ich bin sicher, Du baust solcherart lange Wörter aus Teilen auf. Du erliest diese Gebilde. Da springt nichts, du musst entziffern. Und ich finde, das ist keine Schande für Erwachsene und auch nicht für Kinder. Je weniger Schreib- und Leseerfahrung sie haben, desto komplexer sind die Wörter für sie. Und auch bei relativ einfach strukturierten Wörtern, solchen, die oberflächlich gleich gebaut scheinen, sind doch kognitive Operationen zu leisten, die mit dem, was Du Anspringen nennst, schwerlich zu fassen sind: GEBT GELD! HOLT HOLZ! Man muss, wie intuitiv auch immer, diese Wörter morphematisch gliedern, um die Bedeutung einschließlich des Klanges zu fassen. (Die Verben bestehen aus Stamm+Endung und haben deshalb einen „langen“ Vokal, die Nomen sind Wort und Morphem in einem.)

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Wie ist es mit Sätzen wie: Er fuhr nicht mit dem Auto, sondern mit der Eisenhahn. Die allermeisten Leser korrigieren den „Fehler“, verweilen aber - wenn man ihre Augenbewegungen erfasst - deutlich länger an der prekären Stelle. (Hast Du das h bemerkt?)

Aber es geht um die Kinder. Es geht um das Lesenlernen. Schnelles Bedeutungserfassen ist das Ziel. Einverstanden. Ein Weg dahin führt über das Schreiben. Auch einverstanden. (Wichtig zu betonen, weil Fibelkonzepte traditionell das Schreiben auf ein Später verschoben haben.)

Dein Lesen beim Schreiben, ist ein Erlesen, was Du, wie mir scheint, nicht würdigst. Du gibst in dem Kommentar zu „Lesen durch Schreiben“ ein Beispiel: Kinder, die das Wort Hamster schreiben und unterbrochen werden und nach einer Weile das Schreiben wieder aufnehmen, fragen sich, wo sie gerade sind. Das, was sie dann tun, nenne ich auflautieren oder erlesen. Sie müssen auslesen, was sie bis jetzt geschrieben haben: Ha...., Ham..., Hamst... ist noch kein Wort, hat noch keine Bedeutung (außer als „Hamster“-Vorab-Entwurf im Kopf des Kindes, das ja wohl weiß, was es schreiben will.) Dieses buchstäbliche „Auflautieren“ ist schon Lesen. Denn, wenn wir die Zwischenschritte nicht als solche verstehen, wie wollen wir dann Entwicklung, das Lernen verstehen?

Lernen findet doch im Vorfeld des Könnens statt. Solcherart Überlegungen und Befunde beziehst Du nicht in Deine Argurnentation ein. Überhaupt vermisse ich eine Auseinandersetzung mit - ja vielleicht nicht allen - aber doch der einen oder anderen didaktischen Position.

Wir sind angewiesen, den eigenen Entwurf gegen andere zu konturieren und zu präzisieren, um die eigene Vorstellung für andere und uns selbst immer wieder klar und verständlich zu machen. Dies ist eine gute Gelegenheit, dies für Dein Konzept zu tun. Wir beide wissen, dass viele Lehrerlnnen Dein Konzept bereichern. Vielleicht sagst Du: verwässern. Aber schon um diese Differenz zu klären, wäre es gut, deine Gedanken zum Lesen, die ja - wenn ich sie denn richtig verstehe - kontrovers zu allen stehen, zu erläutern.

Meine zweite Frage ist zugleich eine Bitte. Sie bezieht sich nicht direkt auf deinen Aufsatz. Ich höre in Fortbildungsveranstaltungen immer wieder die Sorge von Lehrerinnen um die Rechtschreibung der Kinder. Deinen Ansatz, sie die Regeln durch das Schreiben erfinden zu lassen, teile ich als Einstieg. Aber es geht ja auch immer um die Fortsetzung, die bei verschiedenen Kindern ja zu verschiedenen Zeitpunkten einsetzen und unterstützt werden muss, damit wir uns nicht der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen. Gerade mit Blick auf die Lehrerlnnen, die Deinem Entwurf folgen wollen, wünsche ich mir gerade von Dir eine Orientierung. Von Dir deshalb, weil ich der Meinung bin, dass auflagenstarke und wirksame Autoren in der Verantwortung stehen, Sorge dafür zu tragen, dass Lehrerlnnen, die ihnen das Vertrauen schenken, in bedeutsamen Fragen, die sich aus der Praxis heraus stellen, nicht alleingelassen werden. Also: Was empfiehlst Du und rätst Lehrerlnnen, wenn sie Kinder über das „spontane“ Schreiben hinaus, in ihrem Prozess der Regelbildung stützen und fördern wollen?

Den sehr nachdrücklichen Ton in Deinem Aufsatz verstehe ich als Ausdruck Deines Zorns darüber, dass es so vielen Kindern häufig so schlecht geht im Unterricht. Da stimme ich Dir zu.

Wie verabredet, schick ich Dir diesen Kommentar. Du antwortest und wir drucken alles zusammen in dieses Buch. Du sollst hier das letzte Wort haben.

Herzliche Grüße - Heiko ***

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JÜRGEN REICHEN antwortet: Lieber Heiko als Autor bemüht man sich ja, die eigenen Überlegungen klar, verständlich und nachvollziehbar auszudrücken - im Wissen drum, dass dieses nie abschliessend gelingt. Deshalb bin ich sehr froh um kritische Rückmeldungen wie die Deine und danke Dir dafür - auch für das Wohlwollen, das Du mir gegenüber zum Ausdruck bringst. Dieses Wohlwollen ist in unserem Fall gegenseitig und für mich die Grundlage einer fairen Auseinandersetzung. Andererseits birgt dies aber die Gefahr, dass die Diskussion lediglich in entschärfter Form geführt wird: der völlige Konsens, der uns in pädagogischer Hinsicht verbindet, verdeckt den wahrscheinlich ebenso massiven - Dissens im lerntheoretischen Bereich. Du möchtest von mir wissen, wie Kinder lesen lernen. Steht das nicht in meinem Artikel? Mir scheint im letzten Abschnitt "erkläre" ich, wie ein Kind "Blitzleser" wird: "plötzlich", nachdem es verschriften gelernt hat. Du gibst zu erkennen, dass das für Dich nicht plausibel sei. Okay - aber was soll ich dann dazu sagen? Ich kenne Kinder, die ohne vorherige "Lesebemühungen" bzw. "Entzifferungsversuche" lesen können, Du vielleicht nicht. Wieso das so ist, das allerdings weiß ich nicht! (Übrigens: gerade dieses Nichtwissen ist es ja, was mich umtreibt). Dieses Nichtwissen betrachte ich nicht als "Schande", denn ich nehme an, dass Du letztlich auch nicht weißt, wie Kinder eigentlich lesen lernen. Wir haben zwar allerlei Vermutungen und Theorien, gewiss, und wir machen mit Kindern Unterricht und meinen dann, wenn sie lesen können, sie könnten es wegen dieses Unterrichts. Aber ich bezweifle das. Was wissen wir wirklich? Als ich 6jährig war, konnte ich nicht lesen, als ich 8jährig war konnte ich es. In der Zwischenzeit ist irgendetwas passiert. Aber was? Meine Eltern meinten damals, ich hätte das Lesen in der Schule - dank des Fibelunterrichts - gelernt und das scheint ja auch einleuchtend. Später lernte ich - jedenfalls wurde das so angenommen - in der Schule schwimmen. Im 1. Schuljahr konnte ich nämlich nicht schwimmen, im 4. konnte ich es. Wir hatten einen erfolgreichen, in jeder Hinsicht durchdachten und systematisch aufgebauten Schwimmunterricht. Die älteren LeserInnen können sich vielleicht an Ähnliches erinnern. Dieser Schwimmunterricht begann mit Trockenschwimmübungen auf dem Rasen. Wir lernten zuerst, wie die Arme zu bewegen waren, dann den Beinschlag im Stehen usw. Später gingen wir ins Wasser, übten - stehend in brusttiefem Wasser - die Armbewegungen, dann den Beinschlag, wobei wir uns an einer Stange, die am Bassinrand angebracht war festhielten. Schließlich durften wir - abgesichert durch Schwimmringe - ins tiefe Wasser. Ja, und dadurch (???) "lernte" ich schwimmen. Ärgerlich für diese ausgeklügelte Methode war, dass es zuviele Versager gab, d.h. SchülerInnen, die trotz (oder wegen ?) umfassender Vorbereitung schließlich nicht schwimmen konnten. Nun - in puncto Schwimmen sind wir heute weiter. Wir gehen schon mit den Babys ins Wasser - und die schwimmen einfach, von selbst, ohne spezielles Training, ohne systematisch aufgebaute Übungsreihen, ohne Vorstufen verringerten Könnens. Analoges gilt für mich auch beim Lesen. Wenn ein Kind einem Fibelunterricht folgen musste und danach irgendwann einmal lesen kann, dann beweist das Lesenkönnen nicht, dass der Fibelunterricht der Grund dafür war. Erkenntnistheoretisch ist es prinzipiell unmöglich, die beiden Tatsachen "Fibelunterricht" und "Lesenkönnen" in einen kausalen Wirkungszusammenhang zu bringen, erst recht, wenn man bedenkt, dass der "Fibelunterricht" ja gar kein Lesen, sondern bloss "Entziffern" betreibt. Es ist grundsätzlich nicht zu beweisen, dass jemand Lesen kann, weil

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er entsprechend unterrichtet wurde; vielleicht können wir lesen, obwohl wir unterrichtet wurden. Würde der traditionelle Leseunterricht funktional zum Lesen führen, dann dürften ja zwei Dinge nicht passieren, die trotzdem passieren: Erstens dürften keine Kinder scheitern - doch wir haben Kinder, die trotz Fibelunterrichts nicht auf einen grünen Zweig kommen, mit wachsender Zahl - leider. Andererseits dürfte es ohne diesen Fibelunterricht keine erfolgreichen Kinder geben, doch die haben wir auch, auch mit wachsender Zahl - glücklicherweise. Nun gilt diese grundsätzliche Überlegung natürlich auch für "Lesen durch Schreiben". Dass wir im Unterricht mit den Kindern verschriften und später feststellen, dass sie lesen können, ist auch kein Beweis dafür, dass sie es deswegen können. Daher vertrete ich meinen Ansatz ja auch nicht primär mit funktionalen Argumenten, sondern mit pädagogischen. Ich denke mein Unterricht sei für Kinder interessanter und stressfreier, er sei für die LehrerInnen interessanter und stressfreier - und für die Eltern. Natürlich bleibt dies eine Ermessensfrage und man könnte darüber streiten, nicht streiten lässt sich aber über die Tatsache, dass Kinder auch Leser werden, wenn sie von all diesen Buchstabentrainings und "Leseübungen" usw. verschont bleiben, man kann das, was die Fibellehrgänge (und die Fibelartigen!) mit Kindern machen, schlicht weglassen und trotzdem können die Kinder lesen jedenfalls wenn man mit ihnen verschriftet. Diese letzte Formulierung wählte ich mit Vorbedacht: ich wollte eine Formulierung, die ohne den Begriff "lernen" auskommt. Ich will hier nämlich nicht länger verhehlen, dass ich inzwischen erhebliche Zweifel habe, ob Lesenkönnen wirklich das Ergebnis eines Lernprozesses sei. Zur Zeit bin ich nämlich zutiefst überzeugt davon, dass Lesen nicht erlernt wird (das scheint bloß so), sondern "plötzlich gekonnt". Nur - das war nicht das Thema meines Artikels, auch ist diese Sache komplexer, als dass sie hier hätte ausgeführt werden können, zudem ist die Theorie, die ich hierzu zu entwickeln versuche, noch zu vage - das gestehe ich gerne zu. Du hattest konkrete Einwände: - "Vervielfältigungsmöglichkeiten" usw. zu lesen geht nicht mit "Blitzlesen". Das ist richtig, spricht aber nicht gegen mein eigentliches Argument, dass Lesen ein ganzheitlicher, simultaner Erfassungsakt sei. Die Gleichzeitigkeit der Informationsverarbeitung im Gehirn bleibt gebunden an die Speicherkapazität des Ultra-Kurzzeitgedächtnisses. Dieses ist individuell unterschiedlich leistungsstark, im Durchschnitt vermögen Menschen 7 Elemente gleichzeitig zu erfassen und d.h. bis 7 Buchstaben nehmen wir in einem Blick wahr, bei längeren Wörtern brauchts mehr. Aber auch in diesen Fällen werden nicht Buchstaben hintereinandergehängt, sondern Wortteile. Im Übrigen: Der Hinweis auf "Desoxyribonucleinsäure" wirkt auf mich, wie wenn man die bekannten optischen Täuschungen als Beleg dafür nehmen wollte, unsere Augen würden mangelhaft funktionieren. Du weisst doch: keine Regel ohne Ausnahme. - Eisenhahn: Interessanterweise nehme ich grad dieses Beispiel als Beleg für meine These, dass Buchstabentraining unwichtig sei. Wir lesen über den "Druckfehler" hinweg, ignorieren ihn geistig - auch wenn unsere Augen reagieren. Ähnliche Phänomene lassen sich laufend feststellen, sie bilden das sog. "Leib-Seele-Problem", das derzeit als Wissenschaftsdebatte zur Frage nach dem Verhältnis von Geist und Gehirn ganz aktuell ist. Alle psychischen Phänomene - Gedanken, Stimmungen, Gefühle, Erinnerungen - haben in irgendeiner Weise ein leibliches Substrat oder Korrelat. Wenn wir denken, so spielen sich elektrische Vorgänge ab, die man mit dem EEG als Zackenkurven sichtbar machen kann. Nur fragt sich, was wir aus diesen Zackenkurven im Hinblick auf das Denken an Erkenntnissen gewinnen können? Ich gehöre zu denen, welche die These vertreten, dass man Psychisches bzw. Geistiges genuin psychisch bzw. geistig betrachten sollte, zwar durchaus in Anerkennung, dass

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es dafür stets eine leiblich-materielle Grundlage gibt, die man aber auf der psychischen Ebene vernachlässigen darf. Wenn wir sprechen, dann denken wir nicht an Laute und sind uns auch nicht bewusst, dass in unserem Kehlkopf Lautbildungsvorgänge ablaufen. Wenn wir anderen Menschen zuhören, dann hören wir ebenfalls keine Laute, sondern was sie zu uns sagen. Wenn wir schreiben, schreiben wir keine Buchstaben, sondern einen Brief oder eine Abhandlung; und wenn wir lesen, lesen wir keine Buchstaben, sondern einen Text - auch wenn natürlich Buchstaben da sind. Der kompetente Redner, Zuhörer, Schreiber, Leser ist während des Redens, Zuhörens, Schreibens, Lesens nicht auf Laute oder Buchstaben ausgerichtet, die bleiben ausserbewusst. Auf der leiblich-materiellen Ebene sind zwar Laute und Buchstaben vorhanden, doch kann ich diese im Vollzug des Redens, Zuhörens, Schreibens, Lesens ignorieren; für mein Bewusstsein sind sie irrelevant: sie existieren lediglich fürs Trommelfell, die Netzhaut, die Fingermotorik und den Kehlkopf. Mein Gehirn koordiniert das Ganze von selbst. Wieso stört in Deinen Augen das Lesen das Lesenlernen? fragst Du mich. Nun - was Du Lesen nennst, ist für mich nicht lesen (sondern entziffern) und ob es sich überhaupt um einen Lernprozess handelt, bezweifle ich, wie ich oben gestand. Du siehst in den Übungen der Fibeln und Fibelartigen Vorstufen, ich Sackgassen. Dir fehlt bei mir eine Art Genese, ich sehe diese im Verschriften. Ich bestreite nicht, dass wahrscheinlich Entwicklungen stattfinden, aber vielleicht ist diese Entwicklung im Bereich Schriftsprache keine "lineare", sondern eine "metamorphische". "Linear" will heißen: ein Küken läuft umher und frisst und frisst und wird dabei größer und größer und eines Tages ist es ein richtiges Huhn, das Eier legen kann. "Metamorphisch" will heißen: eine Raupe kriecht umher und frisst und frisst und wird dabei größer und größer - aber unzureichende Flugversuche unternimmt sie keine, sondern eines Tages hört sie auf, verpuppt sich, "macht eine Weile gar nichts mehr" und fliegt dann eines Tages als prächtiger Schmetterling über die Wiese. Beim Fibelunterricht soll das Kind den Weg des Kükens gehen: das Kind "liest" kombinierend 3 Buchstaben, dann 5, dann 7 usw. usw. über vielfältige Vorstufen hinweg bis es schließlich Leser ist. Bei "Lesen durch Schreiben" geht es den Weg des Schmetterlings: es beginnt als Schreiber, meidet Vorstufen eines Lesens, das gar kein Lesen ist, und endet trotzdem als Leser - von selbst! Nun will ich natürlich nicht unbedingt auf dem Begriff "metamorphische" Entwicklung bestehen, doch bleibt für mich abschließend klar: Man kann nur etwas lesen, wenn dieses vorher geschrieben wurde: das Schreiben kommt grundsätzlich zuerst. Deshalb wurde ursprünglich das Schreiben erfunden, nicht das Lesen und diesen Entwicklungsprozess wiederholt der Ansatz "Lesen durch Schreiben". Eine eigene Schrift zu erfinden ist nämlich kein Problem, doch eine unbekannte Schrift - ohne Kenntnis von Vergleichsdaten zu lesen - das ist unmöglich. Wer eine Schrift lesen will, muss sie schreiben können - und sonst nichts! Du hast Deinen Brief beschlossen mit einer Bitte zur Rechtschreibung. Nun war Rechtschreibung zwar nicht Thema meines Artikels und Deine Bitte verblüffte mich zuerst, doch wenn Du die Gelegenheit, mich öffentlich zu befragen, nutzen willst, darf ich nicht kneifen. Also: Zunächst scheint mir immer wieder, über meine Position werde eine ganze Menge Irreführendes verbreitet, das ich hier - aus Platzgründen - nicht klären kann. Ich kann mich tatsächlich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich an einzelnen Hochschulen, Studienseminaren

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und Fortbildungseinrichtungen DozentInnen über mich auslassen, die effektiv nicht Bescheid wissen. Es trifft zwar zu, dass mich das Thema "Rechtschreibung" didaktisch zutiefst langweilt, und was seine gesellschaftlichen Aspekte betrifft, schwanke ich zwischen zorniger Empörung und fassungslosem Unverständnis. So stehe ich dazu, dass mir Rechtschreibung unwichtig ist und ich die gesellschaftliche Wertschätzung, die sie erfährt, rational nicht nachvollziehen kann, grad so, als ob ein Großteil der Deutschen in puncto Rechtschreibung an einer kollektiven Zwangsneurose leide. Die Emotionalität, mit der man der Rechtschreibung begegnet, hat wahnhafte Züge - und selbst wenn man nicht so weit gehen will: als "überwertige Idee" muss man sie auf jeden Fall einstufen. In einer solchen Situation leistet man Kindern natürlich keinen Dienst, wenn sie keine Rechtschreibung können. Ich möchte daher in aller Deutlichkeit daraufhin weisen, dass die SchülerInnen, die bislang bei mir in der Schule waren, in der Rechtschreibung durchaus mit anderen konkurrenzfähig waren - auch wenn wir das Thema entspannt angingen. In aller Bescheidenheit: Zu "Lesen durch Schreiben" gibt es einen ausführlichen didaktischen Kommentar für LehrerInnen - 8 Hefte, in denen alles drin steht, was man wissen muss. Und da findet man auch ein eigenes Kapitel zur Rechtschreibung mit vielen unterrichtspraktischen Empfehlungen. Die mögen nicht das Beste vom Besten sein - aber sie widerlegen die immer wieder verleumderisch vorgebrachte Behauptung, bei "Lesen durch Schreiben" würde man sich nicht um die Rechtschreibung kümmern. Zudem gehört zu "Lesen durch Schreiben" das von mir entwickelte Computerprogramm "Elementares Können I-III" (erhätlich beim Heinevetter-Verlag in Hamburg), gegen das man natürlich auch Einwände erheben kann, wenngleich nicht eine Vernachläßigung von Rechtschreibung. In diesem Programm wird "beiläufig begleitend" und funktional die Rechtschreibung fortwährend "trainiert", weil der Computer immer "pfeift", wenn Kinder etwas Falsches schreiben. Im Übrigen habe ich meine diesbezügliche Position in einer Broschüre "Rechtschreibung/Funktion und Didaktik" ausführlich dargelegt. Ich konnte diese zwar in keinem Verlag veröffentlichen, habe sie aber auf eigene Kosten drucken lassen und gebe sie zum Selbstkostenpreis auch ab. Ich denke für dieses Mal soll es genug sein. Auf eine weitere, klärende Diskussion freue ich mich. Bis dahin alles Gute und herzliche Grüße Jürgen Reichen

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Text-A21 Jürgen Reichen "Die Zukunft lernt im Kindergarten" - Tatsache oder nur Wunschdenken? erschienen in: Welt des Kindes, Nr. 3/1999

Die deutsche Schule ist ins Gerede gekommen - die Schüler können nicht, was sie eigentlich können sollten. Würde sie sich Arbeitsweisen des Kindergartens zu eigen machen (natürlich stufenspezifisch modifiziert), dann wäre sie einen grossen Teil ihrer Probleme ledig: Die Zukunft lernt im Kindergarten!

Es wäre ermutigend, wenn die Zukunft tatsächlich im Kindergarten lernen würde, doch fürchte ich, dass dies derzeit nicht der Fall ist - vielleicht noch nicht, denn was nicht ist, kann ja noch werden. Wenn die gesamtgesellschaftliche und gesamtwirtschaftliche Bedeutung des Bildungwesens gegenwärtig deutlicher als auch schon betont und zugleich das weitverbreitete Unbehagen am Bildungswesen stärker artikuliert wird, dann wächst der Druck zugunsten von Reformen. Und das könnte mit dem Kindergarten zu tun haben.

Zwar steht im Mittelpunkt der aufkommenden Bildungsdiskussion nicht der Kindergarten, sondern das Gymnasium - der Kindergarten war bildungspolitisch selten ein Thema - doch das dürfte sich bald ändern. Denn seit das Gymnasium nicht länger verbergen kann, dass es nicht leistet, was man von ihm erwartet, wird es vom hohen Ross herunter müssen, wo seine Lehrerschaft bisher so überaus arrogant und überheblich sass und sich endlich neu der Frage stellen müssen, wie man es didaktisch anstellen muss, damit Kinder lernen, was sie lernen sollen. Und auf diese Frage bietet der Kindergarten Stücke zur Antwort: was die Schule nämlich je länger je weniger schafft - ihren Bildungsauftrag zu erfüllen - das leistet der Kindergarten; und wer dessen erzieherische und bildende Arbeit würdigt, der kann erkennen, dass und warum etwa die vorherrschende Gymnasialdidaktik den Gesetzen eines erfolgreichen Lernens widerspricht.

Nun wollen wir hier ja nicht über die Schule reden, obwohl wir nicht an ihr vorbeikommen. Denn überall wo ausserhalb der Schule Kinder betreut und erzogen werden, macht sich die Schule bemerkbar - ihr Kinderbild und ihr Lernverständnis sind überall prägend und aufgrund ihrer institutionellen Vormachtstellung wird ihr nicht widersprochen. Das bedaure ich. Die Schule ist zur Zeit weitgehend überfordert, die Lehrerschaftet arbeitet am Rande permanenter Erschöpfung - "burn out" greift um sich und das hat zur Folge, dass keine eigentliche Reflexion mehr erfolgt.

Familien, Kindertagesstätten, Vorschulen und Kindergärten, selbst Freizeiteinrichtungen sind davon betroffen: überall gelten die von der Schule gesetzten Erwartungen und Normen. Damit wird m.E. nach aber eine Entwicklung nach vorn - ins nächste Jahrtausend hinein - blockiert. Denn die Schule ist auf dem Weg, auf ihrem ureigensten Feld konzeptionslos zu werden (und alle anderen Einrichtungen damit zu belasten) - sie weiss nicht mehr, was eigentlich ein Kind ist und nicht was Lernen bedeutet. Wer aber auf diese Fragen keine Antworten hat, ja die Fragen gar nicht erst stellt, darf sich nicht wundern. Deshalb ist der Kindergarten so wichtig. Er weiss es.

Was ist ein Kind? Die wesentlichste Einsicht, welche die Beschäftigung mit dieser Frage vermittelt, ist die Einsicht, dass Kindheit im psychologischen Sinne, d.h. was das Verhalten und Erleben eines Kindes betrifft, keine Naturkonstante ist, sondern ein Kulturprodukt. Kindheit ist psychologisch gesehen nichts "natürliches", denn praktisch alles, was Kindheit scheinbar ausmacht, ist kulturell bedingt und daher auch kulturell verschieden. Das Menschenbaby kommt ja in einem aussergewöhnlich

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unentwickelten Zustand zur Welt, so dass seine Entwicklung vom Moment der Geburt an unaufhörlich sozial - und d.h. auch kulturell - bestimmten Einwirkungen unterworfen ist. Die Möglichkeiten, Mensch zu werden und zu sein, sind von kulturellen Einflüssen abhängig und daher so zahlreich wie diese. Da der Mensch zwar ein Naturgeschöpf ist, aber stets in einer Kultur lebt, sich also seine Natur kulturell konstruiert, müssen sich in verschiedenen Gesellschaften markante Unterschiede in dem zeigen, was als Kindheit gilt.

Das ist in der Tat so: Einzelne Epochen unterscheiden sich hinsichtlich der Behandlung der Kinder und dessen, was man als Verhalten von ihnen erwartet, gewaltig voneinander. Kindheit, wie wir sie kennen, ist zum grössten Teil erst in den letzten 300 Jahren "erfunden" worden. Davor waren Erwachsene und Kinder kaum voneinander zu unterscheiden; ihre Freizeitbeschäftigungen glichen sich, und häufig verrichteten sie auch dieselben Arbeiten.

Die Frage, was ein Kind sei, wird von hier aus brisant, denn wenn man sie grundsätzlich stellt, findet man sich plötzlich vor einem erkenntnistheoretischen "Erfahrungszirkel": was wir erfahren ist nichts "Objektives", sondern von uns mithervorgebracht. Kinder - und das heisst auch: Schüler - sind nicht nur, wie wir alle, "Gewordene", sondern zusätzlich von uns "Gemachte". Was ein Kind "ist", ist ein Gesellschaftskonstrukt.

Im Verhalten, Erleben und Denken von Kindern sind nur ganz wenige Phänomene kulturunabhängig und universell eindeutig, so z.B. einige Grundbedürfnisse, die bei Kindern sehr viel stärker ausgeprägt sind als bei Erwachsenen: Bedürfnis nach Bewegung, Aktivität, Abwechslung und Zuwendung.

Nun ist hier nicht der Ort, im Einzelnen auf diese Phänomene einzutreten. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist, dass Kindheit nicht bloss Wachstum heisst, Kindheit bedeutet (übrigens auch bei vielen Tieren) im weitesten Sinne des Wortes hauptsächlich Lernen - und zwar von Anfang an. Die früher weitverbreitete Meinung, das Kleinkind sei ein weitgehend passiver Organismus, der unselektiv auf jeden zufällig auf ihn eindringenden Reiz reagiere, ist falsch. Dank Piaget wissen wir, dass schon das Baby auf die verschiedenen Ereignisse, Formen, Geräusche und Gerüche, die seine Umgebung ausmachen, eingeht und sie lernend ordnet. Dabei ist der entscheidende Faktor dieses Lernens - und als solcher ein universales Phänomen aller normalen Kindheiten - das Spielen.

Lernen durch Spielen ist eins der wenigen universellen Phänomene von Kindheit, weshalb der Satz gilt: Alles Tun des Kindes ist letztlich spielend lernen - und dies ist selbstgesteuert: Das Kind bringt sein Lernen selbst in Gang (Piaget)! Schon das Baby fühlt sich in einer stimulierenden Umgebung wohl und macht (durch die ganze Kindheit) Erfahrungen mit seiner Umwelt, die es zu einem Weltbild zusammenfügt.

Dabei lernt das Kind alles, was es lernt, selbst. Niemand anderer kann - gleichsam stellvertretend - etwas für das Kind lernen. Lernprozesse können zwar von aussen angebahnt, unterstützt - aber auch gestört werden, letztlich sind sie nur erfolgreich, wenn das Kind sie selbstgesteuert machen kann. Wenn nun ein Kind in erster Linie ein "spielender Lerner" ist, dann fragt sich, von hier aus, was heisst eigentlich lernen?

Was heisst lernen? Die schwindende Fähigkeit bzw. Bereitschaft von immer mehr Schülern, folgsam, kritiklos und leistungsadäquat schulischen Verhaltensnormen und Leistungsansprüchen zu entsprechen; ein zunehmend "gestörteres" Verhalten einer zunehmend grösseren Zahl von Kindern stellt die Schule

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inzwischen vor Probleme, die sie mit dem Blick auf eine "veränderte Kindheit bzw. Gesellschaft" erst annäherungsweise zu begreifen beginnt.

Immer deutlicher zeigt sich: Was angesichts einer "veränderten Kindheit bzw. Gesellschaft" heute von der Schule gefordert wäre, ist nach dem bisherigen Lernverständnis der Schule, die allem Reform-Gerede zum Trotz noch immer weitgehend Frontalunterricht betreibt, nicht mehr zu leisten. Dies wird nur möglich, wenn ein anderer Lernbegriff, nach dem Motto "Lernen ohne Belehrung" - zum Tragen kommt.

Die Schule ignoriert:

- Das meiste und wesentlichste Lernen findet nicht in der Schule statt. - Die lernintensivste Etappe im menschlichen Lebensablauf ist die Vorschulzeit.

Dabei ist das vor- und ausserschulische Lernen der Kinder ausserordentlich effizient. Betrachtet man es näher, dann zeigt sich, dass es sich überwiegend um ein spielerisches, inzidentelles Lernen handelt, das frei ist von Zeit-, Leistungs- und Ergebniszwang. Inzidentelles oder "beiläufig begleitendes" Lernen ist der Schule nicht unbekannt, wurde bislang aber eher als Ärgernis denn als Chance begriffen. Denn "beiläufig begleitendes" Lernen bedeutet, dass Kinder weniger dasjenige lernen, was man ihnen "offiziell", also curricular durchdacht, didaktisch geplant und unterrichtspraktisch gesteuert "beibringen" will, sondern häufiger sich Dinge aneignen und beherrschen, die gar nicht im Vordergrund standen - eben "beiläufig begleitend".

Typisch ist jener Junge, der sich anscheinend eine einfache Rechtschreibregel nicht merken kann, während er gleichzeitig alle führenden Bundesliga-Fussballer kennt, weiss, wieviele Tore sie schon schossen, wie hoch die Transfersummen sind, mit denen sie gehandelt werden usw. Wer dieserart über Expertenwissen verfügt, müsste eigentlich auch die kognitiven Voraussetzungen für eine Rechtschreibregel haben. Es gibt LehrerInnen, die sich durch diesen Jungen "beleidigt" fühlen, der offensichtlich in hohem Masse lernfähig ist, aber schulischem Lernen gegenüber sich "verweigert". Sein erfolgreiches inzidentelles Lernen wird zum Ärgernis. Es könnte zur Chance werden - und damit bin ich wieder beim Kindergarten und seiner möglichen Vorbildfunktion.

Der Kindergarten weiss offenbar, was ein Kind ist - ein "spielender Lerner" - und gewährt daher dem Spiel den entsprechenden Raum, und er weiss, welche Art von Lernen insgesamt die erfolgreichste ist - das inzidentelle - und lässt entsprechend die Kinder "beiläufig begleitend" lernen. In der Grundschule gibt es inzwischen LehrerInnen, die das begriffen haben und die nämlichen Prinzipien dem Grundschulunterricht zugrunde legen.

"Werkstattunterricht" nennen wir diese überaus erfolgreiche Unterrichtsform. Sie lässt sich an dieser Stelle in einem Satz erklären: Werkstattunterricht ist das schulische Pendant zum Freispiel des Kindergartens. Der einzige Unterschied ist der, dass den Kindern im Werkstattunterricht neben einem Spielangebot, wie es der Kindergarten unterbreitet, vor allem breitgefächerte Lern- und Arbeitsangebote zur Verfügung gestellt werden. Diese erfolgreiche Angleichung des Prinzips "Freispiel" im Werkstattunterricht der Grundschule ist ein erstes, erfolgreiches Beispiel dafür, wie die Schule vom Kindergarten profitiert - und eine Bestätigung für die These "Die Zukunft lernt im Kindergarten".

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Text-A22 Jürgen Reichen Lesen durch Schreiben / "Entstehungsgeschichte" der Methode erschienen in: Hannah hat Kino im Kopf / Heinevetter-Verlag, Hamburg 2001 Immer wieder wollen Leute wissen, wie ich eigentlich zu "Lesen durch Schreiben" kam. Nun, dies ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie gerne, muss allerdings zuerst einen möglichen Irrtum verhindern: es war nicht so, dass ich zum Lehrgang kam - der Lehrgang kam zu mir! Die Geschichte fing eigentlich mit einer Vor-Geschichte an: als ich als kleiner Junge in die erste Klassse ging und damals in der Schule nicht lesen lernte. Wir hatten zwar eine ordentliche Schule, aber der Unterricht war wenig professionell. 42 Jungs waren in drei Bankreihen plaziert: vorne sassen die Klein- gewachsenen, hinten die Grosssgewachsenen und weil ich in dieser Klasse der Grössstgewachsene war, sass ich ganz zu- hinterst. Die Handhabung der Fibel vollzog sich immer nach dem gleichen Muster: Der kleinste Junge ganz vorne, musste den ersten Fibelsatz laut vorlesen, der nächste Junge hatte den zweiten Satz zu lesen, der dritte Junge den dritten Satz usw. usw. Und weil die Fibel höchstens fünf, sechs Sätze pro Seite aufwies, wurde jede Fibelseite sechs-siebenmal vorgelesen bis auch ich an der Reihe war. Ich war ein "verträumter" Junge gewesen, vieles im Schulbetrieb war mir rätselhaft, unklar; ich tat, was die anderen Knaben taten, ohne immer genau zu wissen, weshalb, wozu. Trotzdem hatte ich irgendwie begriffen, dass beim "Lesen" jeder Junge etwas sagen musste, und dass ich als letzter an der Reihe war. Das war mein "Glück", denn so hatte ich jeweils eine Schulstunde lang Zeit, herauszufinden, welchen Satz ich sprechen musste - und das bekam ich immer schnell heraus: es war ein Satz, den bestimmte meiner "Vorredner" schon sprachen. So konnte ich meinen Satz stets perfekt vorsagen und verschaffte meinem Lehrer immer einen guten Stundenabschluss, denn ich war schon damals etwas rhetorisch begabt und konnte den Satz, den ich sagen sollte, gestaltend betont, laut und deutlich in die Klasse stellen. Am Ende des ersten Schuljahres hatte ich im Zeugnis im Lesen eine glatte Eins und machte damit auch meine Eltern sehr glücklich. Mein Vater "schleppte" mich stolz zu seiner Mutter, damit ich dort der Oma meine Lesekünste präsentiere. Das ging allerdings bös daneben, als ich der Oma vorlesen sollte, blieb ich stumm. Mein Vater schloss daraus aber nicht, dass ich gar nicht lesen konnte. In der Familie erklärte man sich mein Versagen mit der latenten Abneigung, die ich gegen meine Oma hegte. Trotzdem war ich in einer prekären Situation: alle meinten, ich sei ein guter Leser, während ich wusste, dass das nicht der Fall war. Da kam mir das Glück zu Hilfe - wie eigentlich immer in meinem Leben! Ich bekam anfangs des zweiten Schuljahres die Windpocken. Arg leidend war ich da nicht, aber damit ich keine anderen Kinder ansteckte, durfte ich auch nicht in die Schule. Ich sass also den ganzen Tag zu Hause herum und langweilte mich. Nun lebte aber in dem Mehrfamilienhaus, in dem unsere Familie wohnte, in der Wohnung ein Stockwerk tiefer eine Familie mit einem etwa vier Jahre älteren Mädchen, Eveline. Eveline hatte Erbarmen mit meiner Langeweile und deshalb besuchte sie mich an einem Nachmittag mit einem Arm voller Bücher - damit ich etwas zu lesen hätte und mich weniger langweilen müsse. Da lief es mir heiss und kalt den Rücken hinunter, denn nun, so fürchtete ich, würde herauskommen, dass ich nicht lesen kann.

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Aber da hatte ich wieder Glück! Zu jener Zeit waren nämlich alle Tageszeitungen und der grössere Teil der Bücher noch in gotischer Schrift gedruckt. (Als Reminiszenz an jene Zeit druckt übrigens die FAZ bis heute die Titel über den Artikeln noch gotisch.) Als ich diese gotisch gedruckten Bücher sah, hatte ich natürlich eine plausible Ausrede, denn soviel hatte ich nach einem Jahr Fibelunterricht doch mitbekommen, dass das Schriftbild, das sich in diesen Büchern zeigte, nicht dem entsprach, was ich aus der Schule kannte. "Das kann ich nicht lesen", meinte ich bedauernd zu Eveline, "wir haben in der Schule diese Schrift nicht gelernt". Eveline erwiderte, das wisse sie wohl. Aber das sei gar kein Problem, sie zeige mir, wie das geht. Und das tat sie auch. Leider kann ich mich nicht mehr an das erinnern, was Eveline an jenem Nachmittag mit mir machte, ich weiss nur, dass ich am Abend lesen konnte - und heimlicherweise, im Bett, mein erstes Märchen gelesen hatte: das Andersen Märchen von der kleinen Meerjungfrau. Am Ende der Geschichte weinte ich herzzerreissend. Meine Mutter hörte dieses Weinen, dachte, mir fehle was, kam nachschauen: und bemerkte dann, dass ich inzwischen auch Gotisch lesen konnte. Da waren meine Eltern natürlich doppelt stolz, ich aber war ein Stück entlastet - und ein paar Tage später vollends meiner Schwierigkeiten enthoben, denn auch das Lesen der Schuldruckschrift klappte anschliessend ganz plötzlich und wie auf Anhieb. Persönlich würde ich natürlich sehr gerne wissen, was Eveline eigentlich mit mir gemacht hat. Deshalb habe ich schon erwogen, ob ich mich einer Tiefenhypnose aussetzen solle, damit die entsprechende Erinnerung zurückgeholt werden kann. Aber weil solche Tiefenhypnosen auch tückisch sein können und manchmal Dinge zurückkommen, die man dem Vergessen lieber nicht entreisst, verzichtete ich bislang auf ein solches Vorhaben. Fazit: Weil ich im schulischen Fibelunterricht nicht lesen lernte, hatte ich aus persönlicher Erfahrung keinen Anlass, diesem Unterricht Vertrauen entgegenzubringen. Im Gegenteil - ich hatte zur Fibel von Anfang an eine grosse Distanz und damit gute Voraussetzungen, mit anderer Sichtweise an die Probleme des Lesenlernens heranzugehen. Mit "Lesenlernen" hatte ich dann lange Jahre nie mehr etwas zu tun. Das Lehrerseminar besuchte ich in Basel zu einer Zeit, als man erschöpft vom jahrzehntelangen und fruchtlosen "Methodenstreit" zwischen analytischen und synthetischen Verfahren lesedidaktische und lesemethodische Fragen als irrelevant betrachtete. Weil keine der beiden Methoden eine deutliche Überlegenheit über die andere nachweisen konnte, zog man den - m.E. voreiligen - Schluss, es komme auf die Art der Methode gar nicht an: Kinder lernten eh lesen. Diese These halte ich für ausserordentlich gefährlich und die Jahre zwischen 1960 und 1980 belegen ja auch ihre Gefährlichkeit - in jenen 20 Jahren stieg die Zahl der sogenannten "Legastheniker" auf Höchstwerte. Jene, die die These vertraten, begründeten sie falsch und zogen vor allem die falschen Konsequenzen: Dass der Methodenstreit unentschieden endete, muss ja nicht zwingend so interpretiert werden, dass beide Methoden gleich gut seien - denkbar ist auch, dass beide Methoden falsch sind. Ich will das hier nicht weiter verfolgen, sondern lediglich auf die damals falsch gezogenen Konsequenzen verweisen.

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Ich vertrete ja auch die These, dass Kinder "von selbst" lesen lernen, aber wenn man diese These vertritt, muss man den Kindern das Lernen dann auch tatsächlich selbst überlassen und sie nicht - gegen diese These - auf einen fremdvorgegebenen Weg zwingen. Sobald man Kinder unter eine Methode zwingt, ist es ihnen eben kaum mehr möglich, "von selbst" lesen zu lernen. Methodenfragen kann man nur ungestraft ignorieren, wenn man wirklich keine Methode einsetzt, sobald aber eine Methode zur Anwendung gelangen soll, müssten deren Qualitäten nachgewiesen sein. Als die Lesedidaktik vor Jahren der Methodendiskussion überdrüssig wurde, betrachtete sie, wie schon gesagt, beide der früheren Methoden als gleich gut und meinte dann, man könne durch Zusammenlegen der vormals getrennten Ansätze ein Optimum erreichen: das analytisch-synthetische Verfahren. Nun hatte man wieder eine Methode, unter die man die Kinder zwingen konnte - dass diese noch schlechter sein könnte als die früheren, kam niemandem in den Sinn. Aber es ist so, und obwohl Kinder letztlich "von selbst" lesen lernen, wirkt sich dieser Methodenzwang störend aus. Weil Kinder unter diese Methode gezwungen werden, werden ihre Selbstlernkräfte blockiert und sie lernen nicht nur nicht "von selbst" lesen, sondern manchmal bloss unzureichend oder gar überhaupt nicht. Wir haben weltweit einen zunehmenden Zerfall an Lesekompetenz zu beklagen - angeblich wegen des Fernsehens, dabei hat dieser Trend begonnen, als man zwei schlechte Methoden zu einer noch schlechteren kombinierte. Ich gehe hier nicht weiter auf diesen Punkt ein, sondern kehre zurück zum Basler Lehrerseminar, ins Jahr 1965, als - wie gesagt - Methodenfragen im Bereich des Lesenlernens niemanden sonderlich interessierten. Entsprechend war der Erstleseunterricht das Thema von zwei Didaktikstunden: in der einen Stunde blätterten wir die synthische Basler Fibel durch (das war immer noch die, die ich als Junge selber schon kennenlernte) und in der zweiten Stunden besahen wir uns die damals im Gebrauch stehende analytische Fibel. Und das war's. Eigentlich ist sowas ja skandalös, aber für mich persönlich war es wohl ein Vorteil, denn so blieb ich verschont von irgendwelchen Lesetheorien und Lesedidaktiken und konnte mich später, als mich Lesenlernen zu faszinieren begann, ohne Vor-Urteile an die Probleme herangehen. Bevor ich diesen Teil der Geschichte erzählen kann, muss ich nun allerdings vorher noch etwas zu meiner Ausbildung sagen, denn diese spielt bei der Entwicklung von "Lesen durch Schreiben" auch eine wichtige Rolle. Nach dem Abitur hatte ich von der Schule die Nase gründlich voll und mit Schule gar nichts, rein gar nichts im Sinn. Ich studierte Psychologie mit Philosophie und Soziologie als Nebenfächern, fand alles ungemein interessant und dachte keinen Augenblick an Schule oder "Lehrerei". Dass ich mich nach dem weitgehend abgeschlossenen Psychologiestudium anschliessend der Ausbildung zum Primarlehrer unterzog, war eine - gleichsam moralische - "Prüfungsbedingung": der damalige Basler Lehrstuhlinhaber für Psychologie, Prof. HANS KUNZ, ein von den Studierenden hochverehrter und durch und durch integrer Mann, vertrat nämlich die ungewöhnliche These, dass man mit Psychologie in der Schweiz sein Brot nicht auf ehrliche Weise verdienen könne, weshalb er von allen seinen Studierenden vor Studienabschluss den Nachweis eines "Brotberufs" verlangte. Ich hatte diesen "Brotberuf" nicht. Ich hatte zwar meine Studien abgeschlossen, die Dissertation war geschrieben und angenommen, aber ich wurde nicht zum Schlussexamen zugelassen, weil mir ein bürgerlicher Beruf fehlte. Natürlich hätte KUNZ diese Forderung juristisch nicht durchsetzen können, aber alle seine Studenten fanden sie

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berechtigt und unterwarfen sich dieser Forderung. So erhob sich die Frage, was ich jetzt machen solle. Ich hatte mein Studium durch Mitarbeit in einer internationalen Speditionsfirma als sogenannter "Werkstudent" finanziert und stand nun vor der Alternative, entweder Speditionskaufmann oder Grundschullehrer zu werden. Weil ich Abitur hatte, wäre mir als Speditionskaufmann ein Lehrjahr erlassen worden, so dass ich nur noch drei Jahre Ausbildung hätte absolvieren müssen. Doch das war mir zu lang, denn das Lehrerseminar in Basel dauerte nur zwei Jahre. So wurde ich Lehrer, auf sehr "zufällige" Weise, und zunächst ohne besonderes Interesse und ohne Engagement. Freilich - das änderte sich sehr rasch, sehr bald hatte ich "Feuer gefangen" und blieb anschliessend Lehrer - bis heute, und bis heute sehr gerne. Umständehalber kam ich also als "fertig studierter Psychologe" in die Schule - und das war wohl der Grund dafür, dass ich von Anfang an einen anderen Blick auf die Kinder und den Unterricht hatte. In meinem ersten Dienstjahr unterrichtete ich zwar ganz so, wie es im Seminar vermittelt wurde, spürte aber sehr bald, dass da "irgendetwas" nicht stimmt. So wandte ich mich zusehends von der erlernten Didaktik ab und begann bald, didaktisch eigene Wege zu gehen. Wesentliche Anregungen hierzu bekam ich durch den von HEINRICH ROTH herausgegebenen Gutachtenband des Deutschen Bildungsrates "Begabung und Lernen" (Stuttgart 1968). Ich begann mit etwa 30-40 Kolleginnen und Kollegen aus Basel auf eigene Faust "Schulreform" zu betreiben, orientiert an Zielsetzungen wie Selbständigkeit, einsichtiges Lernen, systematisch-realistischer Sachunterricht u.ä.m. Mit den Behörden bekam ich natürlich sehr bald erhebliche Konflikte - doch das ist eine andere Geschichte. Als ich in den Schuldienst eintrat, brachten es die Umstände mit sich, dass ich ein verwaistes drittes Schuljahr übernehmen musste und als ich diese Klasse Ende des vierten Schuljahres abgab, musste ich noch einmal eine verwaiste Dritte übernehmen. So hatte ich erst in meinem fünften Dienstjahr (1972) zum ersten Male Erstklässler. Mit dem Erstleseunterricht bekam ich bewusst das erste Mal zu tun, als der Materialverwalter an unserer Schule im November 1971 von mir wissen wollte, welche Fibel er für mich bestellen solle: synthetisch oder analytisch? Daraufhin nahm ich mir die beiden Fibeln noch einmal vor, war aber absolut entsetzt und wusste intuitiv nur eines: keine, alles, nur das nicht. Ich entschied also, auf diese Fibeln zu verzichten und einen eigenen Weg zu beschreiten. Auch wenn ich in jenem Zeitpunkt noch keine Ahnung hatte, wie dieser Weg aussehen würde, so wusste ich doch, dass die Kinder vor dieser unglaublichen Fibel-Gängelung und dem sprachlichen Dadaismus ("Mi im ... " "Mo im ... " "Mimi im ... " "Omi im ... " usw.) bewahrt werden mussten. Sie sollten mehr Möglichkeiten selbständigen Arbeitens eingeräumt bekommen, die Lernziele wären breiter anzulegen und zur Schulung der Wahrnehmung, der Sprache, der Konzentration, der Aufmerksamkeit, ja des Denkens überhaupt sollten zusätzliche Angebote unterbreitet werden. Die Idee, lesen durch schreiben lernen zu lassen, war noch nirgends in Sicht. Aber ich hatte wieder Glück! Die Siebzigerjahre waren eine Zeit, da weltweit die Vorschulerziehung im Gespräch war. So kam es, dass ich im Winter 71/72 im Rahmen der Basler Lehrerfortbildung einen Fortbildungskurs für Kindergärtnerinnen erteilte. Bei den Vorbereitungen für diesen Kurs benutzte ich auch eine kleine Broschüre von JOACHIM LOMPSCHER "Vorschulerziehung als geistige Herausforderung unserer

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Zeit" (München 1968) - und fünf Seiten dieser Broschüre führten gewissermassen durch ein "produktives Missverständnis" - zur Idee von "Lesen durch Schreiben". Auf den Seiten 99-104 berichtete LOMPSCHER nämlich über einen Vorschulversuch, der damals in der Sowjetunion unter der Leitung von DAWYDOW und ELKONIN durchgeführt wurde. Weil im Russischen Schrift- und Sprechsprache noch mehr auseinanderklaffen als im Deutschen, welches ja ebenfalls nur annähernd eine Lautschrift darstellt, haben russische Kinder noch grössere Probleme als deutsche, mit den alten Methoden lesen zu lernen. DAWYDOW versuchte daher, einen Leselehrgang zu entwickeln, der sich an die Linguistik anlehnte, weshalb er den Lehrgang mit einer Einführung in die Phonetik begann. Mit dieser Einführung war DORA ELKONIN betraut, die schon früher für eine Schulung der Kinder in der Lautanalyse v o r dem eigentlichen Leselehrgang eingetreten war. Sie forderte, dass dem akustischen Teil des Prozesses mehr Gewicht beizulegen wäre - was damals ungewöhnlich war, wurden doch in jenen Jahren hauptsächlich optische Phänomene (Form und Gestalt der Buchstaben) trainiert, indes der akustische Teil weitgehend ignoriert blieb. ELKONIN aber wies die Kinder auf die Lautaspekte der Sprache hin, indem sie dem eigentlichen Leselernprozess einen "akustischen Vorkurs" vorausschickte, der über akustische Sensibilisierung die "Hinführung zur Lautstruktur der Sprache" zum Ziel hatte. Dieser Gedanke leuchtete mir unmittelbar ein! Weniger einleuchtend waren für mich die praktischen Übungen, welche mit den Kindern gemacht werden sollten. Hauptaufgabe war jeweils die Lautanalyse eines Wortes - aber eingeschränkt auf die Unterscheidung von Selbst- und Mitlauten. Die Kinder bekamen da beispielsweise das Bild einer Ente, unter dem vier Kästchen gedruckt waren. Die Kinder sollten nun das Wort "Ente" akustisch analysieren und für jeden Laut bestimmen, ob es sich um einen Selbst- oder einen Mitlaut handelte. In den Kästchen sollte dies dann entsprechend markiert werden: die Selbstlaute mit einem "x", die Mitlaute mit einem "o". Nun leuchtete mir zwar bei dieser Übung ein, dass man das Wort auf seine Lautgestalt hin abhören musste, doch mir schien unsinnig, warum die Kinder danach Selbst- und Mitlaute markieren sollten. "Was soll das?" fragte ich mich. "Was bringt das? Wem soll sowas nutzen? Vernünftiger wäre doch, die Kinder würden grad die richtigen Buchstaben schreiben!" Nun - das wäre sicher vernünftiger gewesen, das Problem war jedoch, dass ja die Kinder die Buchstaben nicht kannten. Da hatte ich erneut Glück! Ich erinnerte mich zum richtigen Moment an meine Pfadfinderzeit. Als Pfadfinder hatte mir immer besonders gut gefallen, des Nachts im Wald mit einer Taschenlampe "Morse-Botschaften" an andere Kameraden zu senden. Morsen gefiel mir sehr, dabei konnte ich das Morsealphabet nie auswendig - doch das war kein Problem: es gab da nämlich den sogenannten "Morse-Schlüssel" aus dem man die Morsezeichen ablesen konnte. "Man müsste für die Kinder eine Art Morseschlüssel haben," dachte ich, "aus dem sie die Buchstaben ablesen können" - und damit war die Buchstabentabelle geboren! Die sah in der ersten Version noch anders aus als heute, war wirklich als Tabelle mit Zeilen und Spalten angeordnet und nach dem ABC. Aber das Prinzip war da - und irgendwie war unbemerkt auch plötzlich die Intuition da, dass Kinder, die dem gesprochenen Wort entlangschreiben im Gefolge dieses Schreibens lesen lernen. Offenbar betrachtete ich die Übung ELKONIN's, in der die Kinder kennzeichnen sollten, ob sie in der Lautfolge eines Wortes jeweils Vokale oder Konsonanten hörten und dieses mit "x" oder "o" markieren sollten, irgendwie als eine Vorform des Schreibens. Ich beschloss, diese Vorform

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auszulassen und den Kindern mit Hilfe einer Buchstabentabelle auf Anhieb die Möglichkeit "richtigen" Schreibens zu geben - "Lesen durch Schreiben" war (der Idee nach) "erfunden"! Bis aus der Idee ein Lehrgang wurde, dauerte es freilich nochmals ein Jahr. Der Lehrgang ist ja nicht am Schreibtisch, sondern in der Praxis entstanden - ich entwickelte das Material im Laufe jenes Schuljahres als ich das erste Mal eine erste Klasse betreute. Dabei setzte ich zum einen meine im Psychologiestudium gewonnenen allgemeinen lerntheoretischen Vorstellungen um, zum anderen stützte ich mich regelmässig auf die Kinder, die ich sorgfältig beobachtete und von denen ich eine ganze Menge wichtiger Dinge lernte. Im fruchtbaren Austausch mit engagierten Kolleginnen und Kollegen wurde das Material anschliessend regelmässig weiterentwickelt, bis es endlich anno 1982 beim sabe-Verlag in Zürich allgemein erhältlich wurde.

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Text-A23 Jürgen Reichen Das Geheimnis der Bauecke In: Flehmig, I. (Hrsg.): Kindheit heute - Realität und Wunschdenken Verlag Modernes Lernen Borgmann, 2003 Seit der PISA-Studie - bzw. eigentlich schon vorher - wissen wir, dass das deutsche Schul- und Bildungswesen erhebliche Defizite und Probleme hat. Schon seit einigen Jahren ist die Schule ein wiederkehrendes Thema in den Medien - und weil der Zynismus der Medien bekanntlich nur schlechte Nachrichten als Nachrichten wertet - muss dies als ernsthaftes Alarmzeichen interpretiert werden. Auch wer nicht alle journalistischen Zuspitzungen zum Nennwert nimmt: die deutsche Schule im Ganzen steckt in einer erheblichen Krise, die Grundschule eingeschlossen. Das wissen inzwischen alle und entsprechend ist das Bewusstsein einer neuen Situation weit verbreitet. Mittlerweile ist die zweite Generation von Kindern in der Schule, die mit 16 (oder mehr) TV-Programmen aufwuchs und die Schule als 17. Programm missversteht - und gleichzeitig als das weitaus langweiligste ansieht. Deshalb kehrten schon seit Jahren immer mehr LehrerInnen den bisherigen, längst fragwürdig gewordenen Unterrichtsformen eigeninitiativ den Rücken und verwirklichen mit Lust und Engagement sogenannte "offene Konzepte", in denen die Kinder freudig, kreativ, selbständig und gemeinsam miteinander lernen und arbeiten. Mit diesen "offenen Formen" werden viele Probleme lösbar. Doch der Durchbruch zu diesen Formen ist trotz Erfolgen in Frage gestellt - jetzt nach PISA noch mehr als vorher. Die Behörden unterstützten offene Unterrichtsformen stets nur halbherzig, dabei wäre dies die einzige Reform, die wirklich etwas "bringt" und erst noch gratis zu bekommen wäre. Warum das so ist, kann ich mir nur mit Inkompetenz erklären. Schließlich verstehen auch die meisten Hochschulen und Studienseminare nicht, was offene Unterrichtsformen eigentlich sind, sie disqualifizieren sie überheblich als "nicht wissenschaftlich". Das letzte, was uns die Politik als Ausweg wies - bevor PISA bekannt wurde - waren die "neuen Medien". Sie erinnern sich vielleicht noch: Computer in die Schulen, Schulen ans Netz, Medienecken einrichten u.ä.m. waren die Schlagworte. "Neue Medien" waren die ganz große Verheißung. Nur - was ist daraus geworden? Mir scheint, mit dem Absturz der Aktienkurse, mit dem Zusammenbruch der "New-Economy-Euphorie" sind auch die "Neuen Medien" als Wundermittel entzaubert. In Hamburg hat die Schulbehörde eine Art Zeitschrift zu diesem Thema herausgegeben. Diese Zeitschrift hieß ursprünglich: "Lernen mit neuen Medien". Doch interessanterweise hat diese Zeitschrift inzwischen einen anderen Titel und heißt jetzt: "Neues Lernen mit Medien". Diese Titeländerung scheint mir symptomatisch und spricht durchaus für die Verantwortlichen. Die Schule braucht anscheinend nicht in erster Linie neue Medien wie Computer und Internet, sondern eine neue Art des Lernens bzw. des schulischen Lehrens. Entsprechend wird von allen Seiten gefordert, dass der Unterricht verbessert werden müsse! Doch es sagt mir niemand, was das denn heißt: ein besserer Unterricht. Ich komme ja ursprünglich aus der Schweiz und bei uns gab es eine ziemlich handfeste Definition, was guter Unterricht sei. Guter Unterricht wurde definiert über zwei Komponenten. Die eine Komponente

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war das Können, über das die Kinder verfügen und die andere Komponente war das Wohlbefinden, das ihnen die Schule erlaubt. Von Verbesserung des Unterrichts wurde gesprochen, wenn das Wohlbefinden gesteigert wurde, ohne dass das Können sich verringerte, oder wenn das Können sich steigerte, ohne dass das Wohlbefinden zu leiden hatte oder - im Idealfall - wenn sowohl das Können als auch das Wohlbefinden gesteigert wurden. Von Wohlbefinden ist allerdings in der derzeitigen Situation (nach PISA) eher nicht die Rede. Im Gegenteil! Vielerorts hört man die Forderung, mit der "Kuscheleckenpädagogik" müsse jetzt Schluß sein! Nun will ich diesen diffamierenden Kampfbegriff der pädagogischen Reaktion hier nicht diskutieren, nur festhalten: Was der polemische Ausdruck "Kuscheleckenpädagogik" suggeriert, gibt es in den Schulen nicht - und für das schlechte Abschneiden der deutschen Kinder bei PISA müssen schon andere Gründe benannt werden. Für mich jedenfalls ist eine "Pädagogik der Ecken" sehr wohl ein Weg, Unterrichtsqualität zu verbessern, weshalb ich hier ein Plädoyer halten will für eine "Eckenpädagogik", hauptsächlich für die Bauecke. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. In unserer Klasse haben wir nicht einfach nur eine Bauecke. Sie finden bei uns auch eine Computerecke mit fünf Computern, die alle miteinander vernetzt und am Internet angeschlossen sind. Aber wir bieten den Kindern auch eine sehr schöne, sehr große Bauecke. Und da verblüfft es mich immer wieder, wenn ich feststellen muss, dass die Kinder zwar durchaus mit den Computern arbeiten, insgesamt aber die Bauecke vorziehen. Vor allen Dingen die Kinder, die "gut geraten" sind, findet man mehr in der Bauecke als vor den Computern, während nur jene Kinder, die in der Lehrerschaft als "problematisch" gelten, die Computer vorziehen. Bauklötze kennen Sie vermutlich alle - und was man gemeinhin mit ihnen anstellen kann, wissen Sie auch. Kinder spielen mit Bauklötzen. Das ist aber bei weitem nicht alles. Eine Bauecke dient nicht nur dem Spielen und der Sozialerziehung, sie ist auf jeden Fall auch ein Teil des Sprach- und Mathematikunterrichts - obwohl das Bauen bis anhin kein Bestandteil schulischer Lehrpläne war. Das sollte man ändern und jeden Klassenraum mit einer Bauecke ausstatten. Viele Probleme, unter denen wir in der Schule zur Zeit leiden, können in einer Bauecke vielleicht nicht abschließend gelöst, aber auf jeden Fall gemildert werden. Vor Jahren hatte ich einen Jungen in der Klasse, der - schulpsychologisch abgeklärt - als "nicht schulreif" eingestuft war, der aber in der Bauecke und im Spiel mit Bauklötzen das Lesen und das Schreiben erlernt hat. Vielleicht erscheint Ihnen diese Behauptung zweifelhaft - das kann ich Ihnen nicht verdenken. Im Rahmen dieses Vortrags kann ich die Sache im Moment auch nicht näher erhärten. So muss ich Sie einfach bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich auf der Grundlage meines Verständnisses von Schriftspracherwerb (und einiger Erfahrungen auf diesem Feld) effektiv glaube, dass jener Junge damals durch intensives Bauen eine erste Kompetenzstufe im Bereich der Schriftsprache erreicht hat. Und seither haben Bauklötze bei mir persönlich einen zweiten Namen, ich nenne sie das "heilpädagogische Aspirin". Und seither bin ich überzeugt davon, dass in die Grundschulen Bauecken gehören - dann würden die PISA-Tests der Zukunft besser ausfallen. Warum? Bauen führt zunächst zu besseren sozialen Kontakten unter den Kindern und langfristig werden Aggressionen zurückgebunden, denn Bauen ist ein gemeinsames Tun, das Zusammenarbeit

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erfordert und fördert. Es ist zudem ein geplantes Tun, d.h. es muss vereinbart werden, was man bauen will. Dabei kommt es gelegentlich zu Meinungsverschiedenheiten, gar zu Konflikten, die geklärt und bereinigt werden müssen. Es wird also Sozialkompetenz gefordert und gefördert. Sehr oft bauen die Kinder Türme. Dabei errichten sie meistens zwei, manchmal auch vier Mauern, zwischen denen sie Etagen einfügen. Da nun alle Mauern gleich hoch sein müssen, häufig aber nicht immer die gleichen Bausteine zur Verfügung stehen, muss z.B. eine große Platte durch zwei entsprechende kleinere ersetzt werden, wodurch die Kinder mathematisches Können entwickeln: Sie zählen Klötze, sie lernen zu teilen, da sie sich häufig um besonders begehrte Typen von Klötzen (etwa ganz große Würfel oder Platten) streiten, sie entwickeln Symmetriebewusstsein und Raumgefühl und lernen "parkettieren" - und zwar alles ohne didaktische Belehrung, "inzidentell", das bedeutet "beiläufig begleitend". Des Weiteren unterstützt das Bauen eine realistische Selbsteinschätzung und bahnt erste Formen von Selbstkritik an. Kleinere Kinder sind ja manchmal in puncto Selbsteinschätzung noch recht naiv und nehmen sich, z.B. beim Bauen, Aufgaben vor, die sie nicht bewältigen können. Die Bauklötze machen ihnen dieses dann bewusst. Plant ein Kind beispielsweise, eine Autobahnbrücke zu bauen, dann erfährt es während der Arbeit: Wenn man die Brücke nicht richtig konstruiert, dann hält sie nicht und bricht zusammen. Der Wunsch, eine Brücke zu bauen, kann an der Realität scheitern. Durch diese Erfahrung - durch die Begegnung mit dem, was die Philosophie "Realitätswiderstand" nennt - wird ein illusionärer Höhenflug korrigiert und manchmal erwächst aus der zugehörigen Frustration eine Herausforderung, die das Lernen vorantreibt. Schließlich aber reden die Kinder während des Bauens die ganze Zeit miteinander und zwar buchstäblich "über Gott und die Welt". Ich besitze durch Zufall eine Videoaufzeichnung, wo unbeabsichtigterweise und ohne dass die Kinder davon wussten, so ein "Baueckengespräch" aufgenommen wurde. Da bauten zwei Jungs und mitten im Bauen fangen sie plötzlich ganz ernsthaft ein Gespräch über den lieben Gott an. Da fragt der eine den anderen, ob er an den lieben Gott glaubt, und als der zweite meint, "nicht so recht", da bekräftigt der erste seinen Glauben, "denn seine Mama hat ihm das gesagt". Sie vertiefen ihre Diskussion natürlich nicht. Typisch Kind bauen sie dann an ihrem Turm weiter, um ihn, als er fertig steht, anschließend mit großer Lust wieder umzustürzen. Die Gespräche, die Kinder da führen, sind m.E. außerordentlich wichtig und können in ihrer positiven Wirkung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie fördern die Sprachkompetenz der Kinder (nicht zuletzt der Kinder mit fremder Muttersprache) und erweitern ihr Welt- und Lebenswissen, denn im Austausch erzählen sie einander Erlebnisse und geben Kenntnisse weiter. Eine Untersuchung, die 1975-80 in Zürich von der damaligen Erziehungsdirektion veranlasst wurde, kam zum Schluss, dass die überaus positiven Impulse, welche der Kindergarten für die Entwicklung der Vorschulkinder freisetzt, kaum auf die direkten, pädagogisch-didaktischen Bemühungen der Erzieherinnen zurückzuführen sind, sondern sich im Wesentlichem dem freien Spielen der Kinder mit- und untereinander verdanken. Das regelmäßige Gespräch der Kinder, wie wir es auch in der Bauecke finden, führt gleichsam zu einer kollektiven Horizonterweiterung innerhalb der Kindergruppe, weil hier jedes Kind seine bisherigen Lebenserfahrungen und Weltkenntnisse an die anderen Kinder weitergibt und umgekehrt jedes Kind an den Erfahrungen seiner Kameraden partizipiert.

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Der Kongreß hier heißt "Kindheit heute", nicht "Kinder heute". Dieser Titel wurde zu Recht so gewählt - die Kindheit ist heute eine andere als vielleicht vor 30 Jahren, während die Kinder in gewisser Weise gleich geblieben sind. Es gibt, wenn ich das so nennen darf, bei Kindern eine Art "anthropologische Konstanten", also Verhaltens- und Wesensmerkmale die überzeitlich scheinen (und mich übrigens immer wieder mal optimistisch stimmen, weil in den Kindern ursprüngliche Bedürfnisse und Kräfte vorhanden sind, die verhindern, daß man alles mit ihnen machen kann, was geschäftstüchtige oder ideologisch-verbohrte Erwachsene gerne möchten). Diese anthropologischen Konstanten (die ich hier im einzelnen nicht aufzählen muss, weil Sie alle mindestens einige, wie z.B. das größere Bewegungsbedürfnis der Kinder, kennen) kann man langfristig nicht ungestraft ignorieren. Doch gerade dies wird - nicht zuletzt in den Schulen - häufig gemacht. Unter den heute vorherrschenden gesellschaftlichen und familiären Bedingungen - kleine Wohnungen, Ein-Kind-Familien, "Alleinerziehung", "Zeitmangel" der Eltern usw. werden wesentliche, ursprüngliche Bedürfnisse von Kindern zunehmend frustriert, so dass die Schule in der Situation ist, diese Frustrationen aufzufangen und abzubauen, wenn sie ihren Bildungsauftrag noch erfüllen will. Eine Bauecke kann hier eine Unterstützung sein, denn sie kommt vielen kindlichen Bedürfnissen entgegen. Doch leider muss man - zu meinem großen Bedauern - feststellen, dass die meisten Lehrerinnen und Lehrer mit dem Bauen der Kindern Probleme haben. Sie erkennen den Wert des Bauens nicht und rechnen es zur verlorenen Zeit, in der nichts "gelernt" wird. Vorherrschend ist die Meinung: Wenn die Kinder zu viel in der Bauecke spielen, dann arbeiten sie nicht und wenn sie nicht arbeiten, dann lernen sie nichts. Denn nicht wahr: In der Schule hat man zu lernen, nicht zu spielen. Leider ist diese Forderung, die so einleuchtend daher kommt, falsch! Sie macht aus Spielen und Lernen Gegensätze, statt Verbündete. Während weitherum Konsens besteht, dass Kinder im Vorschulalter "durch spielen" lernen - und zwar sehr viel, so viel wie später nie mehr - soll das für das Grundschulalter nicht mehr gelten. Gerade so, als ob das Kind mit dem Eintritt in die Grundschule eine Wesensverwandlung durchmache, soll jetzt das Kind "durch arbeiten" lernen. Entsprechend betrachten die meisten Lehrerinnen und Lehrer es als ihre berufliche Hauptaufgabe, die Kinder "zum arbeiten" zu bringen. In einer Klasse "Ruhe und Ordnung" aufrecht zu erhalten und dafür zu sorgen, dass die Kinder "arbeiten", wenn möglich sogar "fleißig arbeiten", ist daher das, was dem Durchschnitt der Lehrerschaft den weitaus größten Teil seiner Kraft abverlangt. Was außerhalb der Klassenräume und Schulen kaum bekannt ist, zeigt sich innerhalb unübersehbar - die Kinder sind "faul" und "arbeitsscheu" - sie wollen immer nur spielen (und müssen mit allen Mitteln zum Arbeiten gebracht werden). Doch vielleicht ist dieses Spielbedürfnis gar nicht schlecht. Der "Kampf gegen das Spielen" wird ja im "Namen des Lernens" geführt, die Kinder sollen lernen, statt spielen - und deshalb werden sie zum arbeiten gezwungen, gerade so, als ob arbeiten und lernen identisch seien. Doch ist doch gerade das nicht der Fall. Ich bin keineswegs dagegen, dass Kinder in der Schule etwas lernen sollen. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass die Umsetzung dieser Forderung voraussetzt, dass man weiß, was "lernen" ist und wie es funktioniert. Dieses Wissen aber haben wir nicht wirklich. Seit über 35 Jahren habe ich theoretisch und praktisch mit Schule zu tun, aber nie ging es dabei um die Frage "Was heißt eigentlich lernen?" Stillschweigend wurde und wird so getan, als ob diese Frage

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beantwortet sei und unkritisch nimmt man die Kinder, bei denen das Lernen gelingt, für die Richtigkeit des schulischen Vorgehens in Anspruch. Die andern Kinder hingegen, die Lernprobleme haben (und deren Zahl zunimmt) werden nicht als "Gegenbeweis" betrachtet, ihre Schwierigkeiten werden in aller Regel als außerschulisch verursacht erklärt. Angesichts dieser Situation hege ich gegenüber dem landläufigen Lernverständnis erhebliche Zweifel und möchte ein paar Überlegungen anstellen, auch wenn diese - sogar in den sogenannten Fachkreisen - weitgehend vernachläßigt werden. Beispielsweise habe ich immer wieder den Eindruck, dass viele Leute und zwar nicht nur das "gewöhnliche Publikum", sondern auch Leute in der Politik oder gar vom Fach - offenbar annehmen, man könne das Lernen oder die Erziehung "anordnen", man könne es gleichsam befehlen. Die öffentliche Diskussion nach PISA erweckt in Teilen den Eindruck, als ob die deutschen Kinder schlechte Leistungen erbrachten, weil man keine besseren von ihnen gefordert hatte. Daher muss man jetzt wieder "Leistung fordern", dann wird sich der Erfolg schon einstellen. In dieser Denkungsweise steckt der gleiche verhängnisvolle Irrtum, wie wir ihn im erzieherischen Bereich rings um den Slogan "Grenzen setzen" finden. Glaubt jemand im Ernst, aggressive, unkonzentrierte, "faule" Kinder würden sich so gestört verhalten, weil sie keine "Grenzen" haben? Wer dieses glaubt, war in den letzten 20-30 Jahren nie in einer Schule. Ich kann Ihnen versichern: Wir haben Grenzen - aber einzelne Kinder halten sich schlicht nicht daran; wir fordern Leistung, sogar mit Nachdruck - trotzdem bekommen wir sie nicht. Die Gründe für diesen Sachverhalt sind ungemein vielfältig und alle, die sich hier ernsthaft um Lösungen bemühen, wissen, dass dies ein schwieriges Geschäft ist. Selbstverständlich liegen die Ursachen kindlichen Fehlverhaltens bzw. kindlicher Fehlentwicklungen manchmal auch in familiären Verhältnissen, die wir nicht ändern können und auf die wir kaum Einfluss haben. In vielen Fällen aber - und damit mache ich mich natürlich bei meinen Kolleginnen und Kollegen nicht beliebt - sind die Ursachen auch "hausgemacht", also durch die Schule bzw. den Unterricht verschuldet. Die Zahl "didaktischer Dummheiten", denen Kinder täglich ausgesetzt sind, die Zahl lieb- und gedankenloser "Pädagräuel", die täglich an Kindern begangen werden, dürfte in astronomischen Höhen liegen. Zum Glück weiß man hier nichts Näheres, denn glücklicherweise werden deutsche Lehrerinnen und Lehrer zwar bürokratisch verwaltet, nicht aber tatsächlich kontrolliert. Anders als z.B. in der Schweiz, wo Lehrerinnen und Lehrer jährlich unangemeldeten Besuch einer Inspektorin bzw. eines Inspektors bekommen, die dem Unterricht beiwohnen und sich dazu äußern, können deutsche Lehrerinnen und Lehrer völlig unbehelligt in ihrem Unterricht schalten und walten, wie sie wollen. Solange sie den Erwartungen d.h. den häufig lern- und entwicklungspsychologisch falschen Vor-Urteilen der Elterschaft genügen, kriegen sie keinen Ärger, mag ihr Unterricht in Wirklichkeit auch völlig unprofessionel sein. Den Ärger - notabene - bekommen nur die engagierten LehrerInnen, die versuchen, didaktisch neue, anspruchsvollere Wege zu beschreiten. Nun ist das eben Gesagte selbstverständlich nur annähernd belegt. Wo keine Untersuchungen gemacht werden, weiß man auch nichts. Liegen aber Untersuchungen vor, dann zeigt sich jedesmal: Deutsche Kinder können wenig - zu wenig. Da sinnt man dann auf Abhilfe und beschließt in der Kultusministerkonferenz und in den Schulministerien der Länder, was zu tun sei, damit sich die Verhältnisse bessern. Ich will die vielen Vorschläge, die nach PISA gemacht wurden, nicht kommentieren. Ich zweifle nicht am guten Willen der Verantwortlichen, ich weise lediglich daraufhin, dass exakt jener Personenkreis, der die momentane Krise herbeigeführt hat,

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uns jetzt den Ausweg zeigen will. Wie soll das gehen? Wird hier nicht wieder einmal der Bock zum Gärtner gemacht? Mir scheint das so zu sein, vor allem, weil das, was mir die eigentliche Frage ist, die Frage "Was heißt eigentlich Lernen?" wieder keine Rolle spielt. Wenn ich vorher festhielt, dass ich gegenüber dem landläufigen Lernverständnis erhebliche Zweifel habe, dann bedeutet das nicht, dass ich der Lernpsychologie nichts zutraue. Im Gegenteil: Das Problem der Schule sehe ich u.a. darin, dass lernpsychologische Erkenntnisse ignoriert werden. Es sind durchaus einige "Gesetze des Lernens" bekannt, von denen besonders drei grundlegend und entscheidend sind. Leider wird jedoch in der schulischen Praxis nur einem dieser Gesetze entsprochen, ein zweites wird im Allgemeinen noch halb befolgt, während das dritte offenbar nicht bekannt ist und ignoriert bleibt. Das erste "Lerngesetz" besagt, "dass man nichts lernt, wenn man nicht motiviert ist". Dieser Grundsatz ist allgemein bekannt und die Lehrerschaft versucht, ihm zu genügen, allerdings mit mäßigem Erfolg. Offensichtlich sind Skandinavier und Kanadier den Deutschen auch hier weit voraus. In diesen Schulkulturen verlässt man sich nicht auf "Spaß-Lehrmittel", wie sie die deutsche Lehrmittel-Industrie anpreist, sondern wir finden eine "Motivation durch Anerkennung", wo die Kinder nicht primär auf ihre Fehler verwiesen und dadurch in ihrem Lerneifer geblockt werden. Doch was nicht ist, kann ja noch werden. Das zweite "Lerngesetz" - das meiner Meinung nach wohl in Teilen, aber nicht konsequent befolgt wird - besagt, dass Lernprozesse kumulative Prozesse sind, also Prozesse, die aufeinander aufbauen. Es gilt eine simple Feststellung: "Je mehr ein Kind bereits gelernt hat, um so mehr, leichter und schneller lernt es dazu". Allerdings kann es auch zu einer Kumulation von Defiziten kommen - und das bedeutet dann: "Je weniger ein Kind bereits gelernt hat, um so weniger, schlechter und langsamer lernt es dazu." Diesem "Lerngesetz" wird dadurch entsprochen, dass wir Schulstufen organisieren und uns an systematischen Lehrplänen mit systematisch aufeinander aufbauenden Anforderungen orientieren. Verfehlt wird der Gehalt dieses Gesetzes aber, weil der Faktor "mehr" falsch verstanden wird. Unsere Lernpläne sind zu sehr auf die sogenannten "Fächer" verengt, während doch das Lernen eines Kindes ganzheitlich ist. So gewiss es sein dürfte, dass ein Kind wahrscheinlich nicht zum Mathematiker wird, wenn man nie mit ihm Mathematik betreibt; so gewiss darf man andererseits bezweifeln, es lasse sich mathematisches Können dadurch steigern, indem man ausschließlich Mathematik mit den Kindern macht. Mathematisches Können wird erworben, wenn das Kind mit Mathematik konfrontiert wird und zugleich mit möglichst viel von dem, was das Leben und die Welt sonst noch zu bieten hat. Je breiter und vielfältiger ein Lernangebot unterbreitet wird, umso lernwirksamer ist es. Und daher weiß ich, dass Kinder in der Bauecke eine ganze Menge auch in schulischer Hinsicht - lernen, obwohl sie derzeit nicht "arbeiten". In meiner Klasse, die jetzt nach den Ferien das 2. Schuljahr beginnt, haben wir einen Dinosaurierspezialisten. Das ist ein Junge, der schon zu Beginn von Klasse 1 sehr viel von Dinosauriern wusste und inzwischen ungefähr alles über dieses Thema kennt. Doch das ist nicht alles - denn dank unserer intensiv genutzten Bauecke haben wir inzwischen sieben Dinosaurierspezialisten und die haben sich vorgenommen, im nächsten Schuljahr ein Dinosaurierbuch zu schreiben. Ich gehe davon aus, dass dieses Buch entsteht - als Produkt "verlorener Arbeitszeit in der Bauecke".

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Ich nehme an, dass einige Mediziner hier im Saal sind und die Debatte kennen, die es in der Medizin um die Frage gibt, ob eher ganzheitliche oder eher direkt auf die einzelne Krankheit bezogene Formen der Therapie helfen. In der Pädagogik gibt es eine ähnliche Kontroverse: Man findet "ganzheitliche" Konzepte und solche, die "zielgenau" ausgerichtet sind. Ich bin eher ein Vertreter der "ganzheitlichen" Richtung und glaube, dass letzten Endes alles, wirklich alles, was Kinder aus freien Stücken und eigenem Antrieb tun, ihre Sozial- und Lernkompetenz voran- und weiterbringt. So kann ich mir z.B. auch vorstellen, dass selbst das Rollschuhfahren einen Beitrag zum mathematischen Können eines Kindes leisten kann. Zunächst scheint das natürlich abwegig. Nur: Wenn du Rollschuh fahren willst, musst du deinen Körper im Gleichgewicht halten können. Das aber setzt voraus, dass du Raumgefühl entwickelt hast - und mit dem Raumgefühl bist du schon nahe an der Geometrie, d.h. die Brücke zur Mathematik ist geschlagen. Ich kann diese Überlegung hier leider nicht weiter vertiefen, sondern muss endlich auf das dritte "Lerngesetz" eingehen, jenes, das allgemein ignoriert wird oder nicht bekannt ist: "Lernen funktioniert nur, wenn es selbstgesteuert funktioniert". In der Lerntheorie wird allgemein akzeptiert, dass alle Lernprozesse eine Selbststeuerungskomponente haben, ohne die Lernen nicht stattfinden kann. Strittig ist, in welchem Verhältnis Selbst- und Fremdsteuerung eine Rolle spielen. Ich neige zur Annahme, dass nur die Selbststeuerungskomponente das Lernen bewegt und alle Fremdsteuerung sich blockierend auswirkt. Als an unserer Schule vor einem Jahr die beiden Klassen 1 zusammengestellt wurden, versuchten die betroffenen Klassenlehrerinnen, ausgewogene Gruppen zusammenzustellen, also die Ausländerkinder gleichmäßig zu verteilen, die Mädchen, die Kinder aus der "besseren Wohngegend", die sehr jungen Kinder usw. Doch obwohl die beiden Klassen vergleichbar waren, zeigen sich jetzt am Ende des Schuljahrs recht große Leistungsunterschiede. Wir haben uns natürlich gefragt, woran das liegen könnte und vermuteten, es habe etwas mit den beteiligten Lehrpersonen zu tun. Die eine Klasse wird durch eine junge, sehr engagierte Lehrerin geführt, die sich richtig einsetzt, die sich bemüht, die ein herzliches, offenes Verhältnis zu den Kindern hat, die keine Kinder demütigt oder anderweitig demotiviert usw. - alles ist okay. Das einzige, was sie anders machte, als die Parallelklasse: Sie "machte zuviel", d.h. sie hat didaktisch viel zu viel veranstaltet. Sie ist häufig mit den Kindern weggegangen - ins Theater und in den Wald usw. - dauernd hat sie Anschauungsmaterialien - ausgestopfte Tiere, Steine u.dgl. - angeschleppt, stets war sie bemüht, der Klasse ein "tolles Programm" zu bieten - und hat die Kinder damit "didaktisch zugedeckt", wie ich das nenne, bzw. "überfüttert". Ich mache ihr diesen (Über-)Eifer nicht zum Vorwurf, verstehen Sie mich bitte hier nicht falsch. Dieser (Über-)Eifer ist Folge ihrer Anfängersituation. In dieser Situation hat sie natürlich noch nicht jene innere Gelassenheit, die sich mit den Jahren einstellen kann, die den Kindern geduldig Zeit gibt und weiß: Weniger ist mehr! Im Film von Herrn Kahl wurde vorher ein schwedischer Kollege präsentiert, der meinte, die Deutschen würden besonders durch zwei Dinge irritiert: Zum einen durch den Fehler, den sie

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nicht wollen und zum andern durch die hochintelligente Antwort (die sie nicht erwarten und auf die sie nicht vorbereietet sind). Die hochintelligente Antwort stört, sie stört das didaktisch wohlvorbereitete "Programm". In der Schweiz wurde vor einigen Jahren auf der Sekundarstufe 2 untersucht, ob ein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Unterrichtsvorbereitung und dem Lernerfolg besteht. Den Zusammenhang gibt es, aber anders als erwartet: Die besten Lernerfolge fanden die Untersucher dort, wo die Lehrer nicht vorbereitet waren, jedenfalls nicht im Sinne eines "didaktischen Drehbuchs", das für ihre Lektionen leitend sein sollte. Waren die Lehrer didaktisch allzugut vorbereitet, wurden sie unflexibel, klebten an ihren Vorbereitungen, wollten "ihr Programm" durchziehen und vermochten nicht, auf das einzugehen, was aus der Klasse kam. Aus dieser Untersuchung lässt sich kein Plädoyer für den unvorbereiteten Lehrer, die unvorbereitete Lehrerin ableiten. Wohl aber sind Folgerungen für die Art der Vorbereitung zwingend. Diese müsste auf einer anderen Ebene stattfinden - doch davon ist die deutsche Didaktik noch weit entfernt, obwohl das schlechte Abschneiden bei PISA auch hier eine Ursache hat. Fragt man sich nach PISA, wie hat es nur so weit mit Deutschland kommen können, dann muss man zu den Jahren um 1970 zurück. Damals erblickte das "rationale Unterrichtskonzept" die Welt, das auf der "Currriculumtheorie" beruhte und dessen Zentrum die "operationalisierten Lernziele" bildeten. Mit diesen Begriffen wurde die Vorstellung einer Schulreform verbunden - und das bedeutete u.a.: Die Leute, die mit diesem Konzept gut klar kamen, die sich damit identifizierten, die sich hier profilierten, machten mit diesem Konzept Karriere und kamen in die Behörden sowie die Institutionen der Aus- und Fortbildung. In meiner eigenen Ausbildung lernten wir damals, Unterricht minuziös vorzubereiten. Wir mussten ausführliche didaktische Drehbücher verfassen und wussten bereits drei Wochen im voraus, was die Kinder am Dienstag, den soundsovielten um 11.17 Uhr auf Frage 3b antworten würden - denn die Antwort stand schon im Drehbuch drin. Die Planung war perfekt - nur der Unterricht nicht. Bei mir funktionierte das System irgendwie nicht und im Rückblick muss ich eingestehen - was ich heute kann, weil die Sache inzwischen verjährt ist - dass ich damals mein Lehrerdiplom nur dank Schummeleien bekam: Mit Süßigkeiten "bestach" ich die Kinder, damit sie in den Stunden, da die Ausbildner des Seminars auf Schulbesuch waren, das "Programm aufführten", das im Drehbuch vorbereitet war. Das ist natürlich etwas peinlich - aber was sollte ich tun? Das System funktionierte nicht, was durch drei Gründe erklärt werden konnte: Variante 1: Die Kinder taugten nichts. Doch diese Erklärung konnte nicht stimmen, das wußte ich

schon als junger Mann: Die Kinder waren schwer in Ordnung. Variante 2: Ich tauge nichts. Aber den Gedanken wollte ich gar nicht erst aufkommen lassen. Ich

wollte ja Lehrer werden und da wären solche Selbstzweifel nicht hilfreich gewesen. Also beschloss ich, es gilt

Variante 3: Das Konzept taugt nichts. Und das denke ich noch immer. Nun gab es aber, wie vorher erwähnt, durchaus Kollegen, die scheinbar erfolgreich mit dem "rationalen Unterrichtskonzept" arbeiteten und damit "Karriere" in den Behörden sowie den

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Institutionen der Aus- und Fortbildung machten. Und dort sind sie zum großen Teil noch immer und hängen - im Hintergrund - dem "rationalen Unterrichtskonzept" immer noch an. "Offiziell" wird das Konzept natürlich nicht mehr vertreten, denn sogar bis in die abgehobenen Amtszimmer der Ministerien und die Elfenbeintürme der Universitäten drang die Kunde, dass die Kinder sich diesem Konzept schlicht verweigern, aber in Publikationen, Erlassen usw. findet man immer wieder Spuren, die auf 1970 zurückweisen. Wenn ich nur mal an den derzeitigen Lieblingsbegriff der Bildungspolitik denke - Qualitätssicherung - und daran, wie hier Qualität verstanden wird und wie man sie sichern will, dann ist eine Abkehr vom Machbarkeitswahn des "rationalen Unterrichtskonzepts" nirgends zu entdecken. Zum Glück gibt es einen Trost: Man kann in Deutschland inzwischen ein paar wenige (!) Studienseminare finden, zu denen sich schon durchgesprochen hat, dass es zum "rationalen Unterrichtskonzept" kindgemäße und lernförderliche Alternativen gibt. Das sind die sogenannten "offenen" Unterrichtsformen, in denen das Lernen der Kinder nicht curricular geplant und rational gesteuert wird, sondern selbstgesteuert und inzidentell verläuft. Mit dem Begriff "Selbststeuerung" sind eine Menge Unklarheiten verbunden, da man den Begriff häufig mit dem Begriff "Selbstständigkeit" gleichsetzt. Diese Gleichsetzung ist jedoch grundfalsch, Selbststeuerung und Selbständigkeit sind einander nicht gleich- sondern entgegenzusetzen. Während Selbständigkeit ein Verhalten bezeichnet, bei dem ein Mensch weiß, was er tut, wie er es tut, wozu er es tut, ein Verhalten also, das man als den Prototypen eines bewussten, willentlich-gesteuerten Verhaltens betrachten kann, ist ein selbstgesteuerter Prozeß gerade umgekehrt ein nicht-bewußter Prozeß, der nicht willentlich beeinflußt wird und "von selbst" abläuft. Die Vorstellung, dass psychische Prozesse "von selbst" ablaufen, behagt uns nicht. Diese Vorstellung läuft unserem Selbstbild zuwider, wonach wir bewußt lebende, unser Dasein weitgehend willentlich selbst-gestaltende Individuen seien. Bei uns allen ist mühelos die Tendenz nachweisbar, das eigene Tun und Lassen stets rational zu begründen und zu rechtfertigen - selbst in Fällen, da dies offenkundig nicht stimmt. Würden wir uns jedoch einmal kurz Rechenschaft geben, dann würden wir feststellen, dass in unserem Lebendigsein fast nichts bewußt und willentlich-gesteuert abläuft. Wenn ich zunächst unsere körperlichen Funktionen betrachte, dann zeigt sich, dass wir im Wesentlichen lediglich unseren Bewegungsapparat willentlich unter Kontrolle haben. So kann ich z.B. meine Hand dort hinlenken, wo ich sie haben will. Das kann ich willentlich beschließen und willentlich steuern. Alles andere aber, was ja auch relevant ist, Kreislauf, Atmung, Verdauung, Nervensystem usw. - das alles sind Prozesse, die "von selbst" ablaufen, die willentlich nicht beeinflußbar sind und bewusst werden. Wenn ich beispielsweise an die Verdauung denke, habe ich einen Prozeß, der bei uns allen permanent im Gange ist, aber ohne, dass wir etwas davon merken. Wir haben nichts damit zu tun. Wir merken allenfalls etwas von den Vorgängen, wenn der Prozeß gestört ist und wir Magenschmerzen haben. Doch wenn das der Fall ist - das wissen Sie alle so gut wie ich - nutzt es normalerweise wenig, dem Magen willentlich und bewusst den Befehl zu erteilen, er soll mit den Schmerzen aufhören. Mein Magen jedenfalls ist ganz schlecht erzogen. Der gehorcht mir einfach nicht und macht glatt, was er will. Natürlich könnte ich indirekt eingreifen, das schon. Ich könnte eine Wärmflasche auflegen, einen Kamillentee trinken oder eine Pille schlucken. Aber - und um das geht es im Moment - bewußt-willentlich erreiche ich überhaupt nichts. Im psychischen Bereich ist es kaum anders. Da ist es das Denken, das sich willentlich steuern läßt. Meine Gedanken kann ich auf die Themen richten, die ich bedenken will, während alles andere,

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was ja auch relevant ist, Stimmungen, Gefühle, Erinnerungen, mehr oder weniger autonomen Charakter haben. Wenn ich z.B Gefühle betrachte, dann zeigt sich doch zuallererst, dass wir nicht die Herrinnen und Herren unserer Gefühle sind. Gefühle sind etwas, das sich irgendwie "wie von selbst" aufbaut. Gefühle entstehen wie "von selbst", sie sind "von selbst" da und manchmal erlöschen sie auch wieder wie "von selbst". Mit bewusstem Willensaufwand kann man für oder gegen Gefühle wenig ausrichten. Es soll hier nicht eine Psychologievorlesung gehalten werden. Mit den vorherigen Überlegungen wollte ich lediglich einen Hinweis geben: Sobald Du anfängst, nachzudenken, stellst Du fest, dass fast alles in Deinem Leben nicht bewußt abläuft, nicht willentlich zu steuern ist. Ich mache noch einmal ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen am Steuer Ihres Autos und suchen in einer fremden Großstadt den Hauptbahnhof. Sie fahren auf einer der städtischen Hauptachsen, mehrspurig, es ist viel Verkehr, Sie müssen also aufpassen. Gleichzeitig achten Sie auf Wegweiser und müssen darauf bedacht sein, rechtzeitig die richtige Spur zu nehmen. Im Wagen sind Mitreisende, mit denen Sie sich unterhalten, und auch das Radio ist eingeschaltet. Alles in allem ist also Ihre Aufmerksamkeit gleichzeitig auf mehrere Dinge gerichtet. Aber Ihr Geist schafft das. Sie haben alles im Griff. Wie Sie nun so fahren, sehen Sie beim Wagen, der vor Ihnen fährt, hinten links und rechts unvermittelt zwei rote Lichter aufleuchten. Sie können sich nun überlegen, was das bedeutet und sich dann aufgrund Ihres Vorwissens daran erinnern, dass es sich bei diesen Lichtern um die Bremsleuchten handelt; ihr Aufleuchten zeigt an, dass der Fahrer vor Ihnen auf die Bremse tritt. Sie können sich nun weiter überlegen, ob das für Sie von Belang ist und falls ja, inwiefern. Und schließlich können Sie, logisch völlig korrekt, Konsequenzen ableiten: Wenn der vordere Wagen bremst, reduziert er seine Geschwindigkeit, was zur Folge hat, dass der Abstand zwischen Ihrem und dem vorderen Wagen sich verringert, falls Sie Ihr Tempo beibehalten. Logisch völlig korrekt können Sie daraus folgern, dass Sie auch bremsen müssen, wenn Sie nicht auf den Vorderwagen auffahren wollen. Sie können sich nun wieder überlegen, wie das Bremsen geht, dann den Willensentschluss fassen, dass Sie bremsen wollen und danach das entsprechende Manöver einleiten: Den Fuß vom Gaspedal nehmen und das Bremspedal drücken. Alle genannten Überlegungen sind vollständig richtig - trotzdem hätte es längst einen Auffahrunfall gegegeben, wenn Sie auf die geschilderte Weise fahren würden. In der realen Situation hätten Sie wahrscheinlich "instinktiv" reagiert, d.h. Ihr Fuß würde ohne bewusste Überlegungen, ohne ausdrückliche Willensentscheidungen die Pedale "von selbst" wechseln, und sehr wahrscheinlich würde Ihnen die ganze Reaktion nicht einmal ins Bewusstsein kommen. Im Alltag geschieht Ähnliches dauernd, und obwohl wir dabei unser Tun nicht bewusst willentlich steuern, handeln wir gleichwohl situationsgemäß. Dementsprechend hat die Alltagssprache ja auch Begriffe für dieses Verhalten; meistens nennt man es ein "automatisches Verhalten". Nun will ich diesen Begriff jedoch ausdrücklich nicht benutzten. In diesem Begriff des "automatischen Verhaltens" schwingt eine Erklärung mit, die vorgibt, zu wisen, wie es zu diesem Verhalten kommt. Es wird nämlich behauptet, wenn man etwas oft genug macht und übt und wiederholt usw., dann würde es so eingeschliffen, dass es zuletzt "automatisiert" sei. Ich bestreite das. In dieser Auffassung wäre das nicht-bewußte, nicht-willentlich gesteuerte Verhalten das Ergebnis bewußten, willentlichen Tuns. Doch wie soll das Funktionieren, zumal wir ja wissen, dass statistisch gesehen bewusstes und willentliches Handeln die absolute Ausnahme darstellt!

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Wir alle verfügen über eine Form von Perfektion, die uns von klein auf gegeben zu sein scheint: Das außerbewusste Handhaben von Wissen und Können. Genauso wie wir alle nicht "bewusst" gehen, schwimmen, Auto oder Rad fahren, genauso "unbewusst" (im weitesten Sinne) können Kinder lesen, schreiben, rechnen - wenn man sie lässt. Von dieser Tatsache her kann man gar nicht oft genug darauf hinweisen, dass auch das "lernende Kind" in der Regel nicht bewusst und willensgesteuert agiert. Das meiste Lernen erfolgt "selbstgesteuert" und ist "incidentell", d.h. beiläufig-begleitend, wie wir es besonders ausgeprägt beim Vorschulkind antreffen. Ich wiederhole eine schon gemachte Aussage: Kinder lernen umso mehr, je weniger sie belehrt werden! Das aber heißt: Bewusst-machende Erklärungen, durch die man Kindern "zeigt", "beibringt" wie z.B. "das Lesen geht", unterstützen den Lernprozess nicht positiv, sondern stören ihn. Genauso wie die Tänzerin aus dem Takt kommt, wenn sie bewusst auf die richtige Schrittfolge achten soll; genauso wie der Golfer mit Sicherheit den Schlag vergeigt, wenn man ihn fragt, worauf beim Schlagen zu achten ist; genauso kommen die kindlichen LeserInnen, RechtschreiberInnen und MathematikerInnen aus dem inneren Takt, wenn man versucht, ihnen ihre Fähigkeiten bewusst zu machen. PISA war ja nicht zuletzt auch darum ein Schock, weil die Ergebnisse das hartnäckigste gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Thema der letzten und der nächsten Jahre berührt: Das Thema, das unter dem Titel "Standort Deutschland" diskutiert wird. Was das mit der Grundschule zu tun hat? Die Grundschule - besser: Grund-Schule - bildet mit das Fundament für den "Standort Deutschland", jedenfalls für den Zeitraum in 20-30 Jahren. Irgendwie ist das inzwischen allgemein ins Bewusstsein gelangt und unter den Folgerungen, die aus PISA gezogen wurden, finden sich maßgeblich Überlegungen zur Vorschul- und Grundschulzeit. Doch wird hier m.E. aller Einsatz, der jetzt geleistet werden soll, wirkungslos verpuffen, wenn die Erneuerung der Grundschule nicht auch im Zentrum erfolgt - beim Lernverständnis. Gerade hier aber liegt noch vieles im Argen, haben wir doch, bei Lichte betrachtet, das 19. Jahrhundert noch nicht überwunden - jetzt, zu Beginn des einundzwanzigsten! Noch immer baut das vorherrschende Lernverständnis auf den Wert der Übung. Es dominiert das - dem Kind aufgezwungene - Nachahmungslernen, das sich am "didaktischen Dreischritt" orientiert: (1) Die Lehrerin zeigt, gibt, macht vor (2) Die Kinder wiederholen, ahmen nach (3) Die Kinder üben und üben solange bis der Stoff sitzt Dieses Nachahmungslernen mit anschließender Dauerübung ist jedoch nicht der didaktische "Königsweg", der uns in die Zukunft führen kann. Dieses aufgezwungenes Nachahmungslernen mit anschließendem Üben, Üben, Üben verfehlt das Können, das künftig gekonnt werden müsste. Seit Jahren warnen uns Zukunftsforscher wie z.B. Prof. Meinhard Miegel (vgl. "DIE ZEIT", Nr. 12 / 15. März 1991), dass in modernen Industriegesellschaften Ideen zur wichtigsten Ressource geworden sind und nur Ideenreichtum moderne Industriegesellschaften vor ihrem Absturz bewahrt: "Dabei wäre es eine verhängnisvolle Fehleinschätzung, innovative Kräfte als unerschöpfliche und damit stets verläßliche Quelle anzusehen. Vielmehr dürften sie in entwickelten Industrieländern die knappste Ressource überhaupt und ihrer Erschöpfung nahe sein. Jedenfalls signalisiert nicht zuletzt der Berg ungelöster Probleme einen existenzbedrohenden Ideenmangel. Die spektakuläre Wissensmehrung der jüngeren Vergangenheit hat hier viele auf eine falsche Fährte gelockt. Denn mit Wissen allein werden Probleme nicht gelöst. Ideen und ihre Durchsetzung sind etwas qualitativ anderes als Wissen."

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Diese Einsicht bricht sich jedoch erst allmählich Bahn. Noch immer dominiert in den Schulen ein formaler Leistungsbegriff. In einem Interview, das die damalige Hamburger Schulsenatorin Rosemarie Raab 1995 dem Magazin FOCUS (Nr. 13) gewährte, sagte sie: "Kreative Lösungen, Flexibilität, Engagement, soziale Kompetenz, experimentelles Handeln, vernetzendes Denken, Ausdauer, Frustrationstoleranz - all das, was die moderne Arbeitswelt abverlangt, bleibt schulisches Zufallsprodukt." Das ist auch heute noch so, zumal auch Frau Raab nichts dazu beitrug, dass sich das ändert. Unter dem Druck der Leistungsgesellschaft steht noch immer das Erreichen formaler Ziele im Vordergrund, dominiert der lehrerorientierte Klassenunterricht, dreht sich noch immer alles darum, den Kindern möglichst rasch möglichst viel Wissen zu vermitteln, und statt bei den Dingen zu verweilen und mit ihnen praktisch umzugehen, geht der Unterricht allzu schnell über zur Theorie, zum abstrakten Begriff. Unter den Zwängen einer wachsenden Stoffülle einerseits und der Forderung nach Lernökonomie andererseits schieben sich immer stärker Lehrmittel und Medien zwischen Kind und Wirklichkeit und halten ihm diese vom Leibe, anstatt sie ihm zugänglich zu machen. Sie fungieren immer seltener als Mittler zwischen Mensch und Sache, sondern ersetzen die letztere und täuschen deren Anwesenheit vor. So sind denn unsere Schulen immer seltener Orte der Anschauung und Stätten der Begegnung mit wirklichen Gegen-Ständen und Lebe-Wesen, sondern - wie WAGENSCHEIN es nennt - didaktisch hochgerüstete 'Instruktionsanlagen' und 'Belehrungsumwelten', die jedoch von Jahr zu Jahr weniger Erfolge zeitigen. PISA brachte es an den Tag. Deutsche Kinder können weniger als andere Kinder. Und da es in Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten weder an Institutionen, Personal oder Geld fehlt, ist zuletzt nur ein Schluss möglich: Deutsche Kinder können weniger, weil sie zu wenig gelernt haben. Das Lernen muss Ansatzpunkt aller Überlegungen sein. Doch gerade dieses - ich wiederhole mich - geschieht nicht. Man hält an alten Lernmethoden fest, obwohl es offenkundig ist, dass sie bei einem großen Teil der Kinder nicht verfangen. Man sieht in den erfolgreichen Kindern den Beweis für die Güte der Lernverfahren und verschiebt die Gründe für das Versagen der nicht erfolgreichen Kinder ins Herkunftsmilieu. Diese Erklärung scheint einleuchtend, doch ist sie keineswegs zwingend, denn es lässt sich auch fragen: Verhält es sich womöglich nicht umgekehrt? Sind erfolgreiche Kinder nicht wegen, sondern trotz der schulischen Lernverfahren erfolgreich, weil sie im häuslichen Milieu gefördert werden? Und diejenigen, die auf Förderung durch die Schule angewiesen wären, stagnieren, weil die üblichen Lernverfahren nicht taugen. PISA zeigt für Deutschland mit aller Klarheit, dass hierzulande - in einem Ausmaß wie nirgends sonst - in den Leistungsunterschieden sich das Herkunftsmilieu der Kinder spiegelt, gerade so, als ob die Kinder in der Schule nichts lernen, sondern nur bestätigt bekommen, was sie sich außerschulisch an Können angeeignet haben. Lernversager, Schulversager sind nichts Neues. Solche Kinder sind allen LehrerInnen vertraut, alle kennen Kinder, bei denen auch die beste Didaktik nicht verfängt. Doch statt diese Situation als Herausforderung anzunehmen und darüber nachzudenken, wird sie resignierend als nicht zu ändern hingenommen und vor allem als Ärgernis empfunden. Prototyp dieses Ärgernisses ist jener Rabauke, der beispielsweise sämtliche Bundesligaspieler kennt, der weiß, mit welchen Transfersummen diese Profis hin- und herverkauft wurden, wieviel Tore sie in der letzten Saison geschossen haben usw., der aber offensichtlich nicht imstande ist, sich eine einfache Grammatikregel zu merken. Da kann doch irgend etwas nicht stimmen! Wenn ein Kind die Intelligenz besitzt, um ausgesprochener "Bundesliga-Experte" zu sein, dann müßte

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diese Intelligenz eigentlich auch ermöglichen, eine simple Grammatikregel zu beherrschen. Doch genau dies klappt häufig nicht. Nun haben wir für diesen Sachverhalt zunächst einmal eine Erklärung: Das Kind ist in Sachen Grammatik schlicht nicht motiviert, während das in Fußballdingen ganz anders ist. Dazu kommt ein zweiter Faktor: Das Expertenwissen zur Bundesliga wurde ohne "didaktische Unterstützung" erworben. Niemand hat dem Kind dieses Wissen systematisch vermittelt, niemand hat es ihm "beigebracht" und niemand hat "geholfen". Im Falle der Grammatikregel soll das Lernen jedoch in "schulischer Weise" erfolgen. Hier wird das Lernen angeleitet und unterstützt durch eine professionelle Lehrkraft, die Didaktik und Deutsch "studiert" hat, die über ein Diplom verfügt usw. - aber häufig keinen Lernenerfolg erzielt. Ich habe mich gefragt, ob es für dieses Paradox eine Erklärung geben könnte. Auf der einen Seite sind Kinder Experten und Könner, ohne dass ihr Expertentum und ihre Könnerschaft didaktisch gezielt angebahnt wurden, auf der andern Seite versagen Kinder in Lerngebieten, um die sich die Schule intensiv und professionell-gekonnt bemüht. Nun - eine Erklärung habe ich keine, aber ich habe eine Vermutung. Mir scheint, es könne für das erwähnte Paradox einen anthropologischen Grund geben, d.h. einen Grund, der in der Natur des Menschen liegt. Wenn das der Fall wäre, dann müssten wir gleichsam den "Menschen an sich" betrachten, d.h. den Ur-Menschen. Anthropologisch gesehen sind wir ja immer noch Steinzeitmenschen, auch wenn wir über Flugzeuge, Zentralheizungen, Bücher usw. usw. verfügen. Über das Leben der Steinzeitmenschen weiß ich natürlich letztlich nichts - ich war damals ja nicht dabei. Aber einiges kann man sich vorstellen und wir dürfen sicher davon ausgehen, dass es damals z.B. keine Lebensmittelgeschäfte gab. Du konntest auch nicht auf den Markt, wenn du hungrig warst, da mußtest deine Nahrung in der freien Natur beschaffen. Das dürfte schwierig gewesen sein. Als Zwangsmitglied in der schweizerischen Armee mußte ich vor vielen Jahren einmal an einem sogenannten "Überlebenstraining" teilnehmen: Wir waren ohne weitere Hilfsmittel, ohne Proviantvorräte usw. draußen in der Natur und sollten ohne zivilisatorische Unterstützung überleben. Wir haben damals erfahren, dass wir das im Ernstfall vermutlich nicht schaffen würden: Wir wären schlicht verhungert oder hätten Regenwürmer und Schnecken essen müssen. Vielleicht denken Sie jetz: Wieso denn das? Es gibt doch eßbare Wurzeln. Sicher gibt es die - aber das Problem ist, dass die im Boden versteckt sind. Du siehst sie nicht. Was du siehst, ist Grünzeug und das nutzt dir nichts und den halben Wald umgraben, um eine eßbare Wurzel zu finden, kannst du auch nicht. Aber es gibt doch auch Vogeleier. Ja sicher gibt es Vogeleier, aber auch die sind versteckt. Die Vögel legen sie dir nicht vor die Füße, im Gegenteil, sie tun alles, damit du diese Eier nicht findest, sogar die Schalen der Eier sind mit Tarnfarbe versehen - damit du sie nicht findest! Aber es gibt doch Hasen, die man braten könnte. Ja sicher gibt es da Hasen. Aber glaubst du, die warten mitten auf einer Wiese bis du kommst und ihnen den Hals umdrehst? Nee, die sind auch gut versteckt. Und wenn du zufällig über einen stolperst, dann hopp ist er weg. In der Theorie läßt sich das alles ganz einfach an, in der Praxis aber ist es sehr sehr schwierig - und folgt einem Grundmuster: Das, was für dich relevant wäre, ist nicht sichtbar, ist bestens versteckt - im Hintergrund, im Verborgenen; während das, was offen zutage liegt, dasjenige ist, das dir nichts nutzt.

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Nun mußten die Menschen der Steinzeit ja nicht nur ihre Nahrung beschaffen, sie mussten auch sehr aufpassen, um nicht ihrerseits zur Nahrung für andere zu werden, denn damals gab es ja noch den Höhlenbären, den Höhlenlöwen und vor allem den Säbelzahntiger. Die Paläontologen können belegen, dass diese Raubtiere auch Menschen gefressen haben, wenn sie einen kriegen konnten. Man musste als Steinzeitmensch also dauernd auf der Hut sein, denn so ein Säbelzahntiger hat sein Kommen vermutlich nicht laut brüllend angekündigt. Die Bestie lauerte im Gebüsch versteckt und wenn du nicht aufgepaßt hast, dann hattest du sie hinterrücks im Genick. Also mussten die Steinzeitmenschen auch unter dem Aspekt der Vorsicht ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Versteckte, auf das Verborgene richten, denn was da offen zu Tage lag, war nicht das Bedrohliche. Von diesen Voraussetzungen her vermute ich, dass eine entsprechende Haltung beim Steinzeitmenschen gewohnheitsmäßig wurde, dass Menschen sich angewöhnten, das was offen zu Tage lag als irrelevant zu betrachten und das eigentlich Relevante, Überlebenswichtige im Hintergrund, im Versteckten zu suchen. Eine solche Haltung empfiehlt sich auch heute noch. Nehmen wir z.B. den Informationsbereich: Information, die laut daherkommt und dir mehr oder weniger aufgedrängt wird, ist stets Propaganda, Reklame, PR oder im besten Fall Hofberichtserstattung, d.h. irrelevant. Eigentlich relevante Information andererseits wird uns unter dem Titel Staats- bzw. Geschäftsgeheimnis vorenthalten. Und falls das Verschweigen in bestimmten Situationen nicht möglich ist, dann wird die Information möglichst versteckt, wird in juristischen oder medizinischen Kunstsprachen verklausuliert und ins Kleingedruckte der Verträge verlagert. Man sieht: Das eigentlich Relevante ist auch heute noch verborgen und das scheinen auch bereits die Kinder zu wissen. Gegenüber den Scheiniformationen - etwa der Werbung - entwickeln sie eine gewisse Resistenz und instinktiv verhalten sie sich so, dass sie dem, was da gleichsam "offiziell" daherkommt, mit Mißtrauen begegnen. Sie verhalten sich so, als wüssten sie, dass ihnen das eigentlich Wichtige vorenthalten wird. Und dieses Mißtrauen haben sie auch der Schule gegenüber. In den letzten Jahren erreichte der Frontalunterricht die Kinder bekanntlich immer weniger. Parallel zur immer größeren Raffinesse der Marketingstrategien, die das Kind und sein Taschengeld - vor allem aber den künftigen Konsumenten - überall umgarnen, sind in den Kindern auch Abwehrkräfte gewachsen. Sie sperren sich gegen "Information", welche mit großem Trara an sie herangetragen wird, egal, ob das vom Fernsehen oder von der Schule kommt. Man schilt sie dann als unaufmerksam und konzentrationsschwach, dabei gehen sie - anthropologisch betrachtet - einfach davon aus, dass das eigentlich Relevante im Verborgenen verbleibt (womit sie im Prinzip ja auch völlig recht haben). Und demgemäß lernen sie eher inzidentell, "beiläufig begleitend", also weniger dasjenige, was man ihnen "lehrplangemäß" - curricular durchdacht, didaktisch geplant und unterrichtspraktisch gesteuert - "beibringen" will, sondern das "Andere", das nicht im Vordergrund steht.

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Ich muss zum Schluss kommen. Kinder, jedenfalls Grundschulkinder, lernen nicht so, wie das "rationale Unterrichtskonzept" es vorsieht. Ihr Lernen ist bei Lichte betrachtet abschließend weder plan- noch steuerbar. Was die bildungspolitisch Verantwortlichen aller politischen Couleurs offensichtlich nicht verstehen können (oder wollen) ist die These, dass Kinder umso mehr lernen, je weniger sie belehrt werden. Daher brauchen wir eine neue Didaktik, eine Didaktik für selbstgesteuertes, inzidentelles Lernen. Wir müssen den Kindern mehr Raum geben, damit sie selbstgesteuert lernen können. D.h.: Wir brauchen die Bauecke - und LehrerInnen, die darauf vertrauen, dass Lernprozesse "von selbst" verlaufen und das Bauen alles andere ist, als "verlorene Arbeitszeit". In unserer Klasse haben wir im abgelaufenen Schuljahr im Sinne einer curricularen Fachdidaktik wenig gemacht. Die Kinder haben hauptsächlich gebaut und gespielt und die Lehrerin und der Lehrer schenkten ihnen Zuwendung und Anerkennung. Trotzdem sind wir sehr zufrieden mit dem, was die Kinder können und glauben, dass sich die Klasse wirklich sehen lassen kann. Selbstverständlich setzten wir auch den Computer ein, das habe ich am Anfang schon betont. Ich habe rein gar nichts gegen Computer im Unterricht. Doch zugunsten des Computers brauche ich kein Fürsprecher zu sein, der Computer hat seine behördliche und industrielle Lobby, die ihr Geschäft versteht. Ich muss mich für die Bauecke einsetzen, denn hier gibt es keine Lobby. Herr Kahl hat vorher die sich ausschließenden Alternativen, die der Begriff "oder" anzeigt, unter Beschuß genommen. Ich schließe mich seiner Überlegung an und möchte bekräftigen: Es geht nicht um Computerecke o d e r Bauecke; es geht um Computerecke u n d Bauecke. Wenn beides da ist und wenn beide Lernkonzeptionen, die mit dem Computer und der Bauecke verbunden sind, zum Tragen kommen, dann werden künftige PISA-Resultate weniger niederschmetternd sein. Ich weiß ja nicht, wie Sie PISA empfanden. Dass die Finnen besser lesen als die Schweizer oder als die Deutschen, hat mich persönlich nicht so sehr betrübt. Was mir viel mehr zusetzte war die Tatsache, dass in Deutschland schichtspezifische Faktoren eine derart prägende Rolle spielen. Das finde ich unglaublich bedrückend. Das verstärkte bei mir den Verdacht, dass die Schule den Kindern womöglich eh nichts beibringen kann, dass in der Schule einfach bestätigt wird, was die Kinder im häuslichen Umfeld lernen, dass alles, was sie können, außerhalb, vor und nach der Schule erlernt wurde. Aber da ich ein grundsätzlicher Optimist bin, möchte ich diesen Verdacht zerstreut haben. Die Schule hätte durchaus Mittel, sie müsste sie bloß nutzen. Eins dieser Mittel ist die Bauecke. Wenn Kinder hier intensiv und viel bauen, dann werden sie zu Baumeistern, die ausschließlich gerade Türme bauen. PS: Ich empfehle ausdrücklich Bausteine der Firma P.A.U.L. Gmbh, Ackerstr. 37, 51519 Odenthal

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Text-A24 Jürgen Reichen Von Pädagräueln und Didadogmen - Plädoyer für einen Paradigmenwechsel Vortrag anlässlich der Veranstaltung 20 Jahre Verein „Lesen und Schreiben“ Bern am 10. März 2007 in Bern Manchmal muss man zurücktreten, um nach vorne zu sehen - das ist einer der Sinnsprüche, die in der deutschen Bahn aushängen, und manchmal, möchte ich ergänzen, muss man mit dem Denken von vorn beginnen. Nur so bemerkt man die Schwachpunkte, die wir innerhalb des für uns "Selbstverständlichen" immer wieder übersehen. Daher möchte ich hier die Frage aufwerfen: Ist Illiterismus wirklich nur ein soziales und pädagogisches Problem, oder womöglich doch auch ein didaktisches? "Von Pädagräueln und Didadogmen" habe ich meine Ausführungen betitelt. Über "Pädagräuel" weiss Jürg Jegge allerdings sehr viel mehr als ich, seinen diesbezüglichen Ausführungen kann und will ich nichts hinzufügen. Dass sie bei Fehlentwicklungen - und Illiterismus ist ganz gewiss eine Fehlentwicklung - enormen Einfluss haben, scheint mir unbestritten. Das fängt ja vermeintlich "harmlos" an mit gedankenlosem Unverständnis und liebloser Gleichgültigkeit und endet mit latenter Verachtung bzw. subtilem Mobbing. Paart sich eine solche Einstellung dann noch mit einer sturen Normorientierung, dann haben betroffene Kinder keine Chance auf Schulerfolg, die "Negativkarriere" wird unausweichlich. Im Wissen um solche Zusammenhänge ist mein Thema jetzt aber die Didaktik, denn die "Didadogmen", die unser didaktisches Denken und Handeln im Schriftspracherwerb weit herum bestimmen, sind für viele Fehlentwicklungen ursächlich. Ich vertrete die These, dass an Illiterismus bzw. Legasthenie der traditionelle Leseunterricht schuld ist! Zu dieser These komme ich, weil ich von einem völlig anderen Lernbegriff ausgehe, als der traditionelle Leseunterricht. Das klassische Modell lehne ich ab. Sie kennen es: Dem Kind wird ein Zeichen (Buchstabe) gezeigt, man sagt ihm, wie dieses Zeichen „tönt“, dann soll es hintereinander gehängte Zeichen "zum Tönen" bringen, soll die „Töne“ möglichst schnell produzieren (zusammenschleifen) und dann dem Wort, das im guten Fall entsteht, einen Sinn unterlegen. Und dieses soll es üben und üben (häufig bis zum Überdruss), damit dieser Vorgang sich "automatisiert" und schliesslich beim kompetenten Leser so schnell abläuft, dass man von dem Vorgang nichts mehr merkt. Vor 18 Jahren habe ich in Basel in einem Volkshochschulkurs zur Rehabilitation "funktionaler Analphabeten" bzw. von "Spätlegasthenikern" wie es damals hiess, mitgearbeitet und betreute einen etwa 35jährigen Mann, der effektiv nicht lesen konnte. Er kannte zwar alle Buchstaben und ihren Lautgehalt, er hängte Buchstaben und Laute aneinander, wie es ihm empfohlen wurde, sogar relativ schnell, aber er konnte nicht lesen. Die „Sinnstiftung“ gelang ihm nicht. Ich war darob nicht erstaunt. Meine Selbsterfahrung (wie wahrscheinlich ebenso die Ihre) , aber auch klassische Befunde der Wahrnehmungspsychologie sowie neuere Erkenntnisse zur Neurophysiologie des Gehirns legen nämlich nahe: Lesen funktioniert nicht so wie das sogenannte "Erlesen", das man den Kindern im Fibelunterricht aufzwingt. Kompetente Leser verstehen mit einem einzigen Blick auf geschriebene Begriffe und Sätze den Sinn derselben - und

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zwar unmittelbar, sofort, ohne dass sie irgend ein willentlich-bewusstes inneres Tun in Gang setzen müssen (sog. „Blitzlesen“). Ein kompetenter Leser verfügt über ein implizites Können - er muss nur auf Text blicken und versteht ihn im gleichen Augenblick. Wenn ich mich selber beim Lesen beobachte, dann habe ich eigentlich gar nicht das Gefühl, dass ich lese, ich habe eher umgekehrt das Gefühl, dass ich vom Text "belesen", "angelesen" werde - man verzeihe mir, meine sprachliche Hilflosigkeit - jedenfalls tue ich bewusst nichts anderes als auf den Text zu blicken und dann werde ich von diesem gleichsam "angesprungen", es widerfährt mir Lesen, der Text drängt sich mir auf, und ich kann mich gar nicht entziehen. Zugegeben: Selbsterfahrung und -beobachtung bleiben diffus, trotzdem ist eindeutig, dass ich nichts von dem tue oder erlebe, was der Fibelunterricht betreibt: Ich bilde keine Lautreihe entlang der Buchstabenreihe! Nun behaupten natürlich auch Vertreter des Fibelansatzes nicht, dass „Erlesen“ ein kompetentes Lesen sei, sie behaupten lediglich, dass das „Erlesen“ eine notwendige Vorstufe des kompetenten Lesens sei. Inzwischen wissen wir aber, dass dem so nicht ist: Die Hirnforschung fand zwei Hirnzentren, in denen Leseinput verarbeitet wird, nämlich einen Ort für langsames, buchstabenweises "Erlesen" und einen Ort für sehr schnelles "Blitzlesen". Da es keine Hinweise dafür gibt, dass das Hirnareal zum „Blitzlesen“ abhängt vom Areal des „Erlesens“ bzw. dass „Blitzlesen“ ein Aufbauprodukt von „Erlesen“ darstellt, bedeutet das: Die langsame, buchstabenweise Form braucht es nicht. Es gibt sie nur, weil man die Kinder zu Beginn des Prozesses hierzu gezwungen hat. Kinder, die nie zum "Erlesen" gezwungen worden sind, sind von Anfang an und durchgehend "Blitzleser". Wie das im Einzelnen vonstatten geht, kann ich hier aus Zeitgründen freilich nicht erläutern. Ich verweise lediglich stichwortartig auf mein Konzept „Lesen durch Schreiben“, wonach man durch Schreiben lesen lernt. Die frühere Vorgehensweise, bei der die Kinder zuerst „lesen“ lernten und erst später schreiben, ist falsch. Das zeigt bereits ein schlichter Hinweis: Man kann ein Wort erst dann lesen, wenn dieses Wort vorher geschrieben wurde (von mir selber oder von jemand anderem). Allem Lesen muss grundsätzlich das Schreiben vorausgehen, ein Text muss zuerst geschrieben werden, ehe man ihn lesen kann! So schlicht dieser Hinweis auch ist, er ist unabweisbar und von erheblicher Relevanz. Denn weil zuerst zu schreiben ist, ehe man lesen kann, kann man vermuten, dass vor Jahrtausenden als erstes nicht das Lesen, sondern das Schreiben „erfunden" worden ist. Dabei war das keine „technische Erfindung", wo lediglich Sachzwänge zu beachten waren, als „kognitive Erfindung" musste das Schreiben der Funktionsweise unseres Denkens entsprechen. Es muss da eine Passung geben zwischen dem „System Schrift" und dem Funktionieren unseres Gehirns. Das Konzept „Lesen durch Schreiben“ belegt diese Passung. Dabei ist im Zusammenhang mit Illiterismus nicht nur bemerkenswert, dass die Kinder „durch schreiben“ lesen lernen, sondern dass sie am Anfang ihrer Schreibversuche alle jene Fehler machen, wie sie auch die Legastheniker zeigen. Bei unseren Kindern verschwinden diese Fehler jedoch recht bald, im Gegensatz zu den „Legasthenikern“, bei denen die Probleme bestehen bleiben. Da stellt sich natürlich die Frage: Warum? Als Ursachen für Legasthenie wurden bisher Umwelteinflüsse, Defizite in der visuellen und auditiven Informationsverarbeitung sowie genetische Faktoren vermutet. Inzwischen wurde die Hypothese einer genetischen Determination von Legasthenie relevant, insbesondere seit man mögliche Gene identifizieren konnte. So gelten mittlerweile zwei Gene und sieben weitere

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Regionen auf den Chromosomen 1, 2, 3, 6, 7, 11, 15 und 18 als gesichert. Häufig wird das Gen DCDC2 auf Chromosom 6 für die Entstehung einer Legasthenie verantwortlich gemacht, aber auch das Gen DYXC1 kommt in Frage. Was hat das didaktisch für Konsequenzen? Wird akzeptiert, dass zum Verständnis von Prozessen auch Erkenntnisse beitragen, die aus Störungen des Prozesses gewonnen wurden, dann liefern auch Erkenntnisse der Legasthenieforschung Antworten zur Frage, wie der Schriftspracherwerb erfolgt. Das aber bedeutet: Wird Legasthenie durch Gendefekte verursacht, dann gilt der Umkehrschluss: Der Schriftspracherwerb wird genetisch mitgesteuert. Bestimmte Gene bewirken den Schriftspracherwerb, sind diese Gene beschädigt/verändert/fehlend, dann scheitert er. Angenommen, das sei so. Dann ist doch die logische Konsequenz, dass man den natürlichen, genetisch-determinierten Prozess „laufen lassen“ sollte, d.h. dass man didaktisch nicht eingreifen darf. Das geschieht bei „Lesen durch Schreiben“ (und ist trotz der beeindruckenden Erfolge des Konzepts ein Hauptgrund dafür, warum viele LehrerInnen keinen Zugang dazu finden). Wir vermitteln keine „Lesetechniken“ - schon gar nicht durch wiederholendes Üben - sondern orientieren jegliche Lektüre strikte an vielfältigen Verstehensprozessen unter Einschluss einer breit angelegten Denkerziehung. Etwas salopp formuliert: Wir gestalten den Unterricht so, dass die Kinder das Lesen „lernen“, ohne dass man mit ihnen einen Leseunterricht betreibt. Und - und das ist eine weitere Konsequenz dieser Vorgehensweise - wir sind davon überzeugt, dass Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb u.a. auch eine Folge von schlechtem bzw. verfehltem Unterricht ist. Die traditionelle Schule organisiert das Lernen als eine Angelegenheit, die bewusst und willentlich gesteuert abläuft. Den Kindern werden Sachverhalte erklärt, die sie sich aneignen sollen. Deshalb werden unzählige Übungen usw. ersonnen, um diesen Prozess zu unterstützen. Geht man jedoch davon aus, dass dieser Prozess eine genetische Grundlage hat, dann muss man folgern, dass er implizit (also nicht bewusst und nicht willentlich steuerbar) verläuft und durch bewusst ablaufende Massnahmen nicht unterstützt, sondern gestört wird. Wenn der Schriftspracherwerb eine genetische Grundlage hat, dann gibt es in unserem Genbestand ein "Gen", das den Prozess des "Leserwerdens" steuert. Allerdings ereignet sich dieser Prozess nur, sofern das „Lese“-Gen „eingeschaltet“ ist. Eingeschaltet aber wird es durch Schreiben. Ich kann dies aus Zeitgründen hier nicht näher erläutern. Für mich ist die Hypothese einer genetischen Determination des Schriftspracherwerbs plausibel, sie ist die Grundlage für das Konzept „Lesen durch Schreiben“ und Anlass, einen Paradigmenwechsel zu fordern: Nachdem 500 Jahre Leseforschung, -didaktik, -methodik auf den gleichen Grundannahmen beruhten, (und wir noch immer Lösungen zu den gleichen Problemen wie etwa 1920 suchen), denke ich, es müsse legitim sein, diese Grundannahmen jetzt einmal prinzipiell in Frage zu stellen und zu hinterfragen (wobei dies aus Zeitgründen wiederum nur arg verkürzt möglich ist). Traditionelle Annahmen waren bislang u.a.: - Lesen lernt man durch lesen, weshalb Leseunterricht erforderlich ist - Lesenkönnen wird mit Bewusstsein und Willensanstrengung gelernt (und kann mithin auch

gelehrt werden) - Entscheidende Voraussetzungen sind Buchstaben-/Lautkenntnisse - dabei ist systematisches Üben nützlich

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- erste Stufe von Lesekompetenz ist das synthetisierende (d.h. Buchstaben hintereinanderhängende) „Erlesen“, das von der Lehrerin über lautes Vorlesen kontrolliert wird

- vollentfaltetes Lesen („Blitzlesen") ist ein ein späteres Können, das durch „einschleifen" „automatisiert" wurde, d.h. als ursprünglich willentlich-bewusst gehandhabtes Können ins Unterbewusste „absank"

Ich teile diese Annahmen nicht. - Lesen lernt man durch schreiben, weshalb „Schreib“unterricht erforderlich ist - Lesenkönnen wird auf genetischer Grundlage durch implizites und incidentelles lernen, also

ohne Bewusstsein und Willensanstrengung erlernt (und kann mithin nicht gelehrt werden). Lehrbar ist das Schreiben, das muss auch getan werden.

- Entscheidende Voraussetzungen sind nicht Buchstaben-/Lautkenntnisse (solche sind sekundär oder gar tertiär), sondern phonologisches Können sowie Wahrnehmungs-, Sprach- und Denkkompetenz (weshalb bei „Lesen durch Schreiben“ auch keine Leseübungen und Buchstabentrainings gemacht werden, sondern eine „kognitive Aktivierung“ im Stil einer regelmässigen Denkerziehung angesagt ist)

- systematisches Üben ist schädlich, lediglich eine funktional-begleitende Mitübung ist nützlich - „Erlesen“ und lautes Vorlesen sind eine Fehlleistung und müssen vermieden werden - vollentfaltetes Lesen („Blitzlesen") ist ein ausserbewusstes Können, das implizit abläuft und ohne

die Vorstufe des „Erlesens“ zustande kommt und weder „Einschleifen" noch „Automatisierung" erfordert, es erfasst Wörter ganzheitlich-gleichzeitig Wörter und hängt nicht in einem linearen Hintereinander Buchstaben aneinander, darüberhinaus zielt es in der Sinnentnahme direkt auf die begriffliche Ebene, benötigt also kein „inneres Sprechen" bzw. sich selber Vorlesen

Es stellt sich folgende Frage: WSEIO KNÖNEN SIE DEIESN STAZ LSEEN; OWHOBL DIE BCUTHSAEBN NCHIT IN DER RITHCIEGN RIEHNEFOGLE SHETEN? Die traditionelle Didaktik bleibt hier die Antwort schuldig. Das Beispiel zeigt nämlich, dass Lesen nicht so funktioniert, wie bisher angenommen wurde. Das führt zu einer Anschlussfrage: Was ist dann aber zu tun, damit man „Blitzleser“ wird? Antwort: Man muss schreiben lernen. Dabei sind didaktische (schulische) Massnahmen möglich, sinnvoll und erforderlich. Hier sind nämlich die Verhältnisse andere, denn die „Verwandtschaft" von Lesen und Schreiben ist nicht so beschaffen, wie es herkömmlich gesehen wird. Gewöhnlich denkt man ja, dass Lesen und Schreiben so aufeinanderbezogen sind, dass jeweils das eine das „Umgekehrte" des anderen sei. Dieses ist aber nur in kommunikativer Hinsicht so, also im Verhältnis von Sender/Empfänger. Der Sender schreibt, der Empfänger liest, und weil es für beide um den gleichen Text geht, leisten beide in semantischer Hinsicht Vergleichbares. Analysiert man aber die beiden Akte des Lesens und Schreibens in psychologischer Hinsicht, dann zeigen sich grundsätzliche Differenzen: - Schreiben ist nichts, das mir „von selbst" geschieht. Es ist ein aktiver, bewusster, willentlicher,

mit Motorik verknüpfter Akt, bei dem Wörter nicht als Ganze produziert werden können, sondern einzelne Buchstaben in zeitlichem Hintereinander gemalt, geschrieben, gesetzt, oder getippt werden müssen. Schreiben hat äussere Anteile und daher ist das Schreiben „zu sehen", ich kann dem Kind zeigen und vormachen, wie es geht. Didaktische Maßnahmen sind möglich und förderlich.

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- Lesen hingegen „geschieht mir, wenn mich Wörter anspringen". Es ist ein rezeptiver, nicht-

willentlicher, nicht-bewusst gesteuerter, rein geistiger Akt, bei dem zeitlich gleichzeitig im erkennenden Wahrnehmen begriffliche Bedeutungen erfasst werden. Äusserlich ist hier nichts zu sehen. Lesen ist ein rein geistiger Akt, den ich nicht „zeigen" kann, den ich nicht erklären kann und den ich daher auch nicht „lehren" kann. Didaktische Maßnahmen führen lediglich zu Störeinflüssen.

Soll ein Kind „Blitzleser" werden, dann muss es also schreiben lernen - und sonst nichts. Schreiben lässt sich erklären und vormachen. Da es mit motorischem Tun verbunden ist, kann es aktiv, willentlich, bewusst und im Rahmen eines zeitlichen Hintereinanders „gemacht" werden. Dabei müssen weder Buchstabenkenntnisse speziell trainiert werden (das Kind kann ja auf einer Buchstabentabelle jederzeit nachsehen) noch sind irgendwelche „Lese-Übungen" erforderlich. Schreiben genügt, denn dieses Schreiben legt die Grundlagen und ist der Auslöser für das Lesenkönnen. Was hat das didaktisch für Konsequenzen? Man muss dem Konzept „Lesen durch Schreiben“ folgen und darf vor allem keine lesetechnischen Übungen machen. Solche Übungen, wie sie auch für den weiterführenden Leseunterricht empfohlen werden (Signalgruppenübungen, Flattersatzübungen, Blitzen, Blickspannweite vergrössern usw.) werden seit 50 Jahren empfohlen, ohne dass diese Übungen aber wirklich erfolgreich sind. Ich wiederhole nochmals: Der 35-Jährige, den ich vor Jahren in Basel betreute, kannte alle Buchstaben, er versuchte auch, sie zu „erlesen“, doch gerade das gelang nicht. Erfolgreicher Leser wurde er durch konsequentes Schreiben - doch das ist eine andere Geschichte.

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Text-B01 Jürgen Reichen / Interwiev mit Dr. Basil Schader erschienen in sabe informiert, 2/1992 Sachunterricht und Werkstatt Dr. Jürgen Reichen, Autor von «Sachunterricht und Sachbegegnung», beschäftigt sich auch intensiv mit Werkstattunterricht. Zu diesem Thema befragte ihn Dr. Basil Schader, Sprachdidaktiker am Primarlehrerseminar Zürich. Wir drucken dieses Interview hier in gekürzter Fassung.

*** BS: Der Werkstattunterricht läuft heute Gefahr, zur modischen Methode zu verkommen, speziell durch die Fertigwerkstätten, die man aus dem Ordner zieht und in der Klasse auflegt, ohne dass man sich viele Überlegungen dazu macht. Welche pädagogischen und allgemeindidaktischen Überlegungen dürften Deiner Ansicht nach nicht fehlen, wenn man mit einer Werkstatt arbeitet? JR: Das ist eine schwierige Frage. Zunächst ist zu sehen, dass auch der Werkstattunterricht Unterricht ist, und alles was man beim Unterricht bedenken muss, muss man auch beim Werkstattunterricht bedenken. Man muss also Klarheit haben über die Lernziele, die man anstrebt, über die Inhalte, die man vermitteln will, und man muss sich organisatorische Fragen überlegen. Beim Werkstattunterricht sind nur diese organisatorischen Fragen eigentlich neu, denn jetzt stellt sich das Problem: Wie kann ich die Arbeitsaufträge in eine Form bringen, dass die Kinder möglichst selbständig damit zurechtkommen und ich den Unterricht nicht mit unzähligen Zusatzerklärungen belasten muss. Die Gefahren, die Du angeschnitten hast, sehe ich auch, glaube aber weniger, dass sie auf der Konservenebene liegen. Auch die bisherigen Lehrmittel sind in gewisser Weise Konserven. Die Frage ist nur, welche Qualität diese Konserven haben. BS: Du bist eigentlich der grosse Theoretiker des Werkstattunterrichts, und jetzt gibst Du auch selber Schule. Ergaben sich aus Deiner schulpraktischen Tätigkeit neue Aspekte, die bedeutsam sind für die Praxis des Werkstattunterrichts? JR: Ja.- Zwei Sachen sind für mich sehr deutlich anders geworden, seit ich selber unterrichte. Als ich noch am Schreibtisch arbeitete, standen für mich didaktische Aspekte im Vordergrund; aber jetzt hat ganz deutlich eine Verlagerung auf die Pädagogik stattgefunden, d.h. der pädagogische Bezug zu den Kindern rückte in den Mittelpunkt. Und das andere: Ich bin, seit ich selber Werkstattunterricht betreibe, eigentlich noch «radikaler» geworden. Das heisst, ich habe die Ideen, die zum Werkstattunterricht geführt haben, noch weiter vorangetrieben und räume den Kindern heute eine viel grössere Freiheit ein als ursprünglich gedacht. BS: Wo kommen die Aspekte von Geborgenheit und Gemeinschaft in Deiner Pädagogik vor? JR: Sie kommen darin vor, dass man dem Kind nur Freiraum geben kann, wenn man ihm gleichzeitig vertraut, dass es den Freiraum nicht missbraucht. In der Schule haben wir ja einen Amtsauftrag, den Lehrplan, und am Ende des Schuljahrs muss das Kind gewisse Sachen können. Ich muss also sicherstellen, dass die Lehrplanziele erfüllt werden. Deswegen kann ich wirklichen

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Freiraum nur gewähren, wenn ich echtes Vertrauen zu den Kindern habe. Dieses Vertrauen spüren die Kinder, es mobilisiert ihre Kräfte und trägt sie im Freiraum, so dass sie sich darin geborgen fühlen. Was die Gemeinschaft betrifft: Sie ergibt sich aus der Zusammenarbeit der Kinder untereinander. In der Werkstatt ist das Sozialklima ausgesprochen gut: Die Kinder unterstützen sich gegenseitig, sind hilfsbereit und freundlich zueinander. BS: Zum Schluss die Frage, was Du einer jungen Lehrerin, einem jungen Lehrer, die/der mit Werkstattunterricht arbeiten möchte, besonders ans Herz legen würdest? JR: Ich möchte zweierlei betonen.- Erstens sollten wir uns bewusst bleiben, dass die Schule ein Ort ist, wo die Kinder etwas lernen sollen, nicht ein Ort, wo sie schon alles können müssen. Nur dieses Bewusstsein gewährt jene Fehlertoleranz, die Kinder auf dem Weg ihres Lernens belässt. Wir Lehrerinnen und Lehrer dürfen die Kinder dabei begleiten - und mitlernen. Mitlernen heisst aber: Auch wir sind unterwegs, müssen nicht perfekt sein. Wer nicht perfekt sein muss, kann sich entspannen, gerade damit ist dem Unterricht aber sehr gedient. Das zweite: Auf das Kind schauen. Der frühere Unterricht hat aus meiner Sicht die Schwäche gehabt, dass eigentlich das Tun des Lehrers im Mittelpunkt gestanden hat. Ich habe früher manchmal derart perfekte Lektionen gesehen, bei denen die Kinder fast nur Statisterie waren, Stichwortlieferanten für den Lehrervortrag. So darf es aber nicht sein. Die Lehrperson muss ihre eigene Bedeutung relativieren und auf die Kinder schauen, auf die Kinder hören, den Kindern vertrauen und von den Kindern lernen. Das lohnt sich - für die Kinder wie für uns.

Jürgen Reichen, 1939 in Basel geboren und aufgewachsen. Psychologiestudium in Basel und Primarlehrerpatent. Unterrichtet z.Z. an der Primarschule Möblin/AG und ist regelmässig als Kursleiter in der Lehrerfortbildung tätig. Spezialgebiete: Lernpsychologie und Grundschuldidaktik. Autor der Erstlesemethode «Lesen durch Schreiben» (erschienen im sabe Verlag), die in der Schweiz und in Deutschland zunehmend Anerkennung findet.

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Text-B02 Jürgen Reichen: / Interview mit Frauke Langhorst 20.07.1994 / Lernwerkstatt Wegenkamp / Hamburg Langhorst: Ich möchte in meiner Arbeit auf die Lehrerpersönlichkeit eingehen, die dein Lehrgang impliziert: Wie muß eine Lehrerpersönlichkeit strukturiert sein? Du hast in einem Artikel geschrieben: "Man kann nur LehrerInnen zu diesem Lehrgang raten, die in der eigenen Biographie dem Prinzip der Offenheit verpflichtet sind". Was muß man darunter verstehen? Reichen: Na ja. Man muß ehrlich sein, man muß tolerant sein, man muß neugierig sein - das wären für mich alles Elemente von Offenheit, dazu kommt Offenheit für das Kommende in einem optimistischen Sinne, Offenheit auch für die Ansichten anderer. Und schließlich denke ich: echt muß man auch noch sein. Langhorst: Dieses "echt" es wird auch manchmal von "wirklich" gesprochen würd ich gern noch anders füllen. Wenn ich mich frage, ob ich diesen Lehrgang anwenden kann, wie kann ich mich überprüfen, ob ich diese "echte" Überzeugung habe, diese "echte" Offenheit? Reichen: Das weiß ich nicht, aber ich denke, wer "Lesen durch Schreiben" nicht machen kann, dürfte auch sonst nicht Schule geben. Langhorst: Also im Grunde ist jeder Lehrer/ jede Lehrerin dazu in der Lage? Reichen: Man sollte schon meinen: Ja. Nur ist es leider nicht immer der Fall. Aber eigentlich erwarte ich es von allen LehrerInnen! Langhorst: Eigentlich ... Reichen: Na ja, offen zu sein ist eine Grundeigenschaft, die ich von jeder Lehrerin und jedem Lehrer erwarten würde. Langhorst: " ... würde ..." Ich bezweifle, ob das der Realität entspricht. Reichen: Ich zweifle auch. Leider ist es häufig nicht der Fall. Echtheit heißt ja: ich selbst sein, anderen nichts vormachen, vor allem, sich selbst nichts vormachen. Es bedeutet natürlich nicht, daß ich meine Gehässigkeiten unverhüllt auf die Kinder loslasse. Wir müssen auch ein Stück Rücksicht nehmen. Wenn man mal Kopfweh hat, muß man sich zusammenreißen. Im Prinzip ist das auch eine Form von Verstellung, aber die wäre noch akzeptieren. Langhorst: Also geht es wieder um eine Balance? Reichen: Es geht immer um eine Balance, ja. Und offen ist für mich immer: offen und ehrlich. Offen für Entwicklungen, offen für die Kinder und ihre Wünsche. Natürlich ist das manchmal eine Ermessensfrage. In einem Seminar hat man mir mal heimlicherweise und scherzeshalber einen Zettel an den Rücken geklebt und da hat es drauf geheißen: "Wer nach allen Seiten hin offen ist, kann doch wohl nicht ganz dicht sein." Es geht wirklich um Balance.

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Langhorst: Eine weitere Entscheidungsfrage, vor der die Lehrerin/der Lehrer bei "Lesen durch Schreiben" immer wieder stehen: wo bringt sie eigene Materialien mit in den Unterricht ("offenes Prinzip", sie hat die Entscheidung) und wo beginnt diese "Gefährliche Mischung" von Lehrgängen, vor der du doch sehr resolut gewarnt hast? Reichen: Weil "Lesen durch Schreiben" vom Material her als Baukasten konzipiert wurde, ist klar, dass jede Lehrerin Eigenes ergänzend dazu nehmen darf, ja eigentlich muß, denn mit meinem Material allein kommt man im Unterricht vermutlich nicht aus. Aber die Angebote, die man dazu nimmt, sollten dem "Geist" von "Lesen durch Schreiben" nicht zuwiderlaufen, sollten die "Essentials" wie ich es nenne, nicht verletzen. Dabei geht es um folgendes: Leitidee ist der mündige Bürger, nicht der fügsame Untertan. In der Erkenntnistheorie folgen wir Platon statt Aristoteles. Im Einzelnen verlangt das Konzept: - durch eigenes schreiben lesen lernen - kein ausdrückliches lautieren, höchstens innergedanklich - mit Kindern erst lesen, wenn sie es können - still lesen, lautes Vorlesen verboten - keinerlei Buchstabentraining - nicht üben, durch Einsicht lernen - keine erzwungene Nachahmung, das eigene Denken der Kinder zur Grundlage des Lernens

machen - BreitbandLernangebot in einem Werkstattunterricht mit umfassender Kompetenz- und

Aufgabendelegation (Chefs) - Einsatz des Reichen-Materials Langhorst: Was bedeutet "Einsatz des Reichen-Materials"? Soll nur das Reichen-Material verwendet werden? Ich habe das bisher so verstanden, daß man schon auch eigene Materialien, die diesen Grundsätzen entsprechen, mit verwenden kann. Reichen: Das ist richtig. Das habe ich vorher ja schon gesagt. Einsatz des Reichen-Materials heißt nicht nur Reichen-Material, aber es heißt auf jeden Fall Reichen-Material. Es gibt Leute, die behaupten, sie machen "Lesen durch Schreiben", benutzen aber überhaupt nichts von mir. Langhorst: Nur die Tabelle... Reichen: Ja, oder noch nicht mal die. Die machen irgendetwas, aber das ist nicht mein Konzept. Mein Konzept, das liegt im Material, das ist ein Breitband-Lernangebot und wird - fürchte ich - gar nicht wirklich gewürdigt. Langhorst: Ich denke, es braucht auch sehr viel Zeit, sich mit dem Material auseinanderzusetzen. Und mit den Gedanken, die dahinter stecken. Reichen: Ich könnte dir die lernpsychologische Tiefenstruktur, die darin steckt, aufdecken. Das ist nicht einfach ein Sammelsurium von Arbeitsblättern, sondern es geht von einem bestimmten Lernmodell aus, wobei das Entscheidende ist, Wechselwirkungen und Synergien zu nutzen. Aber

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natürlich kann man das ergänzen, mach ich ja selber auch, ich hab ja selber auch noch Fremdprodukte mit dabei. Langhorst: Nun ein weiteres Thema. Was vermag die Lehrerin/der Lehrer zu bewirken, wenn die Kinder - trotz der geöffneten Unterrichtsform - ihre "innere Zustimmung" verweigern? Scheitert das Prinzip an unmotivierten Kindern? Was kann die Lehrerin noch ausrichten, wenn viele unmotivierte Kinder in der Klasse sind? Reichen: Wenn ein Kind nicht motiviert ist, kann die Lehrerin nichts ausrichten, dann lernt das Kind nichts, das ist einfach so. Wobei, du hast am Anfang gefragt, was ist, wenn es die Zustimmung verweigert. Das ist vielleicht etwas anderes. Ich hätte das jetzt anders interpretiert als Motivation. Langhorst: Ja, dann führ das ruhig noch einmal aus... Reichen: Nicht wahr, wenn die Kinder in innerer Rebellion oder Abwehrhaltung sind oder die Leistung verweigern oder blockiert sind, dann geht nichts. Das heißt aber noch nicht, daß das Konzept scheitert. Das Konzept sieht ja Möglichkeiten vor. Wenn Kinder nämlich so, wie ich es vorschlage, wirklich 10 Wochen lang arbeiten, basteln, spielen und lernen dürfen, was sie wollen und nur fünf Wörter schreiben müssen am Tag oder drei, wenn sonst nichts verlangt wird von ihnen, dann ist "Verweigerung der Zustimmung" gar kein Problem. Aber die meisten Lehrerinnen mißachten diese Empfehlung und verlangen sehr viel von den Kindern, sind also gar nicht offen. Die tun nur so und meinen, wenn eine Stunde sogenannte Freiarbeit angeboten wird, die meistens auch noch stark reglementiert wird, das sei nun offener Unterricht. Langhorst: Aber demnach muß darin ja auch eine große Schwierigkeit für den Lehrer liegen, diese Offenheit wirklich zu haben, die in diesem Lehrgang gefordert ist. Also das scheint dann ja auch ein Knackpunkt zu sein oder eine sehr hohe Anforderung an die Lehrerperson. Reichen: Das ist ein Knackpunkt, gewiß, aber es ist keine hohe Erwartung, es ist auch keine Schwierigkeit, es ist schlicht und einfach eine Frage des Mutes. Es ist gleichsam wie in der bekannten Geschichte von der Klasse am Bach: eine Schulklasse kommt auf einer Wanderung an einen kleinen Bach, und da gibt es sicher ein paar Kinder, die springen über diesen Bach, es gibt ein paar Kinder, die ganz genau wissen, daß sie da nicht drüber springen, die restliche Gruppe denkt, sie springt rüber und springt dann doch nicht, da hat man alles. Dann hat man die, die einen Riesenanlauf nehmen, mit großem Tempo an den Bach ranlaufen und dann doch nicht springen. Dann hat es die, die springen vor lauter Angst und liegen nachher im Wasser und dann hat es die einen oder anderen Besonnenen, welche sehen, man kommt darüber, die anderen sind auch darübergekommen, die sind ja am anderen Ufer noch ein Stück über den Bachrand hinausgesprungen, hatten also Reserve, mithin könnte der Bach sogar noch etwas breiter sein und man würde das trotzdem schaffen, die springen dann. Und bei "Lesen durch Schreiben" ist es ähnlich. (Pause) Nimm eine drittklassige Firmenkantine und vergleiche sie mit Bocuse. Da kochen zwar beide "nur mit Wasser", trotzdem besteht bezüglich der lukullischen Qualität der angebotenen Speisen ein ganz eklatanter Unterschied. Bocuse weiß, daß gewisse Dinge einfach nicht gehen. So kann man z.B. mit aufgetautem Tiefkühlgemüse einfach keine gute Minestrone kochen. Das geht nicht. Gewisse Dinge sind unvereinbar. Und daher kann in der Schule nicht gleichzeitig fremd oder

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selbstgesteuert gelernt werden. Entweder es lernen die Kinder unter der Anleitung der Lehrerin fremdgesteuert oder sie lernen selbstgesteuert. Und da muß man sich entscheiden. Es geht einfach nicht beides. Langhorst: Wobei es, denke ich, nie eine wirkliche selbstgesteuerte Lernform geben kann, es sind ja immer fremdgesteuerte Elemente mit dabei, eine Reinform kann es ja gar nicht geben. Reichen: Gut, das ist richtig. Es ist letztlich immer ein Mix. Von daher muß ich ein besseres Beispiel suchen. Trotzdem bleibt meine Antwort: um "Lesen durch Schreiben" durchzuführen ist nicht ein hochkompliziertes "knowhow" erforderlich, es braucht auch keine riesigen Psychologie-Kenntnisse oder angeborenes "Naturtalent", es braucht lediglich eine Weile lang Mut, sich auszusetzen und das Wagnis einzugehen - und 20-40 Jahre der eigenen beruflichen Biographie über Bord zu werfen. Langhorst: Wie weit geht es, den Kindern das Lernen zu überlassen bzw. wann sollte der Lehrer in den Handlungs- bzw. "Nicht-Handlungsprozeß" eingreifen? Du hast eben von 10 Wochen geredet. Geht das jetzt danach immer so weiter? Reichen: Nein, das geht nicht immer so weiter. Die Schule hat ja einen Auftrag, der in den Lehrplänen formuliert ist und da gibt es gesellschaftlich erhobene Anforderungen an die Kinder, und da wird das Kind nicht gefragt, ob es sich diesen Anforderungen stellen will oder nicht, die Gesellschaft erzwingt es. Diesem "Zwang" entgehen wir nicht. Aber er ist nicht alles: denn unsere Gesellschaft versteht und definiert sich als offene Gesellschaft, wo die Gewährleistung persönlicher Freiheit und persönlicher Lebensgestaltung zu den hohen politischen Werten gehört, und deshalb gesteht man auch dem Kind schon eine altersgemäße Selbständigkeit zu. Auch Kinder dürfen schon Wünsche äußern, dürfen unter Alternativen wählen usw. und ich möchte das den Kindern maximal zugestehen. So weit es nur irgendwie geht, laß ich die Kinder machen. Ich biete ihnen in der Regel ein Angebot, verpflichte sie aber nicht darauf. Verpflichtet sind sie bloß, ihr Lernen voran zu treiben, und das können die! Langhorst: Auch wenn es für uns scheinbar als Krachmachen oder als Spielen aussieht? Reichen: Also spielen ist unbedenklich. Langhorst: Ja, spielen ist unbedenklich. Aber es gibt unerwünschte Formen von Nicht-Arbeit, ich habe es in der Klasse erlebt: sich nicht konzentrieren können, ständig zu anderen Kindern rennen und diese stören, sich nicht an die Regeln halten, die eingeführt werden... Reichen: Sind's vielleicht zu viele Regeln? Langhorst: Nein, ich glaube nicht. Es waren halt einige Kinder in der Klasse, die Schwierigkeiten hatten... Reichen: Ja. Gut, ich habe auch schon schwierige Kinder kennengelernt und muß gestehen, ich habe es nicht zustande gebracht, daß sie etwas gearbeitet haben. Langhorst: Wobei das Problem im traditionellen Unterricht ja dasselbe wäre.

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Reichen: Eben. Aber jetzt habe ich den Faden verloren. Wie hieß die Frage? Langhorst: Es ging um die Frage, was die Lehrerin tun soll, wenn sie das Gefühl hat, da wird nichts gearbeitet. Muß sie dann eingreifen? Reichen: Nichtstun allein wäre für mich noch nicht der Maßstab, denn es gibt Kinder, die nichtstuend dennoch lernen, das ist ganz verblüffend. Langhorst: Ich glaube, dennoch ist eine Lehrerin dann in einer ganz verunsicherten Situation. Reichen: Sicher. Doch muß man sich immer wieder vor Augen halten, daß das Eingreifen noch lange keine Garantie gibt, daß es dann klappt. Ich kann die Frage eigentlich nicht beantworten, das ist eine Ermessensfrage. Man sagt, wenn man sieht, daß das Kind sein Lernen nicht bewältigt, dann greift man ein, aber da gehen die Meinungen stark auseinander. Die einen finden schon, wenn ein Kind mal zwei Minuten Pause macht, daß man eingreifen müsse, während andere eine größere Toleranz haben. Ich plädiere für eine große, sehr große Toleranz - und für genaues Hingucken! Man sieht dann ja, ob die Kinder in der Schule profitieren, auch wenn sie scheinbar wenig arbeiten. Dann ist da noch wichtig, scheint mir, daß man das Profitieren oder das Lernen nicht bloß auf die kognitiven Schwerpunktbereiche des Lehrplans reduziert. Wenn ein lebhaftes Kind sich in meiner toleranten Atmosphäre beruhigt, wenn es friedlich wird, wenn es eine Depression überwindet usw., dann ist das für mich mindestens so wichtig. Langhorst: Welche Hilfen gibst du Lehrerinnen und Lehrern, daß sie sich mit den äußeren Anforderungen/Erwartungen von Eltern bzw. Lehrplan und der Forderung von dir, die Kinder zeitlich nicht unter Druck zu setzen, nicht selbst unter Druck setzen? Geht es da wieder um das goldene Mittelmaß? Reichen: Ja. Doch zuerst möchte ich feststellen: der Lehrplan unterdrückt niemanden. Die meisten Leute kennen den Lehrplan gar nicht. Die müßten den mal genau lesen. Denn die meisten Lehrpläne, so weit ich sie kenne, sogar die bayrischen, sind sehr moderat. Die Leute behaupten immer das würde verlangt und jenes würde im Lehrplan stehen und wenn man nachschaut, ist es effektiv nicht wahr. Wer Probleme hat, gerade im Umgang mit Eltern, dem empfehle ich, den Eltern gerade den Lehrplan zu vermitteln, damit die Eltern wissen, was effektiv in dem Lehrplan steht. Langhorst: Wobei die Anforderungen der Eltern nicht unbedingt mit dem Lehrplan übereinstimmen. Reichen: Ja, gut. Aber die Eltern sind auch an den Lehrplan gebunden. Als Lehrerin und als Lehrer muß ich mich nicht nach den Eltern richten, sondern nach dem Lehrplan. Und der Lehrplan ist viel, viel moderater als viele überzogene Elternmeinungen. Das ist die entscheidende Hilfe. Andererseits: man überzeugt letzten Endes natürlich nur durch den Tatbeweis. Man muß die Qualität des eigenen Unterrichts beweisen, wobei das mit den Jahren leichter wird, weil es sich rumspricht. Die Leute hören, dort klappte es gut mit "Lesen durch Schreiben" und hier funktioniert es usw.

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Langhorst: Wobei du selber in einem deiner Artikel geschrieben hast, dadurch daß es sich verbreitet, kommen auch sehr viele dieser Mischformen zustande, gegen die du dich ja sehr wehrst. Reichen: Das ist richtig. Die Ansprüche verwässern sich. Das ist schon so, ja. Das ist halt der Preis der Verbreitung. Langhorst: Du verlangst, dass die Lehrerin/der Lehrer wirklich hinter dem Konzept stehen. Ist es aber nicht menschlich, wenn dennoch Zweifel auftauchen? Inwiefern wirkt sich das negativ auf die Kinder aus? Reichen: Wenn die Lehrerin zweifelt, dann zweifeln die Kinder auch und sind verunsichert. Und in dem Moment, wo etwas nicht ganz rund läuft, werden sofort die Zweifel bestätigt. Langhorst: Für den Lehrer ...? Reichen: Und für die Kinder und für deren Eltern. Langhorst: Ich glaube, daß sicher 50% der LehrerInnen, die diesen Lehrgang versuchen, der mit ihrer eigenen Biographie nichts zu tun hat, zweifeln. Das ist doch menschlich. Sie sind theoretisch überzeugt... Reichen: Moment, Moment. Woran zweifeln sie? Also wenn sie an der Theorie zweifeln, am Ansatz, daß man den Schriftspracherwerb ähnlich organisieren könne, wie... Langhorst: Nein, den Zweifel meinte ich nicht. Reichen: Ja, eben. Die Lehrerinnen zweifeln, ob sie es umsetzen können, und das ist ein Zweifel an sich selbst. Das ist ein anderer, ich rede vom Zweifel am Konzept. Langhorst: Und ich denke, es kann doch trotzdem auch noch ein Rest-Zweifel bleiben: Ich bin theoretisch davon überzeugt und trotzdem habe ich noch einen Rest-Zweifel, ob es wirklich klappt und dieser Zweifel müßte ja auch... Reichen: Paß mal auf. In Bern gab es eine Lehrerin, die hatte eine Fibel verfaßt. Und die fühlte sich unglaublich herausgefordert durch "Lesen durch Schreiben", die hat einfach gesagt. "Nein, das stimmt nicht", die hat einfach nicht geglaubt, daß das stimmt und hat mit der Haltung dann "Lesen durch Schreiben" gemacht und prompt ging das in die Hose. Sie hatte den Beweis, daß das nicht funktioniert. Das ist natürlich ein krasses Beispiel, aber ich denke, es kommt immer auf die vielen, vielen Misch- und Zwischenformen an. Ich rede ja neuerdings vom medizinischen Placebo-Effekt und denke, daß es in der Didaktik etwas ähnliches gibt: Wenn die Lehrerin völlig überzeugt ist von der Methode x, und die Eltern sind womöglich auch noch überzeugt von der Methode x, und die Gesellschaft ist überzeugt von der Methode x, dann sind auch die Kinder überzeugt von der Methode x, und die Methode x führt zum Erfolg. Egal eigentlich, was es ist. Die führt ein Stück weit zum Erfolg. Deshalb kann ich inzwischen eine These erläutern: Lesen wird gar nicht gelernt, sondern es wird plötzlich gekonnt. Es sieht nur so aus, als ob es da Zugangsstufen gäbe, wo man sich an das Können annähert, denn das sind höchstens Vorformen, das eigentliche Können ist plötzlich da. Es muß nur irgendwie ausgelöst werden. Jetzt gibt's

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natürlich näherliegende Auslöser und fernerliegende. Ich konstruiere. Würde ich vor einer Klasse mit voller Überzeugung vertreten: Hier ist das Buchstabentor. Man muß ganz still vor diesem Tor sitzen, das Tor betrachten, und dann spürt man, daß das Tor will, daß man durch das Tor hindurchgeht. Und dann geht man durch das Tor durch und dann kann man lesen. Das läßt sich eher verkaufen, als wenn ich den Kindern sagen würde: Hier sind Bonbons in Buchstabenform, wenn man das Alphabet ißt, dann kann man lesen. Ich kann mir effektiv vorstellen, Kinder über beide Formen zum Lesen zu bringen. Aber die Sache mit dem Tor würde unserer Bevölkerung wahrscheinlich eher einleuchten als die Sache mit dem Essen von Buchstaben. Würde ich sagen, das Lesenlernen wurde bisher ganz falsch gehandhabt, man muß 17,3 Minuten Seilspringen ohne auszusetzen, dann kann man lesen, dann würde das wahrscheinlich niemand glauben. Und wenn ich es ernsthaft vertreten würde, würde man mich wahrscheinlich psychiatrisch begutachten lassen, ich würde da in Gefahr geraten. Gepreßtes Gips-Pulver in Pillen-Form, womöglich noch mit dem Aufdruck "Bayer" o.ä wirkt natürlich placebomäßig besser, als wenn man Tomatensaft verteilt, oder eine Weile lang einen Stein in die Hand nimmt. Der Placebo-Effekt ist umso wirkungsvoller, je näher er an rationalen Erklärungsmustern liegt. Weißt du, was ich meine? Langhorst: Ich folge noch. Reichen: Ich behaupte ja, man lernt nicht so lesen, wie das im Fibelunterricht gemacht wird, man lernt durch Schreiben lesen. Das ist zwar ein anderer Gedanke, aber er ist nicht ganz absurd. Er ist noch nachvollziebar. Würde ich sagen, mit Sahnetörtchen lernt man lesen, dann... Langhorst: Ich kriege jetzt nur nicht die Kurve.. Die Frage war mit dem Dahinterstehen... Reichen (lacht): Ich bin davon überzeugt: Wenn man an die Sache glaubt, dann klappt alles oder viel. Langhorst: Also würden im Grunde auch Himbeertörtchen helfen, wenn ich nur dran glauben würde... Reichen: Ja! Nur an Himbeertörtchen glaubt niemand. Die Leute glauben anderes und von daher mischen sie dann "Lesen durch Schreiben". Sie machen ein Stück weit "Lesen durch Schreiben", nehmen dann aber noch Lautgebärden dazu, die sie früher machten, sie machen jenes noch und nehmen dieses noch dazu und stellen dann fest, daß das hilft. Und das bezweifle ich gar nicht, ich bezweifle nur, daß das der Grund ist. Indem sie noch dazunahmen, was sie immer schon glaubten, haben sie jetzt ein Konzept, bei dem sie 100%ig dahinterstehen. Langhorst: Dann ist dieser Placebo-Effekt in Ordnung, wenn sie dadurch dieses Grundvertrauen haben? Reichen: Ja, dann läuft das Ding und wenn sie Dinge dazu nehmen, die den Essentials nicht widersprechen, sind sie vielleicht noch echt hilfreich. Langhorst: Wie intensiv, glaubst du, setzen sich LehrerInnen mit dem Lehrerkommentar auseinander und wie wäre es wünschenswert? Reichen: Es gibt alle denkbaren Intensitätsgrade, d.h. Studium der Kommentare von 0% - 150%. Wir haben z.B. Tonbandprotokolle über Erfahrungsrunden, wo LehrerInnen, die "Lesen durch

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Schreiben" durchführten, sich austauschten. Da hat eine Frau erklärt, die Lehrgangskommentare würden bei ihr auf dem Nachttisch liegen und hätten für den Moment bei ihr die Bibel ersetzt. Sie lese die ganze Zeit in diesen Heften und habe sie alles in allem bereits vier mal gelesen. Andererseits gibt es leider KollegInnen, die überhaupt nichts gelesen haben, aber keck behaupten, sie würden "Lesen durch Schreiben" umsetzen. Was ich erwarte ist klar: Ich finde es absolut verantwortungslos, wenn sich Leute mit der Sache überhaupt nicht auseinandersetzen. Wäre ich Schulaufsichtsbeamter, würde ich in solchen Fällen mit Dienstaufsichtsbeschwerden bzw. Disziplinarstrafen vorgehen. Ohne Kenntnis der Kommentare zu arbeiten ist eine absolute Frechheit den Kindern gegenüber, und zeugt von einer absoluten Überheblichkeit. Langhorst: Also ich merke jedenfalls, je mehr ich mich einarbeite, wieviel Zeit ich eigentlich noch brauchen würde, um... Reichen: Ja eben Langhorst: Ich habe mich für meine schriftliche Arbeit natürlich sehr ausführlich auseinandergesetzt, aber wenn ich das jetzt verwirklichen würde im Unterricht, fände ich es fast sinnvoll, es dabei noch einmal theoretisch nachzureflektieren, also daß es dann noch eine Wechselwirkung gibt. Reichen: Ich denke, man kommt natürlich mal an einen Sättigungspunkt, und schließlich muß man auch nicht alles präsent haben, weil das in die Haltung einfließt. Aber ich denke, das kann ich hier sagen, obwohl Eigenlob stinkt, dieser Kommentar ist nicht schlecht und lohnt das Studium, es ist ein komplexes Konzept, ein reichhaltiges und ein vielschichtiges und es ist nicht einfach eine Rezeptsammlung, sondern... Langhorst: Das macht es für die Lehrerin ja auch sehr anspruchsvoll, damit umzugehen Reichen: Ja, richtig, deshalb bieten wir ja auch diese einwöchigen Fortbildungsseminare an. Aber wie schon gesagt: Ich kenne alles an Studienintensität von 0 - 150% und erwarte persönlich 90+%! Man muß nicht bei jedem Spiel auswendig gelernt haben, wie die Regeln gehen, das kann man sich schenken, aber ich denke mal, man müßte den SABEFIX kennen und ihn nicht... Langhorst: ... so in die Klasse geben. Reichen: Ja. Doch leider gibt's das immer noch. Langhorst: Wie stellst du dir die Ausbildung vor, um LehrerInnen auf diese Rolle vorzubereiten? Hast du dazu konkrete Vorschläge? Reichen: Ich kann das so nicht beantworten. Ich kann nur schildern, welchen Weg die durchschnittliche Lehrerin, die heute "Lesen durch Schreiben" macht, zurückgelegt hat: Sie hat irgendwo etwas über "Lesen durch Schreiben" gehört und danach irgendetwas gelesen, einen Artikel in "Fragen und Versuche" oder irgendeinen Verlagsprospekt oder was es auch war. Dabei dachte sie, daß das interessant sein könnte, denn mit ihrem bisherigen Fibelunterricht war sie schon lange nicht mehr zufrieden, dieser Unterricht ist so furchtbar langweilig, auch für die Lehrerin. Ja, und dann hat sie irgendwann mitbekommen, dass ich Orientierungsveranstaltungen durchführe, da ging sie hin und hörte einen Vortrag von Reichen. Da ist sie fasziniert und

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beschäftigt sich nun viel mit der Sache, hat aber Angst. Inzwischen vergeht die Zeit, das erste Schuljahr beginnt, und vor lauter Angst macht sie noch einmal eine Fibel. Doch jetzt, da sie von "Lesen durch Schreiben" weiß, geht das nicht mehr. Wer einmal eine Alternative zur Fibel kennenlernte, kann die Fibel nicht mehr ruhigen Gewissens einsetzen. Vielleicht hat sie noch Einblick in eine "Lesen durch Schreiben"Klasse bekommen oder sie hat als Mutter mit der Sache zu tun. Jene Lehrerinnen, die eigene Kinder in der Schule haben, reagieren sensibilisiert, entweder, wenn sie sehen, wie ihr Kind unter dem Fibeltrott leidet, oder wenn sie erfahren, wie ganz anders der Unterricht bei "Lesen durch Schreiben" verläuft. Am schnellsten verläuft dieser Prozess bei jenen, wo das ältere Kind Fibelunterricht hatte und das jüngere Geschwister "Lesen durch Schreiben" im richtigen Sinne. Da wird der Unterschied zu Hause so eklatant sichtbar, daß sie umstellen. Sie besuchen dann ein Wochenseminar, und arbeiten vielleicht noch in einem Begleitseminar durch das Jahr hindurch mit und sind am Schluß absolut von der Sache überzeugt. Langhorst: Dann wäre das der zweite Punkt: Gemeinsamkeit mit anderen Lehrerinnen und Lehrern, der Austausch darüber? Reichen: Ja. Das ist so. In der Ausbildung die ReferendarInnen mit "Lesen durch Schreiben" vertraut zu machen, wäre im Übrigen auch kein Problem. In Nordrhein-Westfalen gibt es inzwischen mehrere Studienseminare, die mittlerweile auf Werkstattunterricht hin ausbilden.

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Text-B03 Jürgen Reichen Ein „Brief-Interview“ mit Ulrike Bersch / 1994 Sehr geehrter Herr Dr. Reichen, leider komme ich heute erst dazu, mich mit meinem Anliegen, und zwar mit der Bitte um Ihre Stellungnahme zu den folgenden kritischen Anmerkungen und Fragen zu der Methode “Lesen durch Schreiben”, an Sie zu wenden. Wie ich Ihnen persönlich auf der Interschul in Dortmund sagen konnte, wäre dies im Rahmen meiner Examensarbeit "Die Konzeption 'Lesen durch Schreiben' im Vergleich mit dem analytisch-synthetischen Leselehrverfahren unter dem Aspekt der Auswirkung auf die Leselernentwicklung von Grundschulkindern”, die ich unter der Betreuung von Frau Dr. Hanke schreibe, von großem Interesse für mich. Es handelt sich um die folgenden Punkte, die, dies möchte ich noch einmal ausdrücklich erwähnen, nicht von mir aufgestellt wurden, sondern, die ich im Laufe meiner bisherigen Untersuchungen aufgegriffen habe. (Die Fragen finden sich nachstehend zusammen mit den Antworten von Reichen). Ich hoffe, es ist Ihnen möglich, sich mit diesen Punkten auseinanderzusetzen. Ich möchte mich jedenfalls im voraus für Ihre Bemühungen bedanken und bin sehr gespannt auf Ihre Antwort. Mit freundlichem Gruß Ulrike Bersch

*** Basel, den 16. Mai 1994 Liebe Frau Bersch Sie mussten lange auf meine Antwort warten, zum einen weil ich vier Wochen lang unterwegs war, zum andern weil mein Zeitbudget ausserordentlich angespannt ist, vor allem aber, weil ich mit Ihren Fragen einige Probleme hatte. Um es vorweg zu sagen: aus meiner Sicht der Dinge sind die meisten Fragen irrelevant. Es kommt mir so vor, wie wenn jemand, der voll und ganz in der herkömmlichen Theorie steht, von dieser Theorie her das Phänomen “Lesen durch Schreiben” angeht - aber eigentlich nichts damit anfangen kann und das Entscheidende verfehlt. Von der herkömmlichen Theorie her dürfte es ja “Lesen durch Schreiben” gar nicht geben, rein theoretisch dürfte das ja gar nicht funktionieren, aber nun ist man gezwungen, sich gleichwohl mit “Lesen durch Schreiben” zu beschäftigen, weil es in der Praxis eben doch klappt. Sie werden aus verschiedenen meiner Antworten eine gewisse Aggressivität herausspüren - nehmen Sie diese bitte nicht persönlich. Aber nachdem ich mich nun seit 24 Jahren mit der Sache beschäftige, und aufgrund einer breiten Erfahrungsbasis gemeinsam mit vielen anderen verlässlich weiss, dass “Lesen durch Schreiben” nicht nur funktioniert, sondern deutlich besser funktioniert, als der herkömmliche Unterricht, schmilzt meine Toleranz, wächst mein Zorn gegenüber den Traditionalisten, denen gegenüber als mindestes der Vorwurf zu machen ist, dass sie sich nicht ernsthaft kundig machen, sondern selbstherrlich und selbstüberheblich ihre Theoriegespinste weiterspinnen - und kaum einmal wirklich nachdenken. So halte ich mich kurz und gehe einfach auf die gestellten Fragen bzw. Kritikpunkte ein:

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Frage/Kritikpunkt 1. Im Zusammenhang mit der Buchstabentabelle könnte das folgende semantische Problem auftreten: Ein Kind will zB. das Wort HUT schreiben. Durch das Bild der HEXE empfindet es jedoch auf der semantischen Ebene Verwirrung, da es keinen Zusammenhang zwischen dem Wort HUT und dem Bild mit der HEXE sieht. Antwort Reichen: Ist in der Praxis kein Problem, denn die Kinder werden ja ausdrücklich instruiert, dass die Bilder auf der Tabelle nicht semantisch verstanden werden dürfen, sondern nur als (An-)Lautrepräsentanten. Frage/Kritikpunkt 2. Kinder, die die einzelnen Laute einfach nicht deutlich hören können, gelingt das ganze Verfahren nicht. Dadurch, daß diese Kinder dann gar nicht weiterkommen, bildet sich bei ihnen Enttäuschung und Frustration. Was kann man -außer warten- bei massiven Lautdifferenzierungsschwierigkeiten machen? Antwort Reichen: Das ist die eigentliche Hauptfrage auch für mich. Allerdings ist schon die Annahme falsch, dass die entsprechenden Kinder die einzelnen Laute nicht deutlich hören. Das Problem hat nichts mit “Hören” zu tun. Die erwähnten Kinder sind meistens Kinder mit einem allgemeinen Entwicklungsrückstand: sie haben im Zählen und Rechnen Probleme, sind fein- und grobmotorisch ungeschickt, können nicht exakt falten und nicht auf einem Bein hüpfen, nicht über die Schwebekante balancieren; sie haben Angst (z.B. beim Klettern oder Herunterspringen); sind ungeschickt im Bauen mit Bauklötzen usw. usw. Massgeblich für ihre Schwäche ist eine allgemeine Strukturierungsschwäche: diese Kinder können die Vielfalt der Weltdinge und -ereignisse erst unzureichend in kategorialen Ordnungen (des Raums, der Zeit usw.) strukturieren, wobei sich im Zusammenhang mit “Lesen durch Schreiben” vor allem eine starke Seriationsschwäche bemerkbar macht. Da es sich in Wirklichkeit nicht um eine Lautdifferenzierungsschwäche handelt (denn in eigentlichen Lauttests lässt sich belegen, dass diese Kinder die entsprechenden Laute sehr wohl hören und akustisch unterscheiden können), nutzen Lautübungen auch nichts. Man muss “aktiv warten”, d.h. den Kindern vielfältige Möglichkeiten geben, ihren allgemeinen Entwicklungsstand voranzutreiben, indem man ihnen ein absolutes Breitbandlernangebot bietet, wo sie ihre Selbstentwicklungskräfte stärken können. Spezielle heilpädagogische Massnahmen braucht es nicht, die wichtigsten Mittel der Wahl sind Bastelarbeiten sowie Spielen mit Bauklötzen und Spieleisenbahnen. (Zu diesem Punkt wäre natürlich noch eine ganze Menge zu sagen. Ich bin im Moment dabei, ein ganzes Buch darüber zu schreiben. Sie müssen sich im Moment mit den obigen Ausführungen begnügen.) Frage/Kritikpunkt 3. Zu Beginn erhalten die Kinder eine konkrete Anleitung anhand eines Wortes, z.B. RITA, wie sie vorzugehen haben. Handelt es sich hierbei nicht um eine technische Anleitung? Vom ganzen Wort ausgehend (ganzheitliches Vorgehen) wird das Wort Lautsprachlich und synthetisch nach dem Anlautverfahren (=synthetisches Vorgehen) aufgebaut.

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Antwort Reichen: Hier kann man sich um Worte streiten. Wenn Sie wollen, können Sie es eine “technische Anleitung” nennen. Für mich ist es lediglich ein “praktischer Vorschlag”, vor allem, weil die Kinder bei mir ja anschliessend nicht gezwungen werden, diesem Weg entlang zu verschriften - wie sie verschriften ist völlig egal, wenn am Schluss der gewünschte Text auf dem Papier steht. Und da denke ich inzwischen: sowenig wie ich oder Sie beim Schreiben lautieren, so wenig tun das die meisten Kinder - sie schreiben einfach (jedenfalls dann, wenn man sie nicht zum lauten Lautieren zwingt). Frage/Kritikpunkt 4. Wird der phonologischen Strategie in Form des Auflautierens nicht eine übergroße Bedeutung beigemessen? Antwort Reichen: Bei mir und den Leuten, die sich wirklich an meinem Konzept ausrichten keineswegs - der sogenannten “phonologischen Strategie” (und übrigens allen anderen “Strategien” auch, welche die derzeitige Schriftspracherwerbsforschung zu kennen vorgibt) messe ich überhaupt keine Bedeutung zu - hingegen geschieht dies zu meinem grossen Leidwesen sehr weitverbreitet bei all denen, die das Konzept verwässern und mit anderen Überlegungen vermischen. Frage/Kritikpunkt 5. Warum enthält die Tabelle nicht alle Buchstaben bzw. Buchstabenkombinationen und warum fehlen einige Lautvarianten, wie zB. das scharfe “s”? Wäre es nicht sinnvoll eine diesbezügliche Ergänzung der Tabelle vorzunehmen? Antwort Reichen: Es ist eine Lauttabelle und sie enthält alle Laute, ausgenommen das ng. Im Lehrerkommentar steht aber sehr deutlich, dass man das ng mit den Kindern noch nachtragen muss. Es fehlt, weil es nie im Anlaut vorkommt und wir am Anfang die Kinder nicht mit einer Ausnahme vom Anlautprinzip konfrontieren wollten (nachdem wir ihnen ja sonst schon sehr viel abverlangen). Einer Tabellenergänzung durch das Kind selber steht nach eini- gen Wochen Schulbetrieb nichts entgegen und wird im Lehrerkommentar auch empfohlen. Das scharfe “s” fehlt, weil es in der Schweiz nicht existiert (und in Deutschland ruhig auch abgeschafft werden könnte). Frage/Kritikpunkt 6. Kinder mit einer undeutlichen Aussprache und/oder Kinder mit starkem Dialekt haben besondere Schwierigkeiten bei dieser Methode. Antwort Reichen: Jein! Wer laut und penetrant lautieren lässt, schafft dem Kind diese Schwierigkeiten ja; wer hingegen nur innergedanklich lautieren lässt verringert die Probleme (dies zeigen die Erfahrungen aus den Sprachheilschulen, wo ja “Lesen durch Schreiben” inzwischen zum eigentlichen “Renner” avanciert), weil Kinder, die lautsprachliche Artikulierungsprobleme haben, diese im innergedanklichen Selbstgespräch häufig nicht haben.

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Frage/Kritikpunkt 7. Was gilt für die unterschiedliche Schreibung gleicher Laute, wie zB. /f/ in Fenster oder in Vogel? Frage/Kritikpunkt 8. Was gilt für die identische Verschriftung unterschiedlicher Phoneme, wie z.B. Vogel /f/ versus Vase /w/? Antwort Reichen: Die Fragen 7 und 8 verstehe ich nicht recht, weiss also nicht, was ich antworten soll. Das Kind schreibt zuerst phonetisch nachvollziehbar, also Fenster oder Venster, Wase und Welo; später (!) soll es dudenkorrekt schreiben. Einzige Hilfe von Anfang an ist die Empfehlung, bei Unsicherheit in der Schreibung f/v das f zu nehmen, weil es statistisch sehr viel wahrscheinlicher zutrifft als das seltene v. Frage/Kritikpunkt 9. In den Richtlinien von NRW heißt es auf Seite 30: “Am Ende der Klasse 2 müssen alle Kinder kurze, kindgemäße Texte lesen, verstehen und vorlesen können.” Lesen durch Schreiben übt aber gar kein Vorlesen. Liegt hier kein Widerspruch zu den Anforderungen gem. Richtlinien vor? Man kann sicher nicht davon ausgehen, daß alle Kinder selbständig am Ende der 2. Klasse vorlesen gelernt haben. Antwort Reichen: Doch man kann davon ausgehen, dass alle Kinder vorlesen können und dass man dieses nicht eigens zu üben braucht. Frage/Kritikpunkt 10. Darüber hinaus fordern die Richtlinien für Klasse 3/4 den Erwerb von Lesetechniken. Liegt hier nicht auch ein Widerspruch gegenüber “Lesen durch Schreiben” vor? Antwort Reichen: “Lesen durch Schreiben” ist eine Angelegenehit im ersten Halbjahr der ersten Klasse. Was in den Klassen 3/4 läuft, geht uns nichts an. Ich kenne im übrigen die angesprochene Passage aus den Lehrplänen nicht, weiss also nicht, was hier unter “Lesetechniken” verstanden wird, denke aber persönlich, sowas sollte nicht in Lehrplänen stehen. Ändert sie. Frage/Kritikpunkt 11. Ist das Material z.B. Sabefix insbesondere für Erstkläßler geeignet und zwar unter Berücksichtigung der Gefahr, daß gerade Erstkläßler die Sabefix-Plättchen nach Erfahrung einiger Lehrer verlieren werden? Antwort Reichen: Natürlich können rein theoretisch betrachtet Plättchen verlorengehen. Bei richtiger Organisation kommt das aber kaum vor. Im übrigen sollen die Kinder ja auch Ordnung usw. lernen, Sorge tragen zu den Dingen usw. Der SABEFIX ist also mithin noch ein begleitendes Lernmedium für Exaktheit, Ordnung usw. Im Übrigen: auch Radiergummis könnten verlorengehen - das ist aber doch kein Argument, um auf Radiergummis zu verzichten, oder?

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Frage/Kritikpunkt 12. Bestehen nicht hohe finanzielle Belastungen für eine Schule, wenn sie neu mit dem Lehrgang “Lesen durch Schreiben” beginnt und sehen Sie diesbezüglich einen Ausweg für die Schule bzw. die Lehrer? Antwort Reichen: Nein, “Lesen durch Schreiben” kommt alles in allem billiger als herkömmliche Fibellehrgänge mit ihrem Zusatzmaterial. Diese Kostenbehauptung stammt regelmässig von Schulleitungen, die “Lesen durch Schreiben” eigentlich nicht wollen. Ausweg: die LehrerInnen müssen sich mit den finanzorganisatorischen Finessen der Lehr- und Arbeitsmittelbeschaffung in NRW vertraut machen, da scheint es viele wenig bekannte Möglichkeiten zu geben, die findige Leute beschreiten. Frage/Kritikpunkt 13. Ist nicht der Zeitaufwand im Vergleich zu der Effektivität für gute Lerner beim Umgang mit Sabefix zu hoch und wäre dieses Arbeitsmittel nicht ausschließlich für schwache Schüler geeignet? Antwort Reichen: Unverständliche Frage. Der SABEFIX enthält Aufgaben für schwache und für starke Schüler. Alles in allem besteht zudem bei den LehrerInnen eher der Eindruck, SABEFIX sei vor allem eine Sache für die guten Schüler. Frage/Kritikpunkt 14. Was gilt für Homophone beim Auflautieren? Antwort Reichen: Ich weiss leider nicht, was Homophone sind und kann daher die Frage nicht beantworten. Frage/Kritikpunkt 15. Ist es nicht problematisch, sich auf die (subjektive) Einschätzung des jeweiligen Lehrers zu verlassen, wann dieser es für angemessen erachtet, z.B. die Rechtschreibung zu korrigieren? Könnte es nicht durchaus zu Fehleinschätzungen kommen, etwa wenn der Lehrer zu lange das Eingreifen in Bezug auf die Rechtschreibung unterläßt, das Kind (bzw. dieses spezielle Kind) aber schon lange hätte gefördert werden müssen? Antwort Reichen: Selbstverständlich können Fehler passieren. Unser Schulsystem ist aber so gestaltet, dass man den LehrerInnen die Verantwortung übertragen hat und ihnen aus guten Gründen - Methodenfreiheit gewährt. Das Risiko, dass selbstentscheidende LehrerInnen mal einen Fehler machen ist aber ungleich geringer, als das Risiko, das sich ergibt, wenn der Staat curriculare Einzelvorschriften erlässt - damit hat man ja in der jüngeren Vergangenheit zur Genüge schlechteste Erfahrungen gemacht. Frage/Kritikpunkt 16. Welche sprachdidaktische Untermauerung liegt dem Lehrgang “Lesen durch Schreiben” zugrunde?

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Antwort Reichen: Gar keine! Sprachdidaktik ist in meinen Augen das Überflüssigste, das es gibt. Ich halte sie gänzlich für verzichtbar (und mache sie für den Grossteil des seelischen Elends und der tödlichen Langeweile verantwortlich, die Kinder in unseren Schulen erdulden müssen). Wer sie betreiben will, dem sei das unbenommen. So wie jedermann, der will, auch Briefmarken sammeln kann oder sich mit den Stammbäumen ägyptischer Pharaonen der Frühzeit beschäftigen darf, soll jeder sein Hobby pflegen dürfen und wem es Spass macht, Sprache zu untersuchen und auszuzählen, wie oft das o im Vergleich zum i in der deutschen Sprache vorkommt, soll das tun - besser als Waffenhandel ist es in jedem Fall. Nur - was unsere Gesellschaft eigentlich von dem Sprachunterricht hat, den die Sprachdidaktik begründet, das sollte man sich einmal ganz ernsthaft überlegen und noch ernsthafter, ob wir unsere Zeit nicht endlich den eigentlich wichtigen Dingen widmen sollten - angesichts der bestehenden Probleme allüberall. Frage/Kritikpunkt 17. Wird nicht gerade der linguistische Aspekt zu sehr vernachlässigt und stehen nicht nur die psychologischen Aspekte im Vordergrund? Antwort Reichen: Doch sicher. Der linguistische Aspekt ist m.E. aber auch völlig unerheblich (mit Ausnahme der Semantik, um die wir uns aber bemühen). Frage/Kritikpunkt 18. “Lesen durch Schreiben” räumt der Phonemkonstanz den Vorrang ein, was ist denn z. B. mit der Morphemkonstanz? Antwort Reichen: Das ist wieder so eine Frage, die ich nicht beantworten kann, weil ich tatsächlich nicht weiss, was Phonemkonstanz und Morphemkonstanz sind. (Ich hatte nie mit Linguistik zu tun usw. und in der Schweiz müssen GrundschullehrerInnen auch kein Studium absolvieren. Bei uns weiss das daher niemand. Übrigens: es interessiert mich auch nicht. Ich bin durchaus zufrieden mit der praktischen Feststellung, dass wir in unseren Klassen fröhliche, leistungsstarke Kinder haben, die gerne zu Schule gehen, sehr schnell (schneller als andere) lesen und schreiben lernen, und es nachher gut können.) Frage/Kritikpunkt 19. Was weiß man heute schon über Übergangsprobleme (in Hinblick auf die Form des Unterrichts, die Rechtschreibung, das Vorlesen etc.) in Bezug auf den Schulwechsel in die Sekundarstufe I ? Antwort Reichen: Die “Lesen durch Schreiben”-Kinder sind leistungsstärker, kreativer, selbständiger und sozialkompetenter. Frage/Kritikpunkt 20. Die zum Einprägen der Laute verwendeten Nebenassoziationen “Welches Wort fängt so an?” können ggf. zu Störassoziationen werden, und zwar wenn der emotionale Erlebniswert der Laute und Buchstaben, ihre Situationsverhaftung nicht enthällt, kann dies die Synthese hindern bzw. die Worterfassung stören.

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Antwort Reichen: Das ist wieder so eine typische Frage, die nur aus der überkommenen Theorie her gestellt werden kann und mit “Lesen durch Schreiben”, unserem Lernverständnis und der Art, wie unsere Kinder lesen, nichts zu tun hat: a) Wir prägen keine Laute ein, b) wir arbeiten nicht mit Assoziationen (weder mit Haupt- Neben- oder Störassoziationen), c) wir betreiben keine Synthese, und d) wir lesen nicht mit Worterfassung. Das alles sind Dinge, die aktives Tun des Kindes annehmen - wir tun aber nichts dergleichen. Dies im einzelnen zu erläutern, sprengt aber meine zeitlichen Möglichkeiten im Moment. Frage/Kritikpunkt 21. Da die Kinder wissen, was sie schreiben entfällt die Sinnentnahme, aber handelt es sich hier nicht eher um eine Sinnzuordnung anstelle einer Sinnentnahme? Antwort Reichen: Doch, da haben Sie recht. Sinnzuordnung ist der richtige Ausdruck. Frage/Kritikpunkt 22. Die Phase der Einprägung der Buchstaben-Lautzuordnung wird als schwierig erachtet. Wie kann ein Kind beim Lesen einem Buchstaben je nach Position verschiedene Lautwerte zuordnen? D.h. wie bewältigt das Kind die Mehrdeutigkeit der Grapheme? Antwort Reichen: Wir betreiben keine Einprägung der Buchstaben-Lautzuordnung. Die neuere Entwicklung bei “Lesen durch Schreiben” (im Moment in Ausarbeitung) geht eben darauf hinaus, das Schriftsystem vom Sprechsystem abzukoppeln. Wie das Kind die Mehrdeutigkeit der Grapheme bewältigt weiss ich nicht. Frage/Kritikpunkt 23. Besteht nicht zumindest doch eine latente Gefahr, daß sich die Kinder falsch geschriebene Wortbilder bzw. Morpheme einprägen? Antwort Reichen: Nein und nochmals nein! Es werden keine Wortbilder eingeprägt! Das ist unter den massgeblichen Leuten der deutschen Sprachforschung eindeutig Konsens. Mich wundert nur, wie lange eigentlich die Universität Köln braucht, um sich dem internationalen Wissenschaftsstandard anzunähern. Frage/Kritikpunkt 24. Texte können Lernimpulse geben, welche über dem Niveau der Sprachkompetenz der Schüler liegen. Das Schreiben eigener Texte durch die Schüler steht bei “Lesen durch Schreiben” im Vordergrund, wodurch der genannte Aspekt zu wenig bzw. keine Berücksichtigung findet.

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Antwort Reichen: Sicher können Texte Lernimpulse geben. Von dieser Möglichkeit mache ich in meinem Unterricht sogar rege und systematisch Gebrauch. Nur setzt das voraus, dass die Kinder zuerst mal lesen können - und deshalb lehre ich sie schreiben, denn nur wer schreiben kann, kann lesen lernen. Frage/Kritikpunkt 25. Die Methode “Lesen durch Schreiben” stellt sehr hohe Anforderungen an die Lehrperson. Lehrer sind skeptisch, unsicher und ängstlich zugleich, ihre gewohnten Wege zu verlassen und sich auf diese neue, weitestgehend unerforschte Methode einzulassen. Frau Borchardt hat mich kürzlich darauf hingewiesen daß Sie eine neue Information weitergegeben haben und zwar soll kein Vorlautieren und kein gedehntes Vorsprechen mehr praktiziert werden. Die Kinder sollen nach der Vermittlung des Prinzips der Buchstabentabelle “allein gelassen werden”, d.h. der Lehrer “kümmert sich überhaupt nicht mehr um sie”. Natürlich ist dieser neue Aspekt genau zu überdenken, doch möchte ich - bewußt voreilig - diese neue Idee kritisch hinterfragen, denn sind nicht gerade die schwachen Kinder auf das Vorlautieren angewiesen und werden diese Kinder nun nicht überfordert? Antwort Reichen: Was Sie über die LehrerInnen schreiben stimmt, das von der Methode nicht: Die Methode ist nicht eigentlich neu (Methode der alten Griechen und Römer) und unerforscht ist sie auch nicht. Es gibt genügend Erfahrungen um zu belegen, dass sie 100mal besser als alles andere ist. Wie man die Lehrerschaft kompetent machen kann, ist eine ungelöste Frage. Wir arbeiten hier, versuchen durch Fortbildung an die Leute heranzukommen, haben aber nur beschränkte Erfolge. Es wird hier so sein, wie in vielen anderen Bereichen auch. Die Biologie wird das Problem lösen, d.h. wir müssen warten, bis diese Leute in den Ruhestand treten. Was Sie am Schluss von Frau Borchardt schreiben ist ein Missverständnis. Richtig ist, dass wir nicht mehr laut Lautieren und nicht mehr gedehnt Vorsprechen. Was im Kopf des Kindes sich abspielt, um das kümmern wir uns nicht - solange das Kind verschriftend auf das Papier schreibt, was jeweils zu schreiben ist. Der Satz hingegen, die Kinder würden “allein gelassen” und man “kümmert sich überhaupt nicht mehr um sie”, ist natürlich Unsinn. Wir bemühen uns um die schwachen Schüler, grade um die, allerdings pädagogisch und psychologisch, nicht mit irgendwelchen didaktischen Kleinschrittrezepten. In der traditionellen Lese-/Rechtschreibdidaktik, die ja grade so tut, als ob sie äusserst erfolgreich sei, wo wir doch tagtäglich das Gegenteil vor Augen haben, ist neuerdings ein neuer Erklärungsbegriff Mode: schwache Schüler, die einfach nicht leisten, was sie leisten sollten, obwohl man sie doch im traditionellen Sinne korrekt und dauernd belehrt hat, ihnen geholfen hat, ihnen alles beibrachte und erklärte (und doch können sie es nicht ausreichend), werden als Opfer betrachtet: Opfer “unterlassener Hilfeleistung”. Und “unterlassene Hilfeleistung” wird hauptsächlich mir angelastet, ich würde das propagieren wird behauptet. Ich behaupte das nicht, habe aber tatsächlich eine andere Sicht der Dinge. Da es bestimmte Kinder sind (aus typischen Milieus, die man kennt), die nicht leisten, was erwartet wird, denke ich: ja diese Kinder sind Opfer, aber nicht Opfer “unterlassener Hilfeleistung”, sondern “vorenthaltener Zuneigung”. Hier liegt der Hase im Pfeffer - und darüber gäbe es eine Menge zu sagen, aber ich denke für dieses Mal reicht es.

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Text-B04 Jürgen Reichen / Interview mit Kristin Meinzer Vierzehn Fragen rings um die Rechtschreibung Überarbeiteter Text, basierend auf schriftlich gestellten Fragen und mündlich gegebenen Antworten, die nach einer Tonbandaufnahme notiert wurden. Das "Interview" führte Kristin Meinzer im November 1994 für ihre wissenschaftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung an der "Justus-Liebig-Universität" Gießen durch. Titel der Arbeit: " Schreiben - Die Entwicklung der Schreibkompetenz und der Rechtschreibkompetenz im Rahmen des Konzepts Lesen durch Schreiben". Meinzer 1: Inwieweit kann und soll man die Entwicklung der Rechtschreibung beeinflussen? Reichen: So, wie diese Frage gestellt ist, kann man sie eigentlich nicht beantworten, denn es sind genaugenommen zwei Fragen: a) Inwieweit kann man die Entwicklung der Rechtschreibung beeinflussen? b) Inwieweit soll man die Entwicklung der Rechtschreibung beeinflussen? Ich antworte zuerst auf die zweite, die "soll"-Frage. Selbstverständlich soll man die Entwicklung der Rechtschreibung beeinflussen, wenn man es kann. Sofern es in einem vernünftigen Verhältnis von Aufwand und Ertrag geschieht, soll man es soweit tun, daß ein Kind die Rechtschreibung zuletzt beherrscht. Entscheidend bleibt die erste Frage, inwieweit man die Rechtschreibkompetenz überhaupt beeinflussen kann? Da scheint mir, es müße unterschieden werden zwischen direkter Beeinflussung und indirekter Beeinflussung. Direkte Beeinflussung heißt: Man nimmt an, es gäbe ein ganz bestimmtes Curriculum, das man durcharbeiten muß, und wenn man dieses Curriculum durchgearbeitet hat, dann hat man bestimmte Dinge gelernt. Und wenn man diese Dinge beherrscht, kann man die nächsten in der Rechtschreibung lernen, usw. Es wird also angenommen, daß gleichsam eine Aufbaureihe bestehe. Wenn so ein Curriculum bestünde, müßte man dieses Curriculum durchziehen, das ist klar. Ich glaube aber nicht, daß es so ein Curriculum gibt. Ich glaube, daß die Rechtschreibung lediglich auf eine indirekte Weise beeinflußbar sei - im Rahmen der Motivation und des Klassen-Klimas. Da kann man dafür sorgen, daß Kinder motiviert bleiben und sich mit Rechtschreibung auseinanderzusetzen, zunächst einmal indem man ihnen klar - und immer wieder - mitteilt: Die Gesellschaft findet diese Sache sehr wichtig! Zugleich sollte man den Kindern aber auch Unterstützung zusichern und sollte ihnen zu verstehen geben, daß man sie trägt bei diesem wichtigen Prozeß, daß man sie nicht hängenläßt, und daß man sie nicht dauernd an ihren Fehlern aufspießt. Das ist natürlich als Antwort etwas vage - aber diese erste Frage ist im Grunde genommen auch zu allgemein gestellt.

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Meinzer 2: Reicht es aus, ein Kind für das Lesen- und Schreibenlernen zu begeistern und seine Fragen zu beantworten, oder ist eine direkte Instruktion notwendig? Reichen: Diese Frage ist eine Spezifikation zur Frage 1. Ich denke: Wenn es gelingt, ein Kind für das Lesen- und Schreibenlernen zu begeistern und seine Fragen zu beantworten - was allerdings voraussetzt, daß das Kind überhaupt Fragen hat! - dann reicht das völlig; dann ist eine direkte Instruktion nicht notwendig! Meinzer 3: Gibt es Entwicklungsstufen in der Schreib- und Rechtschreibentwicklung, die spontan auftreten und andere, die nur durch gezielte Unterrichtung erreicht werden? Reichen: Das weiß ich nicht - und im Übrigen scheint mir diese Frage im Grunde genommen nicht stellbar. Um diese These zu erläutern, muß ich hier einen methodologischen Exkurs einschalten: Alle Antworten, über die wir verfügen, sind das Ergebnis der Fragen, die wir stellen. Was wir an Tatsachen feststellen, ist das Ergebnis dessen, was wir beobachten und notieren. Wir schauen auf gewiße Dinge, während wir andere nicht beachten - obwohl vielleicht gerade diese von uns nicht beachteten Dinge die wesentlichen sind. Lassen Sie mich ein Beispiel konstruieren; das zwar eine Absurdität ist, aber verdeutlichen kann, was ich meine: Womöglich stellt sich eines Tages heraus, daß der Grad der Rechtschreibkompetenz eines Kindes abhängt vom Spreizwinkel des kleinen Fingers gemessen zur Füllfeder, die es beim Schreiben hält. Dieses Abspreizen des kleinen Fingers ist in jedem Alter verschieden. Man hat es noch nie untersucht, weil uns im Augenblick ziemlich absurd erscheint, daß ein Zusammenhang zwischen Abspreizwinkel und Rechtschreibkönnen besteht. Ich glaube das natürlich auch nicht. Das Beispiel zeigt aber: Die Feststellungen, die wir machen, sind immer nur eine begrenzte Form von Feststellungen. Auf andere Dinge, die auch feststellbar wären, haben wir bisher nicht geachtet, weil sie uns nicht relevant erschienen - doch kann das durchaus Folge einer Fehleinschätzung sein. Ich wiederhole ausdrücklich: Die Antworten, die wir haben, sind abhängig von den Fragen, die wir stellen. Wenn gewiße Fragen nicht gestellt werden, werden gewiße Antworten auch nie gefunden. Nun zurück zu Ihrer Frage. Es wird in der Literatur behauptet, daß es in der Rechtschreibung bestimmte Entwicklungsstufen gäbe. Diese Stufen wurden festgestellt. Die Frage ist nur: von wem, bei wem und mit welchen Methoden? Alles, was man feststellt, ist abhängig von den Untersuchungsmethoden und Fragen. Dabei hat alle Schulforschung ein Grundproblem, um das sie letzten Endes nie herumkommt: Die Kinder, die da jeweils untersucht werden, sind Schulkinder; d.h.: das Verhalten, das man an diesen Kindern feststellt, die Leistungen, die diese Kinder haben oder nicht haben, all das ist nichts Naturwüchsiges, sondern die Leistungen und das Verhalten dieser Kinder stehen unter dem Einfluß eines Unterrichts. Diese Kinder sind instruiert worden. Das Vorkommen von "Entwicklungsstufen" ließe sich deshalb auch als "unterrichtlich erzeugt" erklären: Wenn man davon ausgeht, daß man sagt, Rechtschreibung ist wichtig, die Kinder sollen das lernen, und man fängt dann in der Regel damit an, daß man den Kindern zunächst die Groß- und Kleinschreibung vermittelt, weil man das auch halbwegs erklären kann, (und weil die

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Gesellschaft die Groß-Klein-Schreibung besonders wichtig findet), dann wird das trainiert - und die Kinder können das dann in der Regel auch. Anschließend stellt man dann eine "Entwicklungsstufe" fest, wonach Kinder zuerst die Groß- und Kleinschreibung beherrschen. Das ist aber nicht unabhängig vom Unterricht. Wir haben hier eine Abart der alten Frage, ob zuerst das Huhn oder das Ei da war? Von daher denke ich, diese Entwicklungsstufen sind ein zweischneidiges Schwert. Ich für meinen Teil glaube jedenfalls nicht, daß es solche Entwicklungsstufen naturwüchsig gibt. Meinzer 4: Verfolgen Sie einen systematischen Aufbau der Rechtschreibkompetenz in "Lesen durch Schreiben" (durch spezielle Übungen, SABEFIX...)? Reichen: Nein, ich verfolge keinen systematischen Aufbau. Ich habe einfach immer wieder Rechtschreibeanforderungen im Lehrgangsmaterial. Das hat aber mehr den Zweck, bei den Kindern das Wissen wachzuhalten: Achtung, die Gesellschaft nimmt die Sache sehr wichtig. Wir müssen da immer wieder etwas machen, sonst haben die Eltern Zuhause das Gefühl, daß das keine richtige Schule sei, die wir da betreiben. Meinzer 5: Was verstehen Sie unter Rechtschreibkompetenz? (Orthographisch richtiges Schreiben?; Sicherheit in der Schreibung eines Grundwortschatzes?; Fähigkeit, entsprechend den kommunikativen Anforderungen im wesentlichen richtig zu schreiben?; Angstfreies, selbstbewußtes Schreiben, da man weiß, wie man bei Unsicherheiten in der Rechtschreibung Klarheit bekommt z.B. durch den Duden, durch eine Verlängerungsregel (Brot-Brote), durch Stammprinzip (Wald-Wälder)?...) Reichen: Es ist alles das, was Sie hier aufzählten. Es geht darum, daß man orthographisch richtig schreibt. Man müßte keine Angst vor dem Schreiben haben, selbstbewußt schreiben, und sollte den Fehlern gegenüber, die man selber macht, tolerant sein. Rechtschreibkompetenz ist für mich leicht überheblich - das, was ich selber habe. Ich kümmere mich überhaupt nicht um den Duden. Ich schreibe einfach drauf los. Und meistens ist es richtig. Und dort, wo es nicht richtig ist, stört es mich nicht, und meine Leserinnen und Leser auch nicht. Die denken dann, das sei schweizerisch oder helvetisch, was da nach deutscher Gepflogenheit falsch ist. Aber zum Teil weiß ich es einfach nicht. Wenn ein Lektor die Dinge übersieht, die ich falsch mache, dann sind sie halt so im Druck. Aber es stört effektiv niemanden. Meinzer 6: Warum lassen Sie in Ihrer Lernsoftware bei sehr toleranter Schreibung bestimmte Schreibungen zu, bestimmte nicht? Bsp.: Tausendfüßler T/t/D/d*au/auw*sen/zen*d/t*f/v*ü/ue* ß/s/ss*ler (warum nicht auch Tausend füßla?) - Ist das dialektbedingt, so daß die Lernsoftware eigentlich der Regionalsprache entsprechend ergänzt werden müßte? Reichen: Das läßt sich nicht begründen, das ist die Laune eines Momentes. Wenn Sie gesehen haben, wie das bei der Software gemacht wird, dann haben Sie ja gesehen, welche Toleranzbandbreite wir

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jeweils gewähren. Und beim Tausendfüßler habe ich die Toleranzbandbreite offenbar an einem Tag eingegeben, an dem ich fand, daß ich bei dem Wort Tausendfüßler die Variante "Tausendfüßla" jetzt nicht mehr durchgehen lasse. Es gibt frühere Übungen, bei denen das "a" anstelle des "er" am Schluß noch akzeptiert wird. Das ganze folgt der Idee, allerdings kaum systematisiert, bei dieser Lernsoftware in der Reihenfolge der Programme die Rechtschreibtoleranz langsam aber stetig wieder zurückzunehmen. Bei den ersten Übungen, die die Kinder schreiben sollen, ist sie sehr viel größer, als später. So wird beispielsweise bei der Diskette 2 die Groß-/Kleinschreibung nicht mehr toleriert. Meinzer 7: Sie schreiben in "Vugs und Edwi wie kleine Kinder Schrift verwenden", daß die kindliche Schreibung voll von Fehlern stecke, da die Kinder orthographisch nach Lauten statt nach Duden schreiben. Bei pädagogisch vernünftiger Haltung der Lehrerin löse sich das Problem aber von selbst. Wie sieht die "pädagogisch vernünftige Haltung" aus? Warum löst sich dieses Problem von selbst? Beruht diese These auf Erfahrungen mit Kindern oder auf einer bestimmten Theorie des Rechtschreiben-Lernens? Reichen: Wie sieht die "pädagogisch vernünftige Haltung" aus? - das ist die entscheidende Frage für mich und ich sehe in ihr eine Ermessensfrage. Um sie zu beantworten gehe ich zunächst davon aus, daß die Schule einen Bildungsauftrag hat und daß wir diesen Bildungsauftrag erfüllen wollen. Nun ist aber Bildung aber auch das Ergebnis eines Mühens beim Kind. Bildung fällt einem nicht einfach nur in den Schoß. Dann ziehe ich in Betracht, daß ich für die Kinder eine befriedigende Schule möchte, damit sie stolz auf sich und ihr Lernen sein können. Ich will ihnen aber nicht Anstrengungen oder Frustrationen ersparen. Das kann ich gar nicht. Ich kann nur mildernd damit umgehen. Zum gesellschaftlich legitimierten Bildungsauftrag gehört die Rechtschreibung. Ich kann die Kinder von dieser Forderung nicht ausnehmen - ich kann lediglich versuchen, "pädagogisch vernünftig" damit umzugehen. In meinen eigenen Klassen ging ich deshalb so vor: Meine Kinder wußten, daß sie die Rechtschreibung lernen müssen. Gelegentlich knallte ich da auch mit der Peitsche, indem ich Diktate schreiben ließ und diese auch bewertete. (Allerdings habe ich dabei nicht Fehler gezählt, sondern eine positive Rückmeldung in Form von "Rechtschreibpunkten" gegeben, was den "Frust" bei den schlechteren Schülern psychologisch etwas milderte.) Nun gab es bei diesen Diktaten natürlich immer wieder Kinder, die nicht so gut abschnitten, die womöglich mit einem langen Gesicht nach Hause kamen und dann von ihren Eltern den Auftrag bekamen, "irgendwie" etwas gegen ihre schwachen Rechtschreibleistungen zu tun. In der Regel wurde empfohlen "mehr üben" - obwohl das erkennbar wenig oder gar nichts nutzte. Was aber sollten sie anderes tun? Ich weiß es nicht. Das einzige, was mir einleuchtet, liegt im Bereich der Motivation. Man darf die Kinder nicht in die Resignation treiben. Deshalb ordnete ich nicht mehr Übungen an, sondern beruhigte die Kinder immer wieder, z.B. mit dem Hinweis, Rom sei auch nicht in einem Tag erbaut worden und es gäbe viele Wege nach Rom. "Du schaffst das schon noch. Du mußt versuchen, das zu lernen, wobei das Schwierige ist, daß ich dir gar nicht dabei helfen kann. Du mußt den Weg selber finden - aber du wirst es schaffen."

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Bei mir im Unterricht hat das weitgehend funktioniert - und scheint meine Theorie zu bestätigen, wonach das Rechtschreiblernen das Ergebnis eines selbstgesteuerten Lernprozesses ist, der unsystematisch verläuft und von außen praktisch nicht angeleitet werden kann. Natürlich kann das auch ein schlichter Irrtum sein. Vielleicht haben bei meinen Kindern die Eltern mit den Kindern an der Rechtschreibung gearbeitet. Die Eltern dachten, ich würde mich nicht um die Rechtschreibung kümmern, fände sie nicht wichtig - also muß sich das Elternhaus darum kümmern. Ich machte zwar in der Schule nichts, aber Zuhause wurde mit den Kindern gearbeitet und daher waren sie dann in der Schule auch gut. Allerdings ist auch diese Erklärung nicht eindeutig. So hatte ich z.B. in meiner letzten Klasse drei Freundinnen, die durch Dick und Dünn miteinander gingen, die auch in der Freizeit viel zusammen waren, die aber sehr verschieden waren: Deborah war ein sehr aktives und kreatives Kind, Nicole war außerordentlich willig, pflichtbewußt und zuverläßig, Patricia war ein unglaublich kluges Kind, sehr selbstbewußt. Die drei haben stets miteinander gearbeitet, machten alle Schularbeiten gemeinsam. Zuhause wurde Nicole aber zusätzlich von ihrer Mutter maßiv bedrängt: Du mußt noch rechnen, Diktate schreiben, usw. usw. Da hat sich dann folgendes ergeben: Deborah war nicht gut in der Rechtschreibung, sie konnte nicht mithalten und hinkte den beiden anderen hinterher. Nicole war eindeutig die beste, vielleicht, weil sie Zuhause stark getrimmt wurde. Patricia machte Zuhause gar nichts, war aber fast so gut wie Nicole. Sie hatte im Durchschnitt 1-2 Fehler mehr als Nicole. Aber was heißt das schon? Nicole hatte 0 Fehler und Patricia 2. Das war für mich kein Anlaß, einzugreifen. Wegen der 2 Fehler fand ich den gewaltigen Übungsaufwand, den die Mutter mit ihrer Nicole betrieb, nicht zu rechtfertigen. Nicole begann auch, aufsäßig zu werden. Sie hat realisiert, daß das bei Patricia auch ohne Zusatzaufwand funktionierte. Ein anderer Fall war Miro. Er war Serbe, noch nicht lange in der Schweiz und mußte noch Deutsch lernen, hatte dabei Probleme. Er war aber sehr intelligent und hat seinen Deutschlern-Prozess sehr bewußt betrieben. Er wollte gut Deutsch können. Er fragte, wie man die Wörter schreibe und war hochmotiviert. Getrimmt hat ihn niemand - höchstens er sich selber. Er war auch gut und schon im zweiten Schuljahr fehlerfrei, was Rechtschreibung betraf. Meinzer 8: Gerhard Aust schreibt in seinem Aufsatz "Zu den psycholinguistischen Grundlagen der Orthographie" (in: Grundschule, 6. Jg. 1992, Heft 57), daß das Kind die Rechtschreibkompetenz selbst aufbauen muß, ganz gleich, ob es nun systematisch beschult wird oder ob es durch vieles Schreiben lernt. Allerdings sagt er einschränkend dazu, daß aus der Eigenaktivität des Lernens jedoch nicht folgen dürfe, daß deshalb kein systematischer Rechtschreib-Unterricht mehr nötig sei. Dagegen sprächen folgende Gründe: - Schriftsprachliche Produktionen seien immer zu gering (selbst wenn in allen Deutschstunden nur geschrieben würde, auch im Vergleich zum kindlichen Spracherwerb!), als daß daraus eine orthographische Kompetenz im vollen Sinn entstehen könnte. - Die orthographische Richtigkeit sei auch Produkt einer bewußten Normierung mit sehr geringen Freiheitsgraden, d.h. die Richtigkeit der Norm setzt nach Aust dem natürlichen Lernen Grenzen. Stimmen Sie der Aussage zu, daß systematischer Rechtschreibunterricht als Ergänzung zum eigenaktiven Lernen notwendig ist? Mit welcher Begründung? Wie stehen Sie zu den zwei Begründungen dieser These von Aust?

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Reichen: Ich persönlich glaube nicht an Möglichkeiten und Erfolge eines systematischen Rechtschreibeunterrichts. Wenn ich das in meinem Material trotzdem ein wenig mit dabei habe, und wenn ich es in meinem Unterricht trotzdem ein wenig gemacht habe, dann ist das ausschließlich ein gesellschaftspolitischer Kompromiß gewesen. Wenn man das überhaupt nicht macht, bekommt man mit allen Eltern Probleme, ebenso mit anderen Lehrerinnen und Lehrern. Es wird einem dann vorgehalten, man würde die Kinder für die weiterführenden Schulen nicht richtig vorbereiten und andere KollegInnen müßten sich mit unseren Versäumnissen herumschlagen. Darum habe ich das immer mit im Angebot gehabt.

Persönlich aber glaube ich überhaupt nicht daran, daß es auch nur das Geringste bringt. Aust stimme ich zu, wenn er schreibt, daß das Kind seine Rechtschreibkompetenz selbst aufbauen muß, unabhängig davon, ob es systematisch beschult wird oder nicht. Aber seine These, daß man mit Systematik nachhelfen muß, weil die spontanen Schreibanlässe quantitativ zu gering seinen, als daß es da Rechtschreiben lerne, ärgert mich.

Die Grundfrage bei all diesen Leuten wird nicht gestellt! Es ist die Frage: Wie denken sie sich eigentlich, daß Kinder die Rechtschreibung erwerben? Bei all diesen Rechtschreib"systematikern" (als ob unsere Rechtschreibung "systematisch" sei - dieses Kuddelmuddel) läuft es letztlich doch darauf hinaus, daß die Kinder Rechtschreibung auswendig lernen. Sie üben und trainieren bestimmte Wörter und Wendungen so lange, bis sie sie können. Dieses Lernmodell ist nicht meines. Ich habe im Lehrerkommentar von "Lesen durch Schreiben" und ausführlicher noch im Sachunterrichtsbuch "Sachunterricht und Sachbegegnung" dargelegt, daß wir unser Gedächtnis nicht im Griff haben, daß wir willentlich auf das Gedächtnis keinen Einfluß haben. Ich denke, wir können das Gedächtnis nicht zwingen, sich systematisch Dinge zu merken. Diese ganzen Übungsmaterialien dienen nur den Verlagen; schaffen Hochschulkarriere-Möglichkeiten (d.h. mit ihren Rechtschreibuntersuchungen bekommt Frau Christa Röber-Sieckmeyer eines Tages eine Professur). Aber mit den Kindern selbst hat das nichts zu tun. Sie lernen Rechtschreibung nicht so! Vielleicht wird die Rechtschreibung vom Gedächtnis auswendig gelernt, aber das Gedächtnis entscheidet selbst, wann es was behält oder nicht. Wenn das Kind gut motiviert ist und weiß, daß diese Angelegenheit wichtig ist, ist die Chance erhöht, daß das Gedächtnis funktioniert.

Systematischer Rechtschreibe-Unterricht ist als Ergänzung zum eigenaktiven Lernen nur aus Kompromißgründen nötig. Wir müssen das im Moment noch machen, weil wir sonst mit allen Leuten Streit bekommen. Der Streit wird dann auf dem Rücken der Kinder ausgetragen. Also machen wir diesen Kompromiß mit, machen den Kotau, den Bückling vor der Gesellschaft. Aber in der Sache selber könnte man es bleiben lassen. Meinzer 9: Christa Röber-Sieckmeyer spricht von der "kognitiven Rechtschreib-Erfassung der Kinder". Sie vertritt die Auffassung, daß den Kindern durch gezielte Übungen die Systematik der Orthographieregeln bewußt und erkennbar gemacht werden müsse. Was halten Sie davon? Was tun Sie, um diese Systematik den Kindern zu verdeutlichen/aufzuzeigen? Ab welcher Klassenstufe würden Sie den systematischen Rechtschreibunterricht ansetzen oder ist der Zeitpunkt für jedes Kind ein individueller? Reichen: Ich sehe das Problem ganz und gar nicht wie Frau Röber-Siekmeyer und bin gänzlich anderer Meinung als sie.

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Ich denke, nur derjenige ist kompetent in der Rechtschreibung, der einfach richtig schreibt. Ich selber mache das so. Solange ich in der Schule und im Gymnasium war, ist meine Rechtschreibung nie beanstandet worden, dabei kannte ich zeitlebens keine einzige Regel. Jetzt gelegentlich taucht eine Regel auf, weil ich ihr begegne, weil ich mich mit der Sache auseinandersetzen muß. In einer der vorherigen Fragen erwähnten Sie z.B. den Ausdruck "Stammprinzip" - davon weiß ich eigentlich gar nichts. Mir scheint, daß es bei der Rechtschreibung ist wie bei der Grammatik: Man beherrscht sie implizit. Man muß nicht die Grammatik können, sondern man benutzt sie einfach. Ganze Naturvölker wissen nichts von Grammatik - trotzdem sprechen sie ihre Sprache grammatikalisch korrekt. Woher diese Grammatik kommt, weiß niemand. Für einen Menschen wie Professor Kluge, der sich beispielsweise mit Grammatik beschäftigt und Regeln aufspürt und Zusammenhänge sucht, ist das wahrscheinlich ein großer Frust, wenn ich sage, daß das alles nicht nötig ist. Klar: Wer sich dafür interessiert, kann das tun. Aber im Grunde ist es wie mit dem Autofahren oder Telefonieren. Man muß doch nicht wissen, wie das Telefon funktioniert, was sich da eigentlich in der Fernmeldetechnik abspielt, um mit jemandem zu telefonieren. Das Entscheidende ist einfach, daß man weiß, wie mit dem Apparat umzugehen ist, wie man die Nummer einstellt - und dann telefoniert man miteinander. Oder beim Autofahren. Natürlich gibt es Leute, die wissen, wie das Auto funktioniert, wie die Kupplung funktioniert und was paßiert, wenn man auf die Kupplung tritt. Aber das muß man alles nicht wissen, um Autofahren zu können. So ist es auch mit der Rechtschreibung. Mit Sicherheit gibt es statistische Häufigkeiten, Verwandtschaftsbeziehungen, usw. Es gibt eine ganze Wissenschaft, die untersucht, wie was zusammenhängt. Aber der Normalbürger muß das alles nicht wissen. Er muß einfach richtig schreiben. Das paßiert von selbst Ich halte also von einer Systematik nichts. Und ich tue nichts, um Kindern diese Systematik zu verdeutlichen. Ich würde auch keine Klassenstufe einsetzen, in der ich das mache. Das ist aus meiner Sicht alles Zeitverlust. Dieser ganze Rechtschreibwahnsinn führt doch zu nichts anderem, als die Schule mit Quark zu beschäftigen. Damit halten wir die Kinder davon ab, wirklich denken zu lernen und uns mit der Welt und dem Leben auseinanderzusetzen. Manchmal denke ich natürlich, daß das mit böser Absicht geschieht, daß wir absichtlich mit Pseudoangelegenheiten konfrontiert werden und Zeit mit unnötigen und toten Dingen verlieren müssen, damit wir zum Entscheidenden nicht kommen. Anders ist es, wenn Kinder von sich aus nach Regelmässigkeiten fragen. Sowas ist mir mit meiner Nadine mal paßiert, als sie mich fragte: "Warum heißt es 'das Haus - die Häuser', aber 'die Maus und die Mäuse'? Warum nicht auch 'die Mäuser'?" Ich mußte antworten: "Nadine, das weiß ich nicht, das ist einfach so. Es gibt manchmal regelmäßige Regeln und manchmal nicht. Bei 'Bäume' kann ich dir erklären, warum man sie nicht mit eu schreibt, sondern mit äu. Das kommt von 'der Baum' und da ist das au drin. Und die Mehrzahl davon ist äu. Man muß beim au bleiben und macht zwei Punkte drauf. Das ist näher verwandt." Sie hat das akzeptiert, auch wenn es eine Pseudoerklärung war; denn was heißt schon 'näher verwandt'? Meinzer 10: Was verstehen Sie unter Schreibkompetenz? Gehört Rechtschreibung dazu?

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Reichen: Unter Schreibkompetenz verstehe ich die Fähigkeit, seine eigenen Gedanken, vielleicht sogar seine eigenen Gefühle, Absichten, Beobachtungen, Mitteilungen schriftlich auf Papier zu bringen und zwar so, daß der potentielle Leser versteht, was gemeint ist. Früher nannte man das ein "gutes Sprachgefühl". Dazu gehört in erster Linie semantische Kompetenz, in zweiter Linie grammatische Kompetenz und in dritter Linie auch orthographische Kompetenz. Die Beherrschung der Rechtschreibung figuriert also nur am Rande.

Wenn ich einen Text schreibe, dann überlege ich beim Schreiben stets: Ist dies das richtige Wort? Kann man das so sagen? Ist das präzise gefaßt? ist das wirklich so? Ich hüte mich vor den Übertreibungen, deren Opfer man sehr rasch wird, und vor dem Jargon in der Wissenschaft, wo irgendwelche Nullitäten durch Gebrauch irgendwelcher Kompliziert-Formulierungen und hochgestochener Fremdworte eine Bedeutung bekommen, die sie gar nicht haben.

Man muß hier radikal sein. Wenn es nicht um Karriere geht, wenn es nicht um Geld geht, sondern wenn es um Wahrheit geht, und diesen Anspruch hat ja die Wissenschaft, kann man gar nicht entschieden genug sein. Und dann gilt, was der Philosoph Wittgenstein gesagt hat und womit er berühmt geworden ist: "Es ist wirklich so, alles, was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen. Und worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen." Ja, und was die Rechtschreibung dabei betrifft: die ist und bleibt drittrangig. Meinzer 11: Inwieweit sind Rechtschreibkompetenz und Schreibkompetenz Ihrer Vorstellung nach abhängig voneinander? Entwickelt sich Rechtschreibung erst durch Schreiben? Reichen: Das weiß ich nicht. Selbstverständlich ist jemand nicht abschließend schreibkompetent, wenn er nicht Teilkompetenz in Rechtschreibung hat. Aber dies muß nicht sein. Zwar hilft es, aber ich habe in meinem persönlichen Bekanntenkreis auch Leute, die die Rechtschreibung nicht beherrschen und doch schreibkompetent sind. Wenn sie mir einen Brief schreiben ist er voller Fehler, aber ich verstehe trotzdem, was sie meinen, und sie können sich durchaus lebhaft und gut ausdrücken. Sie bringen sogar Gefühle über die Rampe, was aus meiner Sicht ein ganz entscheidendes Qualitätsmerkmal ist.

Ob sich Rechtschreibung durch Schreiben entwickelt, weiß ich also, wie gesagt, nicht. Ich bin mir da nicht sicher. Wahrscheinlich klingt sie stufenweise ein, nachts im Schlaf, also nicht durch Schreiben. Wenn man gar nie schreibt, kann man keine Rechtschreibung üben. Man muß schon selbst schreiben, aber man lernt sie nicht während des Schreibens, sondern aus Anlaß von Schreiben. Meinzer 12: Die Hamburger Forschungsgruppe um Heiko Balhorn und Peter May behauptet, daß allgemeine Sprachkompetenz einhergehe mit Rechtschreibkompetenz oder - anders herum - Rechtschreib-Schwäche mit geringer Sprachkompetenz. Bestätigen Ihre Erfahrungen diese Aussage oder sehen Sie das anders? Reichen: Ich kenne diese These, weiß aber nicht, wie sie begründet wird. Ich finde, sie sei wenig brauchbar und fürchte, es handelt sich um einen Zirkelschluß.

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Um der These auf den Grund zu gehen, müßte zuvor noch einmal deutlich klar gestellt werden, was eigentlich Sprachkompetenz heißt. Und wenn man das dann weiß, müßte man überprüfen, ob die Kinder mit hoher Sprachkompetenz tatsächlich die guten Rechtschreiber sind oder nicht. Ich könnte mir vorstellen, daß man Kinder in eine bestimmte Situation bringt, ihnen ein bestimmtes Erlebnis vermittelt und sie danach auffordert, diese Situation, dieses Erlebnis zu schildern, und zwar so, daß ein anderer die Situation/das Erlebnis nachvollziehen kann. Da werden dann Unterschiede in der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit der Kinder auftauchen. Frühere Untersuchungen ergaben in entsprechenden Fällen, daß die einen Kinder das Ereignis angemessen zur Darstellung bringen können, so daß andere, die selber nicht beteiligt waren, dieses Ereignis nachvollziehen konnten; während sprachlich weniger begabte Kinder das Ereignis einem Nichtbeteiligten nicht nahe bringen konnten. Würde man die beiden Kindergruppen auch in Hinsicht auf Rechtschreibung untersuchen, würde man wahrscheinlich feststellen, daß die sprachbegabteren Kinder gleichzeitig weniger Rechtschreibfehler machten als die anderen. Die Frage ist nur, warum? Balhorn und May können in diesem Befund eine Bestätigung ihrer These sehen. Für mich gibt es aber auch eine andere Erklärungsmöglichkeit: das Konstrukt der Intelligenz. Die sprachbegabteren Kinder sind intelligenter. Darum ist ihnen bei der Situation/dem Erlebnis klar geworden, was das Entscheidende ist, was die Hauptsache ist, was man zuerst berichten muß, wenn man die Situation/das Erlebnis verstehen will und was nachher, was man einem, der nicht dabei war, unbedingt mitteilen muß und was man als bekannt voraussetzen kann, usw. Und weil diese Kinder intelligenter sind, fällt ihnen auch die Rechtschreibung leichter. Der Zusammenhang, den Balhorn und May aufstellen, suggeriert natürlich, daß man, wenn man die Rechtschreibung stärkt, man die Sprachkompetenz stärke. Gerade das glaube ich nicht, und gerade auch bei den beiden nicht. Beide streben eine Karriere an und beide haben kommerzielle Interessen an einem systematischen Rechtschreibunterricht. Das muß man auch sagen und wissen. Balhorn macht ein gutes Geschäft mit seinem Wortlistentraining und seinen anderen Unterlagen in seinem Verlag. Peter May baut seine Professur auf diese Weise auf. Ich habe nichts gegen Geschäfte und nichts gegen den Aufbau von Professuren, nur dient das nicht immer der Wahrheit. Wenn es darum gehen würde, bei den Kindern die Sprachkompetenz zu steigern, das würde meine Unterstützung finden. Um das geht es aber nicht. Die 70er Jahre zeigen das anhand der Geschichte der Hessischen Rahmenrichtlinien. Damals hatten die Sozialdemokraten in Hessen die Vormacht verloren, und von Friedeburg, einer der profiliertesten Kultusminister, die Deutschland je hatte, mußte gehen, und zwar wegen neuer Lehrpläne. Es ging nicht um Lehrpläne in Physik oder Musik, die zu einem Sturm der Entrüstung beigetragen hatten, sondern es waren die Deutschrichtlinien, die die ganze Sache ins Rollen brachten. Der Hessische Elternverein als Speerspitze der CDU hat den Kampf eröffnet. Und um was ging es? Der Verfasser und geistige Vater dieser Rahmenlehrpläne, der allseits geachtete Wolfgang Klafki, der das zu verantworten hatte, war kein linker Ideologe. Aber er wollte den Kindern wirklich zu Sprachkompetenz verhelfen - und die Sprachkompetenz sollte dort angesiedelt werden, wo sie sich letztlich bewähren muß: im semantischen Bereich. Er hat aus dem Grunde Abstriche in Grammatik und Rechtschreibung in Kauf genommen. Das ist ihm schlecht bekommen. Überlegen Sie einmal selbst, warum das so gekommen war? Für mich

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gibt es einen klaren Zusammenhang, warum man in Deutschland, und nicht nur da, sondern überall in der westlichen Welt, letzten Endes nur tut, als ob man ein Kind und seine Sprachkompetenz fördern würde. Man erweckt diesen Anschein, indem man Kinder mit Dingen konfrontiert wie Grammatik und Rechtschreibung, die letzten Endes aber für die Sprachkompetenz nicht wirklich relevant sind. Meinzer 13: Hans Brügelmann schlägt in seinem Buch "Kinder auf dem Weg zur Schrift" eine methodische Stufung des Rechtschreibunterrichts vor, mit verschiedenen Schwerpunkten über die Schuljahre der Grundschule hinweg. In der ersten Phase (1. Schuljahr) schlägt er vor, die Rechtschreibförderung auf die auditive Wahrnehmung der Sprache zu konzentrieren, d.h. Lese- und Rechtschreibunterricht gehen Hand in Hand. In der zweiten Phase (2.-3. Schuljahr) steht das visuelle und schreibmotorische Einprägen einzelner Wörter im Vordergrund. Es geht dabei um eine Automatisierung eines Grundwortschatzes besonders häufig verwendbarer und sachlich oder individuell besonders wichtiger Wörter. Die dritte Phase (3.-4. Schuljahr) dient der gedanklichen Ordnung der Rechtschreibmuster. In einem ersten Teilschritt geht es um die implizite Musterbildung, in dem Wörter gleicher Schreibung gemeinsam geübt werden (Wortlisten). Es geht Brügelmann dabei nicht um Analogiebildung "nach Muster", sondern um geordnetes Abspeichern. In dem zweiten Teilschritt fassen die Kinder in Begriffsform, was solche Wortgruppen gemeinsam haben (Merksatz). Was halten Sie von so einer Stufung des Rechtschreib-Unterrichts? Halten Sie es überhaupt für sinnvoll, Wörter mit gleichen Rechtschreib-Phänomenen in Wortlisten zu sammeln und systematisch zu üben (vgl. das "Wortlistentraining" von Heiko Balhorn)? Haben Sie in Ihrer Klasse auch mit einem Grundwortschatz gearbeitet oder halten Sie das schon für eine Einschränkung der Kinder? Reichen: Sie können sich denken, was meine Antwort ist. Ich finde das alles unnötig. Es steht auch hier wieder dieses alte Lernmodell vom Auswendiglernen, bzw. Speichern dahinter. Ich möchte mich keineswegs gegen Brügelmann oder Balhorn stellen, auch wenn ich Balhorn vorhin mit einer kleinen Spitze stach. Der Mann muß ja von etwas leben, und als Professor bekommt er kein Honorar, da hat er nur einen Titel. Daß er da einen Verlag betreibt ist schon in Ordnung. Unter allem Rechtschreibmaterial, das die Republik überschwemmt, ist seines das Wortlistentraining - mit Abstand das Beste. Ich habe es in meiner Klasse auch eingesetzt, wenngleich eher dem sabe-Verlag zuliebe, der es in der Schweiz vertreibt sowie als Kompromiß für die Eltern, die dann denken, daß da doch etwas gemacht wird. Aber eigentlich hatte ich keinen Grundwortschatz, keine Lehrsätze mit den Schülern gemacht. Brügelmann und Balhorn haben ein großes Verdienst; sie sind kluge Männer, die wissen, daß man nicht gegen Windmühlen kämpfen kann und gegen die Essentials der Gesellschaft und gegen die gesellschaftlichen Verhärtungen nur wenig machen kann. Den radikalen Schritt, die Rechtschreibung ad acta zu legen, können sie sich nicht leisten. Mit einer entsprechenden These wären sie sofort weg vom Fenster. So können sie eigentlich nur eins tun - und das ist wie schon gesagt, ein Verdienst - sie können den Kindern das Leben etwas erleichtern, indem sie den ganzen Rechtschreibwahn etwas relativieren. Sie nehmen diesen ganzen Rechtschreibschrott und dieses entsetzliche Drillen, dem die Kinder immer noch ausgesetzt werden, etwas lockerer. Ich sehe den Wert dieses Stufenmodells darin, daß man Kinder verschont mit Anforderungen, die sie nur überfordern würden. Wird der Lehrerschaft empfohlen, im 1. Schuljahr die Rechtschreibförderung auf die auditive Wahrnehmung der Sprache zu konzentrieren, dann

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entlastet das die Kinder, denn alle anderen Anforderungen (Groß-Kleinschreibung, Dehnung, Schärfung usw.) bleiben ausgespart. Dies ist für Kinder eine Entlastung - und wird erst noch wissenschaftlich legitimiert durch einen "ordentlichen Aufbau". Dieser Aufbau stimmt zwar nicht, aber er hat für die Kinder den Vorteil, daß sie verschont werden von dem anderen Schrott, den anderen Überforderungen. Die Sache halte ich also für kinderfreundlich, darum gefällt sie mir. Was da aber als wissenschaftliches Konzept vorgegeben wird, überzeugt mich nicht. Meinzer 14: Im Lehrerheft "Lesen durch Schreiben" Heft 1 (S.61) schreiben Sie, daß man die Schüler - haben sie ein erstes Niveau im Schreiben erreicht - auf feinere Lautunterschiede aufmerksam machen kann und die Groß- und Kleinschreibung einführen kann. Wie führen Sie die Groß- und Kleinschreibung ein? Reichen: Ich sehe mich zur Rechtfertigung genötigt, noch einmal mitzuteilen, daß ich persönlich nicht gegen die Rechtschreibung bin. Ich denke, daß man Kindern keinen Dienst erweist, wenn man die Rechtschreibung nicht im Auge hat. Ich bin nur gegen den Weg, den andere gehen. Kinder sollen Rechtschreibung lernen. Sie werden bei mir regelmäßig aufgefordert, sich mit der Sache zu beschäftigen. Sie wissen, daß es wichtig ist. Das macht klar, daß wir den Kindern gegenüber, die zur Rechtschreibung Fragen stellen, Auskünfte geben, und zwar zunehmend differenzierte Auskünfte geben. Die Groß-/Kleinschreibung führe ich gleichzeitig mit den Buchstaben ein. Wenn Kinder bei mir in der ersten Woche die Buchstabentabelle bekommen, dann sieht man auf dieser Tabelle, daß es verschiedene Buchstaben gibt. Es wird für alle Kinder klar herausgearbeitet, daß es zwei Sorten hat, die großen und die kleinen. Sie bekommen als erste generelle Schreibregel, bei den Wörtern nur die kleinen zu nehmen und höchstens den ersten jeweils groß zu schreiben. Und weil wir am Anfang eh nur Hauptworte schreiben, ist diese Regel ziemlich verläßlich. Sie werden dann im Computerprogramm immer wieder mit der Sache konfrontiert werden, und die Toleranz in der Groß- und Kleinschreibung wird relativ schnell zurückgenommen. Im übrigen gebe ich da keine großen Erklärungen. Ich lasse die Kinder immer auf mich zukommen. Bei der Groß-/Kleinschreibung ist der Alltag sehr hilfreich unterstützend. Da kommen die Kinder und bringen Regeln von ihrer Mutter und ihrer Tante und von der Oma. Und die Regeln heißen dann: Alles, was man anfassen kann; alles, was man sieht. Wenn Kinder sich auf diese Weise selbst motivieren, habe ich nichts gegen diese Regeln.

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Text-B05 Jürgen Reichen Interview mit Markus Peschel Dieses Interview wurde am 16.10.1995 im "Institut für Lehrerfortbildung" in Hamburg geführt. Peschel: Über die Umsetzung von "Lesen durch Schreiben" in die Praxis ist in der Literatur sehr wenig zu finden, daher möchte ich mit diesem Interview ein paar Praxisfragen klären. Offenbar ist die praktische Anwendung von "Lesen durch Schreiben" für viele LehrerInnen schwierig. Daher meine erste Frage: Wo liegen die meisten Probleme bei der Einführung? Reichen: Die Probleme liegen weniger bei "Lesen durch Schreiben" - sie liegen eher im Anfangsunterricht ganz allgemein. Bei Schulanfang wird die Lehrerin mehr oder weniger dauernd von mehreren Kindern gleichzeitig beansprucht und da braucht man reichlich Nerven. In den meisten Klassen geht es zunächst etwas hektisch und turbulent zu, so dass die Lehrerin lernen muss, mit dem "Chaos" umzugehen. Das hat aber wenig mit der Methode zu tun. Zwar scheint "Lesen durch Schreiben" das Startproblem zu vergrößern, wenn man versucht, offen auf die Kinder einzugehen, aber das scheint nur so. Wenn man die Kinder nämlich durch die traditionellen Fibel-Arrangements und Maßnahmen von Schulbeginn weg "ruhig stellt", scheint sich das Problem zwar zu reduzieren, aber durch Hintertüren kommt es dann in Form von unterdrückter Unruhe und Aggression zurück, während offenes Arbeiten bald zu einem friedlichen Klima führt. Daher sehe ich keine besonderen Umsetzungsprobleme. Ich höre auch von keinen solchen Problemen. Natürlich gibt es Anfangsschwierigkeiten und Startprobleme, auch Bedenken; doch die meisten Befürchtungen der LehrerInnen erweisen sich dann im Verlauf der Arbeit als unbegründet. Peschel: Was raten Sie den Lehrenden in solchen Phasen, wie machen Sie den Lehrern Mut? Reichen: Tja, man sagt ihnen, dass diese Befürchtungen normal sind, dass sie auch schlaflose Nächte haben werden, dass sie das alles aber nicht persönlich nehmen sollen: die Schwierigkeiten liegen nicht an den LehrerInnen, sondern an der Sache. Peschel: Die LehrerInnen in Hamburg haben es da einfacher, da Sie hier verstärkt Hilfen geben können. Ist es nicht notwendig von jemanden in das Konzept des Lehrgang eingeführt zu werden? Reichen: Im Prinzip genügt das seriöse Studium des Kommentars auf der Grundlage eines abgeschlossenen Studiums. Darüber hinaus werden überall Fortbildungen angeboten, Begleitseminare. Diese sind eine zusätzliche Hilfe. Peschel: Am Anfang stößt man auf sehr viel Skepsis und Widerstand bei Eltern und in der Schule. Reichen: Nein, das kann man nicht verallgemeinern. Es gibt auch das Gegenteil. Peschel: Sie brechen mit sehr vielen bisherigen didaktischen Arrangements. Der Lehrer als Coach erfordert ein Umdenken bei Lehrenden und Eltern. Die Ergebnisse sind nicht mehr quantifizierbar, wenn individuell gelernt wird. Da fragt sich doch, ob nicht allererst die Rahmenbedingungen stimmen müssen, bevor es möglich ist, "Lesen durch Schreiben" einzuführen

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Reichen: Entsprechende Rahmenbedingungen sind überall gegeben: In ganz Deutschland hat jede Lehrerin Methodenfreiheit und jede Lehrerin ist selbst- und alleinverantwortlich für den Unterricht, den sie erteilt. Wer sich für "Lesen durch Schreiben" entscheidet, hat sich Gedanken gemacht, warum er den Lehrgang nimmt, verspricht sich etwas davon. Die KollegInnen, mit denen ich zu tun habe sind alles Leute, welche vom alten Unterricht die "Schnauze voll" haben: die wollen den überkommenen Unterricht nicht mehr und suchen einen neuen Weg. Und bei "Lesen durch Schreiben" haben sie das Gefühl, sie bekommen einen neuen Weg gewiesen - und erst noch einen gangbaren. Nun müssen sie sich nur noch einen Ruck geben und sich auf den Weg machen. Peschel: Sie zielen also speziell auf die besonders engagierten LehrerInnen ab? Reichen: Das kann ich so nicht sagen. Im Prinzip ziele ich auf alle LehrerInnen - nur hat sich bislang gezeigt, dass eher nur besonders engagierte "zugreifen". Warum das so ist, kann ich vielleicht durch ein Bild erläutern: In den Schweizer Alpen sind einige Gipfel durch eine Seilbahn erschlossen und andere nicht, und wenn man dort hinauf will, dann muss man zu Fuß gehen. Das ist zwar anstrengend, aber das "Oben-Sein" auf dem Gipfel ist ein ganz anderes, wenn ich selbst hinaufkraxelte, als wenn ich mit der Seilbahn hoch fuhr. Und nun bin ich nicht derjenige, der eine Seilbahn baut - d.h. ich werde "Lesen durch Schreiben" nie auf dem "Präsentierteller" anbieten, damit eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Konzeption gleichsam "erzwungen" wird - und das halte ich nicht für schlecht. Peschel: Eine Hilfe wäre z.B. eine bessere Durchstrukturierung im Lehrerkommentar, so dass es auch weniger engagierten LehrerInnen möglich wäre, mit diesem Konzept Unterrichtsstunden vorzubereiten. Reichen: Also Moment mal. Viele Leute finden den Lehrgang zwar grafisch-typografisch unprofessionell aufgemacht und diese Kritik akzeptiere ich (das war anno 1982 bewusst so gewollt worden und stellte sich dann als Fehlentscheid heraus), hingegen denke ich nicht, dass der Lehrerkommentar unübersichtlich sei. Natürlich kamen im Verlauf der Entwicklung immer neue Anbauten an das Gebäude, so dass man als LeserIn mitdenken muss, aber das schadet nichts. Selbstverständlich denke auch ich, dass ein Autor, ein Verlag verpflichtet sei, den Leuten die Lektüre möglichst einfach zu machen. Aber zuletzt geht es doch bei "Lesen durch Schreiben" um eine bestimmte Haltung, um eine ethische Grundeinstellung - und die können Sie nicht kaufen oder durch eine andere Anordnung des Textes in der Gliederung des Kommentars herbeiführen. Peschel: In Hamburg findet im Moment ein Lehrgangswechsel statt. Von der "Bunten Fibel" weg zu "Lesen durch Schreiben". Manche LehrerInnen führen dabei "Lesen durch Schreiben" mangelhaft ein und lassen das Engagement, das Sie fordern, vermissen. Reichen: Dazu kann ich nicht Stellung nehmen. Ich habe durch meine Kontakte nach Hamburg immer mitbekommen, dass die Situation hier irgendwie anders ist. Aber ich habe nie mitbekommen inwiefern anders. Ich bin zur Zeit gerade dabei, diese Andersartigkeit zu begreifen. Doch dies ist kein Problem von "Lesen durch Schreiben".

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Peschel: Inwiefern ist die Situation in Hamburg anders? Reichen: Eine Differenz betrifft einfach die Kinder, die Anfangsbedingungen. Ich denke, gewisse Schulen in Hamburg haben hier sehr sehr große Schwierigkeiten, indem die Zahl der aggressiven, begriffsstutzigen und antriebsschwachen Kinder außerordentlich hoch ist. Peschel: Größer als etwa im Vergleich zu Basel? Reichen: Ja. Peschel: Und was sind die Gründe hierfür? Reichen: Das kann ich abschließend nicht sagen, da kommt Mehreres zusammen. Nur ein Beispiel: Die Unterschiede fangen schlicht damit an, dass die Kinder in der Schweiz durchschnittlich ca. 3 Monate älter sind, wenn sie in die Schule kommen. Dann ist ein wesentlicher Faktor die Sprache. Es ist für ein schweizer Kind hundertmal einfacher zu verschriften als für ein hamburgisches. Peschel: Weil das Schweizerdeutsche näher am Schriftdeutschen ist? Reichen: Nein, umgekehrt. Weil das Schweizerdeutsche so weit vom Schriftdeutschen weg ist, dass das Schriftdeutsche eigens als etwas anderes gesprochen wird. Die Kinder realisieren, dass die Sprache, die man aufschreibt, eine andere ist, als die, die man spricht und so beachten sie das Schriftdeutsche genauer als etwa die Hamburger Kinder, die zwar auch eine Art "Mundart" sprechen, sich dessen aber nicht bewusst sind. Peschel: Das heißt, man lernt in der Schweiz quasi eine neue Sprache? Reichen: Wenn Sie so wollen, ja. Auf diese neue Sprache sind die Kinder dann mehr fixiert, sie passen besser auf und haben deshalb ein besseres Problembewusstsein. Zudem wird in der Schweiz wesentlich langsamer gesprochen, und das hilft beim Verstehen der akustischen Zusammenhänge. Des weiteren hilft, dass wir nicht so elegant artikulieren wie die Deutschen, das ist bei uns alles etwas grobschlächtiger. Peschel: Können sie ein Beispiel geben? Reichen: Nehmen sie die Doppellaute: Das Berndeutsche ist nicht imstande, das "e" und das "i" zum "ei" zusammenzuziehen. Ein wenig geübter Berner, der Hochdeutsch reden soll, sagt nicht "nein", er sagt effektiv "nee"-"iin". Oder schauen sie auf die kurzen, geschlossenen Vokale, die fließen hier in Hamburg mehr oder weniger ineinander. Es wird praktisch zwischen (i), (a), (o) kaum unterschieden. Ein Musterbeispiel ist "Wurst". In der Schweiz sagt man "Wurrrst", mit einem rollenden rrr. Hier ist es eine "Woast" und so schreiben das die Kinder dann auch. Das ist lautlich korrekt, doch ist diese Schreibweise natürlich sehr viel weiter weg vom richtigen Schreibgebrauch. Die Schweizer schreiben nicht "ech", sondern "ich"; nicht "est", sondern "ist"; nicht "ont", sondern "unt"; d.h. sie sind näher an der richtigen Schreibweise dran und das, so vermute ich, ist einer der Gründe, warum die Schweizer Kinder auch schneller lesen.

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Peschel: Dann ist es also für hamburger Kinder wesentlich schwieriger, das Lesen "durch Schreiben" zu lernen. Reichen: Ja. Peschel: Dazu kommt dann noch ein sehr hoher Ausländeranteil an den Schulen, vor allem in sogenannten Brennpunktschulen wie etwa Mümmelmannsberg. Reichen: Das spielt weniger eine Rolle. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir mehr Ausländer in der Schweiz haben als Ihr hier in Deutschland. Die Fremdsprachigkeit spielt keine Rolle, wenn das Kind liebevoll umsorgt aufwächst und intelligent ist. Zudem hat es aufgrund seiner Fremdsprachigkeit ein besseres Problembewusstsein für die deutsche Sprache und hat es dadurch eher einfacher. Die Leistungsdifferenzen, die man im Anfangsunterricht feststellt, haben noch andere Gründe. Der wichtigste scheint mir im Moment die "hamburgische LehrerInnen-Mentalität", die eine Folge der bekannten "Hamburger Liberalität" ist. Im banalen Wissen darum, dass Alles zwei Seiten hat, weiß ich auch, dass diese "Hamburger Liberalität" Vor- und Nachteile bietet. Diese Liberalität kommt mir persönlich sehr zugute, denn wo in Deutschland sonst könnte ein Schweizer so angenommen werden wie hier? Aber es gibt halt auch Nachteile, etwa indem diese "Liberalität" zur Beliebigkeit verkommt. Man geht hier derart "liberal" mit den Dingen um, dass beispielsweise "Lesen durch Schreiben" in einer Art und Weise "individuell abgewandelt" wird, dass es aus meiner Sicht nichts mehr mit meiner Konzeption zu tun hat. Da werden meine "Essentials" verletzt - und dann funktioniert "Lesen durch Schreiben" nicht mehr richtig. Ein Bild: Sie können einen Volvo durch Umbauten oder andere Farben aufmotzen und ihn immer origineller abwandeln - aber irgendwann ist es dann kein Volvo mehr. Peschel: Wenn die Grundhaltung - und "Lesen durch Schreiben" ist ja mehr eine Grundeinstellung als eine bloße Methode - im Unterricht stimmt und weiterhin respektiert wird, wieweit darf man sich dann als LehrerIn von dem Konzept "Lesen durch Schreiben" entfernen? Sie schreiben z.B., dass man die ersten drei Lektionen "Schulanfang" und "Das Leseprinzip" auf jeden Fall bearbeiten sollte. Reichen: So etwas habe ich tatsächlich geschrieben? Peschel: Ja. Zum einen habe ich halt das Gefühl, dass die Lehrerkommentare sehr frei geschrieben sind, Sie versuchen eine Grundeinstellung, eine Arbeitshaltung zu vermitteln, ein verändertes Bewusstsein. Und zum anderen sind dann doch Sachen zu finden, die Sie stark betonen, die unbedingt gemacht werden sollen. Wieweit darf man den Lehrgang verändern und wann ist es nicht mehr "Lesen durch Schreiben"? Wieweit tolerieren Sie Veränderungen? Reichen: Um diese Frage zu beantworten, muss man folgendes sehen: Der Lehrgang stammt aus dem Jahre 1982 und damals hat eigentlich niemand offen gearbeitet. Der Lehrgang ist deshalb - von der Entstehung her - der Versuch eines Brückenschlages. Er versucht eine Lehrerschaft, die noch nie offen gearbeitet hat, zum Umdenken zu bewegen. Sie finden daher eine Menge traditioneller Dinge in "Lesen durch Schreiben", wo ich die Leute abhole. Das tönt nach einer Rechtfertigung, ist es irgendwie auch. Aus taktischen bzw. innovationsstrategischen Überlegungen waren wir damals überzeugt, wir müssten diese Kompromiss machen - und nach allem was ich seither erlebt habe, denke ich immer noch so.

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Peschel: Spielt da mit rein, dass Sie früher auch sagten, "Lesen durch Schreiben" kann auch im frontal geschlossenen Unterricht eingesetzt werden? Reichen: Richtig. Peschel: Das sehen Sie heute dann bestimmt auch anders? Reichen: Nun, ich hätte es gewiss lieber anders, aber im Prinzip muss man sehen, obs mir nun passt oder nicht: man kann "Lesen durch Schreiben - im Sinne von lesen lernen durch eigenes schreiben - auch ohne Werkstattunterricht betreiben. Ich persönlich habe beim ersten Mal auch so angefangen, da hatte ich selber auch noch keinen Werkstattunterricht - nur Elemente einer Vorform waren schon da. Peschel: Ich finde man kann schlecht auf der einen Seite Freiheit und eigenständiges Arbeiten fordern und dann doch wieder frontal gelenkt unterrichten. Der Werkstattunterricht war zuerst eine eigenständige Unterrichtsform und wurde dann im Lehrgangskommentar 2 doch wieder als zum Lehrgang gehörend definiert. Reichen: Wir haben es hier mit einer Symbiose zu tun. Zum einen ist Werkstattunterricht auch außerhalb von "Lesen durch Schreiben möglich, zum andern kann man durch eigenes Schreiben auch geführt Lesen lernen. Das bestehen Wechselwirkungen. Übrigens: der Entwicklungsprozess in puncto "Lesen durch Schreiben bzw. "Werkstattunterricht" ist nicht zu Ende. Ich unterrichte ja zur Zeit hier in Hamburg eine erste Klasse und mache da interessante Erfahrungen. Da kam z.B. heute morgen Jan mit einem Ball und fing an, in der Klasse Fußball zu spielen. Peschel: Das kenne ich aus meinen Praktika. Reichen: Nun darf er das bei mir aber nicht. Er darf bei mir Fußball spielen, wenn ihm das ein großes Bedürfnis ist, aber nicht in der Klasse - in diesem Fall habe ich eine klare Position. Unklar ist anderes: irgendwann müsste Jan auch etwas arbeiten, leider will er aber nicht. Ich müsste ihn ausdrücklich dazu zwingen, nur möchte ich das eigentlich nicht - und in dieser Situation bin ich im Moment stark verunsichert. In der Schweiz genügte die allgemeine Forderung, dass man auch etwas arbeiten muss und nicht nur spielen darf - aber hier in meiner Hamburger Klasse klappt das nicht. Peschel: Mein Bruder macht derzeit gerade die Erfahrung, dass die Kinder lethargisch rumsitzen und in die Luft starren. Wie erreicht man solche Kinder in einem freien Arrangement? "Mach, was du willst" ist ja nur dann akzeptabel, wenn die Kinder wirklich etwas tun! Reichen: Ja, das ist das Hauptproblem, wobei es stets um Ermessensfragen geht. Es gilt dies für jede Erziehung, weil Erziehung praktisch immer entgegengesetzte Forderungen hat. Das Kind soll Selbständigkeit erwerben, doch muss es auch gehorchen können. Das ist gegenläufig: Entweder handelt es selbständig oder es gehorcht. Und ich stehe immer vor der Ermessensfrage, ob ich z.B. Jans Eigenwunsch nach spielen respektiere oder von ihm Gehorsam verlange, indem er etwas arbeitet. Ich mache natürlich auch noch ganz andere Erfahrungen, denn es ist eine ganz reizende Klasse, es sind ganz reizende Kinder.

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Peschel: Welche anderen Erfahrungen? Reichen: Erfahrungen wie Kinder lernen und wo sie Probleme haben. Heute bearbeitete z.B. Tim das SABEFIX-Programm "Verschiedene Perspektiven" und konnte alles, ausgenommen die Aufgaben, bei denen die Gegenstände in der Perspektive senkrecht von oben gezeichnet waren. Bei dieser Perspektive war er völlig unfähig, die gezeichneten Gegenstände zu erkennen. Peschel: Weil wir hier keine Berge haben? Reichen: Ja, oder weil wir nicht fliegen können? Die anderen Perspektiven, die er aus seinem bisherigen Leben persönlich kennenlernte, machten ihm keine Probleme, aber die Blickrichtung von oben, war ihm fremd. Naja und solche Erfahrungen mache ich am laufenden Band. Bei Noah z.B. habe ich zum erstenmal selber erlebt, wie sich ein Kind den Verschriftungsprozess nicht übers Gehör erschließt, sondern über die sensorischen Begleitphänomene bei der Lautbildung. Er schrieb gerade am Computer "Wolke" und der Computer gab eine Fehlermeldung, weil er das ,l" vergessen hatte. Da machte er dann nur ,Wolllll" und spürt das ,lllll" auf der Zunge. Peschel: Aber er ordnet nicht mehr zu: ,llll" wie "Lampe"? Reichen: Nein. Übrigens ordnen auch andere Kinder die Laute nur wenig der Tabelle zu, die Tabelle brauchen die praktisch nicht. Peschel: Ihre Kinder jetzt, oder nur am Computer? Reichen: Meine Klasse. Peschel: Warum? Die Buchstabentabelle ist doch ein zentrales Instrument. Alle LehrerInnen arbeiten damit, kleben sie auf Tische, hängen sie an die Tafel und überall wird die Buchstabentabelle als das Mittel, der Schlüssel zum Lesen und Schreiben angesehen. Ist das nicht mehr so? Reichen (nach 17 Sek. Pause): Ist an einem Fußball-Länderspiel die deutsche Nationalhymne das Entscheidende? Peschel: Ist denn die Buchstabentabelle nur der Anfang vom Spiel oder mehr der Ball, mit dem gespielt wird? Reichen: Die Buchstabentabelle ist ein zentrales Hilfsmittel für Kinder, die dieses Hilfsmittel benötigen. Ich stelle fest, dass 80% der Kinder, die ich momentan unterrichte, dieses Hilfsmittel nicht brauchen. Peschel: Und wie lernen sie die Graphem-Phonem-Zuordnung. Wo kriegen sie die Buchstaben her? Reichen: Die hatten sie schon. Die brachten sie schon mit.

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Peschel: Heißt das, dass die Kinder bei Schuleintritt quasi schon ein provisorisches Schriftgefühl, Buchstabengefühl besaßen? Reichen: Sie kannten die Buchstaben schon. Und das ist im übrigen meine Schwierigkeit. Peschel: Heißt das, dass die Kinder nicht mehr den Umweg über die Tabelle gehen, sondern den Buchstaben direkt über das Lautabhören zuordnen? Reichen: Ja. Noah schreibt Wolke wie Vampir und schreibt es dann mit einem "V". Und auf die Tabelle blickt er nie. Peschel: Aber ich dachte immer, dass die Buchstabentabelle zu den Essentials des Lehrgangs gehört? Reichen: Ne! Peschel: Also die nicht? Reichen: Ne! Peschel: Was dann? Reichen (stark betont): Das ist ein Hilfsmittel. Peschel: Aber doch das allerwichtigste, wie ich aus anderen Kommentaren gehört habe. Reichen: Ja natürlich! Peschel: Ich höre jetzt zum ersten Mal, dass es auch ohne geht. Reichen: Ja. Natürlich nicht auf Seiten der Lehrerin, nicht auf Seiten der Schule, aber auf Seiten des Kindes, weil es Kinder gibt, die sie nicht brauchen. Weil sie die Buchstaben schon wissen. Peschel: Mir fällt im Moment schwer, Ihre Relativierung der Buchstabentabelle nachzuvollziehen. Sie kommt mir überraschend, denn für mich gehörte bislang die Buchstabentabelle gleichsam als "das didaktische Hilfsmittel" in den Mittelpunkt. Reichen: Ja natürlich, sie ist ja auch prägnant gewesen und alle hängen sie ins Zimmer, weil sie damit den Eindruck erwecken können, sie würden "Lesen durch Schreiben machen - so wie man eine Druckerei ins Zimmer stellt und dann angeblich nach Freinet arbeitet. Das Entscheidende ist aber zunächst nicht die Tabelle. Peschel: Sondern? Reichen: Wenn ich mein eigenes Werk kritisch würdigen soll, dann würde ich sagen, didaktisch entscheidend ist folgendes: Wie in jeder guten Didaktik knüpfen wir dort an, wo die Kinder stehen, wir holen sie dort ab, wo sie stehen und wir arbeiten mit dem, was sie mitbringen. Und unsere Kinder bringen die Sprechsprache mit. Das ist das Entscheidende. Hier hole ich sie ab und

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von hier aus müssen sie dann lernen, das Prinzip des Verschriftens zu begreifen, das heißt, dass den gesprochen Wörtern Schriftzeichen zuzuordnen sind. Peschel: Die Buchstaben? Reichen: Ja. Und zwar immer die gleichen. Immer dort, wo man ein (u) hört, bei ,Schuh", bei ,Kuh", bei ,Muh", bei ,Fu", machen wir das entsprechende Zeichen. Peschel: Im Deutschen gibt es da Einschränkungen. Laute, für die nur ein Buchstabe steht ... Reichen: Halt halt halt, die Umdrehung gilt nicht. Überall, wo man ein (u) hört, wird auch eins geschrieben, während man umgekehrt nicht überall wo eins steht - wie bei neu, Heu usw. - eins hört. Aber wenn man von der Sprechsprache ausgeht, ist das für das Kind eine saubere Sache. Peschel: Phonetisch korrekt? Reichen: Ja, und das stelle ich an den Kindern fest. Wenn sie das Prinzip begriffen haben, akzeptieren sie es und halten sich daran. Mein Jan zum Beispiel, den ich vorhin mit dem Fußballspielen erwähnte, das ist ein Junge mit bereits ausgeprägter Persönlichkeit: eigenwillig, intelligent, rebellisch, lässt sich nicht kritisieren. Aber beim Verschriften habe ich nie mit ihm Probleme. Er akzeptiert es immer sofort, wenn ich ihm sage "hier hast du etwas falsch gemacht". Peschel: Und ist dann auch bereit, den Fehler zu korrigieren? Reichen: Ja, denn er hat den Fehler eingesehen. Er weiß, dass er falsch schrieb. Es ist ihm einsichtig. Er weiß warum und wieso und weshalb. Peschel: Also die Phonem-Graphem-Zuordnung ist eins der Essentials? Reichen: Nein, das ist das erste Lernziel. Das ist das erste, was das Kind begriffen haben muss. Und wenn es das kann, dann ist das Nächste, es auf lautlich schwierigere Begriffe umzusetzen, längere und schwierigere Wörter. Peschel: Und die Essentials? Reichen: Die Essentials von "Lesen durch Schreiben heißen: Durch eigenes Schreiben Lesen lernen. Nie mit Kindern lesen, die es noch nicht können. Nie laut vorlesen lassen. Peschel: Wegen der Diskriminierung vor der Klasse? Reichen: Ja, das ist das eine. Das andere ist, dass lautes Vorlesen das Sinnverständnis erschwert, weil lautes Vorlesen kein Sinnverständnis erfordert. Ich muss nichts verstehen, um laut vorlesen zu können. Sie könnten z.B. problemlos einen finnischen Text laut vorlesen, ohne ihn zu begreifen. Weitere Essentials wären, dass man offen arbeitet und dass man emanzipatorisch gesonnen ist. Peschel: Emanzipatorisch in Hinblick auf die Mädchen?

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Reichen: Nein, in Hinsicht auf die Kinder. Dass man nicht den fügsamen Untertanen, sondern den mündigen Bürger im Visier hat. Nur, das ist das Schwierigste an allem. Peschel: Es ist auch schwer umsetzbar, da der Lehrer nunmal die Erziehungsaufgabe hat. Er kann nicht gleichberechtigt wie die Schülern sein. Reichen: Es geht nicht um Gleichberechtigung, es geht darum, ob ich die Anpassungsfähigkeit oder die Selbstbehauptungsfähigkeit unterstütze und fördere. Nur ist das eine ideologische Debatte, die mache ich jetzt nicht weiter. Ein weiteres Essential wäre, dass man ein breitgefächertes Lern-, Spiel- und Arbeitsangebot zur Verfügung stellt, dass man fächerübergreifend arbeitet, wobei mir allerdings die billige Formel „Mit allen Sinnen lernen“ so nicht schmeckt, das ist mir zu handgestrickt, „ganzheitlich“ das wäre ein Anliegen. Und das Letzte, da komme ich aber nicht auf einen grünen Zweig bei den Lehrerinnen: Nicht üben, sondern durch „kognitive Aktivierung“ das Lernen der Kinder fördern. Wer diese Essentials befolgt, der mixt nachher ein freies Angebot, aber er ist imstande didaktische Qualität zu erkennen. Peschel: Dazu gehören aber wiederum ein paar schulische Maßnahmen für den fächerübergreifenen Unterricht, z.B. Abschaffung des Pausengongs etc. Reichen: Also das ist alles schon am Laufen. Peschel: Ich würde jetzt ganz gerne noch etwas zu den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen fragen. Kennen Sie irgendwelche Untersuchungen zu "Lesen durch Schreiben außer dieser Rechtschreibstudie aus dem Lanton Zürich? Anscheinend hat sich ja bisher keiner der anerkannten Professoren mit "Lesen durch Schreiben auseinandergesetzt, es gibt keine Langzeitstudie o.ä. Wissen Sie warum? Reichen: Ich kann da schwer etwas dazu sagen, ich kann nur bestätigen, was Sie festgestellt haben. Im wissenschaftlichen Bereich wird "Lesen durch Schreiben mehr oder weniger totgeschwiegen. Es gab eine Untersuchung von Ruth Gümbel vor etwa drei Jahren, die hat sämtliche Erstlesewerke deutscher Sprache einer kritischen Würdigung unterzogen und da ist wirklich alles drin, nur nicht "Lesen durch Schreiben". Das Werk kommt als enzyklopädische Zusammenfassung daher - und berücksichtigt tatsächlich alles, bis zur letzten, selbstgebastelten Fibel, nur von "Lesen durch Schreiben" erfährt man kein Wort. Peschel: Können Sie sich vorstellen warum? Reichen: Meine erste Erklärung war: Frau Gümbel ist aus Bayern, die hat von "Lesen durch Schreiben" noch nichts gehört - wobei ich das aber als Entschuldigung eigentlich nicht gelten lasse, wenn jemand mit einem enzyklopädischen Anspruch daher kommt. Vor drei Jahren war ich auf der INTERSCHUL, da hat CVK das Buch von Gümbel groß beworben: "neu aufgelegt, aktualisiert". Ich hab reingeschaut und dachte, nun ist "Lesen durch Schreiben" wohl drin - denkste, der Lehrgang wurde wieder mit keinem Wort erwähnt! Der einzige, der es bisher erwähnt hat, ist Brügelmann. Aber eine wirkliche Auseinandersetzung hat nicht stattgefunden! Erwähnt wird "Lesen durch Schreiben" allenfalls im Zusammenhang mit Rechtschreibung, und da wird es dann attackiert. Es ist aber kein Rechtschreiblehrgang, es wird als Leselehrgang verkauft.

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Peschel: Ich würde sogar sagen als Lernlehrgang. Reichen: Es ist jedenfalls kein Rechtschreiblehrgang. Wenn man die Qualität von "Lesen durch Schreiben" wirklich feststellen wollte, müsste man den Lehrgang mit Fibeln vergleichen, aber das wird nicht gemacht. Natürlich weiß ich nicht, warum das nicht gemacht wird, doch habe ich Vermutungen: Ich denke, dass es kommerzielle Gründe sind. Die meisten der Professoren aus dem Fach haben eine Fibel verfasst und mögen es natürlich, wenn diese Fibel gekauft wird. Peschel: Aber um so eher würde ich eine kritische Auseinandersetzung erwarten. Reichen: Eine kritische Untersuchung kann doch die Fibel nicht retten. Die ist nicht mehr zu retten! Peschel: Keine? Reichen: Der Ansatz des Fibellesens ist nicht zu retten. Wenn Sie da wirklich anfangen nachzudenken, wird bald deutlich, dass nur "Lesen durch Schreiben" denkbar ist - letztlich. Peschel: Die Fibel wird aber immer noch von vielen LehrerInnen favorisiert Reichen: Lassen wir mal die LehrerInnen weg, wir reden jetzt von der wissenschaftlichen Seite. Peschel: Also, die Fibel ist einschränkend? Reichen: Die Fibel ist das Hauptgeschäft der Verlage, und die werden sich doch das Geschäft nicht kaputtmachen lassen. Peschel: Das heißt die Fibel wird gestützt, damit sie nicht stirbt und es gibt keine wissenschaftliche Auseinandersetzung, damit die Autoren ... Reichen: Es liegt nicht nur an den Autoren. Hier in Deutschland besteht ein unguter Filz zwischen Behördenvertretern und Verlagen, da ist einiges ziemlich undurchsichtig. Schließlich geht es um ein Riesengeschäft: Jedes Jahr kommen etwa eine Million Kinder in die Grundschule! Peschel: Also geht es um die Tantiemen für die Autoren? Reichen: Nein, das Geschäft machen doch die Verlage, nicht die Autoren. Aber die Professoren brauchen die Verlage, um ihre wissenschaftlichen Bücher verlegen zu können und wer z.B. bei Schroedel ein Buch herausbringen will, wird sich hüten, die Fibel-Produktion von Schroedel zu kritisieren, er muss dann ja damit rechnen, dass Schroedel sein Manuskript zurückweist. Peschel: Eine Hand wäscht die andere. Reichen: Ja. Zudem sind die Verlage fast alle in der Hand großer Konzerne. Da gibt es zwar anerkannte wissenschaftliche Reihen, aber auch Konzernteile, die z.B. Fibeln produzieren. Wer als Professor zu kritisch ist, bekommt Schwierigkeiten. Wenn Sie alt genug sind, werden Sie feststellen, dass in europäischen Gesellschaften die Leute Karriere machen, die pseudo-progressiv sind. Wer wirklich fortschrittlich ist, der wird abgeblockt, der ist viel zu gefährlich. Sie sehen, ich komme immer wieder auf den gleichen Punkt zurück: Der Untertan. Die Fibel erzieht zum

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fügsamen Untertan, daher ist sie erwünscht. Dann kommt ein weiterer Punkt: Lehrerinnen und Lehrer sind Beamte auf Lebenszeit. Man kann sie nicht entlassen. Auch wenn die Behörde genau weiß, dass die Lehrerin X nichts taugt, muss sie das geheimhalten, damit die Eltern nichts merken, denn sonst würden sich alle weigern, ihr Kind dieser Lehrerin anzuvertrauen. Also kann die Behörde gar keine Urteile fällen. Effizienzuntersuchungen bei diesem staatlichen Schulsystem können nicht sein. Peschel: Weil rauskommen könnte, dass die Hälfte aller Lehrerinnen und Lehrer überflüssig sind? Reichen: Nein, nicht überflüssig. Weil sie nichts taugen. Peschel: Aber das heißt ja, sie sind unfähig, Kinder zu unterrichten. Reichen: Ja. Peschel: Aber wenn die Hälfte der LehrerInnen unfähig ist, Kinder zu unterrichten, und man darf es nicht publik machen, dann ist das ja ein Argument für einen Fibellehrgang, weil man da weniger falsch machen kann? Reichen: Das wird so behauptet, leider. Peschel: Ich finde das auch nachvollziehbar. Wenn man angeleitet wird und sich an die Vorgaben hält, kann man weniger falsch machen als in einem freien Arrangement, in dem man sehr viel selber machen und damit auch viel falsch machen kann. Reichen (nach einer Pause): Lassen wir das mal. Peschel: Gut, kommen wir zu "Lesen durch Schreiben" zurück. Sie haben als zentralen Punkt in "Lesen durch Schreiben" den Motivationsansatz. Das Kind soll von sich heraus lernen. Dies erinnert mich an Rousseau, der auch minimal oder besser gar nicht helfen will und das eigene Lernen fördern will. Wurden sie von ihm direkt beeinflusst? Muss dieser Motivationsansatz in dieser Ausführlichkeit nicht eher scheitern? Was passiert, wenn die Kinder nicht auf dem Wege der Motivation zu greifen sind? Was ist, wenn Kinder angeleitet werden wollen, wenn sie sich schwer tun und nur unter Druck, unter Zwang lernen können, weil sie vielleicht so erzogen wurden? Was ist, wenn Kinder bei dem Prinzip der minimalen Hilfe frustriert werden, weil sie sich allein gelassen fühlen? Reichen: Moment mal. Das Prinzip der minimalen Hilfe heißt doch nicht, dass das Kind allein gelassen wird. Es heißt, ich gebe soviel Hilfe als nötig. Und da gibt es Kinder, die brauchen wenig Hilfe und es gibt Kinder, die brauchen mehr Hilfe - und die kriegen dann auch mehr. Zur Motivation ist zu sagen: Wer nicht motiviert ist, lernt auch nichts. Motivation muss sein. Dabei ist klar, dass eine intrinsische Motivation wertvoller ist als eine von außen angebahnte, aber wenn eine intrinsische Motivation fehlt, dann muss man halt mit Außendruck versuchen, das Kind zum arbeiten zu veranlassen, was ich notfalls ja selber auch mache - freilich im Wissen, dass sich zuletzt natürlich nichts erzwingen lässt. Peschel: Ich sehe noch ein Problem der Notengebung bei dem intrinsischen Motivationsansatz. Selbst mit dem Druck von außen mittels Noten sind nicht alle Kinder zum Lernen zu bewegen.

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Reichen: Ja eben, sie haben keine Begeisterung mehr. Peschel: Es ist kein Problem von "Lesen durch Schreiben" allein, nur arbeitet "Lesen durch Schreiben" vornehmlich mit der intrinsischen Motivation. Ist es vielleicht auch ein Problem mit der schwieriger gewordenen Situation in Hamburg? Reichen: Weltweit ist die Situation schwieriger geworden. Ich denke, das hat mit den modernen Lebens- und Aufwachsbedingungen zu tun. Fernsehen und Autofahrerei und so, ich will das hier gar nicht alles aufzählen. Die Arbeit der LehrerInnen verlagert sich zunehmend in den Beziehungsbereich und ist meiner Meinung nach nur noch im offenen Arbeiten zu leisten. Das Konzept, wie wir es haben, scheint einen gangbaren Weg zu weisen, obwohl ich den Lehrgang modifizieren werde, wenn ich das Jahr in Hamburg rum habe. Peschel: Die Neuauflage kommt also in veränderter Form und überarbeitet raus? Wahrscheinlich mit einem größeren Anteil für ausländische, speziell türkische Kinder? Reichen: Daran habe ich noch gar nicht gedacht, aber das notiere ich mir mal. (Pause) Wissen Sie, wir scheitern oder landen immer bei dem alten Problem, den drei "speziellen" Kindern: dem agressiven, dem begriffsstutzigen, dem antriebsschwachen. Ich nenne sie einfach mal so. Und da hat niemand Patentrezepte, ich auch nicht. Ich weiß lediglich, dass man Agressionen lindern kann. Sie gehen zurück, wenn man offen arbeitet und wenn Kinder Freiräume haben. Heute war ja der erste Tag nach den Ferien und da haben wohl die meisten LehrerInnen den Unterricht mit einem Gesprächskreis begonnen, wo man sich mit den Kindern zunächst einmal zusammensetzt und sich gegenseitig erzählt, wie die Ferien so waren. Ich machte das nicht weil ich absolut davon überzeugt bin, dass Kinder das nicht mögen und das auch sagen täten, würde man sie unbeeinflusst fragen. Bei mir jedenfalls war es heute morgen völlig klar: nachdem die Kinder zwei Wochen lang häuslich bedrängt worden sind - ich nenne das mal so - , genossen sie es, endlich einmal in Ruhe gelassen zu werden. Bei vielen Kindern war ganz offenkundig, wie sie sich, geradezu fluchtmäßig, sofort eine Arbeit nahmen, sich zurückzogen und in Ruhe gelassen werden wollten. Ihr Bedürfnis, von den Ferien zu erzählen, stillten sie untereinander und erst im Laufe des Vormittages kamen sie dann zu mir und erzählten. Peschel: Da kommen mir so die Bindungen in den Sinn. Sie sprachen davon, dass man vermehrt sozial arbeiten muss, um der Medienwelt entgegenzuwirken. Sie schreiben von Individualisierung und sozialem Lernen. Ich finde nur, der pädagogische Bezug wird in den Lehrerkommentaren nicht deutlich, er wird nicht herausgearbeitet. Ich vermisse die Erziehung ein wenig, es geht m.E. mehr um Bildung. Auch beim Lehrer als Coach vermisse ich die starke Lehrer-Schüler-Beziehung, die entscheidend ist für die Erziehung. Reichen: Ja gut, das wurde vielleicht so nicht deutlich genug ausgeführt. Es gibt ja ohnehin Leute, die meinen, der Lehrgangskommentar sei mit acht Heften viel zu umfangreich. Müsste ich jetzt noch eine ganze Pädagogik dazunehmen, würde das Ganze wohl etwas unübersichtlich. Der größere Teil der Leute, die "Lesen durch Schreiben" praktizieren, haben freilich noch einen Kurs besucht - meistens eine Woche in den Sommerferien - und da denke ich, wird dieser Punkt durchaus geklärt. Peschel: Gut, die Informationen habe ich nicht. Dies geht ja auch über die Lehrgangskommentare hinaus. Wie sehen Sie denn nun den pädagogischen Bezug im Unterricht bei "Lesen durch Schreiben" oder wie versuchen Sie ihn zu stärken, zu fördern, zu benutzen?

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Reichen: Die Art und Weise unserer pädagogischen Arbeit, wie sie beispielsweise auch im Film "Lob des Fehlers/Ein Coach und 23 Spieler" zumindest angetönt wird, setzt ja in besonderem Maße auf den pädagogischen Bezug. Weil ein vorbereitetes Lernangebot da ist, von dem die Kinder Gebrauch machen können, muss ich nicht unterrichten, d.h. ich bin einfach da und habe zunächst Zeit für die Kinder. Und die Kinder können jederzeit zu mir kommen und mir erzählen, was sie erzählen möchten - das ist für mich in hohem Maße pädagogischer Bezug. Diese Form wird gerade am Anfang des Schuljahrs besonders stark betont. Das Grundmuster, nach dem ich im Moment arbeite, ist ja folgendes- Die Kinder können in der Lernwerkstatt arbeiten, basteln, spielen was sie wollen, sie müssen pro Tag lediglich fünf Wörter schreiben. Das ist gleichsam der Eintrittspreis für die freie Benutzung der Werkstatt. Fünf Wörter sind alles, was erwartet wird. Ein Teil der Kinder schreibt dabei seine fünf Wörter an der Tafel bei mir, also unter meiner direkten Aufsicht. Da führen wir dann ein Gespräch miteinander und aus diesem Gespräch heraus schlage ich dem Kind wichtige und einfach zu schreibende Wörter vor, die es notiert. Wenn ich ein Beispiel machen darf: Heute Morgen war Noah bei mir an der Tafel und ich fragte ihn: "Warst du weg in den Ferien?" "Ja, beim Opa." "Na, dann schreib mal Opa." Dann schreibt Noah "Opa". Dann frage ich, wo der Opa wohnt und erfahre "in Remscheid." "Also, schreib mal Remscheid." usw. Die Kinder erzählen mir, wo sie waren, was sie sich zum Geburtstag wünschen, was sie erlebt haben, sie erzählen von zu Hause oder von ihren Hobbys, sie berichten, was sie später mal werden wollen usw. und gleichzeitig wird dann aus diesem Gespräch ein Lernansatz. Auf diese Weise scheint mir, wird ein sogar ein besonders intensiver pädagogischer Bezug möglich. Peschel: Und wie nutzen Sie den? Reichen: Ich benutze ihn, um die Vertrauensbasis zum Kind zu verbreitern. Das Problem in einer Schulklasse ist doch, dass da 25 Kinder eine Beziehung zur Lehrperson möchten, dass die Lehrerin aber nicht 25 Beziehungen gleichzeitig führen kann. Daher ist es wichtig, dass das Kind das sichere Gefühl hat, die Lehrerin kennt mich, die weiß um mich, ich gehöre dazu. Und psychologisch gesehen kann dieses Gefühl dem Kind eben auf so eine beiläufige Weise vermittelt werden. Ich erfahre über diese Anteilnahmegespräche eine ganze Menge von den Kindern und finde das überaus wichtig und wertvoll, auch wenn ich es im Film etwas abwertend als "permanenten smalltalk" benannt habe. Peschel: Das klingt allerdings sehr individualisierend. Ist es aber nicht im heutigen Medienzeitalter notwendig, verstärkt sozial zu lernen, um noch Bindungen an die Peer-group, an die Gemeinschaft zu haben? Reichen: Was meinen Sie mit sozialem Lernen? Peschel: Hilfsbereitschaft, Verantwortung übernehmen, einbinden in die Gruppe, nicht jeder ist der Wichtigste. Ruth Cohn entwickelte TZI, die Gleichberechtigung von Person-Gruppe-Thema. Muss die Schule nicht verstärkt sozial arbeiten, um den Individualisierungstendenzen entgegenzuwirken. Ich provoziere hier bewusst dieses Klischeedenken. Reichen: Das ist ein Thema, das immer da war. Immer ist der Egoismus des Einzelnen beklagt worden, immer hat man dagegen moralische Forderungen und Ethiken erhoben und entwickelt. Das ist eine andere Ebene. Sie fragten mich wo der pädagogische Bezug bleibt und nachdem ich es zu erklären versuchte, vermissen sie das soziale Lernen.

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Peschel: Diese beiden unterschiedlichen Bereiche gehören ja doch irgendwie zusammen. Reichen: Das soziale Lernen findet bei uns zunächst dadurch statt, dass die Kinder grundsätzlich frei sind und grundsätzlich gemeinsam miteinander arbeiten dürfen. Daher haben wir in der Klasse praktisch lauter Paare bzw. Dreier- oder Vierer-Gruppen, die dauernd miteinander spielen oder arbeiten. Es gibt nur zwei Kinder, die alleine arbeiten. Das eine Kind ist ein Junge, der ein ausgesprochener Einzelgänger ist, und gar keinen Kontakt zu den andern sucht, das andere Kind ist ein Mädchen und nur dieses steht in der Gefahr, dass es etwas an den sozialen Rand abgedrängt wird. Das Mädchen stammt aus der Grundschicht und scheint es nötig zu haben, sich von den ausländischen Kindern abzuheben, jedenfalls spielt es nicht mit türkischen Kindern, das macht es nicht. Gleichzeitig wird es aber von den "gehobeneren Schichten" in der Klasse abgelehnt, es ist nicht so intelligent wie die anderen. Die "bürgerlichen" deutschen Kinder wollen nicht ihm spielen, und es nicht mit den türkischen, daher ist es ein wenig allein. Peschel: Da kommt das soziale Lernen doch gut zum Ausdruck. Muss man nicht als Lehrer intervenieren, versuchen eine Sozialstruktur in der Klasse zu schaffen, die ein verantwortungsvolles Miteinander ermöglicht und fördert? Und fördert nicht "Lesen durch Schreiben" durch die Individualisierung - jeder schreibt was er will und jeder schreibt für sich - eher die entgegengesetzte Tendenz? Also: ist es überhaupt vereinbar und sollte nicht verstärkt sozial gelernt werden? Reichen: Die Frage übersteigt die Möglichkeiten, die wir in diesem Interview haben. Ich kann darauf nicht ausführlich antworten. Ich gebe zwei Dinge zu bedenken: 1. Die gewalttätigen Jugendlichen, die asozialen, die im Moment ein deutsches Problem sind, die hauptsächlich in Ostdeutschland zu finden sind, haben allesamt nicht "Lesen durch Schreiben" gehabt. Sie sind alle in der DDR in einer Erziehungssituation gewesen, wo Internationalität, Solidarität die staatlich verordneten Haupttugenden gewesen sind. Und es hat nicht funktioniert. Peschel: Jetzt nach dem Wechsel. Reichen: Das ist wieder eine Debatte, die sofort in die Politik führt und wo wir sofort in Links- und Rechts-Überlegungen hineinfallen. Die Spartaner mit der spartanischen Lebensweise (Zucht und Ordnung) waren ein kriegerisches Volk. Und es ist aus der Psychologie völlig klar, dass die spartanische Lebensweise die Leute aggressiv macht, damit sie nachher gute Krieger sind. Eine laizistische Erziehung, wo Bedürfnisse ausgelebt werden können, die führt zu einer friedlichen Erziehung. Und es ist einfach nicht wahr - Sie sollten hier der Presse und der Öffentlichkeit und allem misstrauen - das Ding läuft nicht so, wie es öffentlich immer gesagt wird. Sie bekommen keine friedliche Klasse, indem Sie immer mit dem moralischen Zeigefinger auf Gut und Böse hinweisen und gemeinsame Rituale machen, das ist am Schluss kontraproduktiv, so geht das nicht. Peschel: Aber wenn ich sie im Unterricht machen lasse, was sie wollen? Reichen: Es darf niemand ausschließlich machen, was er will. Aber ich gebe einen großen Freiraum. Peschel: Der ja mit dem angefüllt wird, was sie bisher erlernt haben und wie sie bisher erzogen wurden. Und es sind in unserer Gesellschaft nunmal starke Tendenzen, sowohl individualistische

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als auch andere. Ich überlege mir nur, wenn ein Kind heutzutage aufwächst, mit dem Überangebot an Medien. "Lesen durch Schreiben" unterstützt diese Tendenzen denke ich eher als ein Fibellehrgang. Reichen: Das ist nicht wahr. Ich nehme für mich in Anspruch, das ich den Primat der Pädagogik vor der Bildung vertrete. Und innerhalb des Erzieherischen ist für mich die friedliche Gesellschaft das absolut wichtigste. Peschel: Über die Freiheit der Kinder? Reichen: Es geht über die Freiheit der Kinder, sonst geht das nicht. Und es ist völlig klar, wenn man nur ein bisschen Psychologie kennt: Aggression ist zum Teil reaktiver Natur. D.h. die Folge selber erlittener Aggressivität, die Folge von Frust. Wenn Sie dauernd mit Misserfolgen konfrontiert werden, wenn Sie sich permanent langweilen, wenn Sie sich nicht bewegen können, dann staut sich das alles auf. Und die Fibel staut das alles auf. Kommen Sie zu uns in die Schule und beobachten Sie selbst. An dem Verhalten der Kinder in der Pause können Sie auf den Unterricht schließen. Die Fibelkinder sind aggressiver, müssen sich viel mehr motorisch entlasten, das kann man klar erkennen. Peschel: Wie sollte Ihrer Meinung nach die aktuelle Lehrerausbildung aussehen, wenn man die offenen Formen fördern will? Reichen: Lehrerausbildung ist ein Dauerbrenner. Ich bin der Meinung, dass ganz grundsätzlich im fachlichen Abstriche gemacht werden können. Ich halte z.B. für unnötig in welchem Ausmaß Mathematik betrieben wird usw. Ich halte viel für nicht erforderlich. Im Fachlichen könnte man halbieren, dafür müsste viel mehr Psychologie gemacht werden, mehr Soziologie, Philosophie, Politik, so dass man mehr emanzipatorische Erkenntnisse hat. Das würde ich ändern. Vor allem Psychologie müsste mehr sein, und mehr Praxiserfahrungen. In der Pädagogik könnte man vielleicht auch die einen oder anderen Abstriche machen, dafür etwas mehr Denktheorien lehren. Peschel: Dies geht jedoch nur wieder über Vorschriften, stark reglementieren. Reichen: Gut, im Studienseminar kommt das auch noch dazu. Ich denke da tut sich einiges. Peschel: Aus der Praxis der Lehrerinnen heraus? Reichen: Ja, und weil die Studienseminare eine neue Entwicklungsanforderung bekommen. Peschel: Die Entwicklung im Anfangsunterricht ist eine andere Seite, wie sehen Sie da die Veränderung? Reichen: Ich bin kein Prognostiker. Aber ich gehe mal von der Annahme aus, dass der Staat auch in Zukunft kaum Geld hat. Im Schulwesen ist das Verhältnis Lehrer-Schüler der eigentlich entscheidende Kostenfaktor. Dies bedeutet, dass man das Verhältnis auch in Zukunft nicht wesentlich verbessern kann, auch wenn man wollte. Da muss man sich etwas einfallen lassen. Wenn die Kinder erst mal schulgewöhnt sind, ich meine, gelernt haben, offen zu arbeiten, Werkstattunterricht kennen und sich selbst organisieren können, dann funktioniert der Unterricht

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auch mit dreißig Kindern. Aber nicht am Anfang. Und ich nehme an, der Anfangsunterricht wird sich insofern verändern, dass es mehr Klassen mit weniger Kindern geben wird. Peschel: Eine Verschiebung zugunsten der ersten Klassen? Wird dann der Computer als entlastender Faktor für den Lehrer eingesetzt werden? Reichen: Das weiß ich nicht, aber wenn ich jetzt einfach mal aus der Praxis erzähle, dann wird die Differenz zwischen Theorie und Praxis sehr groß und alle diese schönen pädagogischen Ideale und so weiter gehen unter, denn es gibt dann für Sie nur eins: Sie müssen in der Schule und der Klasse überleben. Peschel: Mit oder gegen die Schüler? Reichen: Zum Teil auch gegen die Kinder, gegen die Eltern, gegen das System. Peschel: Sie meinen, man steht als Lehrer immer zwischen den Stühlen? Reichen: Ja, denn am Anfang geht es nicht mehr um Bildung, nicht um Unterricht, nicht um Erziehung, es geht schlicht drum, einen Sack voll Flöhe zu hüten und zusammenzuhalten. Und da sind Sie froh um jedes Kind, das irgendwo in einer Ecke hockt und ruhig etwas macht, egal was. Und jedes Ding, das Sie bekommen können, ob ein Computer oder ein Duftkreisel oder was auch immer, das es Ihnen ermöglicht zwei, drei Kinder in einer Ecke ruhig zu halten, das findet den Weg in die Klassenräume. Peschel: Und nur die Geldmittel sprechen noch dagegen. Reichen: Ach was, das zahlen die LehrerInnen selber. Ich weiß nicht, ob Sie sich das Szenario schon vorgestellt haben, aber ich gehe jeden Morgen gern dahin und bin jeden Mittag heilfroh, dass es vorbei ist. Und jeder, der das nicht erlebt hat - da können die da oben und die am IfL und wo sie auch überall sind: an der Uni, in der Behörde, im Studienseminar, in der Elternkammer, in der Gewerkschaft - da können die über Pädagogik und Schule reden, was sie wollen: im konkreten Klassenraum, hier und heute, mit diesen 25 Gören, ist alles ganz anders. Peschel: Denken Sie, dass Lesen und Schreiben ihren Stellenwert noch behalten werden? Ich denke dabei an Computer, Spracherkennungssysteme, Fernsehen, etc. Wo sehen Sie die Zukunft von Lesen und Schreiben? Reichen: Die Zukunft von Lesen sehe ich darin, dass Lesen eine Form des Informations- und Lustgewinns darstellt und durch nichts anderes zu ersetzen ist. Alle, die an einem Computerbildschirm hocken, lesen hauptsächlich. Fernsehen ist dabei etwas anderes. Ich weiß zum Glück, dass es anthropologische Konstanten gibt, und der Mensch ändert sich zwar, aber über die nächsten hundert Jahre hinweg wird das Lesen nicht verschwinden. Peschel: Als Informationsaufnahme? Reichen: Ja, schon allein weil es schneller geht als das Zuhören.

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Peschel: Auch selbst durchs Fernsehen nicht? Reichen: Es gibt Informationen, abstraktere Informationen, logische Informationen, quantifizierbare, die man nicht ins Bild umsetzen kann. Gefährlich ist eher, dass Macht, Wissen, Herrschaftswissen zunimmt, dass uns die allgemeine Volksbildung abhanden kommt. Und so müssen alle aufklärerisch Gesonnen dagegen kämpfen. Aber der Computer und die neuen Medien werden nicht das Lesen verschwinden lassen. Peschel: Eher das Schreiben. Reichen: Eher das Schreiben, aber das wird auch nicht verschwinden, weil man nicht lesen kann, wenn man nicht schreiben kann. Peschel: Nur nach "Lesen durch Schreiben". Reichen: Nein, das ist so. Peschel: Viele können lesen und nicht schreiben. Man kann das Lesen ohne Schreiben lernen Reichen: Wer lesen kann, kann auch schreiben. Sie werden mir keinen Menschen zeigen, der nur lesen kann und nicht schreiben. Das gibt es schlichtweg nicht, weil es für LDS2 ein absolutes Argument, das "ontologische Universalargument" gibt: wir leben in einem bestimmten Raum-Zeit-Kontinuum und haben ein zeitliches Nacheinander. Und jedes Lesen ist nur möglich, wenn der Text vorher geschrieben wurde. Sie können nur etwas an der Wand lesen, wenn vorher jemand etwas dahin geschrieben hat. Irgendwann als das mal erfunden wurde, ist doch nicht das Lesen erfunden worden, sondern das Schreiben. Und ich gehe nun davon aus, dass man das Schreiben nach Maßgabe der Struktur des menschlichen Geist entwickelt hat, denn es ist ja ein Produkt des menschlichen Geistes. Aber lassen wir die Spekulationen, ich sehe keine Gefahr fürs Lesen, es wird uns erhalten bleiben, weil es Möglichkeiten bietet, die durch nichts zu ersetzen sind. Peschel: Und das Schreiben als Voraussetzung. Reichen: Ja. Peschel: Gut, ich danke ich Ihnen für das Gespräch.

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Text-B06 Arbeitskreis Itzehoe 'Lesen durch Schreiben' Schlussgespräch am 10. Juli 1989 in Kaltenkirchen Tonbandprotokoll Gesprächsleiter: Rainer Simon, Seminarleiter des IPTS Itzehoe TeilnehmerInnen: Karin Bahnsen, GS Leck Helga Bothe, GS Glashütte, Noderstedt Marielene Büchel, GS Bürgerschule, Husum Angela Kunter. GS Flottkamp, Kaltenkirchen Ulrich Lau. GS Schmalfeld Marlies Tepe, GHS Nahe Karin Warming, GS Wrist Christa Wilken, GS Alveslohe Birgit Wysotzki, GS am Bahnhof, Bad Bramstedt Gast: Jürgen Reichen, Autor, Basel/Schweiz

*** Rainer Simon Wie wollen wir vorgehen? Ich denke, wir brauchen einen Faden für das Gespräch. Jürgen Reichen In anderen solchen Gesprächen, an denen ich schon teilnehmen durfte, ging man so vor, dass alle Beteiligten zunächst einmal einfach kurz berichteten, wie sie dieses Jahr mit 'Lesen durch Schreiben' erlebten, ohne, dass man einem Schema folgte oder bestimmte Fragen zugrundelegte. Daraus ergibt sich dann beinahe von selbst, dass man bei bestimmten Ausführungen nachhakt und mehr wissen möchte. Rainer Simon Das wäre also so, wie wir es als Punkt 1 auf der Tagesordnung haben: Allgemeiner Erfahrungsaustausch und Zusammenfassung. Wir sind ja eine Gruppe von Kolleginnen und Kollegen, die ein Jahr lang im eigenen ersten Schuljahr den Leselehrgang 'Lesen durch Schreiben' erprobt hat und stehen jetzt am Abschluss dieses Jahres und wollen unsere Erfahrungen kennenlernen und zusammenfassen, so wie wir schuljahrsbegleitend über einzelne Dinge - aber auch über grundlegende Fragen zu diesem Leselehrgang und über alles, was darüberhinaus damit zusammenhängt - bereits schon gesprochen haben. Wir haben für unser Gespräch vereinbart, dass wir zuerst einmal einen Durchgang unter den Teilnehmerinnen machen, in dem jede zunächste einmal ihre wesentlichsten Erfahrungen berichtet, die sie in ihrer Arbeit mit diesem Material im 1. Schuljahr gesammelt hat. Frau Bahnsen beginnt. Karin Bahnsen Schon auf der Hinfahrt im Auto sagte ich zu meiner Kollegin, Marielene Büchel, dass dieser Leselehrgang uns sicherlich ganz ganz toll geholfen hat, den Unterricht zu öffnen. Mir zum Beispiel hat er auch geholfen, dass ich mich befreien konnte von dieser Wahnsinnsbevormundung durch den Stoffverteilungsplan. Ich habe ja sonst immer ganz stur und ganz artig, wie es sich gehört, nach Stoffverteilungsplan unterrichtet und da wir nun diesmal keinen abzuliefern

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brauchten, konnte ich mir nun wirklich die Freiheit nehmen, auf die Kinder einzugehen und wirklich mal echten Werkstattunterricht - neulich hatte ich eine Werkstatt, die war wirklich gelungen - zu machen und das sind so Dinge, die ich also vorher gar nicht so gesehen hab, dass das eine angenehme Begleiterscheinung dieses Lehrgangs sein würde. Ich habe das eigentlich umgekehrt gedacht. Ich dachte, ich wolle jetzt offenen Unterricht anfangen und suchte nun nach einer Lehrmethode, die mich das auch machen lässt und eine Fibel, der Fibelunterricht kann das nicht und deshalb habe ich diese Methode 'Lesen durch Schreiben' mit viel Mut gewählt. Und jetzt ist es eigentlich ganz anders gekommen. Jetzt hat mich hauptsächlich der Leselehrgang dazu befähigt, finde ich, mich wirklich zu öffnen, er hat das gemacht, nicht mein Wollen, sondern der Leselehrgang hat das geschafft, also das hat er fertiggebracht. Angela Kunter Wenn ich so zurückblicke und mal mit meinen früheren Klassen vergleiche und mir die Kinder so vorstelle - ich habe ja nun schon das 6. Mal eine erste Klasse - dann muss ich sagen: die Kinder haben am Ende des Schuljahrs, jedenfalls das Gros der Kinder, immer Lesen gekonnt und der Unterschied zur jetzigen Klasse ist nicht gross, er ist zwar da, aber was mich wirklich dazu bewegen würde, immer wieder 'Lesen durch Schreiben' zu machen ist, wie selbständig die Kinder heute sind. Zwar sind heutzutage alle Kinder freier und sicherer als früher, aber die Kinder dieser Klasse hier sind so selbständig - also das ist enorm, das habe ich bei keinen andern Kindern vorher erlebt. Sie entscheiden für sich alleine, was sie machen wollen, (das war am Anfang natürlich noch anders, da haben sie immer wieder mal gefragt, aber inzwischen sind sie so sicher geworden und selbständig) und bewegen sich selbständig und ich führe das tatsächlich auf den Unterricht zurück. Und da muss ich Ihnen Recht geben, Frau Bahnsen, es ist tatsächlich so, wenn man 'Lesen durch Schreiben' macht, dann ist das eben offener Unterricht, automatisch, es kann nicht anders sein. Und dadurch kommt dieses Erziehungsziel automatisch zustande und das ist für mich immer wieder optimal. Rainer Simon 'Lesen durch Schreiben' ist also viel mehr, als nur eine Leselehrmethode. Karin Bahnsen / Angela Kunter (lachen) Ja sicher, sehr viel mehr - auch für die Kinder. Ulrich Lau Bei mir ist es eigentlich ähnlich gegangen, ich habe noch den Vergleich, weil bei mir im Verlauf des Jahres noch Kinder neu in die Klasse dazugekommen sind aus der 2. Klasse - und die hatten dann doch Schwierigkeiten, sich in gleicher Weise einzubringen. Also es dauerte eine ganze Weile, bis sie damit zurechtkamen, dass sie sich was wählen dürfen und das dann auch in die Hand nahmen und selbständig erledigten. Und jetzt ist gerade noch vor kurzem ein Mädchen frisch dazugekommen, hergezogen aus Niedersachsen, und da erlebe ich jetzt, dass sie auch versucht, selbständig zu schreiben, Wörter, die sie noch nicht kann, aber sie kommt immer und fragt mich, ob ich ihr helfen kann, während es für mich schon ganz normal war, dass die Kinder das einfach versuchen, so gut wie sie es können. Aber bei diesem Mädchen ist das eben so, sie hat das anders gelernt und kommt immer wieder, obwohl sie jetzt auch schon versucht, selbst zu schreiben.

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Karin Bahnsen Mir fällt noch was ein, weil sie Schüler erwähnen, die von der 2. Klasse zurückkommen oder aus anderen Klassen. Bei mir sind nämlich 2 Schüler aus meiner Klasse weggezogen und die hatten überhaupt keine Schwierigkeiten in ihren neuen Klassen mitzukommen. Da sie das ganze Repertoire an Buchstaben ja jederzeit parat hatten, wars also nicht so, dass sie da nun Kummer hatten, wenn sie in eine andere Schule kommen, obwohl es da ja manchmal so ist, dass man bestimmte Buchstaben bereits gehabt hat. Da hatten meine Schüler also keinerlei Schwierigkeiten, da war überhaupt kein Problem. Die haben sich da sofort zurechtfinden können. Marielene Büchel Im Laufe meiner Lehrtätigkeit habe ich jetzt das 10. Mal ein erstes Schuljahr und kann also vergleichen und mir ist ausser den positiven Aspekten, die Sie bereits erwähnten - offener Unterricht - vor allen Dingen aufgefallen, dass die Kinder auch so selbstbewusst an die Arbeit rangehen, ganz freudig etwas machen, wozu die anderen Kinder bei der herkömmlichen Methode am Ende des Schuljahrs eigentlich nicht in der Lage waren; dass meine Kinder also mit Begeisterung schreiben und überhaupt nicht davon abzubringen sind - ganze Rollen Papier schreiben sie voll, 71 Wörter, ich sah einmal plötzlich 5 Kinder auf dem Fussboden liegen, schreiben, schreiben, schreiben, unwahrscheinlich, vorwiegend Wörter, einge sind natürlich auch schon dabei, Geschichten zu erzählen oder von Erlebnissen zu berichten und dabei ist es ja so, dass das jeder lesen kann. Schwierig ist jetzt nur, auch die Eltern davon zu überzeugen, dass das lautgetreu Geschriebene eigentlich richtig ist, denn man kann es ja alles lesen, aber die Eltern schlagen die Hände über dem Kopf zusammen und sagen, wir können es zwar lesen, aber rechtschreibmässig ist das ja unmöglich. Aber die Rechtschreibung folgt ja nun im 2. Schuljahr und die Kinder werden sicherlich auch da mit Begeisterung dabei sein, dass sie auch richtig schreiben. Angela Kunter Ich muss sagen, ein Rechtschreibbewusstsein hat sich doch bei vielen Kindern jetzt schon herausgestellt, das ist deutlich erkennbar ... Karin Bahnsen Das kommt durchs Lesen Angela Kunter Ja das kommt durchs Lesen, irgendwo haben sie mal auch schon andere Wörter gesehen, oder die Kreuzworträtsel, die da hinten liegen, machen sie aufmerksam: da ist ein Kästchen zuviel, was kommt da rein? Die wissen schon so viel von der Rechtschreibung, Dehnungs-H, Verdoppelung, sie lernen das von alleine und helfen sich gegenseitig. Was ich auch wirklich toll finde: immer, wenn ich neue Arbeitsangebote hergestellt habe und sie hinten hinlege, ist es bestimmt die Hälfte aller Kinder, die gar nicht wollen, dass ich ihnen das erst Mal erkläre. Die wollen das alleine probieren. Das fiel mir am Anfang schwer, weil ich ja gewohnt war, wenn etwas Neues kommt, muss ich zuerst einmal erklären, sonst können die das ja nicht kapieren, aber das wag ich heute gar nicht mehr und nur wenn sie etwas gar nicht verstehen, dann brauch ich nur etwas zeigen, ohne was dazu zu sagen und sie verstehen es. Das freut mich immer. Rainer Simon Veränderung der Lehrerrolle ...

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Angela Kunter Ja, das ist die entscheidende Veränderung. Rainer Simon Sonst haben wir immer die Fäden in der Hand, im wahrsten Sinne wie bei den Puppen, die man spielen oder tanzen lässt. Angela Kunter Und ich glaube, das ist auch einer der Punkte, warum sich manche Lehrer davor scheuen, 'Lesen durch Schreiben' zu machen, nicht dass sie Angst davor haben, aber dass sie sich nicht trauen, dass sie denken, das schaffen sie nicht. Birgit Wysotzki Ich finde, es fehlt ihnen am entsprechenden Selbstbewusstsein. Wenn man einen herkömmlichen Lehrgang in der Hand hat, dann kann man nichts falsch machen, dann geht man Seite um Seite voran, ja, und am Ende hat man's eben und dann müssen die Kinder lesen können und das ist bei 'Lesen durch Schreiben' eben nicht so der Fall und die einen sind schon weit und die anderen scheinen noch weit zurück. Ich weiss von mir selber: einige konnten zu Ostern immer noch nicht lesen und ich dachte schon, die werden es nie lernen - aber nach Ostern konnten sie es und da war es da, wie weiss ich nicht. Was ich auch immer sehr positiv empfunden habe ist das Verhältnis meiner Kinder zu ihren Eltern. Das ist also von meinen Eltern immer wieder rübergekommen. Eltern, die bereits Kinder in der Schule hatten, hatten eine Vorstellung vom 1. Schuljahr, wonach man wahnsinnig mit den Kindern arbeiten muss, es gibt Reibereien zu Hause, weil die Kinder dies und das und jenes nicht so richtig wollen und diese Eltern sagen nun, es ist so herrlich entkrampft zu Hause, also ein tolles Verhältnis zu unseren Kindern. Und die Eltern waren also sehr begeistert jetzt, es wurden immer mehr, die voll dahinter standen und ich sollte ja jetzt mein 1. Schuljahr abgeben und da gab es einen Entrüstungssturm und auch die, die vorher der Meinung waren, die lernen ja keine Rechtschreibung - ja wie soll denn das weitergehen, es lief doch alles so toll und ja plötzlich sah das alles ganz anders aus. Rainer Simon Haben Sie denn nun alle Eltern überzeugen können? Birgit Wysotzki Ja, selbst die, die eigentlich bis zuletzt dagegen waren. Karin Warming Und somit trägt 'Lesen durch Schreiben' ja auch zur Chancengleichheit mit bei, nicht? Das fand ich besonders positiv dabei. Bei einem Fibellehrgang, da waren sonst immer die Kinder bevorteilt, deren Eltern stark mitarbeiteten und die Schwachen, die hingen da hintendran und man musste fürchterlich pauken und so ... Allgemeine Zustimmung Karin Bahnsen Und hier kommt die Leistung wirklich vom Kind und nicht von den Eltern ...

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Karin Warming Hier hat das schwache Kind, aus einem schwachen sozialen Milieu erstmal die genau gleichen Chancen - ich war also wirklich fasziniert zu sehen, dass alle 25 lesen gelernt haben, ohne dass man ein einziges Mal mit ihnen gepaukt hat lesen, gepaukt hat - und sie können lesen. Das fand ich toll. Marielene Büchel Und jedes hat das Gefühl, und das stimmt ja auch, dass sie sich das Lesen selbst beigebracht haben. Karin Bahnsen Ich wollte noch was sagen zu der Elternschaft, die jetzt nun wirklich sehr, sehr positiv ist. Also auch diese vorsichtigen Eltern, die zuerst sagten: Was - jetzt ist die neu an der Schule und dann kommt sie noch mit solchen Flausen - also das ist jetzt vorbei. Neulich hatte der Schulleiter mit den zukünftigen Eltern des 1. Schuljahrs den Elternabend und war danach ganz begeistert. Er sagte: da war eine solche positive Stimmung für den Leselehrgang, (weil sich, das ist ja klar, so was in einem kleinen Dorf wie Achtrup herumspricht) und die Eltern waren ganz beglückt, als sie feststellten, dass das bei ihren Kindern auch so sein wird und die auch 'Lesen durch Schreiben' bekommen. Birgit Wysotzki Auch bei uns wurde von Seiten der Elternschaft der Antrag gestellt, dass doch bitte alle Klassen im neuen Schuljahr mit diesem Leselehrgang arbeiten sollten, was natürlich nicht möglich war. Es wird eine Klasse sein von dreien - aber trotzdem, ich denke es wird sich langsam ausbreiten. Die andern Lehrerinnen haben eine Wahnsinnsangst davor. Nachdem sich eine Kollegin für 'Lesen durch Schreiben' entschied und sich eine zweite so halb bereit erklärte, da kriegte die dritte, die jetzt übrig war und nicht so arbeiten wollte panische Angst - was mach ich bloss, was mach ich bloss und die Eltern, die setzen mich so unter Druck und so - na ja, sie war dann heilfroh als die zweite, schwankende Kollegin zuletzt wieder abschwenkte und sagte: ich mach auch lieber Fibellehrgang. Rainer Simon Also Elterndruck kann ja heilsam sein, aber oftmals bewirkt er ja das Gegenteil, so dass eine Verhärtung stattfindet, das muss man ja vermeiden, denn eigentlich wollen wir ja mehr Aufgeschlossenheit für diesen - ich sag das einfach weiter so - Leselehrgang (wir wissen, dass mehr damit gemeint ist). Nun sagten sie eben, auch die schwachen Kinder, alle haben lesen gelernt. Das ist ja ein ganz wichtiger Punkt eigentlich und ihre Äusserung bestätigt im Grunde unsere gemeinsame Überzeugung, oder unsere Zweifel, ob der Begriff 'schwaches' Kind eigentlich wirklich gerechtfertigt ist. Ich selber benutz den Begriff überhaupt nicht gerne, wenn alle es doch geschafft haben, wenn auch auf ganz unterschiedlichen Wegen. Drum interessiert mich sehr, interessiert wohl uns alle, ob Sie dies auch für Ihre Klasse bestätigen können? Allgemeine Zustimmung Helga Bothe Bei mir haben es jetzt auch alle geschafft. Aber zwischendurch hat es doch eine Zeit gegeben, in der diese langsam lernenden Kinder, sie und ihre Eltern und ich auch dachten: Mein Gott, wann kommen wir dahin? Ich meine, wenn ich es mir klar mache, es betraf natürlich Kinder, die

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insgesamt schwach begabt waren, in einem Fall mit zusätzlichen sprachlichen Schwierigkeiten oder in einem dritten Fall ein sehr junges Kind mit einer doch verzögerten Sprachentwicklung. Es waren also Kinder, bei denen man schon sagen konnte, ja das kann hier gar nicht so schnell gehen und es braucht seine Zeit und es wird auch irgendwann kommen, aber trotzdem entstand dann bei diesen Kindern das Gefühl, die andern können es und ich nicht: Wie kommen wir jetzt dahin? Das war dann doch, mein ich, eine harte Zeit. Jetzt ist es geschafft und jetzt ist es gut und jetzt sagt man, das konnte ja im Grunde gar nicht anders sein und das ist okay, aber wenn man 'Lesen durch Schreiben' zum ersten Mal macht, dann hat man - man nicht, aber ich - doch manchmal Zweifel und fragt sich, wie geht das nun weiter. Karin Bahnsen Deshalb mussten wir ja stets hier her kommen, damit wir immer zu hören kriegten, was ich mir jedes Mal aufgeschrieben habe: mehr Geduld! Marielene Büchel Und das war besonders schwer, das zu bringen. Karin Bahnsen Nicht wahr, das brauchen wir, mehr pädagogische Geduld. Und ich glaube, das haben wir jetzt, von der Ungeduld ist man jetzt weg. Früher war das doch so: Was, du bist schon auf Seite soundso? Ooch, das habe ich noch nicht geschafft und heute interessiert mich das gar nicht mehr; der steht da und der steht da, dem helfe ich da weiter. Also von diesem unverschämten Ehrgeiz, der gar nicht gerechtfertigt ist, der sogar störend und schädigend ist, da glaube ich, von dem sind wir weg. Rainer Simon Das ist gut, aber trotzdem glaube ich, kommt ein Teil davon so durchs Hintertürchen wieder hinein ins 1. Schuljahr, nämlich mit der Betonung vieler Lesedidaktiker, die sagen, es ist für die Gesamtentwicklung eines Kindes sehr wichtig, dass es so schnell wie möglich lesen lernt. Nun haben wir aber bei diesem Leselehrgang gehört: lass dir Zeit, gib dem einzelnen Kind die Zeit, die es braucht. Und da stossen natürlich zwei Grundauffassungen fundamental gegeneinander - es sei denn, es liege vielleicht ein Missverständnis vor. Birgit Wysotzki Ich weiss nicht - wenn ich davon ausgehe, dass die Kinder ja sehr unterschiedlich waren, als sie in die Schule kamen. Meine beste Schülerin die konnte schon fast lesen, die konnte alles von Anfang an verschriften, meine schwächste konnte nicht mal den ersten Buchstaben ihres Namens heraushören und zuordnen und wenn man jetzt diese Breite sieht, dann kann man ja davon ausgehen, dass diese schwache Schülerin erst Mal die Zeit überhaupt brauchte, um diese Monate oder vielleicht Jahre einzuholen, die die andere ihr voraus war. Angela Kunter Ich hab jetzt auch noch zwei Kinder, die noch nicht lesen können und das sind ausgerechnet Kinder, die schon im Schulkindergarten waren. Ich nehme sie jetzt in die 2. Klasse mit rüber und wir haben ja auch das Glück, dass wir in der 2. Klasse keine Zensuren geben müssen, so haben sie also noch eine Chance. Aber im jetzigen Schulsystem habe ich nachher doch Bedenken, dass die nachher irgendwie als Sonderschüler doch rausfallen, denn in der 3. Klasse muss ich sie ja dann versetzen können oder eben nicht versetzen. Jetzt geht es noch gut und in der 2. Klasse

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wird es auch noch gehen, aber irgendwann fürchte ich, dass sie es dann doch nicht schaffen, weil ich ihnen dann die Zeit nicht mehr geben kann. Rainer Simon Ich würde dann natürlich fragen, warum eigentlich? Angela Kunter Ja ich persönlich bin da ja auch nicht dafür. Helga Bothe Es sind im Grunde eben zwei Dinge. Das eine ist von uns aus gesehen: wir haben nun die Erfahrung gemacht und können das nun wirklich auch akzeptieren, dass wir diese Geduld aufbringen müssen und dass das richtig ist. Es bleiben aber diese Kinder, die auch mitkriegen, was mit ihnen ist. Die sehen, die anderen können es und sie können es nicht und die wissen noch viel weniger als wir, woran das liegen könnte und können im Grunde noch viel weniger verstehen, warum das bei ihnen nun länger dauern soll als bei den anderen und das ist und bleibt schon irgendwo frustrierend. Birgit Wysotzki Das sehe ich nicht so und ich glaube auch nicht, dass das bei mir in der Klasse so gravierend ist. Die einen arbeiten eben mit dem einen Material und die anderen haben das andere. Helga Bothe Ja, während des Unterrichts schon, aber die sehen doch, die sitzen da und können der Klasse was vorlesen und ich kanns nicht. Birgit Wysotzki Aber die sehen das doch nicht als so schlimm an, denn die können ja auf anderen Gebieten etwas. Ich bin also heilfroh, dass ich z.B. Sportunterricht und Musik gebe und dann kommen solche Kinder, die vielleicht noch nicht so lesen können, die können dafür wunderbar das Rad schlagen und die dürfen dann 10 Räder vormachen und alle bejubeln sie, wie toll sie das können. Und im Schwimmunterricht sind das diejenigen, die am besten tauchen können. Jedes Kind hat auf irgendeinem Gebiet ne Stärke und wenn man die dann hervorhebt und sagt: Mensch guck mal, wie toll! dann hebt das auch das ganze Kind. Helga Bothe Ich wollte das jetzt auch gar nicht auf das ganze Kind beziehen, sondern nur auf diesen einen Punkt. Und es war auch gar nicht ich, der das so beobachtete, sondern es waren die Eltern, die kamen und sagten: das Kind kommt nach Hause und klagt, ich kann überhaupt nicht lesen und die anderen können. Ich sah es in der Klasse gar nicht so, auch nicht im Rahmen des Lesens und Schreibens, von anderen Dingen mal ganz abgesehen, wo ja genug Möglichkeiten sind, wo die sich auch bestätigen können - mit dem SABEFIX und so. Es gibt ja genug Dinge, die die auch können und mit Erfolg können, auch allein können. Aber trotzdem blieb für manche dieses Problem. Birgit Wysotzki Also ich könnte mir eher vorstellen, dass es umgekehrt gewesen ist, dass die Eltern verglichen haben und fragten: warum kannst du noch nicht lesen, Fritzchen von nebenan kann doch schon.

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Helga Bothe Das halte ich für möglich, ja. Karin Warming Ich habe also bis Ostern nicht ein einziges Mal zu einem Kind gesagt: Lies das mal laut vor oder so, sondern wenn ein Kind kam, konnte es mir von allein was vorlesen, das haben die anderen aber so gar nicht mitgekriegt, denn es war nie laut vor der ganzen Klasse. Dann nach den Osterferien habe ich Listen ausgehängt mit Daten, etwa Montag, der 14. April und einer Überschrift: Ich möchte vorlesen. Und da haben sich die Kinder dann eingetragen und jeden Tag hat ein Kind etwas vorgelesen. Und da war ich dann völlig baff, welche Kinder sich da gleich spontan eingetragen haben. Das waren nämlich oft garnicht die, die ich im Auge gehabt hatte, von denen ich genau wusste, die können schon gut lesen, es waren auch welche, von denen ich selber noch gar nicht wusste, was sie eigentlich können. Erst von da an hat sich das dann eigentlich richtig gezeigt und inzwischen haben alle schon mal vorgelesen. Jetzt können wirklich alle lesen, es ist erstaunlich, obwohl ich ein Kind nicht mit rüber nehme, es kann nämlich nicht schreiben. Es kann Mitlaut-Häufungen am Anfang - grün oder sowas kann es nicht auseinanderreissen, dies g und r und es schreibt noch so ein Gewuschel auf. Die Mutter und ich müssen ihr ganz langsam auseinandergezogen vorsprechen, dann kann sie es nachvollziehen. Sprechen tut sie richtig, aber sie ist auch sonst sehr sehr schwach, auch in Mathematik sehr schwach. Allgemeine Frage, ob man das Kind nicht trotzdem wenigstens fürs nächste Halbjahr mal nochmitnehmen könnte? Karin Warming Es wurde so mit der Mutter besprochen, sie möchte, dass das Kind noch mal anfängt. Ich bin dabei sehr betroffen, dass es mir nicht gelungen ist, alle Kinder mitzukriegen. Jürgen Reichen Aber lesen kann es? Karin Warming Sie kann lesen, aber nicht schreiben Rainer Simon - noch nicht Karin Warming - noch nicht, ist aber auch in Mathematik ganz schwach Marielene Büchel Das habe ich aber auch, solch einen Schüler, den nehm ich aber erst mal mit und sehe dann, wie er sich verhält und dann kann man ihn doch immer noch unterstützen. Sitzenlassen dürfen Sie ihn ja sowieso nicht. Karin Warming Die Mutter hat mich selber angerufen und hat mich darum gebeten. Wir haben also immer sehr viel Kontakt miteinander gehabt, sie hat sich das ganze Jahr hindurch um das Kind gekümmert,

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kam aber auch zum Schluss: beim Schreiben, das wird nicht von alleine. Irgendwo kommen wir beide nicht weiter. Da würde ich also Frau Hackethal gerne mal fragen - oben im Gehirn muss irgendwas nicht ganz richtig sein. Birgit Wysotzki Dann schick ihn doch mal. Ich habe ein ähnliches Kind. Er kann prima lesen, aber von alleine verschriften kann er nicht. Er kann auch nicht richtig deutsch, er ist ein türkisches Kind, spricht aber im Deutschen nicht falsch, weil er Türke ist, sondern ihm fehlt sprachlich etwas. Man kann ihm ein Wort wohl 10 mal vorsprechen, auch einfache Wörter, und es kommt nie wieder richtig bei ihm raus. Er kann auch nicht richtig türkisch sprechen, er kann die Laute nicht richtig bilden und hat natürlich fürchterliche Schwierigkeiten, wenn er nun selber etwas verschriften soll, weil für ihn selbst das Wort irgendwie ganz anders klingt als es in Wirklichkeit ist. Wenn ich ihm was vorspreche, langsam, kann er es verschriften, aber von alleine kann er es nicht. Ihn wollen wir nun nach Hamburg ins Werner-Otte-Institut schicken, weil wir einfach nicht mehr wissen, wie wir an ihn ran kommen können. Rainer Simon Damit sind wir wieder bei der Grundfrage, ob Kinder, bei denen wir Teilleistungsschwächen feststellen, ob wir die auch mit Warten-Lassen alleine, mit Zeit-geben genügend fördern. Wir fragen damit nach dem Selbstverständnis der Grundschule: Wenn wir Kindern ein individuelles Lernen im stärkeren Ausmass zugestehen könnten, brauchten wir sie aus der Klassengemeinschaft nicht herauszunehmen, sondern könnten ihnen ihren individuellen Lernzuwachs im Berichtszeugnis bestätigen und sie arbeiten weiterhin in der Klasse mit und haben ihr individuelles Programm, soweit es notwendig ist. Helga Bothe Aber wir müssen in der Lage sein, ihnen dieses wirklich notwendige individuelle Programm dann auch zu geben und da stossen wir dann manchmal schon an die Grenzen dessen, was wir in der Ausbildung bisher gelernt haben. Da sind wir auf zusätzliche Hilfen angewiesen und da kommen wir mit normalem Nur- Zuwarten nicht hin, denn da ist es sehr wichtig, möglichst rasch zu erkennen: wo liegen diese Teilleistungsstörungen etc. und wie kann ich jetzt diesem Kind helfen? Rainer Simon Ich meinte auch, dass man nicht mehr für alle Schüler das gleiche Ziel in allen Details setzt, sondern in der Grundschule stärker zieldifferent vorgeht. Natürlich wird es nach wie vor unser Bestreben sein, dass wir das Gros der Kinder oder möglichst alle zu dem Abschluss der Grundschule hinführen, wie wir ihn als Mindestanforderung formuliert finden oder auch in uns haben. Aber es kann einzelne Kinder geben, bei denen wir das nicht so schaffen, wo wir mit einer in Teilen zumindest geringeren Anforderung sie dennoch in unserem Rahmen belassen können und trotzdem ihnen gemäss fördern und sie lernen lassen, so dass wir sie nicht aussondern müssen. Angela Kunter Eigentlich stimmt das dann ja aber auch schon im System nicht. Schon mit dem Schulreifetest fängt es an, wonach Kinder, die den Schulreifetest "nicht bestehen" schon zum Vorneherein ausgesondert bleiben.

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Rainer Simon Richtig, das ist ne ganz schlimme Sache - Schulreifetest ist eigentlich vom Begriff und von der Sache her ein Blödsinn. Karin Warming Vielleicht darf ich noch mal sagen, warum ich überhaupt auf das eingegangen bin, dass dass Kind das erste Schuljahr wiederholen soll. Das Mädchen war sehr kindlich und sehr fröhlich und ungezwungen gekommen und im Laufe des Jahres wurde es immer ernster und das tat mir furchtbar leid, das zu sehen und sie fühlt sich bei uns nicht mehr wohl und deswegen meine ich doch, dass es vielleicht doch richtig ist, wenn das Kind nochmal anfängt, gerade weil sie auch in allen anderen Bereichen sehr schwach ist. Man siehts auch an der Schrift selber. Ich gab der Klasse am Anfang des Schuljahres einen Arbeitsbogen, auf dem war ein Indianer abgebildet, der im Kanu auf einem schmalen Fluss hinunterfuhr und die Kinder sollten seine Fahrstrecke zeichnen, ohne die Ufer zu berühren und das konnte sie überhaupt nicht, das ging also links und rechts und überall auf die Ufer hinüber und sie kann es eben auch heute noch nicht. Sie ist in vielen Bereichen sehr zurück und weil sie also lange nicht mehr so fröhlich war und immer gedrückter wurde, habe ich auch gesagt, sie soll das 1. Schuljahr nochmals machen. Rainer Simon Damit wir uns da nicht falsch verstehen, wir können nicht zu einem einzelnen Kind konkret hier raten, mach das doch so und so. Die schulische Situation, letztendlich die individuelle Situation des Kindes schätzen Sie am besten ein, das können wir nicht, wir können nur einige allgemeine Schlussfolgerungen aus solchen Überlegungen oder solchen Schülerfällen ziehen und einzig mal grundsätzlich darüber nachdenken, ist unser System eigentlich so in Ordnung, so wie es bisher gewesen ist. Ich ziehe das sehr stark in Zweifel und glaube, da gibt es gute Alternativen, die gerade auch solchen Kindern besser Hilfe zuteil kommen lassen können. Angela Kunter Und die Sonderschulen kämpfen schon um die letzten Schüler. Rainer Simon Was aber für uns kein Argument sein kann. Karin Bahnsen Nein, aber wir müssen ja auch sehen, wo unsere Grenzen sind. Ein Kind, das in vielen Bereichen den Anschluss nicht behalten kann, das ist klar. Wir können wohl sagen, da ist ein Schwachpunkt, da könnte ich dir helfen. Aber das wars vorher gar nicht so sehr, was wir wollten, sondern wir sagten: zu diesem Zeitpunkt ein Kind zurückzugeben wäre vielleicht ungünstig. Wäre es nicht besser im nächsten Halbjahr, wenn die kleinen Schulanfänger schon ein Bisschen weiter sind? Ulrich Lau Also ich hab auch so einen, bei dem ich mich mit den Eltern abgesprochen habe, dass er wiederholt. Da ist es ähnlich verlaufen, wie Sie auch erzählt haben. Er wirkt zwar nicht trauriger als zum Schulbeginn, aber er geht so ins Alberne rein, kommt gar nicht mehr richtig zum Arbeiten, sondern sucht sich so ne Clownrolle und hat eigentlich im letzten Vierteljahr sich immer weniger zugetraut.

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An dieser Stelle möchte ich noch etwas zu einem Punkt von vorhin berichten. Da kam letzthin eine Aushilfskraft, eine Kollegin in die Klasse und da haben ihr die Kinder sehr schnell erzählt, wer was kann und wer was nicht kann, obwohl ich das im Unterricht so gar nicht unterscheide. Ich war hinterher richtig geschockt. Die sagten also: der ist so und die kann das, das ist denen völlig klar. Das weiss auch dieser Junge. Dieser ist auch im Rechnen sehr schwach, er ist insgesamt sehr schwach und die Mutter sagte, er hätte auch erst mit 4 Jahren angefangen zu sprechen. Er spricht auch ganz schlecht und wurde zum Logopäden empfohlen. Wenn ich dem Jungen nun beispielsweise Rechen-Aufgaben gegeben habe, dann hat er gar nicht mehr die Aufgaben nehmen wollen, die seinen Fähigkeiten entsprachen, sondern er hat sich immer Arbeitsblätter geholt, die andere, welche weiter waren, schon gemacht haben, hatte versucht, die zu machen, damit er auch ein Bisschen zur Geltung kommt, obwohl das erst recht nicht hinhaute. Er kann nicht lesen und nur rudimentär schreiben, lässt sogar Vokale aus, hat natürlich mit Mitlaut-Häufungen Schwierigkeiten, man kann im Grunde genommen das, was er alleine schreibt nicht lesen. Rainer Simon Darf ich einfach mal diese Frage aufgreifen. Steht 'Lesen durch Schreiben' Herr Reichen sozusagen unter dem Zwang, dass eigentlich alle Schüler alles können müssen am Ende des 1. Schuljahres, damit sie ins zweite weiter können? Ich formuliere das bewusst mal ein wenig provokativ, damit das Problem klar wird. Jürgen Reichen Sicher ist es nicht so, dass alle alles können müssen. Ich bin nämlich bei den letzten Erzählungen ziemlich nachdenklich geworden und habe mir überlegt, wie das denn eigentlich bei uns in der Schweiz ist. Eins müssen wir klar sehen: das soziale Umfeld spielt eine Rolle und auch wenn nun eine einzelne Lehrerin offener arbeitet und ruhiger bleibt, gelassener ist, wenn die Umwelt da nicht mitzieht, dann nutzt das nicht viel. Der Erwartungsdruck, der Leistungsdruck scheint mir hier in Schleswig-Holstein im ganzen Umfeld noch ausserordentlich stark ausgeprägt zu sein. Ich entnehme das dem letzten Beispiel von Herrn Lau, wie die Kinder da intern Klassifikationen vornehmen. Das andere ist natürlich eine lernpsychologische Frage. Grundsätzlich ist die Bewältigung eines jeden Lernschritts gebunden an Voraussetzungen, die da sein müssen und es gibt selbstverständlich Kinder, die zur Schule kommen, die nicht alle Voraussetzungen mitbringen. Hier wird offenbar ein Schulreifetest als Schuleintrittsprüfung durchgeführt und ich denke, dieser Junge hat diesen Test nicht bestanden. Ulrich Lau Dieser Test wird bei uns nicht systematisch durchgeführt. Es kommt die Schulärztin, nimmt die Kinder so in Augenschein, der Schulleiter auch und wenn dann ein Kind nicht besonders auffällig ist, dann kommt es in die Schule, vor allem wenn vom Alter her schon eine Grenze erreicht ist. Jürgen Reichen Ich bin eigentlich überfragt, weil ich solche Fälle aus der Schweiz nicht kenne. Wir haben offenbar eine andere Vor- Selektion. Bei uns ist es Regel, dass in allen Kindergärten die Kindergärtnerin einen Schulreifetest durchführt und wenn sie bei einem Kind das Gefühl hat, die Entwicklung dieses Kindes zeige noch Rückstände, wird es durch den Schulpsychologen untersucht. Bestätigt dieser den Befund, dann kommt das Kind in die sog. Einführungsklasse, das sind Klassen, in denen das Programm der 1. Klasse auf 2 Jahre verteilt angeboten wird. Die Kinder haben also vom System her 1 Jahr mehr Zeit, sind aber bereits in der Schule.

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Rainer Simon Solche Langzeitklassen gibt es bei uns jetzt auch. Karin Bahnsen Herr Reichen, das muss ich auch sagen, die Voraussetzungen müssen da sein und wenn ich jetzt mal meine schwachen Schreiber unter die Lupe nehme, dann sind das ganz eindeutig die, die auch von der Sprache her noch sehr schwach sind; die also zum Teil noch dieses kindhafte Sprechen haben, Silben verschlucken, Endungen verschlucken, schlecht sprechen, falsch aussprechen. Und da fehlen eben Voraussetzungen. Die hatten bei Schuleintritt erst diese Sprache, inzwischen haben sie Fortschritte gemacht, sind aber noch immer im Nachteil. Marielene Büchel Ich habe einen Schüler, der ist überhaupt nicht lern- und anstrengungsbereit und zeigt überhaupt keine Ausdauer. Als ich die Mutter fragte, ob er zu Hause spiele, meinte die, er tobt bloss immer und das macht er auch in der Klasse. Dieses Kind kostet mich also mindestens 30% meines Einsatzes, den ich für die ganze Klasse leisten kann. Ich muss ständig dabei sein. Wenn ich neben ihm stehe, seine Hand festhalte, dann macht er was, aber das will ich ja gerade nicht, ich will ja als Lehrperson zurücktreten, doch das kann ich bei diesem Schüler nicht. Birgit Wysotzki So einen Schüler habe ich nach Ostern auch in die Klasse bekommen. Vor Ostern war er eine Woche zur Probe da und zwar - wohlgemerkt - aus der Parallelklasse, die ganz normal unterrichtet wird und da war er eine Katastrophe, auch vom Verhalten her, und die Eltern haben dann darum gebeten, dass dieser Junge in die Parallelklasse zu mir kommt, wo eben anders gearbeitet wird. Bei diesem Jungen ist es nun ähnlich. Ich muss immer dahinter stehen, damit er überhaupt was schafft. Zwar kann er alles und sein Verhalten ist inzwischen bestens geworden Marielene Büchel Das kann ich nicht sagen. Birgit Wysotzki - und er akzeptiert es auch und er mmöchte auch, dass ich dastehe, und dann arbeitet er Marielene Büchel - aber das ist doch nicht der Sinn der Sache Birgit Wysotzki Nein, aber sobald ich mich umdrehe - aus und vorbei. Er braucht diese Zuwendung, was soll ich denn da machen? Ich muss mich doch neben ihn stellen. Ich warte es jetzt ab, arbeite zuerst mit den anderen Kindern und wenn ich Zeit habe gehe ich zu ihm und dann macht er das, ganz schnell. Das geht ruck-zuck dann plötzlich. Marielene Büchel Das ist dann ja beinahe Erpressung. Birgit Wysotzki Erpressung, würde ich das nicht nennen Viele Teilnehmerinnen: Doch, doch!

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Rainer Simon Dann ist es ja eigentlich nicht besser geworden. Birgit Wysotzki Doch, doch es ist jetzt sehr viel besser geworden. In der anderen Klasse war es fürchterlich. Zum Vergleich: In der Klasse vorher, da kriegte er z.B. Asthmaanfälle während des Unterrichts und Ähnliches und das alles hat er bisher nicht mehr gekriegt und das betrachte ich schon als einen Fortschritt. Er kann schliesslich nicht innerhalb von ein paar Wochen Dinge erreichen, zu denen er früher während eines halben Jahres nicht gekommen ist. Marielene Büchel Ja in der anderen Klasse war es natürlich auch nicht möglich, dass sich die Lehrkraft alleine mit ihm beschäftigt hat, das geht ja nicht bei Fibelunterricht und hier bei diesem Leselehrgang geht es und da verlangt er es und in diesem Sinne ist es Erpressung. Birgit Wysotzki Ja gut, das mag vielleicht sein, er liebt mich heiss und innig, obwohl ich sehr streng zu ihm bin. Rainer Simon Mir scheint da ganz wichtig, was da eben als vermeintliches Nebenprodukt angefallen ist: dass uns das Unterrichten mit 'Lesen durch Schreiben' vielleicht sogar mehr Zeit gibt, ein gewisses Mass an Zeit, uns mit den Kindern, die besondere Probleme zeigen, wirklich zu beschäftigen. Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt: Sie haben eben das Medizinische sogar angedeutet, asthmatische Beschwerden usw. Frau Bode hat ganz klar gesagt, dass wir eigentlich mehr Kenntnisse brauchen und dann auch die Möglichkeit, nicht nur dies zu erkennen, sondern auch die Fähigkeit, darauf dann auch einzugehen unterrichtlich, wie wir bestimmte Kinder, die mit Teilleistungsschwierigkeiten oder mit Entwicklungsschwierigkeiten zu kämpfen haben - wie wir das bei denen erkennen und wie wir sie dann auch fördern können. Das scheint mir kein Gegensatz zu der grundlegenden Methode 'Lesen durch Schreiben'. Es ist einfach erwiesen, dass es Kinder gibt, denen bestimmte Voraussetzungen fehlen, um einfach sozusagen naturgemäss im Unterricht mitlaufen zu können, selbständig auch lernen zu können, wo uns andere auch helfen müssen. Angela Kunter Und dieser Unterricht eröffnet uns ja noch mehr Möglichkeiten, eventuell dahinter zu kommen, als der herkömmliche. Hier haben wir jedenfalls grössere Chancen. Birgit Wysotzki Dieser Junge wurde als dumm dargestellt und als einer, den man nicht fördern kann, aber er ist nicht dumm, er kann alles, ihm fehlt bloss der Antrieb, von alleine etwas zu bewerkstelligen. Helga Bothe Die Schwierigkeiten werden bei 'Lesen durch Schreiben' schneller sichtbar, offensichtlich. Wenn man frontal arbeitet, dann stellt man einfach fest, er kann nicht, weiss aber nicht, warum. Weil wir hier aber doch verschiedene Möglichkeiten haben, an die Sache heranzukommen, wird uns auch manches Mal besser deutlich: ja, da liegt es, da kann ich ihm vielleicht behilflich sein. Die Beobachtung habe ich auch gemacht, gleichzeitig aber auch gemerkt, hier stosse ich an Grenzen, wie krieg ich das jetzt, aber bei 'Lesen durch Schreiben' wird klarer, wo vielleicht Schwierigkeiten sein könnten.

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Ulrich Lau Ich finde, es geht viel viel schneller oder wird viel viel deutlicher als bei den anderen Leselehrgängen, weil diese eben die Möglichkeit des Übertragens gar nicht haben. Wenn das Kind schreibt, dann sehe ich ja sofort, was es kann und was es nicht kann, was es selber rausbringt. Helga Bothe Ich ziehe dann Parallelen, etwa zu der Art, wie das Kind eben schreibt, wie es artikuliert und wie es mit seiner sprachlichen Gesamtentwicklung steht, ob es bereits eine gewisse Distanz zur Sprache hat oder nicht. Es gibt ja Kinder, die sprechen zwar, können aber nicht über das Gesprochene sprechen. Jürgen Reichen Für mich ist ausgesprochen interessant, was Sie zur Zeit gerade diskutieren. Wenn ich mir nämlich vor Augen halte, was die Leute für Bedenken gegenüber 'Lesen durch Schreiben' haben und äussern, dann taucht doch insbesondere .eine Befürchtung immer wieder auf: Man hätte keine Übersicht mehr über die Klasse, man wisse dann nicht mehr Bescheid über die Kinder. Verstehe ich Sie nun richtig, wenn ich interpretiere, dass Sie finden, dass das so nicht stimmt. Mehrere Teilnehmer: Es stimmt nicht, genau das Gegenteil trifft zu. Rainer Simon Mit 'Lesen durch Schreiben' werden Schwierigkeiten früher und besser erkennbar, besteht die Chance zur genauen Diagnose eher. Jürgen Reichen Sie erinnern sich, dass Sie mir dieses vor Jahresfrist nicht glauben wollten. Allgemein zustimmendes Gelächter. Karin Bahnsen Aber ich hab die Bibel auch am Bett gewechselt gegen die kleinen Hefte des Lehrerkommentars (Gelächer) - ja das ist wahr, es ist ja wirklich so, diese kleinen Begleit-Hefte sind ja so gut, aber es ist ja nicht damit getan, dass man die einmal gelesen hat, Angela Kunter Nee, man liest die immer wieder. Karin Bahnsen Das ist meine Bettlektüre geworden, ich weiss gar nicht, was ich im nächsten Schuljahr machen soll. Rainer Simon Da können ja böse Zungen behaupten, da kommen Lehrer endlich wieder mal zum Lesen.

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Marielene Büchel Aber schwierig ist es zunächst, damit fertig zu werden, dass man wirklich seine Person als Lehrer völlig anders einsetzen muss, dass man vom Frontalunterricht abgeht, also ab und zu fliesst natürlich noch etwas ein, aber dass man im Grunde ganz im Hintergrund bleiben muss und das einfach erst mal lernen muss, dass man die Kinder nicht drängt, sondern die Kinder von sich aus kommen lässt. Das fiel mir in den ersten Wochen unwahrscheinlich schwer, dass man die Kinder einfach machen lässt. Man sagt zwar, ich darf nicht, ich darf nicht, aber irgendwo hatte man stets das Gefühl, man müsse doch eingreifen. Angela Kunter Aber geht es Ihnen jetzt nicht so, nachdem Sie das verinnerlicht hatten, dass Sie sich selber viel wohler dabei gefühlt hatten? Marielene Büchel Ja, viel wohler. Aber wenn man 20 Jahre oder noch länger vor der Klasse gestanden hat und plötzlich muss man sich ganz zurücknehmen und einfach nur als Beobachter oder als ganz geringer Helfer da mal fungieren, das war schwer. Angela Kunter Aber die Gelassenheit, die man dabei gewonnen hat, das ist doch ganz wunderbar. Marielene Büchel Ja, das stimmt. Angela Kunter Ich habe da ein Beispiel: Ein Kollege aus der Schule wurde vom Schulrat begutachtet und der Schulrat sagte da so "en passant" zu mir: Na Frau Kunter, ich komm dann nachher noch mal in die Klasse, ich will mir mal den Leistungsstand der Kinder ansehen. Vor einem Jahr hätte ich das Schlottern gekriegt - leicht übertrieben, aber weil ich sowieso lose Kniegelenke habe aber jetzt sagte ich, Sie können da gut rein kommen, aber ich zeige Ihnen nicht, was die Kinder können, ich mache das, was ich mir vorgenommen habe. Dann war er ungefähr 25 Minuten hier drin, ist da rumgegangen, ich hab mich überhaupt nicht um ihn gekümmert, hab ihn nur gefragt, wie er sich fühle, ob er sich wohlfühle na ja und dann ist er wieder gegangen, hat sich nicht dazu geäussert und mir hat das überhaupt nichts ausgemacht. Marielene Büchel Die Kinder sind ja auch so gelassen. Karin Bahnsen Ja, das wollte ich auch sagen. Wenn man so Unterrichtsbesuch hat - die Kinder sehen die gar nicht. Sonst früher, wenn sie frontal sassen, dann guckten sie doch immer nach hinten. Jetzt aber wurschteln die da weiterhin, so aktiv, dass sie den Besuch kaum bemerken. Rainer Simon Unterrichtshospitation lässt sich mit geöffneten Unterrichtsformen viel leichter durchführen. Allgemeine Zustimmung

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Karin Warming Ich möchte noch etwas zum Schülerverhalten nachtragen. Ich war kürzlich im Krankenhaus und da kam die Kommission vom Kultusministerium, um zu begutachten, ob wir nun offenen Unterricht machen und daraufhin eine Ermässigung kriegen. Und da hat mein Rektor die Klasse gefragt: ja was sollen wir denn da nun machen? Und da haben die Kinder gesagt: ach Sie brauchen gar nichts zu machen, wir machen Freiarbeit, wir brauchen Sie nicht, wir machen das schon. Allgemeines Gelächter: Das ist ja toll. Angela Kunter Die brauchen heutzutage keinen Lehrer mehr. Rainer Simon Also drastische Verändereung der Lehrerrolle aber auch der Schülerrolle. Ich möchte da weiter fragen: wir müssen uns selbst verändern, aber wie sieht das aus mit anderen Lehrkräften in der Klasse, beisst sich das nicht? Birgit Wysotzki Nein, bei mir war noch eine andere Kollegin in der Klasse, die den Mathematikunterricht gemacht hat sowie Heimat- und Sachkunde und nach altem Stil arbeitete. Die Kinder haben sich darauf eingestellt und die Kollegin sagte, so eine aufmerksame und arbeitsame Klasse wie diese Klasse hätte sie eigentlich wohl noch nie gehabt. Neulich, als sie pensioniert wurde, hat sie sich eigens bei den Eltern nochmals dafür bedankt, was für eine nette Klasse dies doch gewesen sei und wie gerne sie gerade mit dieser Klasse gearbeitet habe. Und es ist auch aufallend vom Verhalten der Kinder, wenn man sie so beobachtet bei Unterrichtsgängen oder Ähnlichem - ich brauch da eigentlich gar nicht viel zu sagen, das machen die so von alleine. Ich kann da vorne wegmarschieren oder gebe meine Anweisungen und dann wird das eben so gemacht, da ist keiner, der aus der Reihe tanzt oder rumspringt; sie korrigieren sich auch selber, wenn da einer anfängt rumzukaspern, ich brauch da nicht viel zu machen. Karin Warming Aber bis man dieses Arbeitsverhalten für sich selbst und für die Klasse erarbeitet hat, ist es aber doch ein recht schwerer Weg, fand ich. Am Anfang ist mir dies unheimlich schwer gefallen, vor allem mit dieser Klasse, wo ich also 2 Kinder drin hatte, die vom Test und vom Schularzt als unreif eingestuft waren, trotzdem aber eingeschult wurden, sowie 5 Kindern, die nur bedingt schulreif waren und trotz schlechtem Test ebenfalls eingeschult wurden. Also da haben mir ja welche mit ihrem Verhalten am Anfang alles kaputt gemacht - ich hab mich so emsig, eifrig vorbereitet und ging immer mit grossen Erwartungen in die Schule und dann wurde mir immer wieder vieles kaputt gemacht. Und eigentlich habe ich bis zu den Herbstferien immer nur mit der harten Knute gearbeitet. Dann kamen zwei Kinder aus der Klasse. Der eine ist jetzt in einer Vorschule schulreif gemacht worden und der andere, das war auch so ein Zappel-Phillip, kam in die Sonderschule und bleibt auch dort, weil er immer noch nicht so weit ist. Nachher ging es dann allmählich besser, Schritt für Schritt. Ich fand den Anfang unwahrscheinlich hart. Karin Bahnsen Das war er auch, das haben wir auch alle gesagt. Deshalb brauchten wir auch unsere Wieder-Aufrichtungs-Zusammenkünfte.

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Karin Warming Trotzdem war ich dann manchmal soweit, dass ich dachte: Ja, ja, pädagogische Zuversicht, das hatte ich da immer so hier oben - reichts noch oder gibst du auf? Rainer Simon Aber Sie haben es durchgehalten. Karin Warming Ja, ich habs durchgehalten. Marielene Büchel Und jetzt hat man sich anders eingestellt und würde es besser machen. Karin Bahnsen Ja genau, jetzt möchte man wieder ein 1. Schuljahr. Dann wäre ich auch nicht so ungeduldig und dann wäre ich nicht so in Panik. Es gibt ja manchmal so richtige Stillstände, da hat man das Gefühl, das geht einfach nicht weiter, die machen immer noch die gleichen Fehler. Heute vermag ich zu erkennen, ob ein Kind Fortschritte macht oder nicht. Wenn es z.B. "Kiste" schreiben soll und es produziert "Kru", dann ist es weniger weit, als wenn es "Kit" schon mal wenigstens schreibt. Das alles wusste man damals nicht und aufgrund dieser Unwissenheit war ich ja auch schon - ach - kribbelig, sehr kribbelig und manchmal also dem Heulen nah und die Nächte waren auch manchmal also wirklich ... Marielene Büchel Jetzt können wir eben auf unsere eigenen Erfahrungen zurückgreifen und vorher mussten wir auf die Erfahrungen von Herrn Reichen abstellen und mussten einfach davon ausgehen, dass das stimmt. Und dazu ist man ja nicht immer ganz bereit, vielleicht trifft das bei mir selber nicht so zu. Ich muss auch wirklich sagen, dass ich die ersten 2-3 Monate manchmal auch schlaflose Nächte gehabt habe, dachte, ja kommt denn das nun an bei den Kindern, schaffst du das, die dafür zu begeistern? Dabei ist es im Grunde immer ganz fantastisch gelaufen. Birgit Wysotzki Es ist immer gut, wenn man ne Gruppe hat, mit der man zusammensitzt, wie wir es zu Anfang getan haben, dass man dann eben weiss, ach, da sind noch andere, mit denen kann man über die Probleme sprechen. Da konnte man sich etwas aneinander aufrichten und sich Mut machen. Nachher brauchten wir das ja dann gar nicht mehr. Karin Warming Die Begleitung müsste am Anfang etwas intensiver sein. Wir haben das privat gemacht, denn am Anfang standen wir doch ziemlich hilflos davor. Auch in der Frage mit welcher Materie fang ich nun an und so. Karin Bahnsen Ja man zweifelt ja immer an sich selbst, nicht am Leselehrgang. Ich dachte, ja klar, jeder kann mit dem Lehrgang umgehen natürlich du nur nicht. Ulrich Lau Das kann ja auch ins Auge gehen, wenn man am Leselehrgang zweifelt.

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Karin Bahnsen Ja klar, aber wenn man dann hörte, die andern waren da ja auch so unsicher und hatten die gleichen Probleme, dann denkt man: vielleicht bist du es ja doch nicht nur alleine, sondern es ist halt auf dieser Stufe einfach so. Und das beruhigt ungemein. Rainer Simon Also das ist so zur Selbsthygiene. Es zeigt sich dann aber: wachsende Akzeptanz bei sich selber für das alles was mit 'Lesen durch Schreiben' - auch die geöffneteren Formen des Unterrichts - verbunden ist, Akzeptanz auch bei den Schülern. Wie ist es bei den Eltern? Sie haben vor einem knappen halben Jahr gesagt: Na ja, einige waren recht intolerant. Wie hat sich das weiterentwickelt und auch gleich die übrigen Lehrerinnen und Lehrer, nicht nur die, die in der Klasse sind, sondern insgesamt von der schulischen Situation her. Eine Sache kann im Grunde ja nur klappen, wenn sie nachher auch zumindest akzeptiert wird. Helga Bothe Ja also bei den Eltern wachsende Akzeptanz einfach mit dem Erfolg. Die Eltern sahen: die Kinder können ja plötzlich lesen, es geht ja, dann ist es ja gut, dann kann es ja doch nicht so schlecht sein. Sie bemerkten auch, was teilweise bei älteren Geschwistern nicht der Fall war, dass die Kinder auch noch nach einem halben Jahr gerne in die Schule gingen. Da war also noch kein Stöhnen und die Kinder machten Hausaufgaben alleine, und von daher ist also bei den Eltern bei mir jedenfalls - diese Akzeptanz sehr gewachsen und ich habe jetzt von den Eltern auch zusätzliche Ausgaben für zusätzliches Material fürs nächste Schuljahr alles bekommen. Jetzt ist die Unterstützung da, die am Anfang bei einigen fehlte. Hingegen fehlt die Unterstützung bei den Lehrerkollegen. Denen ist es also, warum auch immer, ob ich da zuviel Unsicherheit oder was verbreitet habe, ich weiss es nicht, jedenfalls ist von den nachfolgenden Kolleginnen, die jetzt ein 1. Schuljahr übernehmen, keine bereit, mit 'Lesen durch Schreiben' zu arbeiten, sondern es ist so, dass die sagen, das ist mir zu unsicher, das riskier ich nicht, darauf lasse ich mich nicht ein. Ich halte das für eine mangelnde Risikobereitschaft oder wie auch immer man es nennen will, die also keine bereit ist, einzugehen. Zwei von den dreien haben zum ersten Mal ein 1. Schuljahr und sagen: dann schon gar nicht, ich muss erst mal was Festes haben. Und da weiss ich nun nicht, liegt das daran, dass ich da zuwenig Zuversicht verbreitet hab oder liegt das an der Person der anderen, das kann ich nicht beurteilen. Rainer Simon Da ziehen Sie sich bitte gar keine Selbstkritik zu, überhaupt nicht. Helga Bothe Nein, nein, aber ich hätt mich schon gefreut, wenn jetzt jemand gesagt hätte: oh ja, das muss ja ganz toll sein. Es sind auch wenige gekommen zum Gucken, nur 1-2, obwohl ich es ihnen angeboten habe, aber gedrängelt habe ich nicht. Die zwei, die kamen, haben jetzt aber kein 1. Schuljahr, die gingen aber sehr positiv weg, eine Kollegin hat dann auch mal Videoaufnahmen gemacht von dem Ganzen und da sah es eigentlich noch besser aus, als ich selbst es in Wirklichkeit gefunden hatte. Aber die andern haben also einen grossen Bogen gemacht und gesagt: Nee, das nicht! Rainer Simon Ist das eine durchgängige Erfahrung?

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Birgit Wysotzki Es hatte sich bei uns rumgesprochen, dass ich diese Methode mache und da habe ich sehr viel Besuch bekommen von Kolleginnen aus anderen Schulen und anderen Schulbezirken, die sich da meinen Unterricht angeschaut haben und die auch alle sehr angetan waren, aber aus meiner eigenen Schule ist also keiner gekommen nicht mal der Schulleiter. Und das fand ich also sehr traurig. Ich hab ihn etwa dreimal eingeladen, doch zu kommen bis ich dann dachte: dann soll er halt wegbleiben. Anscheinend, so glaube ich, hat man das Ganze zuerst sehr skeptisch beäugt, es hiess, die unterrichtet nicht voll und kann sich die Arbeit machen, die hat die Zeit. Ich glaube man hat sehr den Arbeitsaufwand gesehen, obwohl die eigentlich merken mussten, dass man mit Begeisterung dabei war und ich fand das nachher schon etwas penetrant, und da habe ich mich dann auch zurückgehalten, weil ich immer so begeistert war und erzählte, wie toll und so - na ja, und dann kam nichts von den andern Marielene Büchel Ausser: Du sollst mal sehen, wie das dann mit der Rechtschreibung geht, die lernen die überhaupt nie. Birgit Wysotzki Ja, ja, solche Dinge hab ich auch gehört. Rainer Simon Also wir sind jetzt nach der Suche danach, warum das nicht noch stärker akzeptiert wird, grade im eigenen Kollegium. Ein Punkt ist natürlich dabei, dass die Schulleitung, so will ich mal allgemein sagen, eine solche Massnahme, eine solche Arbeit auch mitunterstützen muss, wie bei jeder Sache, die man mal vom bisher eingetrampelten Pfad - ohne das negativ zu meinen - abgeht, braucht man immer auch die Unterstützung der Schulleitung, sonst ist ne Reformmassnahme oder ne Veränderungsmassnahme schwieriger. Helga Bothe Da muss ich dann aber doch noch etwas dazu sagen. Die Unterstützung durch die Schulleitung war bei mir durchaus gegeben. Zwar ist der Schulleiter trotz Einladung nicht in den Unterricht gekommen, aber er hat immer überall gross erzählt, was ich da für tolle Sachen mache und ist dann bei den andern Kollegen damit auf Ablehnung gestossen. Das hat den Andern irgendwie nicht gepasst, dass ich da rausgestellt wurde und das bringt es ja auch nicht, das immer wieder rauszustreichen als etwas Neues und Gutes und Besonderes. Das ist nicht angenommen worden. Aber die Unterstützung war da, da kann ich keinen Vorwurf machen. Rainer Simon Okay, es gibt ja viele Facetten dafür - ist genug Risikobereitschaft, ist genug Selbstbewusstsein da, wird der Arbeitsaufwand als zu hoch eingeschätzt? Ich weiss von anderen Kolleginnen und Kollegen, die sich mit der Frage beschäftgit haben, dass eben doch bei ihnen verstärkt im Raume stand, die Frage: Kann ich wirklich alle Kinder so fördern, also auch die, die bestimmte Leistungsschwierigkeiten oder Wahrnehmungsstörungen etc. haben? D.h. sie wollen noch mehr didaktisch-methodische Sicherheit vielleicht haben, um auch allen Kindern dann gerecht werden zu können. Das sind so einige Punkte.

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Birgit Wysotzki Nur wissen Sie: Wenn ich das jetzt so sehe wie das bei uns ist: Wir haben da zwei Parallelklassen, ich hab 22 Kinder, die alle lesen lernten und meine Kollegin hatte 20 Kinder und von diesen bleiben nun vier Kinder sitzen, also nach dem ganz normalen Lehrgang, vier Kinder haben da also nicht lesen gelernt, da meine ich, das muss den Leuten doch zu denken geben. Marielene Büchel (ironisch) Ach, das ist der bessere Schuleinzugsbezirk, den Sie haben. Birgit Wysotzki Ja klar, damit kamen sie: Du hast wieder die netteren Kinder und die tollen Eltern und so. Dass ich aber auch Kinder drin habe aus sozial ganz schwachen Familien und 5 Türken, von denen 3 kein Wort deutsch sprachen, das zählt nicht. Karin Warming Ich hab auch noch ein Wort zu den Eltern. Ich bin nun ja schon lange Lehrerin und habe auch schon oft ein 1. Schuljahr gehabt und Elternversammlungen abgehalten und habe einige Erfahrungen. Die Eltern von den leistungsstarken Kindern, die sind immer - in allen bisherigen Klassen - gerne gekommen, aber die von den leistungsschwachen Kindern sind selten zum Elternabend gekommen, dabei wollte man gerade mit denen gerne sprechen. Wahrscheinlich haben die erwartet, sie kriegen jetzt das zu hören, was ihr Kind alles nicht kann und in der Art. Bei 'Lesen durch Schreiben' aber ist die Beteiligung an den Elternabenden eigentlich immer grösser geworden und all die Leute, die ich wahrscheinlich sonst nicht gesehen hätte, die haben es gewagt zu kommen, weil sie auch zu Hause gar nicht selber so sehr beurteilen konnten, kann das eine Kind nun mehr oder weniger, nich, - mein Kind kann was und das war für sie auch eine Bestätigung und deswegen wagten sie auch zu kommen. Und sie haben dann auch selber diese Spiele mitgespielt, SABEFIX habe ich mit den Eltern gemacht, damit dieses Vorurteil, die spielen bloss, dass das also mal verschwunden war und von da an habe ich das dann auch nicht mehr gehört. Helga Bothe Mir ist noch etwas anderes aufgefallen. Ich hatte also schon das Gefühl, dass die Hilfen, die wir bekamen, bei diesem Leselehrgang für die Kinder, die eben sehr langsam lernen, also die reichten mir nicht aus, muss ich ganz ehrlich sagen, da habe ich dann anderswo gesucht. Da meine ich müssten für diese Kinder durchaus mit Erfolg Anregungen aus dem Kieler Leseaufbau mit dazu genommen werden, das müsste übertragen werden, bzw. man müsste eine Verbindung suchen. So übel fand ich das nicht und der Gedanke, von leichter strukturierten Wörtern auszugehen, leuchtet mir ein. Da reicht nicht das Bisschen, was in 'Lesen durch Schreiben' drin ist. Man muss das Arbeiten mit einfacheren Wörtern, auch über das Schreiben, verstärkt mit jenen Kindern machen, die Mühe haben, also ganz bewusst mit einem vereinfachten Wortschatz. Das hat mir also da sehr geholfen. Rainer Simon Sie haben meinen Gedankengang wahrscheinlich erraten. Ich wollte nämlich eigentlich so die Runde abschliessen mit der Fragestellung: Nun ist soviel Positives gefallen, eigentlich nur Positives, es muss doch auch irgendetwas geben, wo man sagt, also da haben wir noch ein Bisschen Sorge, sonst sagen uns Aussenstehende, die das Hören oder Lesen, das kann doch nicht

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angehen, die waren blind, oder so etwas. Und dankenswerter Weise haben Sie nun da ein Problem aufgegriffen. Gibt es andere Punkte? Ulrich Lau Ich hätte noch etwas zu den Eltern. Bei 'Lesen durch Schreiben' gibt es einen Punkt, der ist für die Eltern schwieriger und für uns, wenn wir den Leselehrgang das erste Mal machen eigentlich auch: Auch die Eltern konnten zum Teil sehr schlecht abwarten bis die Kinder lasen und hatten Erwartungen, dass sie sehen, was die Kinder können, was sie zunehmend lernen, wann es anfängt mit lesen. Und da haben sich einige zu Hause dann doch hingesetzt und haben mit den Kinder zu lesen versucht, weil sie so unsicher waren, wie das nun weitergeht. Dabei haben sie den Kinder zum Teil echt Schwierigkeiten gemacht, denn die wurden sehr verunsichert. Ich habe das erst später mitgekriegt, und im Nachhinein machte man mir dann teilweise auch Vorwürfe deswegen, das sei nicht transparent genug gewesen. Sie sind natürlich auch nicht zu mir gekommen und haben gefragt, wie das weitergeht. Zwar habe ich das vorher erzählt, wie das mit dem Lehrgang liefe und dass man das nicht so genau beobachten könne, aber das ist dann wieder in Vergessenheit geraten. Also haben auch schon die Eltern ein Stück auszuhalten, grade wenn sie mit festen Erwartungen, was Schule leistet und wie Schule sich vollziehen soll, an den Unterricht herangehen. Karin Bahnsen Dazu möchte ich auch noch was sagen. Ich habe in der Zeit bis Ostern drei Elternabende gemacht. Und da konnten dann ja bis auf die letzten drei Schüler alle ganz schnell hintereinander lesen, das ging ja nach Weihnachten los. Aber ich finde wirklich, dass man das dann den Eltern auch schuldig ist. Ich habe die Elternabende dann auch wirklich so in der Form von Informationsabenden gemacht, weil ich meine, man mutet den Eltern ja eine ganze Menge zu, wenn sie sehen, was die Kinder da für ein Kauderwelsch schreiben und man es eigentlich nicht durchschaut. Die sahen nicht, ob da schon Fortschritte waren. Ich fand, wenn man dann den Eltern einzelne Beispiele zeigte und ihnen anhand dieser Beispiele erklärte, inwiefern das ein Fortschritt war für das Kind, dann waren sie eigentlich auch ganz einsichtig und wieder geduldig bereit, auf Rechtschreibung bis zum nächsten Elternabend zu verzichten. Ich finde, das muss man sich doch überlegen, dass die Eltern eine harte Geduldsprobe da durchstehen mussten und Hilfe brauchen. Karin Warming Ein Beispiel dazu: Ich habe ein Mädchen, das heisst Katharina. Als sie in die Schule kam, konnte sie ihren Namen richtig schreiben und nach dem Beginn von 'Lesen durch Schreiben' konnte sie plötzlich das h nicht mehr unterbringen Allgemein zustimmendes Gelächter Karin Warming Und da habe ich den Eltern erklärt, das wäre ein Fortschritt. Oder Stefan schrieb Stefan plötzlich mit -ff- Ja wieso, das konnte er doch schon? Dabei war es doch wirklich ein Fortschritt. Aber sowas muss man wirklich besprechen. Ich habe also 6 Elternabende gehabt in diesem Jahr und kam das ja immer laufend.

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Angela Kunter Ich hatte die Eltern manchmal im Unterricht, grundsätzlich am letzten Tag vor den Ferien und da muss ich sagen, auch hier wieder ist bei mir eine Veränderung vor sich gegangen, denn das mochte ich ja früher nie haben, wenn Eltern bei mir in der Klasse waren und das stört mich jetzt nicht mehr so. Ich habs den Eltern freigestellt, natürlich mochte ich nicht, dass sie da jeden Tag ankommen, und wir haben das dann abgesprochen. Karin Bahnsen Ich hatte sie jeden Sonnabend, wenn Unterricht war. Nicht alle zusammen, sondern wer Interesse hatte, konnte sich am Elternabend in einer Liste eintragen und ich hab dann immer 2-3 der Interessenten angerufen und gesagt, dass sie nun kommen könnten. Die waren durchgängig das ganze Jahr da und gerne da und die Kinder sind ja wirklich so frei, das stört sie gar nicht, ob da die Eltern mit rumlatschen oder nicht und die haben dann auch Eltern gefragt, denn die sind ja wirklich unheimlich selbständig, das störte die überhaupt nicht. Rainer Simon Ich kenne das noch von meiner eigenen Schule mit anderen Methoden. Da haben wir auch gesagt, die können kommen wenn sie wollen, nur müssen sie dann auch in Kauf nehmen, dass wir mal ne Arbeit schreiben oder so etwas. Ich kann mir vorstellen, gerade bei veränderten Unterrichtsformen, dass der Besuch, das Hospitieren der Eltern immer weniger auffällig ist und von daher immer weniger auch eine Belastung. Karin Bahnsen Ich hab das ein Bisschen gelenkt, weil ich nicht so viel auf einmal haben wollte, ich denke 3, das ist etwas, was wirklich nicht auffällt. Rainer Simon Das ist ja richtig, dass jeder das selbst einteilt. Jedenfalls die Tendenz, den Unterricht auch den Eltern zu öffnen, die haben Sie hier alle bestätigt und die halte ich für sinnvoll. Christa Wilken Ja das wollte ich auch sagen, dass ich das einmal mit den Eltern hatte, dass die dann doch mal so vorsichtig ankamen und mich fragten: Ja wie weit darf ich denn nun eigentlich helfen, soll ich das so stehen lassen. Wenn ich das denen dann erklärt habe, das Kind hat nun doch lautrichtig und mithin richtig geschrieben, dann sehen sie das ja ein und ich hatte ihnen dann ja auch gesagt, sie möchten nicht weiter eingreifen. Ich hatte von Vornherein einige sehr sehr aufgeschlossene Mütter, die sogleich das ganze Vorhaben, vor allen Dingen die Einstellung dem Kind gegenüber, so toll fanden, dass das auf die Eltern insgesamt übergesprungen ist. Die Eltern sind dann auch immer freier geworden und ich hab sie einfach eingeladen: ihr könnt jederzeit in den Unterricht kommen, auch weil ich oftmals Hilfe brauchte. Wenn man da alleine mit den Kindern ist, dann kommt doch immer mal was zu kurz, etwa dass jemand mit einer Gruppe spielt, z.B. Quarttet oder das eine Spiel, das die Kinder alleine nicht können. Wenn ich mit einer andern Gruppe beschäftigt bin, könnte ja schon jemand mit denen zu spielen anfangen oder mal als Anregung ein Kasperspiel mit einer kleinen Gruppe einüben. Ich sagte also den Eltern immer, sie könnten jederzeit kommen. Da hatte ich schon ein Bisschen so meine Ängste abgebaut. Ich hatte ja letztes Jahr schon im Matheunterricht etwas geöffnet, auch für Eltern und Kollegen und jetzt fand ich das eigentlich auch ganz gut, bloss, ich hab die immer wieder ansprechen müssen, es kamen immer weniger, die denken, das läuft ja so und da brauch ich mich nicht weiter drum zu

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kümmern. Und die Befürchtungen der Eltern, dass die Kinder nicht richtig schreiben lernen, sind auch weg. Ich finde eigentlich, dass die Kinder enorm Fortschritte gemacht haben, auch ganz plötzlich. Ich hatte einen ganz Kleinen, der war immer so hinterher, der wurde immer so laufen gelassen von den Eltern, die waren mit anderem beschäftigt, Go-Kart-Rennfahren und was weiss ich wo und mit ihrem Flitzer, einem teuren Porsche, durch die Gegend zu fahren, das Kind wusste nicht mal, was ein Bleistift und was ein Buntstift ist und ich dachte immer: Mensch, der hinkt so hinterher und plötzlich sitzt der da und kann lesen, auf einmal, kann den anderen bei den SABEFIX-Programmen helfen, denen, die vorher besser waren, jetzt schon was vorlesen, also super, lesen können sie sowieso alle, manche sogar ganz toll, und da bin ich also völlig begeistert, bloss es sind alles lauter kleine Einzelpersönlichkeiten, die ich mir herangezogen habe und ich habe noch nie in meinem Leben soviel Sozialerziehung machen müssen, Tag für Tag, so wie ich meine eigenen Kinder erzogen habe, jeden Tag diese Kinder weiterzuerziehen, irgendwelche Auseinandersetzungen, Konflikte hier und da zu bereinigen, mit einander besprechen zu lassen, mir Lösungen zu überlegen, nciht dass es schlimme Sachen sind, aber es gibt an jedem Tag irgendwelche Auseinandersetzungen und das ist glaube ich für die Kinder ein ganz schwieriges Lernen. Die kommen voran, ich merk das bei solchen Kindern, die anfänglich so gehemmt und gestört waren im Verhältnis zu anderen, dass sie schon mit einigen sehr gut partnerschaftlich arbeiten können, die haben also auch da Fortschritte gemacht, trotzdem kommt es immer wieder zu Reibereien. Karin Bahnsen Aber das ist doch normal. Die kommen doch als totale Egoisten zur Schule und wir erwarten von ihnen jetzt partnerschaftliche Arbeit. Ich halt das für normal. Birgit Wysotzki Wissen Sie ich glaube das Problem liegt darin, es sind immer mehr Einzelkinder, die jetzt zur Schule kommen und die es nicht gewöhnt sind, mit andern Kindern zusammenzuarbeiten. Christa Wilken Nein ich glaube es liegt daran, dass ich sie respektiert habe in ihrer Persönlichkeit. Ich hab sie so gelassen, wie sie waren und jetzt müssen sie sich bei jedem Bisschen miteinander auseinandersetzen. Das sind jetzt 15, die alle verschiedene Meinungen haben und dadurch kommt das soweit. Rainer Simon Sie haben beide Recht, wenn ich das mal so schiedsrichterhaft sagen darf. Sie haben eine Ursache genannt, dass Schüler heute vielleicht mehr als Einzelwesen, als Individuen zu uns kommen und Sie haben gesagt, wie Sie darauf eingehen, dass Sie die Persönlichkeit sich auch entwickeln lassen, das ist ja richtig. Christa Wilken Es ist aber mehr, als wenn ich nach einer andern Fibel unterrichtet habe. Jürgen Reichen Mehr Aggression?

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Christa Wilken Nein, nicht Aggressionen, die persönlichen Reaktionen, dass sie sich ausleben oder durchsetzen, durchsetzen auch nicht jetzt rigoros Angela Kunter Früher wurden sie nur still gehalten Christa Wilken Ja die sind alles Einzelpersönlichkeiten und dadurch kommt das eben öfter zu Konflikten. Rainer Simon So ist es und je stärker wir den Unterricht individualisieren - und das hat jetzt gar nichts mit 'Lesen durch Schreiben' allein zu tun, überhaupt nicht, sondern es gilt allgemein: je stärker wir den Unterricht individualisieren, desto mehr müssen wir gleichzeitig darauf achten, dass auch Sozialerziehung, Gemeinschaftserziehung stattfindet, dass wir sie auch dazu hin mit erziehen. Das ist eine ganz grosse Frage, die nicht allein mit diesem Leselehrgang zu tun hat, sondern grundsätzlich als Frage in der Schule steht. Aber eben, dass wir das eine, Stärkung der Entwicklung der Einzelpersönlichkeit und gleichzeitig auch Gemeinschafts- oder Sozialerziehung, dass wir diese beiden Komponenten auch sehen. Birgit Wysotzki Aber ich fand, grade mit diesem Lehrgang waren die Möglichkeiten gross, dass die Kinder partnerschaftlich zusammenarbeiten konnten oder mussten, zu zweit, zu dritt. Also für mich sah es immer so aus, dass solche Probleme längst nicht mehr so häufig auftraten, man war viel freundlicher und netter zueinander und hilfsbereiter. Christa Wilken Ein Beispiel: Ein Kind, das z.B. gestört ist im Verhältnis zu den anderen, das setzt sich nun mit einem anderen zusammen, um partnerschaftlich an einem SABEFIX-Programm zu arbeiten. Nun haben sie also schon gelernt, der eine macht dies Plättchen, der andere macht das Plättchen, aber der eine sagt: Jetzt komm ich aber ran. Wo kann aber jetzt der andere, wenn er das Plättchen schon vorher sieht, dem wenigstens eine Hilfestellung geben? Ich verlange da schon ein Bisschen viel von ihnen nicht, also dass sie da sehen, wo kann ich dem helfen, ohne ihm vorzugreifen? Damit beide gemeinsam auf ihr Ziel hinarbeiten, damit jeder zu seinem Recht kommt, ohne den anderen zu beeinträchtigen. Karin Bahnsen Das ist ein sehr hohes Ziel, dieses Helfersystem ist sehr schwer. Christa Wilken Es ist sehr schwer, nicht dem anderen die Arbeit wegzunehmen, wenn er drankommt, aber ihn zu unterstützen und ich meine das ist doch ein schwieriger Lernprozess für ein Jahr und da kann ich doch nicht sagen, sie können schon partnerschaftlich arbeiten, natürlich viele können es schon hervorragend, aber viele müssen es auch immer wieder neu lernen. Rainer Simon Nur, dass sie ein Helfersystem, in welcher Form auch immer, mit kennenlernen, ist beileibe für ein 1. Schuljahr nicht selbstverständlich und ist ein Fortschritt.

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Karin Bahnsen Natürlich, aber auch da müssen wir wieder geduldig sein. Ulrich Lau Darüberhinaus, dass sie nun ein Helfersystem kennenlernen, ist für mich aber umgekehrt schwierig, weil ich nicht soviele Tests mache, dass sie in den Tests auch alleine arbeiten. Da ist es für die eben ganz selbstverständlich, dass sie mal gucken, wie macht der das oder sie fragen ihn, denn ihnen ist die Zusammenarbeit eher selbstverständlich als dass sie sich nun gegenseitig abgrenzen. Karin Bahnsen Einzelarbeit muss man als etwas Besonderes ankündigen: heute kommt etwas ganz Neues, etwas ganz Aufregendes und jetzt müsst ihr auch ganz toll zuhören, sonst akzeptieren sie das gar nicht. Jürgen Reichen Darf ich dazu noch etwas fragen, es irritiert mich etwas bzw. ich sehe nicht klar. Früher bin ich immer wieder gefragt worden, worin allenfalls das Spezifische von 'Lesen durch Schreiben' bestehe - und da kann es ja nicht das sein, dass die Kinder am Schluss lesen können, denn wir haben ja alle auch mal irgendwann lesen gelernt. Diejenigen, die den Leselehrgang schon mehrfach gemacht haben, berichten mir nun aber, dass das Spezifische letzten Endes das Sozialklima sei, dass die Kinder zwar sehr selbständig aber auch friedlich und entspannt arbeiten - es wird da insbesondere die Athmosphäre erwähnt. Christa Wilken Ja sicher, aber sie sind doch keine Engel. Es ist wie bei meinen Kinder zu Hause nicht? Natürlich denke ich, ich hab sie gut erzogen und so bin ich nun in der Lage, meine 15 Kinder zu erziehen. Sicher sind sie schon weit, sie sind viel weiter als eine andere Klasse, dadurch aber, dass ich ihnen soviel Freiraum, soviel Selbständigkeit zumute, müssen sie das genau so lernen, wie das Lesen und das Schreiben. Und da muss ich auch die Geduld aufbringen und wenn es dann Auseinandersetzungen gibt, muss das besprochen werden. Ich finde durchaus, dass es ein sehr hohes Sozialklima ist, aber von sich aus, von den Kindern alleine verlangt und nicht von mir von oben herab draufgesetzt. Birgit Wysotzki Also alle Lehrer, die zu mir in die Klasse gekommen waren, haben gerade dieses gute Sozialklima hervorgehoben. Ich habe einmal erlebt, da rannte ein Kind durch die Klasse und schrie irgendetwas und da sagte eine Lehrerin: endlich mal ein normales Kind. Sie hatte auch ein 1. Schuljahr und verglich nun ihre Klasse mit dieser Klasse. Es ist natürlich nicht still in der Klasse, es ist eine Unruhe, aber keine störende Unruhe, weil jeder selber arbeiten kann. Gerade das war so beeindruckend für die anderen Lehrkräfte, dass diese Kinder so für sich arbeiteten und miteinander arbeiteten und eben nicht rumkasperten und keinen Unsinn machten oder irgendwo rum sassen Christa Wilken Und schon zu arbeiten anfangen, bevor ich in die Klasse komme, wirklich.

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Rainer Simon Einen Punkt möchte ich noch ansprechen, der zwischendurch mal ein Problem war: das war die Frage nach den Arbeitsmaterialien. Wie war der Umgang mit den Arbeitsmaterialien? Das war zwischendurch ein kritischer Punkt, wie haben Sie es nun im Verlaufe des Jahres erlebt? Karin Bahnsen Ja zu Anfang als Berg, nich, ein undurchschaubarer Berg, jedenfalls in der Zeit zwischen Herbstferien und Weihnachten, wo man eigentlich immer noch nicht in der Lage war, das Ganze zu durchschauen und immer noch in dieser Unsicherheitsphase war, das man sich fragte: also ist das hier an der richtigen Stelle, ist das zu früh, ist das zu spät und dieses Ganze. Inzwischen sind diese ganzen Gedanken, die man damals hatte, längst abgebaut, jetzt durchschaut man das, und wie gesagt, dann, wenn man soweit ist, dann natürlich sieht man eigentlich wie umfangreich das Material ist, wie das Kind eigentlich eine Rundumschulung kriegt, sämtliche Bereiche, das ist ja ein Wahnsinn und das kriegen die Eltern so nicht immer mit und das muss man ihnen dann bröckchenweise zeigen, was da alles auch noch gefördert wird, Konzentration und Wahrnehmung. Rainer Simon Ich möchte jetzt mal nicht so sehr auf die Eltern eingehen, sondern nach Ihrem eigenen didaktisch-methodischen Umgang mit den Arbeitsmaterialien fragen. Gibts da irgendwie Besonderheiten? Zu Beginn des neuen Kalenderjahres war gesagt worden, dass Sie die Arbeitsmaterialien nicht sehr häufig, eher wenig direkt im Unterricht einsetzen, sondern dass Sie mit den Vorlagen aktiv umgehen, neu zusammenstellen, zerschneiden usw. oder auch eigene entwickeln. Dazu sollen Sie Stellung nehmen. Helga Bothe Wenn ich das richtig in Erinnerung hatte, jedenfalls trifft das für mich so zu, dann bezog sich diese Äusserung nur auf die weissen Blätter des Lehrgangs. Das andere Material habe ich unverändert eingesetzt und ich glaube auch im Sinne des Lehrgangs. Hingegen bei den Geschichten habe ich eigene Sachen gebracht und benutzt, die sich auf unseren Unterricht bezogen, z.T. in dem Sinne wie im Lehrgang, z.T. aber auch mehr und mehr ganz anders. Beim Schulausflug z.B.: Mein Schulausflug war ein anderer, also war mein Material ein anderes. Rainer Simon Also materiell anders angelegt, aber sinngemäss im Sinne des Lehrgangs. Allgemeine Zustimmung Karin Bahnsen Dann hatten wir auch noch gesagt, dass wir einige Kopien uns nochmals machen und das eine oder andere ein zweites Mal verwenden und bei anderen Dingen, z.B. den Kamuffeln hat man noch eigene Ideen, die man ausschlachten kann, wo man mit Eigenem ergänzen kann. Aber das bedeutet nicht, dass wir inhaltlich was daran geändert haben. Rainer Simon Also die eigenen Ideen dürfen schon einen eigenen Inhalt haben. Wir haben gesagt, dass sie sinngemäss mit der didaktisch-methodischen Grundlage und Auffassung des Lehrgangs übereinstimmen müssen

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Karin Bahnsen Ohne dass an der Konzeption gekratzt wurde. Rainer Simon Ja, wobei es vielleicht sinnvoll ist, wenn Sie jetzt, Herr Reichen dazu nochmal sagen, ob das so möglich ist, ob der Freiraum da ist oder ob ein bestimmter Aufbau, der vielleicht auch gar nicht so offenkundig ist, psychologischer Aufbau dann dabei verloren geht. Jürgen Reichen So wie es hier gesagt wurde ist es genau gemeint. So steht es auch im Lehrerkommentar. Die weissen Blätter haben Anregungscharakter zum Sachunterricht. Es sind ja auch nur 4 Themen und die reichen auf jeden Fall nicht für ein Jahr. Karin Bahnsen Das sagten Sie auch damals. Wir kommen mit dem Material nicht aus, das habe ich mir aufgeschrieben. Jürgen Reichen Und was eben den weissen Teil betrifft, so müssen, dürfen oder können Sie Eigenes machen, mit dem was gedruckt vorliegt kommen Sie gar nicht aus. Es hat im Grunde genommen Mustercharakter, wie mans analog machen könnte. Rainer Simon Wir haben bisher zusammengetragen, wie man bei 'Lesen durch Schreiben' versucht, erzieherisch mit den Kindern umzugehen, insgesamt Erziehung und Bildung anzulegen, und da muss ich schon sagen, eigentlich genau auch im Sinne unseres Lehrplans, der Präambel unseres Lehrplanes etwa, die all diese Dinge, die wir jetzt da zusammengetragen haben, auch betont. Für mich sehr beeindruckend und wir haben eigentlich intensiv gesucht nach den grossen Haken, aber die haben wir eigentlich nicht gefunden, wenn ich das so sagen darf. Karin Warming Einen Punkt gibt es schon und der hat mich doch sehr gestört, das betrifft Ihre Empfehlungen zur Schreiberziehung, also zur Handschrift, wo Sie betonten, wir sollten nicht darauf achten, wie die Kinder eigentlich drucken und nicht den Schreibzug einzuüben. Daraufhin haben sich dann natürlich auch die kuriosesten Formen eingefunden, ein n von hintenherum, ein o rechtsläufig etc. Das Argument, Schreiben solle ein geistiger Akt sein leuchtet mir nicht ganz ein, denn die Kinder haben dieses O jetzt ja 10 mal geschrieben und dann gucken sie auch nicht mehr hin und machen das dann ihr ganzes 1. Schuljahr lang immer gegen die Schreibrichtung. Das hat mich also schon gestört Helga Bothe Das stört mich noch jetzt Karin Warming Das einzige, was mich getröstet hat, da ich nicht eingegriffen habe und von den Kindern nicht verlangte, sie müssten von vorne nach hinten schreiben oder so ist, dass sie jetzt Schreibschrift lernen und dann pauk ich das eben ein.

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Jürgen Reichen Und haben Sie damit jetzt mehr Mühe? Karin Warming Nein, gar nicht, die Kinder haben ja jetzt schon ihre Kleinmuskulatur ausgebildet. Jürgen Reichen Darf ich das bekräftigen, was Sie gerade sagten? Karin Bahnsen Dass es uns stört, liegt an uns. Ich kanns nicht sehen, aber die Kinder könnens fliessend. Jürgen Reichen Sie hat weniger Mühe mit der Schreibschrift. Karin Warming Das ist richtig,ja. Jürgen Reichen Sie hat im 1. Schuljahr keine Schrift geübt und jetzt hat Sie mit der Schreibschtrift weniger Mühe. Sie bestätigt mich also. Rainer Simon Das ist richtig, aber trotzdem könnte man von der Unterrichtsökonomie her sagen, schreib das mal in der Richtung, das ist eigentlich keine Gängelung. Allgemeiner Widerspruch / Durcheinander Rainer Simon Herr Reichen, können Sie das Problem nochmals formulieren, worum geht es? Jürgen Reichen Karin Warming erklärte, das hätte ihr Mühe gemacht, diese fast dogmatische Aufforderung, bei Kindern, die nun schreiben und verschriften, nicht auf einen bestimmten, vorgegebenen Bewegungsablauf in der Gestaltung der Buchstaben zu achten. Sie hat sich zwar an diese Forderung gehalten, aber eigentlich "contre coeur". Nun will ich hier nicht alle meine diesbezüglichen Überlegungen wiederholen, nur das Grundsätzliche: 'Lesen durch Schreiben' hat aus meiner Sicht eine Menge Psychologie drin. Feinmotorik und feinmotorische Ausdrucksbewegungen haben etwas mit unserer Persönlichkeitsstruktur zu tun. Die Schrift ist uns allen persönlichkeitsmäsig viel näher als etwa das 1x1, die Schrift gehört zu uns selbst und dank dieser engen Verflechtung kann beispielsweise die Graphologie aus unserer Handschrift Rückschlüsse auf unsere Persönlichkeit ziehen. Nun müssen wir einfach sehen, dass die vorherrschenden Bewegungsabläufe, die wir normalerweise vorgeben, diese Norm, einem Teil der Kinder psychodynamisch zuwiderläuft und diese Kinder werden "vergewaltigt", wenn wir von ihnen verlangen, dass sie beispielsweise die Senkrechte von oben nach unten ziehen, weil sie eine innere Tendenz haben, das von unten nach oben zu machen. Früher, als man noch die Spitzfeder benutzte, da konnte man nicht von unten nach oben stossen, wie das geheissen wurde, da musste man von oben nach unten ziehen, da gab es einen Sachzwang und diesem musste

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sich auch jenes Kind, das eine andere Psychodynamik hatte, unterziehen. Aber dieser Sachzwang besteht heute nicht mehr. Wenn ich persönlich dafür plädiere, die Schrift im Bewegungsablauf freizugeben, d.h. eben der individuellen Psychodynamik des einzelnen zu überlassen und die Feinmotorik begleitend zu fördern, mit anderen Formen des Arbeitens (mit Plastillin, Flechten, Falten, Kneten, Spielen mit Bauklötzen, Fadenspielen, mit Schwungübungen und Übungen an Ornamenten), dann glaube ich eben, dass wir im Hinblick auf die verbundene Schrift, die wir gegen Ende des 1. Schuljahres innert eines relativ kurzen Zeitabschnitts einführen, keine Probleme bekommen. Die Erfahrung bestätigt diese Vermutung, sie lässt sich auch begründen. Weil die Bewältigung eines jeden Lernprozesses an zwei wichtige Bedingungen geknüpft ist: Motivation und spezifisch bestimmte Lernvoraussetzungen, ist der von mir vorgeschlagene Weg - Kinder beim Drucken nicht auf einen, ihnen womöglich innerlich zuwiderlaufenden Bewegungsablauf zu zwingen, im Rahmen einer feinmotorischen Begleitförderung mit anderen Arbeiten aber ein Fundament zu legen - besonders erfolgreich. Kinder bleiben hinsichtlich der verbundenen Schrift lernoffen, weil sie nicht schon vorher mit normativen Anforderungen belastet wurden, denen sie aus Mangel an feinmotorischer Beweglichkeit oder aus psychodynamisch begründeten Widerständen nicht genügen konnten bzw. wollten. Wer Kinder im 1. Schuljahr in puncto Druckschrift frei lässt, hat niemand in der Klasse, der bereits den Schreibverleider hat, d.h. die Motivation ist ungebrochen erhalten. Gleichzeitig können die Kinder inzwischen so gut verschriften, dass sie beim Schreiben die technischen Grenzen der Druckschrift - es geht nicht so schnell - selber erleben und nun die verbundene Schrift von sich aus beherrschen wollen, was ebenfalls zu einer guten Motivation beiträgt. Im Bereich der spezifischen Lernvoraussetzungen aber ist inzwischen ihre Feinmotorik (und nicht zu vergessen: eine dynamische Gestaltauffassung) weiter entwickelt, und zwar auf der natürlichen Grundlage der je eigenen Psychodynamik, die sich vollständig entfalten konnte, ohne gegenläufigen Zwängen ausgesetzt zu sein. Das aber bedeutet, dass auch in diesem Punkt die Lernvoraussetzungen optimal sind. Und genau dies haben Sie mir dann ja bestätigt. Die Schrift, die letzten Endes zählt, ist die verbundene Schrift und deshalb würde ich gerne von Ihnen wissen, ob es bei deren Einführung Schwierigkeiten gab auch dann, wenn man vorher bei der Druckschrift nicht vorübte. Allgemeine Verneinung von Schwierigkeiten Helga Bothe Allerdings habe ich bei einzelnen Kindern beobachtet, dass trotz vorgeschriebener Schreibbewegung immer wieder von unten statt von oben angefangen wurde und die Kinder eigentlich nicht so ganz einsehen konnten, warum sie vorher schreiben durften, wie sie wollten und jetzt sollten sie sich an Vorschriften halten. Aber das war vorübergehend, das war nicht schlimm. Marielene Büchel Schwierigkeiten bereitet den Kindern, innerhalb der Reihe zu schreiben, also Erdgeschoss, Übergeschoss, Untergeschoss, in den Linien zu schreiben. Jürgen Reichen Wobei Linien bei mir jas nicht verboten sind, Linien darf man im 1. Schuljahr durchaus benutzen.

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Rainer Simon Ich wollt nochmal nachfragen. Die völlige Freigabe, kein Einfluss auf das Schreiben der Kinder in diesem Bereich hat also keinen negativen Einfluss auf das spätere Erlernen der Schreibschrift gehabt, können wir übereinstimmend so sagen? Allgemeine Zustimmung / Lebhaftes Durcheinander Rainer Simon Aus den lebhaften Zweier- und Dreiergesprächen schliesse ich die hohe Akzeptanz auch dessen, was Herr Reichen soeben zum Psychomotorischen will ich mal sagen, ausgeführt hat und für die Begründung. Mir war das sehr einsichtig und es erfüllt einen mit Wärme im Herzen, wenn man solch eine Begründung hört. Nächster Punkt: ein - vielleicht d e r Haken - (einige empfinden das so) auf jeden Fall sicherlich ein ganz wichtiger Punkt, für jede Methode, jegliche didaktische Grundlegung überhaupt: Hilfen für Kinder mit Entwicklungs- und Lernschwierigkeiten. Vielleicht sollte ich auch erst zu dem Problem das Wort an Sie geben, Herr Reichen. Jürgen Reichen Dieses Problem ist mir bekannt, es ist eigentlich seit Anfang, seit es den Lehrgang gibt, ein Dauerbrenner und es sind schon mind. 5 mal Anläufe gemacht worden, ein Ergänzungsangebot für schwächere Schüler - ich bleib jetzt mal bei dem Begriff - zu entwickeln und jedes Mal ist dieser Anlauf wieder gestoppt worden, weil man es letzten Endes doch nicht für nötig fand. Ich selbst fühle mich vor dieser Frage überfordert, denn ich kann mir eigentlich kein Urteil erlauben. Zunächst muss ich feststellen, dass wir in der Schweiz in den 'Lesen durch Schreiben'-Klassen im allgemeinen ein höheres Leistungsniveau haben als ich es hier angetroffen habe. Es ist das natürlich etwas heikel, was ich da sage. Ich hab mich natürlich gefragt, woran das liegen könnte. Ein Punkt wurde früher schon mal erwähnt: unsere Schweizer Kinder sind - weil bei uns der Stichtag für die Schulpflicht anders liegt - im Durchschnitt 3 Monate älter und das - nehme ich an - spielt natürlich schon eine Rolle, so dass man den Leistungsstand eigentlich zwischen anderen Zeitpunkten vergleichen müsste, also Schweiz: Ende des 1. Schuljahrs mit BRD: Nach 3 Monaten im 2. Schuljahr. Dann dürften sich die Unterschiede ausgependelt haben. Ein zweiter Faktor scheint mit den Sprachgepflogenheiten zusammen zu hängen. In der Schweiz wird offenkundig Mundart gesprochen und Schriftsprache geschrieben und es ist allen Kindern die Trennung der beiden Sprachsysteme bewusst. Den Kindern ist völlig klar, dass die Sprache, die man schreibt, eine andere ist, als die, die man spricht. Und von daher besteht eine erhöhte Sorgfalt der Standardsprache gegenüber, während ich hier doch gelegentlich bei Kindern den Eindruck habe, dass sie sich dessen gar nicht bewusst sind, dass sie eigentlich eine Mundart sprechen, die der Standardsprache nicht entspricht. Dazu kommt, dass die Schweizer langsamer sprechen, während hier einige Lehrerinnen derart schnell sprechen, dass ich selber Mühe habe, nachzufolgen. Deshalb empfehle ich ja immer wieder, langsamer zu sprechen. Karin Bahnsen Ja, das haben Sie uns damals auch empfohlen und es ist wahr, wir sprechen auch zu schnell. Ich weiss noch, dass ich damals nach Hause gegangen bin und mir gesagt habe: Ja, ich will mir auch beim Sprechen mehr Mühe geben. Christa Wilken Mir fällt da grad was Niedliches ein. Unsere sagen hier doch alle "Buttaa", "Muttaa" und schrieben auch das A. Und da habe ich ihnen erklärt, das müsse nun Butt-er und Mutt-er heissen,

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man müsse das -er schreiben und das haben sie so prima gelernt, dass Michaela nachher Michaeler schrieb. Gelächter / Allgemeines Durcheinander Jürgen Reichen Aufgrund dieser besseren Bedingungen sind vielleicht bei uns die Schwierigkeiten mit schwachen Schülern geringer, so dass das Bedürfnis nach einem Ergänzungsmaterial dann doch nicht durchgehend besteht. Dazu kommt noch, dass 'Lesen durch Schreiben' bei uns der Schweiz gerade auch an den Sonderklassen überproportional Verbreitung gefunden hat. Helga Bothe Mit Zusätzen oder nur dem Sinne nach? Jürgen Reichen Das weiss ich auch wieder nicht. Karin Warming Was sind denn bei Ihnen Sonderklassen. Jürgen Reichen Ja eben, was hier Langzeitklassen genannt wird. Wobei bei uns alle Kinder, die nicht in die Regelschule kommen, zunächst in solchen Langzeitklassen sind. Ab dem 2. Schuljahr gibt es dann Sonderklassen für Verhaltensauffällige, Lernbehinderte und Fremdsprachige ohne Deutschkenntnisse. Birgit Wysotzki Und die sind bei uns alle dabei und das zieht natürlich das Niveau nach unten. Jürgen Reichen Einzelne solcher Kinder haben wir natürlich in den Regelschulen auch, weil die Einweisung in Sonderklassen bei uns gegen die Zustimmung der Eltern rechtlich nicht möglich ist. Rainer Simon Trotzdem gibt es bei aller regionalen Unterschiedlichkeit, auch der kulturellen und sozialen Voraussetzungen auch nivellierende Strömungen, wie etwa den Einfluss des Fernsehens, den ich gar nicht negativ jetzt zeichnen will, wo vieles sprachlich aber doch für alle Kinder gleich rüberkommt. Und es gibt doch die Tatsache, dass wir eine Reihe von Kindern mit Schwierigkeiten haben, vielleicht nimmt deren Zahl sogar zu, oder auch nur unsere Diagnosefähigkeit nimmt zu, die einen, die nicht deutlich aussprechen, sie haben Sprachstörungen in diesem Sinne, andere haben einen stark eingeschränkten Wortschatz, der sehr auf soziale Bedingungen zurückgeht, wiederum andere können bestimmte Dinge einfach nicht richtig wahrnehmen, sei es optisch oder akustisch, andere haben Schwierigkeiten sich vom Verhalten her so einigermassen in der Zeit anzupassen und und und Wahrnehmungsstörungen usw. Ich will das Wort Störungen vermeiden, sondern ich spreche nur von Schwierigkeiten. Es gibt eine Fülle oder Kinder, die leichte gehirnorganische Schädigungen haben, auch physische Gründe. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen für Kinder, dass ihre Entwicklung, ihr Lernen nicht so a priori "normal" verläuft. Diese Tendenz ist nicht rückläufig in unserer Gesellschaft und nochmal gesagt, ich glaube, dass jede

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Didaktik, jede Grundlegung in der Schule darauf auch in irgendeiner Form eingehen muss und da ist die Frage, wie kann das mit der guten Grundlage, der sehr einleuchtenden und durch den Erfolg bestätigten Grundlage, die 'Lesen durch Schreiben' legt zumindest in einem Stück verknüpft werden, so will ich mal fragen. Karin Bahnsen Zum Teil ist das ja unmöglich, weil wir ja gar nicht ausgebildet sind. Schon allein gewisse Schwierigkeiten zu erkennen ist doch für uns nicht machbar. Rainer Simon Frau Bahnsen, wir versuchen, von der Fortbildung nach und nach mehr und mehr darauf einzugehen - Psychomotorik bieten wir an, Frühförderug in Erstlesen, Erstschreiben, da sind ja Diagnoseverfahren mit dabei, bis hin zu medizinischer Hilfe, die wir auch über die Fortbildung versuchen, anzubieten. Und manches eignen sich Lehrkräfte ja auch selbst an. Nach und nach kommen wir in den Stand und müssen dies auch in der Ausbildung mit einbringen, das glaube ich schon, wir müssen die Ausbildung viel radikaler ändern, als wir uns das gemeinhin so träumen lassen. Aber trotzdem, ein Stück ist auch die Frage an 'Lesen durch Schreiben'. Jürgen Reichen Ja gut, aber das Material ist nun jetzt mal so wie es jetzt ist. Ich bekomme ja nun Mitte August mein eigenes 1. Schuljahr mit 26 Kindern, davon 12 Ausländer und 'Lesen durch Schreiben' und vielleicht kommt es dann soweit, dass ich am Ende dieses Schuljahres erneut über die Bücher gehe, das mag schon sein. Ich möchte jetzt eigentlich an den Anfang zurückgehen. Frau Bahnsen hast ja immer wieder auf das "Motto-Wort" Geduld verwiesen. Ich möchte das aber eigentlich korrigieren und zwar insofern: die Geduld allein bringts natürlich nicht. Ich plädiere eigentlich - neben dem, was pädagogisch und didaktisch immer schon geboten war: Zuneigung zu den Kindern und Ermutigung der Kinder - für drei Dinge gleichzeitig: gib Zeit, gib ein Breitband-Lernangebot und gib Lernfreiheit. Nur in der Kombination dieser drei Dinge funktioniert der Lehrgang aus meiner Sicht. Dabei ist es nicht so schwer - für mich - Zeit und Freiheit zu geben, das ist lediglich eine Sache der Einstellung, hingegen macht in der Praxis das Breitband-Angebot manchmal Mühe, denn dieses muss ich ja zuerst haben, ehe ich es den Kindern geben kann. Dieses Breitband-Lernangebot, das besagt schon der Begriff und das steht auch im Lehrerkommentar, muss man zum Teil selber beschaffen, man muss das Angebot von 'Lesen durch Schreiben' ergänzen, natürlich nicht unbedingt durch weiteres Papier, aber durch Spiele, durch Bastelmöglichkeiten, durch andere Arbeiten: mit Würfeln, Bauklötzen, Murmeln usw. - ich will das jetzt nicht alles wiederholen. Je breiter aber man dieses Lernangebot ausbaut, umso mehr besteht die Chance, dass schwächere Kinder bzw. Kinder, die noch Lerndefizite haben, in diesem breitgefächerten Lernangebot Lernmöglichkeiten finden, an denen sie kompensatorisch ihre Schwierigkeiten überwinden können. Rainer Simon Also nicht Ziel-Angebot, sondern Breitband-Angebot, ich brings mal so auf den Punkt. Helga Bothe Aber wenn das nur Angebot ist, dann besteht die Gefahr, glaube ich, dass Kinder, die an einer besonderen Stelle besonders viel Förderung gebrauchen würden, versuchen, diese Angebote zu umgehen, weil sie ihnen nämlich unangenehm sind und schwierig sind für sie. Und wenn ich jetzt

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nicht gezielt sag: So, du jetzt auch - oder: so, du mal dieses, dann kann es mir passieren, dass mir genau die durch die Latten gehen. Jürgen Reichen Die Frage ist, ob das so ist, wie Sie es vermuten. Ich plädiere zwar dafür und bin auch überzeugt davon, dass man Schwierigkeiten nicht dadurch überwindet, dass man ihnen aus dem Weg geht und wenn ich gelegentlich gefragt werde, ob man den Leselehrgang beispielsweise auch bei sprachgestörten Kindern brauchen könne, die mit dem Artikulieren und Auflautieren noch mehr Schwierigkeiten haben als normale Kinder, dann bin ich der Meinung: erst recht! Insofern ist die gezielte Arbeit in den Bereichen, wo Schwierigkeiten bestehen sinnvoll. Auf der andern Seite gibts aber etwas anderes zu bedenken: ein vermeintliches Ausweichen muss nicht unbedingt ein Ausweichen sein, es kann ein instinktiv richtiges Verhalten sein, etwa wenn ein Kind spürt, das hier, das kann ich noch gar nicht und da ist es gescheiter, ich arbeite etwas anderes. Und wenn es so läuft, ist es auch richtig. Das ist natürlich eine ganz ganz heikle Frage. Immerhin eines scheint mir klar. Wenn Herr Simon früher mal darauf hinwies, dass andere Lesedidaktiker dafür plädieren, dass das Kind so rasch als möglich lesen lernen soll, möchte ich sagen: Ich schliesse mich dieser Meinung durchaus an. Ich glaube ja auch, dass ein Teil der Kinder mit 'Lesen durch Schreiben' schneller lesen lernt, als mit der Fibel. Es gibt zwei allgemein gültige Lerngrundsätze: Der eine besagt, dass man nur etwas lernt, wenn man dazu motiviert ist und ich hoffe, dass Ihre Kinder zum Lernen besser motiviert sind. (Zustimmung) Und der andere besagt: Je mehr ein Kind bereits gelernt hat, umso mehr, besser und schneller lernt es dazu. Je mehr es nämlich schon gelernt hat, umso mehr Lernvoraussetzungen hat es für kommende Lernvorhaben. Um das aber zu erreichen: Motivation wie auch möglichst viele Lernvoraussetzungen plädiere ich eben für diese Trias: Geduld, Freiheit und Breitband-Angebot. Rainer Simon Ich möcht das ergänzen. Ich habe ja vorher bewusst eine etwas provokative Frage formuliert, die ich jetzt anders noch mal stellen will: Sitzen wir nicht auch da, wenn wir nach der Förderung fragen, dem traditionellen Denken auf, das wir seit mindestens 10-20 Jahren haben und das im Grunde genommen von einer Defizittheorie ausgeht, dass Kinder eine ganze Reihe von Defiziten haben und man mit ihnen gezielt diese Defizite bearbeiten muss, unter der Suggestion - und jetzt sag ich es wieder scharf - als wüssten wir genau, a) wie diese Defizite zustande gekommen sind, b) dass sie wirklich so da sind und c) wie wir sie dann auch alle gezielt und richtig beheben können. Ich habe da meine Zweifel, ob das der Fall ist und alljährlich hören wir von immer mehr Störungen und Schwierigkeiten, die Kinder haben und es verästelt sich immer mehr - jetzt kommt die Dyskalkulie und was ich dazu - und wir haben immer mehr Experten, die uns sagen könnten, wie man das macht und dass wir das alles noch nicht richtig machen. Irgendwann ist für mich, und das sag ich jetzt mal ganz hart, ist für mich die Grenze erreicht, dass immer noch weiter sozusagen diagnostiziert wird und immer noch ne neue Schwierigkeit und Schwäche und und und erkannt wird und wir brauchen immer noch wieder extra einen neuen Spezialisten, wir wissen oftmals gar nicht, wie es zu Defiziten kommt und insofern kann ich zumindest zu einem Gutteil die These von Herrn Reichen stützen: gib denen ein Breitband-Angebot, lass sie mit Freude lernen und unterstelle, dass sie zumindest ein Stück auch dadurch gefördert werden. Und das mag dann, zu einem bestimmten Zeitpunkt unter Umständen auch ergänzt werden durch andere Massnahmen, wenn man sieht, es geht und geht so nicht weiter, das mag ja sein, das will ich nicht in Abrede stellen. Also ich will das Problem nicht dezimieren, ich will nur mal drauf hinweisen, dass wir unter Umständen auch ganz anders daran herangehen können und ich sage Ihnen mal in dem Zusammenhang - und jetzt nicht Hamburg oder so hervorgehoben, aber es ist

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nun da mal so - ich habe letzthin ein für mich sehr beeindruckendes und ausführliches Gespräch mit der Leiterin des Beratungszentrums Integration in Hamburg geführt, Frau Tepp, und die sagt mir, wir finden bei denjenigen, die wirklich in der Grundschule diese integrativen Massnahmen betreiben eine andere Art der besonderen pädagogischen Kompetenz als bisher es so durch das Hineinkommen von Sonderschullehrkräften in die Grundschule praktiziert worden ist. Die Fachrichtungskompetenzen im pädagogischen Bereich, siehe Sprachheilkentnisse usf., schleifen sich bei den Kollegen etwas ab samt deren Sicht der Kinder. Stattdessen sehen sie andere Schwerpunkte und sehen vor allem: Wenn ein Kind soweit ist, dass es z.B. das Lesen-lernen jetzt geschafft hat, dann können wir nicht mehr den übrigen Förderungsplan, der über ein ganzes Jahr lang festgelegt ist so weiterführen, sondern insgesamt ist eine neue Qualität des Lernens entstanden, also wir müssen im Grunde genommen ein dynamisches Förderkonzept vertreten. Dies ist etwas anderes, als wenn wir ein ganzes Jahr lang sozusagen Sprachheiltherapie nach vorgegebenem Muster praktizieren. Ich will das nicht geringschätzen und auch die Arbeit der Kollegen nicht abwerten, denke aber, dass dies ein anderer Ansatz ist, an die Problematik heranzugehen, der wiederum zumindest affin ist mit dem, was Herr Reichen hier für seine Didaktik vertritt. Ich glaube, das ist ein hohes pädagogisches Ethos und wir sollten das mitbedenken, wenn wir fragen: sind denn diejenigen Kinder, die Schwierigkeiten haben zu lernen und sich zu entwickeln mit welcher Didaktik und Methodik auch immer - gut bedient und werden sie gut gefördert? Dann sollten wir dies eigentlich auch mitsehen und auch das zeigt ein Stück Geduld. Eine fertige Antwort habe ich auch nicht, aber ich hab so diese beiden Stränge der Entwicklung vor Augen: einerseits ein immer-mehr-Verästeln und immer mehr gleich ganz gezielt den Spezialisten und Therapeuten einsetzen, andererseits einfach mal zu sagen, so jetzt ist es genug, wir arbeiten so breit als möglich und hoffen, trauen zu, dass alle Kinder sich entwickeln und wenn dann - so würde ich dann schliessen - noch nicht genug ging, dann kann ich immer noch überlegen, ob ich Spezialisten brauche. Karin Bahnsen Es liegt dadrin ja auch eine gewisse Arroganz, dass wir glauben, erkennen zu können, was in dieser komplexen Sache des Lernens nicht ganz intakt ist. Das kann man doch eigentlich gar nicht einsehen und daher leuchtet mir tatsächlich ein, dass man sagt: ich biete alles mögliche an, in der Hoffnung, dass das Kind, jenes Stück, das es gerade braucht, aus diesem Angebot sich herausholt. Rainer Simon Und das ist auch ein Stück Mut-machen für uns selbst, dass wir nicht immer auch bei uns selber nur die Defizite, was wir alles nicht können im Unterricht diagnostizieren und dann sagen: das kann ich nicht und dies kann ich nicht und hier trau ich mich nicht ran, sondern dass wir sagen: nach bestem Wissen und Gewissen. Meinen Unterricht, den versuch ich so breit als möglich anzulegen und allen Kindern zur Verfügung zu stellen und dann ist es auch gut und dann kann ich vor meinem pädagogischen Gewissen bestehen. Christa Wilken Und dann kommt das manchmal bei den Kindern ganz plötzlich. Wenn ich grade noch vor ein paar Tagen dachte, der wird das gar nicht schaffen, der ist so langsam, auf einmal ist der schnell, flott, gut - also das ist super. Ich staun dann manchmal selber über diese Kinder. Ich selber hab das ja gar nicht geschafft, auf einmal ist das bei dem Kind da, hat alles auf einmal aufgeholt, ohne dass ich nun speziell mit ihm gearbeitet hab.

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Karin Bahnsen Das sieht man glaub ich auch bei keiner andern Methode so deutlich, wie plötzlich etwas da ist - jedenfalls hab ich dsa früher bei den anderen Methoden nie gesehen. Marielene Büchel Mich nähme noch wunder, was macht man eigentlich mit Kindern, die stottern? Angela Kunter Ich habe einen Stotterer, der liest fliessend und schreibt wunderbar. Allerdings stottert er immer nur zeitweise, er stottert, wenn er zu Hause wieder stark unter Druck gerät. Jürgen Reichen Das ist bei allen Stotterern so. Angela Kunter Ja das ist so merkwürdig, wenn es zu Hause mal nicht so schlimm ist oder der Vater nicht da ist, dann spricht er normal. Karin Bahnsen Aber die denken ja auch nicht stotterig. Rainer Simon Das ist sogar ein typisches Beispiel für das Breitband-Angebot, um seelisch zu stabilisieren und zu harmonisieren. Damit Sie mich nicht missverstehen - Karin Warming schüttelt ein wenig den Kopf - ich plädiere nicht dafür, bei jedem Kind nur zu warten, bis es irgendwann kommt. Das meine ich nicht, sondern es wird für jedes Kind der Punkt kommen, wo wir sagen müssen: hier sind jetzt gezielt auch ergänzende Hilfen notwendig. Das glaube ich schon. Und diese Verantwortung, das würde ich so als erste Antwort auch aus unserer einjährigen Erfahrung mit 'Lesen durch Schreiben' sehen, diese Verantwortung kann Ihnen keiner abnehmen, weder Dr. Reichen, noch ich, noch die Schulleitung. Karin Warming Nur - diese ergänzenden Hilfen, die krieg ich aber nicht. Wenn ich jetzt ein Kind untersuchen lassen möchte, meinetwegen von der Sonderschule, um zu sehen, auf welchem Gebiet ist jetzt das Defizit ganz besonders stark ausgeprägt oder so, kann ich es nicht untersuchen lassen, nur damit ich die Ergebnisse kriege, sondern dann wird es gleich für die ganze Sonderschullaufbahn untersucht, und das will ich eigentlich ja gar nicht. Ich selber möchte gerne genauer wissen, was mit diesem Kind los ist. Das hab ich also schon oft vermisst, dass man ein Kind nicht so speziell testen lassen kann. Auch im Mathematikunterricht ist es ja manchmal so, dass ein Kind lange Zeit keine Zahlvorstellung entwickelt und da weiss ich gar nicht, was da eigentlich im Kopf oben vorgeht. Es hat schon hundert Mal 2 + 2 + 2 da hin gelegt und wenn man dann am Ende des 1. Schuljahres fragt: So, was ist 2 + 2 ?, rechne das mal im Kopf, dann sagt es immer noch: Weiss ich nicht. Da muss doch irgendwas nicht in Ordnung sein. Rainer Simon Karin Warming, Sie haben völlig recht, dass wir grade für Diagnosemöglichkeiten eigentlich mehr Kenntnisse und mehr Fähigkeiten haben müssen. Ich hoffe, dass sich dies auch im Bewusstsein einer breiteren Lehrerschaft festschreibt. Da wir jetzt auch im 2. Schuljahr

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Berichtszeugnisse schreiben sollen - und ich denke, das ist eine sinnvolle Entwicklung - kommen wir eigentlich gar nicht dran vorbei, dass wir versuchen, auch Lernvoraussetzungen genau zu diagnostizieren. Das hat Herr Reichen vorher auch ausgeführt, dass man Lernvoraussetzungen eigentlich kennen muss für den nächsten Lernschritt, das ist unabdingbar. Ich hab mir das einfach so schlicht notiert, dass wir versuchen, da auch regional einen kleinen Beitrag zu leisten. Marlies Tepe Wenn das stimmt, was Sie gesagt haben, dass vermutlich ein Grund für das höhere Leistungsniveau in der Schweiz der ist, dass die Kinder älter sind, dann müssten uns ja die Kinder besondere Sorgen machen, die - ich sag das jetzt mal etwas provokativ - am unteren Ende hängen und besonders alt sind. Nachdem Sie das sagten habe ich nämlich versucht, so meine Klasse mal Revue passieren zu lassen und habe festgestellt, was ich freilich schon länger wusste, dass von den 6 Kindern, die am unteren Ende sind, vier "Kann"-Kinder sind, die sind also noch sehr jung und haben nach wie vor gewisse Probleme, wie z.B. Sätze zu gliedern, also im Satz Wörter voneinander zu trennen. Sie können aber alle durchlautieren und inzwischen auch schon ganz ordentlich schreiben. Hingegen die beiden andern Kinder, die jetzt schon 8 sind und von denen der Andi noch nicht lesen kann, da müssen ja wohl andere Ursachen vermutet werden, da scheint das natürliche, langsame Umgehen mit etwas nicht da zu sein, sondern da muss irgendwo eine Störung liegen. Und für die muss ich nun entweder vorsehen, dass sie innert des nächsten Halbjahres zurück müssen und das ganze nochmals versuchen, wobei sie ja immer älter werden, oder aber es muss soviele Hilfen geben, mit der Sonderschule zusammen oder durch mich, dass sie weiter dableiben können. Als dritter Weg käme dann noch die Sonderschule in Frage, denn beide sind bereits als sonderschulreif befunden worden, nur wollten die Eltern die Sonderschule noch nicht. Was mir nun aber die Entscheidung erschwert, ist die Feststellung, dass diese beiden Kinder nie einen Lernabriss hatten - das ist für mich interessant. Warum, kann ich ja nicht sagen, denn ich bin hier ohne Erfahrung, es war dies mein erstes 1. Schuljahr, aber alle Kolleginnen, mit denen ich darüber gesprochen habe, die sagten mir, sie setzen in der Regel die zurück, die einen offensichtlichen Lernabriss haben und grade das haben meine beiden Schüler nie gehabt, nie hatte ich das Gefühl, dass da ein wirklicher Riss da war. In meiner Parallelklasse sagte meine Kollegin, Martina und Niels haben seit Weihnachten nichts mehr dazu gelernt und das kann sie im Grunde genommen auch dokumentieren, während ich bei meinen beiden Kindern sagen muss, die lernen beständig noch immer dazu. Ist das bei Euch auch so? Birgit Wysotzki Liegt das denn nicht am Material, weil wir so vielfältiges Material haben. In meiner Parallelklasse, die traditionell arbeitet und stur nach Tempo weitergeht, kommt es immer wieder vor, dass ein Kind etwas nicht mitgekriegt hat und dann kann man darauf nicht weiterbauen und damit ist der Lernprozess abgerissen. Angela Kunter Also wenn Du jetzt sagst, die lernen stetig weiter, wenns auch langsam und wenig ist, dann denke ich, dass die auch irgendwann dahin kommen, wo sie das lesen lernen. Marlies Tepe Das denk ich auch. Aber es gibt eine weitere Frage: Die Mütter von den beiden Kindern, die möchten in den Sommerferien üben. Und das ist ja eigentlich etwas, was wir ablehnen. Welche Hilfen gäbe es denn da nun sonst, denn immerhin steht ja auch die Behörde da und möchte

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irgendwann was sehen oder der Schulleiter sagt mir: Das, was du da aufgeschrieben hast im Zeugnis, was dieses Kind kann, das genügt ja nicht fürs nächste Schuljahr. Birgit Wysotzki Liegt das Problem nicht darin, dass du weisst, dass die beiden für die Sonderschule getestet wurden und dass man dort gesagt hat, das sind Sonderschulkinder. Wenn du das nicht wüsstest, würdest du ja sagen, die lernen immer weiter dazu. Karin Bahnsen Ja, das gibts ja gerade bei dieser Methode, denn gerade im Lautieren kann ein Kind immer wieder ein Stückchen weiterkommen, während bei der anderen Methode haben sie dann mal die und die Buchstaben überhaupt nicht mehr aufgenommen und dann nicht mehr dazugelernt. Hier aber haben sie echt die Chance, immer noch ein Stück weiterzukommen, im Lautieren weiterzukommen, im Hören weiterzukommen, im Schreiben weiterzukommen und zwar ohne den Faden generell zu verlieren. Helga Bothe Hier zeigt sich ein weiterer wichtiger Vorteil dieser Methode, den wir noch gar nicht angesprochen haben: Ein Kind kann es sich nämlich leisten, auch mal 14 Tage krank zu sein oder vielleicht mal eine Zeitlang nicht so ganz dabei zu sein und kann doch jederzeit wieder einsteigen und dieser Wiedereinstieg ist doch ungeheuer wichtig. Mir sagten also auch Eltern, die früher schon ein Kind in der Schule gehabt haben: Oh, was haben wir im 1. Schuljahr Angst gehabt, dass unser Kind mal ne Stunde fehlen könnte, dann war das früher schon eine Katastrophe und hier ist das nun nicht mehr. Allgemeine Zustimmung Rainer Simon Nochmals zu der Frage, die Marlies vorher gestellt hat. Sollen die Eltern mit ihren Kindern üben? Wir sprachen von Breitband-Angebot. Gesetzt nun, die Eltern könnten, vielleicht nach Anleitung durch die Lehrkraft, ein Breitband-Angebot machen, wäre es dann sinnvoll, mit den Kindern in den Sommerferien so breitbandgemäss etwas zu arbeiten? Jürgen Reichen Sie sollen Papierfiguren falten, bis zur Origami-Reife, mit selbstgeschnittenen Buntpapieren Kunstflechtmuster erstellen, mit hochkantig aufeinandergestellten Bauklötzen Türme bis zur Zimmerdecke bauen - das wäre für mich Breitband-Angebot. Marlies Tepe Nur was diese Mütter machen ist natürlich genau das Gegenteil. Ich weiss das ganz genau, obwohl die eine es mir verheimlicht, aber das Kind spricht ja mit mir, und die andere sagt es mir ehrlich. Sie hat noch ein älteres Kind, das in der 3. Klasse in die Sonderschule eingewiesen wurde und von diesem älteren Geschwister hat es noch die Fu-Fibel und erhält nun leider täglich die Fu-Fibel vorgesetzt, die er auch wunderbar auswendig hersagen kann Jürgen Reichen Und deshalb lernt er bei Ihnen nicht lesen.

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Marlies Tepe Und er kann auch perfekt abschreiben. Wenn bei uns mal was an der Wandtafel steht, dann schreibt er das unheimlich gerne ab und nichts ist falsch geschrieben. Andere Kinder machen bei der Übertragung von der Wandtafel enorm viele Fehler, dieses Kind macht hierbei null Fehler, aber selber schreiben kann es nicht. Vor dem Schuleintritt besuchte es den Schulkindergarten und in diesem Schulkindergarten-Jahr gelang es den Erzieherinnen dort nicht, dem Kind die 5 Grundfarben beizubringen. Rainer Simon Wenn wir sagen Breitband-Angebot für die Sommerferien, dann ist das keine gezielte Hilfe durch die Eltern, aber sicherlich besser als die Arbeit mit Fu. Jürgen Reichen Die Arbeit mit Fu ist ein schlechter Witz. Marlies Tepe Ja das ist klar, aber das Problem scheint mir, dass man den Eltern eben doch etwas ganz genaues an die Hand geben sollte, also z.B. dafür sorgen, dass das Kind eine angefangene Arbeit fertig macht oder so aber auf keinen Fall in einer Fibel lesen. Rainer Simon Zu dem Punkt Hilfen für bestimmte Kinder haben wir also einiges notiert und vor allem diskutiert: Zeit geben, Lernfreiheit geben, Breitband-Lernangebot - Herr Reichen, das haben Sie so gebracht - und für jedes einzelne Kind Gelassenheit, beobachten und abwarten, aber auch mit dem genauen Blick, wie weit das Kind ist, an welcher Stelle doch ergänzende, gezielte Hilfen einsetzen sollen. Aber zunächst einmal war die Empfehlung nicht Ziel-Angebot im Sinne von speziellen Fördermassnahmen, sondern Breitband-Angebot. Marlies Tepe Ich wollte ganz gern noch einen Satz zum Thema Kinder mit Sprachstörungen sagen. Ich habe ein solches Kind und bin der Ansicht, dass solche Kinder es auf die Art und Weise von 'Lesen durch Schreiben' schon lernen, also ohne gezielte Spezialhilfen. Jürgen Reichen Wenn ich noch einen Wunsch anbringen dürfte: Wir haben zu Beginn unseres Gesprächs eine allgemeine Eintretensdebatte geführt, indem alle Kolleginnen und Kollegen einfach mal kurz berichtet haben, wie es ihnen so mit 'Lesen durch Schreiben' in diesem Jahr gegangen ist. Und ich hätte eigentlich ganz gerne dieses auch noch von den beiden Kolleginnen gehört, die erst später zu uns kamen. Rainer Simon Das können wir machen. Darf ich Sie bitten, Christa Wilken. Christa Wilken Also ich bin richtig begeistert, bin von meinen Kindern begeistert, bin davon begeistert, wie die in der Schule herumturnen und die ganze Schule auf den Kopf stellen und sich eben doch wirklich als die Persönlichkeiten da bewegen, obs im Sportunterricht ist oder im Kunstunterricht, die trauen sich alles zu sagen, die hinterfragen Dinge, sie nehmen nicht einfach Anweisungen an, sie sagen

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auch: nein, ich möchte das lieber so oder warum können wir das nicht so machen, sie bringen viel von sich aus, haben gelernt, z. B. im Sozialbereich, der ist krank, dem sollten wir Briefe schreiben, dann setzen sich alle hin und schreiben Briefe und wir packen dann noch ein paar Arbeitsmittel ein, damit er sich nicht langweilt und das geht also alles schon bestens. Dann gibt es für mich Überraschungen dazwischen, dass also auch die Kinder, die Schwierigkeiten hatten, sehr sehr kindlich noch waren, auf einmal ganz toll sind, da kann ich bloss noch staunen und sie ganz toll loben: das hast du ganz alleine geschafft. Sie mögen furchtbar gerne lesen, auch vorlesen. Ich habe da so eine kleine Mappe, mit kleinen Geschichten, die sie gerne lesen und da kommt es dann oftmals vor, dass der eine eine Geschichte liest, die dann ein anderer auch nochmals vorlesen will und dann noch einer und keinem wird das langweilig. Ich fand das ganz erstaunlich, weil ich dachte, das wird langweilig, wenn man dasselbe liest. Höchstens mir wird es langweilig. Bei diesem Super-Wetter der letzten Wochen da sind wir zack raus unter einen Baum auf die Wiese gegangen, haben dort gesungen, gespielt, vorgelesen. Die liessen sich nicht stören durch die Autos, die da vorbei fuhren oder sonstwas. Also ich freu mich richtig auf die Arbeit im 2. Schuljahr mit diesen Kindern. Es sind alles richtige, kleine Persönlichkeiten und ich würde nie wieder zur alten Methode mit einer Fibel greifen. Das einzige, was ich mir vorgenommen habe, wenn ich wieder einmal von vorne anfange: ich werde etwas öfter gemeinsame Geschichten machen. Das habe ich diesmal nicht getan. Ich habe zwar, wenn wir etwas gemeinsam machten, darüber sprechen lassen, habe sie aber individuell darüber schreiben lassen und da kommen schöne Sätze raus und manchmal auch sehr fantasievolle, selbstausgedachte Wörter, die sehr schön passen und die ich mir dann auch aufgeschrieben habe, aber die Berichte im Ganzen haben noch zuviele und's und und's und manchmal auch nicht die besten Verben, während ich früher, wenn wir gemeinsam Geschichten gemacht haben, z.B. bei einer Eigen-Fibel, noch lebendigere Geschichten hatten. Aber sonst ist das sehr sehr gut gelaufen und ich kann es nur empfehlen. Ich wollte auch meine Kollegin überzeugen, das weiter zu machen und habe das immer wieder mit Begeisterung im Lehrerzimmer erzählt. Die haben mir auch alle brav zugehört und das so aufgenommen und die Kollegin hat ja auch in meiner Klasse gearbeitet, da hatte sie Mathe, aber sie traut sich nicht zu, da so hineinzuspringen. Sie sagt, sie möchte das mit dem Öffnen des Unterrichts erst mal auf eine ganz vorsichtige Weise versuchen, also sich an Fu festhalten und dann mal etwas öffnen, versuchen, wenigstens etwas von diesen Angeboten zu nutzen und den Kindern 1 oder 2 Stunden freie Arbeit zu gewähren mit all den Dingen, die sie dort haben, Klötzchen zum Bauen und Faltaufgaben und Legosteine und was wir sonst noch alles zum Arbeiten haben. Na ja. Aber ich selbst bin also sehr zufrieden. Die Leistungen meiner Schüler sind so hoch wie in keinem anderen Schuljahr davor und ich habe deren schon viele gehabt. Rainer Simon Vielen Dank. Ich freue mich auf die Arbeit im 2. Schuljahr mit meinen Kindern was kann man Schöneres sagen Karin Bahnsen Und das vor den Ferien. Allgemeines Gelächter Marlies Tepe Also zuerst mal hat mir die Arbeit Freude gemacht, das war eines der schönsten Schuljahre meiner bisherigen Dienstzeit, obwohl es das erste Mal ein 1. Schuljahr war und obwohl es 27

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Kinder sind. Das ist für mich das Wichtigste. Ich fühle mich auch unheimlich gesund, ich bin keinen Tag krank gewesen, was auch lange nicht der Fall war. In all den anderen Jahren kam es doch immer wieder vor, dass ich mal von der Schule "die Nase voll hatte" - voll mit Schleim und Schnupfen und Erkältung - diesjahr hatte ich sowas nie und denke, das hat was mit der Methode zu tun. All das sind gute Erfahrungen. Das Schönste an der Arbeit ist, dass die Kinder nie auswendig lesen, sondern jedes Wort immer neu lesen, selbst wenn da an der Wandtafel ein Text steht, den wir selber zusammen geschrieben haben. Erst letzthin waren wir auf dem Wochemarkt und hatten dann einen Text von etwa 6 Sätzen an der Wandtafel, Titel: Auf dem Wochenmarkt. Ich denke, das hätte nun jedes Kind eigentlich wissen können und jede Klasse, die ich bis jetzt unterrichtete, hat auswendig "Auf dem Wochenmarkt" gesagt, während hier jedes Kind alles neu liest. Das war beeindruckend und das hat mir auch den Rücken gestärkt gegenüber denjenigen Müttern, die neuerdings etwas Druck machen und mehr Üben wollen. Seit ungefähr Mai gibt es nämlich so ne Welle der Kritik, bis dahin war alles toll, und zwar von 2-3 Müttern, deren Ehemänner Lehrer sind und die von der Methode überzeugt sind, sie auch stark propagiert haben, jetzt aber Angst haben, dass das Leistungsniveau nicht dem entspricht, das ihre älteren Kinder am Ende des 1. Schuljahres hatten. Allerdings ist es eigentlich nur eine Mutter, die da kritisiert. Ich habe bei zwei Kindern in die Zeugnisberichte geschrieben, sie könnten sinnverstehend jedweden Text lesen und bei den anderen sie könnten sinnverstehend kurze und lange Texte lesen. Und da warf mir diese Mutter bei der Zeugniskonferenz vor, das sei eigentlich zuwenig, denn die Kinder könnten ja nicht vorlesen. Das stimmt, in meiner Klasse wollen nur 3 oder 4 Kinder vorlesen, die andern lesen nicht vor. Ich muss aber sagen, ich finde dieses sinnverstehende Lesen jedweden Wortes recht viel fürs Ende des 1. Schuljahres. Rainer Simon Das geht über den Lehrplan des 1. Schuljahres hinaus, das wollen wir einmal klar festhalten. Marlies Tepe Nun, das war meine Freude. Was mein Ärgernis noch ist, dass ich es nicht geschafft habe, noch freier in den Ecken zu arbeiten, den Heimat- und Sachunterricht noch besser einzugliedern und den Kunstunterricht individueller zu erteilen. Das würde ich bei einem nächsten Durchgang noch zu ändern suchen. In der Lehrerschaft und im Kollegium hatte ich sehr viel Druck erzeugt, weil es bei uns schon das 2. Mal ist, dass 'Lesen durch Schreiben' gebraucht wird, in der Elternschaft auch, sodass praktisch zwangsweise bei uns im nächsten Schuljahr wieder eine Klasse mit 'Lesen durch Schreiben' arbeiten muss. Rainer Simon Zwangsweise? Marlies Tepe Ja, unter Druck der Elternschaft, unter Druck der Schulleitung, weil eben erwartet wird, dass in einer Klasse "offen" gearbeitet wird und das geeignete Lehrwerk scheint dann eben 'Lesen durch Schreiben' zu sein. Die betreffende Kollegin hatte z.B. am Donnerstag einen Elternabend mit den Eltern ihrer zukünftigen Klasse, hatte über 'Lesen durch Schreiben' vorher noch nichts gelesen und fragte mich am Vortag: Kannst du mir mal geben, was es darüber gibt? Wenn ich Fu kann, kann ich das wohl auch, das muss ja jeder können. So ist die an die Sache herangegangen, während ich denke, man müsse da mit Leib und Seele rangehen.

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Rainer Simon Ich will dieses Selbstbewusstsein nicht als gesund bezeichnen Karin Bahnsen Aber so kommt man durchs Leben Jürgen Reichen Oder auch nicht. Das sind nachher die Klassen, die abstürzen und zum Ausgangspunkt jener Diffamierungen werden, die wir schon kennenlernten. Marlies Tepe Ja, das denke ich auch und deswegen versuchte ich auf der letzten Dienstversammlung zu argumentieren was das Zeug hielt, dass, wer das macht, überzeugt sein müsste und wissen müsste, was sie tut. Rainer Simon Irgendwie betrifft das ja auch die Fortbildung und da ist unser Prinzip ja Hoffnung, dass wir solche Kolleginnen und Kollegen allmählich dazu gewinnen, dass sie vertieften Einblick bekommen und das dann auch umsetzen können. Nur stellt sich da natürlich die Frage an uns: wie können wir das noch besser rüberbringen, dass das noch mehr Leute machen? Christa Wilken Also bei mir wäre es gut gewesen, wenn die Kollegin öfter mal hätte in die Klasse reinkommen können, während ich den Unterricht dort hatte. Sie kannte zwar die Klasse, musste dann aber ihren Matheunterricht machen und ihren anderen Unterricht, und so war die Zeit nicht da, um ihre Ängste und ihre Scheu abzubauen, die wir am Anfang ja alle auch hatten. Hätte sie manchmal bei mir und mit mir mitmachen können, dann hätte sie diese Ängste abbauen können. Rainer Simon Es fragt sich also, ob nicht 1, 2, 3 oder 4 Hospitationsmöglichkeiten pro Jahr geschaffen werden müssen, wenn man überzeugt ist, dass das eine wichtige Sache ist. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit möchte ich aber den Punkt an der Stelle abschliessen und jetzt noch eine kurze Zusammenfassung versuchen. Ich denke nach dem heutigen Gespräch, dass viele jetzt bei uns hier eigentlich problemsichtig sind bezüglich dessen, was in der Grundschule üblicherweise eigentlich abläuft und dass wir eigentlich feststellen mussten, das Bisherige reicht nicht mehr als zeitgemässe Antwort der Pädagogik auf die Kinder, wie sie heute zu uns kommen. Eine mögliche Antwort könnte 'Lesen durch Schreiben' sein, denn wir konnten hier feststellen, dass wir sowohl vom Lehrgang her als auch von den Materialien im Grundsatz eine grosse Bewährung kennengelernt haben und hier gemeinsam festgehalten haben. Ich möchte Ihnen allen dafür danken.

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Text-C01 Ursula Süess u.a. Lesen durch Schreiben Ein neues Leselernwerk von J. Reichen und Mitarbeiter erschienen in: „Magazin Primarschule“, Heft 1, 1982 Lesen durch Schreiben ist offensichtlich eine andere Art, lesen zu lernen und zum Lesenlernen anzuregen. Lehrerinnen und Lehrer , die damit arbeiten, schätzen den offenen, kommunikativen und partnerschaftlichen Unterricht, den dieses Leselernwerk einleitet. Sie machen die Erfahrung, dass sich die Erstklässler hier zunehmend selbst kontrollieren lernen. Jürgen Reichen stellte die Konzeption seines Lehrganges in der „Schweizer Schule“, 18, 1981, S. 693 ff. ausführlich vor. Mit der nachfolgenden Diskussion mit vier Lehrern und Lehrerinnen möchten wir versuchen , Eindrücke zu vermitteln, die in der Praxis mit diesem Lehrgang bereits gemacht worden sind. Ursula Süess: Der Einstieg ins Lesenlernen mit diesem Lehrgang scheint mir abenteuerlich zu sein. Walter Rüegg: Es ist nun schon zwei Jahre her, seit ich diesen Leselehrgang in Winterthur verwendet habe. Ich bin durch einen Kollegen, der vor zwei Jahren selbst mit seinen Erstklässlern mit diesem Lehrgang gearbeitet hat, darauf gestossen. Susi Lerch: Ich habe jetzt gerade eine zweite Klasse und habe im letzten Jahr zum erstenmal mit diesem Lehrgang gearbeitet. Auf diesen Lehrgang bin ich gestossen, weil mir der „Grissemann-Lehrgang“ im Kanton Luzern nicht bewilligt worden war. Daraufhin habe ich mich mit meinem ehemaligen Didaktiklehrer in Verbindung gesetzt, der mir dann den Reichen-Lehrgang empfohlen hat. Ich habe die Fibel daraufhin durchgelesen, und mich hat zuerst ein wenig die Angst gepackt. Der Didaktiklehrer sicherte mir seine Hilfe und Unterstützung zu, und ich habe dann „einfach mal“ angefangen. Anna Graf: Ich habe jetzt eine erste Klasse. Gehört habe ich schon vor fast drei Jahren zum erstenmal von diesem Lehrgang bei einem Schulversuch bei einer Kollegin im Schulkreis. Schon damals hat mich die Methode sehr beeindruckt, und als dann im vorigen Jahr eine Kollegin im selben Schulhaus damit gearbeitet hatte und ich wieder Gelegenheit zu Schulbesuchen hatte, kam auch bei mir der Wunsch, es damit zu versuchen. Erich Mettler: Eigentlich bin ich ein Mittelstufenlehrer gewesen. Weil keiner mehr die erste Klasse übernehmen wollte, habe ich diese übernommen. Dort habe ich mit der synthetischen Methode gearbeitet, erfolgreich über rund vier Jahre. Ich habe in dieser Zeit das Gefühl gehabt, die Schüler seien immer vom ersten bis zum letzten Tag hell begeistert gewesen. Ich habe also keine Schwierigkeiten gehabt. Der Schulinspektor hat mich dann auf etwas Neues aufmerksam gemacht und mich gefragt, ob ich dies nicht einmal erproben möchte, auch weil ich schon lange erste Klassen unterrichtete. Ich bin „umgestiegen“ auf Reichen, trotzdem ich mit der anderen Methode Erfolg gehabt hatte. Neben dem Schülermaterial gab es eine Anleitung für den Lehrer; problematisch war nur, sich in die verschiedenen Teile des Kommentars hineinzuarbeiten. Man sitzt zuerst recht ratlos vor einem Berg Papier, den man sortieren muss, und man muss sich entscheiden, womit man beginnen will,

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was kommt danach und wie das ganze überhaupt gedacht ist. Ich habe dann bald einmal gemerkt, wie ich mit den Materialien umgehen sollte, d.h. dass ich mit dem Rahmenthema 1 beginnen kann und bald einmal einen Elternabend veranstalten sollte. Schon bald haben wir auch eine Zusammenkunft mit den übrigen vier Kolleginnen, die im Kanton Zürich auch diesen Lehrgang bearbeiten, vereinbart. Dort haben wir viele Ratschläge erhalten, so zum Beispiel, dass der Lehrgang nur Angebotsmaterial sei und darum Lehrer und Schüler auswählen sollen, was sie erarbeiten wollen. Susi Lerch: Als Wichtigstes des Lehrganges erachte ich, dass jedes Kind die Möglichkeit haben soll, dort einzusteigen, wo es steht. Darum habe ich mich zu Beginn auch sehr bemüht. Nach rund sechs Wochen merkte ich, dass wohl jeder Schüler dort arbeitet, wo er steht, aber dass ich den Überblick total verloren hatte. Ein Schwall von Durcheinander kam auf mich zu. Für mich war das Schwierigste, dies einfach auf mich zukommen zu lassen, den Kindern und auch der Idee des Lehrgangs zu vertrauen. Ich habe auch gleich einen Elternabend organisiert, und ich glaube, dass ich sie von der Methode des Lehrgangs überzeugen konnte. Ursula Süess: Bei diesem Lehrgang beginnt man dort, wo das Kind steht. Das ist mir aufgefallen. Das ist eine der neuen Ideen, wenn ich vergleiche mit den alten Leselehrgängen. Was heisst das, „man beginnt dort, wo das Kind steht“ ? Walter Rüegg: Man weiss als Lehrer, dass die Erstklässler, wenn sie kommen, ganz verschieden sind. Einzelne können bereits lesen, dann gibt es viele Kinder, die nicht einmal anfangen können mit Lesenlernen. Sie können noch nicht richtig sprechen, sie verstehen nicht, was man sagt, vielleicht sind sie fremdsprachig. Sie können Bewegungen noch nicht koordinieren, sie stehen noch ganz am Anfang. Sie müssten Voraussetzungen haben. Alle bisherigen Leselehrgänge nahmen auf diese Tatsache keine Rücksicht. Man machte mit der ganzen Klasse dasselbe. Auch mit denen, die schon lesen konnten, führte man das A, E, I ein, wenn man die Zusammensetzmethode verwendete. Man hat mit allen dieselben Sprüche angefangen zu lesen, wenn man die ganzheitliche Methode verwendete. Auf die Verschiedenheit der Kinder hat man keine Rücksicht genommen. Ein Vorteil vom Reichen-Lehrgang ist, dass man dort anfangen kann, wo das Kind steht: wer schon lesen kann, kann lesen, wer schon schreiben kann, kann schreiben, wer nichts kann, kann sich Voraussetzungen schaffen, damit er es nachher kann. Mein Problem war nur, dass ich den Eindruck hatte, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern immer grösser wurden. Erich Mettler: Die Unterschiede treten am Anfang häufiger auf. Die alten Methoden überdeckten diese Unterschiede. Zu Hause kommt Vater oder Mutter, sie setzen sich an einen Tisch und lesen eine Seite „Apfel am Baum“, z. B. Jedes Kind konnte am anderen Tag auswendig von oben bis unten diese Seite. Es gibt keine Unterschiede zwischen intelligenten und „dummen“ Kindern. Es heisst aber noch lange nicht, dass kein Unterschied da wäre. Es war ein mechanisches Auswendiglernen, das alles überdeckte. Hier besteht dieses Verdecken nicht. Susi Lerch: Die Kinder werden nicht von vornherein abgestellt, sie haben laufend Erfolgserlebnisse. Das ist für mich das Eindrücklichste gewesen. Anna Graf: Ich habe grosse Unterschiede festgestellt zwischen einzelnen Kindern. Einzelne sind gekommen, haben gefragt, was man machen kann. Am Anfang wollten sie immer genau wissen, was sie jetzt machen müssten. Und dann habe ich ihnen gesagt:„Macht das, was ihr gut findet.“

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Die Kinder haben dadurch Selbstbewusstsein erlangt. Sie haben dann angefangen, ohne grosse Zweifel das zu tun, was sie für gut befunden haben. Das hat mich bestätigt, das hat mich auch selbst sehr befriedigt. Wie ich gemerkt habe, dass die Kinder sicherer werden, je mehr sie gearbeitet haben. Ursula Süess: Aber ist nicht gerade das ein Problem mit den Eltern ? Wenn ein Kind aus derselben Familie mit eine anderen Methode unterrichtet worden ist. Diese Eigenständigkeit, dass ein Kind selber wissen kann, was gut ist ... Anna Graf: Ich habe deshalb sehr wenig Hausaufgaben erteilt, bei denen die Kinder viel schreiben mussten, sie mussten vielleicht eher rechnen. Die Eltern können so nicht dreinreden. Erich Mettler: Einen Vorbehalt würde ich machen: Sollte eine Kollegin sehr viele Schüler haben, könnte sie in Schwierigkeiten geraten. Wenn man die Sache selber nicht ganz im Griff hat, wird es dann schwierig. Aber nach zwei, drei Jahren Schuldienst würde ich es wagen. Man muss die Sache auch auf die eigene Person zuschneiden. Ich kann nicht unterrichten wie J. Reichen, denn ich bin nicht J. Reichen. Susi Lerch: Das scheint mir ausserordentlich wichtig. Z.B. sagte mir mein Didaktiklehrer in Gesprächen zu Schwierigkeiten: „Den Werkstattunterricht kannst du nicht sofort haben, wenn du lange anders unterrichtet hast. Geh doch langsam vor.“ Oft überforderte ich mich selber, wollte an den Gruppentischen, dass alles läuft, die Kinder selber entscheiden, und so überforderte ich oft zu Anfang auch die Kinder. Ich musste langsam lernen, Verantwortung an die Schüler abzugeben. Ursula Süess: Zum Stichwort „Werkstattunterricht“. Was meint dieses Wort ? Ist es das ominöse „Abholen jedes einzelnen Kindes“ ? Susi Lerch: Für mich hiess es: Am einen Tisch spielte man mit den Spielen (des Lehrgangs), am andern Tisch wurde geschrieben, am dritten Kontrollfix (Sabefix), mit zwei Schülern machte ich vielleicht akustische Übungen o.ä. Überall wird gewerkt, nicht alle machen dasselbe. Nach sieben bis acht Monaten kam ich zu einer solchen „Endform“. Am anfang arbeiteten z.B. alle am gleichen Blatt; aber der Schwierigkeitsgrad war jedem freigestellt. Anna Graf: Bei mir ging das sehr ähnlich. Oft musste ich über meinen eigenen Schatten springen und in kleinen Schritten die Schüler immer mehr loslassen, bis ich es vor Weihnachten fertigbrachte, für eine Woche Arbeitsmaterial bereitzulegen und den Kindern zu sagen: So, nun arbeitet selbständig. Aber das war ein sehr langer Prozess, bei dem ich selber viel lernen musste. Ich konnte immer nur so weit gehen, wie ich merkte: Das kann ich verkraften und verantworten. Von Monat zu Monat ging es besser. Das hängt auch damit zusammen: Die Kinder müssen ja am Anfang zuerst gewisse Arbeitstechniken lernen, die ich ihnen zeigen muss, Arbeitsformen, Lösungsmöglichkeiten. Je besser die Kinder das konnten, um so weiter konnte ich die Grenze setzen. Erich Mettler: Werkstattunterricht ist aber nicht ein Grundelement dieser Methode. Ich brachte ihn nie in diese Form, liebe ihn nicht und bin in dieser Beziehung nicht weit gegangen. J. Reichen sagt: „Ich kann das als Lehrer halten wie ich will; Vorschrift ist es nicht; auch kein Grundelement, d.h. Werkstattunterricht ist nicht Voraussetzung für den Erfolg mit dieser Methode. Er ist ein

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Element, eine Möglichkeit zur freien Betätigung.“ Das Hauptprinzip, das J. Reichen in den Lehrgang legt, ist vergleichen, Logik bilden, vergleichen. Susi Lerch: Für mich war noch etwas anderes wichtig. Ich könnte nicht sagen, der Werkstattunterricht sei für mich das Wichtigste am Leselehrgang gewesen, aber er war wohl ein sehr wichtiger Teil, d.h. nicht die Endform, sondern der Weg dazu. Oder das Ziel, dass für mich eine Schule wohl schon so aussehen müsste, dass die Kinder selber entscheiden können sollten: Wie erreiche ich dieses oder jenes Ziel ? Das schien mir einfach: Das Ziel war: Ich möchte, dass die Kinder in einem halben Jahr lesen können. Mich faszinierte vor allem, dass die Kinder auf dem Weg zum Lesen so viele „Nebenprodukte“ lernten: selbständig arbeiten, ohne Frustrationen arbeiten, die Erfolge dort suchen, wo sie sind, auch wenn das erst der Anlaut der Wörter ist. Das hat mich fasziniert. Walter Rüegg: Der Lehrgang will ja mehr sein als ein Leselehrgang. Die Kinder sollen ausser lesen noch anderes lernen, wie Sie schon sagten. Anna Graf: Noch nie vorher konnten Kinder in meiner Klasse so gut zusammenarbeiten wie jetzt. Noch nie erklärten und halfen sie einander gegenseitig soviel, und zwar sehr gut; nicht einfach:„Du kannst es bei mir abschreiben“; sondern:„Ich zeige dir nochmals, wie das zu machen ist.“ Das war eine meiner besten Erfahrungen in diesem Schuljahr. Vorher, beim Lesen der Theorie, hatte ich nicht geglaubt, welch grosses Potential da drin liegt. Es bringt viel mehr, wenn ich Aufgaben delegiere und den Kindern sage:„Löst das gemeinsam und selbständig.“ Das war für mich ein sehr wichtiger Punkt. Susi Lerch: Für mich wohl auch. Dort kam für mich der schwierigste Punkt. J. Reichen schrieb: „Der Lehrer muss aufpassen, dass er den Arbeitseifer des Kindes nicht stört.“ Ich musste mich oft zurückhalten, um nicht zu stören, wenn ich das Gefühl hatte: Jetzt reden sie über etwas anderes; sie sollten sich an die Plätze setzen und arbeiten. Dabei lief immer Konstruktives. Da musste ich mich oft bei den Kindern entschuldigen, wenn ich wieder hineingefunkt hatte; dabei waren sie mitten in einem Prozess; weil ich es selbst nicht mehr ertrug, dass kaum eines sass und schrieb. Erich Mettler: Da machte ich nicht genau gleiche Erfahrungen. Ich komme noch von der „alten Schule“ und hasse es, wenn die Schüler von ihrem Platz weggehen. Ich sehe gern jedes Kind an seinem Platz sitzen. Gerade die Kinder, die nötig hätten, selber zu denken, schauen gern bei andern ab, holen sich ein Resultat und stellen den eigenen Denkprozess ab. Ursula Süess: Gleichzeitig mit dem Schüler macht also auch der Lehrer neue Erfahrungen ? Susi Lerch: Für mich war eine wichtige Erfahrung, zu lernen, Vertrauen zu schenken. Darauf zu vertrauen, dass die Kinder auch lernen, wenn ich nicht immer vorn dirigiere und leite. Auch dass ich abends nicht immer alles korrigiere, denn J. Reichen sagte, dass man nicht daheim, sondern zusammen mit dem Kind korrigieren soll, was mir einleuchtet. Und einfach zu spüren: Die Kinder arbeiten auch ohne mein grosses Zutun. Abr ich bin da und helfe, wenn sie mich brauchen. Im Idealfall, denn oft hatte ich Mühe, die Arbeit so laufen zu lassen. Die Kinder sagten das jeweils auch. Früher erteilte ich immer am Morgen eine Stunde Lesen/Schreiben und eine Stunde Rechnen. Das musste ich sehr schnell abbauen, weil sie jeweils plötzlich sagten:„Immer, wenn wir mitten drin sind, kommen Sie und stören uns.“ Da fing ich an, Blöcke zu machen, d.h. an einem Morgen Rechnen, am andern Lesen/Schreiben. Etwas abgeben können von der Verantwortung,

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als Lehrer immer zu wissen, was jedes tut, und Auskunft zu geben. Das ist wohl nicht mehr möglich. Das war für mich schwierig, aber auch gut. Das verschaffte mir eine Nähe zu den Kindern. - Ich erinnere mich an einen Schüler, der arbeitete bis zu den Herbstferien (die ersten sechs Wochen ab Schulanfang) immer nur mit dem Kontrollfix (Sabefix). Er schrieb nie. Ich dachte: Den lasse ich so arbeiten bis zu den Herbstferien; dann werde ich ihm sagen, nachher, ich möchte, dass er einmal etwas schreibe. Sechs Wochen ging das. Plötzlich konnte er lesen. Das war offensichtlich sein Weg, lesen zu lernen, mit dem Kontrollfix (Sabefix), weil er das so gerne machte. Dann fing er selbst auch an zu schreiben. Ich glaube, wenn ich da dazwischengefunkt hätte, hätte ich viel zerstört. Aber ich konnte es „laufen lassen“. Walter Rüegg: Mit den Hausaufgaben habe ich es so gehalten: Erstens habe ich meistens keine Hausaufgaben erteilt. Die Kinder durften z.B. Denkaufgaben mit nach Hause nehmen auf Blättern oder z.B. Blätter, auf denen sie vergleichen mussten, beobachten mussten. Susi Lerch: Mir ist gerade ein Erlebnis mit einer Mutter in den Sinn gekommen. Wenn die Kinder plötzlich selbständig werden und selber entscheiden und wählen wollen. Neben den Rückmeldungen zum Leselehrgang war das bei mir bei allen Eltern das stärkste. „Die werden plötzlich so selbständig, die trauen sich etwas zu, sie gehen so gerade.“ Für viele Eltren war das schon einmal positiv. Ich habe das selbst positiv erlebt. Ursula Süess: Ich sehe noch ein Problem. Wenn die Kinder heimkommen und „Chatz“ statt „Katze“ geschrieben haben (und das richtig sein soll), und wenn sie „Wahrnehmungsblätter“ heimbringen, die mit Lesen „nichts zu tun haben“, ist das seltsam oder möglicherweise „neumodisch“. Bekommt man da nicht Widerstände von seiten der Eltern, die sagen:„Die sollen einmal richtig lesen und schreiben lernen !“ Erich Mettler: Das war das Hauptproblem. Die Eltern möchten gern schnell feste Ergebnisse. Da ist Elterninformation, das Einvernehmen mit den Eltern wichtig. Oder, dass man die Eltern in der Schulstube dabei hat und sie aufmerksam machen kann; dass man ihnen zeigen kann, was an „Herzigem“ herauskommt. Ursula Süess: Ich möchte nochmals zurückkommen: In der ersten Runde sagten alle: Die Schüler waren immer beschäftigt, und man wartete, was nun passieren würde. Alle Schüler hatten zu tun, aber der Lehrer verlor langsam den Überblick. Er wusste nicht: Kann ein Schüler schon lesen oder nicht ? Man hatte die Sache nicht mehr im Griff. Ist das nicht sehr unheimlich: Man fürchtet sich und erwägt, die Übung abzubrechen und alle Buchstaben doch noch vorzuführen ? Anna Graf: In unserem Schulhaus hatten wir eine starke Krise vor den Sommerferien. Wir mussten einander sagen:„Nein, jetzt dürfen wir nicht aufgeben, wir müssen durchhalten und dürfen nicht mit einer andern Methode mischen.“ Plötzlich ging es wieder einen grossen Ruck vorwärts, und wir wussten: Wir sind auf dem rechten Weg. Aber wir empfanden ganz stark, dass wir „die Sache nicht mehr in den Fingern hätten“. Susi Lerch: Ich glaube, das auch so erlebt zu haben. Es gab auch eine Phase, in der immer wieder Eltern kamen und fragten: Und die Rechtschreibung ? Und lesen ? Und die Buchstaben malen sie so seltsam. Für mich waren deshalb oft die Zusammenkünfte mit J. Reichen u.a. moralisch sehr wichtig, weil er immer wieder betonte:„Es geht schon weiter und kommt schon gut

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heraus.“ So konnte ich das den Eltern weitergeben. Die Kinder, die ja im Zentrum standen, hatten nie das Gefühl eines Durcheinanders; mehr die Leute, die rundherum waren. Walter Rüegg: Man muss sich als Lehrer umgewöhnen, denn bis jetzt hiess Unterricht: Klassenunterricht, d.h. alle Kinder tun dasselbe. Ich konnte mich da schlecht umstellen. Ich erlebte, was man bei jedem erstmaligen Gebrauch eines Lehrmittels erlebt, wenn man es kritisch ausprobiert. Erstens liess ich sozusagen alle Blätter bearbeiten (nicht von allen Kindern, aber von den schnellen), weil ich wissen wollte: Was liegt hier vor, wie funktioniert das, können das die Kinder, und wozu dient das ? Das ist aber nicht im Sinn des Erfinders. Zweitens war ich der Meinung, ich müsste den Kindern vor neuen Aufgaben zeigen, worum es geht. So komme ich nicht darum herum, dies mit allen gemeinsam zu tun oder mit einer Abteilung. Die Rahmenthemen können (im Sinn des Lehrgangs) mit der Klasse behandelt werden. So bringt man wieder alle zusammen. Aber: So hat man zuwenig Zeit. Wenn ich alle Blätter bearbeiten liess, weil ich nicht wusste wie auswählen, hätte ich doch gerne noch tausend andere Sachen gemacht: Lieder singen, Märchen erzählen usw. Zuletzt schien mir, im Fach „Sprache“ mache ich nur noch „Lesenlernen“ und vieles andere müsste ich weglassen. Aber das geschieht wahrscheinlich nur das erstemal, wenn man die Theorie noch nicht genau gelesen hat und alles ausprobieren muss. Ein zweitesmal würde ich es nicht mehr auf gleiche Weise tun. Von den Eltern her kamen keine Schwierigkeiten. Als Vater kommt es mir nicht in erster Linie darauf an, was mein Kind heute oder morgen kann, sondern: Hat es Freude an der Schule ? Arbeitet es von sich aus ? Eltern merken, ob Kinder von sich aus „den Plausch haben“. Susi Lerch: Nach 30 Jahren Schule haben Sie einen Ruf, einen Namen. Auch für mich zählte, dass ich schon sechs Jahre in Ebikon bin, die Kinder gern zu mir kommen und die Eltern mich gut mögen. Ich fragte mich schon: Wie wäre es, in einer fremden Gemeinde diese Methode zum erstenmal zu verwenden. Da brauchte es wohl Kraft, den Angriffen zu widerstehen. Erich Mettler: Ich glaube, das ist schon ein Hauptpunkt. Ich selber bin auch Vater von fünf Kindern. Die Eltern haben ein gewisses Vertrauen in eine Lehrperson, und wie ich merkte, nahmen sie vieles an von mir. Vielleicht hatten die Eltern auch einmal eine Krise. Vor allem kam der Einwand: Die Kinder schreiben nicht so schön. Früher kam seitenweise OOO, am zweiten Tag EEE, dann AAA usw., jeden Tag auch als Hausaufgabe. Jetzt wird nicht mehr so daheim geübt. Allerdings habe ich mir die Freiheit genommen, in der Schule einige Schreibübungen einzubauen und oft auch gemeinsam zu arbeiten, mit gutem Erfolg. Aber um all das in den Griff zu bekommen, braucht es wohl zwei, drei Jahre Arbeit. Aber jetzt sind wir am Ende des Jahres. Erfolg ist da; aber der Erfolg liegt auf einer andern Ebene. Walter Rüegg: Würde das Gehörte nun heissen, dass wir einer Junglehrerin (vom Seminar kommend) eher abraten würden, den Lehrgang zu verwenden ? Oder finden wir: Das geht auch für Lehrer ohne Erfahrung ? Oder sogar besser, weil jemand ohne Erfahrung nicht umlernen muss? Erich Mettler: Ich glaube, es ginge auch; vielleicht sogar besser als bei mir, der ich „umsteigen“ musste. Das Problem kommt eher von den Eltern her, aber auch eine junge Lehrperson kann solche Schwierigkeiten beheben. Ursula Süess: Deshalb scheint mir wichtig, dass Lehrer sich zusammenschliessen, um sich gegenseitig unter die Arme zu greifen ...

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Anna Graf: Mir scheint, wir stehen eben noch am Anfang. Ich glaube, in zwei bis drei Jahren sieht das ganz anders aus; dann haben beispielsweise auch Eltern schon gehört, dass man auch so lesen lernen kann, und sind dann vielleicht weniger kritisch. Ich habe vielen Kolleginnen von dieser Methode erzählt, viele sind zu Schulbesuchen gekommen. Aber ganz junge und Kolleginnen, die sich zur Wahl stellen, habe ich nicht zu überzeugen oder zu beschwatzen versucht, den Lehrgang zu verwenden. Ich fand, vorerst sollten mir bekannte und erfahrene Lehrer ihn brauchen. Was für micht auch sehr wichtig war: Durch die Tatsache, dass die Kinder selbständig arbeiten konnten, wenn sie einmal erfasst hatten, wie, hatte ich viel mehr Zeit, an einem Tisch mit Schwachen, die es nötig hatten, zusätzliche Übungen zu machen. Dann sass ich bei diesen, und die andern arbeiteten. Das scheint mir ein sehr grosser Vorteil gegenüber andern Methoden zu sein, die ich brauchte. Ursula Süess: Man muss lernen, Lehrerfunktionen abzugeben. Man ist nicht mehr der Meister im Klassenzimmer; man braucht als Lehrer andere Fähigkeiten. Welche Fähigkeiten sind absolut nötig, um mit dieser Methode Erfolg zu haben ? Walter Rüegg: Zuerst einmal der Mut, die Sache zu versuchen. Das ist der erste Schritt. Dann ist die erste Schwierigkeit, sich in der gebotenen Vielfalt zurechtzufinden (das Hauptproblem). Grosse Anforderung bezüglich Unterrichtsorganisation, z.B. Schreibanlässe schaffen (nicht alles ist durch das Lehrmittel vorgegeben). Susi Lerch: Man muss offen sein und auch andere Möglichkeiten zulassen: Schule kann auch anders sein als das, was ich als Schule erlebt habe. Anna Graf: Mir scheint, das Lehrmittel gibt Gelegenheit, diesen Prozess ganz langsam zu erleben. Am Anfang plante ich genau: Heute machen wir dieses Blatt, morgen jenes, übermorgen das dritte, bis ich selbst eine gewisse Sicherheit hatte. Man kann schon hineinwachsen. Walter Rüegg: Man muss auch lernen, mit dem Papierkrieg umzugehen. Ein zweites Mal wird man auch lernen, sich zu lösen vom Lehrgang. Die Idee des Lehrgangs ist ja, dass die Kinder selber zu produzieren beginnen. Immer mehr Blätter können weggelassen werden. Susi Lerch: Ich musste auch lernen, dass wir jetzt am Ende der 1. Klasse nicht mehr einen so schönen Ordner haben. Viele Arbeitsblätter sind nicht fertig oder falsch gelöst (vom Erwachsenenauge her gesehen), nicht alles ist korrigiert. Es gibt krumme Buchstaben. Die „glänzende Hülle der Schule“, die von Inspektor und Schulpflege auch angeschaut wird, getraue ich mir, etwas fallenzulassen. Walter Rüegg: Ist auch ehrlicher. Anna Graf: Das sagte ich immer auch allen Besuchern: Sie sehen hier Produkte. Diese sind nicht so schön wie Produkte, die ich früher machte. Aber der Lernprozess, der dabei abgelaufen ist, war sehr viel besser und interessanter. Mir scheint, das muss man jedem Lehrer sagen, der einsteigen will. Man kann nicht wunderschöne Hefte zeigen. Walter Rüegg: Dafür sind sie wirklich von den Kindern.

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Anna Graf: Natürlich, und was passiert ist, ist hundertmal besser, als wenn das Heft voll schöner Buchstaben ist. Erich Mettler: Das ist ein Punkt, bei dem ich mit mir selber noch nicht ganz fertig bin. Das alte, schön eingebundene Heft, das die Kinder im Frühling heimnehmen konnten. Aber das macht mir keine Sorgen. Gleich am Anfang nahm ich das in Kauf: Diese Jahr gibt es keine solchen Hefte, wie ich sie jeweils so schön hatte. Ursula Süess: Die Schrift also ist ein Punkt, der Mühe macht. Trotzdem ist bei jedem zu spüren, aufgeben gibt es nicht. Welches sind denn diese positiven Erlebnisse, die soviel Mut geben können ? Erich Mettler: Wenn ich jetzt vergleiche: Meine Erstklässler sind jetzt weiter als meine letztjährigen im gleichen Zeitpunkt. Sie verstehen und denken, wenn sie lesen. Das spürt man auch daran, wie schnell und richtig sie lesen. Mich überrascht, wie sie heute auch lange Wörter schnell ablesen, schnell den Satz lesen. Anna Graf: Mein Haupterlebnis war, dass es diesmal keinem Kind „abstellte“. Sonst hatte ich immer ein bis drei, die spätestens nach den Sommerferien rettungslos überfordert waren. Da war für jedes die Geborgenheit, in der jedes spürte: Ich kann arbeiten, wo ich bin. Jetzt können alle lesen und schreiben. Das war für mich das Schlüsselerlebnis. Die Freude ist geblieben, was früher nicht bei allen der Fall war. Susi Lerch: Ja, für mich war das wohl auch so. Das merke ich auch, wenn ich jetzt (in der zweiten Klasse) in die Bibliothek gehe. Die zwei letzten , die lesen gelernt haben, suchen in der Bibliothek genau so eifrig Bücher wie die andern. Aber sie suchen Bücher mit grösseren Buchstaben. So gibt es im Moment bei mir kein Kind, das nicht gern liest. Das halte ich für einen Riesenerfolg, den ich dem Lehrgang zuschreibe. Die Kinder können sich auch ausgezeichnet ausdrücken, über Gefühle, überhaupt, was sie wollen. Sie nehmen viel besser wahr, was sie machen möchten, und können es auch sagen, und sie können sich oft auch wehren, auch gegen mich. Z.B.:„Jetzt mag ich so nicht rechnen, ich mache das morgen; kann ich jetzt nicht lesen oder schreiben ?“ Das ist viel eher möglich. Es ist wie eine Art Atmosphäre, irgendwie ... Erich Mettler: Ich spüre, dass die Kinder anders lesen als früher ... Susi Lerch: Und dass mich die Kinder zwingen, die Art meines Schulehaltens zu überdenken. Wir schrieben, und wir lasen nie. Dann aber begann ich, im Kreis aus den Büchlein zu lesen. Da wurde es so langweilig. Sie sagten:„Das ist das Langweiligste. Da müssen wir immer warten, bis eines fertig gelesen hat.“ Da fing ich an, nachzudenken und andere Möglichkeiten zu suchen. Erich Mettler: Es geht darum, Formen zu suchen, um sie lesen zu lassen, dass sie trotzdem üben. Zum Vorlesen: Die Schüler lesen einander vor. Ich suche immer: Wie kann ich es noch anders machen ? Susi Lerch: Da fällt mir noch ein Vorteil des Lehrgangs für mich ein. Als der Lehrgang durchgearbeitet war, entstand etwas wie ein Loch. Ich bekam Schwierigkeiten mit den Kindern, denn sie „frassen“ nicht mehr alles, was ich wie früher brachte. Ich „hintersinnte“ mich beinahe. Ich führte dann „Programmnachmittage“ ein, wo sie auswählen konnten aus verschiedenen

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Arbeiten. Wenn ich das einmal vergass, fragten sie, wann sie wieder „nach Programm“ arbeiten dürften, „nicht immer, was Sie sagen, sondern selber wählen.“ Ich war also gezwungen, auch meinen übrigen Unterricht zu überdenken. Jetzt, wo mir fortführendes Material fehlt, ist das oft schwierig. Aber die Kinder lassen mich jetzt nicht mehr los, und sie sagen es auch immer wieder, ich soll Aufgaben zum Auswählen bringen. Sie bringen auch selber Vorschläge. Ich muss jetzt am Ball bleiben. Ich kann nicht sagen: Der Lehrgang ist jetzt abgeschlossen und vorbei. Ursula Süess: Das Leselernwerk „Lesen durch Schreiben“ von J. Reichen fordert also auch den Lehrer ganz stark dazu heraus, die didaktische Idee des Lehrgangs im Unterricht weiter zu verfolgen. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.

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Text-C02 Walter Schnellmann Schulinspektorat / Kanton Schwyz Einführung des Leselehrganges "Lesen durch Schreiben" im Kanton Schwyz Bericht an den Erziehungsrat / Mai 1982 Im Kanton Schwyz haben im Schuljahr 1980/81 ein paar Lehrpersonen im Auftrag der Schulinspektoren den Leselehrgang „Lesen durch Schreiben“ ausprobiert. Das positive Echo der Praktiker und die Empfehlung der Goldauer Konferenz haben dazu geführt, dass der Erziehungsrat am 25.2.1981 diesen Leselehrgang für unsere Schulen freigegeben hat. Gegen 30 Lehrpersonen haben dann im Schuljahr 1981/82 mit diesem Lehrgang gearbeitet. Nach einem Einführungstag im Frühjahr 1981 haben sich die Lehrer während des Schuljahres mehrmals in Gruppen versammelt, um die anstehenden Fragen und Probleme zu besprechen und aufzuarbeiten. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich im Zusammenhang mit dieser Einführung keine nennenswerten Schwierigkeiten ergeben haben. Alle Lehrpersonen, die auf dieses Lehrmittel umgestiegen sind, haben die vom Erziehungsrat verlangte Elternorientierung durchgeführt. In der folgenden Zusammenstellung sind Erfahrungen und Beobachtungeh von Adalbert Kälin, Schulinspektor Kreis 1, Walter Reichmuth, Schulinspektor Kreis 2 und von Walter Schnellmann, Schulinspektor Kreis 3, festgehalten. 1. Allgemeine Bemerkungen - Bei den nachfolgenden Meinungsäusserungen der Schulinspektoren muss beachtet werden,

dass es sich dabei nicht um abschliessende Urteile handelt. Nach der kurzen Erfahrungszeit eines Jahres sind nur Trendmeldungen möglich.

- Weil das schulische Fortkommen der Schüler zu einem schönen Teil auch vom Einsatz und von den Fähigkeiten des Lehrers abhängt, sollten Erfolge und Misserfolge nicht allzu stark auf ein bestimmtes Lernwerk bezogen werden, sondern auch im Zusammenhang mit der Lehrerpersönlichkeit beurteilt werden.

- Die Aktivitäten des Lehrers können in keiner Fibel und in keinem Arbeitsheft so vorgegeben und vorgeschrieben werden, dass ihre Durchführung in der Praxis automatisch gewährleistet wäre.

- Die Lehrer, die mit dem Reichen-Leselehrgang gearbeitet haben, äussern sich ausnahmslos positiv über die bei der Durchführung gemachten Erfahrungen. Im Kontakt mit den Eltern hat es nach Berichten der Lehrer keine nennenswerten Probleme im Zusammenhang mit dieser Leselehrmethode gegeben. Im Gegenteil: Auch von der Elternseite liegen positive Urteile zum Leselehrgang vor.

2. Konkrete FeststeIlungen - Die Freude am Lesen ist in den Klassen, in denen mit Reichen gearbeitet wird, recht gross,

grösser als in anderen Klassen. Das lesenlernende Kind wird von Anfang an in die Situation des Lesers gebracht. Diese besteht darin, dass es liest, um etwas zu erfahren oder sich an einer Darstellung zu erfreuen.

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- Das Engagement der Schüler im Lesen und im Schreiben ist ganz beachtlich. Der Lehrgang begünstigt eindeutig die beim Schuleintritt vorhandene Motivation für das Lesen und Schreiben. Das Lesen und Schreiben wird von den Schülern als Dürfen, nicht als Müssen erlebt.

- Die Kinder können im Durchschnitt rascher lesen als in den üblichen Klassen, denn das Lesewerk begünstigt das individuelle Lehren und Lernen. Dem rapiden Rückgang bzw. dem völligen Verlust der zu Beginn des Schuljahres recht starken Motivation zum Lesenlernen wird entgegengewirkt. Dem Leistungsvermögen des einzelnen Schülers kann besser Rechnung getragen werden, weil das Material eine innere Differenzierung nicht nur durch den Lehrer, sondern auch durch die Schüler selbst ermöglicht.

- Der Leselehrgang bietet mehr Möglichkeiten zum selbständigen Lernen (entdeckendes Lernen). Er trägt der Situation, dass Kinder spontane, aktive und soziale Wesen sind voll Rechnung.

- Lesenlernen findet nicht mehr isoliert statt. In der 1. Klasse ergibt sich durch diesen Lehrgang ein Sprachunterricht als Ganzes.

- Die Klassen mit den gängigen Methoden erscheinen im Vergleich zu den Reichen-Klassen eher zu brav, zu eingeengt. Bei der Arbeit mit dem Leselehrgang Reichen fällt die offene und gelöste Art auf, mit der sich Schüler und Lehrer begegnen.

- Die Einführung des Leselehrgangs bietet auch Impulse für Lehrer-Zusammenarbeit. 3. Einzelne Problempunkte - Am Anfang fällt es dem Lehrer schwer, die Übersicht über das Stoffangebot zu gewinnen. - Für erfahrene und sehr gewissenhafte Lehrer, die längere Zeit nach herkömmlichen Methoden

unterrichtet haben, können die Phasen der Unsicherheit zu belastend werden (Startphase). - Allfällig vorhandene Führungsprobleme werden mit dieser Methode nicht geringer, sondern

eher grösser (Werkstattunterricht). - Einige Lehrpersonen äussern sich über Probleme des Überganges von der 1. in die 2. Klasse.

Nach der Durchführung des Reichen-Leselehrganges haben sie Mühe, den Zugang zu den anderen Lehrmitteln zu finden (Stilbruch).

- Vereinzelt wird die Pflege der Steinschrift eher vernachlässigt, so dass am Schuljahrende ein Durcheinander von gross- und kleingeschriebenen Buchstaben besteht.

- Eine Benotung im Schulzeugnis ist im ersten Halbjahr fast unmöglich (individuelle Beurteilung). Abschliessend kann festgehalten werden, - dass der Leselehrgang von Dr. J. Reichen im Kanton Schwyz bei den Behörden, Lehrern und

Eltern ein sehr positives Echo ausgelöst hat, - dass dieser Leselehrgang den Unterricht in der 1. Klasse positiv verändert hat, - dass die Begeisterung der Lehrer zu einer Weiterverbreitung dieses Lehrgangs führen wird. SCHULINSPEKTORAT KANTON SCHWYZ Walter Schnellmann

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Schulinspektorat Kanton Schwyz Kreis 1 Erstleselehrgänge Ergebnis einer Umfrage vom 15. Juni1988 Von 26 befragten Lehrpersonen arbeiten 16 mit dem "Lesespiegel" und 10 mit "Lesen durch Schreiben". Bei der abschliessenden Beurteilung darf man festhalten, dass beide Leselehrgänge gute Lehrgänge sind und sich für den Einsatz in der Schule sehr gut eignen. Je nach Persönlichkeit, Temperament und der eigenen Einschätzung wird der eine oder andere Leselehrgang gewählt. Aus den Antworten zeichnen sich etwa folgende übereinstimmende Aussagen ab: LESESPIEGEL - das EIternecho ist überall positiv - klarer Aufbau mit richtigem Training der einzelnen Buchstaben, sofortiges Eingehen auf die

Rechtschreibung - guter Lehrerkommentar - mittelmässige bis schlechte Schüler haben eher Erfolgserlebnisse - Kinder können relativ schnell einfache, kurze Sätze lesen - es gibt viel zum Ausmalen in den Heften - abwechslungsreiche Gestaltung - Aufbau überschaubar/Standortbestimmung gut möglich - es werden keine falschen Wortbilder eingeprägt - jeder Buchstabe wird von der Form her richtig eingeführt und geschrieben - Eltern können bei dieser Methode gut mithelfen und wissen genau, wo die Kinder stehen - Lehrgang bietet viel Freiraum für den Lehrer - für junge Lehrkräfte bietet der Lehrgang eine gewisse Sicherheit - für Ausländerkinder und schwache Schüler eine sichere, kontinuierliche Methode - das Erfolgserlebnis bei den Kindern ist gross, weil sie merken, dass sie mit jedem neuen

Buchstaben auch neue Wörter lesen können. Als Nachteile werden etwa formuliert: - vielleicht nicht so motivierend, führt nicht unbedingt zu eigenen Schreibanlässen - bei fortgeschrittenen Schülern wird die Lernbegierde zum Teil gestoppt - es ist nur eine geringe individuelle Entfaltung möglich. Alle Kinder lernen in der gleichen Zeit

lesen, obwohl einige vielleicht mehr und andere weniger Zeit zur Verfügung haben sollten. LESEN DURCH SCHREIBEN - Lehrgang verlangt deutliches Sprechen und genaues Hören - gute Wahrnehmungsübungen - Förderung der Selbstaktivität der Schüler - für Lehrer sehr interessanter Unterricht - Werkstattunterricht = sehr gute Idee - SABEFIX = beliebtes „Spiel“ - Kinder erleben Freude an ihrer Arbeit, gute Motivation - Kind kann nach seinem Tempo lesen lernen - Schüler haben Freude am Schreiben und werden nicht unterfordert

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- Kinder arbeiten ihren Fähigkeiten entsprechend, sie bestimmen selbst den nächst höheren Schritt

- Kinder entwickeln Sprachkreativität - Methode ist motivierend, vielseitig für Schüler und Lehrer - verlangt von Schülern und Lehrern eine echte Auseinandersetzung mit unserer Sprache und

verzichtet auf den Gebrauch von sinnlosen Wort- und Satzfragmenten - Arbeitsangebot ist vielfältig und reichhaltig - Lehrerkommentare: Fundgrube an theoretischen, methodischen und didaktischen Anregungen

und Vorschlägen (nicht nur für den Leselehrgang !) - gut durchdachte Arbeitsblätter Als Nachteile werden genannt: - Eltern haben das Gefühl, die Rechtschreibung leide - Eltern sind skeptisch, wollen von Anfang an "Rechtschreibung" drillen - Skepsis gegenüber der "Schönschreibung" - Fragen wegen der späteren Rechtschreibung werden aufgeworfen (abmalen der Buchstaben!) Fazit Wie die Erfahrungen im Schulalltag zeigen, ist der LESESPIEGEL ein guter Lehrgang, der sicher auf ein Ziel hinsteuert. Er lässt der Lehrperson viele Gestaltungsmöglichkeiten offen. Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist problemlos. LESEN DURCH SCHREIBEN ist ein anspruchsvoller Leselehrgang, der viel Kreativität von Schülern und Lehrern verlangt. Er ist belebend im Unterricht und fördert sehr die Eigenaktivität der Schüler. Das Problem der Schrift (richtiges Schreiben der Buchstaben) wurde von den meisten Lehrkräften erkannt und wird auch entsprechend korrigiert. Nach zwei Jahren Unterstufe bei der gleichen Lehrkraft ist auch die Rechtschreibung kein Problem mehr. SCHULINSPEKTORAT KANTON SCHWYZ Kreis 1 Adalbert Kälin

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Text-C03 Erich Ambühl KANTONALES SCHULINSPEKTORAT SOLOTHURN Zwischenbilanz zum Leselehrgang "Lesen durch Schreiben" 1. Februar 1984 1. Lernerfolge der Schüler - Jeder Schüler hat immer wieder Lernerfolge; alle Schüler sind motiviert, auch schwache. Auch

gute Schüler langweilen sich nicht. - Misserfolg ist nicht möglich! - Die Schüler sind sehr motiviert; das ist das beste am Lehrgang. - Die Schüler setzen sich immer wieder selbst neue Ziele. - Die Schüler werden im kreativen Schreiben gefördert. - Die Kinder lesen auffallend sinnerfassend. - Der Arbeitsrhythmus der Schüler kann berücksichtigt werden. Schüler lernen in Schüben! Die

sprachlichen Fortschritte sind gut; reiches Material für die Wortschatzförderung vorhanden. - Lesen durch Schreiben beinhaltet keine Behinderung für die Rechtschreibung. - Ein Türkenmädchen schreibt seinem Vater einen türkischen Brief; Lesen durch Schreiben ist der

einzige verantwortbare Leselehrgang für fremdsprachige Kinder! - Gefahr: Der Kontakt des Lehrers zu sehr selbständigen Schülern könnte verloren gehen; rasche

Schüler könnten dann Motivation verlieren. 2. Arbeitshaltung der Schüler - Schön ist, dass die Kinder von sich aus schreiben wollen. - Der Lehrgang vermittelt positive Arbeitshaltung und Mitdenken der Schüler bei der

Unterrichtsorganisation. - Schüler können selbständig arbeiten; sie sind konzentriert bei der Sache. - Kinder organisieren sich selber; sie organisieren sich selbst in Gruppen. - Kinder können und wollen auch allein arbeiten. - Hinweis: Der Lehrer muss Aufträge,erteilen und anregen. 3. Soziales Lernen - Wenn die Schüler für sich allein gearbeitet haben, kommt das Bedürfnis, mit andern

zusammenzuarbeiten. - Soziales Lernen wird gefordert und deshalb gefördert. - Der Lehrgang bietet sehr viele Möglichkeiten zum sozialen Lernen. - Der Lehrer braucht das Zusammenarbeiten der Schüler auch als Entlastung für sich selbst. - Die Kinder geben sich gegenseitige Hilfe. - Die vielen Spiele werden lebhaft benützt. - Hinweis: Soziale Probleme werden durch den Lehrgang abgebaut. 4. Individualisierendes Arbeiten - Der Lehrer hat mehr Zeit und Material für individualisiertes Arbeiten. - Der Lehrgang bietet sehr gute Voraussetzungen für individualisierendes Arbeiten. - Kinder mit Lerndefiziten können sofort erfasst werden. - Lehrgang fördert Konzentrationsfähigkeit - Schüler trauen sich selbst etwas zu. - Es ist eine Tatsache, dass individualisiert wird. Der Druck wird von den Schülern genommen.

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- Der Lehrer muss bewusst eingreifen und gestalten; er braucht Überblick und Verständnis. - Der Lehrer muss differenzierte Aufträge erteilen, die Lernerfolge sicherstellen. - Hinweis: Am Anfang besteht die Gefahr, dass der Lehrer die Schüler überfordert; der Lehrgang

stellt grosse Anforderungen an den Lehrer. 5. Lehrerkommentar - Ist sehr gut gestaltet, war eine grosse Hilfe. - Die Aufteilung in Bände hat Vor- und Nachteile. - Es braucht zusätzlich Gespräch mit erfahrenen Kollegen; der Erfahrungsaustausch war wichtig. - Eine Woche Vorbereitung muss eingesetzt werden. - Gute Möglichkeit für Mehrklassenschulen, weil nicht themengebunden. - Bemerkung: Eine Schwierigkeit bot das Einarbeiten in den SABEFIX. 6. Einfluss auf den Lehrer - Ich bekam Mut, das Lerntempo der Schüler zu berücksichtigen. - Phasen von Werkstattunterricht wechselten mit Phasen, wo ich stark führte. - Durch den Gebrauch des Lehrganges verändert sich beim Lehrer etwas: es entwickelt sich eine

persönliche Beziehung zu jedem einzelnen Schüler, ich habe nicht nur ein Gefühl für die ganze Klasse.

- Ich habe viel mehr Vertrauen in das Lernvermögen der Schüler. - Ich fordere nicht mehr von allen gleich viel; ich kann differenzieren. - Ich bin viel wacher, sehe die Probleme des einzelnen Schülers besser. - Hinweise: Die innere Bereitschaft des Lehrers, mit diesem Lehrgang zu arbeiten ist

Voraussetzung für den Erfolg; der Lehrgang kann dazu verleiten, die Schüler zu stressen! - Der Lehrer muss sich mit seiner ganzen Person engagieren; er muss die Verunsicherung in Kauf

nehmen,wenn einzelne Schüler lange nicht lesen können. 7. Eltern - Die Elterninformation war von Anfang an nötig. - Am Anfang ängstliche Echos, die dann immer besser wurden. - Die Eltern der schwächeren Schüler sind positiv eingestellt. - Nach dem ersten Quartal braucht es eine Auswertung, eine Standortbestimmung. - Die Eltern wollen helfen; die Eltern nicht ausschliessen, sondern ihnen Zugang ermöglichen.

Schulstube öffnen! - Gefahr: Die Eltern können die Schüler zu Hause überfordern wenn sie zum Beispiel verlangen,

dass die Kinder von Anfang an fehlerfrei schreiben. Es kann für die Eltern schwierig sein, mit ihren Kindern nicht auf traditionelle Weise lesen zu lernen.

8. Gesamtbeurteilung - Ein Hauptmerkmal des Lehrganges scheint darin zu bestehen, dass alle Schüler stark für das

Lesen motiviert werden. - Alle Schüler entwickeln eine gute Arbeitshaltung; sie tragen die Verantwortung für ihren

Lernfortschritt zum grössten Teil selbst. Schüler können selbständig arbeiten. Sie lernen allein zu arbeiten, sich abzugrenzen, sich einzuschätzen, allein zu entscheiden.

- Der Lehrgang fordert und fördert das soziale Lernen; soziale Probleme in der Klasse werden abgebaut.

- Der Lehrgang ermöglicht angstfreies Lernen. Der Druck wird von den Schülern genommen; man kann ihnen wirklich Zeit geben, und sie arbeiten "ohne" Druck (erstaunlich für Eltern und

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Lehrer). - Der Druck ist anders. Arbeit ohne Zwang. Man müsste eher von Zug reden. Beim Kind ansetzen, das Vertrauen zum Kind voll ausnützen. Das Geheimnis: Kind lernt ohne Misserfolg.

Anmerkung: Unterstufe muss Misserfolgserlebnisse der Schüler vermeiden; nur so kann positive Arbeitshaltung aufgebaut werden. Vermutlich haben viele Schüler beim Eintritt in die 3. Klasse derart viele Misserfolgserlebnisse hinter sich, dass sie nur noch auf Druck reagieren.

- Die Arbeit mit dem Lehrgang fördert die Entwicklung eines positiven Selbstkonzepts. - Arbeitsmaterial und Lehrerkommentar sind sehr reich und bieten grosse Hilfe. Der Lehrgang

stellt grosse Anforderungen an den Lehrer. Bei der ersten Verwendung des Lehrganges ist eine Begleitung (Erfahrungsaustausch) nötig.

- Die Einstellung des Lehrers zum Schüler verändert sich, sie wird positiver. Der Schüler erhält mehr Chancen; der Unterricht wird reicher.

- Der Sachunterricht wird intensiver, weil das Lesen nicht themengebunden; der Lehrgang eignet sich speziell gut für Mehrklassenschulen. Das Rahmenthema Nr. 1 "Einschulung" (Angebot) wird als sehr gut beurteilt.

- Damit die Schüler richtig an der Arbeit sein können empfiehlt es sich, Blöcke von zwei Stunden zu machen.

9. Ausblick 1. Der Lehrgang soll der Lehrmittelkommission zur Einführung empfohlen werden. Bedingung:

Einführungskurs und Begleitung. 2. Im November 1984 soll eine Evaluation durchgeführt werden. 3. SPD und Legasthenietherapeuten sollen informiert werden. Für das Protokoll: E. Ambühl

*** LEHRMITTEL-KOMMISSION DES KANTONS SOLOTHURN An den Erziehungsrat des Kantons Solothurn Leselehrgang "Lesen,durch Schreiben" Sehr geehrter Herr Regierungsrat Sehr geehrte Frau Heimgartner Sehr geehrte Herren Erziehungsräte Mit dem"Erstlesewerk "Lesen,durch Schreiben" greift der Autor, Herr Dr. J. Reichen, auf eine uralte Methode des Schriftspracherwerbs zurück (Schreibstubentradition des klassischen Altertums). Schüler werden in die Lautstruktur der deutschen Sprache eingeführt, lernen Lesen, indem sie schreiben. Unter Zuhilfenahme einer mit Symbolzeichnungen ausgestatteten Buchstabentabelle beginnt der Schüler mit seinen eigenen Wortschöpfungen. Wie dies im einzelnen funktioniert, entnehmen Sie bitte der informativen Broschüre in der Beilage. Der Lehrgang wurde in Zusammenarbeit mit dem Primarschulinspektorat während dreier Jahre evaluiert. Sie finden in der Beilage die Auswertung dieser Evaluation.

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Aufgrund der positiven Ergebnisse beantragt Ihnen die Kantonale Lehrmittel-Kommission, den Lehrgang "Lesen durch Schreiben" als fakultatives, empfohlenes Lehrmittel einzuführen. Lehrerinnen und Lehrer, welche erstmals mit diesem Lehrwerk arbeiten, besuchen einen obligatorischen Einführungskurs. Für die Kantonale Lehrmittel- Kommission B. Hofer, Präsident Bellach, 20. Februar 1986 ANMERKUNGEN ZUM ANTRAG 1. Methodisch-didaktisch bedeutsame Aspekte dieses Lehrwerks Gestatten Sie mir, auf einige interessante Aspekte dieses Lehrwerks hinzuweisen: 1.1. Die Schüler erleben die geschriebene Sprache von Anfang an als Mittel zur Kommunikation

im Wechselspiel zwischen Sinngebung und Sinnerfassung. 1.2. Methodisch-didaktisch ist der Lehrgang insofern bedeutsam, als dass er auf kursive Prinzipien

zugunsten einer individualisierenden Methode weitgehend verzichtet. Der Unterricht wird so angelegt, dass der Schüler immer dort weiterarbeiten kann, wo er aufgrund seiner Möglichkeiten steht. Über- und Unterforderungen von seiten des Unterrichtsverlaufs treten erst einmal gar nicht auf.

1.3. Der Lehrgang kann also auch für den Lehrer als modellhaftes Beispiel dastehen für eine

kontinuierliche Förderung von Schülern mit unterschiedlichsten Voraussetzungen und Begabungen.

1.4. Der Schüler wird in diesem werkstattmässigen Unterricht notwendigerweise zu selbständigem

Arbeiten geführt. Durch die in der Regel andauernde gute Motivation wird ein eigentlichen Lern- und Arbeitseifer ausgelöst.

2. Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer Dadurch, dass der Unterricht nicht für die Klasse als Ganzes, darbietend oder erarbeitend geführt wird, ergeben sich für Lehrerinnen und Lehrer unter anderem folgende Konsequenzen: - Einen relativ grossen zeitlichen Aufwand für das Vorbereiten der Lernangebote sowie die

Auswertung der Schülerarbeiten. - Im Unterricht selber hohe Anforderungen, indem man vermehrt auf jeden einzelnen Schüler

eingehen, seine Lernerfolge beobachten, bei Störungen gezielt helfen muss. Wir können uns daher bei allen Vorteilen die obligatorische Verwendung dieses Lehrwerks nicht vorstellen. Voraussetzung ist schon eine Lehrperson, welche von diesem Lehrgang überzeugt ist und das nötige Mass an „Engagement“ mit sich bringt. Bruno Hofer, Bündenweg 23, 4512 Bellach

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Text-C04 Telse Borchardt LESEN DURCH SCHREIBEN - ein neuer Anfang im 1.Schuljahr unveröffentlichtes Manuskript / Februar 1986 4 Jahre lang hatte ich im Geheimen die Vorstellung: so wie das letzte Mal im 1. Schuljahr der Lese-Schreib-Lehrgang abgelaufen ist, so will ich es nicht wieder machen. Auf jeden Fall nicht Schreibschrift nach wenigen Schulwochen! Aber was statt dessen? Man schiebt solche Entscheidungen gern vor sich her, solange es noch nicht dringlich ist, als es aber feststand „Im Sommer“ bekommst du wieder ein 1. Schuljahr, wurden alle Erstlesewerke durchgeblättert, Begleithefte geprüft; Schreiblehrgänge verglichen und wieder ergab sich das gleiche Bild: einige Kinder würden total unterfordert sein, einige total überfordert und vor allen Dingen schienen mir alle Kinder, ohne Rücksicht auf ihre Reife und ihr eigenes Leistungsvermögen, zur gleichen Zeit das gleiche lernen zu müssen. Daß dies nicht ohne Frustrationen für viele Kinder abgehen würde, dafür brauchte ich nicht viel Phantasie; schließlich hatte ich schon siebenmal den Anfangsunterricht mit allen seit 1962 aktuellen Methoden hinter mich gebracht. Ein wiederholtes Lesen des Faltblattes „Lesen durch Schreiben von J. Reichen“ beendete schließlich mein Suchen. Spontan entschloß ich mich dafür und fand überraschenderweise ein offenes Ohr bei der Kollegin Elisabeth Offermann, mit der ich parallel arbeiten sollte, und der es auf ihrer Suche ähnlich ergangen war wie mir. Unsere Schulleiterin war einverstanden, das nicht gerade billige Informationsmaterial anzufordern. Unser Entschluß stand nach der Prüfung aller Unterlagen und trotz einiger Probleme damit (z.T. Wortschatz aus der Schweiz) fest: wir wollen es versuchen. Die Eltern der zukünftigen Schulkinder wurden noch vor den Sommerferien auf einem Elternabend umfassend in diese Methode eingeführt. Kritische Stimmen gab es natürlich („warum sollen unsere Kinder zu Experimenten herhalten“) und es wurde allgemein deutlich, wie wenig Einblick Eltern in die Problematik des Anfangsunterrichts haben. Wir versuchten zu beschwichtigen, jeder Anfang sei ein Experiment und hatten damit erstmal gewonnen. Festzuhalten ist, daß die Eltern, wenn auch kritisch, so doch relativ aufgeschlossen, den Abend verließen, weil die Einführung von unserer Schulleiterin mit viel Einfühlungsvermögen für die prekäre Situation der Eltern von Schulanfängern geleitet worden war. Der Tag der Einschulung bereitete uns dann doch einige Bauchschmerzen: wie würden die Kinder sein, wie würden sie reagieren? Wir nahmen uns vor, sofort mit dem Lautieren zu beginnen. Ich las eine Geschichte von einer kleinen Maus vor; ich ließ aber das Wort „Maus“ weg und sagte stattdessen nur die „M“. Die Kinder stellten Vermutungen an, wer das sein könnte und einige kamen natürlich schnell auf die „Maus“; einigen sah man jedoch an, daß sie absolut nicht wußten, wie die Klassenkameraden das herausgefunden hatten. Dieser Laut „M“ wurde noch in anderen Wörtern gefunden und schließlich durften die Kinder das dazugehörende Zeichen (den Buchstaben) in Druckschrift aufschreiben. Unser Ziel in den nächsten Tagen war, möglichst schnell so viele Laute herausgearbeitet zu haben, daß man den Kindern zutrauen konnte, schon einige Wörter (in Druckschrift) aufzuschreiben, immer mit passenden Bildern, damit sie auch noch zu Hause wußten, was sie geschrieben hatten. Aber da begann dann die eigentliche „Knochenarbeit“: das Lautieren konnten die Kinder nicht lange durchhalten (höchstens 5 Minuten)

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und beim Schreiben rief es von allen Seiten: kannst du mir mal helfen? Die Angst, Fehler zu machen, saß bei den Kindern sehr tief. Meine Kollegin und ich wirkten von Tag zu Tag erschöpfter, obwohl die Kinder unheimlich positiv zu allem eingestellt waren, uns überhaupt keine Disziplinschwierigkeiten machten und jeden Tag wieder fröhlich in der Tür standen. Wir schliefen schlecht und fragten uns ernsthaft, ob dies nun so bleiben würde. Ein großer Trost war jedoch, daß wir beide das Gefühl hatten, die Kinder lernten sehr viel und wir berichteten uns von den Fortschritten täglich. Als dann die Buchstabentabelle eingeführt wurde, wirkte dies auf einige Kinder fast wie ein Schock: die relativ kleinen Bilder wurden kaum auseinandergehalten und ich fragte mich allen Ernstes, ob manche Kinder es je lernen würden, damit zu arbeiten. Hier war der Lehrerkommentar eine große Hilfe, der davon sprach, daß die Kinder oft leicht überfordert sein würden, ohne daß sie Schaden nähmen. Und diese bewiesen, uns unsere Kinder dann täglich: sie zeigten keinerlei Anzeichen von Streß, und sie nahmen jeden Versuch, ihnen das Schreiben von Wörtern beizubringen, interessiert oder auch begeistert auf. Und so ging es dann weiter: ohne jede Leseübung fing nach etwa 3 - 4 Wochen der erste Junge an, lustvoll jedes Wort in stark auseinandergezogenen Lauten zu sprechen und alles, was irgendwo geschrieben stand, vorzulesen. Bald folgte ein Mädchen, das beim Schreiben besonders ängstlich immer wieder meine Hilfe erbeten hatte und das behauptete, nun lesen zu können (Es stimmte; dazu muß man wissen, daß die Eltern ihre Tochter nicht für schulreif gehalten hatten). Nach den Herbstferien begann ein Junge zu lesen, der sich bis dahin überschlagen hatte, um mir täglich irgendeinen „Brief“ zu schreiben. Bei ihm wußte ich ziemlich genau, daß sich zu Hause niemand besonders um ihn und seine Schule kümmerte: er hatte das wirklich allein geschafft. Den Kinder war der Moment, in dem sie Wörter zu erlesen lernten, deswegen so bewußt, weil sie keinerlei Wortbilder in ihrem Gedächtnis speichern mußten, die sie auswendig gekonnt hätten. So wurde die Mitteilung: ich kann lesen! immer häufiger und diese Kinder griffen in der Freiarbeit auch sofort nach dem Material, mit dem sie ihr Lesenkönnen unter Beweis stellen konnten. Ein Junge meinte ganz überrascht: "Komisch, gestern konnte ich noch nicht lesen, heute kann ich das auf einmal." Und ein Mädchen, das so ziemlich als Letzte noch nicht zu den Lesern zählte, war so begeistert, daß sie nun plötzlich Wörter vorlesen konnte, daß sie behauptete: „In der Freiarbeit will ich nur noch lesen“ (bis dahin hatte sie am liebsten gewebt.) Nun sind seit Schulbeginn etwa 6 Monate vergangen und auch die ersten Schreibschriftbuchstaben sind mühelos und lustvoll gelernt worden („Das macht richtig Spaß“); nur ein Junge kämpft noch mit der Buchstabenfülle, hat aber auch schon große Fortschritte gemacht (er war am Schulanfang 4 Wochen mit seinen Eltern in Marokko, die Zeit fehlt ihm jetzt). Alle anderen Kinder können, wenn auch mit großen Unterschieden, lesen. Solche Erfolge hatte ich noch nie. Eine Kollegin einer anderen Schule meinte: unsere Kinder müssen erst am Ende des 2. Schuljahres den Leselehrgang abgeschlossen haben! Sicher, so steht es in den Richtlinien und so muß man auch den Kindern gegenüber eingestellt sein. Aber wenn es ohne Zwang und ohne Streß für die Kinder auch anders geht? Wie hilfreich ist es, wenn Kinder Arbeitsanweisungen beim Material der Freien Arbeit oder im Mathematikbuch selbst lesen können, hilfreich für den Lehrer, aber wieviel mehr noch für das Selbstbewußtsein der Kinder, die nun viel eher das Gefühl haben, daß Lesen „ihre“ Sache ist!

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Nebenbei: der Streß für meine Kollegin und mich hat schon längst aufgehört. Wir sind begeistert von dem Verlauf des Anfangsunterrichts und planen für jeden Tag mit viel Motivation, um uns dann immer wieder von den Kindern und ihren Reaktionen überraschen zu lassen. Neu für uns ist auch, daß die Kinder bereit sind, vieles aus ihrem Erlebnisumfeld zu erzählen und danach aufzuschreiben. Sie haben keinerlei Schreibhemmung, auch wenn sie, und das passiert oft, Fehler machen, indem sie Laute verwechseln, Wörter falsch aussprechen oder einfach Laute vergessen, wenn ein Wort lang und schwer ist. Allerdings: wenn sie nicht viel oder nichts Besonderes erlebt haben (z. B. beim Erzählen vom Wochenende), dann mögen sie auch nicht schreiben. Die Begeisterung der Eltern ist übrigens nicht so groß wie bei uns Lehrern. Ihnen fehlen die vielen Seiten, die man früher durch Abschreiben gefüllt hat: sie sehen nicht viel von Fortschritten und erkennen auch nicht, weshalb wir es phantastisch finden, daß man nach einem halben Jahr im 1. Schuljahr schon ungeübte Diktate schreiben könnte. Sie wissen auch nicht zu schätzen, wieviele Vorteile es für den Rechtschreibunterricht haben wird, daß die Kinder schon jetzt deutlich kurze und lange Vokale unterscheiden können. Lesen durch Schreiben - selbstgesteuert lesen lernen - das ist ein Experiment, das mit Kinder anzugehen sich lohnt. Telse Borchardt Gemeinschaftsgrundschule Ahe Am Schwarzwasser D-5010 Bergheim 14

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Text-C05 Elisabeth Offermann Erfahrungen mit „Lesen durch Schreiben“ im Förderunterricht für ausländische Kinder unveröffentlichtes Manuskript / Februar 1987 Unsere Erfahrungen mit „Lesen durch Schreiben“ im Förderunterricht für ausländische Kinder sind überaus positiv. Zu Beginn des Schuljahres 86/87 standen wir plötzlich vor der Aufgabe, 30 Kinder von Asylsuchenden aus dem Libanon und dem Iran zu „beschulen“. Die Kinder sprachen kein Wort Deutsch! Was tun? Alle Kinder wurden altersgerecht (teilweise eine Klassenstufe tiefer) eingeschult. Wir wollten, daß sie soweit als möglich in der Klassengemeinschaft bleiben sollten und wollten versuchen, sie durch geeignete Arbeitsmittel in der Freien Arbeit und zusätzlich in Kleingruppen zu fördern. Nach meinen positiven Erfahrungen mit „Lesen durch Schreiben“ im 1. Schuljahr hatte ich die Vermutung, daß gerade auch ausländische Kinder mit Hilfe der Buchstabentabelle sehr schnell schreiben und lesen lernen würden. Ich habe daher gern den Förderunterricht für die ausländischen Kinder in den 2. - 4. Klassen übernommen. Da die Gruppen klein waren ( 2 - 8 Kinder), waren auch die Lernvoraussetzungen gut. Ich bin folgendermaßen vorgegangen: Als erstes bekamen alle Kinder die Buchstabentabelle (BT). Die Begriffe der BT waren praktisch die ersten deutschen Wörter, die die Kinder spielerisch lernten: 1. Von fast allen Begriffen der BT gab es Spielsachen oder die konkreten Gegenstände. 2. Dann machten wir die Würfelspiele zum Erlernen der Begriffe (wie im Lehrerkommentar

angegeben). 3. Ich erstellte Bildkärtchen mit den Begriffen der BT. Dadurch boten sich viele Spielmöglichkeiten: - Kärtchen reihum aufdecken, wer den Begriff kennt, darf das Kärtchen behalten „Ich sehe etwas, das fängt mit „L“ an ... die Schüler suchen das entsprechende Kärtchen - Die Kinder legen die Bildkärtchen auf einen Plan mit Buchstaben. 4. Die Kinder arbeiteten mit Arbeitsblättern, auf denen die Bilder der BT aufgezeichnet sind: - Die Schüler malen nach Anweisung bunt: z.B. Male den Fisch rot ... - Sie schreiben den entsprechenden Groß- und Kleinbuchstaben dazu. (Auch umgekehrt: Die

Buchstaben sind vorgegeben, die Kinder malen das Bildchen dazu.) 5. Ich habe Cassetten aufgenommen, auf denen ich die Wörter langsam vorgesprochen habe: J - Jacke, L - Laterne .... Auch dabei gibt es verschiedene Schwierigkeitsgrade: a) Begriffe der Reihe nach b) Begriffe durcheinander. Die Schüler setzen einen Spielstein auf das passende Bild. Dies machen die Kinder auch sehr

gern mit Kopfhörern während des Klassenunterrichts.

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Wenn die Kinder die Begriffe der BT kannten, kam der 2. Schritt: Anlaute vergleichen und einfache 1autgetreue Wörter schreiben. Bei den meisten Gruppen konnte man schon nach ein bis zwei Wochen den Wortschatz erweitern: Zu jedem Bildkärtchen der BT erstellte ich ein zweites mit gleichem Anlaut, so daß sich jetzt wieder viele Spielmöglichkeiten ergaben: - Bildpärchen legen: Laterne - Leiter, Ente - Elf ... - Memory spielen - Schlangenspiele: Die Kärtchen werden vermischt hintereinander gelegt. Jedes Kind bekommt

einen Spielstein. Es wird gewürfelt. Wer auf ein Feld (z. B. Leiter) kommt, darf bis zum nächsten Kärtchen mit dem gleichen Anlaut (Laterne) vorrücken. Variante: Er muß auch wieder zurückhüpfen.

- Hörübungen: Es wird wieder der Cassettenrecorder eingesetzt. Da wird zum Beispiel „Mond“ vorgesprochen. Das Kind sucht auf der BT das Bildchen mit dem gleichen Anlaut wie „Mond“, das wäre die „Maus“ und setzt seinen Spielstein auf das Feld. Nach einer Pause wird durch den Cassettenrecorder die richtige Lösung vorgesprochen: „Mond - M wie Maus“.

Nach diesen Vorübungen konnten wir schon mit dem Schreiben beginnen. Das Frappierende war für mich, daß die Kinder mit minimalem Wortschatz (Begriffe der BT und die dazugehörenden Kärtchen mit gleichem Anlaut) schreiben konnten - und das nicht nur im Förderunterricht sondern auch in den normalen Klassenstunden, da die Wörter, die sie allein schreiben sollten, immer auf dem gemeinsam erarbeiteten Minimalwortschatz beruhten: 1. Die Kinder legen mit Pappbuchstaben auf Setzleisten einfache lautgetreue Wörter wie Hut, Elf,

Fisch usw. Kontrolle: auf der Rückseite des Bildkärtchens steht die richtige Schreibweise. 2. Ich erstellte Arbeitsblätter zum Schreiben lautgetreuer Wörter. Als Hilfe ist dort für jeden

Buchstaben ein Kästchen vorgezeichnet.

Als die Kinder die ersten Wörter allein geschrieben hatten, stieg ihr Selbstbewußtsein, sie schrieben gern und mit immer besserem Erfolg. Einige der älteren Schüler (die schon im Heimatland eine Schrift erlernt hatten und denen daher das Prinzip der Laut-Zeichenzuordnung klar war) konnten schon nach 3 - 4 Stunden Wörter schreiben, bei den kleineren Kindern dauerte es natürlich länger. Die ersten Kinder fingen dann auch bald an zu lesen, was aber viel schwieriger für sie ist, da ihnen die Wortbedeutung der meisten Wörter zu Anfang noch unbekannt ist. Je mehr sich der Wortschatz der Kinder erweitert, umso „freier“ können sie auch arbeiten. Sie können die Spiele und Arbeitsmittel wählen, die sie sich zutrauen. Sie können frei schreiben. Wie ist der Leistungsstand des ausländischen Kinder nach einem guten halben Jahr? 4. Schuljahr: Alle Kinder können Wörter lautgetreu schreiben, einige fangen an, Rechtschreibregeln zu beachten. Sie können einfache Texte lesen.

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2./3. Schuljahr: Alle Kinder können Wörter lautgetreu schreiben, alle, bis auf einen Schüler, können Wörter / einfache Sätze lesen. Sie sind motiviert und versuchen, alle Aufgaben im normalen Klassenunterricht mitzumachen. Beim freien Schreiben schrieb ein Junge kürzlich : „Gestan habeischgeschpildmet maine FraideGeschpilt“ und „Eschwel ein Hund“ (Auffallend hier die Verwechslung von e - i. Uns ist aufgefallen, daß für alle ausländischen Kinder - auch die marrokkanischen Kinder - die Unterscheidung von e - i und o - u am schwierigsten ist.) Noch eine kleine Beobachtung zum Schluß: Die Buchstabentabelle ist ein „Renner“ in den ausländischen Familien. Am Rande stehen arabische/ iranische Schriftzeichen, auch Mutter und Vater lernen damit. Nach Weihnachten kam ein neuer iranischer Schüler. Er kannte schon die Wörter der Buchstabentabelle - die Kinder, die schon länger in Deutschland waren, hatten sie ihm beigebracht. Elisabeth Offermann Gemeinschaftsgrundschule Ahe Am Schwarzwasser D-5010 Bergheim 14

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Text-C06 Beat Mayer / Amt für Unterrichtsforschung und -planung des Kantons Bern Der Leselehrgang 'Lesen durch Schreiben' Bericht über den Unterrichtsversuch in den Schuljahren 1985/86 und 1986/87 und Anträge an die Lehrmittelkommission / Februar 1987 Inhalt 1. Der Unterrichtsversuch mit 'Lesen durch Schreiben' 1.1 Problemstellung und Auftrag 1.2 Vorgehen, Arbeitsweise 2. Charakterisierung des Lehrganges 2.1 Konzept 2.2 Material 3. Erfahrungen mit 'Lesen durch Schreiben' 3.1 Allgemeine Beurteilung von Konzept und Material 3.2 Die Arbeit mit den Schülern 3.3 Weitere Erfahrungen der Versuchslehrerinnen 3.4 Erfahrungen im 2. Schuljahr 3.5 Erfahrungen aus anderen Kantonen 4. Anträge an die Lehrmittelkommission Der Bericht entstand auf der Grundlage der Erfahrungen und Berichte der folgenden Lehrerinnen Frau Marianne Wullschleger, Grächwil Frau Regula Demali, Zollikofen Frau Heidi Hirsbrunner, Wabern Frau Margrit Haussener, Kehrsatz Frau Verena Jenzer, Biel Frau Ursula Flückiger, Meinisberg Frau Ruth Ghawami, Hellsau Frau Annemarie Blaser, Niederösch Frau Eva Imer, Alchenstorf Frau Esther Stettler, Gwatt Frau Elisabeth Monney, Zollikofen Frau Marlyse Berthoud, Münchenbuchsee Frau Beatrice Stettler, St. Stephan Frau Michele Gschwind, Ittigen Frau Kathrin Leuenberger, Bolligen Frau Dorothee Roth, Bern Frau Graziella Hagen, Bern Frau Marianne Rubin, Bern Frau Brigitta Blaser, Bern Frau Marianne Sahli, Orpund Frau Monika Frei, Bern ***** Seit mehreren Jahrzehnten werden Erfahrungen mit grundsätzlich verschiedenartigen Leselehrgängen nach analytischem bzw. synthetischem Muster gesammelt. Beide haben ihre spezifischen Vor- und Nachteile; entsprechend hat der zeitweise heftig geführte Methodenstreit unentschieden geendet. Aufgrund empirischer Untersuchungen nimmt man heute an, dass sich die Stärken und Schwächen beider Grundkonzeptionen etwa ausgleichen. Aus dieser Situation heraus wurden Methoden entwickelt, welche die Vorteile beider Ansätze in sog.

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"methodenübergreifenden" Verfahren zu integrieren suchen. Einem solchen Ansatz verpflichtet ist – neben dem im Kanton Bern verwendeten "Lesen - Sprechen - Handeln" – der Lehrgang "Lesen durch Schreiben". Lesen- und Schreibenlernen sind zentrale Lernprozesse der Unterstufe. Das 'Image' der Schule hängt aus der Sicht der Schüler zu einem grossen Teil vom Umstand ab, dass man dort Lesen lernt. Lesenlernen bedeutet Eindringen in die geheimnisvolle Welt der Buchstaben - damit auch Eindringen in die bisher verborgene Kultur der Erwachsenen. Lesenlernen ist deshalb wichtig, weil es die Grundlage für viele spätere Lernprozesse bildet. Lesen und Schreiben als wichtige Bestandteile der Sprachkompetenz bestimmen entscheidend mit über Schulerfolg bzw. -misserfolg der Kinder. Der Leselehrgang stellt für den Lehrer ein Hilfsmittel dar. Er soll als erprobte Grundlage Kontinuität und Aufbau des Lernprozesses gewährleisten. Wie kaum in einem anderen Bereich wird beim Prozess des Lesenlernens deutlich, wie verschieden die Voraussetzungen sind, welche Schüler mit in den Unterricht bringen. Aus diesem Grund und weil wir den Kindern unterschiedliche Lernwege zugestehen wollen, braucht es für Leselehrgänge offene Lernkonzepte. 1. Der Unterrichtsversuch mit 'Lesen durch Schreiben' 1.1 Problemstellung und Auftrag Laut Verzeichnis der verbindlichen und gestatteten Lehrmittel von 1984 kann im Kanton Bern zwischen den folgenden Leselehrgängen ausgewählt werden: - Lesen, Sprechen, Handeln - Es war einmal - Edi - Wir sind alle da - Anneli und Hansli - Das kleine Mädchen Kra - Wo ist Fipsi? Verschiedentlich haben Lehrkräfte den Wunsch geäussert, man möge diese Liste durch neue, ebenfalls bewährte Lehrgänge erweitern. Aus diesem Grunde, aber auch im Hinblick auf den Übergang zum Schuljahresbeginn im Spätsommer hat die Lehrmittelkommission für die Primarschulen beschlossen, die Liste der gestatteten Leselehrgänge einer Überprüfung zu unterziehen. Im Rahmen dieser Überprüfung hat sie der Erziehungsdirektion beantragt, weitere Lehrgänge in beschränkten Unterrichtsversuchen zu erproben, damit nachher entschieden werden kann, ob sie in die Liste der gestatteten Lehrmittel aufgenommen werden sollen. Das Amt für Unterrichtsforschung wurde damit beauftragt, die Erprobung der Leselehrgänge 'Lesespiegel' und 'Lesen durch Schreiben' zu begleiten und auszuwerten. Der folgende Bericht fasst die Erfahrungen mit 'Lesen durch Schreiben' zusammen; die Ergebnisse des Unterrichtsversuchs mit dem 'Lesespiegel' sind in einem separaten Bericht beschrieben. 1.2 Vorgehen, Arbeitsweise Im Schuljahr 1985/86 arbeiteten 12 Lehrerinnen versuchsweise mit 'Lesen durch Schreiben' (Autor: J. Reichen). Einzelne hatten bereits vor Versuchsbeginn Erfahrungen mit diesem Lehrgang. In insgesamt 7 Sitzungen wurden Materialien ausgetauscht und auftauchende Probleme

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besprochen. Schon bald einmal zeigte sich, dass es nicht möglich ist, bereits nach einem knappen Jahr eine abschliessende Beurteilung von 'Lesen durch Schreiben' vorzunehmen. Der Versuch wurde deshalb um ein Jahr verlängert. Das zweite Versuchsjahr sollte dazu dienen, weitere Erfahrungen mit 'Lesen durch Schreiben' zu sammeln (Erfahrungen und Beobachtungen im 2. Schuljahr; neue Erstklässler). Auf eine entsprechende Ausschreibung im Amtlichen Schulblatt vom 16.1.86 meldeten sich gegen 20 neue Interessentinnen, von denen nach einer Orientierungsveranstaltung schliesslich 14 in den Versuch einsteigen wollten. Für das zweite Versuchsjahr wurde die Arbeit neu organisiert: Es wurden 5 Regionalgruppen mit je 2 bis 8 Lehrerinnen gebildet. In jeder Gruppe waren erfahrene 'Lesen durch Schreiben'-Lehrerinnen und neue Kolleginnen. Die Kontakte innerhalb der einzelnen Gruppen waren unterschiedlich intensiv: einzelne trafen sich regelmässig zu Besprechungen, bei anderen bestand nur ein sehr lockerer Kontakt. Die Erfahrungen aus den verschiedenen Gruppen wurden von den Mitgliedern der Kerngruppe in die Sitzungen mit dem Projektleiter eingebracht und dort besprochen. Auch wenn nicht, alle Untergruppen gleich gut funktionierten, darf doch festgehalten werden, dass diese Arbeitsform geschätzt wurde; die meisten Lehrerinnen fanden das Gespräch und die gegenseitige Unterstützung in der Gruppe wichtig und notwendig. Die Teilnehmerinnen der Kerngruppe hatten im Juni 86 Gelegenheit, einen Kurs bei J. Reichen zu besuchen. Dank einer entsprechenden Erlaubnis der Erziehungsdirektion war es zudem möglich, dass die Lehrerinnen sich gegenseitig Unterrichtsbesuche abstatten konnten und während dieser Zeit eine von der Erziehungsdirektion bezahlte Stellvertretung einsetzen konnten. Im Amtlichen Schulblatt Nr. 11 vom 29.8.86 wurde ein kurzer Zwischenbericht über den Unterrichtsversuch veröffentlicht; dieser Bericht bildet zusammen mit den Berichten der beteiligten Lehrerinnen die Grundlage für die vorliegenden Ausführungen. Der Versuch wurde vom Amt für Unterrichtsforschung im Auftrag von Lehrmittelkommission und Erziehungsdirektion durchgeführt; er wurde von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter begleitet. Die Kosten für notwendiges Unterrichtsmaterial wurden teilweise vom Amt für Unterrichtsforschung getragen; zusammen mit Beiträgen für den Besuch eines Kurses ergaben sich Kosten von rund 8000 Franken. 2. Charakterisierung des Lehrganges 2.1 Konzept Die neue Lesemethode ist in erster Linie ein Versuch, jedem Schüler seinen ihm angepassten Weg zuzugestehen. Der Schüler lernt lesen, indem er schreibt, und zwar vor allem das, was er aus eigenem Antrieb heraus aufschreiben möchte. Mit Hilfe einer Buchstabentabelle arbeitet der Schüler von Anfang an mit dem ganzen Alphabet, er kann also seinen ganzen Wortschatz verwenden.

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Der Autor von 'Lesen durch Schreiben' geht von einem Grundvertrauen in das Kind aus. Geprägt von einem pädagogischen Optimismus plädiert er für eine freiheitliche, lebendige, erlebnisreiche Schule. Als wichtige Prinzipien bezeichnet er: - Jedes Kind lernt in seinem eigenen Tempo. - Den Kindern soll nur minimale Hilfe geboten werden. - Die Kinder sollen bewusst von Anfang an gefordert werden. - Die Kinder lernen selber lesen, indem sie schreibend Erfahrungen zu den Lauten sammeln. - Sie sollen nach Möglichkeit an natürlichen Situationen lernen. - Lesen soll Freude bereiten. - Ziel ist "lesen wollen" und nicht nur "lesen können". Schreiben wird vor allem als geistiger Akt und nicht in erster Linie als rein motorische Angelegenheit betrachtet. Es geht darum, eine Idee, einen Wunsch usw. schriftlich auszudrücken, ihn selber zu formen und zu gestalten - und nicht darum, nach genau vorgeschriebenen Normen etwas Vorgegebenes mechanisch wiederzugeben. Blockschrift soll nicht perfekt eingeübt werden. "Schöne" Buchstaben und exakte Bewegungsabläufe werden in der 2. Klasse im Zusammenhang mit der verbundenen Schrift geübt. Das Problem der Rechtschreibung wird folgendermassen gesehen: - Hörfehler sollen nicht toleriert werden (z.B. fehlende Laute). - Falsche Buchstabenformen sind sofort zu verbessern (b, d usw.). - Ein Wechsel von Gross- und Kleinschreibung innerhalb eines Wortes soll unterlassen werden. - Die Wortlücken müssen verlangt werden; die Wörter sollen nicht getrennt werden. Der Autor forderte dass jedes Kind in seinem individuellen Lerntempo arbeiten kann. Sehr wichtig ist ihm die Zusammenarbeitg in kleinen Gruppen wie auch im Klassenverband. Schreibanlässe sollen möglichst aus Lebenssituationen der Kinder entstehen. 2.2 Material 'Lesen durch Schreiben' enthält die folgenden Elemente (Neuausgabe 1987): Das Schülermaterial besteht aus 72 A4-Blättern, aus 1 Lernheft mit Lese- und Schreibübungen und aus 8 kleinen Broschüren (Leseheften). Das Material ist grafisch bewusst einfach gehalten, damit Lehrer und Schüler zur Eigenproduktion angeregt werden. Eine Buchstabentabelle ermöglicht es, von Anfang an mit dem ganzen Alphabet zu arbeiten. Der Lehrerkommentar besteht aus 8 Broschüren A5 zu je 64 Seiten sowie aus 64 Kopiervorlagen für zusätzliche Schülerarbeitsblätter. Im Lehrerkommentar werden die theoretischen Grundlagen des Lehrgangs ausführlich beschrieben. Allgemein-didaktische und organisatorische Empfehlungen und Vorschläge zu 4 Rahmenthemen, zur Wahrnehmungsschulung, zum Schrifterwerb und zu Spielen geben dem Lehrer eine Fülle von Hinweisen für die Arbeit mit den Schülern. Das Kontrollgerät SABEFIX ist ein Übungsgerät für die Schüler, das ein weitgehend selbständiges und selbstkontrollierendes Arbeiten ermöglicht.

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3. Erfahrungen mit 'Lesen durch Schreiben' 3.1 Allgemeine-Beurteilung von Konzept und Material Aufgrund der in den beiden Versuchsjahren gemachten Erfahrungen beurteilen die beteiligten Lehrerinnen das Konzept von 'Lesen durch Schreiben' ausnahmslos positiv. 'Lesen durch Schreiben' ist mehr als ein Leselehrgang. Wer die pädagogischen und didaktischen Absichten von 'Lesen durch Schreiben' ernstnimmt, stellt fest, dass der gesamte Unterricht von dieser Konzeption erfasst wird. Der Leselehrgang fordert individualisierenden Unterricht; dieser kann nicht isoliert nur beim Lesen- und Schreibenlernen praktiziert werden. Die Verwendung des Materials zu 'Lesen durch Schreiben' wurde unterschiedlich gehandhabt. Einzelne Lehrerinnen verwendeten das Schülermaterial praktisch vollständig, andere ersetzten es teilweise durch eigene Materialien, wiederum andere benutzten es als Anregung für eigene Arbeitsblätter. Die Arbeitsblätter des Leselehrgangs müssen also nicht unbedingt alle übernommen (und schon gar nicht durchgenommen) werden; die Ziele von 'Lesen durch Schreiben' können und sollen auch mit eigenen Materialien erreicht werden, da die vorgegebenen Arbeitsblätter nicht alle individuellen Probleme und Bedürfnisse der Schüler abdecken können. Als besonders wichtig werden 'Wahrnehmungsübungen betrachtet, da sie zu genauem Beobachten anhalten. Die Idee der kleinen Lesehefte wird sehr positiv beurteilt. Vereinzelt können auch geeignete Blätter aus dem Mathematiklehrmittel weiterverwendet werden, umgekehrt können auch Arbeitsblätter aus 'Lesen durch Schreiben' in anderen Fächern gebraucht werden. Der Lehrerkommentar wird als gut verständliche Einführung in die Konzeption des Lehrganges und als echte Hilfe bei der Realisierung betrachtet. Die Kontrollgeräte Sabefix finden bei den Schülern grossen Anklang. 3.2 Die Arbeit mit den Schülern Auffallend ist die starke Betonung der Selbständigkeit: Die Schüler sind schon nach kurzer Zeit verhältnismässig selbständig, was sich auch auf die anderen Fächern auswirkt. Sie können sehr gut selber Gespräche führen und einfache Regeln einhalten. Zum Konzept von 'Lesen durch Schreiben' gehört das eigene Lerntempo. Dadurch, dass die Kinder nicht künstlich gebremst, im Tempo aber auch nicht überfordert werden, werden individuelle Leistungsunterschiede offensichtlich, sie werden von den meisten Schülern auch als selbstverständlich akzeptiert. Durch das individuelle Leistungstempo gelangen auch schwächere Schüler zu regelmässigen Erfolgserlebnissen. 'Lesen durch Schreiben' beeinflusse Arbeitsverhalten und Motivation der Kinder eindeutig positiv. Die Schüler zeigen weniger Widerstände, sie sind fleissiger und zufriedener. Die Freude am Lesen und am selber Gestalten ist im allgemeinen gross. Auch Kinder, die beim Schuleintritt bereits lesen und schreiben können, werden ihrem Stand entsprechend gefordert und gefördert. So bleibt die Motivation erhalten. Zur Motivation trägt sicher auch bei, dass die Kinder sehr

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schnell spontan schreiben können. Dadurch bleibt ihre Sprache natürlich; die Gefahr, dass sie eine künstliche Fibelsprache schreiben, kann vermieden werden. Individualisiertes Lernen und neue Arbeitsformen im Unterricht bringen für die Lehrer häufig Probleme mit der Organisation des Unterrichts und mit der Ordnung im Schulzimmer und in den Pulten. Wo solche Probleme auftauchten, konnten sie relativ rasch durch gemeinsame Ordnungsprinzipien aufgefangen werden. Manche Lehrerinnen empfanden die neue Ordnung als wohltuend, belebend, bereichernd. Beim Unterricht nach den Prinzipien von 'Lesen durch Schreiben' ergibt sich teilweise eine Veränderung der Lehrerrolle: der Lehrer ist häufig nicht die wichtigste Person im Schulzimmer; die Schüler sind nicht ausschliesslich auf den Lehrer fixiert; der Lehrer arbeitet viel mit einzelnen Schülern allein, er berät sie, stellt Fragen, prüft den Lernstand. Allerdings kann auch dies gelegentlich zu Überforderung fuhren, nämlich wenn alle Schüler gleichzeitig etwas vom Lehrer wollen. Allgemein machen Lehrer die Erfahrung, dass sie mit 'Lesen durch Schreiben' einiges mehr an Vorbereitungs- und Nachbereitungsarbeit zu erledigen haben. Durch den intensiven Kontakt zum einzelnen Schüler kann der Lehrer die Lernfortschritte, aber auch die Probleme besser wahrnehmen. Das Konzept zwingt ihn, Schüler genau zu beobachten, damit er ihnen gezielt helfen kann. Mit dieser Arbeits- und Lernform wird es leichter möglich, Störungen frühzeitig zu erkennen (z.B. akustische Differenzierungsschwierigkeiten). Diese individuelle Begleitung der Schüler durch den Lernprozess verlangt vom Lehrer allerdings auch eine gute Merkfähigkeit und ein entsprechendes Kontroll- bzw. Notiersystem. Die Qualität der Schrift ist für viele Lehrer (wie auch für Eltern und Schüler) ein Problem. Da die Kinder die Buchstabenformen selber der Tabelle entnehmen, ergeben sich automatisch Schriftbilder von unterschiedlicher Qualität. Nach dem Konzept von J. Reichen sollen trotzdem zu Beginn des Lernprozesses keine schreibmotorischen Übungen an Buchstaben durchgeführt werden. Spezielle Massnahmen für den Erwerb schöner Schriftformen sind erst im Zusammenhang mit der verbundenen Schrift notwendig. 3.3 Weitere Erfahrungen der Versuchslehrerinnen Viele Eltern stehen dem neuen Konzept positiv gegenüber, einige äusserten Befürchtungen betr. Rechtschreibung und Schriftqualität. Eine regelmässige Information der Eltern ist unerlässlich, sie bietet die Chance zu guter Zusammenarbeit. Die wichtigsten Prinzipien von 'Lesen durch Schreiben' müssen den Eltern unbedingt mitgeteilt werden (evtl. zusätzlich ein Merkblatt abgeben.) Es muss verhindert werden, dass die Eltern den Prozess des selbstgesteuerten Lesen- und Schreibenlernens durch unangebrachte Korrekturen und/oder ein falsches Lesetraining stören. Es gilt auch der Meinung vorzubeugen, man lerne mit 'Lesen durch Schreiben' schneller als mit anderen Leselehrgängen: es geht nicht schneller, wohl aber in einem dem Kind angepassten und in diesem Sinne natürlichen Lernrhythmus. " 'Lesen durch Schreiben' eignet sich gut für die Arbeit mit fremdsprachigen Kindern". Dieses Urteil einer Kollegin mit 30% Ausländeranteil in ihrer Klasse wurde auch von anderen Lehrerinnen bestätigt. Die Kinder können sich in ihrer eigenen Muttersprache ausdrücken; die Umstellung auf Deutsch erfolgt erst nach und nach.

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Die gegenseitige Beratung und Unterstützung innerhalb einer Lehrergruppe hat sich als sehr günstig und hilfreich erwiesen. Die Zusammenarbeit unter den Kolleginnen ist unter anderem deshalb von grosser Bedeutung, weil das Bereitstellen von sinnvollen zusätzlichen Lernangeboten eine anspruchsvolle und zeitraubende Arbeit ist. Es konnte festgestellt werden, dass sich bei mancher Kollegin mit zunehmender Erfahrung eine immer positivere Beurteilung des Konzepts von 'Lesen durch Schreiben' ergab. 'Lesen durch Schreiben' verlangt ein intensives Einarbeiten. Um Unsicherheiten aufzufangen und einer möglichen Überforderung vorzubeugen, sollte in einem Einführungskurs die notwendige Hilfe zum Einstieg in die Arbeit mit 'Lesen durch Schreiben' geboten werden. Durch die teilweise grundlegend anderen Unterrichtsprinzipien macht 'Lesen durch Schreiben' auch eine Neubesinnung auf das nötig, was Unterricht und Schule sein kann und soll. 3.4 Erfahrungen im 2. Schuljahr Die Konzeption von 'Lesen durch Schreiben' 'zwingt' jede Lehrerinp auch in den folgenden Schuljahren auf ähnliche Art mit den Kindern zu arbeiten. Verschiedene Ideen von 'Lesen durch Schreiben' lassen sich ohne grosse Probleme auch im 2. Schuljahr realisieren. Zumindest ein Teil des Unterrichts kann als individuelles Arbeiten angeboten werden. Die Rechtschreibkenntnisse der Schüler sind im 2. Schuljahr nicht schlechter als bei traditionellen Lehrgängen. Mit zunehmender Schreibgeschwindigkeit ergeben sich auch mehr Rechtschreibfehler; ein gezieltes Rechtschreibtraining ist nicht zu umgehen. Durch vielfältige optische und akustische Differenzierungsübungen werden die Schüler auf Besonderheiten in unserer Hochsprache aufmerksam. Auch im 2. Schuljahr stehen individuelle Lernprozesse im Vordergrund. Es ist erfreuliche welche Fähigkeiten zum Verfassen eigener Texte die Schüler am Ende des 2. Schuljahres zeigen. Auch ihre Freude am Schreiben und am Lesen und die in hohem Masse vorhandene Fähigkeit, das Gelesene auch zu verstehen, dürfen als gute Ergebnisse dieser Methode gewertet werden. 3.5 Erfahrungen aus anderen Kantonen 'Lesen durch Schreiben' wird seit Jahren in verschiedenen Kantonen der Schweiz verwendet. In den Kantonen Uri, Schwyz, Zug, Obwalden, Nidwalden, Solothurn, Zürich ist es gestattetes Lehrmittel. Die Zulassung wird geprüft in Basel-Land und Bern. Nicht zugelassen ist 'Lesen durch Schreiben' in den Kantonen Aargau, St. Gallen, Freiburg und Basel-Stadt, wobei die (jeweils unterschiedlichen) Gründe für die Ablehnung nicht in der Qualität des Lehrgangs liegen. Die Lehrer, die in anderen Kantonen mit 'Lesen durch Schreiben' arbeiten, berichten über ähnliche Erfahrungen wie die Mitglieder der Versuchsgruppe im Kanton Bern: - insgesamt guter Lernerfolg bei den Schülern - grosse Freude am Lesen und hohe Motivation - gute Berücksichtigung des individuellen Leistungsvermögens - viele Möglichkeiten zu selbständigem Arbeiten

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- häufig positives Echo auch bei Eltern und Behörden; teilweise aber auch Konfrontation mit anderen Erwartungen der Eltern

- Auswirkungen auf andere Fächer, auf den gesamten Unterricht - besondere Eignung für Mehrklassenschulen - anspruchsvoller Lehrgang, der ein sorgfältiges Einarbeiten verlangt - keine Hinweise auf eine Verschärfung des Legasthenieproblems - keine Hinweise auf schlechtere Rechtschreibleistungen in späteren Schuljahren Im allgemeinen kann festgestellt werden, dass sich der Lehrgang in den meisten Kantonen nach dem Schneeballprinzip verbreitet. Wenn er einmal in einem Schulhaus verwendet wird, so dauert es meistens nicht lange, bis auch andere Kollegen und Kolleginnen mit 'Lesen durch Schreiben' arbeiten. In den meisten Kantonen findet eine obligatorische Einführung in den Lehrgang statt. 4. Anträge an die Lehrmittelkommission 1. Aufgrund der positiven Erfahrungen in den Versuchsklassen und aufgrund der ähnlich lautenden Berichte aus anderen Kantonen beantragen wir der Lehrmittelkommission und der Erziehungsdirektion die Aufnahme von 'Lesen durch Schreiben' in die Liste der gestatteten Lehrmittel. 2. Die Liste der gestatteten Lehrmittel ist auf Beginn des Schuljahres 1988/89 entsprechend abzuändern; die Änderung soll noch im Laufe des Jahres 1987 im Amtlichen Schulblatt publiziert werden. 3. Bereits im Schuljahr 1987/88 soll 'Lesen durch Schreiben' von folgenden Lehrerinnen verwendet werden können: - Alle Teilnehmerinnen am Unterrichtsversuch 'Lesen durch Schreiben' - Lehrerinnen, die bereits einen Einführungskurs beim Autor absolviert haben - Lehrerinnen, die nachweisen können, dass sie von einem Mitglied der Kerngruppe 'Lesen durch

Schreiben' persönlich eingeführt und betreut werden. Wir bitten Lehrmittelkommission und Erziehungsdirektion, die Primarschulinspektoren in diesem Sinne zu orientieren. 4. Für die Arbeit mit 'Lesen durch Schreiben' soll der Besuch eines Einführungskurses empfohlen, nicht aber als absolut verpflichtend festgelegt werden. 5. Für LehrerInnen, die gegenüber Kolleglnnen Betreuungs- und Beratungsfunktionen ausüben oder selber Einführungskurse in 'Lesen durch Schreiben' erteilen, ist der Besuch eines Kurses bei J. Reichen unumgänglich. 6. Im Frühjahr 1987 soll im Kanton Bern ein Kurskader 'Lesen durch Schreiben' gebildet werden, damit ab Schuljahr 1988/89 begleitende Kurse der Lehrerfortbildung angeboten werden können. Wir bitten die verantwortlichen Stellen, die nötigen Schritte bei der Zentralstelle für Lehrerfortbildung sobald als möglich in die Wege zu leiten.

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Text-C07 Freinetgruppe Hamburg Nicht nur eine neue Lesemethode Lotte Busch, Gudrun Maaser, Uli Brosch, Werner Haser und Martin Kunstreich, Mitglieder der Hamburger Freinetgruppe, diskutieren über ihre Arbeit mit «Lesen durch Schreiben» (LdS) im Offenen Unterricht. erschienen in: Die Grundschulzeitschrift, Heft 1 / 1987 Lotte: Laßt uns doch mal versuchen, darüber zu sprechen, was der Reiz von «Lesen durch Schreiben» für uns im offenen Unterricht ist. Es haben ja schon viele aus der Hbg. Freinet-Gruppe Lesen ohne Fibel unterrichtet, die jetzt sagen, daß LdS noch einen Schritt weitergeht und dem, was wir eigentlich wollen, am meisten entspricht. Lesen erfolgte früher im Lehrgang ... Werner: ... der Leselernprozeß war dem Lehrer überlassen, er war derjenige, der immer wußte, was für jeden einzelnen Schüler das Beste war. Und von der Unterrichtsorganisation her war es gar nicht möglich, so stark zu differenzieren, daß jeder Schüler seinen Weg erkennen konnte. Die Schüler haben aber verschiedene Lernausgangslagen und sollten ihren individuellen Weg gehen können: das wird durch einen Lehrgang, der für alle gleichzeitig da ist, unmöglich gemacht. Also Prinzip Rasenmäher: man macht sich so klein oder läßt sich so kürzen, daß man das überlebt und sich seinen eigentlichen Lernprozeß woanders ermöglicht oder die Schule stellt sich um und ermöglicht es den Schülern an Ort und Stelle, ihren eigenen Weg zu finden. Uli: Obwohl in der Methodik immer gesagt wird, Du sollst differenzieren. Also im Idealfall hast Du eine Binnendifferenzierung bis zu 15 Untergruppen oder Niveaus hin. Was mich daran stört, ist, daß ich es immer bin, der die «Niveaus» bestimmt und sagt, was die Schüler machen sollen. In diesen Planungskonzepten muß ich alles vorher wissen, alles vordenken, dabei sollten die Schüler das doch selbst ihren Interessen gemäß herausfinden, erarbeiten und suchen. Das, denke ich, ist eben etwas anderes als Binnendifferenzierung. Ich kam mir immer vor wie ein Entertainer, eine Mischung aus Frank Sinatra und altem Pauker, der toll vorsingt und die Television ersetzen muß, damit sie alle gucken, und andererseits mit der Peitsche verhindern muß, daß sie alle rauslaufen - das hat mich auf die Dauer fertiggemacht, diese Rolle. Und die Energien, die man verbraucht, um die (5 oder 7) Kinder zu fesseln, die in dem Moment, wo ich es will, etwas nicht machen wollen - das ist eigentlich blödsinnig! Jede Lust geht verloren. Lotte: Und die Lernausgangslage wird überhaupt nicht beachtet. Der Lehrer bestimmt z. B. wann welches Kind welchen Buchstaben lernen darf. Die Klasse darf zum nächsten Buchstaben erst fortschreiten, wenn der vorige «gekonnt» ist, und welche Voraussetzungen Kinder vielleicht mitbringen, ob sie das ganze Alphabet im Kopf haben oder schon selbst lesen können oder auf einer Vorstufe zum Lesen sind - das interessiert gar nicht! Wir haben Beispiele von Kindern, die lesen konnten, das aber in der Schule versteckten, weil man es da noch nicht können darf. Gudrun: Ja, oder noch schlimmer, daß Kinder lesen können und trotzdem meinen, sie könnten nicht lesen, weil sie so, wie in der Schule «gelesen» wird, nämlich ganz langsam, lautierend, weil sie das nicht «können», ohne zu wissen, daß sie längst einen Schritt weiter sind.

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Lotte: Genau. Gudrun: Noch mal zu dem, was ihr zur Binnendifferenzierung gesagt habt, daß man da alle Wege und alle Möglichkeiten für die Kinder schon vorausgedacht haben muß: Ich hab' gerade beim Lesenlernen, sowohl bei meinem eigenen Kind als auch bei Kindern in der Klasse gemerkt, daß ich die Wege und Möglichkeiten, die die Kinder für sich gefunden haben, gar nicht alle kannte. Also kann ich sie auch nicht vorausdenken. Und das ist das, was für mich wichtig war: Material zu finden, das den Kindern die Möglichkeit gibt, ihre Wege zu gehen. Martin: Das führt mich noch mal zurück zu der Frage, warum ich den «Reichen»-Lehrgang benutze: Ich habe zum ersten Mal eine 1. Klasse, vorher hatte ich eine Vorschulklasse, und habe da sehr spontanen, freien und offenen Unterricht gemacht. Danach hatte ich den Wunsch, so weiterzumachen und keinen Bruch entstehen zu lassen, hatte dann aber natürlich unheimlich Angst davor, viele Sachen falsch zu machen. Von daher bin ich auf «Lesen durch Schreiben» gekonnnen und dachte am Anfang, das ist mein Netz, das ich brauche, um nicht abzustürzen, bin aber im Laufe der Arbeit immer mehr darauf gekommen, daß das Prinzip, das hinter «Lesen durch Schreiben» steht, dem entspricht, was ich selbst auch will, nämlich daß nicht ich den Kindern vorschreibe, wie sie zu lernen haben. sondern daß jedes Kind für sich selbst im Rahmen dieses Lehrganges seinen eigenen Lehrgang, sein eigenes Fortschreiten entwickeln kann. Lotte: Ich hatte ja schon 6 Jahre offenen Unterricht gemacht, als ich diese Klasse anfing, und als ich das Material ein halbes Jahr vorher gelesen hatte, da wußte ich, daß das genau das war, was ich immer gesucht hatte, und zwar weil das Material die Möglichkeit gibt, das Kind wirklich kompetent zu machen; weil Du eigentlich nichts anderes tust, als den Kindern die Möglichkeit an die Hand zu geben, ihren eigenen Weg zu gehen. Es werden keine Buchstabenhäppchen zugeteilt, die sie schlucken dürfen, sondern sie können arbeiten an dem, was sie wollen, und ob sie zuerst das Wort «Lokomotivführer» oder zuerst «Hut» schreiben, ist ihrer eigenen Entscheidung überlassen. Uli: Sie lernen selbstgesteuert. Es ist eben nicht so, daß Kinder lesen lernen darüber, daß sie Laute aneinander reihen, das ist so, als wenn wir in irgendeiner Fremdsprache die Lautabfolge so sprechen, wie wir denken, daß es sein müßte, aber was das heißt, wissen wir nicht. Lotte: Ich kann mich genau an mich erinnern, als ich im 1. Schuljahr war. Ich saß am Küchentisch, meine Mutter daneben, und sollte irgend etwas aus der Fibel vorlesen. Die meisten Wörter kannte ich wahrscheinlich, das ging relativ flott,und dann kam ich an ein mir unbekanntes Wort und hab immer lautiert: «u», «n», «d», «u», «n», «d», und meine Mutter sagte: «und», und ich habe dieses «und» - ich weiß es ganz genau - interpretiert als «und -, was heißt das nun?» und fing wieder an«u», «n», «d», und das wiederholte sich, meine Mutter, steigend gereizt, «und»?, so daß meine Interpretation der Sache immer wahrscheinlicher wurde, bis sie irgendwann sagte: «Kind, da steht «und».» Das ist genau das, was Du sagst, Uli, und es ist ja im Grunde auch bekannt, daß ein Kind nicht auf die Weise lesen lernt oder wir alle nie so lesen lernten, daß man aus der Synthese nie zum kompetenten Lesen kommt, wir alle sind trotz dieser Syntheseübungen zum Lesen gekommen und

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wahrscheinlich auf genauso unbegreifliche Art und Weise, wie die Kinder bei «Lesen durch Schreiben» plötzlich lesen können. Nur da weiß man: man hat sie nie lesen gelehrt, also scheint es unbegreiflich. Bei den herkömmlichen Lehrgängen sind wir alle der Meinung, wir haben ihnen beigebracht, dies ist ein «u», dies ist ein «n», dies ist ein «d» und dann muß man ihnen nur noch zeigen, daß man die drei aneinanderzieht, und dann ist das Wort da, und auf die Weise wird gelesen. Aber das stimmt nicht! Uli: Darum haben auch soviele Kinder soviele Schwierigkeiten - besonders in den Sonderschulen, auch wenn sie die Synthese in der Technik beherrschen, jemals bestimmte Wörter herauszubekommen. Das ist ja wirklich ein ganz immenses Problem, das geht ja dann bis ins 9. Schuljahr durch, daß die Kinder einfach nicht lesen. Und die große Anzahl der Analphabeten, die wir so verdeckt auch hier in der BRD haben, die liegt auch mit daran, daß sie zwar alle irgendwann einmal eine Lesetechnik erlernt, aber daß sie eigentlich nie «lesen» gelernt haben in dem Sinne, daß sie für sich etwas lesen. Ich erlebe das z. B. jetzt am Ende des 1. Schuljahres, da kam die Lehrerin, die die angehende 2. Klasse hatte, und sagte: «Ich hab da welche, die wiederholen müssen, ich möchte gerne, daß sie zu Dir kommen; die Fibel können sie ja auswendig, bei Dir müssen sie noch mal lesen lernen.» Lotte: Also haben wir «Lesen durch Schreiben» gewählt, weil das in den offenen Unterricht paßte, wir haben aber schon den offenen Unterricht gewählt, weil uns Dinge aufgegangen sind, die eigentlich zwingend dazu führten, etwas anderes zu machen. Martin: Ja, auch die Erkenntnis, daß nicht der Lehrer den Kindern das Lesen beigebracht hat. Unsinn, die Kinder haben es sich selbst beigebracht, auch bei dem Fibel-Lehrgang, nur hat der Lehrer da eben oft noch die Illusion gehabt, er habe ihnen das alles beigebracht. Und bei uns ist es jetzt ganz offensichtlich geworden. Der Stolz der Kinder, wenn sie anfangen zu schreiben! Sie wissen, dies habe ich mir selbst beigebracht, dies ist mein Produkt! Wer lernt von wem? Lotte: Das ist ja der unglaubliche Reiz von LdS auch für uns: zu sehen, wie die Kinder werden, ihre Sprachkompetenz, ihre Schreib- und Lesekompetenz, wie das wächst, wie das zurückstrahlt, auch auf uns. Es ist nicht mehr die Mühsal mit der Disziplinierung eines wilden Haufens. Du flitzt zwar durch die Klasse wie angestochen, aber weil du gebraucht wirst, und du bist nicht der, wie du vorhin geschildert hast, der mit dem Knüppel oder mit der Kasperpuppe dasteht, um sie auf ihren Plätzen zu halten. Martin: Es ist zwar auch oft mühsam, aber nicht, weil es frustrierend ist, denn es ist immer unheimlich sinnvoll mühsam. Lotte: Ja. Martin: Weil jedes Kind, das zu Dir kommt und Dich nervt, daß Du manchmal meinst, Du müßtest 3 Köpfe haben, jedes Kind will wirklich etwas von Dir.

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Lotte: Ja. Und wenn es sich ausschaltet, hat es auch seinen Grund dafür. Uli: Also das ist auch so'n Punkt: dieser Wahnsinn, zu meinen, daß alle Kinder zum selben Zeitpunkt dasselbe wollen. Und daß die wirklich Zeit brauchen, weiß ich was, wenn Du'n schlechtes Wochenende hattest, mußt Du eben am Montag mal bummeln können, das Lernen geht nicht nach irgendwelchen vorgegebenen Rhythmen! Und das erleben wir an uns ja auch, dann gehen wir hin und sagen: heute haben wir eigentlich überhaupt keine Lust oder so etwas. Lotte: Wir erleben das pausenlos an uns und ziehen keine Konsequenz. Gestern auf der Schulanfangstagung haben alle Kollegen gestöhnt, nachdem sie 1½ Stunden stillgesessen hatten. Und alle Kollegen, die irgendwo Fortbildung machen, erzählen das immer wieder. Aber von den Kindern, von diesen Winzlingen mit ihren kleinen Wirbelsäulen, da wird das verlangt. Wir wissen alle, daß in unserem Unterricht Kinder 90 Minuten und mehr an einer Sache arbeiten, wenn es sie interessiert,. aber sie schreiben im Sitzen, Knien oder Stehen - wen stört es es! Martin: Also ich habe oft LdS zwischendurch auch frontal gemacht, wenn ich mir meiner Sache ganz unsicher war und habe die Erfahrung gemacht, daß sie das auch mitmachen, klar, aber mit etwa nur 20 % der Energie und des Resultats, als wenn sie es sich selbst geholt haben. Sie brauchen einen Bruchteil der Zeit, um es zu verstehen, wenn sie selbst entschieden haben: jetzt will ich das machen und will das rauskriegen, und es bleibt haften, und wenn ich es von ihnen verlange, bleibt es nicht haften. Da ist für mich noch mal ein ganz entscheidender Unterschied zum sehr ausdifferenzierten Unterricht, weil da doch selbst das, was alles so schön differenziert und portionsweise gerecht den Schülern zubereitet wird, nicht von den Schülern selbst kommt, sondern vom Lehrer zugeteilt wird. Uli: Und es unterstellt, daß Du die Kinder so genau kennst, daß Du wirklich in jedem Moment einschätzen kannst, was das Kind will oder braucht. Und Du fragst gerade nicht danach, was das Kind dazu sagt, was das Kind gerade möchte. Lotte: Es ist auch nicht das Kind, das das braucht. Martin hat das eben gesagt, es ist der Lehrer, der das braucht. Ich hab' es genauso gemacht, Martin. Wenn ich das Gefühl hatte, sie müssen jetzt mal dies und das lernen, dann hab' ich Frontalphasen gehabt - sehr häufig nach den Ferien, wenn ich die Kinder nicht vor Augen hatte. Dann waren die Kinder ganz woanders, und es ist häufig schiefgegangen. Es sei denn, es war nicht meine Angst, meine Unsicherheit, sondern das richtige Gefühl, eigentlich laufen sie sich jetzt tot, und es muß etwas Neues kommen, und hab' das zu einem guten Zeitpunkt gemacht, ruhig mal mit allen zusammen oder mit der halben Klasse, da ist der Funke auch übergesprungen. Aber wenn mein Frust die Ursache war, dann ... Uli: Aber es ist 'ne ganz schöne Forderung, daß man die Sachen nicht an sich reißt, sondern wartet, bis die Kinder das machen. Das war eigentlich mit am schlimmsten für mich, mich so umzustellen und darauf zu warten, daß die Kinder das machen. Und immer so im Kopf zu haben: das mußt Du schaffen, und dann ist schon wieder der Tag rum, und es ist nichts gelaufen, denkst Du, es läuft natürlich unheimlich viel, aber das weißt Du oft nicht. Diese verinnerlichten Anforderungen, die haben mir irgendwie ganz schön ...

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Martin: Da haben mir «meine» Eltern manchmal geholfen. Ich hab' so'n paar wirklich unheimlich gute Eltern bei mir in der Klasse, die mir erzählt haben, daß ihre Kinder auch so in Zeiten, wo ich das Gefühl hatte, die tun überhaupt nichts, unheimlich geschafft nach Hause gekommen sind, also geschafft im positiven Sinn, wo man richtig gemerkt hat, die waren einfach abgearbeitet, und da wurde mir dann auch klar: Da läuft soviel, was man gar nicht merkt! Ich denke auch, dasselbe ist dieser Punkt mit der Kontrolle: Ich will das mal an einem Beispiel sagen: Ich hab mir eine Zeit lang sehr viel Mühe damit gegeben, jede einzelne Arbeit, die die Kinder gemacht haben, einzusammeln, mit nach Hause zu nehmen und irgendwie zu bewerten oder einzuordnen, habe Listen angefertigt und so was. Ich hab' dann Zeiten gehabt, in denen ich das einfach nicht geschafft hab' und ich muß sagen: in dieser Zeit, auch über Wochen lang, habe ich denselben guten oder schlechten Überblick gehabt. Gudrun: Das ist doch aber überhaupt das, was eigentlich keiner hat. Das, was jemand hat, jetzt aufs Lesen bezogen mit einem Leselehrgang, ist ein Pseudo-Überblick. Das ist so'n Gerüst, hinter dem Du Dich verschanzen kannst. Du meinst, wer Blatt Nr. 75 hat, ist so und so weit, und wer erst Blatt Nr. 23 hat, ist so und so weit, und das, was im Grunde läuft, wenn Du «offen» arbeitest, ist nur, daß Du dieses Gerüst wegkippst. Und dann kannst Du Dich nicht mehr dahinter verstecken und dann erfährst Du intensiv (und das bedroht Dich). daß Du die Kontrolle nicht hast. Lotte: In Deinem Beispiel bist Du ja schon bei einem zumindest differenzierten Unterricht. Aber Du hast die Kontrolle auch nicht beim Frontalunterricht. Nur kann man sie sich so herrlich einbilden. Man schreibt in den Arbeitsbericht: Heute ist das «a» durchgenommen worden und gestern war's das «i», und dann bist Du der Meinung, so weit ist die Klasse, hast ja sorgfältig gearbeitet. Sie sind aber natürlich nicht alle so weit, und dann heißt es, die Kinder sind zu dumm oder zu unreif ... Gudrun: Wir haben bei uns in der Schule 'ne ganze Klasse gehabt, die nach einem solchen Lehrgang nach 2 Jahren noch nicht lesen konnte. Uli: Das provozieren die Lehrgänge aber doch, weil die mit einem minimalen Wortschatz auskommen, der sich ständig wiederholt und schematisch immer wiederkehrt mit kleinen Variablen, ich denke, bei den Kindern, die das nicht auswendig lernen und die das wirklich lesen, mühsam versuchen zu lesen, da muß man nachdenken, warum die das eigentlich machen (lacht). Martin: Ja, da wird 'ne lebendige Sache totgemacht, synthetisiert, wirklich. Gudrun: Das ist der Unterschied zwischen einem Fibel-Leselehrgang und «Lesen durch Schreiben»: ein Leselehrgang, egal wie er ist, auch wenn man da viel differenziert, stülpt im Grunde den Kindern einen Rahmen über, innerhalb dessen sie sich ausdrücken «dürfen». Uli: Mit Ausdruck ist da nicht viel ... Gudrun: Ausdruck insofern,als sie die Wörter, die der Lehrgang vorgibt, dann auch irgendwann anfangen abzupinseln, und das gehört ja dazu. Lotte: Das ist doch aber kein Ausdruck!

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Gudrun: Pseudo! Das ist nicht der Ausdruck der Kinder, sie spielen damit innerhalb des vorgegebenen Rahmens herum. Lotte: Kein Kind spricht so! Gudrun: Das meine ich ja gerade. Ich meine, daß ein Lehrgang die Kinder daran hindert, sich so auszudrücken, wie sie sich bereits ausdrücken können. Sie jonglieren mit einer Sprache, die überhaupt nicht ihre Sprache ist. Und ein offener Ansatz, der gibt ihnen die Möglichkeit, sich da, wo sie sind, auszudrücken, und von da aus weiter fortzuschreiten. Lotte: Das Tragische ist ja, daß dieser Wortschatz, der für 6-7-jährige Kinder wirklich eine Beleidigung ist, durch die vielen Wiederholungen so «festgeklopft» wird, daß sie dann monate- und jahrelang in ihrer Privatkorrespondenz noch genau diesen Wortschatz haben. Kein Kind sagt im Präsens: X ruft Y. Das könnt ihr nie hören. Ein Kind spricht im Perfekt und sagt: Max hat ganz laut geschrien, weil Peter kommen sollte, und der hat überhaupt nicht gehört. Martin: Und das Schlimme daran ist, die Kinder lernen, das ist Lesen! Das ist Schreiben! So muß man es machen! Und deshalb kommt auch diese große Diskrepanz, das ist ja oft eine schizophrene Spaltung zwischen dem, was die Kinder untereinander sprechen und sich an Lebendigem noch erhalten und diesem wirklich toten Lesen, und es ist kein Wunder, daß dann niemand mehr lesen will. Lotte: Und im 3. Schuljahr kommt dann der Aufsatzunterricht, der den Kindern beibringt, daß man nicht zweimal dasselbe hintereinander sagt, nicht aneinanderreiht, nicht wiederholt das hat man ihnen aber im 1. Schuljahr mühsam eingebleut. Werner: Dagegen ist «Lesen durch Schreiben» Aufsatz-Erziehung vom 1. Tag an. Martin: Genau. Ich denke, daß viele Grundschulkollegen die Kinder unterfordern. Das Schreiben ist doch nicht nur das Ab- oder Nachschreiben von irgendwelchen Wörtern, die da im Lesen auftauchen. Alles, was die Kinder auf dem Herzen haben und eigentlich mitteilen wollen, ist früher bei mir immer nach den Stunden gelaufen. Die Pausen waren am interessantesten, da kamen sie dann alle und haben auf mich eingeredet und wollten mir was erzählen, und wenn man das jetzt in den Unterricht reinnimmt, dann muß man zwangsläufig dazu kommen, daß sie das aufschreiben. Werner: Ich will nochmal auf den Rasenmäher zu sprechen kommen und auf das, was Gudrun sagte: Der Fibel-Lehrgang unterfordert nicht nur viele Kinder, sondern überfordert auch, gerade weil er das Mittelmaß darstellt. In meiner Klasse waren einige Schüler, die durch den Fibel-Lehrgang überfordert gewesen wären, weil sie noch nicht reif waren, diesen Lehrgang anzugehen, ob das nun Ausländer waren oder Deutsche, das spielte keine Rolle, weil sie einfach noch nicht dieses Sprachverständnis hatten. Lotte: Die überforderten Kinder, die haben wir alle immer gekannt, auch die Fibelautoren und die mit Fibeln arbeitenden Kollegen. Das sind die Kinder, die wiederholen müssen, die zu «dumm» sind, und die bestenfalls mit Förderstunden, viel Hausarbeit und häuslicher Hilfe hinterhergezogen werden. Unbekannt waren eigentlich eher die unterforderten Kinder.

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Uli: Oder sie haben Schrecken verbreitet ... Alle: Genau. Lotte: Ich meine unbekannt in der Weise, daß die Ursache nicht gesehen wird. Wenn die Klasse am 1. Schultag ein Fibelwort von der Tafel abschreiben „darf“, daß da einige sind, die das Wort von links nach rechts schreiben, das haben immer alle gewußt, aber daß einige wirklich keinen 2. Tag gern in die Schule gehen, weil sie da etwas machen «dürfen», was sie lange vorher zu Hause konnten, das sehen so wenige! Reichen dagegen schafft in der Klasse vom 1. Tag an «eine Atmosphäre des Lesenkönnens» was für ein Unterschied! Und das war für mich auch ein Reiz von «Lesen durch Schreiben»: Ich hatte 2 Kinder, die lesen konnten, die haben nicht «gestört», die konnten Texte schreiben, außerdem konnten sie natürlich drucken! Das waren die ersten, die gedruckt haben. Werner: Und die haben eine große soziale Funktion gehabt ... Lotte: Ja, natürlich, das kommt dazu. Den Kindern das Wort geben Gudrun: Also, in mir spukt die ganze Zeit dieser Satz herum: «Den Kindern das Wort geben», und ich versuche, den Unterschied herauszufinden. «Lesen durch Schreiben» ist für mich eine Form davon, weil ich denke, daß sie ganz, ganz bald die Möglichkeit haben, das Wort selbst zu ergreifen, und zwar ihre Wörter. Und ein Lehrgang ist was anderes. Ein Lehrgang heißt: den Kindern Wörter häppchenweise zuteilen, ohne zu beachten, daß es Wörter gibt, die für das eine Kind immense Wichtigkeit haben und für das andere überhaupt nicht. Uli: Aber die Wörter in der Fibel sind doch zum großen Teil sinnentleert ... ich habe mir das gerade im Hinblick auf meine zukünftige Klasse, bevor ich ins 1. Schuljahr gestartet bin, noch mal genau angeguckt und hab' einfach aus dem Grund gesagt: das kommt nicht in Frage, der Wortschatz an sinnvollen, bedeutungsvollen Wörtern ist bis mindestens Ostern fast gleich Null. Das setzt sich zusammen aus «ruft» und Eigennamen, reduzierten, verstümmelten Sätzen und das ist alles. Ich habe 90 % ausländische Kinder, die noch Deutsch lernen müssen, die können das mit diesen Wörtern nicht. Und wenn sie beim Deutschlernen möglichst auch vernünftig sprechen lernen sollen, nicht diese schrecklichen, abgehackten Sätze, wie sie in der Fibel stehen, dann kommt so was überhaupt nicht in Frage. Oder die Kinder müssen schizophren werden, denn im Lesen lernen sie das eine, und wenn sie «Sprecherziehung» haben, lernen sie das andere. Das geht doch gar nicht! Lotte: Aber das ist interessant, Uli, Du sagst, die ausländischen Kinder müssen schizophren werden. Aber unsere doch auch! Die kommen mit 6 Jahren Spracherfahrung dahin und sollen plötzlich diese Sprache akzeptieren als irgendetwas Besonderes, da werden dann Stunden zelebriert, die sollen den Kindern Spaß machen, damit sie ein Sprachniveau akzeptieren, das sie mindestens 3 Jahre abgelegt haben, wenn sie's je gehabt haben. Uli: Das ist Zweijährigen- oder Dreijährigenniveau teilweise ...

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Lotte: Nein, die sprechen auch nicht so, die sprechen auch nicht ... Gudrun: Vor allem, was der Unterschied ist: mit Zwei- oder Dreijährigen sprichst Du nicht so, das ist, denke ich, ein ganz entscheidender Punkt. Das ist doch total verquer: Keiner setzt sich hin und meint, jetzt ist ein Kind so und so alt, jetzt «darf» es eine Woche lang das Wort «Mama» lernen, weil es das schon hinkriegt. Lotte: Erst «Ma»! Gudrun: Ja, danach kommt «Mama», und die nächste Woche kommt «Papa» dazu, und so wird das häppchenweise weitergemacht, und so lange redet man mit ihm möglichst auch auf diesem Niveau. Aber man redet mit den Kindern ganz normal, und sie erwerben dann dabei die ganze Sprache. Ja, und beim Lesenlernen, da sollst Du das völlig anders machen! Uli: Noch schlimmer finde ich es, wenn ich das aufs Schreiben beziehe, wenn ich sage, Schreiben ist vielleicht so kompliziert wie für die Kleinen das Essenlernen. Da setze ich mich ja auch nicht hin und lasse sie erstmal einen Monat lang mit dem Löffel ohne irgendetwas im Teller üben, bis ich meine, sie könnten ihn richtig halten. Alle: Gelächter Wer fürchtet sich vor wem? Martin: Ich habe ein türkisches Mädchen in der Klasse, das nicht spricht, weil sie Hemmungen hat. Bei ihr war das so frappierend, was in ihrem Kopf so abgelaufen ist, sie hat die ganze Zeit irgendwie mitgearbeitet, und plötzlich hat sie das rausgehabt, obwohl sie nicht gesprochen hat, sie hat nur «ja» oder «nein» gesagt in der Klasse, plötzlich hat sie angefangen, eigene Sätze zu schreiben, in ihrem eigenen Kopf ist das vorgegangen. Und dann hat sie eben nicht «ruft» geschrieben, sondern dann hat sie geschrieben - ach, als ich den Test mit ihnen gemacht hatte, da waren einige ganz schnell fertig, sie auch, und dann habe ich gesagt: nun dreht's mal um und schreibt hinten drauf, was Ihr gut findet und was Ihr schlecht findet in der Schule, und dann hat sie draufgeschrieben - das müßt Ihr Euch mal vorstellen - also gut findet sie dies und dies und dies, den Lehrer und die Schule überhaupt und so, und was sie schlecht findet, da schreibt sie drauf: ich spreche nicht. Lotte: Das zieht einem die Schuhe aus ... Martin: Ich kann mir vorstellen, wenn ich einen Lehrgang gemacht hätte, hätte ich dafür verbundene Augen gehabt. Lotte: Ja, das ist es eben, all das, was wir früher unterdrückt haben, kommt jetzt an die Oberfläche. Martin: Ich hab' noch nie soviel gelernt wie in diesem Jahr, was wirklich in den Kindern vorgeht. Ich denke, ich hab' da auch noch mal so ne Bestätigung zurückgekriegt, ich hab' mir sehr viel Mühe mit den Berichten gemacht, also mit den Zeugnissen, die ich geschrieben habe und habe von den Eltern viel feedback gekriegt, z. B., das hätten sie noch nie erlebt, daß ein Lehrer ein Kind so gut kennt, so gut wie die Eltern selbst.

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Lotte: Genauso, wortwörtlich, hab' ich's auch gehört, und das wäre früher nicht passiert. Dieses Kennenlernen haben wir ja geradezu ausgeschaltet mit Frontalunterricht, als ob wir uns davor gefürchtet hätten. Uli: Das hängt auch mit diesem Kontrollbedürfnis zusammen, weil man doch auch verlernt, Vertrauen zu entwickeln. Martin: Das geben ja die meisten bei den Regeln zu, aber beim Lernen nicht, weil sie da auch irgendwo ein Stück ihrer eigenen - scheinbar ihrer eigenen Macht als Lehrer aufgeben müssten. Du setzt Vertrauen in den Lernwillen der Kinder in dem Moment, wo Du meinst, daß Du das zulassen kannst, daß Du es nicht mehr nötig hast, sämtliche Fäden als Animateur in der Hand zu haben. Uli: Was Eltern bei ihren Kindern immer feststellen und auch akzeptieren, daß Kinder Sprünge machen und daß es nicht so wie auf der schiefen Ebene kontinuierlich nach oben geht - plötzlich in der Schule soll's nicht mehr gelten. Da wird ganz kontinuierlich aufgebaut und alle müssen das in dem Maße auch mitmachen, daß Kinder aber mal 'nen Sprung machen und dann wieder anscheinend überhaupt nichts passiert - und das bei jedem Kind zum anderen Zeitpunkt - dem muß man doch irgendwie Raum geben, das ist doch, wie Kinder sich wirklich entwickeln! Und wenn man sie sich entwickeln lassen will, muß man für diese Sprünge und dafür, daß sie auch Zeit brauchen, daß sich das vorbereitet usw., auch Platz und Raum geben! Lotte: Warten, bis sie lernen, von sich aus zu schreiben, sich selbst mitzuteilen ... Martin: Und was sie alles schreiben ... Uli: Für sich selbst aufschreiben kommt später, oder wie ist das? Lotte: Viele Kinder schreiben Tagebücher bei mir. Gudrun: Viele Kinder haben bei mir Gedichte gesammelt, auch abgeschrieben. Im 3. und 4. nachher habe ich viele Kinder gehabt, die sich zu Hause hingesetzt haben und auch in der Schule, wobei ihnen die Zeit in der Schule nie gereicht hat, die haben ganze Romane geschrieben, ellenlange Fortsetzungsgeschichten mit Bildern dazu, für die war völlig klar: später schreibe ich mal Bücher, ich werde Schriftsteller oder Schriftstellerin. Einfach so durch die Erfahrung, was ich aufschreibe, was ich zur Verfügung stelle, wird ernstgenommen, hat Wichtigkeit. Werner: Schriftsteller Patrick in meiner Klasse erfindet auch am laufenden Meter Geschichten. Martin: Ich denke schon, daß da die Verbindung ist zu dem, was Du vorhin gesagt hast, Werner. Ich finde schon, daß das in «Lesen durch Schreiben» auch angelegt ist in diesem Vorgehn, daß die Kinder offen werden, ihre eigenen Fähigkeiten auch wirklich zu entwickeln. Wenn sie dafür ein Faible haben, logisch zu denken, dann können sie das darin entwickeln, wenn sie eher gemütvoll sind, können sie das genauso, sie können schriftstellerische Fähigkeiten entwickeln und ausbreiten, sie können in naturwissenschaftlich-logischen Sachen weiter voranschreiten.

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Uli: ... kreative, technische, mathematische ... Martin: ... ich denke, daß das allseitig ist, daß da 'ne Grundlage für 'ne allseitige Entwicklung gelegt wird. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß viele Lehrer sagen, Mensch, das ist ja toll, was Ihr da macht, auch was Ihr darüber erzählt, aber ich könnte das nie! Ich weiß eigentlich nicht, woran das liegt. Uli: Am mangelnden Vertrauen zu sich selbst. So wie sie Kindern vielleicht nicht zutrauen, daß sie was können, trauen die Kolleginnen und Kollegen sich nicht zu, daß sie das können. Sie glauben, sie brauchen die Fibel, um sich sicher zu fühlen. Sie suchen den «Balken». Martin: Ein synthetisches Schlüsselwortverfahren scheint dieser Balken zu sein. Aber im Grunde ist das ein ganz großer Irrtum, das muß doch irgendwie mal ganz klar werden. Uli: Aber viele wissen, daß es ein Irrtum ist ... Lotte: Sehr, sehr viele ... Martin: Ja, daß es wirklich viel wichtiger ist, sich darauf zu besinnen, daß man Zugang zu den Kindern haben muß, Geduld haben, daß es unheimlich spannend ist, die Kinder sich entwickeln zu lassen und da zuzugucken, und daß dann die Angst nicht mehr so groß ist, wenn einem klar ist, daß dieser scheinbare Balken, an dem man sich festhält, kein Balken ist, sondern ein Bleigewicht, das einen nach unten zieht. Uli: Gerade, wo Du Geduld sagst: wenn ich denke, wieviel vergeudete Geduld aufgebracht wird, Kindern nach einer Fibelmethode eine halbe Stunde lang die Synthese eines ganz bestimmten Wortes einzubleuen, die man wirklich so sinnvoll nutzen könnte, wenn man mit der Buchstabentabelle dem Kind hilft, fünf Wörter aufzuschreiben, die es selbst schreiben will. Wenn man sowas mal gegenüberstellt es ist ja nicht so, daß viele Kollegen keine Geduld haben. Ich bewundere das manchmal, wie die sich da hinsetzen können, scheinbar ohne entnervt zu sein, um wirklich immer wieder dasselbe zu machen, sinnentleert oder sinnlos, und sie machen's doch mit einer fast schon masochistischen Geduld: wenn man diese Geduld in einer anderen Weise aufzubringen bereit ist und sich das traut ... Lotte: Ja, Geduld haben viele, Zutrauen nicht. Und Du hast es vorhin gesagt: Wer zu sich selbst kein Zutrauen hat, wie soll der Zutrauen zu Kindern haben. Gudrun: Ja, und das hat viel mit Angst zu tun! Ich hab' vorhin so an mich gedacht. Als ich in die Freinet-Gruppe gegangen bin, war das der Punkt, an dem ich gemerkt hab', ich will mir den Teppich unter den Füßen immer weiter wegziehen, stückweise war ich sowieso längst dabei, aber da entstehen bei mir Ängste. Und mit diesen Ängsten komm' ich nicht unbedingt alleine klar, dazu brauche ich Leute, die das ähnlich machen, und mit ihnen gemeinsam kann ich dann mit diesen Ängsten leben. Ich bin sicher angstfreier als viele, die sich diese Arbeit überhaupt nicht zutrauen, nur ich hab' - und ich denke, das machen wir vielleicht nicht oft genug deutlich - ich hab' dennoch meine Angst. Aber ich hab' durch die Kinder und mit den Kindern auch gelernt, mit diesen Ängsten, die immer wieder besonders zu Anfang des Schuljahres mehr oder weniger stark auftauchen, zu leben.

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Uli: Und diese Angst führt zu der fürchterlichen Pädagogik der verschlossenen Türen. Wenn Du irgendwann mal reinkommst zu Kollegen, wie die innerlich und äußerlich zusammenschrecken, nur weil Du als Kollege da reinkommst, bringst was oder fragst was, und es bricht alles zusammen. Und wie sie alle überrascht sind - bei mir steht die Tür offen - warum die Tür offensteht. Oder wenn sie dann gefragt haben nach einem Vortrag: Dürfen wir denn auch hospitieren? Ja, jederzeit gerne, wenn Ihr Freistunde habt oder sonst was ... das können sie nicht begreifen. Werner: Ich denke, viele Kollegen haben Angst vor einer Öffnung des Unterrichts so wie wir das hier diskutiert haben: Öffnung der eigenen Person, der eigenen Rolle als Lehrer, auch Öffnung für die Kinder. Viele Lehrer haben Frust genug, um es zu versuchen, aber sie haben Angst davor, es zu machen, weil sie so fixiert darauf sind, immer das Richtige machen zu müssen. Ich finde, daß man diesen Kollegen wirklich «Lesen durch Schreiben» anbieten kann: es ist ein Halt für jemand, der Angst hat, der meint, er müßte das alles aus seiner eigenen Seele heraus schöpfen - das muß er ja überhaupt nicht!

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Text-C08 Anita Buser/Hans Moser Lesen durch Schreiben erschienen in der Zeitung "Sihltaler" (Ausgabe vom 7. März 1988) Im vergangenen Schuljahr wurden einige Adliswiler Erstklässler auf einem ungewöhnlichen Weg in die Welt des Lesens und Schreibens begleitet. Anstatt mit einer ABC-Fibel, wie es früher allgemein üblich war, arbeitete die Lehrerin Marisa Pacciarelli im Schulhaus 'Werd' nach der Methode 'Lesen durch Schreiben'. Wie es der Name dieser Methode schon vermuten lässt, lernen die Kinder hier zu erst das Schreiben und dann das Lesen. Wir wollten wissen, was die Lehrerin zu dieser Methode bewogen hat und waren neugierig zu erfahren, wie ein entsprechender Unterricht aussieht. Als wir zum ersten Mal in die Klasse kamen, glaubten wir zuerst, die Kinder hätten eine Art 'Freistunde'. Zwar waren alle eifrig in ein Tun vertieft, aber fast alle arbeiteten etwas anderes: Zwei Mädchen und ein Knabe sassen in einer LeseEcke und lasen einander aus einem Büchlein die Geschichte eines entflogenen Wellensittichs - Pieps mit Namen - vor. Ein Mädchen legte mit farbigen Holzwürfeln anspruchsvolle Mosaikmuster nach Vorlage. Vier Kinder spielten eine Art 'mathematisches' Spiel mit verschiedenfarbigen Scheiben, Dreiecken, Rechtecken und Quadraten aus Holz. Mehrere Kinder rechneten, eines mit einem 'umgekehrten' Taschenrechner (der im Leuchtfeld Aufgaben stellte, deren Resultat man eintippen musste). Ein Mädchen malte ein seltsames Tier. Wir hielten es für eine Art 'Meerschweinchen mit Horn', erfuhren dann aber von Sharon, dass das ein 'Kamuffel' sei und Kamuffels seien keine Tiere. Ein weiteres Mädchen - Samantha - beschäftigte sich mit einer Art Zusammensetzspiel, dessen Sinn wir zuerst nicht verstanden. Samantha klärte uns dann aber darüber auf, dass es sich um ein Lernprogramm handle und dass man mit dem Zusammensetzspiel (SABEFIX) die Richtigkeit seiner Lösungen kontrollieren könne. Besonders auffällig waren uns zwei Knaben, die vor einer Schreibmaschine sassen und nach eigenem Bekunden einen 'Kriminalroman' dichteten. Tatsächlich tippten die beiden mit grossem Fleiss - zwar keinen 'Kriminalroman' im erwachsenen Sinn, dafür aber eine handfeste Räubergeschichte vom "berümden Reuber Hozenbloz". Schliesslich entdeckten wir auch noch die Lehrerin. Zusammen mit drei Italienerkindern spielte sie eine Art Lese-Lotto. Dabei ging es nicht nur darum, dass man die aufgerufenen Kärtchen ergatterte, wer ein Kärtchen ablegen wollte, musste zusätzlich in schriftdeutsch etwas über das Kärtchen erzählen, z.B. "Das ist ein Ball. Damit kann man tschutten. ... Tee trinke ich wenig, ich habe lieber Cocci etc." "Auf diese Art und Weise würden wir auch gerne nochmals in die Schule gehen" begrüssten wir Frau Pacciarelli. Sie lachte, und meinte, das sei eben der 'Werkstattunterricht', der zur Methode 'Lesen durch Schreiben' gehöre und einer der Hauptgründe sei, warum sie nach dieser Methode arbeite. Wir wollten das erklärt haben. Zwar waren wir sehr beeindruckt vom Eifer und der Konzentration, mit denen die Kinder arbeiteten, auch über die entspannte und friedliche Atmosphäre, nur war uns schleierhaft, was das alles mit Lesenlernen zu tun haben sollte. "Um das zu verstehen," erklärte uns Marisa Pacciarelli, "muss man wissen, dass die Methode 'Lesen durch Schreiben' von zwei grundlegenden Prinzipien ausgeht, die zu einer Veränderung des Leseunterrichts führen: Zum einen steht der Lehrgang auf der pädagogischen Grundüberzeugung, dass die meisten Kinder aus sich heraus lernfähig und lernbereit sind und

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nicht von aussen dazu angehalten werden müssen; zum andern orientiert er sich an der ungewohnten Auffassung, Lese unterricht sei umso wirkungsvoller, je unspezifischer er sei, d.h. je weniger er sich nur mit Lesen beschäftigt. Im Unterschied zu anderen Lesemethoden, bei denen eine bestimmte Abfolge von Lernschritten vorgegeben ist, geht die Methode 'Lesen durch Schreiben' davon aus, dass Schreiben- und Lesenlernen keine isolierbaren Lernprozesse sind, sondern eingebettet werden müssen in die Gesamtheit aller Lernprozesse, mit denen sich ein Kind auseinanderzusetzen hat. Und deshalb beschränkt sich der Lehrgang nicht auf Lesen und Schreiben im engeren Sinne, sondern umfasst auch mathematische Aufgaben, Arbeiten mit Puzzles und Bauklötzen, Spielen und Basteln usf. Am Anfang lernt das Kind im Unterricht nicht lesen, sondern es lernt, wie man etwas aufschreibt. Das Lesenkönnen entwickelt sich dann als 'automatisches Begleitprodukt' des Schreibens. Die Methode zeigt dem Kind, wie ein Wort in eine L-Au-T-K-E-TT-E zerlegt und danach Laut für Laut bzw. Buchstabe um Buchstabe aufgeschrieben wird. Als Hilfe hierzu erhält jedes Kind eine Bilder-Buchstabentabelle, von der es die zum Schreiben notwendigen Buchstaben abmalen kann und die es so lange benutzen darf, als es will. Mit dieser Tabelle kann dann das Kind von Anfang an alles schreiben, was es zu schreiben gibt, denn es braucht die Buchstaben ja noch nicht auswendig zu kennen - das ergibt sich durch das viele Schreiben mit der Zeit von selbst. Mit dem Schreiben hat das Kind aber auch die Möglichkeit, sein Lernen grundsätzlich selbständig zu betreiben. Die Methode gestattet ein eigenaktives Lernen denn die Kinder können schreiben, was sie wollen - und bewirkt, dass der Lern prozess für jedes Kind individuell verläuft. Zudem wird nicht Lesetechnik vermittelt, sondern eine allgemeine, umfassende Förderung und Erweiterung des Sprachkönnens, der Wahrnehmungs- und Lesefähigkeiten sowie einer disziplinierten Arbeitshaltung (Konzentrationsvermögen und Anweisungsverständnis) stehen im Mittelpunkt des Unterrichts. Der Lehrerin hilft hierbei das Lehrgangsmaterial, das in der Art eines Baukastens gegliedert ist und ein weitgehend offenes Angebot vermittelt - in Form von Arbeitsblättern, didaktischen Spielen, Lesebüchlein so wie Lern- und Übungsprogrammen zum Lern-Kontrollgerät SABEFIX. Um diese Ziele zu verwirklichen und einen entsprechenden Unterricht zu ermögli chen, wurde der Werkstattunterricht entwickelt. Der Werkstattunterricht bietet dem Kind die Freiheit des Arbeitens, fördert seine Selbständigkeit und ent spricht den individuellen Unterschieden in der Entwicklung der Kinder - jedes Kind fährt mit seinem Lernen dort weiter, wo es jeweils steht. Allerdings dürfen Sie jetzt aber nicht meinen, aller Unterricht sei Werkstattun terricht. Es gibt auch bei uns noch immer die gewohnten Stunden, wie Sie sie aus Ihrer Schulzeit kennen. So gehört zum Leselehrgang beispielsweise auch eine Rahmengeschichte mit vier Erstklässlern, die durch den Lehrgang führen: zusammen mit Wolfgang, Manuela, Nadja und Franz erleben meine Schüler die Freuden und Erfolgserlebnis se, aber auch die Ängste und Nöte des 1. Schuljahrs." Hans, der Fotograf meinte: "Da bekommt man ja beinahe den Eindruck, als ob Schule nur noch ein Spass sei." "Ja," bestätigte die Lehrerin, "dieser Eindruck kann aufkommen, aber er trügt. Es gibt natürlich auch bei 'Lesen durch Schreiben' Dinge, welche von den Kindern viel Anstrengung verlangen. Das Hauptproblem ist dabei das sogenannte Lautieren. Ein Kind kann ja eigentlich erst dann BROT schreiben, wenn es vorher das Wort in die einzelnen Laute B-R-O-T zerlegen kann.

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Dieses Lautieren fällt aber vielen Kindern am Anfang sehr schwer. Wir mussten da täglich Lautierungsübungen machen, die von den Kindern viel Aufmerksamkeit, Konzentration und Disziplin erforderten." "Das kann ich verstehen," entgegnete ich. "Mir leuchtet die Methode ein, denn es ist ja nicht einzusehen, warum Kinder, die regelmässig schreiben, nicht mit den Geheimnissen der Schrift vertraut werden sollen. Auch sieht man bei Ihnen in der Klasse, dass die Kinder lesen und schreiben können und es offensichtlich auch gerne tun. Doch würde mich zum Schluss interessieren, wie eigentlich die Eltern reagieren?" "Die meisten Eltern begrüssen diese Art von Unterricht, wenn sie erst einmal das Prinzip dahinter verstanden haben. Am Anfang muss man das natürlich erklären und die Eltern auf einige Punkte hinweisen. So ist es z.B. sehr wichtig, dass auch die Eltern das Kind auf eigene Art lernen lassen. Da der ganze Lehrgang davon getragen ist, dass das Kind in seinen eigenen Lernmöglichkeiten und seinem eigenen Lerntempo, also individuell arbeitet, sollten die Eltern diese Maxime auch zu Hause unterstützen und das Kind auf seine eigene Art lernen lassen. Des weiteren ist es sehr wichtig, dass die Eltern das Kind nicht zum Lesen drängen. Vorallem am Anfang darf man keine Leseleistungen verlangen. Das Kind lernt in der Schule schreiben, nicht lesen. Deshalb kann es zwar bald einmal schreiben, aber noch keineswegs lesen. Ja es kann zunächst nicht einmal das Lesen, was es selbst geschrieben hat. Das mutet Sie vielleicht eigentümlich an, aber es ist durchaus normal. Wer sein Kind unterstützen will, soll es zum Schreiben anregen, nie aber zum Lesen drängen. Man muss warten, bis das Kind von sich aus liest, das Lesen kommt bestimmt. Allerdings - und das ist nun ein dritter Punkt, auf den man die Eltern hinweisen muss - ist das erste Lesen des Kindes ein Lesen 'still für sich' und kein lautes Vorlesen! Laut vorlesen kann es nicht und dazu darf man es ebenfalls nicht drängen. Durch die Methode 'Lesen durch Schreiben' liest das Kind am Anfang immer nur still, weshalb es für das Kind u.U. eine negative Überraschung sein kann, laut für andere lesen zu müssen. In der Schule wird das laute Vorlesen nicht gepflegt, deshalb sollte man dies auch zu Hause nicht tun." Ehe wir uns verabschiedeten, wollten wir von der Lehrerin noch wissen, wie sie zu diesem Leselehrgang kam, der für uns so gänzlich neu war. Wir dachten, Frau Pacciarelli hätte auf irgendwelchen speziellen Wegen vorgehen müssen, erfuhren dann aber: "Ganz normal. Der Lehrgang ist amtlich zugelassen. Ich habe ihn vom staatlichen Lehrmittelverlag wie alle anderen Lehrmittel auch. Jede Lehrerin und jeder Lehrer, die diesen Leselehrgang einsetzen wollen, können das tun." Diese Mitteilung nahmen wir mit Befriedigung auf, denn wir hatten in der Klasse Pacciarelli den Eindruck bekommen, dass ihre Kinder, die mit der Methode 'Lesen durch Schreiben' unterrichtet wurden, ihre Lernfreude ungebrochen behalten haben und voller Entdeckerfreude und Neugierde sind. Wir sehen darin einen wesentlichen Vorteil, denn alles was man selber herausfindet, ist wertvoller für den Lernprozess als die blosse Nachahmung. So möchten wir abschliessend sagen, dass für uns 'Lesen durch Schreiben' eine Methode ist, die das Kind als wichtigste Person im schulischen Alltag respektiert und sich der Idee verpflichtet hat, dass ein selbständiger, sein Handeln und Denken selbst verantwortender Mensch für unsere Welt eine Hilfe ist.

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Text-C09 Rainer Simon Lesen durch Schreiben Bericht über die Erprobung dieses Leselernverfahrens in 10 ersten Klassen des Schuljahres 1988/89 im Rahmen der Regionalen Lehrerfortbildung am IPTS 76 Berichterstatter: Rainer Simon, Seminarleiter, unter Mitarbeit der Lehrerin Frau Angela Kunter, Itzehoe, 4.12.1989 A. Vorbemerkungen Während der erstmalig vom IPTS 76 (Seminar Itzehoe am Landesinstitut für Praxis und Theorie der Schule) in der Woche vom 25.4. bis 29.4.1988 durchgeführten Pädagogischen Tage war ein Teilangebot dieses Fortbildungsprogramms dem Leselernverfahren "Lesen durch ,Schreiben" gewidmet. Sein Autor Dr. Jürgen Reichen aus Basel stellte sein Werk persönlich vor. Dies war der Anstoß zur Erprobung und zur schuljahresbegleitenden Fortbildung der an der Erprobung beteiligten Lehrkräfte unter Mitwirkung des Autors selbst. In sechs Gesamttagungen und zahlreichen Kleingruppensitzungen wurden alle aus der pädagogisch-unterrichtlichen Realisierung des Konzeptes sich ergebenden Fragen erörtert und nach Lösungen gesucht. Die Tagungsreihe bot allen Teilnehmern immer wieder ein Forum, ihre Sorgen und Nöte, manchmal auch Ängste, aber auch ihre Freude an der Arbeit mit "Lesen durch Schreiben" zu äußern, Hilfen zu erhalten und Erfahrungen auszutauschen. Unterstützt durch die Mitarbeit des Autors konnten die Teilnehmer ihr didaktisch-methodisches Wissen und Können sowie ihr pädagogisches Verhalten insgesamt vertiefen bzw. weiterentwickeln. Der vorliegende Bericht faßt die Ergebnisse verschiedener Erhebungsverfahren zusammen und wertet sie aus. Er gründet sich auf persönliche Gespräche, Beratungen in der Gruppe, Gesprächsnotizen, Tonbandaufzeichnungen, schriftliche Berichte und Aufzeichnungen zu Unterrichtshospitationen. Folgende Lehrkräfte waren an der Erprobung in Klasse 1 der Grundschule beteiligt: Karin Bahnsen, GS Leck Helga Bothe. GS Glashütte, Noderstedt Marielene Büchel, GS Bürgerschule, Husum Angela Kunter, GS Flottkamp, Kaltenkirchen Ulrich Lau, GS Schmalfeld Marlies Tepe, GHS Nahe Karin Warming, GS Wrist Christa Wilken, GS Alveslohe Birgit Wysotzki, GS Bad Bramstedt B. Bezug zum Lehrplan 1. Erziehung und Unterricht Das Leselernverfahren "Lesen durch Schreiben" beansprucht, das "individuelle, vom Mitschüler differierende Handeln des einzelnen Schülers ... " 1) als Grundlage des Lernprozesses zu nehmen. "Nicht mehr das Lehren des Lehrers steht im Vordergrund, sondern das Lernen des Kindes." 2) Selbstgesteuertes, entdeckendes Lernen und ein sich öffnender, binnendifferenzierter Unterricht sollen die Arbeit mit "Lesen durch Schreiben" wesentlich bestimmen. Mit dieser allgemeinen

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Zielsetzung entspricht der Lehrgang den pädagogischen Zielen des Lehrplanes Grundschule im Kapitel "Erziehung und Unterricht". 2. Leselehrgang Der Grundschul-Lehrplan Deutsch stellt als übergreifendes Ziel "... die Erweiterung und Förderung der sprachlichen Handlungsfähigke7it des Kindes ... heraus. 3) "Der Sprachunterricht in der Grundschule muß an die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder anknüpfen. "4.) Diese Forderung gilt auch für jeden Leselehrgang, der sprachliche Handlungsfähigkeit, den Umgang mit Texten, das Sprachüben und -betrachten sowie das richtige Schreiben vorbereiten helfen soll. 5) Der Lehrplan zieht als Ausgangsschrift für den Leselehrgang drei Schriftarten in Betracht: Gemischtantiqua, Lateinische Ausgangsschrift und Primaschrift. Als Leselehrverfahren ist das methodenintegrierende (analytisch-synthetische) Verfahren für die Schulen Schleswig-Holsteins verbindlich vorgeschrieben. 6)

Bei "Lesen durch Schreiben" lernt das Kind mit Hilfe einer Buchstabentabelle zuerst das Prinzip des Schreibens und danach das Lesen kennen. Es erwirbt zunächst grundlegende Lautkenntnisse und lernt damit, beliebige Wörter, Sätze und Texte seines Sprachschatzes zu "verschriften", d.h. phonetisch korrekt aufzuschreiben. Wenn das Kind dieses Verfahren beherrscht, führt häufiges Schreiben zum Lesen. Die Methode J. Reichens, gleichsam über geistiges Schreiben, d.h. das Fixieren von Gesprochenem in Buchstaben, die Sinnentnahme aus Texten zu erreichen, verbindet systematisch und von Anfang an analytisches und synthetisches Arbeiten. Sie ist daher in diesem Sinne ein integrierendes Verfahren. "Lesen durch Schreiben" stellt dem Schüler von Beginn an alle Laute und zugeordneten Buchstaben zur Verfügung. So unterliegt der Wortschatz dieses Schreib-Leseunterrichts didaktisch keiner Einschränkung, dies bietet konzeptionell die Chance zu vielseitigem Sprachhandeln. Reichen will die spontane Lesefreude der Kinder steigern, sie zu häufigem und zunehmend anspruchsvollerem Lesen führen und über die wachsende Sicherheit im Umgang mit Schriftzeichen die Rechtschreibung fördern. Schriftsprachliche Grundlage des Leselehrgangs ist Druckschrift. Somit erfüllt "Lesen durch Schreiben" konzeptionell alle Vorgaben des Lehrplanes. Für eine Realisierung und Erprobung dieses Leselernverfahrens wurde daraufhin zwischen Bildungsministerium (X 200), IPTS-Verwaltung (IPTS 210) und IPTS 76 (Seminarleiter) eine generelle Genehmigung vereinbart. Die nachfolgend wiedergegebenen vorläufigen Ergebnissse und Erfahrungen wurden im Rahmen der schuljahresbegleitenden Fortbildungsreihe zu dieser Maßnahme gewonnen. C. Allgemeine Entwicklung der Kinder Nach einem Jahr intensiver pädagogischer Arbeit fielen die Kinder der an der Erprobung beteiligten 1. Grundschulklassen im Vergleich zu methodisch herkömmlich geführten Schulanfängerklassen durch folgende Merkmale auf (Ausnahmen gibt es auch hier!):

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1. Sie erscheinen als freier und selbständiger. Sie wirken selbstbewußt und zeigen kaum Hemmungen, ihre Bedürfnisse anzumelden, können argumentieren und sind eher bereit, Kompromisse einzugehen. 2. Sie üben mehr Rücksicht und zeigen sich sehr hilfsbereit. Zurückhaltende oder ausgleichende Kinder kommen in diesen Klassen besser zu ihrem Recht. 3. Sie haben während des gesamten 1. Schuljahres ihre Arbeitsfreude, ihren Lerneifer behalten. Sie arbeiten i.d.R. nicht nur aktiv, sondern auch konzentrierter und initiativ mit. 4. Langsamer lernende Kinder lassen sich von schnelleren eher "mitziehen" (u.a. durch Schüler-Helfersystem). Sie müssen sich nicht ausgeklammert bzw. bloßgestellt fühlen, da kein herkömmlicher klasseninterner Leistungsvergleich stattfindet. D. Leistungen während und am Ende des 1. Schuljahres Eine abschließende Wertung der Leistungen ihrer Schulkinder können alle beteiligten Lehrkräfte erst im Verlauf bzw. am Ende des 2. Schulleistungsjahres abgeben, da sie weitere Auswirkungen des insgesamt veränderten Unterrichts auf die allgemeine Entwicklung und auf die Leistungen des einzelnen Kindes vermuten. Festhalten läßt sich zumindest: 1. Alle Kinder haben gelernt, ihr eigenes derzeitiges Leistungsvermögen treffend einzuschätzen

und entsprechend Hilfe anzubieten oder anzunehmen. 2. Fast alle Kinder können lauttreu schreiben und fast alle können lesen. Viele Schüler lesen

fließend und sinnerfassend unbekannte Texte. 3. Die meisten Schüler sind in der Lage, Gesprochenes zu verschriften, also z.B. eigene Erlebnisse

oder Mitteilungen an andere Personen schriftlich so festzuhalten, daß sie für jeden Schüler in der Klasse lesbar sind.

4. Dabei erproben die meisten Schüler bereits die Anwendung einfacher Rechtschreibregeln,

zeigen sich sehr aufmerksam bei der Wortverschriftung und streben größtenteils bereits die "richtige Schreibweise der Erwachsenen" an. Diese Schüler zeigen gegenüber herkömmlich geführten Klassen eine bessere Rechtschreib-Haltung.

5. Die Umsetzung in Schreibschrift haben viele Kinder ohne Probleme bereits vollzogen. 6. Einzelne Kinder konnten bis zum Ende des 1. Schuljahres noch nicht richtig lesen. In fast jedem

Fall sind aber so positive Ansätze vorhanden, die mit mehr Zeit zum Lesenlernen führen werden. Im allgemeinen sind gerade die Kinder mit Lern- und Leistungsschwierigkeiten bis hin zu extremen Formen besonders belastet durch Beeinträchtigungen der Gesundheit, durch sprachliche und motorische Störungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Sprachschwierigkeiten als Ausländerkind usw.

Insgesamt läßt sich sagen: Im Vergleich zu herkömmlich geführten Klassen erbringen mehr Kinder besonders gute und den Unterricht weiterführende, daneben mehr Kinder zumindest

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zufriedenstellende Leistungen. Einzelne Kinder, zumeist erheblich außer-schulisch belastet, zeigen deutliche Leistungsrückstände, brauchen i.d.R. mehr Zeit wegen ihres persönlichen Lerntempos und mehr Zuwendung und Hilfestellung der Lehrkraft. E. Methodische Erfahrungen Der Leselehrgang "Lesen durch Schreiben" baut auf einer weitgehenden Individualisierung des Leselernprozesses und einer Öffnung des Unterrichts auf, beides wesentliche Voraussetzungen für ein erfolgreiches Arbeiten damit. "Lesen durch Schreiben" ist für Klassen mit verstärkter Binnendifferenzierung besonders geeignet. So lassen sich gerade sehr langsam lernende Kinder nicht nur in einem wirkungsvollen Helfersystem intensiver betreuen. Die Lehrkraft selbst ist bei "Lesen durch Schreiben" zeitlich weniger eng in den Unterrichtsablauf eingebunden und kann daher selbst mehr individuelle Hilfe geben. So kann mehr Förderung in der Schule stattfinden, und vom Elternhaus wird keine Nachhilfe erwartet. Die beteiligten Lehrkräfte haben während der einjährigen Erprobung vielfältige methodische Erfahrungen gesammelt, von denen hier nur einige wenige, für den Bericht bedeutsame wiedergegeben werden können. 1. Richtig und wichtig ist, daß alle Kinder erfahren, daß sie ihren gesamten aktiven Wortschatz,

ihre Sprachmuster für ihr eigenes Schreiben nutzen können. Die Festlegung (und Einengung) auf bestimmte Arbeitswörter wird vermieden. Jedes Kind lernt individuell.

2. Viele Lautierübungen insbesondere zu Beginn des Schuljahres, viele Schreibanlässe für

Geschichten, überhaupt vielseitige Lernangebote zu unterbreiten, ohne daß Kinder und Lehrkräfte die Übersicht verlieren, sind wichtige methodische Mittel.

3. Die vom Autor entwickelten Spiel- und Arbeitsmaterialien sind eine wichtige Grundlage für die

gesamte unterrichtliche Arbeit. Sie können im Einzelfall auf die individuelle Lernsituation hin ausgewählt und ggfs. umgestaltet werden.

Eine entscheidende Hilfe ist auch der ausführliche, gründliche Lehrerkommentar, der immer

wieder zum Bedenken und Überprüfen des eigenen Lehrerverhaltens anregt. 4 .Alle Lehrkräfte betonen, wie notwendig die Arbeit in kleinen Gruppen und wie wirksam es ist,

wenn eine zweite Lehrkraft wenigstens in einzelnen Stunden die stark differenzierte Arbeit in der Klasse unterstützen kann.

5. Für Schüler mit gravierenden Lern- und Leistungsproblemen gibt Reichen den Rat, sie mit

besonders vielseitig angelegten Lernangeboten zu fördern. Der Zeitpunkt und das Ausmaß gezielter individueller Förderung war ein Hauptproblem in mancher beteiligten Klasse. Da Kinder zunächst ausreichend Zeit erhalten sollen, ihren Lernweg zu finden, ließen sich für den Beginn und den Umfang spezieller Fördermaßnahmen keine verbindlichen Hinweise geben.

Hier zeigte es sich, daß die Lehrkräfte qualifizierte Hilfe benötigen, weil sie die individuellen Lernprobleme zwar erkennen, ihnen jedoch entsprechende methodische Kenntnisse zur speziellen therapeutischen Förderung größtenteils fehlen.

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Die übliche Stoffverteilungsplanung und Lehrberichterstattung sind mit "Lesen durch Schreiben" nicht zu erbringen, findet doch in diesem Unterricht durch ständige Binnendifferenzierung und offenere Gestaltungsformen viel individuelles Lernen statt. In kurzen Fristen angelegte Stoffpläne und Lehrberichte verlieren hier ihren Sinn. An ihre Stelle sollte eine in längeren Zeiträumen angelegte Planung und Berichterstattung treten, die Grundzüge des Aufbaus und der Realisierung von "Lesen durch Schreiben" widerspiegelt. Außerdem sollte regelmäßig die Lernentwicklung der einzelnen Scliüler festgehalten werden. F. Lehrerrolle "Lesen durch Schreiben" ist nicht nur eine neue oder neu entdeckte Methode, durch Schreiben zum Lesen zu gelangen, sondern darüber hinaus ein Ansatz zur umfassenden Veränderung des Unterrichts. "Lesen durch Schreiben", verbunden mit dem Prinzip der Offenheit, fordert von jeder Lehrkraft, die eigene Rolle zu verändern. Insbesondere, so betonen die beteiligten Lehrkräfte, sollte man: 1. sich immer wieder bewußt machen, daß nicht die Lehrerin bzw. der Lehrer im Mittelpunkt steht,

sondern das Kind, das seinen eigenen Lernweg finden soll und nicht nur dem von der Lehrkraft vorgegebenen folgen soll.

2. sich gedulden und sich didaktisch zurückhalten, daß Kinder entscheiden können, was sie sich

zutrauen und wie sie ihren Lernerfolg ansteuern. Das Prinzip der minimalen didaktischen Hilfe (Helfen nur, wenn sonst kein Lernen erfolgen kann) steht der z.T. vorherrschenden Auffassung entgegen, möglichst frühzeitig und gezielt (defizitorientierte) Fördermaßnahmen einzuleiten.

3. sich selbst und den Kindern Zeit gewähren, daß sie während des Lernprozesses immer mehr

Selbständigkeit gewinnen können. 4. sich als Lehrkraft mehr in beratender, mitlernender statt in vorgehender Funktion sehen. "Lesen durch Schreiben" baut nicht auf dem Lernen in kleinen, von der Lehrkraft didaktisch zubereiteten Schritten auf, sondern setzt darauf, daß ein neuer Lernschritt schon begonnen werden kann, bevor der vorausgegangene abgeschlossen ist. Dies erfordert das Vertrauen der Lehrerin bzw. des Lehrers in das entdeckende Lernen des Kindes und setzt pädagogischen Optimismus voraus. Vertrauen zu den Kindern und Vertrauen zu sich selbst sollten die notwendige offene, partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Eltern bestimmen, ohne deren Unterstützung oder wenigstens Tolerierung kaum in geeigneter Weise gearbeitet werden kann. Viel Elternarbeit (Information, Gesprächsabende, Unterrichts- und ggfs. Hausbesuche) ist gerade bei Neueinführung dieser Leselernmethode erforderlich. Die beteiligten Lehrkräfte erklärten übereinstimmend, daß intensive Elternarbeit und der vor allem anfangs sehr hohe Arbeitsaufwand für Unterrichtsplanung und Materialvorbereitung viel zusätzliche Zeit erfordert haben. Besonders viel Kraft hat es zunächst jedoch gekostet, immer wieder pädagogischen Optimismus und Geduld gegen die (eigenen) Zweifel und Ängste zu stellen, ob sich das Neue wirklich bewähren würde.

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Am Ende dieses ersten Erprobungsjahres äußern alle Beteiligten, wie wohltuend sie die veränderte Unterrichtsgestaltung für die eigene berufliche Arbeit empfunden haben, und man freut sich auf den nächsten "Durchgang" mit "Lesen durch Schreiben". G. Zusammenfassung Aus den bisherigen Erfahrungen, die die an der Erprobung beteiligten Lehrerinnen und Lehrer mit "Lesen durch Schreiben" gewonnen haben, läßt sich ohne repräsentativen Anspruch schlußfolgern: 1. "Lesen durch Schreiben" einschließlich der Arbeitsmaterialien erfüllt als alternativer

Leselehrgang alle prinzipiellen Forderungen des Lehrplanes und hat sich in der bisherigen Praxis an den betr. Schulen bewährt.

2. "Lesen durch Schreiben" fördert und fordert einen vom Prinzip der Offenheit und der

Binnendifferenzierung getragenen Unterricht. Jedes Kind lernt seinem Entwicklungsstand gemäß.

3. "Lesen durch Schreiben" gelingt am besten, wenn es von den Eltern unterstützt, zumindest

toleriert wird. Das gilt auch für das Kollegium der betr. Schule. 4. Durch die Individualisierung des Lernens gibt es keine "Lernabrisse". Auch der Einstieg in diese

Leselernmethode z. B. durch Schulwechsel ist jederzeit im Laufe des Schuljahres möglich. 5. Die Schüler entwickeln im Durchschnitt mit "Lesen durch Schreiben" im Vergleich zu

herkömmlichen Methoden mindestens gleich gute Leistungen, darüber hinaus deutlich mehr Selbständigkeit und Selbstbewußtsein, verbunden mit tolerantem Verhalten in der Gruppe. Ihre Freude am Lernen bleibt erhalten.

6. Die Lehrerrolle verändert sich zu mehr beratender, helfender, didaktisch vielseitig anregender

Tätigkeit. Mehr Arbeitsbelastung und die Überwindung eigener Zweifel müssen von der Lehrkraft bewältigt werden. Mehr Freude am Beruf ist häufig der Lohn

7. "Lesen durch Schreiben" kann dazu beitragen, feste Strukturen im Schulalltag neu zu

durchdenken und weiterzuentwickeln (Beispiel: Individualisierung der Leistungsbeurteilung). H. Empfehlung 1. Die insgesamt positiven Erfahrungen mit "Lesen durch Schreiben" sollen weder zu

übertriebenen Erwartungen führen, noch dazu verleiten, diese alternative Leselernmethode vorschnell abzulehnen. Vielmehr sollten die hier wiedergegebenen vorläufigen Ergebnisse dazu ermutigen, daß alle jene Lehrkräfte ihre Einführung prüfen, die sich selbst auf den Weg machen (wollen), ihren Unterricht zu öffnen, die Kinder besser als bisher lernen lassen wollen, wie man selbständig lernt. Insbesondere sollten sie prüfen, ob sie mit dieser Methode, die eine veränderte Lehrerrolle bedingt, arbeiten können.

2. In diesem Sinne sollte "Lesen durch Schreiben" vom Bildungsministerium und dem IPTS

empfohlen werden. Einer besonderen Genehmigung bei Einführung bedarf es nicht.

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3. Um Kinder mit Lernproblemen bei "Lesen durch Schreiben" anregen und fördern zu können, erscheinen weitere methodische Hilfen als sinnvoll, die u.a. in der Fortbildung erstellt und erprobt werden sollten.

4. Schuljahresbegleitende Fortbildung zu "Lesen durch Schreiben" sollte unbedingt angeboten

werden, damit die persönlichkeitsbezogenen sowie lernpsychologischen und didaktisch-methodischen Veränderungen des Unterrichts gelingen.

5. Im Rahmen der Schulforschung sollten empirisch repräsentative Vergleichsuntersuchungen zu

verschiedenen Leselehrgängen (z.B. am Ende des 2. Schuljahres) angeregt werden.

*** Quellennachweis 1) K. Meiers: Vorwort zum Lehrerkommentar "Lesen durch Schreiben", Hamburg 1982, S. 3 2) ebd., S. 3 3) Lehrplan Grundschule und Vorklasse in Sil Deutsch, Kiel 1978, S. 1 4) ebd., S. 1 5) ebd., S. 51 6) ebd., S. 55

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Text-C10 Esther Rohner-Bachmann / Christian Sutter Erprobung des Lehrmittels "Lesen durch Schreiben" an Sonderklassen St. Gallen, im Dezember 1990

Schülerin einer ersten Einführungsklasse im September, ca. 5 Monate nach Schuleintritt („Übersetzung“: Hallo, ich schreibe den Brief selber. Schau das an: Unsere Katze.) ***** Inhaltsverzeichnis: A. Ausgangslage B. Ablauf der Erprobung 1. Auswahl der Versuchsklassenlehrkräfte 2. Vorbereitung und Betreuung der Versuchsklassenlehrerinnen und -lehrer C. Ergebnisse Anhang: Auswertung der Schlussbefragung 1. Ziele 2. Methode/Lesedidaktisches Prinzip 3. Material 4. Lehrer 5. Spezielle Eignung für Sonderklassen 6. Eltern 7. Vergleich mit anderen Lehrgängen 8. Abschliessende Beurteilung

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A. Ausgangslage Bis anhin wird in Sonderklassen wie in Regelklassen mit den Lehrgängen 'Lesespiegel' (Meiers Kurt, Klett und Balmer Verlag) und 'Lesen Sprechen Handeln' (Grissemann Hans, Interkantonale Lehrmittelzentrale [ILZ), gearbeitet. Da diese Lehrgänge für Regelklassen konzipiert sind, müssen in Sonderklassen einzelne Lernschritte zum Teil stark ausgebaut werden, um den Lernvoraussetzungen jedes einzelnen Kindes gerecht werden zu können.

Im Rahmen das Projekts Muttersprache an der Pädagogischen Arbeitsstelle, Teilprojekt 'Leseförderung in Sonderklassen', konnten erste Erfahrungen mit dem Lehrgang 'Lesen durch Schreiben' von Jürgen Reichen (Sabe-Verlag) gesammelt werden. In kleinem Umfang wurde daraufhin der Lehrgang auch als Erstleselehrmittel an je einer Einführungsklasse in Flawil und Gossau erprobt. Die damit gemachten Erfahrungen waren ermutigend. Die Pädagogische Kommission VI, Stufenkommission der Sonderklassen, reichte dem Erziehungsrat im Frühjahr 1987 den Antrag ein, das Lehrmittel 'Lesen durch Schreiben' für Sonderklassen zuzulassen. Der Erziehungsrat erachtete eine breit angelegte Erprobung im Sinne einer Entscheidungshilfe als notwendig und beauftragte die Pädagogische Kommission VI am 13. Mai 1987, einen Vorschlag für eine umfassende Erprobung des Lehrmittels zu erarbeiten. Die Erprobung sollte einerseits Aufschluss geben, ob die Methode bzw. der Leselehrgang 'Lesen durch Schreiben' (a) für die verschiedenen Sonderklassentypen geeignet ist und (b) wesentliche Vorteile gegenüber den Leselehrgängen 'Lesespiegel' (Meiers) und 'Lesen Sprechen Handeln' (Grissemann) aufweist. Der von der Pädagogischen Kommission VI am 15. September 1987 eingereichte Vorschlag wurde vom Erziehungsrat an der Sitzung vom 21. Oktober 1987 genehmigt. B. Ablauf der Erprobung 1. Auswahl der Versuchsklassenlehrkräfte. Bei der Auswahl der Lehrerinnen und Lehrer mit Erprobungsklassen wurde darauf geachtet, dass verschiedene Klassentypen (Sonderklasse A/B/D und Sonderschule), verschiedene Regionen und ein unterschiedlicher Stand an Berufserfahrung berücksichtigt werden konnten:

Lehrperson Schulort Schultyp Berufserfahrung Christian Sutter St.Gallen Sonderklasse A 13 Jahre Heidi Hohl St.Gallen Sonderklasse A 16 Jahre Urban Vetter St.Gallen Sonderklasse A 2 Jahre Willi Hollenstein Oberriet Sonderklasse A 13 Jahre Hans Anderegg Rapperswil Sonderklasse A 9 Jahre Max Stengel Will Sonderklasse A 14 Jahre Pirmin Baumgartner Degersheim Sonderklasse A/B 24 Jahre Claudia Walker-Giger Gossau Sonderklasse B 6 Jahre Margrit Mäder Altstätten Sonderklasse B 12 Jahre Gerda Weber St.Gallen Sonderklasse B 21 Jahre Margrit Honegger Bühler Sonderschule 13 Jahre

Ürsprünglich war geplant, die Erprobung des Lehrmittels auch in zwei Sonderklassen D durchzuführen. Da die Sonderklasse D primär für Kinder mit Verhaltensschwierigkeiten konzipiert ist und erst im 2. Schuljahr beginnt, stellte sich bald heraus, dass die Schüler dieser Klassen bzw. Klassentyps den Erstleseprozess bereits in der vorangegangenen Einführungsklasse oder 1. Regelklasse abgeschlossen hatten. Der Einsatz des Lehrmittels 'Lesen durch Schreiben' war somit nicht mehr notwendig.

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2. Vorbereituna und Betreuung der Versuchsklassenlehrkräfte 22./23.4.88 Einführungskurs in Will Kursleiter: Dr.J. Reichen, Verfasser des Lehrmittels 23.04.1988 Erste Sitzung, übersicht über Ablauf und Organisation der Erprobung 09.06.1988 Erster Erfahrungsaustausch der Versuchsklassenlehrkräfte 29.09.1988 Zweiter Erfahrungsaustausch 01.12.1988 Dritter Erfahrungsaustausch, Referat von Thomas Bachmann zum Thema: 01.12.1989 Schreibentwicklung, Rechtschreibung und Korrekturen, Teil 1 11.01.1989 Referat von Thomas Bachmann, Teil 2 16.02.1989 Vierter Erfahrungsaustausch 25.05.1989 Fünfter Erfahrungsaustausch 07.09.1989 Sechster Erfahrungsaustausch 26.10.1989 Siebter Erfahrungsaustausch 04.05.1990 Ganztägige Sitzung, Arbeit an der Schlussbefragung

Alle an der Erprobung beteiligten Lehrerinnen und Lehrer wurden durch die Versuchsleiter während der Erprobungsphase mindestens einmal besucht. C. Ergebnisse Die Ergebnisse der Erprobung des Leselehrmittels 'Lesen durch Schreiben' beruhen auf der Auswertung eines detaillierten Fragebogens, der am Schluss der Erprobung von allen Versuchsklassenlehrerinnen und -Lehrern ausgefüllt wurde. Der Fragebogen und eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse sind im Anhang aufgeführt. Die Zahlenangaben in Klammern beziehen sich auf die Kapitel des Fragebogens.

1. Ziele des Erstleseunterrichts Sowohl im Erstlesen als auch im lautgetreuen Aufschreiben haben rund 95% der Kinder das Lernziel erreicht. Beim orthographisch richtigen Aufschreiben einiger häufig vorkommender Wörter liegt der Prozentsatz etwas tiefer (1.1. und 1.2.). Dieser Lernerfolg kann als sehr gut bezeichnet werden, muss man doch die besonderen Lernbedingungen der Sonderklassenschüler in Rechnung stellen (Motivationsmangel, häufige Teilleistungsschwächen, etc.). Als zusätzlich erreichte Ziele erwähnen mehrere Lehrerinnen und Lehrer die Freude am Lesen und Schreiben sowie die Förderung der Selbständigkeit durch die Begünstigung von eigenständigem Lernen und Arbeiten durch das Lehrmittel(1.3.).

2. Methode/lesedidaktische Prinzipien Was diesen Lehrgang ganz grundsätzlich von anderen Erstleselehrwerken unterscheidet, ist eines seiner methodisch-didaktischen Grundprinzipien, wonach die Kinder durch immer wiederkehrendes Schreiben zum Lesen geführt werden. Das Lesen als reine Technik wird nicht speziell geübt. Dieses Prinzip wird von den Lehrerinnen und Lehrern für das Schreibenlernen ausnahmslos, für das Lesenlernen mit einer Ausnahme positiv bewertet (2.1.). Die meisten Kinder wurden durch den Lehrgang zu freiem und ausserschulischem Schreiben und Lesen angeregt. Besonders beachtenswert ist die günstige Beeinflussung der Rechtschreibmotivation in allen Klassen. Als mehrheitlich zufriedenstellend wird die Wirkung des Lehrgangs auf die Schönschreibmotivation der Kinder beurteilt. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass es sich bei 'Lesen durch Schreiben' um einen Leselehrgang handelt, der den Anspruch eines Schönschreiblehrganges gar nicht erhebt (2.2; s. auch 2.9.). In der Mehrzahl der Klassen ermöglichte der Lehrgang einen anregenden Unterricht mit vielfältigen, natürlichen und

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schülernahen Schreibanlässen (2.3.). Dieses Lehrwerk ist nicht curricular oder linear, sondern in Form eines Baukastens aufgebaut. Sowohl für die Lehrkräfte (Planbarkeit, Systematik) als auch für die Kinder (individuelles Lernen) fällt die Beurteilung günstig aus (2.4.). Das im Lehrgang angestrebte Prinzip des selbstgesteuerten oder individuellen Lernens wird mit einer Ausnahme begrüsst. Dies ist keineswegs erstaunlich, wird doch die Notwendigkeit individualisierenden Unterrichts vor allem für Sonderklassen stets betont (2.5.). Im Umgang mit dem didaktischen Überangebot zeigte ein Teil der Lehrkräfte einige Unsicherheit. Da dieses didaktische Arrangement sonst eher ungebräuchlich ist, scheint es unumgänglich, dass man zuerst einmal Erfahrungen damit sammeln muss. Interessant wäre eine nochmalige Befragung zu diesem Punkt nach einem zweiten Arbeitsturnus mit diesem Lehrmittel (2.6.). Mit einer Ausnahme haben alle Lehrerinnen und Lehrer die im Lehrgang empfohlene Unterrichtsform des Werkstattunterrichts ausprobiert und zu einem festen Bestandteil ihres Unterrichts gemacht. Der vermehrte zeitliche Aufwand bei der Unterrichtsvorbereitung scheint durch die Begeisterung und den vergrösserten Arbeitseinsatz der Kinder mehr als aufgewogen zu werden (2.7.). Das Prinzip der minimalen Hilfe scheint sich mindestens teilweise verwirklichen zu lassen. Besonders in Sonderklassen ist die Betonung dieses Prinzips wichtig, ist doch die Gefahr hier sicher gross, den Kindern zu viel an Eigenverantwortung abzunehmen und ihnen vorschnell helfen zu wollen (2.8.). Die meisten Lehrkräfte haben das Schönschreiben zusätzlich geübt, obwohl dies vom Lehrmittelautor nicht vorgesehen ist (2.9.).

3. Material Die Schülermaterialien (Rahmenthemen, Wahrnehmungsblätter, LS-Blätter, Lesehefte) werden von den meisten Lehrkräften als gut oder sehr gut bezeichnet (3.1.). Die Rückmeldungen zum Sabefix-Kontrollgerät sind sehr positiv. Sowohl für den Einsatz im individualisierenden Unterricht, als auch für den Einsatz über den Erstleseunterricht hinaus lauten die Urteile fast ausschliesslich 'sehr gut'. Unter den Lehrerinnen und Lehrern herrscht die Meinung vor, dass man auch ohne Sabefix mit diesem Lehrgang arbeiten könnte. Aus den Hinweisen ist jedoch zu schliessen, dass sowohl die Schüler, als auch die Lehrer einen Verzicht darauf sicher sehr bedauern würden (3.2.). Die Beurteilung des Lehrerkommentars ist sehr positiv ausgefallen. Geschätzt werden die methodischen Hinweise, die Übungsvorschläge, das zusäzliche Material und die Hintergrundinformationen. Der Kommentar vermittelt viele neue pädagogisch-didaktische Erkenntnisse in verständlicher Art und Weise (3.3.).

4. Lehrer Der zeitliche Aufwand bei der Unterrichtsvorbereitung vergrössert sich in der Regel mit diesem Lehrgang (Individualisieren, Werkstattunterricht) (4.1.). Die Lehrkräfte sehen sich vermehrt in der Rolle des Helfers und Beraters, weniger in derjenigen des zentralen Lenkers, was eindeutig als eine durch das Lehrmittel ermöglichte Begünstigung des individualisierenden Unterrichts zu werten ist (4.2.). Wer mit diesem Lehrgang arbeitet, hat, bedingt durch die vielen neuen methodisch-didaktischen Schwerpunkte, mit einer Phase der Verunsicherung zu rechnen. In der Regel wird die Sicherheit im Verlauf der Arbeit wieder zurückgewonnen (4.3.). Obwohl einige der Versuchsklassenlehrkräfte die Auseinandersetzung mit diesem Lehrmittel anfangs als Belastung erlebten, sind sich alle einig, durch die vielfältigen Anregungen und neuen Ideen stark bereichert worden zu sein (4.3.). Als nicht ganz zufriedenstellend wird der zweitägige Einführungskurs bewertet. Verschiedene Verbesserungsvorschläge werden gemacht: Längerer Kurs, praxisbegleitende Form (Zusammenkünfte während der Arbeit mit dem Lehrgang), Videofilm, Einführung durch Praktiker (4.5.).

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5. Spezielle Eignung für Sonderklassen Einstimmig wird die Überzeugung vertreten, dass mit diesem Lehrmittel ein individueller Unterricht zu verwirklichen ist, was u.a. durch das didaktische Überangebot unterstützt wird. Auch war es in allen Klassen möglich, thematisch auf die aktuellen Interessen und Fähigkeiten der Schüler einzugehen, was sich speziell auch auf die Arbeit mit Spätlesern positiv auswirken dürfte. Abgesehen von einer Ausnahme hat sich die Arbeit mit diesem Lehrgang ganz allgemein positiv auf die Motivation der Kinder ausgewirkt (5.1.). Als 'teilweise geeignet' bis 'sehr geeignet' wird der methodische Ansatz des Lehrmittels für die Arbeit mit Spätlesern (genaue Definition siehe im Fragebogen Kap. 5.2.) bezeichnet. Die betreffenden Schüler liessen sich in der Regel mit diesem Lehrgang eher als mit einem andern (für Leseanfänger konzipierten Lehrgang) motivieren. Der Lernerfolg bei Spätlesern wird als gut bis sehr gut bezeichnet (5.2.).

6. Eltern Fast alle Eltern wurden durch die Lehrkräfte über die Lesemethode informiert. Ihre Reaktionen auf die Arbeit mit 'Lesen durch Schreiben' waren überwiegend positiv. Das selbständige, spontane und häufige Schreiben der Kinder, das relativ rasche Lerntempo und die verhältnismässig einfache und einleuchtende Methode haben die Eltern beeindruckt (6.1.). Der Grossteil der Lehrerinnen und Lehrer erachtet es als unproblematisch, dass bei Bedarf die Eltern zu Hause nach kurzer Instruktion ihre Kinder lehrganggerecht unterstützen können. In einigen Fällen entstanden zu Hause spezielle Probleme aus der Tatsache, dass diese Methode ungewohnt ist (z.B. falsche Erwartungen, falsche Hilfestellungen). Meist konnten diese Probleme durch Gespräche behoben werden (6.2.).

7. Vergleich Die Versuchsklassenlehrerinnen und -lehrer wurden gebeten, das Lehrmittel 'Lesen durch Schreiben' mit den zwei andern im Kanton St.Gallen gebräuchlichen Erstleselehrgängen zu vergleichen. Bei diesem Vergleich ging es ausschliesslich um die Verwendbarkeit in der jeweils eigenen Sonderklasse. Die Ergebnisse dieses Vergleichs fallen in allen Punkten deutlich zugunsten des Lehrgangs 'Lesen durch Schreiben' aus. In Bezug auf die Berücksichtigung der individuellen Lernvoraussetzungen der Kinder (individualisierender Unterricht) wird 'Lesen durch Schreiben' den andern beiden Lehrmitteln klar vorgezogen (7.1.). Individuelle Förderung durch den Lehrer bedingt ein relativ selbständiges Arbeiten der übrigen Klasse. 'Lesen durch Schreiben' ermöglicht dies weit besser als die andern beiden Lehrmittel (7.2.). Etwas weniger deutlich, aber immer noch klar am besten schneidet 'Lesen durch Schreiben' beim Anbieten methodischer Anregungen und Materialien zur Förderung einzelner Teilbereiche ab (visuelle und auditive Wahrnehmung, Konzentration, Denkschulung, Speicherfähigkeit) (7.3.). Ganz klar vorgezogen wird 'Lesen durch Schreiben' auch, wenn es darum geht, den Kindern Einsicht in den Bau und die Funktion unserer Buchstabenschrift (einer der wichtigsten Lernschritte beim Lesenlernen) zu vermitteln (7.4.). Motivationsmangel der Kinder ist ein Hauptproblem in Sonderklassen. 'Lesen durch Schreiben' scheint auch in diesem Punkt eindeutig überlegen zu sein, da es mit diesem Lehrgang sehr gut möglich ist, thematisch auf die Interessen der Schüler einzugehen (7.5.). 8. Abschliessende Beurteilung Alle Versuchsklassenlehrkräfte beurteilen den Lehrgang 'Lesen durch Schreiben' für den Einsatz in Sonderklassen als sehr geeignet (8.1.). Es würde einstimmig begrüsst, wenn dieser Lehrgang in die Lehrmittelliste der Sonderklassen aufgenommen würde (8.2.). Auch in Zukunft würden alle Versuchsklassenlehrkräfte wieder mit diesem Lehrgang arbeiten wollen (8.3.).

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Anhang

Auswertung der Schlussbefragung

1. Ziel

1.1. Das Ziel des Erstleseunterrichts könnte lauten: Die Kinder kennen alle Buchstaben und sind fähig, Texte selbständig zu erlesen und zu verstehen. Wieviel Kinder haben diese Ziele mit diesem Lehrgang erreicht?

Erreicht knapp erreicht

knapp nicht erreicht

nicht erreicht

Buchstaben 77 3 1 Texte erlesen 72 5 4 1.2. Ziele des Schreibunterrichts: Die Kinder können selbständig einzelne Wörter und kurze Texte lautgetreu, einige häufig vorkommende Wörter orthographisch richtig aufschreiben. Wieviele Kinder haben das Ziel mit diesem Lehrgang erreicht?

erreicht knapp erreicht

knapp nicht erreicht

nicht erreicht

lautgetreu Wörter 73 6 1 1 lautgetreu kleine Texte 67 10 2 2 Einzelwörter orthogr. richtig 68 7 4 2 1.3. Welche Ziele, die hier nicht genannt wurden, aber für Sie wichtig sind, wurden erreicht? - Lese- und Schreibbereitschaft, überhaupt Lernbereitschaft - Freude, Selbständigkeit beim Lesenlernen (kein mühsames Zusammenschleifen (2x) - Die Freude am selbständigen Aufschreiben (2x) - Jeder hat selber lesen gelernt, lesen lernen ohne Drill (2x). - Freude am Lesen und Schreiben (2x) - Schreiben als echte Komnunikationssituation erleben (2x) - Selbständigkeit, Kreativität, Flexibilität, gegenseitiges Helfen - keine Hemmungen beim Schreiben, Fehler sind o.k.

Welche Ziele, die hier nicht genannt wurden, aber für Sie wichtig sind, wurden nicht erreicht? - selbständig eigene Texte schreiben (2x) - Selbständigkeit und Eigenverantwortung - Schreibablauf - Wille, etwas Geschriebenes zu kontrollieren; zu verbessern 2. Methode / Das lesedidaktische Prinzip 2.1 Im Lehrgang 'Lesen durch Schreiben' lernen die Kinder zuerst das Auflautieren und Aufschreiben von Wörtern und Sätzen mit Hilfe der Buchstabentabelle. (Das Lesen wird nicht speziell gelehrt.)

Wie beurteilen Sie diesen Ansatz im Hinblick auf: positiv negativ Lesetechnik, Lesekompetenz 10 1 Schreibtechnik, Schreibkompetenz 11 0 Einsicht in Aufbau und Funktion der Schrift 11 0

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Bemerkungen: - kein mühsames (langweiliges) Auswendiglernen der einzelnen Buchstaben dank der

Buchstabentabelle - Die Tabelle ist eine Orientierungshilfe für den Schüler, sie gibt ihm Sicherheit (auch Schülern in

oberen Klassen mit unsicherer Buchstabenverwendung).(3x) - Allein das Lautieren erleichtert das Lesen und Schreiben sehr (es kommt wie automatisch). Alle

Buchstaben stehen von Anfang an zur Verfügung. - Die Methode vermittelt bessere Einsicht in die Funktion des Lautes innerhalb des gesprochenen

Wortes und in die Funktion der Schrift. Folge: Lernmotivation für Lesen und Schreiben (2x) - Durch das anfänglich mühsame Auflautieren wissen die Kinder, Geschriebenes hat einen Sinn,

es lohnt sich, "dahinter" zu kommen. - Von Anfang an setzt sich das Kind mit der Schrift auseinander. Das Auflautieren hat dabei eine

zentrale Funktion. - Da die Kinder Schrift selber herstellen, machen sie sich folgende Dinge immer wieder selbst

einsichtig: Wir haben eine Lautschrift, der Klangfolge entspricht eine Buchstabenfolge, wir schreiben von rechts nach links, Schrift ist verschlüsselter Inhalt.

- ermöglicht sehr individuelles, selbständiges Lernen unabhängig vom Tempo der Klasse 2.2. Wie hat sich diese Methode auf die Motivation der Kinder ausgewirkt im Hinblick auf

gut befriedigend unbefriedigend freies Schreiben 8 1 1 ausserschulisches Schreiben 6 3 1 Rechtschreibung 6 4 Schönschreiben 3 4 2

Bemerkungen: - Bei den beiden Kindern ist die Schreibmotivation jetzt nach einem Jahr noch nicht sehr gross,

aber ich denke, dass es jetzt immer besser wird, wenn es für sie nicht mehr so "streng" ist. - Schreibmotivation: "erzählen geht schneller" - Die echten Schreibanlisse fördern das freie Schreiben. - Das freie Schreiben ist anfangs recht muhsam einzelne Kinder sind noch zuwenig ausdauernd. - Durch das richtige Lautieren vergrössert sich das Interesse am richtici Schreiben. - Probleme gab es oft bei Kindern stark leistungsorientierter Eltern. - "Was soll ich schreiben? Wieviel muss ich schreiben?" war anfangs oft zu hören.

Überbehütete Kinder sehr "wohlmeinender" Mütter, die ihre Behinderung zum "sich-verwöhnen-lassen" ausnützen, reagieren auf selbständige Aufgabenstellungen sehr hilflos.

- Anfangs waren die Schüler und ich nicht motiviert aufgrund der Überforderung. Jedoch mit der Zeit haben wir uns gefangen und richtig Spass bekommen.

- Das Lesen hat für beide Kinder zuviel Anstrengung bedeutet: Motivationsprobleme und Haltung der beiden: "Ich kann's ja doch nicht".

- Schönschreiben ist nicht so wichtig für die Kinder. - Leselehrgänge haben keinen Einfluss aufs Schönschreiben. - freies Schreiben: Kinder schreiben oft und gern Geschichten, Briefe, Tagebücher, Notizen. - Rechtschreibung: Den Kindern ist im Moment vor allem wichtig, dass ich ihren Text verstehe.

Zwei (von 3) Kinder beginnen seit ca. 3 Monaten zu fragen und nachzuschlagen, wie ein Wort richtig geschrieben wird und entdecken dabei Zusammenhänge (z.B. kommen -kommt).

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- Schönschreiben: Ist den Kindern unwichtig. Ich habe lange nicht darauf geachtet, jetzt ärgert es mich aber. (Massnahme: genauer Aufbau der "Schnürlischrift", Übungen zur Graphomotorik)

2.3. Im Zentrum den Unterrichts stehen vielfältige Schreibanlässe . Dabei ist es aus motivationspsychologischen Gründen unbedingt notwendig, Schreibaufgaben möglichst nicht nur zu verordnen, sondern in einen Zusammenhang zu stellen, in dem sie als natürlich, notwendig und lustbetont erfahren werden können. War dieser Anspruch für Sie gestaltbar?

oft 8 / selten 4 / nie: 0 (1 Doppelnennung)

Bemerkungen: zu oft: - Kinder der Einführungsklasse haben häufig Probleme, sich selbst zu strukturieren (flatterhaft), so

dass ich den Rahmen enger stecken musste (mehr verordnen) als es nach Reichen ideal wäre, was die Methode jedoch nicht negativ beeinflusst.

- Zusammensetzung meiner Schulabteilung (Sonderklasse A und B) macht dies möglich - Der Lehrer muss den Kindern dazu viel Zeit geben. Für die Schüler ist das Schreiben am

Anfang wahrscheinlich sehr streng, deshalb war ich anfangs eher zurückhaltend. Das Aufschreiben habe ich jedoch nicht von Anfang an dem Schüler selbst überlassen, sondern im Klassenverband miteinander aufgeschrieben.

zu selten: - "Zeitproblem", z.B.: Schüler sollen den Eltern etwas ausrichten. Oft kommt es mir zu spät in

den Sinn, die Schüler einen Erinnerungszettel schreiben zu lassen. Es geht dann schneller, wenn ich es aufschreibe.

- "Zeitproblem", diese beiden Schülerinen waren nur ein Teil der Klasse. Suche nach echten Schreibanlässen manchmal schwierig

- mangelnde Situationen: Je sicherer und schneller die Schüler im Schreiben werden, desto mehr Situationen werden zum Schreiben möglich.

- Einzelne Schüler nehmen die Mühe des Schreibens nicht einfach auf sich. Deshalb musste ich die Kinder auf Schreibanlässe aufmerksam machen und teilweise auch konkrete Aufträge erteilen.

2.4 Dieser Lehrgang ist nicht curricular aufgebaut, sondern nach Art eines Baukastensystems. Wie beurteilen Sie dieses System in Hinblick auf:

gut befriedigend unbefriedigend Planbarkeit 7 3 Systematik 7 3 1 individuelles Lernen 10 1 2 Schülerüberforderung 9 2 1 Lehrerüberforderung 7 4 1

Bemerkungen: zu "Planbarkeit": - Viel wichtiger als die Planbarkeit ist, sich periodisch Rechenschaft abzulegen über den

Leistungsstand der Schüler, daraus ergibt sich das weitere Vorgehen. - gut, weil grosses Angebot - Eintritte während der Schuljahres in die Sonderklasse erschweren die Arbeit nach Art des

Baukastensystems.

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zu "Systematik": - Systematik ist beim erstmaligen Arbeiten mit dem Lehrgang nicht ganz einfach. Ich war zuerst

gefangen im "Zuviel-Planen-Wollen", bis die Schüler ihr (Lern-)Tempo gefunden hatten. - etwas unübersichtlich

zu "individuelles Lernen": - Am Anfang noch nicht möglich. Anfangs ist es notwendig, die einzelnen Schritte zu

strukturieren. Lautieren und Aufschreiben in der Gruppe. - Anfangs keine Individualisierung/Werkstattunterricht - wäre grundsätzlich möglich, aber nicht mit meinen zwei Schülern - Super für individuelles Lernen; ergibt wenig Überforderung des Schülers

zu "Schülerüberforderung": - Für besonders begabte Kinder ist eine Einführung im Sinne Reichens durchaus möglich und

wünschenswert. Schwächere Schüler benötigen kleinere und stukturiertere Schritte.

zu "Lehrerüberforderung": - Der Lehrer könnte anfänglich überfordert sein. Ich empfehle ihm daher, sich einen erfahrenen

Begleiter auszusuchen. - Mehr Struktur wäre anfangs wünschenswert. - Die Einarbeitungszeit ist aufwendig. Umdenken ist erforderlich: Selbständiges Arbeiten

bedeutet ev. mehr Lärm, grosses Materialangebot, der Schüler entscheidet ev. selbst, wann er Ruhepausen einsetzen will. Ich fühle mich manchmal dadurch überfordert, weil ich sehr im konventionellen Unterrichtsstil (Lehrer bietet an, Schüler führen aus) verhaftet bin. Die Freiheit, Schüler wirklich selbst lernen zu machen mit allen Konsequenzen nehme ich mir zu wenig.

2.5 Der Lehrgang vertritt das Prinzip des selbstgesteuerten oder individuellen Lernens.„Pädagogisch gesehen geht es um die Erziehung zur Selbständigkeit, didaktisch um die Ermöglichung eines selbstgesteuerten Lernens durch Einsicht“ (J. Reichen, LK.). Wie beurteilen Sie dieses Prinzip?

gut: 9 / befriedigend: 1 / unbefriedigend: 1

Bemerkungen: zu "gut": - Wenn auch der übrige Schulunterricht auf diesem Prinzip aufgebaut ist; der Leselehrgang lässt

sich nicht isoliert mit diesen Prinzipien durchführen. Entscheidend ist für mich auch die Lehrerhaltung, die Vorstellung des Lehrers vom Lernen.

- Die Möglichkeit der selbständigen Arbeit wirkt sich auf die ganze Persönlichkeit des Kindes aus.

- Die Schüler arbeiten bedeutend motivierter. - Es braucht Gelassenheit und den Glauben, dass der Schüler es schon lernen wird. Ein Schüler

überraschte mich so, als er plötzlich lesen konnte, da er vorher eher im Hintergrund stand. - Ich habe immer noch zuwenig Material/Erfahrung, um dieses Ziel zu realisieren. - Schwierigkeiten bei unmotivierten und unselbständigen Schülern; der Lehrer muss helfend

eingreifen und unterstützen. (3x) - Jedes Kind lernt und denkt anders. Mit "Lesen durch Schreiben" findet das Kind auf dem von

ihm bevorzugten Weg zum Schreiben und Lesen.

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zu "befriedigend": - Jeder hat sein Tempo; Schwierigkeiten etc. können gut gesteigert werden; das Ziel haben alle

erreicht (auf eigene Weise/Tempo).

zu "unbefriedigend" - Schüler der Sonderklasse haben nicht genügend Selbstsicherheit, Teamfähigkeit, um

selbstgesteuert lernen zu können. Der Lehrer muss die Gruppe animieren und leiten. Das Lehrgangsmaterial orientiert sich am Prinzip des didaktischen Überangebots. Dies ermöglicht eine breitgefächerte Lernauslese für Lehrer und Schüler. Das Material wird nach individuellen Bedürfnissen eingesetzt. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

gute: 5 / unterschiedliche: 6 / unbefriedigende: 0

Bemerkungen: zu "gute Erfahrungen": - Das Material eignet sich gut für individuelle Förderung. (2x) - Möglichkeit der Auswahl: Positiv für Schüler und Lehrer. - Vor allem Schüler mit visuellen Wahrnehmungsschwierigkeiten konnte ich mit dem Material

speziell gut fördern. - Durch Auswahlmöglichkeit Erhöhung der Motivation der Kinder.

zu "unterschiedliche Erfahrungen": - Das Überangebot war für mich zu gross. Ich habe sehr wenig Material eingesetzt. - Unruhige und unsichere Kinder sind mit der Lernauslese oft überfordert. Sie zeigen wenig

Ausdauer, wenn kleinere Probleme auftauchen. - Gute Schüler können damit selbständig umgehen und sehr gut gefördert werden. Schwächere

Schüler brauchen viele Hilfestellungen. (3x) - Überangebot bringt für den Lehrer oft auch Unsicherheit mit sich, hingegen wird individuelles

Arbeiten und Lernen ermöglicht. 2.7 Der Lehrgang empfiehlt den Werkstattunterricht. Zwischen Lehrgang und Werkstattunterricht besteht allerdings kein zwingender Zusammenhang. Haben Sie mit dieser Unterrichtsform gearbeitet?

ja, mehr als 2 Stunden pro Woche: 3 ja, 1 bis 2 Stunden pro Woche: 5 ja, blockweise: 2 weniger als 1 Stunde pro Woche: 0 nein: 1

Bemerkungen: - Lernwillen und Lernfähigkeit werden durch das Angebot gestärkt. In meiner Mehrklassenschule

(A u. B) konnte ich Werkstattunterricht stufenübergreifend einsetzen. - Die Schüler konnten im Werkstattunterricht länger intensiv und motiviert arbeiten. - Die Kinder sind begeistert. (2x) - Materialintensiv und zeitaufwendig (2x) - Die Kinder haben auf den Werkstattunterricht gut reagiert. Sie lieben es, Arbeiten

auszuwählen, und ihren Arbeitsrhythmus selbst zu bestimmen. (2x) - Der Werkstattunterricht kommt Kindern entgegen, die unruhig sind oder sich nur über kurze

Zeit konzentrieren können.

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2.8 Der Lehrgang vertritt das Prinzip der minimalen Hilfe, d.h. der Schiiler soll seine Lernerfahrungen möglichst selber machen können. Dies setzt beim Lehrer u.a. didaktische Zurückhaltung voraus. Haben Sie dieses Prinzip in Ihrem Unterricht verwirklichen können?

ja: 4 / teilweise: 7 / nein: 1 Bei welchen Schülertypen in Ihrer Klasse lässt sich dieses Prinzip nur teilweise oder nicht verwirklichen? - Da ich mit sehr schulfrustrierten Kindern arbeite, musste ich am Anfang mehr helfen, um die

negativen Erfahrungen nicht zu verstärken. Jetzt halte ich mich stark zurück. Die Kinder helfen sich oft untereinander.

- bei Kindern fremdsprachiger Eltern (2x) - bei sehr stark wahrnehmungsgestörten und antriebsschwachen Schülern (2x) - bei Kindern mit emotionalen Problemen - Unsichere, unselbständige und motivationsschwache Kinder brauchen viel Hilfe und

Unterstützung. Auch sozial schwierige Kinder brauchen lange, bis sie wirklich selbständig werden. (3x)

- Bei Schülern mit Lautierungsproblemen musste ich vermehrt helfend beistehen. Schreiben wird in diesem Lehrgang verstanden als Umsetzungsprozess von gesprochener in geschriebene Sprache. Um die Konzentration der Kinder nicht durch Schönschreibanforderungen von diesem Umsetzungs- und Denkprozess abzulenken, verzichtet Reichen auf das „Schönschreiben“.

Haben Sie im Laufe des ersten Schuljahres mit ihren Schülern zusätzlich, wie in anderen Leselehrgängen auch, „Schönschreiben“ geübt? Ja: 8 / nein: 2 / teilweise: 1

Bemerkungen: zu "ja“: - während des Schreib- und Leselernprozesses weniger "Schönschreiben" denn

Bewegungsschulung und graphomotorisches Training (2x) - geübte Schreibabläufe entkrampfen und festigen das Bild der einzelnen Buchstaben (3x) - mit visuell schwachen und wahrnehmungsgestörten Kindern habe ich jeden Buchstaben einzeln

geübt. - Schreiben als Mittel zum Zweck habe ich im Unterricht klar getrennt. - Es ist ohne weiteres möglich, parallel zum LG Schreibablauf und allgemeine

Schönschreibübungen durchzuführen.

zu "nein": - Ich achte jetzt auf einen sorgfältigen Aufbau der "Schnürlischrift". - Ich habe mit den Schülern geübt, auf einer Linie zu schreiben und die Unterschiede von Gross-

und Kleinbuchstaben zu beachten.

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3. Material 3.1 Schülermaterial:

Beurteilung des Schülermaterials sehr gut gut brauchbar ungeeignet Rahmenthemen 3 4 2 1 Wahrnehmungsblätter 5 5 1 0 LS-Blätter 3 5 1 1 Lesehefte 3 3 3 1

Bemerkungen: - Je nach Schüler andere Blätter. Im Allgemeinen arbeiten die Kinder lieber und motivierter an

ihren eigenen Sachen. Spass gemacht haben vor allem die Wahrnehmungsblätter und die Lesebüchlein.

- Ich habe wenig Material gebraucht. - Wahrnehmungsblätter am Anfang zu schwierig; Lesehefte zu moralisierend. Zeichnungen und

Schrift gefallen mir nicht - Die Blätter zu den Rahmenthemen sind vielfältig einsetzbar. 3.2. Sabefix-Kontrollgerät

Beurteilung hinsichtlich sehr gut gut brauchbar ungeeignet individualisierendem Unterricht 9 1 Einsatz über den Erstleseunterricht hinaus 10

Bemerkungen: - Für Leseanfänger sind die Programme etwas unübersichtlich und klein geschrieben. Gute

Inhalte; habe den Sabefix bei den grösseren Zweit- bis Viertklässlern oft eingesetzt - Wahrnehmungs- und Konzetrationstrainig mit Sabefix sehr gut möglich. Schüler arbeiten gerne

damit - Aufgaben am Anfang schwer (3x) - Der Sabefix beinhaltet sehr viele Übungsmöglichkeiten. Förderung am effektivsten mit Sabefix-

Kontrollgeräten - Vom Sabefix bin ich begeistert. Die Schüler arbeiten gerne damit und bilden sich vielseitig

weiter. Fremdsprachige können mit dem Sabefix ihren Wortschatz ausgezeichnet erweitern. - Die Kinder arbeiten sehr gerne mit dem Sabefix, da er sehr abwechslungsreich gestaltet ist. Er

beinhaltet sowohl auditives wie visuelles Durchgliederungstraining, schult das logische Denken, die Begriffsbildung und erweitert massiv den Wortschatz.

Könnte man auch ohne Sabefix mit diesem Material arbeiten? ja: 8 / nein: 3

Bemerkungen: zu „ja“: - Wäre aber schade, da es eine gute Möglichkeit zu selbstgesteuertem, individualisierendem

Lernen mit Selbstkontrolle bietet. - Der Sabefix ist eine Hilfe. - Aber es wäre schade, da der Sabefix verglichen mit andern Selbstkontrollgeräten (Lük, Profax)

vielseitiger und durchdachter ist

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zu "nein": - Es wäre langweilig und nicht mehr spielerisch, Selbstkontrolle würde fehlen (2x) 3.3 Lehrerkommentar

Beurteilung in Bezug auf sehr gut gut brauchbar ungeeignet methodische Hinweise 6 3 Übungsvorschläge 6 3 zusätzliches Material 5 4 Hintergrundinformationen 4 5

Bemerkungen: - fast zu umfangreich (2x) - zuviele Einzelhefte, Ordner wäre besser (2x) - Dieser Kommentar ist ein Muss für jeden Erstklasslehrer Welche neuen pädagogisch-didaktischen Erkenntnisse bezüglich Erwerb der Lese- und Schreibfertigkeit konnte der Lehrerkommentar vermitteln? - selbständiges Lernen (4x) - individuelles Lernen (3x) - Sprache als Kommunikation - Schreiben vor dem Lesen (3x) - Gemeinschaftsbildung - gesamtunterrichtliches Lernangebot - Schüler selber etwas ausprobieren lassen - Selbstkontrolle - Werkstattunterricht (2x) - Die Leseforschung zeigt keinen einheitlichen Lernweg auf; jedes Kind lernt auf seine Art und

Weise - grössere Toleranz gegenüber Fehlern (2x) - das Kind kann eigene Lernstrategien entwickeln (2x) - natürliche Schreib- und Leseanlässe zentral 4. Lehrer 4.1 Vorbereitung des Unterrichts Haben sich Art und zeitlicher Aufwand bei den Lektionsvorbereitungen verändert?

ja: 5 / teilweise: 4 / nein: 2

Beschreibung der Veränderung: - Aufwändigere Planung, mehr Flexibilität hinsichtlich Planung, mehr Materialherstellung - Fülle des Angebots und ihr Einsatz erfordert Fingerspitzengefühl - Anfangs grosser Zeitaufwand für die Vorbereitung des Werkstattunterrichts - Material für einzelnen Schüler für die selbständige Berabeitung bereitstellen - Ich stelle jetzt viel Material bereit, das ich später ev. im Unterricht einsetzen kann - Ich setze grössere Akzente auf Individualisierung und Differenzierung

Haben sich bei der Arbeit mit diesem Lehrgang die Lehreraktivitäten im Unterricht verändert? ja/teilweise: 8 / nein: 3

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Bemerkungen: zu "ja/teilweise": - Ich fühle mich nicht als Organisator, sondern als Helfer und Berater - Veränderungen bedingt durch das Prinzip der minimalen Hilfe - Während des Unterrichts habe ich viel mehr Zeit für die Unterstützung schwacher Schüler - Beratende, helfende Funktion hat sich vergrössert, steuernde, leitende Funktion eher verkleinert

zu "nein": - Ich arbeitete schon vorher stark nach dem Prinzip des selbstgesteuerten und

individualisierenden Lernens - Es hängt von den Schülern ab

Erfolgen diese Veränderungen vom Lehrgang her zwingend?

ja: 4 / teilweise: 3

4.3 Sicherheit des Lehrers Der Lehrgang 'Lesen durch Schreiben" setzt neue wissenschaftliche Erkenntnisse der Leseforschung um und bietet eine Fülle von Arbeitsmaterial an, um einen individuellen Unterricht zu ermöglichen. Hat Sie das zu Beginn der Arbeit verunsichert?

ja/teilweise: 8 / nein: 3

Bemerkungen: zu "ja/teilweise": - Die Arbeitsmaterialfülle hat mich anfangs verunsichert - ganz neuer, unbekannter Ansatz - Angst, dass die Kinder das Ziel nicht erreichen würden - Zum Glück wird der Lehrer verunsichert, man beobachtet dann seine Schüler wesentlich

aufmerksamer - Nach intensiver Auseinandersetzung mit Lesedidaktik und -methodik gewann ich mehr

Sicherheit

zu "nein": - Ich arbeitete schon früher individualisierend.

Falls ja: Haben Sie im weiteren Verlauf der Arbeit wieder Ihre Sicherheit zurückgewinnen können?

ja: 6 / teilweise: 2 / nein: 0

- Die Kinder zeigten mir schnell, welches Material sie anspricht und ihnen hilft. - Ich musste den Anspruch, alles Material bearbeiten zu wollen, gemäss Lehrgangkonzept

aufgeben - Die Erfolge im Vergleich mit früheren Lehrgängen haben mir die Sicherheit zurückgegeben - Der Austausch mit Kollegen und die Begeisterung und Lernerfolge der Kinder gaben mir die

Sicherheit zurück. 4.4. Auswirkungen des Lehrgangs Erleben Sie die Auseinandersetzung mit diesem Lehrgang als eine Bereicherung (Anregung, neue Ideen)?

ja: 11 / teilweise: 0 / nein: 0

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Bemerkungen: - Ich finde es faszinierend, wie jedes Kind die Sprache anders entdeckt (Art, Tempo, Inhalt) - Lässt keine langweilige Routine aufkommen - Der Lehrgang regt zu grundsätzlichen Gedanken zum Lernen an - Die Idee des Werkstattunterricht bereichert meinen Unterricht sehr (2x) Erlebten Sie die Auseinandersetzung mit diesem Lehrgang als eine Belastung?

Ja: 0 / teilweise: 4

Bemerkungen: - Am Anfang fiel es mir schwer, die Übersicht zu behalten und den Stand der einzelnen Schüler

festzustellen 4.5 Einführung des Lehrgangs

Hat Ihnen der Einführungskurs die Arbeit und die Auseinandersetzung mit dem Lehrgang erleichtert?

ja: 3 / teilweise: 6 / nein: 2

Bemerkungen: - Vor dem Kurs sollten die Hefte des Lehrerkommentars gelesen werden. - Ich war froh, den Autor des Lehrmittels selber kennenzulernen. Er hat gut vermitteln können,

was ihm beim Lesen wichtig ist.

Welche Form der Einführung würden Sie als günstig erachten? - Ich fand die Form gut; 3 bis 5 Tage wäre besser. (3x) - Praxisbegleitung: Erfahrungsaustausch nach bestimmten Zeitabschnitten. (3x) - Überblick über das Lehrmittel, ev. mit Videofilm (2x) - Einführung auch durch Praktiker, verbunden mit Schulbesuchen 5. Spezielle Eignung für Sonderklasse 5.1 Arbeit mit der Klasse Die Schulleistungsschwierigkeiten der Sonderklassenschüler haben verschiedenste Ursachen. Sie können intellektuell, emotional, psychosozial und/oder organisch bedingt sein. Somit ist auch das Erscheinungsbild der Schwierigkeiten und der Leistungsstand in Sonderklassen nicht homogen. Geht der Lehrgang auf diese Bedingungen ein? Können mit diesem LG individuelle Lernfähigkeiten (Tempo, Selbstständigkeit) berücksichtigt werden? Ist somit ein individueller Unterricht möglich?

Ja: 11 / teilweise: 0

Bemerkungen: - Der Lehrgang "Lesen durch Schreiben" drängt sich für Sonderklassen geradezu auf. - Die schnellen Schüler können selbständig in ihrem Tempo weiterarbeiten und werden nicht

künstlich gebremst, während ich mich fast ausschliesslich den langsameren Kindern zuwenden kann.

Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang das didaktische Überangebot? Erleichtert es einen individuellen Unterricht?

Ja: 11 / teilweise: 0

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Bemerkungen: - Das Überangebot ist eigentlich Voraussetzung, damit ein individualisierender Unterricht

möglich wird. Durch die Schulschwierigkeiten haben die Schüler der Sonderklassen sehr oft grosse Motivationsprobleme. Es ist für den Sonderklassenlehrer besonders wichtig, thematisch auf aktuelle Interessen und Möglichkeiten der Schüler eingehen zu können. Ist das mit diesem LG möglich?

sehr gut: 6 / gut: 5 / nicht möglich: 0

Bemerkungen: - Aus dem Lehrgang ist nur die Buchstabentabelle zwingend. Das andere Material kann ich

selber frei zusammenstellen und somit auf die Interessen der Schüler eingehen. - Der Lehrgang erlaubt eine freie Themenwahl. (2x) Wie hat sich die Arbeit mit diesem LG auf die Motivation der Kinder ausgewirkt?

positiv: 11 / negativ: 1 / keine Veränderung: 0 (eine Doppelnennung)

Bemerkungen: - Die Schüler sind fest überzeugt, sie hätten allein lesen gelernt. - Bei sehr schwachen Schülern mit Problemen im Lautieren lässt die Motivation nach einer

gewissen Zeit nach, was aber auch bei andern Lehrgängen passiert. - Doppelnennung: Positiv: Freude an der Buchstabentabelle, ich kann alles schreiben; Negativ:

Lesen kann ein Kind noch nicht sofort. - Die Möglichkeit aus einem Angebot auszuwählen motiviert stark. 5.2 Einzelförderung - Eignung für Spätleser Zur Klärung des Begriffs 'Spätleser' sei hier zuerst eine Definition vorangestellt: Unter 'Spätleser' verstehen wir Kinder, die aus irgendwelchen Gründen trotz fortgeschrittenen Alters den Erstleselernprozess nicht abgeschlossen haben und somit nicht in der Lage sind, einen einfachen Text in angemessener Zeit selbständig zu lesen und den Sinn zu entnehmen. Haben Sie während der Erprobung mit Spätlesern gearbeitet?

ja: 5 Wie beurteilen Sie den methodischen Ansatz 'Lesen durch Schreiben' für Spätleser?

sehr geeignet: 2 / teilweise geeignet: 3 / ungeeignet: 0

Bemerkungen: zu "sehr geeignet": - Die Tabelle gibt dem Kind Sicherheit. Es schreibt und beschäftigt sich so mit den Buchstaben.

Jetzt lese ich mit dem Kind einfache Texte, und Fortschritte werden sichtbar.

zu "teilweise geeignet": - Tabelle und Grundidee sind sehr geeignet. Die Rahmenthemen und die Lesebüchlein sind zu

kleinkindlich. Sie sind für Schulanfänger gestaltet. - J e nachdem, warum ein Schüler Spätleser ist; Buchstabentabelle ist auf jeden Fall geeignet. (2x)

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Spätleser sind häufig entmutigt. Lassen sie sich mit diesem Lehrgang eher motivieren als mit einem anderen Lehrgang?

ja: 4 / teilweise: 1

Bemerkungen: - Im Gegensatz zu anderen Lehrgängen steht der kommunikative Aspekt der Sprache gegenüber

der Rechtschreibung im Vordergrund, was sich motivierend auswirkt. - Motiviert durch die Buchstabentabelle (die Buchstaben sind immer griffbereit) und den Sabefix.

(2x) - Anstatt nochmals mit einer traditionellen Erstlesetibel von vorne zu beginnen, bekommt das

Kind die Möglichkeit, auf seinem aktuellen Lernstand weiterzulernen. Wie beurteilen Sie den Erfolg dieses Lehrgangs bei Spätlesern?

sehr gut: 2 / gut: 1 / befriedigend: 0 / schlecht: 0

Bemerkungen: zu "sehr gut",.

- M. hat Spass am Lesen und Schreiben. Sie schreibt auch in der Freizeit recht viel. In der Rechtschreibung hat sie immer noch grosse ProbIeme.

Zwei Lehrerinnen können obige Frage noch nicht abschliessend beantworten. Begründung: - Die beiden Schüler mussten während des Schuljahres die Klasse wechseln. Der Lernerfolg kann

noch nicht abschliessend beurteilt werden. - Trotz anfänglicher Motivation und Kenntnis der Einzelbuchstaben auch nach einem Jahr noch

oft unleserliche Wörter. Die Entwicklungsrichung ist noch unklar (B) 6. Eltern 6.1 Reaktion der Eltern Diese Lesemethode ist bei uns noch ungebräuchlich. Haben Sie die Eltern speziell darüber informiert?

Ja: 0

Wie? an Elternabenden: 7 Elternabend und Elterngespräche: 2 Elternbrief: 1 Wie reagierten die Eltern auf die Arbeit mit diesem Lehrgang?

positiv: 9 / gleichgültig: 2

Bemerkungen: - Die Eltern der Grossfamilien (Pflegefamilien) reagierten sehr interessiert. Sie betonen, dass die

"Reichen-Kinder" im Vergleich zu den eigenen Kindern, die in der Volksschule mit einem traditionellen Lehrgang lernen, spontaner und häufiger schreiben.

- Beispiele von Elternäusserungen: "Die lesen und schreiben ja wie automatisch." "Das Lautieren macht Schwierigkeiten." "Können schnell lesen und schreiben." "Können gleich alle Buchstaben". "Mein Kind schreibt mir Briefe. Das haben die älteren Geschwister nicht gemacht." "Ich musste mit meinem Kind weniger lesen lernen."

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- Die Eltern freuen sich über die kleinen schriftlichen Mitteilungen ihrer Kinder. Die Eltern werden vom "Lesedrill" entlastet.

- Viele Eltern haben Angst wegen der fehlenden Übersicht und Kontrollmöglichkeit. - Die Methode leuchtet den Eltern sehr ein. 6.2. Hilfestellungen zu Hause Die Methode 'Lesen durch Schreiben' ist relativ einfach. Ist es möglich, dass die Eltern zu Hause nach kurzer Instruktion ihre Kinder lehrganggerecht anregen und unterstützen können?

gut möglich: 7 / nicht möglich: 2 / nicht nötig: 1 Entstanden aus der Tatsache, dass diese Methode ungewohnt ist, spezielle Probleme zu Hause (z.B. falsche Erwartungen, falsche Hilfestellungen)?

Nein: 4 / teilweise: 3 / ja: 3

Falls ja, konnten diese Probleme behoben werden?

ja: 5 / teilweise: 1 / nein: 0 Bemerkungen: - Durch vermehrte Elternkontakte kannten Probleme behoben werden. Die Eltern haben zu früh

eigentliche Leseübungen gemacht. - Leistungsbewusste Eltern sind oft verunsichert, mindestens so lange, bis das Kind schreiben und

lesen kann. - Die Eltern erwarten fast immer zu viel oder zu schnell etwas. - Teilweise war es schwierig, die Eltern davon zu überzeugen, dass Orthographiefehler und

fehlendes Schönschreiben zu Beginn unwichtig sind. Ich habe das Schreibentwicklungsmodell von Gudrun Spitta in Elterngesprächen mehrmals erfolgreich eingesetzt, um den Eltern die Zusammenhänge zu erklären.

7. Vergleich Vergleich mit den beiden anderen in Kanton St.Gallen gebräuchlichen Erstleselehrgängen (Meiers: Lesespiegel / Grissemann: Lesen-Sprechen-Handeln) Beantworten Sie die Fragen im Hinblick auf die Verwendbarkeit in Ihrer Sonderklasse. Beurteilen Sie jedoch nur jene Lehrgänge, mit denen Sie bereits gearbeitet haben! 7.1 Berücksichtigung der individuellen Lernvoraussetzungen Ist ein individueller, auf die Lernvoraussetzungen der einzelnen Kinder ausgerichteter Unterricht möglich? Reichen:

Lesen durch Schreiben Meiers: Lesespiegel

Grissemann: LesenSprechenHandeln

sehr gut möglich 11 1 1 teilweise möglich 8 5 nicht möglich 3

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7.2. Unterrichtsorganisation Bedingt durch die individuelle Förderung arbeitet der Sonderklassenlehrer oft mit einzelnen Kindern. Es ist notwendig, dass die anderen Kinder der Klasse dann selbständig arbeiten können. Ermöglicht das Lehrgangsmaterial selbständiges Arbeiten? Reichen:

Lesen durch Schreiben Meiers: Lesespiegel

Grissemann: LesenSprechenHandeln

sehr 10 1 1 teilweise 1 8 3 nein 4 7.3. Teilleistungsschwächen Kinder in Sonderklassen haben häufig Teilleistungsschwächen. Bieten die Lehrgänge Materialien und methodische Anregungen für die Förderung einzelner Teilbereiche (visuelle und auditive Wahrnehmung, Konzentration, Denkschulung, Speicherfähigkeit)? Reichen:

Lesen durch Schreiben Meiers: Lesespiegel

Grissemann: LesenSprechenHandeln

sehr 8 2 2 teilweise 3 7 5 nein 1 7.4. Einsicht in den Bau und die Funktion der Schrift Einer der wichtigsten Lernschritte beim Lesenlernen ist das Erlangen der Einsicht in den Bau und die Funktion unserer Buchstabenschrift (Umsetzen von Lauten in graphische Zeichen und umgekehrt). Fördern die Lehrgänge diese Einsicht? Reichen:

Lesen durch Schreiben Meiers: Lesespiegel

Grissemann: LesenSprechenHandeln

sehr 11 3 teilweise 4 5 nein 2 3 7.5 Aus Gründen der Motivation ist es in Sonderklassen besonders wichtig, thematisch auf die Interessen der Schüler einzugehen. Wieweit lässt sich dies bei den drei Lehrgängen verwirklichen? Reichen:

Lesen durch Schreiben Meiers: Lesespiegel

Grissemann: LesenSprechenHandeln

sehr 11 3 1 teilweise 5 3 nein 1 4 8. Abschliessende Beurteilung des Lehrgangs 'Lesen durch Schreiben'

8.1 Eignet sich der LG 'Lesen durch Schreiben' für den Einsatz in Sonderklassen?

sehr: 11 / teilweise: 0 / nein: 0

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Würden Sie es begrüssen, wenn dieser LG in die Lehrmittelliste der Sonderklassen aufgenommen würde?

sehr: 11 / teilweise: 0 / nein: 0 8.3. Würden Sie auch in Zukunft mit diesem LG arbeiten?

ja: 11 / je nach Klasse: 0 / nein: 0

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Text-C11 Therese Leibenath Meine Erfahrungen mit „Lesen durch Schreiben“ erschienen in: Fragen und Versuche / Zeitung der Pädagogik-Kooperativen / Heft 57, September 1991 sowie in: Päd Extra / Juni 1992 Folgende Diskrepanz störte, ja ärgerte mich seit Längerem: Schulanfänger,die über einen differenzierten,umfangreichen Wortschatz verfügen, werden überwiegend mit Leselehrgängen konfrontiert, die Zwei-oder Dreiwortsätze enthalten, also sprachlich verkürzt sind und teilweise rudimentären Charakter besitzen.Das muß sich lähmend auf die Lernentwicklung der Kinder auswirken. Hinzu kommt,daß das Lesenlernen in einer Abfolge kleiner Lernschritte zerlegt ist und im Gleichschritt vorangegangen wird, ohne das unterschiedliche Vorwissen der Kinder zu berücksichtigen. Durch Zufall lernte ich die Buchstabentabelle von J. Reichen kennen und mir wurde klar: dies ist ein neuer Weg. Hiermit wird die oben beschriebene Diskrepanz aufgehoben. Jedes Kind der ersten Klasse kann von Anfang an mit Hilfe der Tabelle alles schriftlich mitteilen, was es ausdrücken will. Außerdem kann es sein Tempo selbst bestimmen, sein Lesenlernen selbst steuern. Mit kleinen Spielen wird der Gebrauch der Tabelle eingeübt. Ich verzichte hier darauf, das Materialpaket von J. Reichen vorzustellen. Das ist nämlich alles in seinen sehr umfassenden methodisch/didaktischen Begleitschriften nachzulesen. Mir geht es darum, zu schildern, wie meine jetzige 1.Klasse durch kreatives Schreiben Lesen gelernt hat und zu einer geradezu „schreibwütigen“ Klasse geworden ist, die bis heute eine Menge freier Texte produziert hat. Am Schulanfang lief sehr viel über den Klassenbriefkasten. Ich bekam täglich Briefe von den Kindern. Ein Teil meiner Hausaufgaben bestand darin, Briefe zu beantworten. Ein Ich-Plakat (DIN A2), auf dem die Kinder alles wichtige von sich in Bild und Wort mitteilten,war ein weiterer sehr gelungener Schreibanlass. Außerdem beschrifteten die Kinder ihre Bilder, die zahlreichen Exponate auf unserem Ausstellungstisch, die verschiedenen Nischen unseres Klassenraums. Als in der "Woche der Haustiere" jeweils einen Vormittag lang ein Tier zur Beobachtung in der Klasse war, teilte ich unlinierte Hefte aus. Die Kinder malten und schrieben spontan hinein. Unsere Tierbücher waren geboren. In der Folge verfaßten sie Nonsensgeschichten von Tieren(besonders beliebt), schilderten ihre Erlebnisse mit Tieren oder teilten sachliche Informationen über Tiere mit. Ende November konnten acht meiner Kinder lesen und wollten ihre Geschichten gerne den anderen vorlesen.Von da an wurde es zur festen Einrichtung, die selbstverfaßten Texte im Morgenkreis vorzulesen.Wenn die Kinder die Texte selbst noch nicht lesen konnten, las ich sie vor. Im Gespräch äußerten sich die Kinder zum Inhalt der Texte, zu einzelnen Formulierungen, die besonders lebendig oder treffend waren.Viele Formulierungen wurden in den freien Texten aufgegriffen, hatten also eine positive Wirkung auf die anderen Kinder. Irgendwann, als ein Kind von den Erlebnissen eines Tieres in der afrikanischen Steppe vorlas und an einer besonders spannenden Stelle aufhörte, fragte ein Kind: "Liest du morgen vor, wie es

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weiter geht?" Das war der Start zu unseren Fortsetzungsgeschichten, die sich inzwischen bei einzelnen zu wahren Fortsetzungsromanen entwickelt haben. Tiergeschichten - vor allem Tiergeschichten.Witzige Geschichten von Herrn Plimper-Plamper und Herrn Stinker-Stanker; selbsterfundene Märchen, Texte zu unseren Sachthemen, ein Umweltbuch folgten.Ins Klassentagebuch werden alle wichtigen Ereignisse eingetragen. Eine weitere starke Motivation war die Gestaltung unseres Weihnachtsbuches. Es erhielt einen goldenen Einband, und in ihm wurden alle gemeinsamen Aktivitäten wie Backen, Basteln, Feiern usw. beschrieben. Jedes Kind gestaltete mindestens eine Seite. Zu Ostern verschenkten die Kinder Osterbüchlein in Form eines Eies oder eines Hasen (Umrißzeichnung mehrfach kopiert und ausgeschnitten zusammengeheftet) mit Bildern und Texten. Nach den Frühjahrsferien entwickelte sich aus dem Interesse an mitgebrachten Fundstücken wie Basalt, Bims und Asche ein Projekt "Vulkane". Dieses Thema faszinierte alle so sehr, daß sich eine Ausstellung entwickelte mit Büchern, Fundstücken, selbstgebauten Vulkanmodellen, Bildern und selbstverfaßten Texten. Ich will nicht verschweigen, daß in der Zeit bis November Schreiben für einige Kinder ein mühsames Geschäft war. Während der Freien Arbeit bot ich immer meine Hilfe beim Schreiben an. Wer schreiben wollte, traf sich mit mir an einem bestimmten Gruppentisch. Ich saß mittendrin, half die Lautierkette aufrechterhalten, las den Kindern vor, was sie schon geschrieben hatten und selbst noch nicht lesen konnten - war einfach da als Ansprechpartnerin. Das bewirkte, daß auch die Schwächsten Mut fanden, sich schriftlich zu äußern. Ich habe in diesem Bericht längst nicht alle Schreibanlässe erwähnt, die ich eingegeben habe, bzw., die sich in meiner Klasse ergeben haben. Mit diesen schreib- inzwischen auch lesebegeisterten Kindern habe ich ein aufregendes und anregendes erstes Schuljahr verbracht Übrigens: Ende Mai konnten alle Kinder lesen, obwohl (weil?) ich den Kindern nie eine Leseleistung abverlangt, also nie im herkömmlichen Sinne Lesen geübt habe. Lesen war einfach ein „automatisches Begleitprodukt des Schreibenlernens“ wie Jürgen Reichen uns auf der Schulanfangstagung vorausgesagt hatte.

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Text-C12 Katrin Wohlwendt Lesen durch Schreiben: Erst recht in der Förderschule! erschienen in: Fragen und Versuche / Zeitung der Pädagogik-Kooperativen / Heft 57, September 1991 sowie in: Päd Extra / Juni 1992 Übernommen habe ich meine jetzige 6. Klasse im Februar 88 (damals Kl. 1/2). Einige Kinder waren gleich bei uns eingeschult worden, andere hatten bereits eine gescheiterte Laufbahn an der Grundschule hinter sich. Gruppenunfähig, kontaktgestört, motorisch unruhig, konzentrationsschwach, wahrnehmungsgestört, verhaltensauffällig, aggressiv, regressiv, verwahrlost ..., auf jedes Kind trafen mehrere dieser Bezeichnungen (Zuschreibungen?) zu. Berichte der Grundschulen über die Leistungen im Deutschbereich lauteten fast alle gleich: " ... kann bisher nur wenige Buchstaben erkennen, ... kann nur wenige der geübten Wörter lesen, ... gelingt die Synthese nicht, ... kann den Sinn des Gelesenen nicht erfassen." Ein halbes Jahr lang habe ich nach der Kraftschen Methode gearbeitet: Schrittweises Einführen der Buchstaben, Einfärben der Silben entsprechend der Farbe des Vokales, großmotorische Lautgebärden, klangliche Untermalung der Vokale zur leichteren Differenzierung. Mit anderen Worten, eine an der Förderschule gängige und bewährte Methode, die Schülerlnnen durch multisensorische Eindrücke beim Erwerb der Schriftsprache zu unterstützen. Eine Weile ging es gut: Die Kinder freuten sich, wenn sie 'Mimi', 'Lulu' und 'Oma' "erlesen" konnten. Allerdings nahmen auch Unmutsäußerungen speziell seitens der ehemaligen Grundschüler an Umfang zu. "In meiner alten Schule habe ich schon alle Buchstaben gekonnt. Dieser Scheiß ist was für Babys!" Als ich nach den Vokalen den 4. Konsonanten einführte, fing ich an zu stutzen: SchülerInnen, die bis dahin fehlerfrei von der Tafel ablesen konnten, lasen mit einem Male ein 'S' für ein 'T' , ein 'U' für ein 'A' etc . Im Nachhinein vermute ich, daß die bislang eingegebenen Wörter lediglich über das Erscheinungsbild der Wortfarbe gespeichert wurden. Eine direkte Dekodierungsund Leseleistung hatte demnach nie stattgefunden. SchülerInnen, die keine visuellen Merkschwächen aufwiesen und das Prinzip der Lautsynthese offensichtlich erfaßt hatten, waren m. E. aus heutiger Sicht total unterfordert. Ich tat mich damals immer schwerer mit der Herstellung kindgemäßer, ansprechender Texte. "Sätze" wie "Lolita mit Lolli" oder "Oma mit Muli im See" erschienen mir immer fragwürdiger. Auch in den sonderpädagogischen Zeitschriften erschienen immer häufiger Artikel, die die Einbeziehung der individuellen Sprachentwicklung in den Lese-/Schreiblernprozeß forderten. Als ich dann einen Artikel von Iris Mann las, in dem sie erläuterte, daß niemand im See "ist", sondern immer etwas darin "tut", und daß wir die Kinder mit diesen Übungssätzen eher verwirren, als ihnen durch die vermeintliche Vereinfachung zu helfen, erinnerte ich mich an eine "Leselernmethode" J. Reichens, von der ich beiläufig während der Referendariatsausbildung gehört hatte. Preisanfrage, kurze Vorstellung bei der Schulleitung ... und zum Sommer 88 konnte ich beginnen.

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Einzelne Ausführungen, was ich wie eingeführt habe ob nun sonderpädagogisch oder schlicht auf schwache Kinder ausgerichtet will ich Euch hier nicht näher erklären. Wer Interesse hat, kann ja mal nachfragen. Viel spannender ist es für mich, zu erzählen, was wir dann erlebt haben: "Ich will 'Liebe Oma' schreiben. Wie geht das, hilf mir!" (Kinder, die sonst jegliche Hilfe ablehnten und bisher nie freiwillig gearbeitet hatten). Beim Postspiel stand mit einem Male "Die Bank hat zu" an der Tür. Bei Arztspielen wurden Rezepte ausgeschrieben, bei Polizeispielen Bußgeldbescheide ausgestellt. Die Schubladen vom Krämerladen erhielten Etiketten mit dem jeweiligen Inhalt. Der enorme Umsatz an Postkarten und Briefpapier ging ins Geld. Wenn ich heute möchte, daß wieder etwas öfter geschrieben wird, lege ich einfach neues Briefpapier aus. (Nachdem Sven für sein Beileidssehreiben an Fürstin Gloria eine Danksagung erhielt, boomen Postsendungen an Berühmtheiten. Jedem Kind ist klar, daß es diesen Brief besonders schön abfassen muß, und den Willen, eine gestochene Schreibschrift zu produzieren, entwickeln die Kinder selbst.) Die Mühe, die für ein Kind zu Beginn des Schreibens dahintersteckt, auch nur ein Wort oder einen Satz auf einen Briefbogen zu bringen, kann sich kaum jemand vorstellen, der noch nicht auf diese Weise mit den Kindern gearbeitet hat. Wenn ein Kind bis zu zwei Stunden mit so einer Aufgabe beschäftigt war, war der Fall klar: Dieses Kind ist nicht konzentrationsgestört, nicht lernunwillig und offensichtlich in der Lage, selbständig zu denken und eigene Lösungswege zu entwickeln. Wer mag da noch behaupten, Förderschulkinder könnten sich nicht länger als 10 Minuten intensiv mit einer Sache auseinandersetzen? Das "Aha-Erlebnis" für alle Kinder der Klasse - und das macht den immensen Unterschied zu den gängigen Leselernmethoden deutlich - ist das wahrhaftige Erlebnis, daß Geschriebenes die unmittelbare Wiedergabe dessen ist, was kind sagen will, daß Schrift die vereinbarte Umsetzung des gesprochenen Wortes ist, was ein anderer im Nachhinein lesen kann, wenn er will. Diese Methode war eine höchstgradig schwierige für diejenigen SchülerInnen, die im akustischen Bereich ihre Schwächen haben. Das betrifft nahezu alle Kinder der Klasse. Insofern trainierte das permanente, konzentrierte "In-sich-hineinhören" und das langsame, selbständige Zerlegen eines Wortes in seine phonetischen Bestandteile gerade das, was Förderschüler nämlich in der Regel nicht im entferntesten können: Auf das gesprochene Wort, und nun doch erst einmal auf das eigene, zu achten. Da kaum jemand diese Kinder im außerschulischen Bereich ernst nimmt, erhalten sie durch diesen Ansatz die Chance, sich selbst als Persönlichkeit wahrzunehmen. Von vier Kindern will ich Euch einzeln berichten. Vorweg sei gesagt: Zweifel, ob dieser Ansatz für FörderschülerInnen der richtige sei, plagten mich im Laufe der Jahre des öfteren. Inzwischen bin ich ruhiger geworden. Kaum ein anderes Material bietet einen dermaßen sicheren Einblick in den jeweiligen Entwicklungsstand der Kinder. Alle SchülerInnen durchlaufen mehr oder weniger schnell Stadien, die von den "Fehlern" her typisch für Grundschüler sind. Zu jedem Zeitpunkt kann ich feststellen, in welcher Stufe der Entwicklung sich das Kind befindet, wo und wie ich intervenieren kann oder muß. Meine Erfahrung ist, daß sie eben länger als Grundschüler auf einigen Stufen verweilen. Bis auf die Eltern, und das ist manchesmal schwer auszuhalten, stört das niemanden. Tatsache ist, daß alle Kinder zwar mit Anstrengung, aber immer gern und ohne Langeweile oder Überdruß gelernt haben. Auch wenn Euch nachstehende Texte teilweise "schwach" vorkommen werden, ich freue mich über das, was 'meine' Kinder zu sagen haben.

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Die Förderschule entläßt nach wie vor SchülerInnen aus der 9. Klasse, die weder lesen noch schreiben können! So, und nun zu den einzelnen Kindern: Wenn ich heute Jörg höre, der zu einem Mitschüler sagt. "Was? 'Lampe' kannst du nicht schreiben? Geht doch ganz einfach: 'L-a-m-p-e' so schlägt mein Herz vor Freude höher. Jörg, der in der Grundschule Lesen und Schreiben lernen sollte, ohne auch nur annähernd die elementaren Voraussetzungen zum Schrifterwerb besessen zu haben, konnte m. E. mit dem, was er zu leisten hatte, schlichtweg nichts anfangen. Da er ein ausgesprochen ehrgeiziges Kind ist, muß er sich verbissen bemüht haben, den Schein zu wahren, er könne das, was ihm abverlangt wurde. Unwiederbringlich ging etwas in ihm zu Bruch, als er feststellen mußte: Er kann es nicht. Sein Vater, von der Mutter geschieden, verbrachte trotzdem die Wochenenden zu Hause. Entweder guckte er mit Jörg nonstop Brutalo-Videos oder er übte mit Jörg Lesen, was Jörg ja nicht konnte. Kann man/frau sich eine größere Demütigung vorstellen? Jörg machte irgendwann total dicht. Nachdem ich das Reichenmaterial eingegeben hatte, rührte Jörg monatelang nichts an. Ich bemühte mich, das zu akzeptieren, feuchte Hände bekam ich trotzdem. Da Jörg aber gewissenhaftes Arbeiten und anspruchsvolle Aufgabenstellungen liebt, konnte er letztlich dem Sabefixkasten und den Übungsblättern speziell zum Wahrnehmungsbereich nicht widerstehen. Was konnte es besseres geben, seine visuelle und akustische Kompetenz zu erhöhen? Daß er sich dabei mit Sprache, Schreiben, Lesen beschäftigte, hat er gar nicht richtig mitbekommen. Wohl aber, daß er harte Arbeit leistet. Immer wieder bat er mich, ihm aus Sachkundebüchern vorzulesen. Da seine Mutter Analphabetin ist, ist ihm vermutlich nie vorgelesen worden. Er fing an zu schreiben, als ich ihm vorschlug, doch das Gelesene für uns auf Karteikarten festzuhalten. Er konnte jetzt schreiben, ohne 'sein Gesicht zu verlieren', da er sich die Grapheme ja nicht merken mußte, sondern sie wie alle anderen Kinder einfach von der Tabelle abschreiben konnte. Seine Schreibleistungen sind im Verhältnis zur Klasse noch schwach, aber er schreibt, und ich kann die Texte lesen. Geübte Diktate bewältigt er fast immer fehlerfrei. Vor den Zeugnissen benote ich das Lesen eines ungeübten Textes. Obwohl ich Jörg auslassen wollte, bestand er darauf, sich auch der Anforderung zu stellen. "Ich kann das noch nicht so, aber dafür bin ich in Mathe gut. Bei dem einen ist es so, bei dem anderen so. Das ist doch nicht schlimm. Bitte lassen Sie mich lesen." Seit Wochen arbeitet sich Jörg durch die Sachrechenkartei. Ich lese ihm die Aufgaben vor, dann muß er allein weiterarbeiten. Verdammt viel Textarbeit für ein Kind, dem bei dem Anblick eines einzelnen Buchstabens schon schlecht wurde, nicht? Ich weiß es: Jörg wird eines Tages lesen können. Tobias saß wochenlang nur in einer Ecke und weinte. Seine Eltern hatten sich getrennt, er vermißte den Vater (Reinigungskraft bei der U-Bahn) und gehörte nun zu uns, da er in der Grundschule überhaupt nichts mehr aufnehmen konnte. Putzen galt und gilt bis heute als sinnvolle Beschäftigung. Tobias putzte fast ausschließlich ungefähr ein halbes Jahr lang, wurde von Tag zu Tag fröhlicher, um sich dann mit einer Vehemenz auf das Erlernen der Kulturtechniken zu stürzen, die ich kaum fassen bzw. ertragen konnte. Auch er konnte sich stundenlang mit den Konzentrations-/Wahrnehmungsblättern und Sabefix beschäftigen, die mir teilweise viel zu schwer für ihn schienen.

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Ich habe selten etwas selbständig Aufgeschriebenes von ihm erhalten, außer immer wieder die Reproduktion der Wörter und Sätze, die er in der Grundschule noch begriffen hatte. 'Fu malt Mama' u. ä. ... Sein erstes eigenes Wort schrieb er völlig entspannt und doch angespannt auf dem Boden zu Füßen des Oberschulrates liegend: LiBesBri Er brauchte fast die ganze Unterrichtstunde dafür. Kurze Zeit später nahm mich Tobias beiseite und sagte. "Ich will auch beim Lesewettbewerb der Schule mitmachen. Hör zu, ob ich das gut lesen kann!" Tobias, der eigentlich nach einem Jahr des Verweilens bei uns nachgetestet werden sollte, ob er nicht in einer Schule für Geistigbehinderte besser aufgehoben wäre, konnte lesen. Martina ist die Tochter eines Schichtarbeiters. Sie gehört zu den Kindern der Klasse, die von Klasse 1 an zu unserer Schule gehörten. Wenn der Vater am Tag schlafen muß, müssen die Kinder leise sein. Martina ist leise. So leise, daß sie niemand bemerkt. Sie spricht niemanden an, und niemand spricht sie an. Sie ist fast ein Gegenstand im Raum, der sich nicht bewegt und sich nicht traut, sich zu fühlen. Entsprechend ist ihre Figur-Grund-Wahrnehmung und Raum-Lage-Erfassung gering ausgeprägt. Angepaßt hat sie damalige 'Lola'- und 'Mali'-Leseübungen mitgemacht. Viele Laute konnte sie damals überhaupt nicht, einige kann sie bis heute nicht bilden. Martina fing sehr zögernd an zu schreiben. Alle neuen Angebote kriegt sie nicht mit, übersieht sie einfach. Sie tut, was man/frau ihr sagt, nichts weiter. Wenn Offener Unterricht für ein Förderschulkind eine Überforderung darstellt, so galt das für Martina. Von der Mutter ständig gegängelt, was sie zu tun und zu lassen hätte, war sie fast hoffnungslos überfordert, bei dem, was wir ihr nun abverlangten: Nämlich, sich eigene Tätigkeiten zu suchen. Folglich beschäftigte sie sich hauptsächlich mit den Materialien, die für sie nach Anweisung der Mutter mit Schule und Lernen zu tun hatten. Und das war für sie hauptsächlich das Rechenbuch, denn da ging es ja Seite für Seite vorwärts. Irgendwann setzte ich dem ein Ende. Da ich ja nicht mehr vorne stand und Buchstabe für Buchstabe einführte, mußte sie sich ja nun doch einmal selbst mit Schrift befassen. Ich sagte: "Komm, schreibe etwas! Wenn Du lesen lernen willst, mußt Du etwas schreiben." Niemand muß Martina so etwas zweimal sagen. Sie setzte sich hin und schrieb. Die Entschlüsselung ihrer Texte gelang mir selten zufriedenstellend. Ich bedachte nicht ihre Sprachbehinderung. Viel zu spät entdeckte ich, daß nicht sie, sondern ich die 'Unfähige' war. Ich brauchte lediglich die Laute, die sie nicht aussprechen konnte, durch ihre Ersatzlaute zu ersetzen, um ihre Texte lesen zu können. Entsprechend ihrem Regelsystem schrieb sie vollkommen richtig. (Im übrigen habe ich mit Martina in der letzten Zeit - ich hätte es früher machen sollen, wenn ich gewußt hätte wie - im Rechenunterricht angefangen, so zu arbeiten, wie Angela Glänzel es in Heft Nr. 56 vorstellte. Martina denkt auch im Mathematikbereich, nur eben nicht so, wie ich es meinte, ihr vermittelt zu haben.) Während ich früher auf Martinas Texte ziemlich aggressiv reagierte, nach dem Motto "Warum schreibst du so? Das kann doch niemand lesen, und das wolltest du doch gar nicht schreiben", kann ich ihr heute sagen: "Ach, ja , du wolltest "Farben" schreiben! Du hast Falben geschrieben, weil Du das 'r' noch nicht aussprechen kannst." Auf dieser Ebene kann ich mich inzwischen mit ihr unterhalten, ohne ihr Vorwürfe zu machen. Lesen konnte Martina übrigens, bevor ich in der Lage war, ihre Texte ohne zu große Mühe zu entziffern. Auch Bianca konnte den Anforderungen der Grundschule nicht nachkommen. Wenn sie ein Elternhaus hätte, das sie unterstützen könnte, müßte sie m. E. nicht bei uns sein. Ausgesprochen hübsch, äußerlich gepflegt, fehlt diesem Kind eines: emotionale Zuwendung. Ihr Elternhaus ist geprägt von Gewalt und der Unsicherheit, welches Elternteil wohl nun wieder über Nacht für längere Zeit verschwinden wird. Sabefix hat Bianca nie sehr interessiert. Vom Reichenmaterial

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suchte sie sich die Arbeitsblätter heraus, bei denen sie malen konnte. Mit der Tabelle konnte sie allerdings von einem Tag zum anderen schreiben. Monatelang verfaßte sie Briefe von teilweise beachtlicher Länge, die allerdings kaum jemand aus der Familie las. Seitdem schreibt sie meistens an mich. Da sie ausgesprochen gern bastelt, gaben wir ihr immer öfter Arbeitsanleitungen, ohne sie vorzulesen. Eines Morgens kam sie in die Klasse, setzte sich und sagte: "Ich kann lesen!" Keine Frage, sie konnte! Nach wie vor überrascht sie uns mit ihren Texten. Nie schreibt sie über sachliche Themen. Immer nutzt sie die Gelegenheit, ihre Gefühle auszudrücken. Oft kann ich meine Tränen kaum zurückhalten. Ich nehme sie in die Arme, und wir beide wissen Bescheid.

Diese Art der Vermittlung hat schlicht und einfach unheimlich viel Spaß gemacht. Nötig war und ist der Ansatz, den Kindern ihre Zeit zu lassen. Ich fordere Euch auf. "Versucht es einfach!" Liebe Grüße Eure Katrin

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Text-C13 Elementarlehrerinnen- und Elementarlehrerkonferenz des Kantons Zürich (ELK) Erstleselehrgänge / Berichte aus der Praxis erschienen in: ELK-Information 4 / Dezember 1991 1. Bericht zum Lehrgang „Lesen durch Schreiben“ von Edith Sumi MmmmJjjäger nei mmmRrrrad nei mmmLlllampe mmmMmmmaus ja! Ein Moment Ruhe, die frischgebackene Erstklässlerin kopiert eines der Zeichen neben dem Bild der Maus, M oder m, und weiter geht es, laut und deutlich, um den nächsten zu schreibenden Laut zu finden: Mmmaaammmiii Mmmaaa-a a! Von vorne auf der Buchstabentabelle: AaaJjjäger aaaRrrad ... Abc-Schützen lernen schreiben, nicht etwa lesen! Über Wochen hinweg ist das Schulzimmer erfüllt von Lauten, einem Lärm-Pegel, der für manche Lehrerinnen, Eltern, SchulpflegerInnen sehr ungewohnt ist. Kolleginnen, welche die Reichen-Methode „Lesen durch Schreiben“ wählen, müssen sich dessen bewusst sein. Das von Schaffensfreude erfüllte Schulzimmer strahlt keine emsige Stille aus! Zudem sind die Anforderungen an die Lehrerin während des 'Leseunterrichts' recht hoch. Jedes Kind schreibt den Text, der seinen Anforderungen, seiner Situation. seinem Erlebnisbereich angemessen ist, also bearbeitet jedes Kind einen anderen Text. Das bedeutet für die Lehrerin, sich dauernd neu einzustellen, wenn ihre Hilfe verlangt wird. Und Hilfe brauchen die Kinder oft. Sie können zwar alles schreiben, was sie wollen, nur lesen können sie das bereits Geschriebene nicht. Jede Ablenkung, jeder Unterbruch bedingt, dass die Lehrerin dem Kind weiterhelfen muss, es weiss nicht mehr, wo es im Wort oder Text steht: 'Was habe ich schon geschrieben?' ist eine der häufigsten Fragen. Der Lehrgang stellt eindeutig hohe Anforderungen an Kinder und Lehrerinnen. Auch wenn ich nur mit der halben Klasse arbeitete, war ich selbst dann jede Minute ausgelastet. Die Kinder wollen schreiben, sie wollen so schnell wie möglich ihren Brief, ihre Einladung, ihre Geschichte fertig haben, erleben, dass die Mutter, das ältere Geschwister, die Lehrerin lesen kann, was sie schrieben. 'Habe ich das wirklich geschrieben?' können sie mit Stolz fragen, wenn ich ihnen ihren Text vorlese. So wollen sie aber auch so schnell wie möglich Hilfe bekommen, wenn sie den Faden verlieren und das ist am Anfang bei schwächeren SchülerInnen oder bei den Kindern, die ohne Vorwissen in die Schule eintreten, häufig der Fall. „Lesen durch Schreiben“ bietet gegenüber anderen Leselehrgängen Vorteile, die nicht zu unterschätzen sind. Bis anhin hatte die ganze Klasse miteinander das Aa, das Mm usw. zu lernen - auch die Kinder, die bereits etwas lesen konnten. Dieser Umstand bereitete mir immer Unbehagen, denn irgendwie war es absurd, diese Kinder Einfachsttexte lesen und schreiben zu lassen und ihre Lernbereitschaft auszunutzen. Oh: sie waren immer brav, lasen die Wörtchen immer so sorgfältig wie die andern. Vielleicht hatte ich Glück, dass sie so brav waren und nie die Forderung stellten, die auf der Hand liegt: dass die Schule sie dort zu fördern hat, wo sie stehen. Ich beruhigte mich selbst, mehr oder weniger überzeugt: Es tut ihnen ja gut, dass sie nun 'von Grund auf' lernen, was sie so 'irgendwie' lernten. Damit ist es bei „Lesen durch Schreiben“ vorbei: jetzt leistet jedes Kind so viel, wie es kann, wird dort gefördert, wo es steht. Wer lesen

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will, hat die Möglichkeit dazu. Büchlein zu den verschiedenen Themata sind im Lehrgang inbegriffen. Wer schreiben kann, braucht die Buchstabentabelle eben nur, um seltene Laute zu finden. Ein weiterer grosser Vorteil von „Lesen durch Schreiben“ ist der, dass jedes Kind in seinem Tempo vorgehen kann. Es muss nicht mehr im Rhythmus, den die Lehrerin vorgibt, lernen oder begriffen haben. Es wird die Buchstabentabelle weglegen, wenn es sie nicht mehr nötig hat, es liest, wenn es sich dazu in der Lage fühlt. Reichen gibt eine Unmenge Material mit, zu dem alle Kinder Zugriff haben, das sie benutzen können und nicht müssen! Ganz nebenbei, oft unbemerkt, lernen die Kinder lesen. Nach acht bis zehn Wochen sind die meisten Kinder in der Lage, Wörter zu lesen und ihren Sinn zu verstehen. Mehr als einmal berichteten mir erstaunte Eltern, dass ihr Kind 'schon' lesen könne, dass es jede Gelegenheit dazu ergreife, obwohl ich in der Schule davon noch nichts erkannt hatte., Reichen erreicht, was wohl das Wichtigste wäre: das Kind darf lesen, es muss nicht, es darf Fortschritte machen und muss nicht erleben, dass es 'immer noch nicht kann', hinterher hinkt. Und jedes meiner Kinder hat lernen wollen, aber nicht oder dasselbe zur selben Zeit!

*** 2. Bericht zm Leselehrgang von Jürgen Reichen „Lesen durch Schreiben“ von Lisbeth Lieberherr 1. Allgemeines 1.1 Erster Kontakt Vor einigen Jahren hörte ich von diesem 'Lese-Lehrgang'. Erste Etiketten wie 'selbstgesteuert' und 'Werkstatt-Unterricht' machten mich doch eher skeptisch. Ich war noch ziemlich überzeugt, mit meinem Frontal-und Gruppenunterricht richtig zu liegen. Selbstgesteuertes Lernen war mir fremd (wie sollte es anders sein, wenn man sein eigenes Schulleben lang nur LehrerInnen-gesteuert lernen musste), und ich war überzeugt, dass ich als Lehrerin die Schülerlnnen führen und lehren muss. 'Werkstatt-Unterricht' war wohl nur eine modische Seifenblase. Das kann doch nicht gutgehen, wenn jedes Kind an etwas anderem arbeitet. Und überhaupt, da fehlt der Lehrerin doch jeder Überblick. Wo kämen wir denn da hin (oder: Da chönnt jo jede cho)! Eines Tages begann ich mich dann doch mit dem Projekt 'Lesen durch Schreiben' näher zu beschäftigen. 1.2 Zitate aus dem Lehrerlnnenkommentar - ... die Einsicht nämlich, dass es viele Wege zum Erwerb der Lesefertigkeit gibt, dass aber jedes Kind seinen eigenen Weg finden soll, wozu ihm die Didaktik die Möglichkeiten eröffnen muss. - ... der handelnde Umgang mit Schrift - ... die Buchstaben sind nicht mehr wie Perlen an einer Schnur aufgereiht, mit grossen Zwischenräumen. Hier ... sind die Buchstaben hingestreut wie Bauklötze eines Spielkastens mit der Aufforderung. sich ihrer zu bedienen und Lesbares zu 'schaffen'. - Und Kinder, die nicht durch den Druck des Erfolgreichseinmüssens entmutigt worden sind, werden sich solchen Materialien immer zuwenden und damit Sinnvolles gestalten. - ... dh. die hier angelegte Offenheit für individuelles Lernen beim Kind setzt ein entsprechendes Offensein des Reagierens in Verantwortung und Kompetenz bei den Lehrerlnnen voraus.

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- Aber vielleicht verwirklicht sich gerade dadurch, dass Lehrerlnnen und Schülerlnnen nicht ausgetretenen Pfaden folgen müssen, sondern je für sich Lernende sind, Unterricht in einem neuen Sinne, in dem Lehren darin besteht, dass der Lehrende ständig vom Lernenden lernt, wie er Lehren muss. - Am Lehrgang ist letztlich nicht entscheidend, dass man vom Schreiben ausgeht statt vom Lesen, sondern die andere Art des Lernens, die nahegelegt wird: 'durch Schreiben' kann der Schüler nämlich selbstgesteuert Lesen lernen. - Werkstattunterricht ist jene Unterrichtsform, in der selbstgesteuertes Lernen am besten verwirklicht werden kann, denn da wird nicht die ganze bzw. die halbe Klasse in einem bestimmten Fach unterrichtet, sondern es wird individualisiert und fächerübergreifend gearbeitet. Der mündliche Unterricht entfällt fast ganz, stattdessen werden den SchülerInnen verschiedene obligatorische und freiwillige Lernangebote zur Auswahl unterbreitet. 2 Aus der Praxis 2.1 Kursbesuch Vom Lesen des LehrerInnenkommentars neugierig gemacht, besuchte ich den Einführungskurs zum Lehrmittel. Ich war immer mehr erstaunt über die ganze Vielfalt, die dieser Lehrgang an Material und Ideen und Denken in sich birgt. Gespannt lauschte ich, als die Teamleitung von ihren Erfahrungen erzählte, die fast sämtliche sehr positiv waren. Ich beschloss, in der nächsten 1. Klasse mit diesem Lehrgang zu arbeiten. 2.2 Anfangsarbeit in der 1. Klasse 2.2.1 Elternabend Ich führte in der ersten Woche einen EA durch. Es war mir besonders wichtig, die Eltern von dieser anderen Art Lernen zu überzeugen, oder sie wenigstens zu informieren. Meine eigene anfängliche Skepsis (die auch jetzt noch nicht ganz weg war) erlebte ich jetzt bei einem Teil der Eltern. Besonders wurden etwa auch Ängste geäussert, ob es dann nach drei Jahren nicht umso schwieriger sei, den Übertritt in die Mittelstufe zu bewältigen. Schliesslich waren die Eltern aber bereit, mit mir den Versuch zu wagen. 2.2.2 Die neuen ErstklässlerInnen Zur Zeit arbeite ich zum zweiten Mal mit ErstklässlerInnen und diesem Lehrmittel. Am Anfang werden anhand der Buchstabentabelle die zugehörigen Wortbegriffe erarbeitet. Sobald die Kinder diese Wörter kennen, wird mit dem Schreiben begonnen, also schon etwa Ende der ersten Woche! Einige Kinder begreifen den Schreibvorgang schon nach einigen Tagen und schreiben dann drauf los. Andere Kinder brauchen mehr Zeit und begreifen dann. Wieder andere SchülerInnen brauchen Unterstützung und Hilfe. Nach etwa sieben Schulwochen sind fast alle Kinder so weit, dass sie schreiben. Einige haben auch das Lesen schon begriffen. Das selbstgesteuerte Lernen findet natür1ich auch im Rechnen statt. So rechnen einige Kinder bereits nach einigen Wochen schon bis 20, andere hingegen haben im Moment noch sehr genug am Rechnen bis 10, noch andere rechnen erst etwa bis 5. 2.2.3 Wie geht es weiter? Extreme gibt es natürlich wie bei jedem Leselehrgang. Wie schon gesagt, begreifen die meisten Kinder schon in einer mehrwöchigen Anfangsphase den Schreib- und Lesevorgang und arbeiten damit. Andererseits hatte ich in der letzten 1. Klasse einen Knaben, der im Langschuljahr nur mühsam das Schreiben lernte. Von Lesen nicht die Rede. Natürlich arbeitete ich auch immer

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wieder speziell mit ihm, liess ihm und mir aber Zeit. Und siehe da, nach einigen Wochen in der 2. Klasse kam er eines Tages in die Schule und sagte zu mir: 'Ich kann jetzt lesen.' Ich konnte es fast nicht glauben. Wie sollte so etwas möglich sein - von einem Tag zum anderen ? Es war aber wirklich so. Zudem machte der Knabe solch schnelle und grosse Fortschritte, dass er andere Kinder, die schon längst lesen konnten, schnell in der Lesefertigkeit überholte. Ich schreibe es dem 'Zeit-lassen' zu, dass dieser Knabe sich weiterhin zu einem eifrigen und freudigen Leser entwickelte. Sowohl Schulpflegern als auch Eltern und natürlich mir fiel immer wieder auf, dass die Kinder sehr selbständig arbeiteten. 3 Vor- und Nachteile Die Illusion des 'Überblicks' wird mit dieser Art von Lehren und Lernen total zerstört. Aus dem Kommentar: Diese Offenheit und Flexibilität erschwert am Anfang die Übersicht. Wer als LehrerIn zum ersten Mal mit „Lesen durch Schreiben“ arbeitet, muss die Schwierigkeit bewältigen, ohne einen umfassenden Überblick mit dem Material zu arbeiten. 3.1 Vorteile Die Beschränkung auf einen kleinen Fibel-Wortschatz entfällt. Jedes Kind arbeitet in seinem Tempo und wird dabei unterstützt. Kein Kind wird, weil es etwas Bestimmtes noch nicht kann, vor andern blossgestellt. Es ist von Anfang an für jedes Kind klar, dass nicht alle gleich weit sind, dass dies aber nichts mit einem qualitativen Urteil zu tun hat. Von Anfang an begreift das Kind das Schreiben als etwas Soziales, als Kommunikationsmittel. Es kann sehr schnell das aufschreiben, was es sagen will, und nicht nur die paar Wörtchen aus einer Fibel. Ebenfalls dieser Art von Lehren/Lernen schreibe ich es zu, dass die SchülerInnen sehr schnell soziale Fortschritte machen, einander helfen und miteinander arbeiten. Wenn das Kind will (was meist der Fall ist). kann es soviel arbeiten, wie es mag. Es ist nicht eingegrenzt von einer Fibel oder von einer LehrerInnenvorgabe. Es wird dem Kind leicht gemacht, dass es das Lernen als etwas Aufregendes und Schönes, aber nie Langweiliges erfährt. Dadurch, dass die meisten Kinder selbständig und selbstgesteuert arbeiten, habe ich als Lehrerin mehr Möglichkeiten, mich um schwächere Kinder zu kümmern. 3.2 'Nachteile' Weil das Auflautieren für das Kind eine ausserordentlich hohe Einstieghürde darstellt, ist die Arbeit mit dem Lehrgang im 1. Quartal erschwert. Dazu kommen verschiedene Probleme für die LehrerInnen. Sie müssen sich auf ein neues Konzept umstellen und ihre pädagogische Haltung verändern. Denn ein Unterricht, der wie „Lesen durch Schreiben“ primär auf Selbststeuerungsprozesse abstellt, setzt pädagogischen Optimismus voraus, eine.Überzeugung, dass Entwicklungskraft und Lernfähigkeit der Kinder so gross sind, dass sich didaktische Führung häufig erübrigt, dass Kinder im Prinzip sehr viel mehr verstehen und leisten können, als ihnen der Anfangsunterricht meistens zutraut, und es für die LehrerInnen vor allem darauf ankommt, die Kinder bei ihrem selbständigen Lernen nicht zu stören (aus dem LehrerInnenkommentar). Manchmal wird gesagt, wenn so gearbeitet werde (individuell), dann gebe es zu wenig Gemeinschaftliches. Am Frontaluntetricht aber ist das Gemeinschaftliche sehr oft die Langeweile. Auch im Werkstattunterricht gibt es ja einiges, was wohl immer mit der ganzen Gruppe gemeinsam gemacht wird, so zum Beispiel das Singen, Turnen und wohl auch meist das Werken

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und Zeichnen. Zudem ist es keiner Lehrerin verwehrt, gemeinschaftliche Anlässe zu schaffen, wie etwa gemeinsam zu Mittag zu kochen und essen (aber auch hier wird wieder individualisiert), einstudieren, üben und erarbeiten eines Theaters, Tänze usw. Für Werkstattunterricht braucht man auch genügend Werkstattmaterial. Dies alles für sich selbst und allein zu erarbeiten, sprengt die Machbarkeit, es wäre zudem auch wenig sinnvoll. In Zusammenarbeit mit KollegInnen lassen sich wohl bessere und tauglichere Mittel schaffen. Schon einiges an Werkstattmaterial ist heute käuflich erwerbbar, zudem führt die ELK Werkstattbörsen durch. 4 Fazit Ich kann mir heute nicht mehr vorstellen, anders zu arbeiten. Meine pädagogische Haltung hat sich seitdem grundlegend gewandelt. Ich bin nicht mehr Hauptperson, sondern manchmal sind eben die Kinder meine Lehrerinnen.

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Text-C14 Hannah Eberbach-Klemenz Lesen durch Schreiben an der Sprachheilschule erschienen in: Fragen und Versuche / Zeitung der Pädagogik-Kooperativen / Heft 57, September 1991 sowie in: Päd Extra / Juni 1992 Nach 15 Jahren an einer sogenannten Lernbehindertenschule, meist in den Klassen 5-9 ließ ich mich an eine Sprachheilschule versetzen und bekam eine 1. Klasse.

Da ich seit Jahren interessiert die Berichte der Hamburger über LESEN DURCH SCHREIBEN verfolge, gab es für mich zu Beginn dieses Schuljahres keine andere Möglichkeit als es einfach mal auszuprobieren.

Meine Klasse besteht aus 10 Kindern mit starken Sprachproblemen. Zwei der Kinder wiederholen die 1. Klasse, haben also schon mit Fibeln Bekanntschaft geschlossen. Die anderen sind von ihren Leistungskapazitäten her stark unterschiedlich. Zwei davon würde ich heute schon unbedenklich zum Abitur anmelden, ein Junge ist 9 Jahre alt, spricht in höchsten 3-Wort Sätzen und würde an einer Schule für Geistigbehinderte auch nicht auffallen. Dazwischen tummeln sich die andern, allesamt guten Mutes, wie ich auch.

Weitere schulische Gegebenheiten: Die Kollegin, die die Parallelklasse führt, blieb nach reiflicher Überlegung bei der Fibel. Mein Schulleiter weiß, daß neue Wege beschritten werden müssen, ist froh, daß ich mich auf den Weg mache. September 1990 Das neue Schuljahr beginnt, die Schüler freuen sich auf ihre Fibel. Es gibt keine. "Wie sollen wir denn dann lesen und schreiben lernen?" Jetzt kommt die Buchstabentabelle zum Einsatz. Sie wird mit verwundertem Staunen aufgenommen: "Damit kann ich alles schreiben, was ich will?" Und wie sie können! Oktober 1990 Sven kommt an:"Meine Freundin in der anderen Schule kann schon lesen." Michael:"Kann sie auch schon so gut schreiben wie wir?" Sven fragt nach, sie kann es nicht.

Beim Elternabend gab es eine heftige Diskussion. Angst bei vielen, daß die Kinder nie richtig schreiben lernen. Ein Vater unterstützt mich. Sein Sohn wiederholt die Klasse. Der Vater nennt den Fibellehrgang einen Schnelldurchgang für Kinder, die das Lesen auch so lernen würden. Schwache Schüler würden unten rausfallen.

Ich bekomme grünes Licht, was sie jedoch nicht daran hindert, ihren Kindern zu sagen, daß man z.B. Pupe mit zwei. p schreibt. Die Kinder sind nachsichtig nach dem Zitat von St. Exupery: Mit Erwachsenen muss man sehr viel Geduld haben!

Die Kinder sind begeistert von den häuslichen Gesprächen über unsere Schreibmethode. Sie vertrauen mir. Herbstferien 1990 Bis auf ein Kind braucht , niemand mehr die Buchstabentabelle. Wir schreiben wie die Weltmeister, allerdings nur mit Großbuchstaben.

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November 1990 Ein neuer Schüler kommt dazu. Er wiederholt die 1. Klasse. Für ihn ist es kein Problem, sich auf unser Programm einzulassen. Drei Kinder beginnen mit den Kleinbuchstaben, vor dem ei steht noch ein a z.B. Laeiter (hört man ja auch!) aus Vata ist ein Vatea geworden, Michael schreibt schon Vater, aber auch Sofer (statt Sofa).

Ich klebe am Material, habe aber keinen so richtigen Überblick, was ,wichtig ist. Ein Drittel des Schuljahres ist um. Ich könnte die Lernzielkontrolle für Ängstliche machen, weiß aber, daß nur 2 Kinder Erfolg hätten. Also laß ich das erst mal. Die Kinder sind mit Eifer bei der Sache, schreiben ihre Wochenpläne, arbeiten danach. Dezember 1990 Beim Adventsingen der Schule haben wir das Thema Hoffnung. Unser Schulleiter schickt uns in die Klassen, über unsere Hoffnungen nachzudenken. Es entsteht ein Plakat:

ICH HOFFE Daß ES SCHNEIT. (Michael) ICH EIN SCHÖNES BUCH KRIG. (Angela) ICH SCHÖNES ZU SCHBILEN KRIG. (Tobias) AN WEINACHTEN SCHNE LIGT. (Holger) DI SONE SCHEINT. (Maja) ICH HOFFE ES WIAT BALD WINTER. (Thomas) ICH HOFFE DI MAMA WIAT GESUND. (Niklas)

Der Schulrat sieht das Blatt und sagt meinem Schulleiter, daß er mir solche Plakate untersagen soll. Mein Chef versucht mich zu rechtfertigen, Schulrat kann aber nicht zuhören. Ich bin stolz auf meine Klasse, mein Chef wird immer neugieriger.

Er kommt in den Unterricht und wundert sich, wie selbständig die Kinder arbeiten, wie sie voll konzentriert eine Unterrichtsstunde lang arbeiten können. Mit Spannung verfolgt er unsere Arbeit.

Vor den Ferien dann doch die Kontrolle. Es sieht gut aus! Die können eine ganze Menge! Januar1991 Nach Ferienabschnitten hat sich wieder eine Menge gesetzt. Es ist schön zu sehen, wie jedes Kind weitergeht, bei bestimmten Schwierigkeiten verweilt, dann aber wieder einen neuen Schritt macht.

Es gibt Hochs und Tiefs - aber nie kommt der Gedanke, an der Methode stimme etwas nicht. Mai 1991 Es läuft! Die Motivation ist hoch! Wir schreiben wie die Weltmeister: Briefe, Merkzettel, Hausaufgaben, Texte. Alle haben dauernd Gründe zu schreiben.

Mit Staunen höre ich im Lehrerzimmer vom Problem des Synthetisierens. Jede Grundschullehrerin kann ein Lied davon singen. Ich nicht. Bis auf ein Kind lesen alle. Ohne die mühselige Quälerei, es war einfach da!

Und noch ein Vorteil ist mir aufgefallen. Unsere sprachbehinderten Kinder lernen mit dem Schreiben für die Therapie, lernen durch die Therapie besser schreiben.

Beim Gutachten heißt es am Ende immer abschließende Stellungnahme: Mir und meiner Klasse macht die Arbeit mit dieser Methode solchen Spaß, daß ich ganz sicher wieder damit arbeite.

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Selbst sprachbehinderte Kinder, die extreme Stammelfehler machten und noch machen profitieren davon. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Kinder vorwärtsgehen, unaufhaltsam, jedes in seiner Geschwindigkeit. Ich habe mir allerdings auch die Freiheit.genommen mich exakt an den Lehrplan zu halten, daß die Kinder nämlich Ende des zweiten Schuljahres lesen können sollen.

Für mich ist es die einzig mögliche Methode mit Kindern Schreiben, Lesen und Sprechen zu lernen. Sie ist einfach in einen offenen Unterricht zu integrieren, nein sie hilft öffnen.

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Text-C15 Lotte Busch Das Vertrauen wird auf eine harte Probe gestellt / Lehrerfortbildung bei „Lesen durch Schreiben“ in Hamburg erschienen in: Päd Extra / Juni 1992 LdS-Klassen gibt es in Hamburg jetzt im zehnten Jahr. Es begann 1982 mit einer von der Behörde mehr zufällig ausgesuchten Versuchsklasse. Ebenfalls durch sogenannte Zufälle gelangte „Lesen durch Schreiben“ (LdS) im nächsten Jahr in die Freinetgruppe, wo wir auf etwas Ähnliches nur gewartet hatten. Wir suchten seit Jahren nach einer Möglichkeit, den Kindern das Lesenlernen wirklich in die eigenen Hände zu legen. Freinets »Natürliche Methode« aktiviert zwar die Kinder und läßt sie mit ihren eigenen Texten arbeiten, schien uns aber nicht weitgehend genug, da die Kinder immer noch abhängig bleiben von der Lehrerin in ihrer Funktion als Sekretärin. Überzeugt von dem Ansatz Reichens, begannen wir 1983 in zwei Freinetklassen mit LdS. Obwohl wir natürlich eine Menge Fehler machten, zeigte sich schon im ersten Jahr, daß dies die richtige Entscheidung war. Endlich gab es keine gelangweilten oder überforderten Kinder mehr, jedes konnte zu jedem Zeitpunkt seine Kenntnisse anwenden und in seinem persönlichen Tempo erweitern. Sehr schnell entstanden die ersten persönlichen Texte, Texte, die von keiner Fibelfigur inspiriert und abhängig waren. Das Lernklima in der Klasse war ein anderes, geprägt von Aktivität und einer Freude am entdeckenden Lernen, wie wir es bis dahin noch nicht erlebt hatten. Was wir geahnt hatten, sahen wir voll bestätigt: Befreit von dem Zwang zu »verordnetem Nachahmungslernen« (Reichen) arbeiteten die Kinder selbständig, selbsttätig und selbstbewußt, z.T. in einem atemberaubenden Tempo. Die ersten Kinder lasen nach fünf, sechs Wochen alles, was ihnen in die Hände kam, fast alle bis Weihnachten. Bei den letzten dauerte es zwar bis ins zweite Schuljahr, das waren und sind aber bis heute begründete Ausnahmen. Das eigentlich aufregende aber war, wie sie lasen: ohne Hemmungen, ohne das übliche Gestottere, ganz selbstverständlich und voller Freude über das neue Können. Die Befriedigung durch intensive, sinnvolle Arbeit wirkte sich auch auf das soziale Klima aus - miteinander zu arbeiten und zu lernen, einander zu helfen und zu respektieren wurde selbstverständlich. Ängste aufarbeiten Aus den zwei Klassen 1983 sind inzwischen etwa hundert pro Jahr geworden - ein Viertel aller Hamburger Erstklassen. An den Schulen, an denen LdS einmal Eingang gefunden hat, setzt es sich mit wenigen Ausnahmen dauerhaft durch. Nicht zuletzt darum, weil Eltern, die einen Vergleich zwischen Fibel- und LdS-Arbeit haben, zum Teil sehr offensiv dafür eintreten; hauptsächlich aber wohl, weil die KlassenlehrerInnen ihre Arbeit als spannender, sinnvoller und befriedigender erleben als zuvor und dieses deutlich ausstrahlen. Seit vier Jahren bieten wir in der Hamburger Lernwerkstatt vorbereitende und schuljahrsbegleitende Kurse an, die die KollegInnen bei der Öffnung von Unterricht und der Arbeit mit LdS unterstützen wollen. Die Kombination der beiden Bereiche ist nicht zufällig: Wer seinen Unterricht öffnen möchte, bekommt mit LdS indirekte und direkte Hilfe: Einmal kann man

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damit gar nicht anders als offen arbeiten, und zum anderen bekommt man durch die Materialien von LdS einen guten Grundstock an Arbeitsmitteln. Wir haben also immer eine größe Anzahl von Anfängern in beiden Bereichen in unseren Arbeitsgruppen. Dabei erweist sich die Aufarbeitung der auftretenden Ängste als besonders wichtig. Denn die neue LehrerInnenrolle muß erst erlernt und verinnerlicht werden. Vertrauen in die Kraft und den Lernwillen der Kinder hat man im allgemeinen in der Lehrerausbildung nicht gelernt. Zwar sehen die KollegInnen bei „Lesen durch Schreiben“ intensiv die Kinder ohne jede »Motivationsmätzchen« von Seiten der Lehrerin arbeiten. Sie sehen, wie lange Kinder an einer selbst gestellten Aufgabe zu arbeiten in der Lage sind. Methodenwechsel im Zehnminutentakt ist in diesen Klassen ein längst vergessener Anachronismus. Sie sind beeindruckt von dem Lernwillen der Kinder, von ihrer Zielstrebig- und Unbeirrbarkeit. Und doch kann der Mut und das Vertrauen der LehrerInnen auf eine harte Probe gestellt werden. Denn obwohl die Kinder mehr oder weniger intensiv schreiben, weiß man eine Zeitlang nicht, wie weit der Leselernprozeß gediehen ist, denn das Lesenkönnen kommt von allein und oft über Nacht. Diese Unsicherheit gilt es auszuhalten und den Eltern gegenüber zu vertreten. Das ist nicht einfach, und die Versuchung, halt doch ein bißchen „zu unterrichten“, doch Synthese- und Leseübungen zu machen u.ä. ist bei manchen Kolleginnen groß. Auch die »Rechtschreibung« der Kinder, die anfänglich unbekümmerte Lautschrift, beunruhigt manche mehr, als sie selbst geglaubt hatten. Darum ist es wichtig, mit diesen Ängsten nicht allein zu sein, sondern eine Gruppe zu haben, die Sicherheit gibt, in der man sich austauschen kann und Hilfe bekommt. Unser Hauptanliegen in der Fortbildung ist darum die Vorbereitung auf die notwendige Veränderung der Lehrerrolle und die damit verbundene Verunsicherung, sowie die ständige Reflexion des Lernbegriffes, den wir mehr oder weniger alle verinnerlicht haben. Sie haben Lesen selbst gelernt Wie bei der Öffnung von Unterricht allgemein, muß ich mich bei der Arbeit mit LdS fragen, welches Bild von Schule, von Unterricht und vom Lernen ich in mir trage. Die Schule hat Lernen meist in kleinen, überschaubaren, geplanten Schritten angeboten. Lernte das Kind auf diese Weise nicht, lag es eben an seiner mangelnden Intelligenz. Die Arbeit mit LdS aber trägt nur Früchte, wenn ich das Wissen und die Beobachtung in mir zulassen kann, daß Lernen meist ganz anders geschieht - nicht in kleinen Schritten, schon gar nicht in verordneten, sondern oft in überraschenden Sprüngen; in nicht geplanten, nicht bewußten Prozessen, oft zu Zeiten, in denen man es am wenigsten erwartet. (Wieviele Kinder, auch aus anderen Lehrgängen, können nach kurzen Ferien plötzlich lesen!) Und was für unser LehrerInnenego am schwersten ist: wir können nicht mehr glauben, wir hätten ihnen das Lesen beigebracht. Sie haben es selbst gelernt.

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Text-C16 Irmhild Stahlschmidt Auszug aus Darstellung, Analyse und Kritik des Leselehrwerks "Lesen durch Schreiben" von Jürgen Reichen (Wissenschaftliche Hausarbeit für die erste Staatsprüfung für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen) Persönliche Unterrichtsbeobachtungen Einleitung Vom 1.bis 20. März 1993 hatte ich die Möglichkeit, in einer 1. Klasse der Grundschule Steinli in Möhlin, Kanton Aargau, in der Schweiz zu hospitieren. Die Klassenlehrerin Frau M. unterrichtet zum zweiten Mal eine erste Klasse nach "Lesen durch Schreiben". Während des Praktikums wurde sehr schnell deutlich, daß "Lesen durch Schreiben" nicht nur eine Erst-lesemethode ist, die sich auf den Lese-, Schreib- und Sprachunterricht beschränkt. "Lesen durch Schreiben" im Sinne von Jürgen Reichen, der im gleichen Schulhaus die 2. Klasse unterrichtete, ist vielmehr ein pädagogisches Grundkonzept, das sich auf den gesamten Unterricht bezieht. Klassenraumgestaltung Das Klassenzimmer wirkt warm und sehr lebendig. Von der Decke hängen verschiedene Mobiles herunter. Ein großer Schirm ist aufgespannt, an dessen Griff eine Fahrradklingel befestigt ist. Wenn es einem Kind oder auch der Lehrerin zu laut ist, kann geklingelt werden. Alle Kinder kennen das vereinbarte Zeichen und richten sich danach. Die Wände sind durch individuelle Bilder, selbstgeschriebene Geschichten und anderes vielseitig geschmückt. Das reichhaltige Materialfindet man gut sortiert, in den Schränken und Regalen. JedesKind weiß, wo es bestimmte Dinge findet und auch, wo es sie wieder hinräumen muß. Die meisten Kinder halten sich mit einer großen Selbstverständlichkeit an die Ordnungsregeln. Natürlich gibt es auch "verträumtere" Schüler, die erst zum Aufräumen aufgefordert werden müssen. Das Material, das allen zugänglich ist, umfaßt eine Fülle von Bastelmaterial, Pappen, Papier, Wolle und alle möglichen Reste. Baumaterialien regen zu kreativem Gestalten an. Daneben gibtes ein reichhaltiges Angebot an Spielen in allen möglichen Lernbereichen: Mathematik, Wahrnehmung, Lesen, Sprache usw. Außerdem stehen den Schülern verschiedene Lernangebote in Form von Arbeitsblättern zur Verfügung: Da gibt es Lieder mit Zeichnungen zum Ausmalen, verschiedene Rätsel für Mathematik und Sprache oder andere Aufgabenblätter. Die Leseecke und die Regale mit allen möglichen Leseangeboten (Bilderbücher, Geschichtenbücher, Sachbücher u.a.m.) laden zum Stöbern und Lesen ein. In einem weiteren Regal steht fürjedes Kind ein Ordner und ein Körbchen. In die Ordner gehören die fertigen Arbeiten und Blätter, in die Körbchen kommen die angefangenen Arbeiten, vor allem auch die Geschichten, die die Kinder noch zu Ende machen wollen.Im Klassenzimmer fällt auf, daß der Lehrertisch an der Seitesteht; das ist schon ein kleiner Hinweis darauf, daß hier fast kein Frontalunterricht stattfindet. Eine wichtige - und vielleicht außergewöhnliche - Einrichtung ist die Computer-Ecke. Sie ist durch Regale abgetrennt, so daß die Kinder, die dort arbeiten, Ruhe haben und nicht so leicht durch andere abgelenkt werden können.

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Unterrichtsablauf und -beobachtung Die Kinder der 1. Klasse - insgesamt 20 - waren in zwei Gruppen eingeteilt: die rote und die blaue Gruppe. Die Einteilung ist nicht nach dem Leistungsniveau der Kinder vorgenommen worden, sondern nach den Gruppentischen; z.B. kannten sich die meisten der "blauen Gruppe" schon aus dem Kindergarten. Der Stundenplan war so gestaltet, daß die Kinder der Gruppe "Rot" jeweils eine Stunde früher da waren,dafür auch eine Stunde eher wieder gehen konnten. Es waren also zwei Stunden pro Vormittag, wo alle 20 Kinder zusammen unterrichtet wurden und die beiden anderen Stunden waren jeweils nur 10 Kinder da. Jede Gruppe hatte zusätzlich an einem Nachmittag in der Woche Schule. Sport, Religion und Musik wurden in speziell dafür vorgesehenen Stunden unterrichtet. Alle übrigen Lerninhalte,die den Fächern Mathematik, Sprache, Sachunterricht und Kunst zuzuordnen sind, sollten von den Kindern selbständig und weitgehend eigenverantwortlich erarbeitet werden. Die Kinder kamen morgens zur Tür herein und machten sich nach der BegrüßuNg an die "Arbeit". Entweder hatten sie nochDinge vom Vortag zu Ende zu erledigen, oder sie begannen miteiner neuen Sache. Das konnten Arbeitsblätter sein, das konnte eine Bastelarbeit sein, das konnte Malen, Spielen oder auch Geschichten schreiben sein. Wenn Frau M. den Eindruck hatte, daß jeder irgendetwas "schaffte", dann ließ sie die Kinder selber arbeiten und auch entscheiden, wann sie etwas anderes machen wollten. Manchmal allerdings beriefsie eine sogenannte "Konferenz". Da kamen alle Kinder in derMitte in einem Kreis zusammen. Es wurden Neuigkeiten ausgetauscht, Erlebnisse berichtet und auch überlegt, was die einzelnen Schüler machen könnten. Eigentlich blieb es jedem Kind selber überlassen, was es machen und arbeiten wollte. Gelegentlich sagte Frau M. aber auch: "So, jetzt machen wir mal alle nur Mathe." Dann konnten sich die Kinderaussuchen, ob sie im Übungsbuch weiterrechnen, Arbeitsblätter und Rätsel lösen oder Rechenspiele machen wollten. Im Bereich Sprache, d.h. also auch Lesen und Schreiben lief dies ähnlich ab. Ich informierte mich, wie die ersten Schulwochen gelaufen waren, um einen Einblick zu bekommen, wie die Schüler den ersten Kontakt mit Schrift und Buchstaben gemacht hatten. Frau M. hatte die erste Schulwoche in erster Linie genutzt, um Kontakt zu den Kindern zu bekommen und um die Kinder mit der neuen Situation "Schule" bekannt zu machen. Dazu gebrauchte sie auch das Rahmenthema 1: "In der Schule" von "Lesen durch Schreiben". Sie versuchte, die Kinder zum eigenen Erzählen anzuregen. Erste Wahmehmungsübungen aus demBasismaterial wurden verwendet, um zu erkennen, auf welchem Stand die einzelnen Kinder waren. In der 2. Schulwoche wurde die Buchstabentabelle eingeführt.Jedes Kind bekam eine eigene DIN A4 kartonierte Tabelle. Nunbrauchte es einige Tage, um die Kinder mit den einzelnen Begriffen der Abbildungen vertraut zu machen und auch den Umgang zu erläutern. Daran angeknüpft wurden verschiedene Lautübungen, wie sie auch bei "Lesen durch Schreiben" empfohlen werden. Wichtig ist es für die Kinder, daß sie herangeführt werden, jedes beliebige Wort in die jeweilige Lautkette zu zerlegen, um es dann mit Hilfe der Buchstabentabelle aufschreiben zu können. Dabei kommt es in erster Linie auf die phonetische Schreibweise an, nicht auf die orthographische. Im Anschluß an diese allgemeine Einführung konnten die Kinder selbständig arbeiten. Sie versuchten zunächst einzelne Wörter oder kurze Sätze aufzuschreiben, indem sie jedes Wort

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auflautierten und Laut für Laut mit Hilfe der Buchstabenanlauttabelle in Buchstaben umsetzten und notierten. Durch den täglichen Gebrauch der Buchstabentabelle prägten sich die einzelnen Laute und Buchstaben bei den Kindern schnell ein, so daß sie bald automatisch wußten: (s) wie Sonne, (m) wie Maus, (b) wie Buch usw. Sobald ihnen das Bildeingefallen war, fanden sie auf der Tabelle schnell den zugehörigen Buchstaben. Das Positive am Umgang mit der Buchstabentabelle war vor allem, daß sich die Kinder ihrem Lerntempo gemäß die Buchstaben automatisch beibrachten, die sie wollten. Das sahnatürlich sehr unterschiedlich aus: manche Kinder brauchten nach vier bis sechs Wochen die Tabelle nicht mehr, weil sie alle Laute und die dazugehörigen Buchstaben auswendig wußten, andere brauchten sie sehr viel länger, und zwei Kinder holten sie auch nach gut einem halben Jahr noch ab und zu hervor, wenn sie schwierige Wörter schreiben wollten.Jedes Kind konnte die Buchstabentabelle so lange benutzen, wie es selber wollte. Das entlastete die Schüler von dem Druck, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, alle Buchstaben auswendig kennen zu müssen. Dieses wiederum gab insbesondereden Kindern eine innere Sicherheit, denen es schwerer fiel, sich die Buchstaben - Laut - Beziehung zu merken. Die immer wiederkehrende selbständige Beschäftigung der Kinder mit derBuchstabentabelle, mit Lauten, Buchstaben und Wörtern bildete den Schwerpunkt des schriftlichen Sprachunterrichts der ersten Wochen. Zwischendurch wurden gesamtunterrichtliche Phasen eingebaut, in denen über die verschiedenen Themen von "Lesen durch Schreiben - Rahmenthema 1" gesprochen wurde. Eine Orientierung für den jeweiligen Stand des Schreibprozesses eines Schülers/einer Schülerin stellt für uns die Schreibentwicklungstabelle von Spitta dar. Bei der Schreibentwicklungstabelle wird davon ausgegangen, daß alle Kinder verschiedene qualitative Phasen der Schreibentwicklung durchlaufen, wenn sie ausreichend Möglichkeiten und Anreize zu Spontanverschriftungen haben. Die Tabelle gliedert sich in sechs Phasen der Schreibentwicklung von der vorkommunikativen Phase von ca. zwei Jahren an bis zur sechsten Phase, dem Übergang zur entwickelten Rechtschreibfähigkeit mit ca. 8/9 Jahren. Die Kinder der ersten Klasse befinden sich in der Regel in der dritten bis fünften Phase der Schreibentwicklung. In der dritten Phase des halbphonetischen Stadiums schreibendie Kinder nur die für sie prägnantesten Laute eines Wortes;sehr häufig geschieht dies ohne Benutzung der Vokale (PP = Puppe; ht = hat; wl = weil; Fgd = Fahrgeld). Erste Wortgrenzen werden erkannt. In der vierten Phase des phonetischen Stadiums schreiben dieKinder, streng nach rein phonetischen Regeln, die Laute auf, die sie hören. Die Kinder orientieren sich dabei an der Umgangssprache (Fata = Vater; Schpiln = spielen; gesdan = gestern; dsurük = zurück). Sprachtypische Rechtschreibmusteroder Regelmäßigkeiten spielen kaum eine Rolle. In der fünften Phase, der phonetischen Umschrift, bei der inzunehmendem Maße typische Rechtschreibmuster integriert werden, erkennen die Kinder, daß die Schreibung der Wörter neben der Bestimmung durch die Laut-Buchstaben-Zuordnung außerdem noch durch weitere orthographische Regelmäßigkeitenbeeinflußt werden. Silben erhalten nun immer häufiger einen

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Vokal (aus "libr" wird "liber"- aus "rufn" wird "rufen"). Der in der Schule angebotene und geübte Grundwortschatz wird zunehmend sicherer.

In diesem Beispiel einer Schülerin der ersten Klasse bekamendie Kinder viele verschiedene Bilder, die sie in ihrer eigenen Reihenfolge ordnen sollten, um dann eine Geschichte dazu zu schreiben. Diese Schülerin war vermutlich zu dem Zeitpunkt, wo sie die Geschichte geschrieben hat, in der fünften Phase der phonetischen Umschrift. Sie trennt die Wörter an der richtigen Stelle voneinander ab; sie wendet auch schon einige Rechtschreibregeln an (z.B. "Tee" mit doppeltem "e"; "die" mit "ie"; "vergessen" mit "ss"). Sie schreibt die Wörter in phonetisch korrekter Weise

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("Keseschniten", "Zäne", "singd", "gibd"). Sie hört am Ende der Wörter "gibt", "mit" und "singt" ein "d"; das ist phonetisch je nach Aussprache durchaus denkbar. Die weiterenRegeln der Rechtschreibung wird sie mit der Zeit mehr und mehr anwenden können (so z.B. die Länge und Kürze der Vokale und die daraus resultierende Schreibweise sowie die gesonderten Regeln der "tz"-Schreibung).Die Schülerin war so begeistert bei der Sache, daß sie sogar noch Bilder dazu gemalt hat, um ihre Geschichte zu verlängern. In der sechsten Phase findet der Übergang zur entwickelten Rechtschreibfähigkeit statt. Spitta und auch Reichen sind davon überzeugt, daß jedes Kind auf dieser letzten Stufe ankommen wird. Reichen erwähnt dazu, daß man als Lehrer/Lehrerin und auch als Eltern Geduld haben muß, um jedem Kind seine individuelle Zeit zu lassen. Im folgenden will ich von einigen Einblicken in den Unterricht dieser Klasse etwa sechs Monate nach Schulbeginn berichten: Die Kinder arbeiteten ausgesprochen selbständig und beschäftigten sich mit den unterschiedlichsten Inhalten. In einer der gesamtunterrichtlichen Phasen diktierte Frau M. einzelne Wörter, die die Kinder aufschreiben sollten. Gemeinsam wurden dann die Wörter besprochen: Sonne, Schlitten, Schokolade, Vogel, Schnee, Eistee, Baum, Eisbär ... Frau M. fragte einzelne Kinder wie sie ein Wort geschrieben haben und ergänzte dann z.B. "bei Schnee mußt du noch ein e dranhängen". Auch erwähnte sie: "Wenn es geht, dann das Wort nur am Anfang groß schreiben". Aus dem ganzen Gespräch heraus war keine Kritik zu hören wiezB. "Warum hast du Schnee nur mit einem 'e' geschrieben?" oder ähnliches. Es war sozusagen eine Anmerkung für die Kinder, die schon "weiter" waren. Nun wurden zu den Substantiven passende Adjektive gesucht und daneben ge-schrieben. Frau M. erwähnte allerdings nicht die Begriffe "Substantive" und "Adjektive", sondern fragte einfach: "Wie ist der Schnee?" Daraufhin kamen dann unterschiedliche Antworten wie: "weiß, kalt, gefroren, leicht". Jedes Kind durfte das Wort schreiben, das ihm am besten gefiel. Anschließend durften die Kinder mit den geschriebenen Wörtern Sätze machen. Allerdings muß ich sagen, daß es während der drei Wochen, in denen ich dort war, die Ausnahme war, daß so "gearbeitet" wurde. An den meisten Tagen hielt sich Frau M. sehr zurück, sie war dann offen Für Fragen, die die Kinder an sie stellten und auch frei für persönliche Gespräche, die sehr häufig geführt wurden. Außerdem nutzte sie die Zeit, um in der Klasse herumgehen und sowohl den schwächeren als auch den leistungsstärkeren Schülern differenzierte, hilfreiche Anregungen zu geben. Besonders aufgefallen war mir ein ausländisches Mädchen, das nur selten für längere Zeit an einer Sache konzentriert arbeitete. Oft lief es orientierungslos in der Klasse herum und schaute bei anderen zu. Nachdem ich es angesprochen habe, ob es nicht etwas rechnen wollte, sagte es sofort: "Ja". Ich setzte mich neben es und schaute zu. Das empfand es nicht als störend, sondern als gewisse Sicherheit. Nachdem ich ihm die ersten beiden Aufgaben erklärt hatte, machte es selbständig weiter bis zum Ende der Seite und fing gleich noch die nächste an. Der Eifer war ihm anzuspüren, aber er mußte wohl erst durch Interesse von außen entfacht werden. Eine durchaus sehr beliebte Beschäftigung für einige Kinder war die Arbeit mit dem SABEFIX - Kontrollgerät. Ein türkischer Junge in der Klasse war sozusagen "SABEFIX - König"; er hatte bereits alle 34 Programmen für die erste Klasse durchgearbeitet und war von der Klasse als jemand anerkannt, der sich damit sehr gut auskannte. Wenn andere Kinder Fragen zu den einzelnen Programmen hatten, gingen sie zu ihm und er freute sich, die Aufgabenstellung

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erklären zu können. Ansonsten war er eher schüchtern und zurückhaltend, aber auf diesem Gebiet war er unübertroffen. Wie bereits erwähnt, stand den Kindern ein Computer mit Drucker zur Verfügung. Hier gab es eine Regelung, damit nicht immer dieselben Kinder am Computer arbeiteten und manche Kinder nie drankamen: ein "Computer - Stundenplan" war eingerichtet worden, so daß jeder Schüler und jede Schülerin eine Stunde pro Woche am Computer arbeiten konnte.Oft haben die Kinder aber auch zu zweit gearbeitet; derjenige, der "dran" war, durfte dann jemand anderen "einladen". Die meisten Kinder arbeiteten mit verschiedenen Lernprogrammen, die Reichen selber entwickelt hat. Da gab es die Zahlenschlange oder die Buchstabenschlange, die der Reihe nach "aufgefressen" werden mußte; da gab es verschiedene Rechenprogramme und Rätsel, im Bereich Sprache (Glücksrad, Grabenmännchen), die die Kinder auch indirekt in ihrer Rechtschreibung förderten. Über drei Wochen hinweg konnte ich beobachten, wie begeistert und konzentriert die meisten Kinder am Computer arbeiteten, und zwar selbständig und ohne ständige Korrektur durch den Lehrer. Manche Kinder schrieben kleine Geschichten oder Briefe (z.B. an eine kranke Mitschülerin) mit dem Computer. Sehr stolz waren sie, wenn sie ihren selbst geschriebenen Text aus dem Drucker in Händen hielten. An einem Tag hatte Frau M. für die Kinder "Das neue Superheft" mitgebracht. Es handelt sich dabei um ein selbst zusammengestelltes DIN A4 Heft mit ca. 20 Seiten. Es waren unterschiedliche Lese-, Schreib- und Rätsel-, auch Mal-Aufgaben darin enthalten, die die Kinder selbständig lösen sollten. Die meisten Aufgaben waren Leseaufgaben mit eingebauter Selbstkontrolle. Wenn ein Kind nach dem Lesen einen bestimmten Auftrag ausführte, wurde klar, daß es den Text wirklich "gelesen" hat, nämlich sinnentnehmend und deutend. Die Kinder waren hellauf begeistert; manche begannen damit, die Vorderseite schön zu gestalten und den Namen darauf zu schreiben, andere machten sich direkt an die Aufgaben und Rätsel. Es war keine Reihenfolge vorgegeben undauch kein besonderer Abgabetermin. Aber so etwa nach einer Woche wurde zusammengetragen. Verschiedene Aufgaben wurden besprochen, andere auch nicht. Frau M. schaute die Hefte durch, um eine Vorstellung zu bekommen, wie die einzelnen Kinder mit den Aufgaben und Problemstellungen zurechtgekommen waren. Das Heft war sehr abwechslungsreich gestaltet, und die Kinder zeigten während und nach der Beschäftigung damit eine hohe Motivation und viel Freude. In der Zeit, in der ich da war, führte Frau M. eine Art "Schultagebuch" ein. Auf der einen Seite standen die verschiedenen Angebote und jeweils ein Kästchen, das die Kinder ankreuzen sollten, wenn sie die jeweilige Aufgabe bearbeitet hatten. Auf der anderen Seite hatten die Kinder Gelegenheit, Dinge aufzuschreiben, die nicht speziell aufgeführt waren. Außerdem sollten sie das Datum notieren. Dieses Heft war sowohl für die Kinder als auch für die Lehrerin eine Hilfe, zu sehen, in welchen Bereichen und in welcher Intensität sie gearbeitet hatten. Manchmal wurde gemeinsam besprochen wo einzelne Kinder Kreuzchen gemacht hatten; wenn jemand nur bei Basteln und Plaudern ein Kreuz hatte, lobte die Lehrerin die Ehrlichkeit des Kindes, forderte es aber auf, am nächsten Tag erst etwas in Sprache oder Mathematik zu machen.

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Manchmal bekamen auch alle Kinder den Auftrag z.B. eine Schneemanngeschichte zu schreiben. Der genaue Zeitpunkt der Ausführung war ihnen überlassen. Die Kinder brachten die Geschichten freiwillig zum Lehrertisch in ein dafür vorgesehenes Kästchen, damit Frau M. diese durchschauen konnte. Es wurde allerdings nicht darauf bestanden, daß jedes Kind eine Geschichte abgab. Die Korrektur erfolgte nicht mit dem roten Filzstift, sondern im Gespräch mit dem einzelnen Kind - und auch nur das wurde beanstandet, was phonetisch falsch geschrieben wurde oder das, was die Lehrerin nicht lesen oder nicht verstehen konnte. So merkte das Kind, daß die Kommunikation nicht so gut stattfinden konnte, wenn es undeutlich lautierte. Die Tatsache, daß die Kinder viele Leseanreize bekamen (z.B.durch Arbeitsaufträge auf Blättern, durch Lesehefte und Geschichtenbücher) motivierte viele, auch von sich aus zu lesen. Manchmal geschah es, daß ein Kind mit einem Buch oder Heft zu mir kam. Ich erwartete, daß es mich fragen würde, ob ich es ihm vorlesen würde, aber das Gegenteil war der Fall. Das Kind fragte mich, ob es mir vorlesen dürfte. Und das nicht, um zu zeigen, wie toll es lesen könne, sondern um mitmir gemeinsam eine Geschichte zu verfolgen. Ich muß dazu sagen, daß die Kinder nie aufgefordert wurden, laut vorzulesen. Das leise Lesen dagegen wurde oft angeregt durch die verschiedenen Aufgaben und Lernangebote. Von den 20 Kindern der 1. Klasse konnten - soweit ich das beurteilen kann - etwa 16 bis 18 Kinder gut lesen. Die anderen hatten etwas mehr Schwierigkeiten. Sie brauchten eben mehr Zeit, und diese wurde ihnen gerne gewährt. Allerdings beschränkte sich das "Lesenkönnen" nicht nur auf einfache überschaubare Sätze, sondern die Kinder konnten alles lesen, was ihnen vordie Füße fiel. An den beiden Tagen, an dem auch am Nachmittag Schule war - Montag und Donnerstag - gab es keine Hausaufgaben. An den anderen drei Tagen gab es eine kleine Hausaufgabe, meistens

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in Form von Rechenarbeitsblättern oder Liedstrophen, die zu Hause ordentlich in ein Linienheft übertragen werden sollten. Oft gab es auch dabei mehrere Angebote von denen die Kinder eines aussuchen mußten. Am nächsten Tag wurden die Hausaufgaben entweder eingesammelt oder gemeinsam besprochen. Hausaufgaben wurden oft aus dem Unterrichtsgeschehen entwickelt. Als die Kinder z.B. mit Feuereifer die Idee entwickelten, einen Flohmart durchzuführen, griff Frau M. diese Euphorie auf und stellte auf einem Blatt einige Fragen, die die Kinder zu Hause beantworten sollten; z.B. "Was wollt ihr verkaufen? Wo wollt ihr verkaufen? Was wollt ihr mit dem Geld machen? usw.". Die Kinder stellten die verschiedenen Dinge her, beschrifteten diese, handelten einen Preis aus und sortierten sie. Das macht deutlich, daß Schreiben für diese Schüler etwas ganz Selbstverständliches, Alltägliches ist, wozu sie nicht extra aufgefordert werden müssen. Das Gespräch über die Antworten am nächsten Tag war sehr wichtig. Die Kinder brachten gute Vorschläge für die Verwirklichung ihrer Idee - und was noch wichtiger war - sie spürten, daß sie ernst genommen wurden. Auch im künstlerischen und kreativen Bereich waren die Kinder sehr einfallsreich. Manchmal - wenn ein Kind begann -lagen nach kurzer Zeit fast alle Kinder mit Wasserfarben und Blättern auf dem Boden und malten verschiedene Bilder. Insgesamt war ich immer wieder überrascht, auf welchem Niveau sich die Kinder bereits nach einem halben Jahr Schule befanden. Ich fragte Frau M. auch, wie z.B. "neue Dinge" eingeführt würden, sei es in der Rechtschreibung oder im sprachlich-grammatischen Bereich. Sie antwortete mir, daß oft einzelne Kinder nachfragen, wenn sie ihre Geschichten schreiben. Frau M. ist der Auffassung, daß sich die Regeln unter den Kindern herumsprechen. "Kinder können Kindern oft viel besser erklären als Lehrer oder Erwachsene". Generell werden neue Lerninhalte individuell und differenziert eingeführt.

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Text-C17 Dorothee Weiß „Lesen durch Schreiben“ / Erfahrungsbericht einer Erstklasslehrerin Im September 1991 hielt mich der Bericht in einer Zeitschrift über eine in Hamburg erprobte Leselernmethode „Lesen durch Schreiben“ nach J. Reichen in Atem. Es wurde dort dargestellt, wie Kinde selbstgesteuert ihr Lernen in die Hand nehmen, sich selbst das Lesen nach eigenem Rhythmus beibringen, indem sie Sprache verschriften. Die organisatorische Form hieß Werkstattunterricht. Das klang sensationell. In Fortbildungsveranstaltungen hatte ich mich schon länger mit offenen Unterrichtsformen vertraut gemacht, im Klassenzimmer eine Lese-, Bau- und Musikecke eingerichtet, in kleinen Schritten offenere Formen des Unterrichtens gewagt, aber zufriedenstellend war das bei weitem noch nicht für mich. Einer passionierten, über fünfzigjährigen Grundschullehrerin wie mir, war es überaus wichtig, den Überblick, die Kontrolle, ja, die Fäden in der Hand zu haben. Waren Leistungsfortschritte in einem offenen Unterricht noch gewährleistet? Erfahrungen in Klassen mit zuweilen bis zu 34 Kindern machten mir bewusst, dass Unterrichten nach alten Konzepten immer schwieriger wurde. Erst im März 1992 bekam ich einen weiteren Anstoß. Bei einer Veranstaltung des PZ Bad Kreuznach erfuhr ich von einer einwöchigen Fortbildung in Waldfischbach , wo J. Reichen persönlich seine Leselernmethode vorstellen wollte. Da für mich im neuen Schuljahr wieder eine erste Klasse anstand, entschloss ich mich sofort, daran teilzunehmen. „Du musst mit beiden Füßen reinspringen“, sagte ich mir,„das schrittchenweise sich Vorwagen, das ist nichts für dich.“ Sehr hilfreich fand ich den von J. Reichen herausgegebenen Lehrerkommentar zur Leselernmethode. Auch bestellte ich mir ein Muster der Sabefix-Materialien und stellte mich auf mein neues Vorhaben ein. Nun galt es, die Eltern zu informieren, sie für eine Sache zu gewinnen, von der ich zwar überzeugt war, aber noch keine praktische Erfahrung hatte. Ich vermute, dass meine über zwanzigjährige Tätigkeit an der Schule den Elten genügend Sicherheit gab, sich mit mir auf die neue Leselernmethode einzulassen. Ihre Skepsis äußerten sie erst viel später im persönlichen Gespräch. Nach der Fortbildungswoche bei J. Reichen war ich restlos von meinem neuen Vorhaben überzeugt, ein Satz von ihm klang in mir immer wieder nach. Er sprach vom „qualifizierten Nichtstun“. Ob ich mich darauf einlassen konnte? In den Sommerferien entwickelte ich eine ungeheure Arbeitswut, was die Gestaltung meines Klassenraumes und seine Ausstattung mit Materialien betraf. Mein neues erstes Schuljahr hatte 30 Kinder, darunter sehr viele verhaltensauffällige Jungen und Mädchen. An den Werkstattunterricht traute ich mich zunächst nur in den Stunden, in denen ich die Klasse geteilt hatte, sonst unterrichtete ich frontal, was mich zwar sehr viel Anstrengung kostete, aber was ein Feld war, auf dem ich mich zu Hause fühlte.

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Ich selbst durchlebte alle Höhen und Tiefen, von heller Begeisterung über das, was Kinder mir offenbarten, bis zu tiefer Verunsicherung, was die Erfolge meiner Arbeit betraf. Die Kinder schrieben, druckten, vertieften sich in den Sabefix, malten, blätterten in Büchern. Wo waren die einzelnen Etappen, die ich abhaken konnte, wie sie mir herkömmliche Lehrgänge geboten hatten? Bei kritischen Äußerungen von Eltern reagierte ich sehr empfindlich. Das Sozialverhalten meiner Kinder, Lautstärke, Streit, Unordnung brachten mich immer wieder zur Verzweiflung und an die Grenzen meiner Belastbarkeit. Wenn mein Selbstvertrauen ins Wanken geriet, übte ich vermehrt Druck aus, unterbrach Lernprozesse bei Kindern, um sie selbst zu forcieren. Heute weiß ich, dass dies falsch war. Jetzt nach einem Dreiviertel Jahr „Lesen durch Schreiben“, kann ich sagen, dass ich eine Menge wertvolle Erfahrungen gemacht habe, hinsichtlich meiner eigenen Person und meiner Art zu unterrichten. Ich war erstaunt, wieviel Vertrauen ich schon Erstklässlern schenken konnte, wie sie Lernprozesse in die Hand nahmen und mich dabei nicht brauchten, wie intensiv sich jedes Kind mit seinen Lerninhalten auf seine Weise auseinandersetzte, wie kreativ Kinder waren im Herstellen von Texten und Büchlein, wie das „Lesenkönnen“ plötzlich aus ihnen herauspurzelte , ohne dass ich besondere Kraftanstrengungen dafür unternahm. Im Rückblick würde ich sagen, dass ich noch viele Inhalte frontal vermittelte, die sich Kinder auch selbst hätten erarbeiten können. In dem Maße, wie ich mir selbst mehr Offenheit zugestand, in gleichem Maße wuchs die Selbständigkeit der Kinder. Ich selbst stand mir also im Wege. Wie oft ging ich aus der Klasse mit der Feststellung:“Ich muss mich ändern, ich muss lernen, mich zurückzuhalten und offen sein für die Lernzugänge von Kindern, auch wenn sie nicht meine eigenen sind. Ich muss Geduld haben für unterschiedliche Entwicklungen.“ Katharina wollte das Wort „Häsi“ schreibenund fragte mich, ob dies mit „e“ oder „ä“ geschrieben würde. Ich erklärte ihr die Ableitung von dem Wort „Hase“. Katharina schaute mich groß an und sagte:„Das verstehe ich, der Trick ist toll“, und schrieb das Wort mit „ä“. Das gleich Problem tauchte bei Daniel auf. Ich reklärte es ihm genauso. Auch er schaute mich groß an und sagte:„Aber schließlich will ich ja nicht „Hase“ schreiben, sondern „Hesi“, also nehme ich das „e“. Wenn ich solche Entdeckungen machte, wurde mir immer ganz heiß. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich zu mir sagte:„Wie oft hast du im traditionellen Unterricht den Kindern Erklärungen übergestülpt und dich dann noch gewundert, dass sie manches einfach nicht annahmen.“ Für mich steht fest, dass ein zurückhaltender, stützender, partnerschaftlicher Unterrichtsstil sich nur in der praktischen Auseinandersetzung erspüren lässt, aus einem Buch kann ich mir dies nicht anlesen. Ich muss es erproben, um es zu verstehen. Es wäre natürlich einfacher gewesen, die neue Leselernmethode und den Werkstattunterricht zuerst mit einer kleinen Klasse zu probieren. Inzwischen ist es so, dass ich es als große

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Erleichterung für mich selbst ansehe, wenn Kinder auch in der Großgruppe werkstattgemäß arbeiten. Für meine weitere Arbeit wünsche ich mir mehr Mut, den Kindern noch mehr Raum für kreatives Tun zu geben, zuzulassen, ihre kooperativen Fähigkeiten in freien Aktivitäten, die nicht lernstoffgebunden sind, zu trainieren, mich selbst noch mehr zurückzuhalten und mich vom Stoffdruck zu befreien. Ich bin dankbar dafür, eine Form gefunden zu haben, auf einzelne Kinder mehr eingehen zu können, Gespräche mit ihnen zu haben und den Unterrichtsmorgen weniger stressig zu empfinden. Ich stelle gleichzeitig fest, dass ich viel Freizeit fürs Herstellen von Arbeitsmitteln, fürs Einrichten neuer Lernstationen verwende, dass ich diesen Mehraufwand aber nicht bedaure, weil mir die Arbeit Spaß macht. Trotz geschilderter Schwierigkeiten bin ich heute froh, „mit beiden Füßen hinein-gesprungen zu sein“.

Wie stehen die Eltrn zu der Methode „Lesen durch Schreiben“? Im Februar dieses Jahres, also nach einem halben Jahr „Lesen durch Schreiben“, luden wir die Eltern zu einem persönlichen Gespräch in die Schule ein, um ein Bild über die bisher gemachten Erfahrungen zu erhalten. Als überaus angenehm empfanden Eltern den Übergang Kindergarten - Schule. Der werkstattgemäße Unterricht erlaubte den Kindern mehr freie Bewegung im Klassenraum, was an die Spielecken im Kindergarten erinnerte. Sehr positiv wurde gesehen, wie die Kinder von Anfang an mit wachem Interesse Beschriftungen aller Art auf Straßenschildern, in Fernsehzeitschriften, auf Reklametafeln und Verpackungen studierten, wie sie buchstabierend vor den Regalwänden im Supermarkt stehenblieben und wie das „Lesenkönnen“ plötzlich aus ihnen herauspurzelte, ohne dass jemand mit ihnen geübt oder auf sie besonderen Druck ausgeübt hätte. Einige Elten gestanden ihre anfängliche Skepsis, als sie hörten, dass wir in den Sommerferien erst noch einen Kurs belegen wollten, und dass wir daran dachten, ohne Fibel zu arbeiten. „Wie soll das gehen, ohne Buch?“ Sie staunten darüber, dass trotz der „größeren Freiheit“, die Kinder so schnell lesen konnten (die meisten um die Weihnachtszeit) und hatten selbst großen Spaß an der Kreativität ihrer Kinder, die sich im Briefchenschreiben an Großeltern, Ankleben von Schildern an der Kinderzimmertür, Niederschreiben von Zettelmitteilungen an Papa und Mama, beschriebenen Heftchen, gemalten und beschrifteten Bildern äußerte. Es gab auch Kinder, die zu Hause nicht schreiben wollten. Wie sich im Gespräch herausstellte, hatte hier vermutlich zu früh Kritik bezüglich der Rechtschreibung eingesetzt.

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Bedenken, was zukünftige Rechtschreibleistungen betrifft, war bei fast allen Eltrn zu spüren. Hier müssen auch wir erst unsere Erfahrungen machen. Alle Eltern beklagten die große Klassenstärke (30 K.). Sie organisierten einen Helferdienst, der die Klassenlehrerin beim Werkstattunterricht unterstützte. Das haben wir in der Anfangszeit sehr begrüßt. Später, als die Kinder eine höhere Eigenverantwortlichkeit entwickelt hatten, waren diese Hilfen nicht mehr nötig. In einer Familie hatte die Leselernmethode fast zum Familienkrach geführt. Die Tochter, die begeistert Briefchen und Heftchen schrieb, wurde stets von ihrem Vater wegen der Rechtschreibung getadelt. „Was ist das für eine Schule, wo man so falsch schreiben lernt?“ regte er sich auf. Auch die Mutter, die alleine zum ersten Elternabend gekommen war, konnte ihren Mann nicht überzeugen. Die Tochter wusste sich durchzusetzen, schrieb nur noch, wenn der Vater nicht zu Hause war und zeigte ihm ihre Ergebnisse nicht mehr. Völlig aufgebracht erschien der Vater zum persönlichen Gespräch. Als wir ihm klar machen konnten, wieviel Kreativität bei seiner Tochter durch diese Methode freigesetzt wurde, die durch allzufrühe Einengung durch Normen der Rechtschreibung verschüttet würde, beruhigte er sich, und es kehrte wieder Frieden in der Familie ein. Dass jedes Kind dort abgeholt wird, wo es sich mit seiner Lernerfahrung befindet, dass es sich nach individuellen Möglichkeiten entwickeln kann, ohne Druck lesen lernt, vom ersten Schultag an kreativ tätig ist, das war allen Eltern bewusst und begeisterte sie täglich aufs neue. Sie haben uns dazu ermuntert, in dieser Weise weiterzuarbeiten, und zukünftigen Erstklasseltern mit ihren Erfahrungen hilfreich zur Seite zu stehen. Eine Mutter äußerte sich so:„Wer diese Methode erfunden hat, der muss Kinder gut kennen und sie gerne haben.“ Eine andere Mutter:„Diese Art von Unterricht ist die beste Suchtprävention.“ Fischbach, den 15. April 1993 D. Eyrisch (Schulleiterin) D. Weiß (Klassenlehrerin)

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Text-C18 Hans H. Wünnenberg Welche Auswirkungen hat die neue Lernmethode "Lesen durch Schreiben" auf das Rollenverständnis von Schüler und Lehrer ? unveröffentlichtes Manuskript / 1.5.1993 Paradigmenwechsel Wenn Paradigmen wechseln, geschieht das oft heimlich, still und leise. Das Paradigma von der Formbarkeit des Zöglings stammt noch aus der Zeit, als die Welt noch ihre (scheinbare) Ordnung hatte und Erwachsene vorgaben, zu wissen, was für den Zögling an Erziehung notwendig ist. Um die Art und Weise der Umsetzung dieser Macht in die Praxis wurden zwar heiße Debatten geführt, die Machtfrage selbst blieb unangetastet: Erwachsene bestimmen, wozu Zöglinge fähig sind, wie und wozu Zöglinge, oft Schüler, manchmal sogar Kinder genannt, geformt werden müssen. Die Machtfrage wurde vernebelt durch den verehrten Rousseau, der seinen Emile, als der einmal eigenen Willen zeigte und nach draußen ging, höchst planvoll die Lust an diesem Impuls eigener Lebendigkeit austrieb: Er arrangierte die Umgebung kunstvoll, indem er die Leute auf der Straße anwies, dem armen, ahnungslosen Emile mit wechselnden Vorwürfen den Ausflug zu versauern. Ich sehe ihn noch vor mir, den pfälzer Didaktik-Professor, wie er hosenträgerschnurrend und mit dem ganzen Gewicht seines Leibes und seiner hierarchischen Macht den 'jungen Freund', der gewagt hatte, diese Rousseau'sche Manipulation als eine Gemeinheit zu bezeichnen, anwies, sich erstmal um die von ihm entwickelten und daher als gültig zu betrachtenden "Artikulationsschemata des Unterrichts" zu kümmern. Irgendwie scheint diese Rousseau'sche Gemeinheit der guten Absicht auch hinter all den uns propagierten kunstvollen Unterrichtsstrategien zu lauern. Kinder werden so beeinflußt, dass sie das sagen oder tun, was wir hören wollen. "Sag mir, was ich dich fragen soll, und es fällt dir leichter, zu antworten' ist da schon eine fortschrittliche Strategie. Wenn Unterricht hübsch auf ein unabhängig von den betroffenen Kindern formuliertes Ziel ausgerichtet nach den Regeln vorgegebener didaktischer Künstlichkeit gestuft und entsprechend uhrwerkartig im Unterricht umgesetzt wurde, dann konnte, so meinte der Herr Professor, der Unterrichtserfolg für diese 45 Minuten nicht ausbleiben und wenn, dann lag es am Lehrer. Hatte er das Uhrwerk nicht aufgezogen, die Batterie nicht gewechselt, gar das falsche Zifferblatt genommen oder das melodiöse Läutewerk zu spät in Gang gesetzt ? Die den Unterricht betrachtenden didaktischen Uhrmacher wußten bei Prüfungen und Beratungen genau, wo der Fehler in der Mechanik lag. Einige liebäugelten damals bereits mit dem modischen digitalen Uhrwerk, aber Mechanik musste schon sein.

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Da hatten wir doch gelernt, einen Stoff zu elementarisieren, wieder hierarchisch zu gliedern und in Lernziele, meist kognitive, hübsch mechanistisch zu pressen, unsere so fundierte Unterweisung mit vorher an der richtigen Stelle geplanten raffinierten Impulsen artifiziell zu planen, und die Kinder lernten, was sie wollten oder auch nicht wollten, jedenfalls oft nicht das, was sie sollten. Die vielfältigen "Leistungsnachweise" ergaben nie letzte Gewißheit über den "Lernstand" der Kinder, selbst wenn sie bis auf zwei Stellen hinter dem Komma exakt berechnet wurden. Jeder von uns konnte und kann spüren, wenn er wollte und fühlen, wenn er musste, dass es in der Praxis mit den Kindern so nicht geht. Ein Lehrer ist letztlich ohn' Macht, auch wenn er mit dem kleinen roten Notenbüchlein noch so herumwedelt. Die Kinder werden jedes auch noch so brillant konstruierten Unterrichtsuhrwerkes überdrüssig. "Schule baut immer noch auf mindestens zwei überholte Positionen: 1. Die Erwachsenengeneration weiß, was Kinder lernen müssen. 2. Man muss Kinder zu ihrem Glück zwingen ('erziehen')." (Wolfgang Hinte: Wenn Menschen geformt werden sollen, wehren sie sich, in: DLZ 16/93, S.12) Es bedeutete schon einen Quantensprung, wenn unsereins die Korsettstangen solcher Erfahrungen als Schüler, Student und Lehramtsanwärter unter dem Druck der eigenen Praxis mit den unbekannten Wesen, den Kindern, zunächst lockern und dann abstreifen konnte. Aber mit Quantensprüngen ist das nun mal so: Es kann niemand vorhersagen, welches Ziel das Quantenteilchen sich aussucht - schlimmer noch, man weiß noch nicht mal, ob das Etwas, das da springt, ein Materieteilchen oder eine Energiewelle ist. Es käme auf den Betrachter an, sagen die Quantenphysiker. Ganzheitsmethode und Mengenlehre scheiterten letztlich an unserem Misoneismus, der Abneigung gegen das Neue. Als Postulat, welches immer schlechtes Gewissen macht, und auch als Praxis blieb die "Innere Differenzierung", weil jeder Lehrer sich irgendwann mal eingestehen musste, dass sich ein exakter Rasenmäherschnitt in den Köpfen der Kinder nicht herstellen läßt. A propos Kinder? Wo waren sie die ganze Zeit ? Sind sie uns brav gefolgt, wenn wir mit ihnen lernzielten, differenzierten, methodisierten, imputsierten, artikulierten? Wenn wir ihnen den kunstvollen Laubsägeplan unseres Unterrichts vorlegten und aufpassten, dass sie auch hübsch brav den vorgedruckten Linien entlangsägten ? Einige folgten uns recht lieb, einige machten aus der Vorlage eines Osterhasen eine Micky-Maus oder ein Maschinengewehr, andere sägten sich schmerzlich die Finger wund, immer neben der Linie und viele kannten die Vorlagen schon aus dem Fernsehen und das alles mit viel Krach und Geschrei und nervigem Gewusel. Eins jedenfalls ist klar: Die Kinder sind nicht mehr fasziniert - wenn sie es je waren - von dem betulich nach Plan vor sich hintickenden Uhrwerk unseres Unterrichts. Sie nehmen anders wahr, haben ein schnelleres Tempo, sind impulsiv, leben im Subito, flippen mühelos von einer Wirklichkeit in die andere.

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Sie haben gelernt, virtuelle Wirklichkeiten mit einem Knopfdruck zu beeinflussen, scheinbar mühelos und sind maßlos erstaunt, wenn sie - wie eine kleine Erstklässerin - den vor ihr stehenden Lehrer, der mit beeindruckender Lautstärke um Aufmerksamkeit nachsucht, nicht wegzappen kann. Die Ambivalenz von schneller Wunscherfüllung von Mars-Riegel bis Mountain-Bike und der Schwierigkeit langsamen, mühevollen sachlichen und sozialen Lernens ist eine Kennzeichnung kindlichen Befindens in der Schule - eine Ambivalenz, deren gelebte Realität von Lehrern und Kindern schwer auszuhalten ist, die die einen in Resignation, ins BurnOut-Syndrom und die anderen in maßlose, sirrende Orientierungslosigkeit treiben kann. "Wenn Menschen geformt werden sollen, wehren sie sich. Wer Menschen zu erzieherischen Zwecken in 45-Minuten-Rhythmen presst und sie in kognitive, affektive und motorische Lernbereiche zerlegt, darf sich nicht wundern, wenn diese Menschen bisweilen das Klassenzimmer zerlegen. Wer Menschen mit fragwürdigen Zensurenskalen, in Bürokratien entwickelten Lehrplänen und Eintragungen ins Klassenbuch gegenübertritt, muss davon ausgehen, dass diese Menschen in nicht berechenbaren Abständen zum Erhalt ihres emotionalen Gleichgewichts zurücktreten. Wer körperlose Umgangs- und Lehrformen praktiziert, wird früher oder später damit konfrontiert, dass sich die vernachlässigten Körper nachhaltig in Erinnerung bringen.... Wer heute noch vorgibt zu wissen, was für die nachwachsende Generation zur Lebensbewältigung notwendig sei, verkennt, dass in einer 'präfigurativen Kulturform' (M. Mead) die Erwachsenengeneration kaum etwas über die Werte und Kompetenzen weiß, die die heranwachsende Generation zum Überleben benötigt... Das Dilemma von Schule: Sie soll Kinder anhand vorgegebener Lernziele auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit vorbereiten, von der heute kein Mensch sagen kann, wie sie aussehen wird und mit welchen Fähigkeiten man sich dort zurechtfinden kann. Wobei ich bisweilen den Eindruck habe, die Kinder wissen darüber immer noch besser Bescheid als ein Großteil ihrer sorgenden Pädagogen." (Wolfgang Hinte. a.a.O., 5. 12) In jeder Ambivalenz lebt sichs von der Hoffnung ihrer Auflösung in lebbare Wirklichkeit. So auch in diesem Strudel von pädagogischen Gewissheiten und Unwägbarkeiten. Eine kleine Schwimmhilfe gibt uns Herr Haase, der Leiter der Personalentwicklung bei VW (zitiert nach: Die Grundschulzeitschrift, 63/1 993, S. 7): "Deutschland ist durch Einzelkämpfer groß geworden. Heute haben wir eine völlig andere Situation. Die Welt ist hoch komplex geworden, der Wissensstand hat sich vervielfältigt. Wir können mit dem besten Ingenieur nur dann noch etwas anfangen, wenn er mit anderen zusammenarbeiten kann. Die Innovationen werden heute in der Regel durch Teams erbracht, die Zeit der großen Erfinder wie Otto, Benz und Diesel ist vorbei. '( ... ) Die Lehrer müssen umdenken. Sie sind daran gewöhnt, die Schüler wie Marionetten an den Fäden tanzen zu lassen. Wir müssen den Jugendlichen daraufhin mühsam beibringen, dass eine Gruppe auch ohne Leiter arbeiten kann. Nur so können wir nämlich die hinderlichen Hierarchien im Unternehmen abbauen. Plötzlich merken die Leute dann, wieviel Spaß lernen und arbeiten machen kann. ( ... ) Leistung muss auch in der Schule neu definiert werden. ( ... ) Die ganze Leistungsdiskussion hängt von der betrieblichen Praxis um Jahre hinterher. Gruppenarbeit, Abbau von Hierarchien, das Fördern von Kreativität sind heute wesentliche Bestandteile der Arbeitsorganisation.'

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Vom Marionettenspieler zum coachenden Teamchef - wenn das kein Paradigmenwechsel ist. Wie gut, dass seit geraumer Zeit, zunächst heimlich und verborgen, nun selbstbewusster und offen, allerlei didaktisch-methodische Köstlichkeiten unser pädagogisches Bewusstsein verwirren: Stationslernen, Projektlernen, Freiarbeit, freies Schreiben, Wochenplan, Phantasiereisen, Stilleübungen, Lernkarteien, Werkstattunterricht, Lesen durch Schreiben, Handlungs- und Erlebnisorientierung , Lernecken, Ateliers, Lern- und Spielschule, Lernen mit allen Sinnen ... Das klingt nach Selbsttun, Selbststeuerung, nach Prozeß und Entwickelnlassen, dem Kinde sein eigenes Lernen ermöglichen. Ja, geht denn das ? Lernen die Kinder denn dabei etwas ? Verliert der Lehrer nicht die Kontrolle und den Überblick ? Freiarbeit, wie wird das eigentlich bewertet ? Und der Lehrplan ? Was sagen die Eltern ? Die Kinder können doch gar nicht allein lernen ? Und die vielen Fehler, die die Kinder dabei machen, wer korrigiert die ? Wer fühlt in sich nicht einen Alp an Befürchtungen und Ängsten, wenn er das (schein)sichere Ufer der gewohnten didaktisch-methodischen Mechanik verlassen will, um mit den Kindern im Strom ihres eigenen Lernens zu schwimmen. Was kann starr auf Stoff, Didaktik und Methode fixierten Marionettenspielern passieren, wenn plötzlich Kinder in ihrem Blickwinkel auftauchen und sie sich gezwungen sehen, ihre Unterrichtsweise und ihr pädagogisches Selbstverständnis zu verändern. Verunsicherung und Leidensdruck Es ist nichts als eine Gewohnheit, wenn wir glauben, dass die Dinge sehr wahrscheinlich so weitergehen wie bisher. Ganz zu schweigen von der Gewohnheit, anzunehmen, dass die Dinge immer richtig bleiben. Es genügen zwei, drei Bengel, die in sich das Erregungs- und Aktionspotential einer ganzen Klasse haben, und die kunstvoll beherrschten Marionettenfäden sind im Nu verheddert, die Marionettenspieler sind ohnmächtig. Haben sie bisher ihre Figuren bei aller Liebe doch als behutsam zu behandelnde Objekte betrachtet, schockieren diese sie plötzlich mit dem Chaos ihres Lebens. Alle didaktisch-methodisch ausgeklügelten Spielpläne werden zu Makkulatur. Unter dem Anspruch unseres eigenen Selbstverständnisses, den vermuteten Ansprüchen von Eltern, Kollegen und Schulleiter, sind wir Lehrerlnnen plötzlich verunsichert und schwanken zwischen Ohnmacht und Resignation, verspüren in uns gewaltigen Leidensdruck. In dieser Situation können wir eine beträchtliche Zeit damit verbringen, wie Fliegen gegen ein Glasfenster anzufliegen, ohne wahrzunehmen, dass neben uns die Tür offen ist. Eine Verhaltensweise, die ziemlich abnutzt. Wenn wir Glück haben, sitzt in der Klasse ein Junge wie Heiko, der in dem allgemeinen Getümmel in der Klasse anfängt, Geschichten zu schreiben von einem Astronauten etwa, der bequem über der brodelnden Welt schwebt und sich diese friedlich und Frieden wünschend von oben anschaut.

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Wir sollten das Glück nutzen, wenn die chaotisierten Kinder plötzlich anfangen, wie wild Geschichten zu schreiben, allein und nicht von uns beeinflusst, und dann einmal nichts dem Unterricht Dienliches tun, sondern uns staunend zurücklehnen und den beginnenden Prozess beobachten, wie Kinder, gerade auch diese chaotisierten, fähig sind, sich selbst zu organisieren. Es muss nicht immer wie bei mir ein Heiko sein, der Geschichten schreibt. In jeder Klasse gibt es Kinder, die auf ihren ganz persönlichen Ausdruck, im Spielen, im Schreiben, im Malen etwa, drängen. Und wir alle gehen unseren ganz eigenen, oft leidvollen Weg, der uns zu Veränderungen nötigt. Veränderungen Unmerklich hat sich Unterricht immer dann geändert , sobald ich mit den Kindern etwas tue, was sie unmittelbar betrifft. Das richtet meinen Focus anders aus - vom Spielplan meines Unterrichts auf die Kinder meiner Klasse. Zu Anfang bremse ich die Kinder noch. Die verinnerlichte Choreographie meines Spielplanes sieht nun mal die vorwiegend gemeinsam getanzten Figuren vor und das lento und adagietto und streng nach Anweisung. Meine Kinder-Truppe drängt: "Presto, presto". Ich als Meister verliere die Übersicht und die Kontrolle; alle müssen sich hinsetzen, maulend und beinahe einschlafend, um meine Worte zu vernehmen. Unmut, Langeweile, Unterforderung - auch der Disziplin der Truppe tut das auf Dauer nicht gut. Ganz langsam erst werde ich wach, wach für das wirkliche Potential der Kinder, nicht nur für das Potential, welches ich laut Lehrplan zu wecken beauftragt bin. Das ist nicht selbstverständlich. Es hängt ab von der eigenen Sozialisation als Kind, als Schulkind, als Student, als Lehrerlehrling, als Lehrer. Während dieser Prozesse sind uns viele Schlaftabletten verabreicht worden, welche, die wir als schnelle, schmerzlose Möglichkeit gern nahmen, z.B. fehlende intellektuelle Auseinandersetzung mit Autoritäten, welche, an die wir seit kleinen Kindesbeinen gewohnt waren, z.B. an die Dualität von duldendem Opfer und kontrollierendem Täter, welche, die wir brauchten, um in der Schule irgendwie zu überleben, welche, die wir brauchten, um die Fehler und Schwächen, die uns angeredet und angedeutet wurden, nicht mehr sehen zu müssen .... Es hängt ab von der Stärke unserer oft angstvollen Projektionen auf die vermuteten Ansprüche von Eltern, der Kinder, der Schulhierarchen. Es hängt ab von unserer Kompetenz. Es hängt ab von unserer noch vorhandenen Kraft. Und das wachmachende Augenreiben ist eine Balance zwischen Lust und Schmerz. Zur schmerzlichen Erfahrung wird dann plötzlich ein ganz alltäglicher Vorgang:

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Zwei Kollegen stehen zusammen. Ein Kind kommt, fragt seinen Klassenlehrer etwas zu einer Aufgabe. Bevor dieser noch fragen kann: "Was meinst du denn, wie du das machen musst ?", hat der andere Kollege dem Kind bereits die fertige Antwort präsentiert. Möglichkeiten Mit hellwachen Augen werden Lehrer ihren Unterricht immer mehr öffnen. Mit wachsender Erfahrung werden sie mutiger und vertrauen sich und ihren Kindern immer mehr. Sie werden ihre Kontrollbedürfnisse zugunsten der Eigenkontrolle durch die Kinder abbauen. Sie werden im Unterricht viel mehr Zeit für die Kinder bekommen, sie persönlicher ansprechen können. Sie werden nach und nach ihre inneren Grenzen beiseiteräumen wollen, so weit es ihnen gut tut. Allerdings werden sie mehr arbeiten müssen, denn das Arrangement anderer didaktischer Umgebungen, in denen Kinder weitgehend selbstgesteuert lernen können, erfordert einen immensen Arbeitsaufwand. Lesen durch Schreiben Der Entschluß, Lesen durch Schreiben im 1. Schuljahr durchzuführen, könnte vor dem Hintergrund eines so skizzierten persönlichen und beruflichen Prozesses, gefasst worden sein. Kein leichter Entschluss, wiegt doch die Verantwortung gerade für die kleinen Schulanfänger besonders schwer. Jürgen Reichen hat mit seinem Lesen durch Schreiben ein ausgeklügeltes didaktisches Material entwickelt, mit dem die Kinder vom ersten Tag an selbständig umgehen können. Von Beginn an entfällt das mühsame Unterfangen, Kinder, die mit höchst differenzierten Entwicklungs- und Lernständen in die Schule kommen, im gleichen Lehrgangsschritt marschieren zu lassen. Für die Kinder ist von Anfang an klar, dass sie arbeiten, so wie sie wollen und können. Und die Betonung liegt hier wirklich auf arbeiten. Die Lern- und Arbeitsorganisation ist so strukturiert, dass sie die Selbständigkeit und Eigenkontrolle fordert. Es ist nicht nur die hohe Anfangsmotivation von Schulneulingen, die bei dieser Arbeit fasziniert, es ist die Ernsthaftigkeit und die Arbeitslust, die begeistert. In der Anfangsphase des beginnenden Lernprozesses sind es die ungewohnten sozialen Anforderungen, das Hineinfinden in die Lernumgebung, die Auseinandersetzung mit den vielfältigen und im Überangebot vorhandenen Arbeitsmaterialien über die die Kinder in der neuen Situation Sicherheit gewinnen. Ihre Wahrnehmung und Produktion, ihr Miteinanderumgehen orientieren sich vorwiegend an den immanenten didaktischen Strukturen ihres Arbeitsmaterials. Von Tag zu Tag beobachte ich, dass ich immer überflüssiger werde, was die Erklärung von Arbeitsaufgaben angeht. Vor Schulbeginn sitzen nicht wenige Kinder bereits auf ihren Plätzen

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und arbeiten, und sie grüßen mich nicht einmal. Christian nimmt mich mal eben zur Kenntnis. "Na, biste auch schon da ?" Ich kann bei dieser Arbeit lernen, mein Bedürfnis zu unterweisen, mein Bedürfnis nach Kontrolle zu hinterfragen und zu regulieren. Immer wieder ertappe ich mich dabei, dass ich viel zu viel in den Prozess der Kinder eingreife. Da berichtet Kathrins Mutter, dass ihre Tochter gesagt hat: "Heute war's langweilig. Er hat wieder so viel erklärt." Und da wird Andrea, die grübelnd vor einer schwierigen Sabefix-Aufgabe sitzt, unwirsch und sagt: "Lass mich, ich kann das schon." Und Johanna schirmt einen Text ab und meint: "Du brauchst gar nicht zu gucken, ich bin noch nicht fertig." Es ist die gleiche Johanna, die blitzschnell gelernt hat, seitenlange Geschichten zu schreiben, die sagt. "Ich schreibe nicht mehr zu Hause. Mein Vater meckert immer über die Fehler, die ich mache." Woraus zu lernen ist, dass die Eltern ständig über die Arbeit ihrer Kinder und deren Ergebnisse informiert werden müssen, was interessante Kontakte nach sich zieht und den unbedingt notwendigen Fundus des Wissens über die familiäre Umgebung der Kinder bereichert. Thomas versucht, mit aller ihm zur Verfügung stehenden Energie einzelne Kinder zu chaotisieren. Er ist nur ruhig, wenn er in den Arm genommen wird. "Das ist gut. Das bekommt er bei mir nicht", sagt seine Mutter. Schlaglichtartig wird so deutlich, an was es Thomas noch fehlen könnte. Als Dominics Mutter hört, dass ihr Sohn, der ungelenk, schwerfällig wirkt und zurückgestellt den Schulkindergarten absolvierte, einen großen Ehrgeiz entwickelt und gute Arbeit leistet, ist sie ganz erstaunt und will das nicht glauben - sie hält ihren Jungen für dumm. Eltern, haben eine andere Schule erlebt, in der eigene Aktivitäten und das Bestehen auf dem eigenen Lerntempo, der eigenen Wahrnehmungsweise und ihrer Interpretation unbekannt waren. Auch in ihren Berufen müssen sie oft hierarchisch denken und handeln. Viele der Lernaktivitäten ihrer Kinder sind ihnen fremd, sind Spiel für sie oder aber zu überfordernd. Das Hineinwachsen in die Rolle eines geduldig überzeugenden, sich aber auch klar abgrenzenden, auf seine Kompetenz verweisenden, strategisch denkenden Mediators ist eine Bereicherung für das eigene pädagogische Selbstbild. In dieser Anfangsphase wird rasch klar, welche Fähigkeiten die Kinder besitzen, wie sie sie in Arbeit und Spiel umsetzen, wie sie mit sich und anderen umgehen können. Michael schreibt "Arsch" an die Tafel, Vanessa schreibt sich selbst lobend unter ihr buntes Bild: FENOMIJAL und bei Andrea schreibt sich in der 6. Woche Erdkugel = RQGL. Diese Kinder stürmen davon. Christian liest schon in der 10. Unterrichtswoche eine kleine Geschichte vor. Wie er das gelernt hat, weiß ich nicht, denn er tut eigentlich recht wenig. Ich beobachte ihn dabei, wie er richtig bis 98 zählt und im Computer durch Herumprobieren ein Chaos anrichtet. In der 1 5. Woche verteilt er Zettel an die Kinder:

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Aber was ist mit Canan, mit Patrick, mit Elaine mit David ? David möchte am liebsten den ganzen Tag mit Klötzen Türme bauen, schneiden, basteln, kneten. Er merkt sich anscheinend gar nichts. Elaine ist so schüchtern und zurückhaltend, dass ihre Arbeit nicht zu sehen ist. Patrick kann nur arbeiten, wenn ihn niemand ablenkt. Und das ist unmöglich.

An diesem Punkt mache ich die Erfahrung, dass ich vielleicht kompetent bin im Konzipieren und Abspielen von Unterrichtsspielplänen, aber dass es mir an sicherer Diagnosefähigkeit in bezug auf die unterschiedlichsten Stockungen im Lernprozess der Kinder fehlt. Also muss ich beobachten, notieren, mich besprechen, Arbeitshypothesen bilden, kurz: lernen müssen, und es wird mir wieder einmal klar, dass ich meinen sicheren Platz hinter dem Katheder oder am Spielkreuz verlassen habe. Ich werde lernen müssen, Unsicherheiten und Ambivalenzen zu ertragen und mehr Ambiguitätstoleranz zu entwickeln. Mein Verhältnis zu den Kindern wird tastender, vorsichtiger, fragender, ich "weiß" nicht mehr alles.

Wenn Lehrer lernen müssen, ist das für sie oft eine sehr unbequeme Situation; die freilich eher zu ertragen ist, wenn sie gelernt haben, sich in bezug auf die Leistungen der Kinder nicht in die eigene Tasche zu lügen.

Dieser Anfangsphase, in der Kinder und Lehrer sich in der neuen Lernumgebung zu orientieren versuchen und in der die Struktur der Lern- und Arbeitsorganisation sinnstiftend wirkt, folgt eine Phase der Konsolidierung. Die Kinder fühlen sich sicherer, können die an sie gestellten Anforderungen, den Lehrer, die Mitschüler besser einschätzen. Die erste Anspannung läßt nach, die ersten Strohfeuer der Hochmotivation erlöschen.

Vanessa, die sehr schnell über das Schreiben langer und sehr witziger Geschichten, von denen eine von einer unersättlichen Prinzessin handelt, deren Wünsche vom Vater immer sofort befriedigt werden, tut nur noch etwas, wenn sie auch dafür etwas bekommt oder sie im Mittelpunkt steht. So initiiert sie ein kleines Theaterstück mit allen Kindern, die begeistert mitspielen. Sie nimmt wie ein gieriger Kuckuck, gibt aber nichts.

Anne hilft lieber anderen, ihre eigene Arbeit bleibt im Chaos liegen. Johanna arbeitet nur, wenn Vanessa da ist.

Nicole bringt sechs Barbie-Puppen mit, frisiert sie lange und ausgiebig, ihre Arbeiten werden immer schlampiger.

Nico, ein Däumling von einem Bengel, schwankt sehr stark zwischen verschüchterter Ängstlichkeit und großkotziger Unverschämtheit. Er nässt und kotet ein. Niemand weiß, warum.

Dominic arbeitet wie ein Verrückter. Wenn er etwas nicht sofort begreift, sitzt er still auf seinem Platz und weint.

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Andrea, Caria und Elaine haben sich in einer Dreiergruppe arrangiert, der schwierigsten Form einer Gruppe - Vater, Mutter, Kind - eine fühlt sich immer draußen. Anlass für ständige Streitereien und Gefühlsausbrüche.

Und Canan hat das Prinzip des Lesens begriffen.

So kann ich als Lehrer lernen, mich nie in falscher Sicherheit zu wiegen. Lasse ich den Kindern den Freiraum, sich innerhalb der vorgegebenen Lern- und Arbeitsumgebung frei zu bewegen, nach ihrem Tempo zu arbeiten, die Reihenfolge ihrer Arbeiten selbst zu bestimmen, Vorschläge einzubringen, die auch umgesetzt werden, dann muss ich mit ihrer ganzen Persönlichkeit rechnen. Sie lassen sich nicht mehr auf die Einschränkungen einer von mir definierten Schülerrolle festlegen, sie leben sich so, wie sie sind.

Eine geduldige und genaue, kritische Beobachtung dieser Phase lehrt jedoch, dass die Kinder keineswegs nur ihren eigenen Impulsen nachgehen. Aber für mich als Mitglied vom Orden der kalkulierten Didaktik ist es zu Beginn sehr schwer zu entdecken, wo die Sinnhaftigkeit dieser Prozessphase steckt. Ungeduld, Unsicherheit, verstärkte Impulse direkt einzugreifen und zu steuern machen mir zu schaffen, ehe ich mit zunehmender Erfahrung Vertrauen in die Selbstorganisation jedenfalls der meisten Kinder gewinnen und wieder wahrnehmen kann, was und wie sie arbeiten.

Für die Kinder scheint wichtig zu sein, dass sich an der gewohnten Organisation der Lern- und Arbeitsorganisation und ihres Materials nur soviel ändert, dass sie sich aufgefordert und angefordert fühlen. Auch lehren die Kinder, dass ich ihnen im Zweifelsfall immer mehr zutrauen und von ihnen fordern sollte, als ich mir vorstelle, was sie schon können.

In dieser Phase trennen sich die Kinder, die über ihr Schreiben das Lesen wirklich nebenbei gelernt haben von den Kindern, die etwas langsamer sind.

Ein Buch von Ottfried Preußler wird vorgelesen. Diese Kinder wollen ihm schreiben, alle anderen Kinder auch. Es wird geschrieben und gemalt, zu einem Buch zusammengefügt, kuvertiert. Alle gehen auf die Post, geben den Brief auf. Drei Kinder registrieren, wie die Schalterbeamtin den Kindern mit bleiernem Blick ohne jede Bemühung eines Kontaktes ihre Briefmarken verkauft: "Die ist aber unhöflich !"

Die Wohngebiete der Kinder und ihre Spielmöglichkeiten werden erkundet. Dominic hat ein ganz besonders scharfes Auge: Binnen kurzer Zeit findet er fünf im Sand verbliebene Spielzeuge. Wieso funktioniert seine visuelle Wahrnehmung so gut?

Michael will Kathrin küssen. Er macht das komisch verzweifelt. Christian kommentiert an der Tafel: Michael is in Kathrin ferlibt.

David will unbedingt zu Tierbildern seine eigenen Geschichten schreiben. Er diktiert den Text, lässt ihn sich lautieren. Heraus kommen Geschichten, in denen die Tiere auf den Bildern Davids häusliche Situation erleben.

Carla tut nichts und erklärt: "Ich tue nur wie ein Faultier."

Es ist Zeit, für die Kinder eine Werkstatt zu arrangieren. Werkstatt-Unterricht Werkstatt-Unterricht, zumal eine, die eine Thematik eine Zeit lang verfolgt, scheint eine Nagelprobe für Kinder und Lehrer zu sein.

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Eine Frühlingswerkstatt auszudenken und so zu arrangieren, dass jedes Kind eine seinen Fähigkeiten entsprechende Aufgabe bekommt, die es sich erarbeiten kann und verantwortlich mit den anderen Kinder beraten und kontrollieren kann, stellt sehr hohe Ansprüche an didaktische Phantasie und Arbeitsfähigkeit. Dabei zu beachten, dass alle für die Kinder wichtigen Bereiche, kognitive, soziale, kreative, handelnde, nachvollziehende, entdeckende angesprochen werden, war für mich außerordentlich schwierig und gelang in weiten Teilen nicht. Interessant ist, zu beobachten, in welcher Weise die Kinder an die Arbeit in der Werkstatt herangehen. Alle Kinder greifen zunächst neugierig zu ihren eigenen Aufgaben, für die sie verantwortlich sind. Dann aber ändert sich der Zugriff. Kinder, die schon selbstbewusst aufgabenorientiert arbeiten können, machen sich an die schwierigen Aufgaben mit überwiegend kognitiver Struktur, ehe sie sich beim Malen und Basteln entspannen. Michael bearbeitet am ersten Tag bereits 6 derartige Aufgaben. Andere Kinder halten sich lange Tage gemächlich beim Malen, Basteln, Pflanzen, Falten auf und weichen den schwierigeren Aufgaben zielsicher aus: "Nein, die noch nicht, die sind zu schwer." Eine andere Erfahrung, mit der zunächst schwer umzugehen Ist, betrifft die Wellen der Arbeitsintensität. Die Kinder finden ihre eigenen Phasen von Anstrengung und Entspannung, die abhängig von ihrem eigenen Rhythmus oder dem anderer Kinder sind. Ein Kind, das allem Anschein nach nichts tut, muss nicht unbedingt nichts tun - eine Erkenntnis, die einer Pädagogik des Vermeidens von dummen Gedanken entgegengesetzt ist. Bei dieser Arbeit ist die Rolle des beobachtenden und unterstützenden Begleiters besonders interessant, weil es spannend ist mitzuerleben, wie Kinder ihre bereits gewonnen Fähigkeiten benutzen und anwenden. Ganz wichtig ist, dass dem Spielen auch im Werkstatt-Unterricht breiten Raum gegeben wird, was voraussetzt, dass ich mich ernsthaft bemühe zu erfahren, wie Kinder spielen und wie ich selber spiele. Rollen verändern sich Das Paradigma von der Allmacht und Allwissenheit des Erziehers aufzugeben, um langsam hinüberzugleiten in ein neues von der potentiellen Fähigkeit der Kinder, ihr Lernen - z.B. bei Lesen durch Schreiben - weitgehend selbst zu steuern, ändert das Bewusstsein und die Praxis der eigenen Lehrer-Rolle. Didaktisches Denken und Arrangieren werden schärfer, anspruchsvoller, mühsamer, aber befriedigender, wenn die Pfade vorgedachter Lehrgangswege verlassen werden. Mühsam ist auch das Aushalten der Spannung, die einerseits mit der Funktion des begleitenden Beobachters und andererseits in der eines letztlich für einen Lernerfolg Verantwortlichen gegeben ist. Diese Spannung wird geringer in dem Maße wie das Vertrauen in die Selbststeuerungsfähigkeiten der meisten Kinder steigt.

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Mit diesem Vertrauen steigt die Gelassenheit, mit der die sehr unterschiedlichen Lernprozesse der Kinder beobachtet werden und mit der der Kritik von Eltern und Kollegen begegnet werden kann. Das Bedürfnis zur Kooperation mit anderen Kolleglnnen wächst mit der Arbeitsbelastung und der Notwendigkeit, sich über unerklärliche Phänomene in den Prozessen der Kinder zu beraten oder auszutauschen. Der Wechsel vom vorwiegend Lehrenden zum ständig Lernenden, bringt trotz der permanenten Unsicherheit persönliches Wachstum. Das Potential der Selbstkritik verstärkt sich im Umgang mit ständig an Selbstbewusstsein gewinnenden Kinder. So gewinnt ein Satz von Christian Gotthilf Salzmann aus seinem "Ameisenbüchlein" (1806) an Bedeutung: "Meine Meinung ist gar nicht, dass der Grund von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge in dem Erzieher wirklich läge, sondern ich will nur, dass er ihn in sich suchen soll." (Zit.n. Rainer Winkel: Wenn der Unterricht misslingt, in: DLZ 16/93, S.6) Die Anforderungen an die Geduld, die gefordert ist, wenn Lernprozesse bei Kindern ohne erklärbare Ursache stocken, sind deutlich höher als beim lehrgangsorientierten Lernen, bei dem sich alle Erklärungen über Erfolg und Versagen aus dem vorgedachten Lehrgang ergeben können. Die Entscheidung, Kinder in ihrem Streben nach selbstgesteuertem Lernen ernst zu nehmen und zu unterstützen, bedeutet, einen Weg ohne Umkehr zu nehmen, der mühsam und holprig ist, aber sehr schöne Ausblicke und Plätze zum Verweilen, Nachdenken, Lernen, Tun bietet. Sein Ziel verrät dieser Weg nicht, er scheint es selbst zu sein. Die Kinder werden ihre Rolle nicht reflektieren, sie werden sie ausfüllen mit der ganzen Energie, die sich aus ihren unterschiedlichen Möglichkeiten speist. Je mehr die Art und Weise der Kommunikation zwischen Lehrer und Kindern reversibel ist, desto deutlicher artikulieren sie ihre Bedürfnisse, ihre Befindlichkeiten, ihre Ansprüche, ihre Lebendigkeit, und umso besser gelangen sie auch zu einer Einsicht in die Notwendigkeiten sozialen Miteinanders. Wenn ihnen der Zugriff auf eigene und fremde Wirklichkeiten ermöglicht wird, werden Kinder immer zugreifen - so wie sie es vermögen. Hans H. Wünnenberg An der Kirche 11 6719 Obersülzen

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Text-C19 Jutta Kammler "Lesen durch Schreiben" mit geistig behinderten Kindern / Erfahrungsbericht A) 10.9.94 Werkstattunterricht mit geistig Behinderten, das klingt eigentlich ziemlich abenteuerlich und für mich war und ist es ein Experiment. Da verschiedene KollegInnen Interesse an dieser Arbeit haben, hier nun ein kurzer Überblick: Meine Klasse besteht aus nur 5 Schülerinnen und Schülern. Sie sind zwischen sechs und sieben Jahre alt und gehen zum ersten Mal in die Schule. Die Behinderungen der Kinder sind recht unterschiedlich. Es ist ein schwerstmehrfachbehindertes Mädchen (Maren) dabei, die nicht sprechen kann, inkontinent ist und erhebliche Schluckbeschwerden hat. Die anderen vier Kinder können ale mehr oder weniger gut sprechen, haben z.T. Konzentrationsprobleme, erhebliche Entwicklungsverzögerungen und dergleichen mehr. Mit dem Werkstattunterricht habe ich von Anfang an begonnen. Das Material bzw. das Lernangebot besteht aus: - einfachen Spielen - Dominos - Puzzles (z.T. mit Vorlagen) - Blätter und Stifte zum Malen - Bauklötzen und Legosteinen - Bilderbücher - Geduldsspiele - Holzringe, die nach Farben sortiert werden müsssen - 4 Kästen in den Grundfarben mit jeweils 10 unterschiedlichen Holzformen - Arbeitsblätter zum Ausmalen - Montessori-Material zum Öffnen und Schließen von Reißverschlüssen, Knöpfen, Haken,

Schnürsenkel usw. - Lesespiel - Rechensteckspiel Der Unterricht beginnt mit einem Morgenkreis, wo wir uns begrüßen, ein Lied singen, Probleme besprechen, den Wochentag nennen und ein Spiel spielen (z.B. "mein rechter, rechter Platz ist leer"). Anschließend beginnt die "Arbeit". Die Kinder beschäftigen sich relativ selbständig mit dem Material, wobei z.Zt. die Spiele am beliebtesten sind. Sie fragen sich schon untereinander, wer mitspielen will und stellen ihre eigenen Regeln auf. Maren, das schwerstbehinderte Mädchen, wird ohne Probleme integriert, erhält aber auch Einzelförderung. Arbeitsblätter, Montessori-Material und die Malblätter wurden bisher ignoriert. Bei Problemen helfen sich die Kinder schon untereinander, das finde ich gut.

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Der Sportunterricht findet in einer großen Turnhalle mit zwei weiteren Klassen statt. Die beiden Lehrer arbeiten sehr dirigierend und einengend. Im Unterricht wurde soviel gesprochen, daß ein Schüler von mir sagte: "Wann machen wir denn endlich Turnen?" Letzte Woche hatten wir wegen des unterschiedlichen Unterrichtsstils eine längere Teambesprechung, aber ich konnte die Kollegen noch nicht überzeugen. Ich glaube, da steht mir einiges bevor! Mit der Buchstabentabelle habe ich übrigens noch nicht angefangen, aber ich glaube, daß meine Schüler fähig sind, lesen zu lernen. Ansonsten bin ich mit meiner Arbeitsweise und dem Konzept recht zufrieden und stelle bei den Kindern fest, daß sie gerne in die Schule gehen.

*** B) 20.10.95 Das zweite Schuljahr ist nun in vollem Gange und meine anfängliche Unsicherheit bezüglich des Werkstattunterrichts ist weg. Die Schüler entwickeln sich entsprechend ihren Fähigkeiten zu selbständigen, selbstbewußten und lieben Kindern. Ein Streit zwischen ihnen kommt hin und wieder mal vor, ist aber die Ausnahme. Eine friedliche und konzentrierte Arbeitsatmosphäre herrscht vor. Unser Tag sieht folgendermaßen aus: Wir beginnen mit einem Morgenkreis. Wir begrüßen uns, singen wieder, besprechen den Tag und jeder hat Gelegenheit, kurz zu berichten. Da jedoch die Kinder zu unterschiedlichen Zeiten in der Schule erscheinen, sind sie vorher schon mit mir in der Klasse und können arbeiten, spielen, erzählen usw. Das Erstaunliche ist, daß sie das auch tun! Kein Kind hat morgens Langeweile oder fängt Streit an. Montags gibt es neue Unterrichtsmaterialien und meistens sind die Schüler äußerst gespannt und suchen sich ihre Arbeitsblätter aus. Manche hängen den Wochentag auf und schreiben ihn an die Tafel, einer kochte mit mir Tee fürs Frühstück usw. So sind alle beschäftigt, bis die Klasse vollzählig ist und ich gehe sogar manchmal noch aus der Klasse, um schnell noch etwas zu erledigen. Meist ist es genauso ruhig wie vorher. Werkstattunterricht findet jeden Tag statt. Daneben haben die Schüler auch Fachunterricht: Sport, Schwimmen, Reiten, Kochen und Tonen. Im Bewegungsunterricht sind aber auch sehr viele Freiphasen, d.h. offener Unterricht eingebaut. Wenn hin und wieder "normaler Unterricht" stattfindet, merkt man, daß die Kinder große Schwierigkeiten in der Konzentration haben. Sie können höchstens 10 Minuten still sitzen und das klappt auch nicht immer. Meine anfänglichen langen Erklärungen bezüglich der Arbeitsblätter und Unterrichts-Materialien habe ich drastisch reduziert. Meist erkläre ich es einem Kind, dieses erklärt es dem nächsten u.s.f. Wenn doch noch Schwierigkeiten auftauchen, fragen sie mich.

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Nun zum Schreiben: Buchstaben und dazugehörige Laute waren anfangs so schwierig zu lernen, daß ich zunächst ganz darauf verzichtet habe. Die Schüler haben im ersten Schuljahr gemalt, gebastelt, geschnitten, geklebt, gebaut, gespielt, Bilderbücher angeguckt, feinmotorische Spiele gemacht u.u.u. Am Ende des letzten Schuljahres haben einige Kinder angefangen, Buchstaben an die Tafel zu schreiben und wollten wissen, wie sie hießen. Oder sie "schrieben" an die Tafel, meist zu zweit. Einer schaute sich Plastikbuchstaben an und legte sie auf eine Magnettafel, wie ich anfangs dachte, ohne Sinn. Wir spielten weiterhin Lautspiele im Stuhlkreis (Hali-Halo) etwas verändert mit Gegenständen und Bildern, aber lange, lange tat sich nichts. Gegen Ende des Schuljahres kamen die ersten "Erfolge". Die Schüler hörten einige Anlaute wie M, I, O, A. Sie fingen nun an, dieses Spiel selbst zu spielen. Jetzt im zweiten Schuljahr hören sie immer mehr Laute. Einige haben bei den "S"- und "Sch"-Lauten noch große Schwierigkeiten. Ich übe daher spielerisch und beim Singen die Mundmotorik. Die Lieder verbinde ich immer mit Bewegung, damit sie sich die Texte besser merken können. Das macht ihnen besonders viel Spaß. Ein Junge, Frank, hat seit ca. 4 Wochen angefangen zu verschriften. Es war und ist faszinierend, diesen Prozeß zu verfolgen. Er ist aber noch sehr auf meine Hilfe angewiesen. Es fing damit an, daß er "Anna" schreiben wollte, den Namen einer Klassenkameradin. Ich habe ihn dann gefragt, welchen Laut er zuerst hört usw. Er kennt schon einige Buchstaben und legte nach kurzer Zeit den Namen richtig hin und war entsprechend stolz darauf. Die Buchstabenlaute durch die Tabelle zu suchen, ist für die Kinder noch zu schwierig. Sie kennen aber trotzdem schon einige Buchstaben und können sie auch auf der Tabelle wiedererkennen. Für Frank jedenfalls hat sich in Sachen Schreiben schon ein großer Schritt getan. Momentan gibt es zwar mal wieder eine Phase, in der er andere Dinge lieber macht, aber ich dränge ihn nicht, weil ich weiß, daß das Lernen bei ihm und den anderen schubweise eintrifft, manchmal nach langer Zeit des Wartens. Ich habe natürlich im Gegensatz zu anderen Schulformen alle Zeit der Welt und kann mich daher in Geduld fassen, obwohl ich von Natur aus eher ungeduldig bin. Ich lerne sehr viel bei diesem Prozeß und bin manchmal sehr erstaunt über die konzentrierten Arbeitsphasen der Kinder. Sie nutzen jede Gelegenheit, um für sich etwas zu tun. Und man stellt sehr schnell fest, daß die Kinder, wenn man sie läßt, viel mehr arbeiten, wenn sie freie Hand haben, als wenn man es ihnen vorschreiben würde. Zwar arbeiten und lernen sie nicht immer das, was man selber will, doch der Prozeß des selbsttäigen Lernens ist bei diesen Kindern genauso wie bei nichtbehinderten Kindern. Der Unterschied besteht nur darin, daß es langsamer geht. Ich habe so viel geschrieben und trotzdem habe ich das Gefühl, ich müßte noch viel mehr aufschreiben. Ich hoffe, es genügt fürs erste. Ich kann nur abschließend sagen, ich würde nie mehr anders arbeiten wollen! Jutta Kammler, W.-Leuschner-Str. 31 64342 Seeheim-Jugenheim Tel. 062 57 8952

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Text-C20 Heike Noll Ein Brief Borkheide, den 30.1.94 Lieber Jürgen! Schon lange ist es mir ein Bedürfnis Dir zu schreiben. Im Kopf waren schon viele Zeilen geschrieben, in Gedanken fanden zahlreiche Gespräche mit Dir statt, aber an deren Umsetzungen auf's Papier scheiterte es aus vielerlei Gründen oft. Nun am Anfang unserer Winterferien ist endlich mal Zeit dem nachzugehen, was man wirklich schon lange vorhatte. Viel Druck, dem man sich leider immer wieder unterordnet, ist weg. Zunächst hoffe ich, dass es Dir persönlich und Deiner Familie gut geht. Ofte musste ich schon daran denken, wie es Dir wohl in Deinem veränderten "Berufsfeld" geht. Ob Du manchmal wieder Sehnsucht nach deinen Schützlingen in der Schule hast? Von mir kann ich als erstes berichten, dass ich sooo glücklich bin, wieder voll in der Schule zu sein und dann noch eine 1. Klasse zu haben. Die 1 ½ Jahre am Pädagogischen Landesinstitut möchte ich auf keinen Fall missen, die gesammelten Erfahrungen dort waren sehr, sehr wichtig für mich, aber all das "Gelernte" nun anzuwenden bzw. auszuprobieren, ist viel spannender und wertvoller. Reden darüber ist das Eine, anwenden das Andere! Erst jetzt wissen Elke und ich wie wertvoll und wichtig der Kurs bei Dir in Blankensee war. Wie hast Du uns die Augen geöffnet, vor allem was die Sicht auf Kinder allgemein betrifft. Ich darf gar nicht darüber nachdenken, was ich in den vergangenen Jahren alles falsch gemacht habe, bzw. wie ich über die Köpfe und Körper der Kinder hinweg unterrichtet habe. Aber vielleicht waren diese Erfahrungen auch notwendig, um neue Wege zu gehen, das Wesentlich zu erkennen. Nochmals vielen Dank für Deine Hilfe dabei. Du hast uns ganz schön stark gemacht, warst so überzeugend, dass es im Kopf "einhakte". Nur das sich selbst zu trauen, es umzusetzen, war etwas anderes. Doch das sagte ich Dir ja schon in Blankensee, wo du mit Deinen Worten, dass etwas "Misstrauen" notwendig ist, mich ganz schön ermutigt hast. Elke tat dazu ihr übriges. Nach einem halben Jahr weiss ich nun ganz genau, dass ich nie wieder anders unterrichten möchte, es gar nicht mehr könnte. Es ist wirklich alles (zumindest vieles) so eingetreten, wie Du es berichtet hast. Es funktioniert wirklich, dass Kinder lesen und schreiben lernen durch ihre eigene Kraft, wenn wir sie nur lassen, ihren Kräften vertrauen, ihnen eine entsprechende Umgebung und interessante Anreize schaffen. Bei Ulrike und Christian haben wir pur erlebt, wie sie wirklich plötzlich (jedenfalls für uns) alle Wörter der Welt ( Jürgen Reichen) lesen konnten. Was war das für ein Erlebnis für die Kinder und vor allem für uns. Da bekomme ich gleich wieder eine Gänsehaut, wenn ich an diesen Tag denke (es war im November). Es ist natürlich immer wieder ein seltsames Gefühl, wenn man merkt, dass man seine Rolle als Lehrerin ganz anders begreifen muss, dass wir uns wirklich viel zu oft den Kindern aufdrängeln, wir sie in unsere Muster setzen wollen. Dass es auch anders möglich ist, bzw. sein muss, dass sich Kinder wirklich das nehmen, was sie brauchen, was für sie

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wichtig und wertvoll ist, weiss ich jetzt erst. Zum Glück haben es mir die Murkels in meiner Klasse gezeigt. Immer öfter sind Elke und ich in Situationen am Vormittag, wo wir ein schlechtes Gewissen haben, da die Kinder selbständig arbeiten und wir nutzlos herumsitzen bzw. -stehen. Aber dann trösten wir uns und denken an Dein Wort: "Lernt, kreativ nichts zu tun!". Wir recht hast Du, denn in dieser Zeit beobachten und entdecken wir so viel an und bei den Kindern, was uns ermöglicht, den tatsächlichen Entwicklungsstand der Kinder einzuschätzen. Noch nie konnte ich so konkret mit Eltern über ihre Kinder reden wie heute. Natürlich geben uns viele Kinder immer noch viele Rätsel auf und das ist auch gut so. Immer wieder staunten wir (und tun es auch jetzt noch), zu welchen Schreibleistungen die Kinder im Anfangsunterricht schon fähig sind. Diese Ergebnisse setzen immer wieder das i-Tüpfelchen. Um ehrlich zu sein, fallen uns natürlich dann auch die vielen kleinen Steinchen vom Herzen, die da doch immer noch haften. Das sind dann auch die Beweisstücke für viele, viele Zweifler. Fast jede Woche kommen viele Leute zum Hospitieren und die Reaktionen sind schon sehr unterschiedlich. Die meisten kommen schon ganz schön ins Grübeln, wenn sie auf der einen Seite die Freiheit in der Klasse sehen und auf der anderen Seite die "Ergebnisse". Morgens vor dem Unterricht ist unser Klassenraum auch ständig mit Kindern aus anderen Klassen voll. So sitzen dort oft ganz friedlich auch Jungs aus der 4. Kl. mit meinen Jungs in der Bauecke und bauen die schönsten Türme. Kopfzerbrechen bereitet uns immer noch der Mathelehrgang. Bisher habe ich viel Montessori-Material selbst gebastelt, einiges konnte ich auch kaufen, da unser Schulleiter uns phantastisch unterstützt. Aber hier weiss ich noch zu wenig. So mache ich seit diesem Jahr eine Workshopreihe mit, «Ganzheitliches Lernen auf Basis der Montessori-Pädagogik». Leiter und Träger ist Clause Kaul aus Bad Wiessee. Das kostet zwar unheimlich viel Geld (jedenfalls für mich), aber ich hoffe dadurch für mich noch mehr herauszufinden, was ich in meiner Arbeit brauche bzw. mich selbst noch stärker macht. Zu gerne möchte ich Vieles, was ich bisher noch aus dem Bauch heraus mache, besser einordnen, begründen können. Nach dem ersten Kurs war ich etwas enttäuscht. Um das zu begründen, würde ich wohl jetzt zu weit gehen. Ich hatte mich auch sehr auf die anderen Kursteilnehmer gefreut, weil ich meinte, dass die Leute die gleiche Motivation wie ich für diesen Kurs hatten. Aber davon wurde ich gleich enttäuscht. Der Kurs findet in Berlin statt und so sind zu 90% Kolleginnen aus W-Berlin dabei. Schon nach der Vorstellungsrunde wusste ich, wo bei einigen der Hase langläuft. Sie hatten grosse Probleme in der Schule und meinten, wenn sie den Kurs gemacht haben, eine Art Zauberkunst kennengelernt zu haben, die von heute auf morgen einen neuen Unterricht von ganz allein möglich macht. Dass das aber was mit ihnen und ihrer Person zu tun hat, scheinen sie nicht zu wissen. Andere nehmen wohl daran teil, weil im Moment Reformpädagogik. viel im Gespräch ist, und die Teilnahme zur Image-Aufbesserung gehört. Entschuldige bitte, dass ich so einfach über andere Leute urteile, es steht mir auch nicht zu, aber es ärgert mich halt, wenn ich solche "Schaufensterleute" treffe, die ihre Rolle spielen und so tun als ob....! Immer mehr mache ich solche Erfahrungen und um so mehr bin ich auf der Suche nach Menschen, wo Denken, Reden und Handeln eins sind. Dass das schwierig ist, merke ich immer wieder. Aber ich merke eben auch, dass man schon Menschen um sich herum braucht, die ähnliche Ideale, Einstellungen und Vorstellungen haben, um sich selbst ab und zu wieder zu stärken. Zu oft gerät man immer wieder in eine Verteidigerrolle.

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Um so mehr freue ich mich, dass Denise im Januar ein Treffen organisiert hat, wo wir, also die Teilnehmerinnen aus Deinem Kurs, uns treffen und Erfahrungen austauschen können. Sie hat uns auch schon Material von Dir geschickt, das wir prima einsetzen können. Toll, dass Du weiter an uns denkst. Vielen Dank! Viel, viel Zeit und Kraft brauchen wir in der Elternarbeit. Es ist für Eltern so, so schwierig, ihren Kindern Vertrauen in die eigene Leistung zu schenken, loszulassen von den angeblich berechenbaren Leistungen, die Kinder zeigen, wenn sie nach dem bisher üblichen Lese-Schreib-Lehrgang unterrichtet werden. Immer wieder sind wir auf der Suche nach reellen Vergleichen zu anderen Lernprozessen, die die Kinder durchmachen, und versuchen auch, auf Selbsterfahrungen bei den Eltern zurückzugreifen. An die beiden ersten Elternabende darf ich gar nicht denken, wie aufgeregt und fertig ich da vorher war. Schliesslich kannte ich diesen neuen Lernweg noch nicht mit tatsächlichen Beispielen, die ich konkret mit Namen und Daten benennen und belegen konnte. Ich konnte sie nur mit Worten überzeugen, was mir zum Glück auch gelang. Aber frag nicht, was ich für Angst vor ganz konkreten Fragen hatte, die aber zum Glück noch nicht kamen. Nun sieht es schon anders aus, da ich selbst Beweise aufführen kann. Und immer mehr argumentieren die Eltern untereinander. Das ist natürlich besonders schön zu beobachten. Aber es kommen immer noch sehr viele Eltern und die Fragen werden interessanter, viele kommen auch hospitieren. Wir müssen immer wieder daran denken, dass es wirklich alles neu für die Eltern ist, dass sie ihre eigene Schulzeit und die Schule ihrer anderen Kinder eben anders erlebt haben. So, nun aber genug. Hoffentlich habe ich Dir nicht zu viel Zeit geraubt, Dich gelangweilt mit meinem kleinen Roman. Ich danke Dir für Dein "Zuhören". Für mich war es jedenfalls gut, mich mal ausführlicher an Dich zu wenden, weil Du zu vielen Gedanken und Erlebnissen sowie Einstellungen mit die Grundlage gelegt hast. Und Du hast recht, dass eine Mischung von Schreib- und Leselehrgängen einfach nicht geht. Da wären wir aber in Schwierigkeiten gekommen!!! Wie würden wir uns freuen, wenn wir mit Dir wieder zum "Fachsimpeln" mal zusammentreffen! Ich grüsse Dich herzlich. Heike

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Text-C21 Rita Rieder Oberleitner Es geht auch ohne Fibel / Lesen durch Schreiben erschienen in. Forum (Pädagogische Zeitschrift für die Grund-, Mittel- und Oberschule in Südtirol), Heft 3, 1995 In den letzten Jahren habe ich mich intensiv mit Lese-Rechtschreibschwächen (Legasthenie) auseinandergesetzt. Dabei bin ich zur Erkenntnis gelangt, daß einer der Ursprünge der Lese-Rechtschreibeschwäche im Anfangsunterricht liegt. Außerdem wußte ich durch einige Besuche im Kindergarten, aus Gesprächen mit der Kindergartentante und mit den Eltern, daß dreizehn Kinder mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen ihrem ersten Schuljahr entgegenfieberten.

Ich war nicht mehr gewillt, das Lesen als Buchstaben-Laut-Assoziation anzusehen, welche durch häufiges Üben automatisiert wird. Ich gelangte vielmehr zur Überzeugung, daß das Erlernen von Lesen und Schreiben eine komplexe Leistung von Sprach-, Wahrnehmungs- und Denkprozessen darstellt.

Nach dem Durchforsten einiger Fachliteratur, nach Kursbesuchen bei Hans Brügelmann und Jürgen Reichen, entschloß ich mich nach einem privaten Gespräch mit letzterem, für den Lehrgang „Lesen durch Schreiben“. Herr Reichen behauptet, daß mit „Lesen durch Schreiben“ legasthenischen Fehlentwicklungen vorgebeugt werde. Er war so nett, mir sämtliche Unterlagen unentgeltlich zur Verfügung zustellen. Somit entfiel schon von vorneherein die Geldmittelbeschaffung für ein derartiges Experiment. Zur Methode „Lesen durch Schreiben“ bietet die Möglichkeit, vom ersten Schultag an einen offenen, kommunikativen und selbstgesteuerten Unterricht aufzubauen, in dem die Schüler nicht nur das Schreiben und Lesen, sondern auch das Lernen lernen. Es entfällt die leidige Diskussion bezüglich der Schulreife, da nicht alle Kinder in ihrer Entwicklung zum gleichen Zeitpunkt gleich weit sein müssen. Durch das Sabefix, verschiedene Arbeitsblätter, Lernspiele usw. sind vielfältige Differenzierungs-Möglichkeiten gegeben.

Zunächst eignet sich das Kind im Unterricht das Schreiben an, das heißt jene kognitive Leistung, welche gesprochene Sprache in ein graphisches Zeichensystem umsetzt. Demnach stehen die Hinführung zur Lautstruktur der Sprache, zur Zeichenstruktur der Schrift und zu den Zuordnungsregeln der Laute zu ihren Buchstaben im Mittelpunkt der Lernanstrengung des Anfangsunterrichts.

Der Hinführung zur Lautstruktur der Sprache ist große Bedeutung beizumessen, das ist an den Problemen ersichtlich, die Kinder anfangs bei der lautlichen Aufgliederung eines Wortes haben. Häufige Hörübungen sind unerläßlich. (z. B. Geschichten mit M-Wörtern, Geräusche-Lotto, An- und Endlautgruppen, auflautieren ganzer Wörter, auflautierte Wörter erkennen, Klatschverse, Hüpfspiele ... )

Neben der akustischen Wahrnehmungsschulung wird in diesem Lehrgang auch die optische stark berücksichtigt, wobei logische und sprachliche Anforderungen von den Kindern hohe Aufmerksamkeit und Konzentration fordern.

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Bei Schülern, die undeutlich sprechen und Laute verschlucken, ist besondere Vorsicht geboten. Sie benötigen unter Umständen das ganze erste Schuljahr bis sie auch lautlich anspruchsvollere Wörter in ihre Lautabfolge zerlegen und danach phonetisch vollständig aufschreiben können. Lehrmittel Das wichtigste Lehrmittel dieser Methode ist die Anlauttabelle, welche alle nötigen Buchstaben und Laute beinhaltet, um die Arbeit mit einem unbegrenzten Wortschatz zu ermöglichen. Einige Buchstaben des Alphabets fehlen (c, y .. ), sie können jederzeit im Inneren des Bogens ergänzt werden. Die Tabelle befindet sich im Besitz jedes einzelnen Kindes und ist in großer Ausführung im Klassenraum verfügbar.

Die Arbeit mit der Anlauttabelle enthebt den Unterricht in der ersten Phase von Künstlichkeiten und macht den Kindern die kommunikative, informative und expressive Funktion von Texten bewußt: Merkzettel, Einladungen, Mitteilungen und Bildbeschreibungen sind aktuelle Schreibanlässe.

Nach der schriftdeutschen Benennung der Bildgegenstände im Anlautbogen können von den Kindern Lautketten, d. h. phonetisch zergliederte Wörter, aufgeschrieben werden. Bei dieser selbstgesteuerten Schreibentwicklung sind graduelle Stufen zu beobachten. Z. B. geht jedes Kind den Weg über die Skelettschreibung zur Lautumschrift. Bei der Skelettschreibung werden vorwiegend Vokale ausgelassen. Lerntempo Die Zeit des Erreichens und Verharrens auf den verschiedenen Stufen ist ganz individuell. Genauso geht es mit den Einsichten in der Rechtschreibung vor sich. Manche Kinder eignen sich anhand von Sprachspielen, Hinweisen, durch die Unterscheidung langer und kurzer Vokale, durch den Vergleich der Klangdauer mit der Wortlänge usw. schnell eine gewisse ortografische Eigenständigkeit an. Wobei hier unbedingt noch anzuführen ist, daß Kinder ihre ersten Wörter und Texte ohne ortografische Anforderungen verfassen sollen. Andere Schüler wiederum bleiben relativ lange bei der phonetisch-genauen Umschrift der eigenen Artikulation. Rechtschreibung wird im Anfangsunterricht zweitrangig behandelt, um die Sprach- und S.chreibkonpetenz nicht unterzuordnen.

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Das Überwältigendste an dieser Methode ist für mich die Tatsache, daß die Kinder nach und nach, ganz plötzlich das Lesen können, Bücher ihren Interessen entsprechend auswählen und selbständig damit umgehen. Sie entziffern mit Hingabe Briefe, die ihnen Mitschüler aus anderen Klassen zukommen lassen. Wenig Übung und doch Meister Es ist nicht notwendig, jeden Tag zu üben, ein und den selben Text fünfmal zu lesen. Sogar das Zusammenlauten erübrigt sich. Eine Mutter, deren drittes Kind so lesen lernte, empfand es als sehr positiv, daß die täglichen Leseübungen daheim entfielen, ihr Sohn aber plötzlich ein Kinderbuch in die Hand nahm und vorlas. Diese Methode ermöglicht den Kindern auch eine realistischere Selbsteinschätzung, denn es wird kein Lesenkönnen durch Auswendigiernen vorgetäuscht. Nach ganz unterschiedlichen Zeitabständen (die ersten Anfang November, die letzten Ende Januar); konnten die Kinder Wörter erlesen und ihren Sinn erschließen. Ich war ganz erleichtert, als ich diese Feststellung machte, denn zwischendurch hatte ich vor allem bei lernschwächeren Kindern starke Zweifel; die passende Methode gewählt zu haben. Nachdem aber doch alle das Lesen schafften, stimmt die These Reichens. „Die Kinder lernen selber lesen, indem sie schreibend Erfahrungen zu den Lauten sammeln.“ Schreiben und Schrift Eine weitere, für mich wichtige Beobachtung konnte ich machen, als es galt; einen längeren Text von der Tafel abzuschreiben. Niemand; auch nicht die schwachen Schüler machten Fehler. Das hieß für mich, daß sie wirklich gelernt hatten, sich zu konzentrieren und genau hinzuschauen.

Das Schriftbild war für mich und für einige Eltern ein Problem. Da die Kinder die Buchstabenformen selber der Tabelle entnehmen, ergeben sich automatisch Schriftbilder von unterschiedlicher Qualität. Die gewohnten Hefte, in denen jeder Übungsprozeß nachvollzichbar ist, gibt es nicht. Nach dem Konzept von Jürgen Reichen sollen zu Beginn des Lernprozesses keine schreibmotorischen Übungen von Buchstaben durchgeführt werden. Diese Maßnahme zum Erwerb der Schreibschrift entfällt. Resümee Im Laufe dieses Schuljahres wurde ich von Kollegen oft gefragt: Lernen die Kinder so schneller als mit anderen Leselehrgängen? Kinder lernen mit „Lesen durch Schreiben“ nicht schneller, wohl aber den Lernrhythmen angepaßter. Das ist auch den Eltern von vorneherein verständlich zu machen.

Voraussetzung für die Durchführung eines derartigen Lehrganges ist der Ansatz einer umfassenden Veränderung des Unterrichts. „Lesen durch Schreiben“ erfordert von jeder Lehrkraft Zurückhaltung, das Prinzip der minimalen didaktischen Hilfe, nämlich, sich als Lehrkraft mehr in beratender, mitlernender statt vorgehender Funktion zu sehen und eine gehörige Portion Mut.

Bei der Gestaltung des Klassenzimmers steht der Funktionsaspekt im Vordergrund. Größere Tischgruppen helfen Platz sparen und ermöglichen eine produktive Zusammenarbeit. Gänge und kleinere Nebenräume lassen sich gut in die Raumverteilung miteinbeziehen.

Übersichtlich und ansprechend präsentierte Lernangebote sollen den Kindern jederzeit zugänglich sein.

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Die Eltern müssen noch vor Unterrichtsbeginn über die Lerninhalte, Arbeitsweisen, Ziele, Techniken, Hausaufgabenhilfen und dergleichen umfassend informiert werden, wobei unbedingt auch darauf hingewiesen werden muß, daß von der Lehrkraft wie auch von den Eltern keine rechtschriftlichen Korrekturen an den freien Texten der Kinder vorgenommen werden dürfen, außer man begründet und bespricht sie und läßt Änderungen am Text von den Kindern selbst vornehmen. Lesezwang bringt nicht den erwünschten Erfolg und hemmt das Kind in seiner Lesefreude.

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Text-C22 Elternmeinungen Lesen durch Schreiben im Urteil von Eltern Bericht ans Schulamt Magdeburg / 1995 Als die Kollegin Heike Gruschke, Magdeburg, im Schuljahr 1994/95 zum ersten Mal „Lesen durch Schreiben“ durchführte, verlangte das Schulamt am Schuljahresende eine Befragung der Elternschaft. Die Eltern sollten aus ihrer Sicht eine Einschätzung des Konzepts vornehmen. Hier sind die eingegangenen Berichte (anonymisiert): Bericht 1 Sehr geehrte Frau Gruschke, bezugnehmed auf den letzten Elternbrief möchten wir Ihnen unsere Erfahrungen zum Versuch „Lesen durch Schreiben“ mitteilen. Wir beziehen uns bei den Problemen im Unterrichtsablauf auf die Schilderungen unserer Tochter: 1. Wir fanden es nicht gut, daß wir erst nach dem Start Ihres Versuches darüber überhaupt von Ihnen informiert wurden. 2. Dadurch entstanden auch Probleme bei der Auswahl begleitender Literatur oder anderer geeigneter Hilfsmittel. Die Fibel sollte nicht benutzt werden, andere Bücher standen aber auch nicht zur Verfügung. Wir suchten selber nach geeigneten Lesebüchern. 3. Sämtliche Arbeitsblätter existieren als lose Blattsammlung, die aus verschiedenen Quellen kopiert wurden. 4. Die Kinder schrieben ihre ersten Wörter in Heften der Klassenstufe drei bzw. auf losen Blättern. Die Größe bzw. das Größenverhältnis der Buchstaben sollte keine Rolle spielen. Leider hat sich bis heute das richtige Größenverhältnis in der Schrift unserer Tochter noch nicht eingestellt! Es scheint offenbar sehr wichtig zu sein, daß man nicht nur die Form, sondem auch die Größe der einzelnen Buchstaben erlernt. Wenn das motorische Grundmuster einmal festgelegt ist, wird es sehr schwierig, dieses zu ändern. Ganz zum Anfang konnten wir einige Worte überhaupt nicht erkennen, weil die Buchstaben nicht die richtige Form hatten bzw. weil die Worte so geschrieben waren, wie sie gesprochen werden (und da haben wir als „Machteborjer“ ja so unsere Probleme). 5. Die Zusatzaufgaben zu den Hausaufgaben wurden nicht konkret angegeben, Bsp.: „Schreibt zu Hause noch fünf Wörter“, ja aber wie lange, welche Wörter sind geeignet? Unsere Tochter nahm diese Aufgaben nicht als Pflicht sondern als Kür wahr. Wir mussten Stefanie immer wieder auffordern, auch diese Aufgaben zu erledigen, wobei sie unsere Unterstützung bei der Auswahl der Worte brauchte. 6. Die Haus- und Zusatzaufgaben sind teilweise nur mit Unterstützung der Eltern zu lösen. Bsp.: Ferientagebuch. 7. Die Aufgaben während der Ferien finden wir nicht richtig, in dieser schulfreien Zeit sollten die Kinder nur das tun, was ihnen Spaß macht. 8. Das Prinzip der „Werkstatt“ finden wir für die erste Klasse noch zu früh, die Kinder können aus der Vielzahl der zu erledigenden Aufgaben noch nicht die richtige Reihenfolge festlegen. Dadurch werden einige Stoffkomplexe während der gesamten „Werkstatt“-Zeit abgearbeitet, andere bleiben ungelöst. (Der Gesamtumfang erscheint uns zu groß, zumal der Stoff auch in den entsprechenden Fächern behandelt werden könnte). Bsp.: Ist in der ersten Klasse die Arbeit am

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PC wirklich notwendig, welchen Zweck erfüllt der PC, wird entsprechende Lernsoftware eingesetzt? 9. Zum Erlernen der Schreibschrift bekamen die Kinder einen schmalen Zettel mit Musterbuchstaben. Mit dieser Vorlage begann Stefanie Schreibschrift zu üben. Wie die Buchstaben geschrieben werden, wurde den Kindern nicht erklärt (z. B. an der Tafel). Nachdem nun einige Buchstaben gelernt waren, stand das nächste Problem, wie werden die Buchstaben zu Worten zusammengefügt? Wir mußten helfen, weil es noch keine Unterlagen aus der Schule gab. Es wäre sinnvoller, erst dann ein Stoffgebiet zu beginnen, wenn die materiellen Voraussetzungen dazu geschaffen sind, zumal ähnliche Vorlagen in der Parallellklasse existieren. 10. Das laute Vorlesen vor der gesamten Klasse sollte gefördert werden, damit die Kinder ihren eigenen Leistungsstand untereinander vergleichen können. Zusammengefasst: Eine seit Jahrzehnten erprobte Lernmethode wurde durch eine „neue“ ersetzt. Der Versuch ist eine „Einbahnstraße“, denn er ist nicht passend und vergleichbar zum althergebrachten „Schreiben- und Lesenlernen“. Was wäre gewesen, wenn der Versuch „Lesen durch Schreiben“ gescheitert wäre? Es war und ist für uns als Eltern sehr schwer, sich in diese Methode hereinzufinden. Bericht 2 Sehr geehrte Frau Gruschke mit der neuen Lernmethode Lesen durch Schreiben bin ich sehr zufrieden. Ich glaube, daß mein Sohn dadurch mehr Spaß beim Lernen hat. Meine Meinung dazu wäre, diese Methode öfter anzuwenden. Bericht 3 Auswertung des Versuches „Lesen durch Schreiben“ Am Anfang des ersten Halbjahres war ich etwas skeptisch, ob diese Methode gelingen würde. Doch durch die enge Zusammenarbeit mit der Schule und dem Elternhaus durch Elternabende, Elternsprechstunden, Stammtisch und Hausbesuch sowie durch Teilnahme der Eltern am Unterricht, konnte ich mich schnell davon überzeugen, daß es tatsächlich sehr gut bei unserem Sohn und auch bei den anderen Kindern zum Erfolg führte. Unser Sohn Daniel war sogar der erste, der schon vor den Herbstferien lesen konnte. Darüber waren nicht nur Daniel sondern auch wir sehr stolz. Diese Methode des Lernens ist sehr lobenswert, denn den Kindern macht es nach wie vor Spaß und Freude z.B. ein Buch zu lesen. Wer bzw. welches Kind kann das schon aus einer anderen ersten Klasse - keins. Unvorstellbar aber wahr ist auch, daß Daniel von einem Tag zum anderen die Schreibschrift mit größter Begeisterung erlernte. Abschließend kann ich nur feststellen, daß der Versuch „Lesen durch Schreiben“ ein voller Erfolg war für alle Beteiligten: für die Kinder, für Frau Gruschke und auch für die überzeugten Eltern. Danke für Ihre hervorragende Arbeit Frau Gruschke! Bericht 4 Erfahrungsbericht „Lesen durch Schreiben“ Sarah hat noch Schwierigkeiten beim Lesen, aber durch weiteres Üben wird es ihr bestimmt bald besser gelingen. Sie hat insgesamt viel Spaß beim Lernen nach dieser Methode. Besonders gut ist, daß die Kinder selbständig mit Hilfe der Buchstabentabelle Wörter aufschreiben können. Die Kinder achten dabei bewußt auf die Aussprache und auf die einzelnen Laute bzw. Buchstaben.

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Sie lernen also nicht bestimmte Wörter oder Texte auswendig, sondern können auch unbekannte Wörter und Texte lesen. (Wenn sie es dann einmal verstanden haben, die einzelnen Buchstaben auch sinnvoll zusammenzufügen.) Gerade dabei hat Sarah noch Schwierigkeiten. Sie versucht stets, Buchstabe für Buchstabe zu lesen. Dadurch dauert es sehr lange, ehe sie die Bedeutung des Wortes erfaßt hat. Aber ich bin sicher, daß sie diese Hürde noch überwinden wird. Bericht 5 Ich persönlich bin damit sehr gut zurecht gekommen. Das „Lesen durch Schreiben“ ist viel einfacher und besser wie das normale lesen. Wenn ich die Wahl hätte zwischen den zwei Methoden das lesen zu lernen, ich würde mich wieder für das „Lesen durch Schreiben“ entscheiden. Es ist einfach der bessere Weg für das Kind das Lesen zu lernen. Bericht 6 Einschätzung der Methode „Lesen durch Schreiben“ Zu Anfang als wir davon hörten waren wir sehr skeptisch von dieser neuen Methode. Wir haben zu diesem Zeitpunkt nicht an Erfolge geglaubt, doch als unser Kind schon im Oktober anfing uns einige Wörter vorzulesen, waren wir vollkommen überzeugt und stehen auch weiterhin voll hinter der neuen Methode. Lobenswert ist auch die Selbständigkeit in der Werkstattarbeit. Bericht 7 Persönliche Einschätzung zum Thema „Lesen durch Schreiben“ Bei der Vorstellung, dass sich die Schüler das Lesen durch Schreiben selbst beibringen, war ich sehr skeptisch, da ich mir dies nicht vorstellen konnte, dass diese Lernmethode funktionieren kann. Es dauerte auch ziemlich lange, dadurch kamen immer wieder Zweifel auf, umso erstaunter und größer war die Freude, dasss es auch bei meinem Sohn endlich klappte. Ich finde diese Lernmethode gut, die Schüler stehen weder in der Schule noch zu Hause unter Druck. Ich bin dafür, dass diese Lemmethode an dieser Schule weitergeführt wird bzw. an anderen Schulen eingeführt wird. Diese Lernmethode ist eine positive Sache, da den Schülem das Lernen leichter fällt. Bericht 8 Einschätzung der Methode „Lesenlernen durch Schreiben“ Die Methode „Lesenlemen durch Schreiben“ wurde von uns erst mit Skepsis und Bedenken aufgenommen, da wir uns nicht vorstellen konnten, das man durch Schreiben Lesen lernen kann. Wir mußten uns aber eines Besseren belehren lassen. Wir finden es z.B. gut, dass die Kinder gleichzeitig alle Buchstaben kennengelernt haben, auch wenn es dadurch viel Übung bedurfte. Im Vergleich zu anderen Kindern der 1. Klassen kann unsere Tochter auch unbekannte Texte lesen, weshalb wir diese Methode als erfolgreich einschätzen möchten. Bericht 9 Einschätzung der Unterrichtsform „Lesen durch Schreiben“ Die Durchführung dieser für uns noch unbekannten Unterrichtsform habe ich mit großer Neugier verfolgt. Gefallen hat mir als Mutter vor allem die noch spielerische Form der Erarbeitung des Lehrstoffes, da ja der Sprung vom Kindergarten zur Schule in der Entwicklung der Kinder ziemlich

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groß ist. Auch die Vielfältigkeit und Gleichzeitigkeit (z.B. Buchstabentabelle mit allen Buchstaben) der Vermittlung des Lehrstoffes war äußerst interessant. Auch die selbständige Auswahl der Inhalte und Aufgaben in der Werkstattarbeit ist sicher für die Förderung des selbständigen Lernens eine sehr gute Methodik. Verwirrend für die Kinder ist sicher noch der hohe Anspruch an das selbständige Arbeiten, da hier auch durch die hohe Anzahl der Kinder in der Klasse eine Kontrolle nicht leicht ist. Vielleicht wäre es noch ergiebiger für Eltern und Kindern, wenn man vor Schulbeginn mit dieser Unterrichtsform konfrontiert würde, um eventuell noch entscheiden zu können, welche Form der Lehrstoffvermittlung der Mentalität meines Kindes entgegen kommt. Bericht 10 „Lesen durch Schreiben“ ist eine gute Methode um den Kindern gleichzeitig noch beim Schreiben das Lesen zu festigen. Sandra versucht immer beim Schreiben danach oder dabei zu lesen, was sie schreibt. Ich finde es einfach gut und wir kommen damit zurecht. Bericht 11 Obwohl ich kopfschüttelnd aus der ersten Elternversammlung ging, muß ich sagen, daß die Methode „Lesen durch Schreiben“ sich voll bewährt hat. Nie hätte ich gedacht, daß meine Tochter bereits nach einem Vierteljahr selbständig Texte lesen und schreiben kann, die sie vorher noch nie gesehen und gehört hat. Allein die Tatsache, daß die Kinder immer noch mit wachsender Begeisterung zur Schule gehen, sollte doch zu denken geben, denn die Kinder, die nach der alten Methode unterrichtet werden, klagen schon nach kurzer Zeit über Langeweile, weil sie nicht genügend gefördert werden. Verwandte und Bekannte unserer Familie, die ebenfalls Kinder im gleichen Alter haben wie wir, sind begeistert und auch ein wenig neidisch, daß unsere Tochter schon soweit ist. Ich würde es sehr begrüßen, wenn die Methode „Lesen durch Schreiben“ auch in anderen Schulen eingeführt würde. Bericht 12 Ich finde es prima, wie die Kinder so im Unterricht lernen: Lesen durch Schreiben. Was für die Kinder zwar nicht ganz einfach ist, aber sie haben dadurch mehr Freude und Lust am Lernen. Machen Sie weiter so. Bericht 13 Einschätzung „Lesen durchSchreiben“ Mit der Methode „Lesen durch Schreiben“ zu lernen hat Felix sehr schnell u. sehr gut das Lesen erlernt. Zu Anfang war ich ein wenig skeptisch, ob diese Methode gut wäre, aber ich bin schnell davon überzeugt worden. Schon nach einem 1/4 Jahr konnte Felix auch schwierige Wörter aus Büchern und Zeitungen lesen, weil er mit Hilfe der Buchstabentabelle bereits alle Buchstaben kannte. Das Lesen üben mit Hilfe eines Lesebuches fiel völlig weg. Ich bin davon überzeugt, daß diese Methode das Lesen zu erlernen, sehr gut ist.

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Bericht 14 Einschätzung Zu der neuen Unterrichtsmethode „Lesen durch Schreiben“ kann ich mich nur positiv äußern und bin sehr zufrieden. Die Kinder werden außerdem motiviert, durch schreiben gleichzeitig zu lesen. Diese neue Unterrichtsmethode sollte man für alle Kinder der 1. Klassen einführen. Bericht 15 Auswertung „Lesen durch Schreiben“ Nach anfänglicher Skepsis, was sicherlich verständlich ist, mußten wir feststellen, daß diese Methode das Lesen zu erlernen funktioniert. Den Großeltern haben wir mit Hilfe des Hieroglyphentores diese Methode erklärt, da sie sich nichts darunter vorstellen konnten. Auch sie konnten sich nicht vorstellen, daß es klappt. Bericht 16 „Lesen durch Schreiben“ - die für uns neue Herangehensweise war auf jeden Fall interessant, wenn nicht sogar spannend - denn irgendwann sollte ja mehr oder weniger „über Nacht“ der Knalleffekt beim Lesen erfolgen - der „Knall“ war zwar nicht ganz so laut; d.h. diese Leseerfolge kamen doch Stück für Stück, aber sicherlich eher als bei der althergebrachten Methode - etwas schwierig war allerdings die Einschätzung, wie weit Kristin sein konnte bzw. sollte, da eben die Vergleiche und Unterlagen fehlten - durch die kleinen Kontrollen und Möglichkeiten zum Gedankenaustausch mit der Lehrerin und anderen Eltern wurden aber die kleinen Zweifel bzw. Unsicherheiten der Anfangszeit schnell überwunden und man konnte sogar schon anderen „Zweiflern“ mit etwas Stolz von den ersten Erfolgen berichten - ob allerdings nach der 1. Klasse ein bleibender Unterschied hinsichtlich des Verhältnisses zur deutschen Sprache im Vergleich mit der üblichen Lehrmethode bestehen bleibt, steht noch auf einem anderen Blatt - wahrscheinlich wird es da und dort „Leseratten“ oder Kinder mit ständigen Rechtschreib-Problemen geben - aber vielleicht wird das Problem ja bald gesetzlich gelöst und jeder darf so schreiben wie er das Wort hört!? - also vertrauen wir weiter den neuen Ideen, die sich nicht so sehr an festgelegte Lehrpläne halten, sondern mehr das Spielerische im Kind ausnutzen! Viel Glück und weiterhin kleine bis große Erfolge bei allen Kindern.

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Ein Brief aus Luxembourg Marie Paule Theisen Max 14, rue de Siegelsbach L-5361 Schrassig Schrassig, den 5. September 1998 Sehr geehrter Herr Dr. J. Reichen ich hätte liebend gerne am Rundtischgespräch am Freitag in Walferdange teilgenommen, konnte aber leider nicht, da ich eine berufstätige Mutter bin. Ich erlaube mir, dies schriftlich zu tun, aus zwei für mich sehr wichtigen Gründen: - Ich hoffe, dass die von ihnen entwickelte Methode mit ihren pädagogischen Konzepten sich flächenweise ausbreiten kann. - In meinen Augen gehören drei Partner zur Schule: neben dem Schüler und dem Lehrer auch die Eltern. Obschon bei uns die Institution Schule diese Partnerschaft nicht wünscht, habe ich sie immer ernst genommen, da es nur im Interesse meiner/der Kinder sein kann. Nun Näheres über meine Elternerfahrungen: Mein ältestes Kind Philippe ist 11 und geht jetzt in die 6. Klasse. Sein Bruder Alain ist 9 und Sophie wird in zwei Wochen 8 Jahre alt. Alle Kinder gingen zur gleichen Lehrerin in die 1. Klasse. Philippe war ein sehr wissenshungriges Kind, dem wir während der kleinen Kindheit viele Geschichten- und Sachbücher vorgelesen hatten. Er liebte Bücher über alles, hatte ein klares Verständnis für das Erzählte und das Vorgelesene und freute sich auf die Schule. Wir auch. In unseren Gedanken würde er sehr bald alleine lesen und uns weniger beanspruchen. Aber alles kam anders. Die bei uns angewandte offizielle Methode „Simsalabim“ löste in meinen Augen eine Katastrophe aus: ein wissenshungriges Kind von 6 Jahren interessiert sich nicht für Lesetexte im Stil von: „da ist Sim, da ist Mama.“ Philippe wollte nichts mehr von der Schule wissen, er hat sich total verschlossen, wollte nichts mehr mit Büchern zu tun haben, hatte große Mühe, den Lernstoff zu bewältigen und mit jedem Wort, das zuhause zu schreiben war, bekam der Tisch einen Fußtritt. Jeder unterstrichene Fehler verkleinerte sein Selbstvertrauen. Nachts hatte er manchmal Alpträume. Die Lehrerin konnte mir nicht helfen, ich konnte meinem Kind nicht helfen. Ich konnte nicht verstehen, wieso dieses Kind bereits in der ersten Klasse ernste Probleme aufzeigte. Die Lehrerin, glaube ich, war mit dieser Klasse überfordert. Nach mehr als 20 Berufsjahren funktionierte das Schulrezept nicht mehr. In ihrer Not hat sie, Gott sei dank, ab der zweiten Klasse die Atmosphäre entspannt, indem sie Neuerungen einführte (zum Beispiel Wochenplan, Sitztbälle etc.) Philippe entspannte sich. Ich auch. Die schulischen Resultate verbesserten sich, aber er konnte lange Zeit nicht lesen. Erst in der vierten Klasse hat er angefangene Bücher zu lesen. Seinen Wissensdrang hat er in der fünften Klasse wieder gefunden. Er sucht Wissen in Büchern und Zeitungen, aber er schreibt sehr viele Rechtschreibefehler, da ihm die Basis fehlt. Bis heute ist sein Ohr noch nicht geschult für Umlaute, langes i, Doppellaute etc. Eigentlich will er jetzt lernen, nimmt er die Schule und den Lehrer ernst und will aufs Gymnasium. Ich weiß nicht, ob wir Philippe wegen der schlechten Rechtschreibung dorthin orientieren können.

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Aus den Schwierigkeiten meines Kindes habe ich sehr viel gelernt und mein erstes Mutterprinzip lautet: das Kind aufbauen, immer und immer wieder ermutigen und ihm immer wieder zeigen, das man an es glaubt. Alain ist zwei Jahre jünger als sein Bruder. Ich habe mir lange überlegt, ob ich dieses Kind, da es sehr naiv ist und war, nicht um ein Jahr zurück setzen sollte. Meine Schulerfahrung hatte mich vorsichtig gemacht, aber auf Anraten der Lehrerin hin ging Alain dann zusammen mit seinen Kameraden in die erste Klasse. Die Lehrerin startete ihren ersten Versuch mit der Methode „Lesen durch Schreiben“. Skeptisch konnte ich überhaupt nicht sein, da ich total simsalabimgeschädigt war und nur auf Besseres hoffte. Ich glaubte auch an die positiven Erneuerungsversuche der Lehrerin und beim Vorstellen der Anlauttabelle war für mich die Methode ist sofort klar. Sie war vom ersten Tag an eine Erlösung für mich: keine Anspannung mehr, keine Hausaufgaben, keine Bewertung durch Punkte, Raum für Neues, Gruppenarbeiten, nicht auf die Fehler wurde hingewiesen, sondern auf das Produzierte; das Kind freute sich jeden Morgen auf die Schule und zeigte voll stolz sein Tagebuch; es wurde nicht in ein Verhaltensschema gedrängt. Seine Persönlichkeit wurde respektiert, wir Eltern wurden öfters in die Schule eingeladen und auch die Lehrerin zeigte richtige Freude an der Schule. So schön konnte Schule sein. Ich war dankbar für diese Erfahrung, besonders da das dritte Schuljahr an meinem Sohn Philippe und mir zehrte. Alain lernte ungefähr nach sechs Monaten lesen. Er war erstaunt und glücklich: „Mama, wir haben schreiben gelernt, jetzt kann ich lesen! Er hat nie wieder aufgehört zu lesen! Meine Tochter Sophie, als letztes Kind aus der Reihe, hat den Sprung in die Schule mühelos geschafft. Sie konnte nach drei bis vier Wochen lesen und ihre Begeisterung ist bis heute geblieben: sie liest auf eigene Initiative hin fließend luxemburgische Geschichten! Da kann ich nur staunen. „Lesen durch Schreiben“ fördert das Selbstvertrauen der Kinder und die Freude am Lernen. Da jedes Kind nach seinem persönlichen Rhythmus lernt und arbeitet, festigt jedes Kind seine Basis, auch bei längerer Krankheit. Durch freies Schreiben finden auch scheue und zurückhaltende Kinder Ausdrucksweisen für ihre Gedanken, ihr Wissen und ihre Fantasie. Gruppenarbeiten ermöglichen soziales Lernen und Respekt vor dem „Anderssein“. Klassenaktivitäten (Konzerte, Theater und andere Veranstaltungen) sind der gemeinsame Stolz von Kindern Eltern und des Lehrers. Sie bereichern unser Leben. Ich danke Ihnen, Herr Dr. Reichen, aus ganzem Herzen für ihren pädagogischen Einsatz für unsere Kinder und ich hoffe, dass Sie noch oft nach Luxemburg zurückkommen, um unsere Lehrer in Ihre Methode einzuführen. Vielleicht könnte ja „Lesen durch Schreiben“ als die offizielle Methode bei uns anerkannt werden. Mit herzlichen Grüßen Marie Paule Theisen Max

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Text-D01 ERZIEHUNGSDIREKTION DES KANTONS ZUERICH Pädagogische Abteilung August 1985 ERSTLESEMETHODE UND RECHTSCHREIBKOMPETENZ: Ergebnisse einer Reihenuntersuchung mit dem diagnostischen Rechtschreibetest DRT-2 (Beltz) in Adliswil und Regensdorf (Kanton Zürich/Schweiz). Die Untersuchungen wurden von den Schulpsychologischen Diensten organisiert. (Testdurchführung durch Klassenlehrer, Korrektur durch Logopädin, Auswertung durch Päd. Abt.). Beide Gemeinden machen diesen Test seit Jahren, um jene legastheniegefährdeten Kinder zu ermitteln, welche eine Therapie benötigen. (Als legastheniegefährdet gelten nach Angaben der Logopädinnen jene Kinder, die mehr als 20 Fehler im Test machen bzw. bei einzelnen Aufgaben einen sog. "Buchstabensalat" anrichten. Unter diesen Kindern sind natürlich auch viele Ausländerkinder zu finden, die eher wegen Sprachproblemen Schwierigkeiten haben, und nicht weil sie "Legastheniker" sind.) Testzeitpunkt: 2. Schuljahr/IV. Quartal/Frühjahr l985 Stichprobe: 20 Klassen/385 Kinder, wovon 276 Schweizer- und 109 fremdsprachige Ausländerkinder Erstlesemethoden: Lesen durch Schreiben, 4 Klassen/74 Kinder Mali,Moli,Muli (synthetisch), 9 Klassen/172 Kinder div. synthetische Fibeln, 5 Klassen/98 Kinder Lesen, Sprechen, Handeln, (integrierend), 2 Kl./41 Ki. Ergebnisse der quantitativen Fehleranalyse a) Gesamtstichprobe: Gesamtdurchschnitt, N = 385 16,8 Fehler Lesen durch Schreiben, N = 74 14,4 Fehler Mali, Moli, Muli, N = 172 17,1 Fehler Lesen,Sprechen,Handeln, N = 41 17,7 Fehler div. synthetische Fibeln, N = 98 17,6 Fehler b) Schweizerkinder: Gesamtdurchschnitt, N = 276 16,0 Fehler Lesen durch Schreiben, N = 54 14,4 Fehler Mali, Moli, Muli, N = 132 16,6 Fehler Lesen,Sprechen,Handeln, N = 27 16,3 Fehler div. synthetische Fibeln, N = 62 16,1 Fehler c) Ausländerkinder: Gesamtdurchschnitt, N = 109 18,7 Fehler Lesen durch Schreiben, N = 20 14,5 Fehler Mali, Moli, Muli, N = 40 18,7 Fehler Lesen,Sprechen,Handeln, N = 14 20,4 Fehler div. synthetische Fibeln, N = 36 20,2 Fehler

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Übersichtstabelle: Klassenmerkmale und Ergebnisse nach Lesemethoden Mali, Moli...

(Schneider) Lesen d. Sch. (Reichen)

Lesen, Spr... (Grissemann)

synth. Fibeln (div. Autoren)

Klassengrösse (Kinder pro Klasse)

19,1 18,5 20,5 19,6

Anteil fremdspr. Kinder in %

23,2% 25,6% 34,0% 36,7%

Durchschnittl. Fehlerzahl im DRT-2

17,1 14,4 17,7 17,6

Durchschnittl. Prozentrang nach Normen 1972

30 43 28 28

Fehlerdifferenz zw. Schweizer- und Ausl.kindern

2,1 0,1 4,1 4,1

Anteil an legasthenie-gefährdeten Kindern

37% 20% 27% 35%

Kommentar: Ohne dass man die Repräsentativität und die Gültigkeit dieser Ergebnisse überinterpretiert, darf man wohl zweierlei sagen: 1. Die häufig geäusserte Befürchtung, mit der Methode Lesen durch Schreiben werde die spätere

Rechtschreibkompetenz der Kinder beeinträchtigt, trifft nicht zu. Dass Erstklässler zunächst "HUNT, Kaze, HuN, Kaninschen etc." schreiben hat keinen negativen Einfluss auf spätere Recht schreibung.

2. Die häufig geäusserte Befürchtung, mit der Methode Lesen durch Schreiben würden

fremdsprachige Kinder überfordert und dadurch in ihrem schulischen Fortkommen beeinträchtigt, trifft - jedenfalls was die Rechtschreibung angeht - nicht zu. In der Stichprobe zeigt sich eher umgekehrt, dass Lesen durch Schreiben die einzige Methode ist, bei der sich die Leistungen von fremdsprachigen und schweizerdeutschsprachigen Kindern nicht unterscheiden.

Bemerkungen zu den einzelnen Lehrgängen Ergebnisse einer Einzeluntersuchung sind allgemein mit Vorsicht zu geniessen. Immerhin ergeben sie wichtige Hinweise. Die Erhärtung der Befunde durch eine Untersuchung an einer weiteren Stichprobe (sog. Kreuzvalidierung) ist wünschbar. a) Mali, Moli, Muli: "Mali, Moli, Muli" dominiert mit 9 Klassen und 172 Schülern die Stichprobe übermässig. Was in dieser Stichprobe sich als Durchschnitt durchsetzt wird also von "Mali, Moli, Muli" bestimmt. Umso augenfälliger ist der extreme Anteil an legastheniegefährdeten Kindern in diesen Klassen (die gleichzeitig den geringsten Anteil fremdsprachiger Kinder aufweisen). Da dieser Befund gleichzeitig mit einer grossen Streuung der Testergebnisse in diesen Klassen korrespondiert, darf der Schluss gezogen werden: hier sind viele Schüler unnötig unter die Räder gekommen!

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b) Lesen durch Schreiben: Die Klassen mit "Lesen durch Schreiben" haben in allen Belangen die besten Ergebnisse. Orientiert man sich am Mass der Prozentränge, dann zeigt sich ein qualitativer Unterschied. Des weiteren ist besonders auffällig, dass in diesen Klassen zwischen Schweizer- und Ausländerkindern keine Leistungsunterschiede auszumachen sind. c) Lesen, Sprechen, Handeln: "Lesen, Sprechen, Handeln" wurde nur in zwei Klassen der Stichprobe eingesetzt. Auffällig ist, dass in beiden Klassen (als den einzigen) kein Schüler mit 0 Fehlern im Test figuriert. Während in allen übrigen Klassen Kinder zu finden sind, die 0 Fehler im Test hatten, liegt in den Klassen von "Lesen, Sprechen, Handeln" das beste Ergebnis bei 5 Fehlern. Berücksichtigt man den hohen Anteil fremdsprachiger Kinder, dann ist aber umso erstaunlicher, dass trotz eigentlich eher schwacher Testergebnisse der Anteil legastheniegefährdeter Kinder um 10% kleiner ist als bei "Mali, Moli, Muli". Offensichtlich ist der wissenschaftliche Hintergrund eines Erstleselehrmittels doch von Belang! d) Synthetische Fibeln: Bei diesen verschiedenen, traditionellen synthetischen Fibeln sind die Ergebnisse ähnlich wie bei "Mali,Moli,Muli". Da in diesen Klassen der Anteil an fremdsprachigen Kindern jedoch um 15% grösser ist, müssen die Ergebnisse als relativ besser betrachtet werden.

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Text-D02 Cornelia Bonenkamp-Rugerio Werkstattunterricht / Mein ganzheitliches Lehr- und Lernkonzept erschienen in: Schulanfang - ganzheitliche Förderung im Anfangsunterricht und im Schulkindergarten hrsg. Vom Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, Soest 1992 Wie ich das Lehren lernte Für meine Arbeit als Lehrerin lernte ich an der Universität und im Ausbildungsseminar, wie ich einen vorgegebenen Lehrstoff schüler- und schülerinnengerecht aufarbeiten kann. Das hieß (heißt), einen beliebigen Lerngegenstand derart zu verpacken, daß er das Interesse aller Schülerinnen und Schüler zu einem vorgegebenen, eingegrenzten Zeitpunkt erweckt, bei allen die gleiche Lernerfahrung bewirkt, auf der in den folgenden Stunden aufgebaut werden kann. Die Schülerinnen und Schüler das Lernen zu lehren, stand (steht) im Vordergrund. In dieser Weise übte ich mich einige Jahre. Mit der Zeit wurde ich immer unzufriedener mit meiner Arbeit. Ich merkte deutlich, daß ich in meinem Klassenunterricht nicht jede Schülerin und nicht jeden Schüler ansprach, und nicht jede/jeder erfolgreich war. Mir wurde klar, daß ich von einzelnen Kindern etwas erwartete, wofür die Voraussetzungen noch nicht gegeben waren. Das ist wie von einem Kind, das noch nicht laufen kann, zu verlangen, daß es springen soll. Um jedem Schulkind einen Lernerfolg zu ermöglichen, auf den es ein Recht hat, mußte ich mich mit der Frage auseinandersetzen: "Wie lernt das Kind?" Ich will auf diese Frage zunächst mit der Beschreibung meines Unterrichts antworten: Mein Unterricht Im Vorjahr übernahm ich wieder ein erstes Schuljahr. Von den 24 Kindern meiner Klasse wußte ich zum Schulanfang nicht, welche Voraussetzungen sie mitbringen würden. Also plante ich einen Arbeitsanfang, der ein Bindeglied zwischen Kindergarten und Schule sein sollte. Den Klassenraum stattete ich mit Büchern und vielfältigen Beschäftigungs- und Bastelmaterialien aus: Bauklötze, Papier zum Falten, Kleben, Schneiden, Malen, Puzzles, optische, akustische und taktile Wahrnehmungsspiele, Spiele wie "Mensch ärgere dich nicht" und "Mau-Mau", Rechenspiele, erste Mathematikaufgaben ... Ich wußte nicht genau, was die Kinder mit dem Material tun würden. Unter-anderem gab es gemusterte Würfel. Christian schaute sie sich einmal an und legte sie gleich wieder weg. Anis baute damit einen Turm, Nadine versuchte mit den Würfeln Muster zu legen, und Marion legte vorgegebene Muster nach. Christian beobachtete die Kinder beim Umgang mit den Würfeln und fing eines Tages an, Muster zu legen. Die Kinder in ihren Aktivitäten beobachtend stellte ich fest, daß meine Vorstellungen über Möglichkeiten, die in einem Arbeitsmittel liegen können, ziemlich begrenzt waren und auch noch sind (weil mir zumeist gesagt wurde, wie ich ein Material zu gebrauchen habe?). Die Kinder entdeckten mehr, als ich vorhergesehen hatte.

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So begann ich mehr und mehr, das Kind in seinem Tun und in seiner Art zu sehen und gelten zu lassen. Früher war es eher so, daß die Schülerinnen und Schüler mich und vor allem das, was ich sagte, wahrzunehmen hatten. Wenige Regeln reichten aus, um das Arbeiten sicherzustellen. Wir verabredeten, - das gebrauchte Material/Spiel für das nächste Kind wegzuräumen - das andere Kind in seiner Arbeit zu respektieren, es nicht zu stören, ihm nichts wegzunehmen. Nach den ersten Schulwochen begann ich, als gemeinsame Arbeitsform den Werkstattunterricht einzuführen (vgl. Reichen, 1988). Es ist eine Unterrichtsform, in, der selbstgesteuertes Lernen stattfinden kann, und die den erzieherischen und unterrichtlichen Zielen unserer Richtlinien entspricht. Eine Lernwerkstatt enthält zu einem bestimmten Thema etwa 30 bis 40 Lernangebote, von denen der größte Teil (Pflichtaufgaben) von jedem Kind bearbeitet werden soll. Die Reihenfolge ist beliebig. Der Zeitrahmen ist großzügig bemessen. In jeder Lernwerkstatt finden sich Aufgaben, die unterschiedlichen Lernbereichen zugeordnet werden können. Zu jedem Angebot gibt es eine Auftragskarte. Sie enthält den Namen des Kindes, das für diese Aufgabe verantwortlich ist, z.B.

Sascha ist Chef dieser Aufgabe und Ansprechpartner für seine Mitschüler. Er weiß, wie viele Türen es sind. Er kann ein ängstliches Kind beim Gang durch die Schule begleiten. Er weiß durch Nachfragen bei den Kindern, welche Türen beim Nachzählen am ehesten übersehen werden. Um zu wissen, wer seine Aufgabe schon erledigt hat, läßt Sascha das jeweilige Kind seinen Namen auf ein dafür bestimmtes Blatt schreiben. So kann er vor Abschluß einer "Werkstatt" die Kinder, die ihre Aufgabe noch nicht gemacht haben, daran erinnern, das zu tun. Jedes Kind hat seinen eigenen Werkstattplan, auf dem es durch Ankreuzen festhält, welches Lernangebot es schon bearbeitet hat.

Wie Sascha trägt jedes Kind der Klasse Verantwortung für eine Aufgabe. So wird es zur sozialen Verantwortung erzogen bzw. es erzieht sich selbst dazu.

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Im Laufe des Schuljahres übertrug ich mehr und mehr Aufgaben und Kompetenzen auf die Kinder. Anna ist Hausaufgabenchefin. Sie erteilt und kontrolliert die Hausarbeiten. Die Kinder wissen, daß sie zu Hause etwa eine halbe Stunde arbeiten sollen. An einem Tag z. B. bestimmt Anna, daß gelesen werden soll. Im Verlauf des folgenden Schulmorgens zeigt jedes Kind Anna das Buch bzw. den Text, den es gelesen hat. Es funktioniert gut! Anna weiß genau, wer seine Pflicht erledigt hat und wer nicht. Für die Ordnung in der Spielecke ist Muhitidin verantwortlich. Maria ist Chefin der Bücherei und Jana die der Bastelecke. Über von Kindern zu lösende Konfliktfragen entscheiden die von den Kindern gewählten Präsidenten, Ariane und Niklas. So fragte Oliver Ariane kurz vor Karneval, ob die Kinder zu Karneval Pistolen mitbringen dürfen. "In Ordnung, aber nicht auf Menschen zielen". Das war Arianes Antwort. Aus dem Bereich Mathematik möchte ich ein Beispiel geben, das zeigt, wie Kinder ihrem Leistungsvermögen entsprechend arbeiten. Ein Auftrag aus der Lernwerkstatt war, daß 2 Kinder mit 2 Würfeln abwechselnd würfeln und die Ergebnisse mit Hilfe einer Rechenmaschine (deutscher Abakus) zusammenzählen sollten. Es gewann, wer zuerst 50 Punkte erreicht hatte. Nuray und Reyhan nahmen dieses Spiel immer wieder zur Hand. Bei jeder neu hinzukommenden Zahl mußte Nuray, bei 1 angefangen, Zahl für Zahl durchzählen. Hatte sie 32 Punkte, so zählte sie von 1 an alle 32 durch, um sie auf der Rechenmaschine einzustellen. Würfelte sie 8 Augen dazu, so zählte sie anschließend alle Punkte von 1 bis 40 durch, um ihr Ergebnis zu wissen und aufzuschreiben. Reyhan erkannte sehr bald, daß es schneller ging, wenn sie auf der Rechenmaschine verschob. Selbständig entdeckte sie die Wertigkeit 10. Nuray entdeckte sie auch, doch erst viel später. Nuray und Reyhan rechneten auf unterschiedlichem Niveau. Beide kamen zum Ziel. Lesen lernten die Kinder durch Schreiben. Bei dieser Leselernmethode, entwickelt von J. Reichen, lernt das Kind zunächst nicht lesen, sondern wie Sprache verschriftet wird. In der 1. Schulwoche, während andere Kinder malten, spielten, rechneten ... , zeigte ich Anis, wie er ein gesprochenes Wort, z. B. Kuh, aufschreiben kann. Er hörte, daß Kuh mit K anfängt, und gemeinsam suchten wir auf der Buchstabentabelle (siehe unten) ein Bild von etwas, das auch mit K anfängt - Krokodil. Anis malte das Zeichen, das neben dem Krokodil stand. Nach dem K hörte Änis ein U. Wir suchten den Gegenstand, der mit U anfängt, und Anis malte das Zeichen zu dem K. Während ich mit Anis 1-2 Wörter verschriftete, schauten andere Kinder zu. Sie wollten so wie Anis Wörter aufschreiben.

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Bald konnten die Kinder mit Hilfe der Buchstabentabelle selbständig Wörter, dann kleine Sätze, Geschichten aufschreiben. Das Verschriften von Wörtern war für jedes Kind immer eine aktive geistige Leistung. Das Auflautieren war für viele Kinder zu Anfang sehr schwierig. Während einige schon lasen und Geschichten schrieben, mußten sich andere noch mit der Lautzerlegung von Wörtern abmühen. Häufiges Schreiben führte automatisch zum Lesen. Die Kinder lernten selbstgesteuert zu lesen, das erste Kind nach 6 Schulwochen, das letzte zu Anfang des 2. Schuljahres. Meine „Lerntheorie“ Vor Beginn dieser Arbeit und in deren Verlauf suchte ich eine theoretische Basis für das, was ich praktisch tat. Dabei kam es mir nicht darauf an, die Frage "Wie lernt das Kind?" wissenschaftlich genau und umfassend zu beantworten. Ich wollte keine neue Lerntheorie entwickeln, sondern einen für mich überschaubaren Ausschnitt theoretischer Kenntnisse so ordnen, daß ich mit diesem Hintergrundwissen meinen Unterricht begründen und vertreten konnte. Diese Arbeit war praxisgeleitet, sie erwuchs aus der Beobachtung der Kinder und der Reflexion meines Unterrichts. Mein Unterrichtskonzept stützt sich auf einige wissenschaftliche Kernthesen, insbesondere von Hart. 1983; Neber, Wagner, Einsiedler, 1978, Dhoriti, 1986, die ich im folgenden zusammenfasse: - Lernen führt sicherer zum Erfolg, wenn der Zusammenhang von praktischen, anschaulichen und

abstrakten Lernerfahrungen hergestellt wird. Ohne ein Bild, eine Vorstellung kann ein Kind eine neue Information nicht begreifen und mit vorhandenen Erfahrungen verknüpfen. Bilder, Vorstellungen entstehen durch konkrete Erfahrungen, durch Tun. Fehlen dem Kind konkrete Erfahrungen, so kann es Abstraktes (z. B. Sprache, Mathematik) nur auswendig lernen. Dann wird Wissen angereichert, das nicht begriffen ist und sich nicht mit den eigenen Erfahrungen vernetzen kann. Mit einem nicht vernetzten Wissen erkennt man nur Teilaspekte eines Problems und kommt daher auch nur zu Teillösungen.

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- Die "höheren geistigen Funktionen", die großhirngesteuert sind, werden gestört oder blockiert, wenn Zwischenhirnfunktionen, z. B. Abwehrmechanismen, angefordert werden. Dies geschieht durch Streß, Panik, Angst. Sie bewirken ein Hinunterschalten des Gehirns auf die schnell reagierenden "älteren" Gehirnteile. Da das Sprachverständnis fast ganz im "neuen" Hirn angelegt ist, macht uns ein Hinunterschalten buchstäblich sprachlos (Hart, 1983).

Zum Lernen braucht das Kind eine Atmosphäre, die es zur Risikobereitschaft ermutigt. Angst vor Fehlern, Angst, dumm zu wirken, Angst vor Autorität, Angst vor Konsequenzen aller Art wirken Iernhemmend.

- Das menschliche Gehirn verarbeitet externe und interne Reize, indem es Muster und Strukturen

entdeckt, sie erinnert, Antwortprogramme entwickelt und diese speichert, hervorholt und revidiert, wenn es die Umstände erfordern. Es arbeitet nicht in einer logischen, linearen Weise, sondern empfängt und verarbeitet Reize vielschichtig und simultan. Lernprozesse vollziehen sich leichter und natürlicher, wenn die Anregungen vielfältig sind und miteinander verknüpft werden können.

- In der Kommunikation mit der Umwelt entwickeln sich die physiologischen Strukturen für das

Lernen. Das Gehirn gibt Rückmeldung über die Effektivität seiner Programme und kann diese den jeweiligen Anforderungen entsprechend aktualisieren. Dabei ist besonders Sprache wichtig - die Fähigkeit, zu reden und zu verstehen.

- Motor des Lernens sind die Neugierde und das Nachahmen-Wollen. Das Nachahmen wird

dabei als aktiver Prozeß verstanden, der für das Kind in einem Sinnzusammenhang steht. - Ein Kind durchläuft beim Erlernen der meisten Fähigkeiten und Fertigkeiten Zwischenstufen, in

denen es eine bestimmte Sache noch nicht ganz, aber halb, teilweise kann. Diese Zwischenstufen werden von Erwachsenen häufig als Um- oder lrrwege empfunden. Es scheint, als hätte das Kind das Ziel aus den Augen verloren. Statt dessen stellt sich oft heraus, daß es auf seinem eigenen Weg zum Ziel findet. Voraussetzung dafür ist, daß es diesen Weg in einer Atmosphäre des Vertrauens ohne Druck und Zwang gehen kann.

- Das Kind braucht Lernpausen, um Informationen in Ruhe in das Gesamtgefüge seines

Wissensnetzes einzuordnen, z. B. im Schlaf oder wenn ganz andere Dinge getan werden. (Kennen Sie das Erlebnis, daß Sie plötzlich die Lösung eines Problems, einer Aufgabe im Kopf haben, obwohl Sie in dem Moment mit etwas ganz anderem beschäftigt waren?).

- Interesse und Zielvorstellung bewirken, daß das Kind seine Aufmerksamkeit ausrichtet,

bestimmte Informationen auswählt und sie für sein lernen nutzt. (Ich sage meiner Tochter laut und deutlich, sie solle aufräumen, und sie scheint es nicht wahrzunehmen. Flüstere ich ihr jedoch etwas über Tiere zu, daran ist sie sehr interessiert, so nimmt sie es sogar wahr, wenn sie ganz konzentriert mit einer Freundin spielt.)

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Text-D03 Hans Brügelmann Man kann diesen Unterricht guten Gewissens praktizieren Rechtschreibleistungen Schweizer Grundschulkinder im Unterricht nach „Lesen durch Schreiben“ erschienen in: Päd Extra / Juni 1992 »Lesen durch Schreiben« ist ein unterrichtsmethodisches Prinzip (1) und zugleich ein schulpädagogisches Konzept (2). Im lautgetreuen Verschriften eigener Wörter und Texte sieht Jürgen Reichen den Königsweg zur Schrift. Er eröffnet Kindern frühzeitig die Einsicht in den Lautbezug der Schrift, »Freies Schreiben« bedeutet in dieser Hinsicht: Kinder schreiben ihre ersten Wörter, ohne die Anforderungen der Ortografie erfüllen zu müssen. Die Selbständigkeit der Kinder bei allem, was sie im Klassenzimmer tun, ist für ihn darüber hinaus die Grundlage jeden Lernens (»Werkstattunterricht«). In diesem weiteren Verständnis bedeutet »freies Schreiben«, daß die Kinder inhaltlich selbst bestimmen, was sie in ihren Texten schreiben wollen. Beide Ideen stehen auf den ersten Blick im Widerspruch zu der Anforderung, daß Kinder Konventionen lernen müssen insbesondere die Rechtschreibung. Man kann über den Rang, der der Rechtschreibung in Schule und Gesellschaft zugemessen wird, streiten. Ihre Bedeutung für die Stabilisierung von Sprache und Schrift, vor allem für die Erleichterung des Lesens, wird oft unterschätzt. (Dagegen wird ihre Aussagekraft für die Beurteilung von Schülerlnnen und Stellenbewerberlnnen immer noch überbewertet, wie die regelmäßigen Klagen von Handwerkskammern und anderen Arbeitgeberinnen zeigen. Aber da Kinder auch nach ihren Rechtschreibleistungen beurteilt werden, müssen wir ihnen helfen, an diesen Anforderungen wenigstens nicht zu scheitern. Auch Eltern beobachten sehr argwöhnisch alle Versuche zur Reform der Schule unter diesem Gesichtspunkt. Wer »Öffnung des Unterrichts« will, tut also gut daran zu sichern, daß dieser Bereich nicht unverhältnismäßig leidet. Drei Ansätze zum Erstschreibunterricht im Vergleich Es ist deshalb interessant zu untersuchen, auf welche Weise Kinder, die während der ersten Klasse frei schreiben dürfen, am Ende des Schuljahres (a) häufige Wörter und (b) eigene kleine Texte verschriften. Unser »Schreibvergleich BRDDR« bietet eine Vergleichsbasis, um die Leistungen der Kinder, die nach »Lesen durch Schreiben« unterrichtet wurden, einzuschätzen. Im »Schreibvergleich BRDDR« 1990 wurden Stichproben aus den westlichen und östlichen Ländern der Bundesrepublik Deutschland verglichen. Die Kinder schrieben einerseits einen vorgegebenen Text (aus »Rätselsätzen« bzw. »Lustigen Sätzen«, die von den Kindern aufzuschreiben und anschließend inhaltlich zu beurteilen waren; im folgenden »Diktat«) Zusätzlich stellten wir ihnen das Thema »Mein Traum« als eine Aufgabe für freies Schreiben. Die zwei wichtigsten Ergebnisse unserer Erhebungen: 1. Im Diktat sind die Kinder der Stichprobe »West« den Schülerinnen aus der Stichprobe »Ost«

deutlich unterlegen (in der 1. Klasse doppelt so viele, in der 2. bis 4. Klasse um die Hälfte

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mehr Fehler, z.B. am Ende der Grundschulzeit 15 gegenüber 11 falsch .geschriebene auf 100 Wörter).

2. Im freien Text dagegen unterscheiden sich beide Gruppen nur geringfügig: Ab der 2. Klasse

gibt es weder in der Textlänge noch im Anteil verschiedener Wörter (Wortformen) noch in der Quote falsch geschriebener Wörter bemerkenswerte Differenzen.

Im Sommer 1991 haben wir Teile der Erhebung unter besonderen Fragestellungen wiederholt und zusätzlich Schweizer Klassen einbezogen, die nach »Lesen durch Schreiben« arbeiten. Diese Dreiecks-Konstellation erlaubt interessante Vergleiche. Für die Einschätzung der Ergebnisse in der Stichprobe Deutschland »Ost« ist allerdings zu berücksichtigen, daß dort dem Sprachunterricht etwa doppelt so viele Stunden gewidmet wurden als in Deutschland »West« und in der Schweiz und daß innerhalb dieses Sprachunterrichts dem Rechtschreibunterricht ein hoher Stellenwert zukam. Dabei spielte zusätzlich die Einübung eines Mindestwortschatzes häufiger Wörter eine große Rolle, an dem sich unser Diktat weitgehend orientiert hat. Von rund 400 deutschschweizerischen Lehrerinnen der Klassen 1 bis 5, die mit der Bitte um ihre Mitwirkung angeschrieben worden waren, haben 185 unsere Aufgaben durchgeführt. Da die Anfrage in die letzten Schulwochen vor den großen Ferien fiel, ist das ein erfreulicher Rücklauf. Dennoch sind zwei Vorbehalte gegenüber der Repräsentativität der Befunde bei der Interpretation der Daten zu berücksichtigen: 1. Lehrerinnen, die sich auf »Lesen durch Schreiben« einlassen, sind nicht

Durchschnittslehrerinnen. Aus einem positiven Ergebnis die verbindliche Einführung von »Lesen durch Schreiben«, sozusagen »von oben«, abzuleiten, wäre verfehlt (vgl. zum Scheitern eines derartigen Versuchs die Erfahrungen im »Children's Needs Project« in Leeds"). Wir stellen die Frage umgekehrt: Gibt es Gründe, Lehrerinnen, die nach »Lesen durch Schreiben« arbeiten wollen, von diesem Konzept abzuraten?

2. Auch unter den Lehrerinnen, die nach »Lesen durch Schreiben« arbeiten, dürfte es eine eher

positive Selbstauslese engagierter und pflichtbewußter Kolleginnen gewesen sein, die sich kurz vor den Sommerferien darauf eingelassen hat, unsere Aufgaben in ihren Klassen zu stellen. Ihre Zahl ist aber so groß, daß die Befunde auf alle Fälle Aussagen darüber erlauben, ob die pädagogisch wichtigen Ziele dieses Ansatzes auf Kosten der fachlichen Leistungsentwicklung gehen (hier: der Rechtschreibung). Und vor allem: Auch die Lehrerinnen der Vergleichsgruppen in Deutschland »Ost« und »West« haben freiwillig an der Erhebung mitgewirkt. Überdies sind 185 Klassen kein begrenzter Modellversuch mehr, zumal die Lehrerinnen unter Normalbedingungen gearbeitet haben. Was in dieser Breite geleistet worden ist, ist insofern auch an anderer Stelle möglich. Ob es gelingt, hängt neben der Methode auch von anderen Bedingungen ab. Dies zeigt deutlich die Streuung der Klassenmittelwerte schon in der untersuchten Stichprobe.

Leistungen am Ende der 1. Klasse Die Tabelle 1 zeigt die Rechtschreibleistungen von 1085 Schweizer Erstklässlerlnnen (»Lesen durch Schreiben«) im Vergleich mit denjenigen unserer Stichproben »West« und »Ost« in zwei Aufgaben, die wir unter verschiedenen Gesichtspunkten ausgewertet haben (obwohl noch einige

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wenige Schreibproben auszuwerten sind, haben sich die Ergebnisse schon so stabilisiert, daß diese Auswertung verläßlich ist). Die Tabelle belegt:

Vergleich der Rechtschreibleistungen in 1. Klassen »Lesen durch Schreiben« mit den Stichproben »Ost« und »West« 1990 bzw. 1991

Ort/Jahr Rostock 1990 Rostock 1991 LdS 1991 Bremen 1990 „und umzu“1991

Anzahl Kinder / Variable N = 204 209 1085 653 185 Diktat orthografisch ganz korrekt (1) 76% 56% 52% Buchstabenfolge richtig 82% 78% 63% lautgerecht verschriftet 89% 92% 75% Aufsatz Zahl aller Wörter im freien Text 19,6 25,5 20,9 Anteil Buchstabenfolgen richtig 63% 60% 57%

(1) einschließlich Groß-/Kleinschreibung 1. Die Stichprobe »Lesen durch Schreiben« schneidet auf allen Kriterien besser ab als die

deutsche Stichprobe »West«, in der Klassen aus sehr verschiedenen didaktisch-methodischen Ansätzen zusammengefaßt sind. Im Regelfall haben sie jedoch mit einem handelsüblichen Fibellehrgang gearbeitet. Allerdings streuen die Lehrerinnen in ihrer Bereitschaft, Kinder von Anfang an frei schreiben zu lassen, breit.

2. In der ortografischen Schreibung schneidet sie deutlich schlechter ab als die Stichprobe »Ost«,

wenn man auch die Groß-/Kleinschreibung bewertet. Das ist jedoch noch nicht das Ziel des 1. Schuljahres. Nach dem Kriterium der richtigen Buchstabenfolge schneidet »Lesen durch Schreiben« etwas schwächer, nach dem Kriterium der lauttreuen Verschriftung dem zentralen Ziel des Anfangsunterrichts im Schreiben schneidet sie sogar eher etwas besser ab als die Stichprobe »Ost«.

3. Es gibt deutliche Unterschiede zwischen Klassen. Mit 61 Prozent bis 89 Prozent als

Klassenmittelwerte für die richtige Buchstabenfolge liegen sie aber wesentlich enger beisammen als in der Stichprobe »West« (36 Prozent - 88 Prozent)

4. Die Kinder »Lesen durch Schreiben« schreiben längere Texte als die beiden deutschen

Vergleichsgruppen. 5. Im freien Text sind die Rechtschreibleistungen schwächer als im Diktat häufiger (und auch

ortografisch einfacher) Wörter. Dies ist aber auch in den beiden anderen Stichproben der Fall. Mit 2/3 der Wörter (als Buchstabenfolge richtig geschrieben) liegt die Gruppe »Lesen durch Schreiben« auf demselben Niveau wie die Stichprobe »Ost«, in der ortografisch korrekte Schreibung von Anfang an gefordert und geübt worden war.

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Zwischenbilanz: Trotz der Priorität für andere fachliche und fachunabhängige Lernziele schneiden die Klassen aus der Schweizer Stichprobe »Lesen durch Schreiben« selbst im Rechtschreiben nicht schlechter ab als die mehrheitlich an einer Lesefibel orientierten westdeutschen Klassen und die schon stark rechtschreiborientierten ostdeutschen Klassen. Daß die Kinder sogar bei der Anforderung ortografischer Schreibung häufiger Wörter-besser abschneiden als die westdeutsche Stichprobe, überrascht, da der methodische Ansatz ja ausschließlich die lautgerechte Darstellung fordert. Das Ergebnis stimmt aber überein mit Befunden aus einer kanadischen Studie (5), in der über Spontanschreibungen bis zum Ende der 1. Klasse ebenfalls bessere Ergebnisse in der ortografischen Schreibung (und im Lesen) erzielt wurden als in herkömmlichen Leselehrgängen. Dieser Erfolg ist im konkreten Fall aus zwei Gründen jedoch besonders hoch zu bewerten: Zum einen gibt es in der Schweizer Stichprobe sehr viele ausländische Kinder. Wir werden in einem weiteren Untersuchungsschritt versuchen, deren Sprachkompetenz im Deutschen genauer zu bestimmen. Darüber hinaus ist wegen der großen Bedeutung der Dialekte im Alltag das Schriftdeutsch für die meisten Kinder nicht die Muttersprache. Sie können also die Schreibweisen von Wörtern nicht direkt an ihre Mundart anbinden, sondern müssen den zusätzlichen Schritt in die zweite Sprache tun. Trotzdem (oder gerade wegen der dadurch früher entwickelten Sprachbewußtheit?) erreichen die deutschschweizerischen Kinder auch außerhalb des ausdrücklichen Lernzielbereichs ihres Unterrichts nach »Lesen durch Schreiben « (lautgerechte Verschriftung) ein hohes Leistungsniveau. Umgekehrt könnte die etwas spätere Einschulung der Erstklässlerlnnen in der Schweiz (die Kinder sind im Durchschnitt 3-4 Monate älter) eine raschere Entwicklung begünstigen. In weiteren Untersuchungen, in denen wir Schweizer Kinder, die nach verschiedenen Ansätzen Lesen und Schreiben gelernt haben, untereinander vergleichen werden, wollen wir folgenden möglichen Erklärungen für den raschen Start in die (Recht-)Schreibentwicklung genauer auf den Grund gehen. Hypothese 1: Die hohe Quote ortografischer Schreibungen ist Folge des selbständigen »Konstruierens« von Wörtern, also der frühzeitigen und intensiven Auseinandersetzung mit Schrift. Diese weckt das Interesse an Schriftmodellen in der Umwelt, so daß die Schreibung zumindest sehr häufiger und einfach strukturierter Wörter sozusagen beiläufig aufgenommen wird. Hypothese 2: Kinder, die frühzeitig zu selbständigem Schreiben angeregt werden, produzieren auch außerhalb der Schule viele Schriftstücke, die von Erwachsenen kommentiert werden. So erhalten die Kinder konkrete ortografische Hilfen/ Korrekturen, die eine Orientierung auf die Rechtschreibung stützen. Hypothese 3: Die bilinguale Situation (Dialekt Schriftdeutsch) ist nicht (nur) ein Handicap. Sie fördert das Sprachbewußtsein der Kinder und erleichtert ihnen damit den Zugang zur lautlichen Form der Sprache. Für andere bilinguale Situationen gibt es entsprechende Hinweise. Hypothese 4: Der kleine Vorsprung der deutschen Kinder »Ost« ist auf einen systematischen Rechtschreibunterricht von Beginn der ersten Klasse an zurückzuführen.

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Hypothese 5: Der deutliche Rückstand der deutschen Kinder »West« hat seinen Grund in der anderen Ausrichtung des Unterrichts: In den meisten Klassen steht mit der Fibel immer noch das Lesen eindeutig im Vordergrund. Schreiben und Rechtschreiben gewinnen erst ab der 2. Klasse an Bedeutung. Wie gelingt den Kindern aus den »Lesen durch Schreiben«-Klassen aber nun der Übergang zur ortografischen Schreibung in der Breite? Weitere Entwicklung bis zum Ende der Grundschulzeit »Lesen durch Schreiben« ist eine Unterrichtsmethode für den Anfangsunterricht. Das Lehrmittel bietet der Lehrerin ein Konzept, damit Kinder selbstgesteuert lesen und schreiben lernen können. Reichen gibt keine unterrichtsmethodischen Hilfen für den Aufbau der Rechtschreibfähigkeit auf der Basis der lauttreuen Schreibung, sondern plädiert für ortografische Toleranz, deren Grenzen für jedes Kind individuell kontinuierlich enger gezogen werden. Das pädagogische Konzept des Werkstattunterrichts allerdings macht allgemeine Vorgaben für die Organisation von Lernen in der Grundschule. Es ist deshalb interessant zu beobachten, wie sich die Kinder nach Abschluß des Leselehrgangs bis zur vierten Klasse weiter entwickeln. In den 2. und 3. Klassen sind die Daten noch nicht vollständig ausgewertet. Aber aus den 4. Klassen liegen die Auszählungen bereits komplett vor. Außerdem wurde mit den ortografischen Feinanalysen der freien Texte in einer Teilstichprobe begonnen. Von 285 Kindern sind die Korrekturen der Lehrerinnen und unsere eigenen Auszählungen ausgewertet. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Unterschiede zu den Stichproben »Ost« und »West« auf den wichtigsten Kriterien. Anteil der ortografisch richtig geschriebenen Wörter Ende 4. Klasse (1991) Vergleich von »Lesen durch Schreiben« mit Deutschland »Ost« und »West« (1991)

1991 Teilwortschatz

Ost N = 149

LdS N = 285

West N = 939

Gesamt Diktat (81 Wörter) 87% 80% 85% Mindestwortschatz DDR (62 Wörter) 91% 84% 88% nicht Mindestwortschatz DDR (19 Wörter) 76% 66% 76% niedersächsischer Grundwortschatz eng (41 Wörter) 94% 89% 92% niedersächsischer Grundwortschatz weit (17 Wörter) 83% 77% 80% nicht im weiten niedersächsischen GWS (23 Wörter) 78% 68% 77% freier Text »Mein Traum« 1990 / 1991 / 1990 93% 92% 91% In dem neuen Diktat (1991) beträgt der Abstand gegenüber der Stichprobe »West« (etwas leistungsstärker als 1990) im Durchschnitt 3-4 Prozentpunkte, gegenüber der Stichprobe »Ost« 4-6 Prozentpunkte. Bei häufigen (und zugleich ortografisch einfacheren) Wörtern ist der Abstand geringer (Mindestwortschatz DDR, Grundwortschatz Niedersachsen), bei den selteneren (und zugleich schwierigeren Wörtern) wie in der 3. Klasse etwas größer (8 bis 10 Prozentpunkte).

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Die Aufgabe »Mein Traum« wurde nur 1990 in den Stichproben »Ost« und »West« gegeben. In diesem freien Text schreiben die Kinder nach »Lesen durch Schreiben« kaum weniger Text (104 zu 110 bzw. 108 Wörter im Durchschnitt). Ihre Quote richtiger Wörter liegt mit 91 Prozent ebenfalls auf demselben Niveau wie in den Stichproben »Ost« und »West« (93 Prozent bzw. 91 Prozent). Die ersten Feinanalysen an bisher 76 Texten von Schülerlnnen der vierten Klassen lassen eine Bestätigung dieser Einschätzung in allen Dimensionen der Textform erwarten (Textumfang; Quote der verschiedenen Wörter; Länge der Sätze,grammatische Fehler; Unterkategotien der Rechtschreibung wie Zeichenfehler, Fehler der Groß-/Kleinschreibung und der Getrennt-/Zusammenschreibung usw.). Nicht zu Lasten der ortografischen »Basis« Damit bestätigt sich für die Schweizer Stichprobe »Lesen durch Schreiben« unser Befund aus dem »Schreibvergleich BRDDR« (1990). Im Bereich des (vor allem in der DDR intensiv geübten) Häufigkeitswortschatzes ist die Stichprobe »Ost« von der ersten bis zur vierten Klasse überlegen. »Lesen durch Schreiben« hält aber in der ersten Klasse (über die eigenen Lernziele hinaus) außerordentlich gut mit, fällt dann zwar in der zweiten Klasse zurück, holt aber (wie die Stichprobe »West«) zur 4. Klasse hin deutlich auf. Noch eindrucksvoller: Trotz schwächerer Rechtschreibleistungen im Diktat haben die Kinder aller Jahrgänge aus der Schweiz (wie auch aus Deutschland »West«) nicht mehr Schwierigkeiten, ihre Gedanken ortografisch korrekt zu verschriften, als die Kinder der Stichprobe »Ost«, die einen zeitlich umfassenderen und wesentlich intensiveren Rechtschreibunterricht genossen haben. Im Rechtschreibvergleich zu den Stichproben »West« schneiden die »Lesen durch Schreiben«-Klassen in der 1. Klasse besser, in der 2. und 3. etwas schlechter, in der 4. dagegen etwa gleich gut ab. Anlaß zum Nachdenken könnte der geringere Umfang der Texte in Klasse 2 und 3 sein. Möglicherweise hängt dies z.T. mit der ungewohnten Situation zusammen, erst einen Entwurf und dann eine Reinschrift anzufertigen. Allerdings gilt das auch für viele Klassen der Stichprobe »West« und für alle Kinder der Stichprobe »Ost«. Vielleicht könnte das stärker technisch orientierte Konzept »Lesen durch Schreiben« aber auch profitieren von einer ergänzenden Anregung und Stützung der Lese-und Schreib»kultur« in der Klasse (z.B. durch »Autorenkonferenzen« ä la Graves und Spitta oder Leseu- nd Schreib-»Versammlungen« Bambach (6). Die fast gleiche Textlänge im 4. Jahrgang zeigt aber, daß es sich hier nicht um ein langfristiges Problem handelt. Diese erste größere Studie zur Rechtschreibentwicklung in Klassen, die nach »Lesen durch Schreiben« arbeiten, hat eine Reihe weiterführender Fragen aufgeworfen, die in zukünftigen Untersuchungen intensiver zu studieren sind (vgl. ausführlicher die Projektskizze von Brügelmann/ Hengartner 1991 a (7). Trotzdem gibt es schon einige wichtige Befunde. Noch einmal zusammengefaßt: »Lesen durch Schreiben« verfolgt für die 1. Klasse andere Ziele als der traditionelle Unterricht. Viele Menschen finden diese Ziele (z.B. selbständiges, eigenaktives Lernen) zwar wünschenswert, haben aber Angst um die Rechtschreibung als ein gesellschaftlich immer noch einflußreiches (oder auch ihnen selbst wichtiges) Kriterium.

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Nun zeigt die Untersuchung, daß »Lesen durch Schreiben« selbst in diesem Lernfeld (sozusagen als Nebenertrag) mehr abwirft als Fibellehrgänge in Deutschland »West« und trotz deutlich geringeren Aufwands dabei nur wenig schlechter abschneidet als die Stichprobe »Ost«. Man kann also diesen Unterricht guten Gewissens weiter praktizieren, weil die pädagogisch wichtigen Ziele des Konzepts nicht zu Lasten der ortografischen »Basis« gehen. Anmerkung In Zusammenarbeit mit Britta Baumbach, Katrin Busch, Regina Kreyenborg, Martina Otto, Anette Rendigs, Thomas Vogel und Cornelia Wichmann Literatur 1) Reichen, J. (1982a). Lesen durch Schreiben. Leselehrgang, Schülermaterial und Lehrerkommentar. Sabe: Zürich. 2) Reichen, J. (1991a). Sachunterricht und Sachbegegnung. Grundlagen zur Lehrmittelreihe »Mensch und Umweit«. Sabe Verlagsinstitut für Lehrmittel: Zürich (Heinevetter: Hamburg) (vor allem S. 91 ff.). 3) Ausführlichere Darstellungen der Befunde und ihre Diskussion in Brügelmann, H., u.a. (1991c). Leistungspatt in der Rechtschreibung? Ein Vergleich in ausgewählten Regionen Deutschland Ost und West. In: Grundschulzeitschrift, 5. Jg., H. 43, 32-34, 43. Brügelmann, H. (1992g) Wir müssen differenzieren - pädagogische Nachuntersuchungen zum »Schreibvergleich BRDDR«: Unterschiede Ost/West marginal, aber regionale und individuelle Probleme. In: Grundschulzeitschrift 6. Jg., H. 52, 40-41. 4) Hofkins. D. (1991a): £14 Million project fails to focus on pupil needs. in: Times Educational Supplement, August 2nd, 1991, 4-5. Marston, P. (1991a), »Progressive« teaching in schools was £14m failure. In: The Daily Telegraph, August 2nd, 1991. 5) Clarke, L. K. Invented vs. traditional spelling in first graders' writings: Effects on learning to spell and read. In: Reseatch in the Teaching of English, Vol. 22, No. 3 (October), 281-309. Bestätigt wird dies für das Lesen und für die konventionelle Ortografie von Foorman, B.R., et al. (1991a). How letter-sound instruction mediates progress in first-grade reading and spelling. In: Journal of Educational Psychology, Vol. 83, No. 4, 456-469. 6) Bambach, H. (1 989a). Erfundene Geschichten erzählen es richtig. Lesen und Leben in der Schule. Ekkehard Faude Verlag: Konstanz. Graves. D.H. (1986a). Kinder als Autoren: Die Schreibkonferenz. In: Brügelmann, H. (Hrsg.) (1986u): ABC und Schriftsprache - Rätsel für Kinder, Lehrer und Forscher. DGLS-Jahrbuch »Lesen und Schreiben« 1. Ekkehard Faude: Konstanz (3. Aufl. 1991). (S. 135-157). Dräger, M. (Hrsg.) (1988a).Am Anfang steht der eigene Text. Agentur Dieck: Heinsberg. Spitta. G. (1989a), Wenn Kinder zu Autoren werden. Erfahrungen aus der Arbeit mit Schreibkonferenzen. In: Balhorn, H., u.a. (1989a): Jeder spricht anders - Normen und Vielfalt in Sprache und Schrift. DGLS-Jahrbuch -Lesen und Schreiben« 3. Ekkehard Faude: Konstanz (S. 268-76). Spitta, G. (1 992a). Schreibkonferenzen -ein Weg vom spontanen Schreiben zum bewußten Verfassen von Texten in Klasse 3 und 4. Scriptor-Cornelsen: Berlin u.a. Wünnenberg, H.H. (1989a) Boff Kinder schreiben sich frei. Agentur Dieck: Heinsberg. 7) Brügelmann, H./Hengartner, E. (1991a): (Recht-)Schreibentwicklung in der Grundschule: ein Vergleich verschiedener Ansätze und Methoden. Vervielf. Ms. Fß 12 der Universität: Bremen. Vgl. ergänzend die Beiträge zu: Balhorn, H. / Brügelmann, H, (1 992a): Bedeutungen erfinden - im Kopf, mit Schrift und miteinander. Lesen und Schreiben als individuelle und soziale Konstruktion von Wirklichkeiten. DGLS-Jahrbuch Bd. 5. Faude: Konstanz.

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Text-D04 Hans Brügelmann / Elmar Hengartner / Jürgen Reichen Richtig schreiben durch freies Schreiben ? / Rechtschreibentwicklung in Schweizer Klassen, die nach »Lesen durch Schreiben« unterrichtet wurden* erschienen in: Brügelmann, H./Richter, S. (Hrsg.) „Wie wir recht schreiben lernen“, Libelle-Verlag 1994 (Aus Platzgründen wurde auf den Abdruck der statistischen Tabellen verzichtet) ***** »Lesen durch Schreiben« ist ein unterrichtsmethodisches Prinzip (Reichen 1982) und zugleich ein schulpädagogisches Konzept (Reichen 1991, vor allem S. 91 ff.). Im lauttreuen Verschriften eigener Wörter und Texte sieht Jürgen Reichen den Königsweg zum Lesen und Schreiben. Es eröffne Kindern frühzeitig die Einsicht in den Lautbezug der Schrift. »Freies Schreiben« bedeutet in dieser Hinsicht: Kinder schreiben ihre ersten Wörter, ohne die Anforderungen der Ortografie erfüllen zu müssen. Die Selbständigkeit der Kinder bei allem, was sie im Klassenzimmer tun, ist für ihn darüber hinaus die Grundlage jeden Lernens (»Werkstattunterricht«). In diesem weiteren Verständnis bedeutet »freies Schreiben«, daß die Kinder auch inhaltlich selbst bestimmen, was sie in ihren Texten schreiben wollen. Beide Ideen stehen auf den ersten Blick im Widerspruch zu der Anforderung, daß Kinder Konventionen lernen müssen - insbesondere die Rechtschreibung. Es ist deshalb interessant zu untersuchen, auf welche Weise Kinder, die während der ersten Klasse frei schreiben dürfen, am Ende des Schuljahres (a) häufige Wörter und (b) eigene kleine Texte verschriften. Unser »Schreibvergleich BRDDR« (s. S. 129ff. in diesem Band) bietet eine Vergleichsbasis, um die Leistungen der Kinder, die nach »Lesen durch Schreiben« unterrichtet wurden, einzuschätzen. Dabei kann unsere Untersuchung schon von der Anlage her allerdings nicht beweisen, daß der Ansatz »Lesen durch Schreiben« (oder »offener Unterricht«) zu besseren Rechtschreibleistungen führt als andere Konzepte. Das ist aber auch nicht unsere Fragestellung. Wir wollten vielmehr prüfen, ob ein Unterricht nach »Lesen durch Schreiben« zwangsläufig zu Schwierigkeiten bei der Aneignung der Rechtschreibung führt. Sollte dies nicht der Fall sein, gewinnen die eigentlichen Schwerpunkte dieses Ansatzes (selbständiges Lernen, freier Ausdruck, kooperatives Lernen, Lernen durch Einsicht usw.) an Überzeugungskraft. Von rund 400 deutschschweizerischen LehrerInnen der Klassen 1 bis 5, die mit der Bitte um ihre Mitwirkung angeschrieben worden waren, haben 185 unsere Aufgaben durchgeführt. Da die Anfrage in die letzten Schulwochen vor den großen Ferien fiel, ist das ein erfreulicher Rücklauf. Für die Interpretation der Befunde sind aber zwei Vorbehalte gegen die Repräsentativität der Daten zu diskutieren: 1. LehrerInnen, die sich auf »Lesen durch Schreiben« einlassen, sind nicht

DurchschnittslehrerInnen. Erfolge in diesen Klassen würden mißverstanden, wollte man mit

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ihnen eine Einführung von »Lesen durch Schreiben« in der Breite oder gar verbindlich »von oben« verordnet begründen (vgl. zum Scheitern eines derartigen Versuchs die Erfahrungen im »Children's Needs Project« in Leeds: Hofkins 1991; Marston 1991). Wir stellen die Frage umgekehrt: Gibt es Gründe, LehrerInnen, die nach »Lesen durch Schreiben« arbeiten wollen, von diesem Konzept abzuraten, z. B. weil Kinder am Schulanfang mit der Orientierung am Lautprinzip auf eine falsche Fährte gesetzt werden?

2. Auch unter den LehrerInnen, die nach »Lesen durch Schreiben« arbeiten, dürfte es eine eher

positive Selbstauslese engagierter und pflichtbewußter KollegInnen gewesen sein, die sich kurz vor den Sommerferien darauf eingelassen hat, unsere Aufgaben in ihren Klassen zu stellen. Aber auch für die LehrerInnen der Vergleichsgruppen in Deutschland »Ost« und »West« gilt: Sie haben freiwillig an der Erhebung mitgewirkt, stellen also ebenfalls eine positive Selbstauslese dar. Zudem ist die Zahl der Beteiligten so groß, daß die Befunde auf alle Fälle Aussagen zu dem Einwand erlauben, die pädagogisch wichtigen Ziele von »Lesen durch Schreiben« ließen sich nur auf Kosten der fachlichen Leistungsentwicklung (hier: der Rechtschreibung) erreichen.

Insgesamt 185 Klassen sind kein begrenzter Modellversuch mehr, zumal die LehrerInnen unter Normalbedingungen gearbeitet haben. Was in dieser Breite geleistet worden ist, ist insofern auch an anderer Stelle möglich. Ob es gelingt, hängt neben der Methode auch von anderen Bedingungen ab. Dies zeigt deutlich die Streuung der Klassenmittelwerte schon in der untersuchten Stichprobe (vgl. zur Gesamtübersicht über die drei wichtigsten Kriterien die Tabelle 1, S. 137, in der die Leistungen für die vier Klassenstufen nach »B« (= Stichprobe Deutschland »West« 1990), »CH« (= »Lesen durch Schreiben« 1991) und »D« (= Stichprobe »Ost« 1990) aufgeschlüsselt und die Unterschiede statistisch überprüft sind). Leistungen am Ende der 1. Klasse Wir haben die Rechtschreibleistungen von 1115 Schweizer ErstkläßlerInnen (»Lesen durch Schreiben«) im Vergleich mit den Leistungen unserer Stichproben »West« und »Ost« im freien Text »Mein Traum« und in einem Diktat häufiger (in der DDR auch: häufig geübter) Wörter ausgewertet. Die wichtigsten Befunde: a) Die Stichprobe »Lesen durch Schreiben« schneidet bei allen Kriterien besser ab als die

deutsche Stichprobe »West«, in der Klassen aus sehr verschiedenen didaktisch-methodischen Ansätzen zusammengefaßt sind. Im Regelfall haben diese mit einem handelsüblichen Fibellehrgang gearbeitet. Allerdings streuen die LehrerInnen in ihrer Bereitschaft, Kinder von Anfang an frei schreiben zu lassen, breit.

b) In der ortografischen Schreibung schneidet die Stichprobe »Lesen durch Schreiben« sowohl im Diktat als auch im freien Text schlechter ab als die Stichprobe »Ost«, sofern man auch die Groß-/Kleinschreibung bewertet. Das ist jedoch noch nicht das Ziel des 1. Schuljahres. Nach dem Kriterium der richtigen Buchstabenfolge und noch deutlicher nach dem Kriterium der lauttreuen Verschriftung, dem zentralen Ziel des Anfangsunterrichts im Schreiben, schneiden »Lesen durch Schreiben«-Klassen im freien Text sogar eher etwas besser ab als die Stichprobe »Ost«.

c) Es gibt deutliche Unterschiede zwischen Klassen. Wie ein Vergleich der Klassenmittelwerte zeigt, liegen sie in der Stichprobe CH mit 61% bis 89% für die richtige Buchstabenfolge aber wesentlich enger beisammen als in der Stichprobe »West« (36-88%).

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d) Die »Lesen durch Schreiben«-Klassen schreiben etwas längere Texte als die Stichprobe »West« und deutlich längere als die Stichprobe »Ost«.

e) Im freien Text sind die Rechtschreibleistungen schwächer als im Diktat häufiger (und auch ortografisch einfacher) Wörter. Dies ist aber auch in den beiden anderen Stichproben der Fall. Mit 2/3 der Wörter (als Buchstabenfolge richtig geschrieben) liegt die Gruppe »Lesen durch Schreiben« auf demselben Niveau wie die Stichprobe »Ost«, in der ortografisch korrekte Schreibung von Anfang an gefordert und systematisch geübt worden war.

Zwischenbilanz: Trotz der Priorität für andere fachliche und fachunabhängige Lernziele schneiden die Klassen aus der Schweizer Stichprobe »Lesen durch Schreiben« im Rechtschreiben besser ab als die mehrheitlich an einer Lesefibel orientierten westdeutschen Klassen und kaum schwächer als die von Anfang an stark rechtschreiborientierten ostdeutschen Klassen. Daß die Kinder bei der Anforderung ortografischer Schreibung häufiger Wörter sogar besser abschneiden als die westdeutsche Stichprobe, überrascht, da der methodische Ansatz ja ausschließlich die lautgerechte Darstellung fordert. Das Ergebnis stimmt aber überein mit Befunden aus angelsächsischen Studien (Clarke 1988; Foorman u. a. 1991), in denen über eine Förderung von Spontanschreibungen bis zum Ende der 1. Klasse ebenfalls bessere Ergebnisse in der ortografischen Schreibung (und im Lesen) erzielt wurden als in herkömmlichen Leselehrgängen. Das schon Ende erster Klasse so weit entwickelte Rechtschreibkönnen der »Lesen durch Schreiben«-Klassen ist aus zwei Gründen besonders hoch zu bewerten: Zum einen gibt es in der Schweizer Stichprobe sehr viele Kinder mit anderer Muttersprache. In einer weiteren Untersuchung sollte versucht werden, deren Sprachkompetenz im Deutschen genauer zu bestimmen. Darüber hinaus ist wegen der großen Bedeutung der Dialekte im Alltag das Schriftdeutsch für die meisten Kinder nicht die Muttersprache. Sie können also die Schreibweisen von Wörtern nicht direkt an ihre Mundart anbinden, sondern müssen den zusätzlichen Schritt in die zweite Sprache tun. Trotzdem (oder gerade wegen der dadurch früher entwickelten Sprachbewußtheit?) erreichen die deutschschweizerischen Kinder auch außerhalb des ausdrücklichen Lernzielbereichs ihres Unterrichts (nach »Lesen durch Schreiben«: lautgerechte Verschriflung) ein hohes Leistungsniveau. Umgekehrt könnte die etwas spätere Einschulung der Erstkläßlerlnnen in der Schweiz (die Kinder sind im Durchschnitt 3-4 Monate älter) die vergleichsweise rasche Rechtschreibentwicklung begünstigt haben. In weiteren Untersuchungen, in denen wir Schweizer Kinder, die nach verschiedenen Ansätzen Lesen und Schreiben gelernt haben, untereinander vergleichen wollen, sollen die folgenden möglichen Erklärungen für einen raschen Start in die (Recht-)Schreibentwicklung noch genauer überprüft werden: Hypothese 1.1: Die hohe Quote ortografischer Schreibungen ist Folge des selbständigen Konstruierens von Wörtern, also der frühzeitigen und intensiven Auseinandersetzung mit Schrift. Diese weckt das Interesse an Schriftmodellen in der Umwelt, so daß die Schreibung zumindest sehr häufiger und einfach strukturierter Wörter sozusagen beiläufig aufgenommen wird.

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Hypothese 1.2: Kinder, die frühzeitig zu selbständigem Schreiben angeregt werden, produzieren auch außerhalb der Schule viele Schriftstücke, die von Erwachsenen kommentiert werden. So erhalten die Kinder konkrete ortografische Hilfen/Korrekturen, die eine Orientierung auf die Rechtschreibung stützen. Hypothese 1.3: Eigene Texte der Kinder motivieren auch zum gegenseitigem Lesen - im Unterschied zu (Fibel-)Texten, deren Inhalt allen gleichermaßen bekannt ist. Die Erfahrung, die Texte anderer Kinder lesen zu können, und das Interesse, daß der eigene Text auch gelesen wird, können die Haltung gegenüber der Rechtschreibung beeinflussen: Wörter müssen so geschrieben sein, daß andere sie (leicht) lesen können. Hypothese 1.4: Das »Handicap« der bilingualen Situation (Dialekt - Schriftdeutsch) könnte sich als Vorteil erweisen. Sie könnte das Sprachbewußtsein der Kinder fördern und ihnen damit den Zugang zur lautlichen Form der Sprache erleichtern. Für andere bilinguale Situationen gibt es entsprechende Hinweise. Hypothese 1.5: Der kleine Vorsprung der deutschen Kinder »Ost« ist auf einen systematischen Rechtschreibunterricht von Beginn der ersten Klasse an zurückzuführen. Hypothese 1.6: Der deutliche Rückstand der deutschen Kinder »West« hat seinen Grund in der anderen Ausrichtung des Unterrichts: In den meisten Klassen steht mit der Fibel immer noch das Lesen (zudem von vertrauten Übungstexten) eindeutig im Vordergrund. Schreiben und Rechtschreiben gewinnen erst ab der 2. Klasse an Bedeutung. Wie gelingt den Kindern aus den »Lesen durch Schreiben«-Klassen aber nun der Übergang zur ortografischen Schreibung in der Breite? Weitere Entwicklung bis zum Ende der Grundschulzeit Ein forschungsmethodischer Hinweis vorweg: Die Interpretation unserer Daten als Längsschnitt (in den folgenden Abschnitten) gilt nur hypothetisch, da es sich um parallele Querschnitterhebungen in verschiedenen Gruppen von Kindern handelt. Sie ist durch einen echten Längsschnitt zu erhärten, in dem eine kleinere Stichprobe von der ersten bis vierten Klasse zu beobachten wäre. »Lesen durch Schmiben« ist eine Unterrichtsmethode für den Anfangsunterricht. Das Lehrmittel bietet der Lehrerin ein Konzept, damit Kinder selbstgesteuert lesen und schreiben lernen können. Reichen gibt keine unterrichtsmethodischen Hilfen für den Aufbau der Rechtschreibfähigkeit auf der Basis der lauttreuen Schreibung, sondern plädiert für ortografische Toleranz, deren Grenzen - für jedes Kind individuell - kontinuierlich enger gezogen werden. Das pädagogische Konzept des Werkstattunterrichts allerdings macht Vorgaben für die Organisation von Lernen in der Grundschule über den Schulanfang hinaus. Es ist deshalb interessant zu beobachten, wie sich die Kinder nach Abschluß des Leselehrgangs bis zur vierten Klasse weiterentwickeln. Aus den zweiten Klassen liegen Grundauswertungen für alle 823 Kinder vor (von den LehrerInnen selbst korrigiert), detailliertere Analysen in unserem Projekt beziehen sich auf 770 Diktate und 740 freie Texte. Im zweiten Jahrgang fallen die Klassen der Stichprobe »Lesen durch Schreiben« gegenüber den beiden deutschen Vergleichsgruppen im Diktat deutlich ab: ortografisch vollständig korrekt

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schreiben sie 70.1% der Wörter (vs. 78.4% in der Stichprobe »West« bzw. 85.0% in der Stichprobe »Ost«). Bei der lauttreuen Schreibung erreichen jetzt alle drei Gruppen ein gleich hohes Niveau (94-96%). Im freien Text sind die Unterschiede geringer, allerdings hat hier die Stichprobe »West« deutlich aufgeholt: Die beiden deutschen Stichproben schreiben 76.4% bzw. 79.2% der Wörter richtig, in den Klassen »Lesen durch Schreiben« sind es 74.5%. Zugleich hat der Umfang der Geschichten in den Vergleichsgruppen stärker zugenommen als in den Klassen »Lesen durch Schreiben«, so daß die Texte anders als in der ersten Klassen nicht mehr länger, sondern mit 47 Wörtern im Schnitt etwas kürzer sind (vs. 52 bzw. 55 Wörter in den beiden deutschen Stichproben). In den zweiten Klassen vergrößert die deutsche Stichprobe »Ost« also ihren knappen ortografischen Vorsprung vor den »Lesen durch Schreiben«-Klassen deutlich, die Stichprobe »West« überholt die Schweizer Klassen »Lesen durch Schreiben« bei allen drei Kriterien. Wie ist diese Veränderung zu erklären? Hypothese 2.1: In den Klassen »Ost« werde der systematische Rechtschreibunterricht gezielt fortgesetzt, in den Klassen »West« setzte er ein (wenn auch weniger intensiv), in den Klassen »Lesen durch Schreiben« dagegen verlasse man sich nach wie vor auf eigenaktives, konstruktives Lernen auch im ortografischen Bereich, ohne daß aber entsprechende Materialien verwendet werden, in denen Rechtschreibung systematisch vermittelt wird oder aus impliziten Strukturen (Wortlisten o. ä.) erschlossen werden könnte. Die Verlangsamung der Rechtschreibentwicklung lasse sich also als Folge unzureichender Angebote/Herausforderungen auf der ortografischen Ebene erklären. Ortografie sei kein zentrales Thema in den »Lesen durch Schreiben«-Klassen, während jetzt auch in den westdeutschen Schulen in diesem Bereich gezielt gearbeitet wird. Der Zuwachs durch beiläufiges Lernen falle gegenüber systematischem Rechtschreibunterricht notwendigerweise schwächer aus (z.B. im freien Text nur 10 Prozentpunkte vs. 15-20 Prozentpunkte in den beiden anderen Stichproben). Hypothese 2.2: Die zunehmende Bedeutung des Lesens ab Ende der 1. Klasse könnte in zweierlei Hinsicht Folgen für das Rechtschreiben haben. Zum einen tritt die Aktivität des freien Schreibens generell in den Hintergrund, die Kinder erweitern ihre Schreibfähigkeit nicht wesentlich. Zum anderen werden sie über das Lesen mit dem Schriftdeutsch als Anforderung in einer Weise konfrontiert, die ihnen die bisherige Unbefangenheit beim Schreiben nimmt und sie in ihren Lernbemühungen resignieren läßt. Manche Kinder mögen es als »Dialektschock« erleben, daß Schriftdeutsch nun auch für sie offiziell gilt und ihr Erwerb eine Menge abverlangt. Passiv verstehen die Kinder die Hochsprache (z. B. als Fernsehkonsumentlnnen), aber viele spüren vielleicht, daß sie sie aktiv noch nicht normgerecht verwenden können und halten sich deshalb beim Schreiben zurück. Die Normen des Schriftdeutsch sind ihnen bei den ersten Schreibversuchen noch nicht bewußt, sie werden von den LehrerInnen sogar ausdrücklich ermutigt, ihre persönliche Sprache zu verschriften. In den Schulbüchern der 2. Klasse begegnen sie nun nicht nur eindeutigen ortografischen Normen, sondern auch der weniger vertrauten Sprachform des Schriftdeutsch. Hypothese 2.3: Alternativ wurde vermutet, daß eine Reihe von LehrerInnen in der zweiten Klasse den Werkstattunterricht im Schreiben abbricht, weil »Lesen durch Schreiben« kein Material und kein methodisches Konzept für eine Fortsetzung des eigenaktiven, konstruktiven Lernens im ortografischen Bereich anbietet. Weil für die (Recht-)Schreibförderung nach der 1. Klasse von »Lesen durch Schreiben« kein Konzept angeboten wird, reagieren LehrerInnen unsicher: einige

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nehmen die Fehlertoleranz plötzlich zurück und nehmen den Kindern damit den Mut zu weiterem eigenaktiven Lernen über Zwischenformen der allmählichen Annäherung an die Ortografte (s. 2.2). Dies könnte vor allem für LehrerInnen zutreffen, die »Lesen durch Schreiben« nur als Methode (»Lehrgang«), nicht als pädagogisches Konzept (des Werkstattunterrichts) verstanden haben. Andere dagegen versäumen es vielleicht, die Kinder allmählich von der Laut- auf die Morfemstruktur der Schrift umzuorientieren und ihnen die Bedeutung konventionellen Schreibens überhaupt (wenn auch Schritt für Schritt) zu vermitteln; damit entstünde dann keine Motivation zur Auseinandersetzung mit der Rechtschreibung. Sie könnten Reichens These von der Rechtschreibentwicklung als »naturwüchsigem Selbstläufer« mißverstanden haben als Aufforderung, Ortografie überhaupt nicht zum Gegenstand des Unterrichts zu machen. Oder drittens: Weil in der 1. Klasse die ortografische Korrektheit keine Rolle spielte, nehmen einzelne Schülerlnnen/Klassen entsprechende Hinweise der LehrerInnen nicht gleich ernst. Hypothese 2.4: Alternativ könnte die langsame Rechtschreibentwicktung in der zweiten Klasse aber auch Ausdruck eines Strategiewechsels sein, z. B. wachsender Aufmerksamkeit für ortografische Muster und des breiten Experimentierens mit dem neuen Instrumentarium (Dehnungs-h, Konsonantenverdopplung etc.). Möglicherweise werden viele einfach strukturierte Wörter also in der 1. Klasse (zufällig) ortografisch richtig geschrieben, weil das Kind die Laute 1:1 verschriftet (»H-U-T«). Probiert es jetzt seine neuen Erkenntnisse aus (»H-UH-D«), wären solche Übergeneralisierungen als Fortschritt in einem selbstgesteuerten Lernprozeß zu werten, wie wir es für westdeutsche Spontanschreiber bereits nachweisen konnten und May auch für die nachfolgenden Jahrgänge belegt hat. Die langsamere Entwicklung der »Lesen durch Schreiben«-Klassen wäre nach dieser Interpretation (wenn sie sich durch qualitative Fehleranalysen belegen läßt) Folge einer konsequenten Anwendung der Prinzipien eigenaktiven Lernens. Schwerer zu erklären als die langsamere ortografische Entwicklung ist der geringere Anstieg der Textmenge (um etwa +20 Wörter von 26 auf 47 Wörter vs. + 30-40 Wörter in der Stichproben »Ost« und »West«): Hypothese 2.5: Die starke Konzentration auf die (lauttreue) Verschriftung von Wörtern und Sätzen fördert in hohem Maße die Einsicht in die technisch-formale Beziehung zwischen Sprache und Schrift. Schreiben als Verfassen von Texten ist aber auch angewiesen auf Stimulation durch literarische Vorbilder (gemeinsames Lesen, Vorlesen, ausdrückliche Förderung des Geschichtenschreibens). Hypothese 2.6: Zu prüfen wäre auch, in welchem Maße Lehrmittel in den »Lesen durch Schreiben«-Klassen verwendet werden, die Fantasie, kreatives Schreiben und individuelle Schreibentwicklung fördern oder behindern. Es könnte also entweder sein, daß die »Lesen durch Schreiben«-LehrerInnen zu sehr auf die spontane Entwicklung der Textkompetenz von Kindern vertrauen, oder andererseits, daß sie Schulbücher und Arbeitshefte verwenden, die Kindern die Lust zum Schreiben nehmen. Dazu müßten einerseits die Lehrmittel selbst analysiert, andererseits ihre Verbreitung erhoben und am besten auch ihre Verwendung in den einzelnen Klassenzimmern beobachtet werden. Aus den 3. Klassen liegen Auszählungen für 598 Texte »Mein Traum« und 617 Diktate vor (vgl. Tabelle 4). Nach diesen Ergebnissen scheinen die Klassen »Lesen durch Schreiben« in der ortografischen Entwicklung wieder aufzuholen. Im freien Text schreiben die »Lesen durch Schreiben«-Schülerlnnen im Durchschnitt 86% der Wörter richtig (vs. 87% in den beiden

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deutschen Stichproben), im Diktat 70% (vs. 74% bzw. 81 % in den Stichproben »Ost« und »West«). Der Aufholeffekt zeigt sich allerdings nicht im Umfang der geschriebenen Texte: Zwar steigt die Wörterzahl von 47 in der zweiten Klasse auf durchschnittlich 70, aber in den deutschen Stichproben nimmt sie von 52-55 auf rund 87-94 Wörter zu. Fazit: In der Rechtschreibleistung holen die dritten Klassen »Lesen durch Schreiben« wieder auf. Erklären ließe sich diese Beschleunigung mit unterschiedlicher Rhythmisierung der Grundschulzeit: Hypothese 3.1: In den Schweizer »Lesen durch Schreiben«-Klassen wird den Kindern am Anfang mehr Freiraum für die Schreibentwicklung gewährt, die Orientierung auf die Rechtschreibung beginnt später bzw. wird im eigenaktiven Lernen der Klassen, die über die ganze Grundschulzeit hinweg den »Werkstattunterricht« praktizieren, später mit größerem Tempo realisiert. Hypothese 3.2: In einigen Regionen wechseln die LehrerInnen nach der 2. Klasse. Dies bedeutet zugleich eine andere Orientierung im Sprach- und Schreibunterricht (z. B. konkret Einführung von Rechtschreibwörterbüchern in Klasse 3). In dieser Hinsicht wäre es interessant, Klassen aus Regionen zu vergleichen, in denen der LehrerInnenwechsel zu verschiedenen Zeitpunkten stattfindet. Hypothese 3.3: Die Lehrpläne (und/oder die teilweise für einen ganzen Kanton verbindlichen Lehrmittel/Schulbücher) gewichten ab der 3. Klasse sowohl die Standardsprache als auch die Rechtschreibung viel höher als in den ersten beiden Schuljahren. Während in den ersten zwei Schuljahren im Unterricht die Mundart dominiert, wird ab dem 3. Schuljahr konsequent Standardsprache gefordert. Aus den 4. Klassen liegen die Auszählungen komplett vor, d. h. von 285 Kindern sind die Korrekturen der LehrerInnen und unsere eigenen Auszählungen ausgewertet (vgl. Tabelle 5 auf der nächste Seite). Im Diktat (»Rätselsätze« Version 1991) beträgt der Abstand gegenüber der Stichprobe »West« (etwas leistungsstärker als 1990) im Durchschnitt 3-4 Prozentpunkte, gegenüber der Stichprobe »Ost« 4-6 Prozentpunkte. Bei häufigen (und zugleich ortografisch einfacheren) Wörtern ist der Abstand geringer (Mindestwortschatz DDR, Grundwortschatz Niedersachsen), bei den selteneren (und zugleich schwierigeren) Wörtern wie in der 3. Klasse etwas größer (8 bis 10 Prozentpunkte). Die Aufgabe »Mein Traum« wurde in den Stichproben »Ost« und »West« nur 1990 gegeben. In diesem freien Text schreiben die Kinder nach »Lesen durch Schreiben« ebenso lange Texte (104 zu 102 bzw. 107 Wörter im Durchschnitt). Ihre Quote richtiger Wörter liegt mit 91% ebenfalls auf demselben Niveau wie in den Stichproben »Ost« und »West« (93% bzw. 91%). Die ortografischen Feinanalysen bestätigen diese Einschätzung in allen Dimensionen der Textform (vgl. S. 149ff. in diesem Band). Fazit: Ende der vierten Klasse sind die Unterschiede im Diktat zwischen den drei Stichproben nur noch gering, insbesondere gegenüber der Stichprobe »West« haben die »Lesen durch Schreiben«-Klassen kaum noch einen Rückstand. In der Textmenge und bei den Rechtschreibfehlern liegen beim freien Schreiben sogar alle Gruppen auf vergleichbarem Niveau.

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Hypothese 4.1: Die phasenweise Verzögerung der Rechtschreibentwicklung ist - über die für Klasse 2 und 3 beschriebenen äußeren Bedingungen hinaus - bedingt durch die Zweisprachigkeit (Dialekt/ Schriftsprache). Dann müßte sie sich (entsprechend Hypothese 2.2, entgegen 1.4) auch in Klassen zeigen, die nicht nach »Lesen durch Schreiben« arbeiten. Hypothese 4.2: Es könnte andererseits sein, daß sich diese zusätzliche Lernanforderung nur zu Beginn der ortografischen Orientierung (2. Klasse) belastend auswirkt. Später könnte die bewußtere Sprachanalyse (als in hochsprachlichen Regionen) die Auseinandersetzung mit der Rechtschreibung sogar fördern, so daß deshalb Ende 4. Klasse der Unterschied geringer ausfällt. Hypothese 4.3: Der Unterschied zwischen einfachen, häufigen und schwierigeren, selteneren Wörtern erklärt sich aus dem unter 4.1 und 4.2 erläuterten Verzögerungseffekt. Wie die deutschen Klassen »West« holen die Kinder schrittweise (also zuerst die einfacheren Stufen) auf. Zusammenfassung Die Ergebnisse aus der Schweizer Stichprobe »Lesen durch Schreiben« bestätigen wichtige Befunde aus unserem »Schreibvergleich BRDDR« Brügelmann u. a. 1992e und oben S. 129ff.): Im Bereich des (vor allem in der DDR intensiv geübten) Häufigkeitswortschatzes ist die Stichprobe »Ost« von der ersten bis zur vierten Klasse überlegen. »Lesen durch Schreiben« hält in der ersten Klasse (über die eigenen Lernziele hinaus) außerordentlich gut mit, fällt dann zwar in der zweiten Klasse zurück, holt aber insgesamt (wie auch die Stichprobe »West«) zur 4. Klasse hin wieder auf. Noch eindrucksvoller: Trotz schwächerer Rechtschreibleistungen im Diktat haben die Kinder aller Jahrgänge aus der Schweiz (wie auch aus Deutschland »West«) nicht mehr Schwierigkeiten als die Stichprobe »Ost«, ihre Gedanken ortografisch korrekt zu verschriften. Dabei hat die Stichprobe »Ost« einen zeitlich umfassenderen und wesentlich intensiveren Rechtschreibunterricht genossen. Anlaß zum Nachdenken könnte der geringere Umfang der Texte in Klasse 2 und 3 sein. Möglicherweise hängt dies z. T. mit der ungewohnten Situation bei unserer Aufgabe zusammen, erst einen Entwurf und dann eine Reinschrift anzufertigen. Wir hatten diese Praxis übernommen aus Klassen, die nach dem Konzept der »Schreibkonferenz« (Spitta) an ein solches zweischrittige Vorgehen gewohnt waren. Allerdings war dieses Verfahren auch für viele Klassen der Stichprobe »West« und für alle Kinder der Stichprobe »Ost« neu. Vielleicht könnte das stärker schrift-technisch orientierte Konzept »Lesen durch Schreiben« aber auch profitieren von einer ergänzenden Anregung und Stützung der Lese- und Schreib»kultur« in der Klasse, z. B. durch »Autorenkonferenzen« à la Graves (1986) und Spitta (1989; 1992), Lese- und Schreib-»Versammlungen à la Bambach (1987; 1989) oder handlungsorientierte Kontexte wie der »Lesestadt« von Rütimann (1989) (s. ergänzend Dräger 1988 und Wünnenberg 1989). Fazit: Selbständiges Schreiben vom ersten Schultag an schadet nach den vorliegenden Befunden der Rechtschreibentwicklung nicht. Für sich genommen bedeutet es aber auch noch keinen prinzipiellen Vorteil für die Schreibentwicklung (zumindest in dem formalen Sinne, den unser Instrumentarium erfaßt). Das große Plus: »Lesen durch Schreiben« verschafft den Kindern einen überdurchschnittlichen Start. Ob der Ansatz auch für die relativ guten Ergebnisse in Klasse 4 verantwortlich gemacht

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werden kann, muß vorerst offenbleiben. Einerseits spricht der »Einbruch« in Klasse 2 dagegen. Andererseits ist nicht bekannt, wie Schweizer Klassen sich entwickeln, die nicht nach »Lesen durch Schreiben« unterrichtet wurden. Ebensowenig wissen wir, wie sich »Lesen durch Schreiben«-Klassen entwickeln, die nicht mit der Anforderung bilingualen Lernens zu kämpfen haben. Diese zwei Kontrollbedingungen müßten in einer erweiterten Untersuchung berücksichtigt werden. Die Streuungen (auch) in der Schweizer Stichprobe machen zudem auf die Bedeutung weiterer Faktoren (über die Methode »Lesen durch Schreiben« hinaus) aufmerksam. Weitere Untersuchungen des Konzepts »Lesen durch Schreiben« in der Schweiz und parallel in deutschen Schulen sollten sich deshalb auf folgende Fragen konzentrieren: 1. Inwieweit sind die beobachteten Unterschiede zur Rechtschreibentwicklung in Deutschland

»Ost« und »West« typisch für den Unterricht in Deutschschweizer Schulen generell oder spezifisch für den Ansatz »Lesen durch Schreiben«?

2. Gibt es systematische Unterschiede zwischen Klassen nach »Lesen durch Schreiben« und

fibelorientierten Klassen insgesamt, und gibt es darüber hinaus Unterschiede innerhalb der Gruppe der verschiedenen lehrgangsorientierten Lehrwerke?

3. Gibt es Unterschiede zwischen Klassen, die ab Klasse 2 nach verschiedenen

Sprachlehrwerken arbeiten? 4. Lassen sich Bedingungen ausmachen für Unterschiede innerhalb der verschiedenen

methodischen Ansätze? Sind diese Bedingungen über die verschiedenen Ansätze hinweg gleichartig? (z. B. Unterrichtsstil, Schwerpunkte des ab Klasse 2 anschließenden Sprach-und Rechtschreibunterrichts o. ä.)?

Wichtig für die Praxis ist aber der zentrale Befund dieser Untersuchung: Das umfassende schulpädagogische Konzept eines »Werkstattunterrichts«, der Kinder zum selbständigen Lernen ermutigt, geht nicht auf Kosten der Rechtschreibfähigkeit. LehrerInnen, die nach »Lesen durch Schreiben« unterrichten, brauchen also nicht zu befürchten, daß kreatives und eigenaktives Lernen die konventionell geforderten Leistungen beeinträchtigt. • Jürgen Reichen hat die Erhebung in der Schweiz organisiert, wobei der Rücklauf in

verschlossenen Umschlägen direkt an die Bremer Projektgruppe weitergeleitet wurde. Die Auswertung der Daten hat Hans Brügelmann gemeinsam mit Britta Baumbach-Junge, Katrin Busch, Anja Grimm, Silke Großmann, Regina Kreyenborg, Martina Otto, Anette Rendigs, Thomas Vogel und Cornelia Wichmann besorgt.

• Hans Brügelmann und Elmar Hengartner haben die Hypothesen zur Erklärung der Befunde entwickelt, die in einem weiteren Schritt von Jürgen Reichen kommentiert und daraufhin in die endgültige Fassung gebracht worden sind. Eine Vorfassung dieses Beitrags ist erschienen in päd.extra H. 6/92, S. 16-19.

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Text-D05 Hans H. Wünnenberg Über das Qualifizierte Nichtstun unveröffentlichtes Manuskript, 1999 Das ist denn des Denkens höchstes Paradox: etwas entdecken wollen, das es selbst nicht denken kann. Sören Kierkegaard Wenn die Kinder morgens in ihren Klassen verschwunden sind, wird es im Haus ganz still. Das ist ungewohnt für mich. Zum ersten Mal in meinem Lehrerleben habe ich keine Klasse und weiß nicht so recht, was ich mit mir anfangen soll. Ich empfinde mich als abgetrennt vom Leben in der Schule keine Anspannung mehr, keine Vorfreude, keine Vorsätze, keinen Restärger, keine Gespräche, keine Überraschungen nur noch Schule leiten ... Am Ende des vergangenen Schuljahres sind wir, die Kinder einer 2. Klasse und ich, etwas traurig auseinander gegangen. Ich wusste: Sie sind bei der jungen Kollegin gut aufgehoben, die Kinder konnten das noch nicht wissen. Es klopft an der Tür. Zaghaft, wie es seine Art ist, schlängelt sich Djodjo, ein rabenschwarzer Junge aus dem Kongo, durch den schmalen Türspalt und gibt mir eine Geschichte. Die wolle er mir noch abgeben. Könne er, jetzt, wo er mich nicht mehr als Klassenlehrer habe, weiter Geschichten schreiben, fragt er. Tony, die Ente Es war einmal eine Ente, die hieß Tony. Sein Vater war ein Rabe, und seine Mutter war eine Ente. Tony wollte ein Rabe sein wie sein Vater. Und er ging zu seinem Vater, dem Raben. Der sagte: "Was willst du ?" "Ich will ein Rabe sein. Aber ich bin eine Ente. Ich will aber ein Rabe sein." "Ich sag dir was: Suche die Rabenfee." "Okay", sagte Tony und suchte die Rabenfee. Er fand sie in England. Aber er konnte kein Englisch. Er lernte Englisch, und die Fee erfüllte ihm 2 Wünsche. Der erste Wunsch war, dass er ein Rabe war. Und der 2. Wunsch war ein Freund zum Spielen. Er landete in Deutschland und traf Frau Djafari. Tony und ( ... ) wurden Freunde. Djodjos neue Lehrerin spricht perfekt Englisch und hat rabenschwarze Haare. Warum hat er vergessen zu schreiben, mit wem Tony sich befreundete ?

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Djodjo, seit vier Jahren in Deutschland, konnte bereits zu Beginn des ersten Schuljahres lesen. Seine Eltern konnten mir nicht sagen, wie er es sich beigebracht hat. Er spricht ein ausgezeichnetes Deutsch mit uns, ein gutes Französisch mit seinen Eltern und seinen beiden Brüdern. Zu Beginn des ersten Schuljahres reagierte er hochaggressiv auf seine Umgebung. Welche Informationen er zum Anlass für seine sofort umgesetzten Aggressionen in der Klasse nahm und wie er sie bekam, war zunächst völlig unklar. Er konnte plötzlich aufspringen und in eine Ecke des Raumes rennen, um einen kleinen polnischen Jungen zu verdreschen. Es dauerte lange, bis ich beobachten und durch einen Zufall auch hören konnte, dass die beiden polnischen Bengel ihn auf eine hinterhältige Weise heimlich wegen seiner Hautfarbe beschimpften. In jedem Fall war seine Aggression berechtigt. Djodjo schien eine 360 Grad-Wahrnehmung zu haben, nichts entging ihm. Dabei brabbelte er ständig auf ziemlich entnervende Art halblaut vor sich hin. Auf dem Schulhof war er ständig in handgreifliche Auseinandersetzungen verwickelt. Er sah sich als das perfekte Opfer, als einen den Streit mitverursachenden Täter konnte er sich nicht erkennen. Unsere letzte Auseinandersetzung endete mit seinem wütenden Ausruf: "Ich bin zwar schwarz, aber kein Depp !" Auf meine mit Ratlosigkeit unterlegte Bemerkung, was er denn an seinem Schwarzsein ändern wolle, brach sein ganzer Schmerz aus ihm heraus über sein weithin sichtbares Anderssein, sein Gefühl, von andern nicht akzeptiert und damit ausgeschlossen zu sein, weggestoßen zu werden. Er konnte nicht sehen, dass er in der Klasse sehr beliebt und als hervorragender Fußballer anerkannt ist und als Streitschlichter Autorität besitzt. An einem Email-Projekt, bei dem zwei Afrika-Reisende ihre Reiseberichte teilnehmenden Schulen zur Verfügung stellen, nimmt Djodo teil. Er liest die Berichte rasend schnell, er scheint den Text abzuscannen, und legt ihn dann achtlos ohne Kommentar und sichtbares Interesse beiseite. Viel später zeigt er dann durch beiläufige Bemerkungen, dass er den Text gut verstanden und über ihn nachgedacht hat. Er erscheint mir wie eine black box, die näherer Erkenntnis verschlossen bleibt, über deren Inhalt und Gefüge ich nur Vermutungen anstellen kann. Wie hat er Lesen gelernt ? Was hat ihn angetrieben ? Wie und auf welche Weise formt er sich ein Bild seiner Wirklichkeit ? Nico war ein Winzling von Erstklässer, der nicht eine Minute auf seinem kleinen Hintern still sitzen konnte. Auf eine heimliche, fast unsichtbare Weise war er ständig an fast jedem Punkt in der Klasse zu finden. Voraussetzung war jedoch, dass irgendetwas seine Neugierde angeregt hatte. Ein Muster für seine Neugierigkeit war nicht festzustellen. Alles und nichts, dies und das ... konstant war nur dieses leise flirrende Herumflitzen. Mit ständigem Murren absolvierte er das tägliche Ritual des Wörterschreibens, in das ich ihn konsequent zwang. "Kackwörter, so'n Scheiß kann ich doch ..." Und er konnte. Aber weshalb er bei seinem breiten pfälzer Dialekt die korrekten Endlautwerte z.B.von Pilz und Fels sofort identifizieren konnte und auch zunehmend schwierige Unsinnswörter, wie Flitzflink, Kamelbeule, Flatschkuchen, über die er lachte und durch die er sich fesseln ließ, zunehmend sicherer verschriftete, wird mir stets ein Rätsel bleiben. Auf eine wieder sehr heimliche Weise muss er lesen gelernt haben. Ich habe ihn mit seinen Eltern wohl ein Dutzendmal in der Stadt spazieren gehen sehen. Vater und Mutter innig verhakt, Nico drei Meter davor, daneben, dahinter, wie verloren, als gehöre er nicht dazu. Die Mutter war ständig genervt von diesem kleinen Irrwisch, traute ihm nichts zu,

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beklagte sich, zog genervt die Augenbrauen hoch. Der Vater sagte dazu kein Wort. Was Nico auch tat, es wurde einer Kritik unterzogen. Schwieg er sich aus und zog sich in sein Schneckenhaus zurück, war das falsch, sprang er wie ein lebhaftes Kind durch die Gegend war das natürlich ebenfalls falsch. Nicos Nullproduktion schien als Strategie so falsch nicht zu sein: Wenn ich nichts produziere, mache ich keine Fehler und kann deshalb auch nicht kritisiert werden. Es genügt schon, wenn mein vermeintliches Nichtstun unter kritischem Beschuss steht. Da muss ich wenigstens keine Stellung beziehen oder etwas rechtfertigen. Nico schien mir nicht über den Weg zu trauen, wenn ich einen seiner wenigen Texte belustigt las und ihm sagte, dass der mir gefalle. "Das ist doch nur Mist", war sein Kommentar. Und wieder kam eine lange Periode, in der er nichts sichtbar produzierte. Er saß für Minuten am Computer, schaute anderen über die Schulter, hockte in der Leseecke auf dem Boden und blätterte in einem Buch, schaute durch das Mikroskop, nahm den Besen und fegte den Boden sauber, ging an den Wasserhahn und trank, griff sich dann das Sabefix und hantierte mit ihm etwa fünf Minuten ... doch stets gab er von seinem jeweiligen Standort irgendwelche laute Kommentare zu Gesprächen oder Geschehen, die weit von ihm entfernt in der Klasse sich ereigneten. Nico schien nichts zu entgehen. Er konnte mit dem Rücken gegen die Klasse sitzen und doch bekam er mit und kommentierte oft mit weigen Worten das was hinter ihm passierte. Im 2. Schuljahr kam er zu mir mit einer Arbeitsanweisung aus einer Werkstatt und tat so, als verstünde er sie nicht. Als ich ihm sagte, er brauche die Anweisung doch nur zu lesen, das könne er doch, entgegnete er: "Wieso ? Ich habe doch nie lesen gelernt." Als ich lachte, meinte er: "Da brauchste gar nicht zu lachen. Das stimmt." Erst da merkte ich, dass es sich diesmal nicht um eines seiner Späßchen handelte, er meinte das ganz ernsthaft, obwohl er mir jeden Text fließend vorlesen konnte. Und wieder ist mir völlig unklar, wie dieser Junge lesen gelernt hat. Ein volles Jahr habe ich ihn niemals über eine längere Zeit konsequent an einer Arbeit sitzen sehen. Ich habe ihn beobachtet, war für ihn da, habe ihn in das Ritual des täglichen Verschriftens gezwungen, habe über seine situationskomischen Kommentare gelacht, und wenn er mehr als für mich und die Kinder zu ertragen war und nervte, habe ich ihn gestoppt, ihn auf andere Betätigungsmöglichkeiten hingewiesen, denen er sich zunächst verweigerte und die er dann doch zumindest beschnupperte. Nico wehrte sich gegen verbindliche Festlegungen. Er war ein sehr guter Kopfrechner und verheimlichte das lange Zeit. Wenn andere Kinder noch vor sich hindachten, grinste er in sich hinein. Er konnte Zusammenhänge sehr schnell erkennen und darstellen. Wenn andere Kinder darüber noch brüteten, grinste er, ließ sie brüten, um dann schließlich ganz beiläufig zu sagen, wie die Dinge für ihn liegen. Und das alles in einer nie provozierenden Weise, immer sehr leise und heimlich. Kein Kind konnte auf die Idee kommen, dass Nico ihnen weit voraus ist. Nico gab nichts von sich preis, weder im Gepräch, noch in seinen wenigen kurzen, fast leblosen Texten. Und doch blitzte in seinen Kommentaren zu Situationen in der Klasse oft ein Vergnügen an phantasievollen, oft anal getönten Metaphern auf. Er sprang gewissermaßen in meine Wahrnehmung und vielleicht auch in die der Kinder, um blitzschnell wieder zu verschwinden ganz wie eine dieser Kipp-Figuren, die hin und herspringen, wenn man sie mit einer schwebenden Aufmerksamkeit ansieht. Wenn Nicos Verhalten als chaotisch gekennzeichnet werden kann, was ist der seltsame Attraktor, mit dem dieses Chaos klassifiziert werden kann. Was lag hinter seiner lrrlichterei ? Was war das Muster, welches er für sich als noch lebbar entwickelt hatte ? Wie lernte er, scheinbar ohne jede Übung ? Auf fast unsichtbare Weise lebendig und trotzdem zielsicher unauffällig mit Kommentaren und Bemerkungen präsent sein, das ist eine für so einen kleinen Bengel doch sehr

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eindrucksvolle Ausdrucksweise. Im gewohnten Unterricht gilt so ein Kind als "verhaltensgestört". Es tut nichts, flitzt in der Gegend herum und stört mit immer unpassenden Kommentaren den "Unterrichtsbetrieb". Dabei geht völlig unter, was es sich bereits auf seine ureigene Weise angeeignet hat. So ist das auch bei Sven, 1. Schuljahr, Kind von Eltern, die keine sind. Die Mutter, die wie ein kleines, dummes, hilfloses Kind schon mit sich nicht zurande kommt, der Vater der, in ein Handy schwadronierend und dabei jeder Arbeit ausweichend, durch die Stadt nomadisiert. Die Mutter sagt zu allem Ja und Amen und folgt doch nur ihren eigenen Impulsen, der Vater bläst sich von Zeit zu Zeit mächtig auf, verdrischt seinen Sohn und vergisst ihn dann monatelang. Sven passt nun wirklich nicht in unsere Schule und in eine Klasse mit 25 Kindern. Er sitzt vorn bei der Lehrerin, will sich ständig lautstark äußern und das im breitesten, oft nicht verständlichen Pfälzisch: "Ich hans doch gewisst, isch kumm wedder nit dro." Er verprügelt ein kleines Mädchen, nur weil sie nicht seine Freundin sein will. Er schlägt einen Jungen, der, fünf Meter von ihm entfernt, etwas über ihn geredet, einen anderen, weil der ihm laut etwas ins Ohr gesagt hat. Und er prügelt wirklich: Schläge ins Gesicht, Tritte in den Bauch - all das ohne jede Einfühlung in die Schmerzen der anderen Kinder. Andererseits ist er stets das Opfer: Nicht er hat geprügelt, andere haben ihn in irgendeiner Weise beeinträchtigt: Sie haben ihn frech angeschaut, haben ihm nicht das Radiergummi geliehen, mögen ihn nicht. Es kommt sogar vor, dass er ohne ersichtlichen Grund, dem kleinsten, wachsten, verschmitztesten und intelligentesten Jungen eine Ohrfeige verpasst und sie damit begründet, dass der Jakob ihn ja in der nächsten Pause ärgern könnte. Er verteilt also prophylaktische Ohrfeigen. Sven streunt in der Klasse herum, stört die anderen, zerbricht ihnen Bleistifte, schmeißt sie durch die Gegend. Er wirft sich auf den Boden und schreit: "Der Boden frisst mich." Er imaginiert einen Herrn Münges, der hinter ihm her ist, wenn er die Zuwendung der Lehrerin braucht. Will sie mit ihm darüber sprechen, meint er. "Den Herrn Münges gibt's doch gar nicht." Sven tut alles aus augenblicklichen Impulsen heraus - es sei denn, er hat seinen Gameboy vor sich. Dann sitzt er buchstäblich stundenlang konzentriert da, nimmt nichts als Mario den Klempner und bei Ballerspielen den Zwang blitzschnellen Feuerns wahr. Er übt und übt und übt ... Dabei spricht und ringt er mit dem Gerät, als sei es ein lebendiger Partner. Sonst hat seine Lehrerin in dem Getümmel nichts festgestellt, was er kann. Ihre täglichen Notizen über Sven füllen viele Seiten. In jeder wie auch immer organisatorisch und pädagogisch verfassten Schule hätte Sven erhebliche Schwierigkeiten. So wird er denn fast täglich zu mir gebracht und zwingt mich zu ganz neuen Erfahrungen. Zunächst schreit er eine Viertelstunde lang wie am Spieß, wälzt sich am Boden, schiebt sich auf dem Rücken kreuz und quer durch den Raum und schließlich in die entfernteste Ecke und ist keinem Wort zugänglich. Schließlich beruhigt er sich etwas und hört zu, wenn ich ihm sage, dass wir, wenn er aufhöre zu schreien, etwas miteinander machen könnten. Fünf Minuten braucht er noch, dann wird es ihm wohl zu langweilig und er fragt. "Was machen wir denn ?" Ja, was machen wir denn ? Ein Wahrnehmungsspiel mit Farben. Wird nach kurzer Zeit weggelegt. Ein Wahrnehmungsspiel mit Formen ebenfalls, fliegt auf den Tisch. Eine Seite mit recht komplizierten Formen bleibt offen. Sven guckt sich die an und hat die Aufgabe mit affenartiger Geschwindigkeit gelöst. Auch die nächste noch kompliziertere. Dann ist seine Ausdauer erschöpft. Immerhin war er 15 Minuten anspruchsvoll beschäftigt. Er schaut auf dem Tisch herum und sagt plötzlich "Follogo". Follogo was ? Ja, da stehe doch "Follogo". Wo ? Er

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weist auf ein Lernspiel, auf dem groß "FOLLOGO" steht. Ob er das aus dem Kindergarten kenne. Nein, er sei gar nicht im Kindergarten gewesen. Ich gehe mit ihm in mein Förderstübchen, mache den Computer mit dem ersten Reichen-Programm "Elementares Können" an, wähle das Unterprogramm "Wie heißen die Dinge ?", bei dem auf dem Bildschirm Wörter wie "Hut", "Ananas" usw. erscheinen, die zunächst gelesen und mit der Angabe von Koordinaten aus einer Matrix mit kleinen auf Papier vorgegebenen Bildern beantwortet werden müssen. Ich erkläre Sven einmal, wie die Koordinaten (a3 usw.) abgelesen werden können. In kürzester Zeit hat er alle Wörter gelesen und mit den Koordinaten richtig beanwortet. Dabei scheint er die Wörter zu scannen, er "erliest" sie sich jedenfalls nicht. Meine Verblüffung weicht einem Gefühl von Jagdfieber: Was kann der Bengel noch ? Beim nächsten Programmteil soll er Namen für die Bilder aus der Bildermatrix schreiben. Ich zeige ihm kurz, wie er mit der Umschalttaste die großen Buchstaben schreiben kann. Dann legt er los. Er lautiert die Wörter, sucht auf der Tastatur zunehmend schneller die zugehörigen Buchstaben. Wenn der Computer einen falschen Buchstaben beept, lautiert er langsamer. Bei ähnlich klingenden Lauten wie b und p, f und v probiert er einfach und kommt so zum Ziel. Als er "Pilz" schreiben soll, schreit er auf. "Der bescheißt. Guck, ich tippe s und der tut nix !" Es genügt, dass ich ihm sage: "Ein Pilz und noch ein Pilz sind zwei Pilze." Bei allen folgenden Wörtern mit s oder z probiert er immer beide Laute aus. Sven arbeitet wirklich. Er übt, probiert aus, adoptiert sich, übt weiter ... Sven kann lesen, hat ein ausgezeichnetes Gefühl für Farben und Formen. Er durchschaut bereits das Dezimalsystem im Hunderter-Raum und rechnet fast sicher alle Aufgabentypen im 20er-Raum, geht mit einem Zeichenprogramm auf dem Computer routiniert um, wenn er auch am häufigsten die Funktion benutzt, bei der eine kleine Radierbombe die erstellte Zeichnung mit Donnergrollen in den virtuellen Orkus befördert. Bei den Arbeiten am Computer ist er für lange Zeit, oft eine halbe Stunde, sehr konzentriert. Um sich herum nimmt er dann nichts mehr wahr. Mir fällt auf, dass er unwirsch bis aggressiv wird, wenn er von der Seite angesprochen wird. Obwohl ich normal laut rede, moniert er, dass ich zu laut reden würde. Ein Gespräch mit dem Vater ergibt, dass Sven in seinen beiden ersten Lebensjahren nur geschrien habe. Zunächst wären sie zum Hausarzt gegangen, dann zum Ohrenarzt, der festgestellt habe, dass Sven einen schmerzhaften permanenten Oberdruck im Ohr habe, der sein Hörvermögen beeinträchtigte. Nachdem das Innenohr saniert worden sei, habe Sven empfindlich auf jedes laute Gespräch reagiert. Er habe sich zurückgezogen, selbst das Fernsehen meide er, weil es ihm zu laut sei. Mit 5 Jahren wäre wieder das gleiche Phänomen aufgetreten. Sie seien in der Zwischenzeit nicht wieder beim Ohrenarzt gewesen. Eine von mir veranlasste Audiometrie ergibt, dass eine extreme Lärmempfindlichkeit bei gleichzeitigem Ausfall einiger Frequenzen gegeben ist. Und wieder stehe ich bewundernd vor der Leistung, mit der Sven, der wie ein kleiner zerzauster, vernachlässigter, einsamer, verhungerter Vogel wirkt, der aggressiv nach emotionalem Futter schreit, sich seine Welt organisiert. Es ist kein Wunder, dass sein Verhalten in seiner Umwelt als disfunktional empfunden werden muss. Wo hätte er Orientierung gewinnen können, bei Eltern, die selbst keine haben ? Wie hätte er konsistente und angemessene soziale Verhaltensweisen entwickeln können, wenn er nur Grenzenlosigkeit, Inkonsequenz und lnkonsistenz erlebt ? Und trotzdem: Wie hat er Lesen gelernt in einer Umgebung, in der nur breitestes Pfälzisch geredet wird ? Wieso kann er einfache Wörter relativ regelgetreu schreiben ? Wie und auf welche Weise

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hat er sein Formen- und Farbenbewußtsein zu einer solchen für sein Alter guten Reife entwickelt ? Aus was hat er sein Mengen- und Zahlenverständnis und sein Wissen um mathematische Grund-beziehungen entwickelt, wenn niemand ihn gefordert oder ihm ein Feedback gegeben hat? Sven hat mich zu einer Erfahrung gezwungen: Will ich mit ihm in Kontakt kommen, muss ich mich wie ein Judokämpfer verhalten - stete Präsenz im Hier und Jetzt, eine ständige freischwebende Aufmerksamkeit für und behutsame Einfühlung in das, was das Kind gerade tun will, eine nicht zu störende und bedingungslos abwartende, aber jederzeit reaktionsbereite Zuwendung also. Ich kann mich nicht festlegen auf ein didaktisches Modell, kann nicht mit methodischen Finessen hantieren - dieses Kind ist nur es selbst. Es ist nicht zu manipulieren, nicht zu motivieren, nichts scheint dauerhaft zu sein. Impulse blitzen auf, werden in die Tat umgesetzt. Es bedenkt keine Konsequenzen, planhaftes Verhalten ist ihm fremd, es lebt voll im Augenblick, ohne Rücksicht auf andere, ja ohne ein Gespür für die Reaktionen anderer zu haben. Ob Sven sich erkennt, wenn er in den Spiegel schaut? Ihm scheint jedes Lachen über sich selbst fremd zu sein. Er ist äußerst schwierig und bringt mich zur Verzweiflung, wenn ich auf meinem Konzept von Erziehung, unterrichtlicher Vermittlung, auf meiner Zielperspektive bestehe. Bestünde ich weiter darauf, zerbräche Sven, weil ich mächtiger bin. Für mich wäre das ein Triumph meiner Ohnmacht - eine Niederlage. Was bei Djodjo noch mit dem herkömmlichen Schulbetrieb zu vereinbaren war, seine zwar eigenwillige, bisweilen eigensinnige Art und Weise des Lernens und der Produktion, war bei Nico wegen seines in einer Masse von 28 Kindern nur schwer einschätzbaren Lern- und Arbeitsverhaltens, das herkömmlichen Begrifflichkeiten nun überhaupt nicht entsprach, für einen Lehrer nur schwer zu leben. Ein Kind aber wie Sven, das überhaupt nicht in den Griff zu bekommen ist, dürfte in unserer Schule gar nicht existieren - es ist in unserer Schule nicht vorgesehen. Und doch sind diese Kinder da, die auf eine wundervolle Weise ihre eigene Welt konstruieren, die für sie stimmig sein wird, wenn auch nicht immer für die Menschen, die mit ihnen umgehen, Sie leben, leiden, lassen leiden, freuen sich zuweilen, nerven, werden wieder in den Arm genommen, werden entnervt in eine andere Klasse gesteckt, beachtet, gemieden, mit Ermahnungen überschüttet, mit Resignation zur Kenntnis genommen. Wir Lehrer nehmen sie wahr und behandeln sie entsprechend wie die übrigen Kinder auch durch die Brille unserer eigenen Erfahrung von Schule, die die meisten von uns seit dem 6. Lebensjahr aufgesetzt haben und mit steigendem Alter trotz schwindender Sehstärke ungern und nur unter großem Leidensdruck absetzen. Zuerst werden die Brillengläser gewechselt. Immer aber wieder ist ein modisches Brillengestell fällig. Das zupackende Wesen dieses Sehens macht kein Zurücklehnen und keinen leeren Blick möglich, schon gar nicht einen nach innen gerichteten. Immer muss etwas, was nicht in den Rahmen dieser Sichtweise passt, zurecht gerückt, gezupft, geschoben, gedrückt werden - ungeachtet der zunehmenden Hektik und Kurzatmigkeit, Erschöpfung und Blicklosigkeit. Kein Wunder, flackert doch dieser Blick unruhig innerhalb des Rahmens hin und her, auf und ab immer auf der Suche nach Fehlern, nach zu korrigierenden Unstimmigkeiten. Das, noch vermischt mit dem guten Willen des Erziehers und Lehrers, es allen Kindern gerecht zu machen, ihren Eltern, den Kollegen, überhaupt der ganzen Schule, ergibt das „Figaro hier/Figaro da“-Syndrom, das Gefühl des Zerfetzt- und Zerrissenseins, des pausenlosen Gefordertseins, der totalen Beanspruchung.

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Djodjo konnte ich gewähren lassen, der brauchte im Grunde keine Schule, keinen Unterricht. Bei Nico und noch mehr bei Sven musste ich aus meiner Not ein Verhalten machen, das sich vielleicht als eine Tugend herausstellen könnte. Ein Versuch, diese beiden Kinder in den üblichen schulischen Rahmen hineinzudrücken, wäre von vornherein gescheitert. Ihnen bei ihren irrelevanten Reaktionen hinterherzulaufen bedeutete, dass ich mich innerlich völlig erschöpft hätte. Blieb zunächst nur mein zwischen resignativer Ohnmacht und trotzigem Behauptungswillen pendelndes Zurücklehnen, das Zurücknehmen aller verinnerlichter Anforderungen, die Kinder üblicherweise in der Schule erfüllen sollten. Das war Arbeit: Die Kinder können doch nicht einfach in der Schule das tun , was sie wollen. Unbestritten ist doch, dass sie in der Grundschule Lesen, Schreiben und Rechen lernen müssen. Was arbeiten sie eigentlich ? Was muss ich tun, damit sie meine Grenzen und die anderer Kinder akzeptieren? Lassen sich bei dem was sie tun und wie sie sich verhalten Muster erkennen ? Wie wirken sich diese Kinder auf mein Verständnis meiner Rolle als Lehrer aus ? Unterspülen sie nicht mit ihrem Verhalten die oft mühsam wieder befestigten Ufer meiner kleinen pädagogischen Gewässer ? Fragen an die Kinder, Fragen an mich - ein ständiges Hin und Her von Fremd- und Selbstbeobachtung. Beobachte ich die Kinder, verliere ich oft den Kontakt zu mir, achte nicht auf meine Grenzen, beobachte ich mich, verliere ich die Kinder aus dem Blick. Und nun kommt jemand, der landauf landab das Wort vom „qualifizierten Nichtstun“ in die Welt setzt, spontanen Beifall damit erntet, der aber irgendwie schwebend verhallt, weil er oszilliert zwischen Zustimmung und verblüffter Ungläubigkeit. Ich erinnere mich an einen Lehrgang mit Schulberatern, die die Einführung der Vollen Halbtagsschule und inzwischen die weitere Schulentwicklung der Grundschule moderieren sollen. Zum Thema "Was ist eine gute Schule?" hatte eine der Moderatorinnen Statements von Protagonisten der Schulreform eingeholt oder zitiert: Jürgen Reichen, Ekkehard von Braunmühl, Celestin Freinet, Hartmut von Hentig ... Die Teilnehmer, alles gestandene Schulleiter, Seminarleiter, Schulräte, in der Anzahl mehr weiblich, wurden gebeten, die Statements auf den Plakaten zu lesen und sich dann zu den Autoren zu stellen, mit deren Aussagen sie sich am meisten identifizieren könnten. Von den 30 Teilnehmern drängten sich schließlich 25 vor dem Ekkehard von Braunmühl-Statement, das in seiner Aussage eigentlich nichts anderes verlangte als das ganze Schulsystem den Bach herunter zu jagen. Auf meine Vergewisserung hin, ob alle 25 wirklich dazu stünden, wo sie stehen, wurde mir etwas ungeduldig beschieden, das sei so in Ordnung. Meiner Neugier, die dieses Phänomen etwas näher erfassen wollte, wurde aber nicht nachgegeben. Eine Selbstreflexion fand, jedenfalls öffentlich, nicht statt. Etwas an diesem - für unsere Schulverhältnisse anarchistischem - Statement musste wie ein Blitz auf verwandte Schichten gestoßen sein und sie für einen Augenblick zum Glimmen gebracht haben. Versinken die Sedimente des Schulalltags mit seinen Anforderungen, Notlösungen, schalen Routinen, hektischen Fehlerjagden, Niederlagen, Freuden, Highlights, Anarchien und Fesselungen ungeordnet, ungefiltert, nicht erfühlt, unbeobachtet, wie ungelebt geronnenes Leben in den Tiefenschichten des Unterbewusstseins ? Werden sie in solchen blitzartig erhellten Situationen für kürzeste Zeit wieder nach oben gespült ? Und verbieten wir uns das Nachdenken, die Selbstreflexion, weil wir das fragile Fundament von vermeintlicher Ordnung nicht antasten wollen ? Schwebende Unsicherheiten, die einem Begriff oder einer Aussage eigen sind, entfalten Möglichkeiten und verlangen nach einer Entscheidung, wie in der Quantenwelt, in der entweder

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nur die Welle oder das Teilchen beobachtet werden kann. Entscheide ich mich, das Kind als Schüler zu sehen, werde ich letztlich mit dem roten Notenbüchlein herumfuchteln müssen. Ist das Kind für mich ein Kind, das auf faszinierende Weise seine Wirklichkeit konstruiert und das Potential seines Wesens entfaltet, dann muss ich mich zurücklehnen, es im Prozess seiner Entfaltung beobachten, es begleiten, ihm Angebote machen und die Orientierung zu geben versuchen, die es in seinen aktuellen Entwicklungsprozess zu integrieren in der Lage ist. Es kommt also immer auf den Beobachter an. Mir scheint, zum qualifizierten Nichtstun kann ich mich nicht entscheiden. Um nichts zu tun, muss ich mich qualifizieren ? Oder im Umkehrschluss: Muss ich nichts tun, um mich zu qualifizieren ? Heißt das nicht, zwei Eigenschaften zu einer Eigenschaft zu formen, die sie vorher nicht besessen haben. Das klingt nach Emergenz: "Eine emergente Eigenschaft ist mehr als die Summe der Teile, sie geht als etwas Neues aus der Ansammlung der Teile hervor und kann nicht sinnvoll auf diese reduziert werden." 1) Bewirkt allein die Kombination zweier Funktionen oder Eigenschaften aber bereits Emergenz? Wie beim Geigenspielen die rechte und die linke Hand unterschiedliche Funktionen ausüben und doch beide zusammen etwas bewirken, das sich nicht auf eine der Funktionen reduzieren lässt. Weil beim Fahrradfahren die Funktionen Treten, Lenken und Balance eben das Fahrradfahren ergeben, kann ich meine Beobachtung nicht auf das Treten reduzieren, weil dann Lenken und Balance beeinträchtigt werden. Einem Kind das Radfahren nach schulischem Usus beizubringen, erscheint uns absurd. Dem Kind kann Hilfestellung gegeben werden, radfahren muss es letztlich selbst auch um den Preis, dass es vor die Wand fährt, weil es sich zu sehr auf das bewusste Treten konzentriert hat wie das kleine Mädchen, das, völlig auf das Klingeln konzentriert, in einen Pulk schwatzender Hausfrauen hineinfährt und das Bremsen vergisst. Es selbst tun wollen, immer und immer wieder. Selver, ein Mädchen aus der 1. Klasse, kommt jeden Tag seit Beginn des Schuljahres um 12.10 Uhr zu mir. Sie wartet auf ihren größeren (türkischen) Bruder, der um 13.00 Uhr nach Hause gehen kann. Selver sagt nichts, steht nur da und schaut mich mit ihren großen braunen Augen an. "Über" etwas kann ich mit ihr nicht reden. Sie setzt sich hin, nimmt ihr Sabefix, legt den nächsten Programmbogen ein, schaut nach, welche Kontrollplättchen sie benötigt und kommt nur und fragt, wenn sie wirklich eine Aufgabe, die Bedeutung eines Bildes oder Wortes auf dem Programmbogen nicht versteht. Sie schaut, sucht ein Plättchen, probiert es aus, stutzt, wenn das F-Plättchen nicht zu dem Bild von "Wasser" passt, nimmt ein neues, passt es an usw.. Wieviel Male wiederholt sich bei einem Programm dieses Spiel von trial-and-error ? Während der ersten 25 ( von insgesamt 150 ) Programmen von "Lesen durch Schreiben", in denen es auf drei Repräsentationsebenen (Zeichen, Bilder, Buchstaben) bei 8 lediglich um einfache Zuordnungen (Zeichen zu Zeichen usw.) geht, muss Selver bei 17 Programmen bereits mehrfache Zuordnungen vornehmen: Bildplättchen zu Anfangslautwerten und Buchstaben, Bilder zu den Anfangslautwerten anderer Bilder, Zeichen von Bildern zu den gleichen Anlautwerten anderer Bilder usw.. Was geschieht eigentlich mit Selver während sie die ersten 25 Programme durcharbeitet, bei denen sie 152 Zeichenplättchen, 383 Buchstabenplättchen und 102 Bildplättchen nicht nur 1:1 zuordnen, sondern in der beschriebenen Weise jeweils eine andere Repräsentationsebene

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mitbedenken muss ? Wieviele Male denkt sie die Lösung mit einem Plättchen, um es als unpassend wegzulegen, es noch einmal zu probieren ... Dieser Prozess kann keine nur mechanische Übungs- und Wiederholungsprozedur sein, weil in ihm die ständige Denkfigur "Das Plättchen ist es ! Nein, vielleicht es dieses, weil ..." eine Variationsdichte auf zittriger Basis entstehen lässt, die einen immanenten Lösungsimpuls generiert, der mit der richtigen Passung eines Plättchens in das andere zusammenbricht und sich wieder bildet bei dem mit der nächsten Aufgabe verbundenen Plättchen. Vielleicht lässt sich dieser Prozess vergleichen mit einer Sequenz der Anfangsphase beim Erlernen des Bogenschießens im Zen: Der Bogenschütze macht sich vertraut mit dem zwei Meter hohen Bambusbogen und der Sehne. Er sucht sich den Platz für seine Bogenhand, ertastet in immer wiederholter Übung des Bogenspannens den millimetergenauen Platz am Bogen, bis er "weiß", dass Bogen und Hand miteinander verbunden sind. Auch in diesem Prozess scheint Emergenz auf: "Gibt man einfachen Regeln Gelegenheit, genügend lange oder auf entsprechend viele Elemente zu wirken, treten völlig neue Eigenschaften auf: sie emergieren, brechen durch, tauchen auf, kommen zum Vorschein." 2) Lesen scheint irgendwann einfach da zu sein. Kein Wunder, dass Nico nicht wusste, dass er lesen gelernt hatte. "Emergenz (ist) eine ganz allgemeine Eigenschaft aller begrenzten Systeme. Man kann sie nicht vorausberechnen oder den Elementen im voraus ansehen, wohin sie sich entwickeln werden." 3) Nico kam einmal geladen aus der Pause in die Klasse, sein kleines Gesicht ganz zerknautscht vor Wut. Er strich in der Klasse herum, ging dann zu einem kunstvollen Bauklotzturm, der vielleicht zwei Meter hoch schon seit drei Tagen in der Bauecke stand. Alle Kinder, die dort bauten, gingen vorsichtig um den Turm herum. Ich sah wie Nico die Hand ausstreckte, um den Turm niederzustrecken und schrie ihn an, er solle das gefälligst lassen. Einige Minuten später stand Nico an der Tafel und schrieb. Erst als sich einige Kinder vor der Tafel versammelten, wie sie das immer taten, wenn jemand etwas an die Tafel geschrieben hatte, ging ich hin und versuchte, das was Nico geschrieben hatte zu entziffern: " Wüni isei brlaf." Normalerweise gingen die Kinder mit dem Kommentar: "Heißt ja nix !" fort, wenn sie nicht erkennen konnten, was der Schreiber meinte und sie von ihm, wie Nico es tat, keine Hilfe bekamen. Aber "Wüni" konnten alle erkennen. Was ist also mit dem ? Das Rätselraten begann, lange Zeit, und Nico wurde beschimpft, weil er keine Hilfe gab. Schließlich ging er hin und meinte: "Da fehlt ein ü" und fügte es ein: "brülaf' . Nun war klar, was ich war, ein "Brüllaffe". Kathrin korrigierte den Satz noch: "Wüni, is ein brülafe", das interessierte aber schon niemanden mehr. Schreiben macht Sinn. Wenn die ersten Schimpfwörter auftauchen: "Mischa dep", "aschlch simon", dann interessiert das jedes Kind und macht implizit deutlich, dass nur erkennbar geschriebene Wörter verständlich sind. Aber müssen es ausgerechnet Verbalinjurien sein? Jetzt nichts zu tun, stößt an meine Grenzen. Also: keine Beschimpfungen anderer Kinder. Wer sich beschweren will, soll das auf einem gelben Post-it-Zettel mit seiner Unterschrift versehen tun und an die Pinnwand kleben. Auf rote Post-it-Zettel sollen die angenehmen Botschaften notiert werden. Ein halbes Jahr lang war diese Pinnwand ein beliebtes Forum für gute und schlechte Botschaften.

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Das Verhalten der Kinder so mit den eigenen Grenzen und Möglichkeiten abzutasten, dass zwar die Handlung erwünscht bleibt, aber nicht deren Bedeutung, macht eine Transformation erforderlich, die Entwicklung zulässt. Die Prozesse der Kinder und den Gruppenprozess der Klasse mit einer freischwebenden Aufmerksamkeit und präsenter Wachsamkeit wahrzunehmen, setzt einen Bewusstseinszustand voraus, in dem die Aufmerksamkeit gleichsam umgelegt wird vom aufdringlichen Vordergrund objektivierter pädagogisch-didaktischer Zielvorstellung auf den verstellten Hintergrund eines frei fließenden Stromes von Wahrnehmungsinhalten, die wenigstens für eine kurze Zeit ungedeutet, unklar, unsicher, chaotisch bleiben - also die grobe Körnung unserer zieldefinierten Wahrnehmung zugunsten einer subliminalen Wahrnehmung verlieren. Beim japanischen Bogenschießen - mein Beispiel für Emergenz - muss das Spannen und Schießen aus einer einheitlichen, Muskeln und Atmung völlig entspannten, geistig fließenden Bewegung machtvoll und doch mühelos erwachsen. Jahrelange Übung immer desselben Vorganges führen nur dann zum Ziel, wenn mit der ständigen Übung, die bewusster Beobachtung nicht mehr bedarf, eine tiefgehende Auseinandersetzung des Schützen mit sich selbst einhergeht und er alle Tiefen der Verunsicherung, der verlorenen Selbstsicherheit durchlebt, obwohl er seine Fertigkeiten ständig perfektioniert - bis er nach Jahren mit dem Bogen "geistig" schießen und treffen kann also auf qualifizierte Weise "nichts" tut. Sich als Lehrer dem vorherrschenden didaktisch-methodischen Verwurstungszwang in der verwalteten Unterrichtswirklichkeit in dem Maße zu entziehen, damit hinreichend Raum für die Wahrnehmung der Kinder und die eigene Selbstbeobachtung bleibt, bedeutet die Erfahrung von Unsicherheit, Uneindeutigkeit, Verlust an vermeintlich sicheren didaktisch-methodischen Identitäten, Scheitern der bürokratischen Kontrolletti-Mentalität zu machen, das Aushalten einer didaktischen Unwägbarkeit und ein gerüttelt Maß an Zeit für die Einrichtung und Vorbereitung von anregenden Lernumgebungen und -materialien einzuplanen. Da ist Meister Eckeharts Spruch nicht immer ein großer Trost: "Merket wohl, alle nachdenklichen Gemüter, das schnellste Ross, das Euch zur Vollkommenheit trägt, ist Leiden." Da ist noch ein Ross: die Neugierde geschockt mit der Freude an sich entwickelndem Leben. Wenn Nico wie eine Biene von Blüte zu Blüte durch die Klasse irrlichtert, Sven schreit, dass der Computer ihn betrügt, Selver zäh und unnachgiebig ihre Programme durcharbeitet, Sven aggressiv Wünsche äußert, die ich ihm manchmal erfülle und manchmal nicht, und Jennifer, Svens kleinere Schwester, jeden Tag mit der Fibel unterm Arm, in der sie nie "lesen" muss, erwartungsvoll kommt und sich ihr Sabefix mit nach Hause nimmt, dann treibt diese Kinder doch was. Das kann nicht nur ich sein, weil ich mit ihnen relativ allein, zu zweit oder dritt arbeite und ihnen also die Aufmerksamkeit widmen kann, die sie brauchen. Sie arbeiten nämlich alle weiter, wenn ich den Raum verlasse. Auch Nico arbeitete auf seine für mich chaotisch erscheinende Art und Weise. Sie wollen schreiben und lesen lernen. Sven will seinen Fähigkeiten entsprechend gefordert sein. Das sagen sie nicht. Aber warum sollte sich ein Kind an diese doch zunächst mühevolle Arbeit begeben, wenn sie ohne Ziel sind. Ich schreibe ihnen kleine Zettel, persönliche und auch welche zu ihren Aufgaben, sie schreiben mir welche, wir entziffern sie zusammen. Sie werden mit einer für sie dichten Komplexität konfrontiert und verzagen nicht und das bereits in einem ganzen Schuljahr, ein bis zwei Stunden am Schultag.

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Das Leben in der Schule wird und ist trivial, wenn wir unserer didaktischen Zielbewusstheit entsprechend alle Prozesse vorauszusagen versuchen wie eine gerade Linie, mal um 90 Grad im Uhrzeigersinn geknickt, mal umgekehrt. Sie ist weniger trivial, wenn wir das erwarten, aber merken, dass diese Erwartungen - so wie es, jedenfalls in meinem Erfahrungskreis - oft ist nicht erfüllt werden. Dann passt was nicht. Dann muss gerade gerückt werden und wenn die gerade Linien sich beulen. In beiden Fällen bekommen wir über Kinder und ihr Lernen nur Informationen, die in unser zugelassenes Erfahrungsmuster passen, also herzlich wenige bis keine relevanten Informationen. Das Zulassen von Unüberschaubarkeit, Unvorgesehenem, Unordnung und Chaos ist nicht trivial. Eine gerade verlaufende Linie kommt in der Natur nicht vor, hat kaum Information. Ein Regentropfen, der seinen Weg nimmt, zögernd, fallend, holpernd, verströmend spricht unsere Sinne an, macht neugierig, hat also viel Information. Qualifiziertes Nichtstun in der Schule liegt für mich in der gespürten Balance von didaktischer und auch methodischer Zielbewusstheit, die verbunden ist mit Disziplin und immerwährender Einübung von Fähigkeiten und dem reflektierten Zulassen von Unordnung, in dem vielleicht die Ahnung aufblitzt, dass das Geschlossene, Gebundene die Offenheit, die Offenheit für mich selbst, für das Leben impliziert. Auf der Basis eines pädagogischen a priori, dass Kinder potentiell große Teile ihres Lernens selbst in die Hand nehmen können, ergibt sich eine oszillierende Wahrnehmung und Reflexion von didaktischem Arrangement mit klaren Regeln und der stets präsenten Erfahrung unordentlicher Oberschaubarkeit und deren Geheimnisse, die neugierig machen. Die Balance auf der Grenze zwischen beiden Arealen scheint das qualifizierte Nichtstun auszumachen. Das Komplexe, Interessante, das unser Selbst Fordernde und Umformende, das Lebendige ist nur in der Mitte von Chaos und Ordnung anzutreffen. 1) William H., Calvin: Die Symphonie des Denkens. Wie Bewußtsein entsteht; München 1995, S. 153 2) Tor Norretranders: Spüre die Welt. Die Wissenschaft des Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1997 (Rowohlt), Seite 518 3) a.a.O., Seite 519

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Text-D06 Walter Hövel Jürgen Reichen und die Freinetpädagogik erschienen in: Fragen und Versuche, Heft XX, 1999 Jürgen Reichens Wirken und die Freinetpädagogik der deutschsprachigen Europäer begegnen sich seit vielen, vielen Jahren. Sie begegnen sich, wo seit noch mehr Jahren um die permanente Erneuerung des Lernbegriffs, die Erweiterung des Wissens darüber, wer und was eigentlich Kinder sind und die konkrete Humanisierung der Schule gerungen wird. Hier gibt es - wie es in einem großen Bekanntenkreis ist - vielfältige Verhältnisse, von großer emotionaler und intellektueller Nähe bis hin zu ungeklärten und geklärten Distanzen. In Deutschland haben die meisten FreinetpädagogInnen das „Lesen durch Schreiben“ Jürgen Reichens während der letzten 20 Jahre übernommen, in der deutschsprachigen Schweiz viele, und in Österreich einige. 1)

Die Praxis der Freinetpädagogik ging immer davon aus, dass das Schul-ABC und der dazu gehörige Fibellehrgang Lesen- und Schreibenlernen mehr verhindert als fördert. Auch hing die Freinetpädagogik nie der leider in der Alltagspraxis umgesetzten Theorie der Schuldidaktik an, dass Schreiben und Lesenlernen zwei verschiedene Dinge sind, die nur durch kleinschrittigstes Andrillen „in einem gut geplanten Unterricht“ erlernt werden können. Vielmehr war Freinet „Frühreichenianer“. Er beschrieb bereits vor Jahrzehnten, dass das Lesen- und Schreibenlernen selbstgesteuerte Prozesse sind, bei denen das Schreiben vor dem Lesen kommt. Freinet verfasste hierzu einen Aufsatz 2), in dem er den Lesen- und Schreibenlernprozess seiner Tochter schildert. Er ordnet seine Beobachtungen in seine Theorie der „Natürlichen Methode“ ein und spricht von der „natürlichen Aneignung der geschriebenen Sprache“ 3). Warum passt dieses „Lesen durch Schreiben“ so gut ins Konzept einer „natürlichen Methode“ des Lernens? Schon immer haben Freinetleute den Kindern keine Fibeln gegeben, sondern mit ihnen eigene Bücher und Schriftwerke hergestellt. Sie haben die Kinder nie in und durch ABC-Lehrgänge gezwungen, in denen sie ihre Fähigkeit, eine Sprache bereits zu beherrschen, vergessen sollten, um Buchstabe für Buchstabe das Sprechen, jetzt nur schriftlich, neu lernen zu müssen. Sie haben die Kinder nie auf ein Selbstbewusstsein stehlendes Fu-, Ati- oder Elo-Niveau heruntergezwungen. Vielmehr haben sie den Kindern immer verschiedene Lernangebote gemacht und ihnen den Raum und die Zeit für ihre eigene Entwicklung gelassen. Bei vielen Kindern war und ist dies die Zeit für das Zeichnen und Malen, falls ihnen ihr Elternhaus oder der Kindergarten diese erste notwendige Phase des Lesen- und Schreibenlernens nicht geboten hatten. Andere wollten gar nicht schreiben, sondern sich mit dem Bauen, Spielen, Experimentieren oder Erforschen beschäftigen. Für andere Kinder haben wir als LehrerInnen kleine Sätze und Geschichten, die die Kinder selbst erzählten, aufgeschrieben. Sie haben sie abgeschrieben oder mit der Druckerei oder dem Stempelkasten gesetzt oder mit der Schreibmaschine oder dem Computer getippt. Wir haben ihnen alle Buchstaben auf einmal gegeben, und sie aufgefordert - wie bei den Erwachsenen gesehen - zu schreiben.

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Wie genial und einfach war es für uns nun, die Lautierungstabelle, das bereits berühmte Buchstabentor des Jürgen Reichen den Kindern zu geben. Wir brauchten ihnen nur zu zeigen, dass das gesprochene Wort aus Lauten besteht, für die die Erwachsenen Zeichen schreiben, die sie Buchstaben nennen. Diese Tabelle erlaubt es den Kindern, sofort, ohne jeden Lehrgang, ihr Lernen selbst in die Hand zu nehmen. Die Anlauttabelle ist das Steuer, das wir ihnen anbieten, sie können es selbst in die Hand nehmen und Dank der „natürlichen Methode“ des Lernens das „Verschriftlichen“ selbst lernen. Wie bei Freinet beschrieben, aber bei ihm noch nicht als Angebotstechnik entwickelt, lernen die Kinder so das Lesen durch das eigene selbständige Schreiben. Und dann können sie, von einem Moment zum anderen, lesen, von einer Sekunde zur anderen geht, wie Maria Montessori einmal sagte, „das Licht an“. Das Sensationelle ist, sie können alles, was für sie sprachlich verständlich ist, lesen. „Jedes Wort der Welt“ können sie mit der Anlauttabelle verschriftlichen und jetzt verstehen sie jeden Satz, den sie lesen. All diese methodischen Klimmzüge der didaktisierten Schule um zum „antrainierten Lehrgangslautvorlesen“ das „sinnerfassende Lesen“ nachzuquälen, entfallen. Die Kinder verstehen ganz einfach, was sie lesen. Und jetzt beginnen sie in der Freinetklasse, bewusst zu schreiben. Wir haben ihnen wortwörtlich, mit der Hilfe Jürgen Reichens, wie wir es ausdrücken, „das Wort gegeben“. Sie beginnen ja bereits mit ihrem ersten geschriebenen Wort ihren ersten eigenen Text zu schreiben. Eine lückenlose Entwicklung hin zum „richtigen“ freien Text beginnt. Hier ist Jürgen Reichen aus meiner freinetpädagogischen Sicht für unsere Pädagogik eine große Bereicherung, hier stimmen wir überein, wie etwa auch bei seinen Ansichten über das Rechtschreiben 4), über die Selbststeuerung des Lernens, über die Funktion der Fehler, über die Erkenntnis, dass in jeder Klasse mindestens ein Kind intelligenter ist als wir selbst, über die Bedeutung der Anpassungsfähigkeit von Kindern für ihr Lernen, über den unsystematischen Umgang der Kinder mit ihrem eigenen Lernen, über das qualifizierte Nichtstun, oder die Notwendigkeit vom Abbau von Hierarchien in der Entwicklung und Verwirklichung von kleinen und großen Menschen. Aber einige Dinge erwähnt er nicht, was irritiert. Etwa äußert er sich nicht zur Notwendigkeit der Mal- und Zeichnenphase als Beginn des Schreib- und Leseprozesses oder der Beobachtung, dass Kinder in der Anfangsphase des Schreibens nur schreiben, was sie auch malen können. Oder er setzt sich scheinbar nicht damit auseinander, dass es Kinder gibt, die schon lesen können, ohne jemals geschrieben zu haben. Oder gibt es nicht Kinder, die „Wahrnehmungsstörungen“ 5) haben und ganz andere Wege brauchen, um das Schreiben oder Lesen zu lernen? Hierzu die Geschichte eines Kindes aus meiner Klasse: Sascha konnte mit dem Buchstabentor nicht arbeiten. Er hörte seine eigenen Worte, aber er konnte keine Laute erkennen, bzw. sie als Zeichen auf das Papier bringen. Er schrieb nichts und verstand nichts. Er lernte das Schreiben, als er das Hören und Aufschreiben jedes einzelnen Lautes immer wieder trainierte. Dann lernte er in dieser alten, absolut verschulten Lernweise zwei Laute zu verbinden. Dies dauerte Monate. Der Versuch mit der Anlauttabelle zu arbeiten - und ich und er versuchten es immer wieder- blieb ohne jeden Erfolg. Eines Tages, Ende des ersten Schuljahres, stellte ich die Matheerfindung 6) eines Kindes der Klasse an der Tafel vor, sie lautete: „4-1-18-9-14-11-1“. Nach einiger Zeit hatten die Kinder heraus, dass die Zahlen eine Chiffrierung unserer Buchstaben waren, also die 1 für A stand, die 2 für B und so weiter und das Darinka ihren Namen geschrieben hatte. Dann schrieb

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ich an die Tafel: „16-21-8-5“, drehte mich herum und fragte: „Was steht da?“ Ohne eine Sekunde Bedenkzeit rief Sascha: „Da steht RUHE“. Und seit diesem Tag konnte Sascha sinnerfassend lesen. Meine Theorie zu diesem Vorgang ist hier nicht relevant. Relevant allerdings ist eine fundamentale freinetische Überzeugung: So wichtig und notwendig alle neuesten und noch immer gültigen erkenntnistheoretischen, biologischen, psychologischen, politischen oder sonstwie wissenschaftlichen Forschungsergebnisse über das Wesen der Kinder für unsere tägliche Praxis sind, so wichtig ist es auch niemals zu vergessen, dass jedes Individuum anders lernt, besonders Kinder. Ich spreche hier nicht - damit keine Missverständnisse aufkommen - für die Beliebigkeit von Methoden oder für die Zauderer und Inkonsequenten, die dann doch wieder Buchstabentage feiern, Buchstaben im Spielchen oder in Statiönchen für alle mit allen Sinnen einführen, die glauben, ihre eigenen Unsicherheiten an den Kindern auslassen zu müssen. Ich bin überzeugt davon, dass jene didaktisierten Methoden, wenn sie für alle, gleichschrittig und gleichzeitig angewandt werden, mehr Unheil anrichten, als dass sie lehrreich wären. Aber auch ein „Lesen durch Schreiben“ darf nicht die einzig mögliche Methode werden. Sie ist - und hier bin ich ganz „Freinetiker“ - ein Angebot für Kinder. „Lesen durch Schreiben“ ist vielleicht ein von mir favorisiertes, aber es gibt auch andere, ob es das alte Angebot der Freinis ist, einen eigenen Text abzuschreiben, ob es Hilfen durch Gebärdensprache sind, ob es im Einzelfall die absolut verschulte Methode des „Einbimsens“ wie bei Sascha, ist oder, ob der Lernweg ganz alleine dem Kind überlassen bleibt, das gar keine Hilfe braucht ... Als Freinetpädagoge möchte ich mich davor hüten, einen methodischen Weg zu einer möglichen didaktischen Sackgasse auszubauen. Für mich hat „Lesen durch Schreiben“ als „Arbeitstechnik“ noch eine andere ganz zentrale Bedeutung. Schreiben und Lesen sind für mich nicht einfach Fertigkeiten, die mir Zugang zu Daten, Wissen und Kommunikation und Kooperation ermöglichen oder erleichtern. Schreiben bedeutet für mich zu allererst freier Ausdruck, Erfahrung, Wahrnehmung, Konstruktion und Sinnfindung von Welt und meiner selbst. Schreiben bedeutet für mich Wahrnehmen durch Schreiben, Sich-Ausdrücken durch Schreiben, Verstehen durch Schreiben, Verändern und Erhalten durch Schreiben. Oder um es einfach zu sagen: In Freinetklassen lieben die Kinder das Schreiben auch noch nach einigen Jahren Schule. Sie drücken sich selbst und ihre Welt in freien Texten aus. Mir sind Klassen begegnet, die „Lesen durch Schreiben“ sehr konsequent praktiziert haben, aber die Kinder schreiben nicht gerne. Mir geht es nicht darum, dies der Methode anzuhängen, es mag an den Lehrpersonen, die z.B. selbst keine überzeugten SchreiberInnen waren, oder anderen Umständen gelegen haben. Aber dadurch ist mir klar geworden, warum Freinetpädagogen so gut mit „Lesen durch Schreiben“ arbeiten können. Schon die ersten geschriebenen Wörter der Kinder sind ihre eigenen Worte. Jene Einwortsätze, die bald folgen, jene ersten zusammenhängend geschriebenen Gedanken, sind freie Texte der Kinder. Mit der Zeit schreiben sie ihre Texte immer länger und qualifizierter, aber sie schreiben immer aus eigenem Antrieb. Es gibt keine Fremdbestimmung, ob es sich um die Beschriftung eines Plakats handelt, eine Geschichte, einen Liebesbrief, das Aufschreiben einer Frage zur Welt 7), einer Nachricht oder einer eigenen Kinderlyrik. „Lesen durch Schreiben“ nur als Mittel zum Zweck verstanden, kann seelenlos sein, - eingebettet in Freies Schreiben und Freien Ausdruck wird das Schreiben befreiend und lustvoll bleiben.

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Ich habe das Gefühl, dass die Freinetpädagogik zu Jürgen Reichen, zu seinem „Lesen durch Schreiben“, zum Werkstattunterricht und vielen weiteren seiner erfrischenden und wertvollen Gedanken, ein einfacheres Verhältnis hat, als Jürgen Reichen zur Freinetpädagogik. Jürgen Reichen ist für mich ein Mensch, der aus der Schule derer kommt, die sich Schule und Kind aus einer wissenschaftlichen Sichtweise nähern. Für mich ist er Psychologe und Didaktiker, auch wenn er das letzte vielleicht nicht gerne hört (oder wenn ich mich schlichtweg irre). Seine Einsichten und Erkenntnisse, die er durch harte, jahrelange Forschungsarbeit und (!) ein klares waches Auge auf die Wirklichkeit und die eigene Reflexion auf das Wahrgewonnene gewinnt, setzt er in Schule absolut geplant und konsequent um. Er weiß im Voraus was er tut. Dass er hierbei zu Korrekturen und neuen Einsichten fähig ist, hat etwas damit zu tun, dass er ein Künstler im Umgang mit diesen Techniken und Werkzeugen der Pädagogik und Psychologie ist. Um ein Bild Bertold Brechts zu gebrauchen, er gehört nicht zu denen, die gute Erfahrungen der Vergangenheit nur wieder Grau in Grau nachmalen, so dass seine Bilder wie gute, aber doch als Schwarzweißfotographien anzusehen sind, sondern er versteht es, mit bunten Farben Neues, Zukünftiges zu malen. Deshalb vertragen ihn so viele Psychologen, Didaktiker und „Wissenschaftler“ nicht! Er traut dem Alten, selbst scheinbar Richtigem nicht, er ist unbequem, weil er mit den Mitteln des eigenen Lagers die falschen Handlungsweisen ihrer Theorien von Schule und Lernen beschreibt. Er schneidet alte Zöpfe ab. Er bietet eine bessere Didaktik an als die vorhandene „Didaktik“. Er plant nicht den Unterricht, wie es eine falsch verstandene Wissenschaft und Didaktik seit Jahren an Universitäten und in der Lehrerausbildung Generationen von Lehrerinnen und Lehrern predigten. Jürgen Reichen folgt nicht diesem Irrweg, er ist dem „Lernen“ selbst auf der Spur. So gelangt er beim Kind an, und muss hier zwangsläufig auf Freinetpädogogen stoßen. Aber er zieht nicht unsere Konsequenzen, die Konsequenz, nicht für das Lernen der anderen, sondern die Verantwortung für das eigene Anbieten und Vermitteln zu übernehmen. Er behält den „mächt“igen Anspruch der Verantwortlichkeit als Lehrer für das Lernen der Lernenden. Aber er beginnt „das Lernen selbst“ zu planen und befähigt sich damit selbst, im Lern-Prozess den Lernenden ihre Lern-Verantwortung zurückzugeben. Er entwickelt so etwas wie eine aufgeklärte neue „Lern-Didaktik“. Wie wenig muss er da manchesmal die (Un)art vieler FreinetpädagogInnen vertragen, wenn sie sich in ihre Praxis hineinstürzen, im Handeln und Leben und Lernen korrigieren, Fehler machen, aber vor allem: Sie planen nicht minuziös, sie planen nur ihre Planung und erweitern ständig das Repertoire ihrer Werkzeuge zum Begleiten der Lerner und ihres Lernens. Sie sind eben keine Didaktiker, sie sind - wie es Freinet nannte - „Arbeiter“. Sie arbeiten sich mit den Kindern durch deren und ihr eigenes Lernen, zwischen tastenden Versuchen der Kinder und Angeboten der Erwachsenen, hindurch. Wie mag er damit umgehen, dass wir sein „Lesen durch Schreiben“ zu einer weiteren unserer „Arbeitstechniken“ machen, die wir in unser Gesamtsystem einordnen 8)? Wir machen es zu einem Werkzeug unserer Auffassung von der „natürlichen Methode des Lernens“. Dies hat zwar viel gemein mit seiner Auffassung vom „selbstgesteuerten Lernen“, aber ist dies identisch mit der „méthode naturelle“? Zudem mag die Theorie der „méthode naturelle“, wie sie Freinet entwickelt hat, wissenschaftlich durchdrungen sein, aber für Jürgen Reichen, als wissenschaftlich denkender Mensch, ist hier die Freinetpädagogik vielleicht sympathisch oder erfolgreich, aber „unwissenschaftlich“. Er sagt gerne, dass wir zwar „intuitiv“ das Richtige tun, uns aber vorwerfen lassen müssen, dass uns die „Argumente“ fehlen 9).

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Aus einem weiteren Grund also ist unser Verhältnis zu Jürgen Reichen für uns einfach. Er liefert uns, zusätzlich zu einer hervorragenden Arbeitstechnik, wissenschaftliche Grundlagen und Erklärungen, die wir heute als Begründung für unser Tun brauchen können und auch einsetzen. So begleitet Jürgen Reichen die Freinetpädagogik seit fast zwei Jahrzehnten, als wäre er einer der unseren. Sein Name und seine Ansichten sind bei uns immer präsent. In Artikeln und Erfahrungsberichten über die Grundschularbeit wird er zitiert und gewürdigt. Wir laden ihn immer wieder zu Vorträgen ein, obwohl wir eigentlich so wenig von Vorträgen halten. In unseren Fortbildungen und bei unseren Treffen ist die Auseinandersetzung und Vermittlung von „Lesen durch Schreiben“ ein Standardatelier. In der Eltern- und Kollegiumsarbeit benutzen wir seine Materialien, Zitate und Filme. Er bietet uns einen wichtigen Teil der theoretischen Begründung unserer alten und unserer sich ständig modernisierenden Praxis (wie dies für andere Bereiche u.a. Paul le Bohec, Werner G.Mayer, Johannes Beck, Humberto Maturana, Heinz von Foerster, Annelie Keil, Hugo Kückelhaus, die Reggio-Leute, die Wilds oder andere tun). Er begründet, was wir tun, auch wenn er Schule anders macht. Er ist kein Freinetpädagoge, so wenig, wie die eben genannten. Jürgen Reichen ist für mich eben ein didaktischer Künstler, keiner der aus der Tradition der Reformpädagogik kommt. Wo Freinetleute Techniken zur Unterstützung der Lern-Arbeit der Kinder in einer sich mehr und mehr selbst organisierenden und selbst bestimmenden Schulkooperative anbieten, bietet er ein methodisch strukturiertes Lernfeld an, in dem die Kinder in wohl durchdachter Schularbeit auf ihre eigene Art selbstgesteuert lernen können. Die Begegnung von Freinet und Reichen ist mir so wichtig, weil er eine Begegnung, eine Verständigung zwischen dem modernen wissenschaftlichen Verständnis von Schule und der modernen Schule Freinets möglich macht. So gibt es im Detail scheinbar kleine, aber wichtige Unterschiede zwischen Reichen und uns, die weniger Jürgen Reichen durcheinanderbringt, als es einige unserer Leute gerne tun. Ateliers sind etwas anderes als Werkstätten, „Dienste“ und Klassenrat sind etwas anderes als das Chefsystem, ein Freier Text etwas anderes als etwas Geschriebenes, der Laut „a“ im Wort „Affe“ hat eine andere Bedeutung als der gleiche Laut im Wort „Armee“, die Natürliche Methode etwas anderes als selbstgesteuertes Lernen. Es gibt auch scheinbar größere Entfernungen, wenn Jürgen Reichen die Freinetpädagogik wieder einmal als kompensatorische Erziehung einordnet, wenn er ein veraltetes Material als Begleitung für SchülerInnen, und ein rezepthaftes Material für LehrerInnen des ersten Schuljahres zu „Lesen und Schreiben“ herausgibt, wenn er in seiner eigenen Ausbildung (Sommerkurse, Mentoren-ausbildung) für mich die Fehler der herrschenden Lehrerausbildung wiederholt und seine eigenen Erkenntnisse (oder die, die er bei den Freinis abschauen könnte) für die lernenden LehrerInnen nicht übernimmt oder übernehmen will. Aber vielleicht sieht er auch diese Dinge richtig, vielleicht muss er gar keine „bessere“ Fort- und Ausbildung machen. Vielleicht tut er auch dies mit Absicht und durchdacht ... und erfolgreich. Denn erfolgreich ist er. Sein Verdienst ist es nicht nur, etwas gezeigt zu haben, was schlicht und genial zugleich ist, sondern auch seine Art dies in seinen Vorträgen zu verbreiten. Bei seinen Vorträgen sitzen Lehrer und Lehrerinnen (!) mehrere Stunden, um fasziniert zuzuhören. Jeder seiner Sätze ist durchdacht, seine Inhalte sind wissenschaftlich eruiert und fundiert und - was Freinetpädagogen überzeugt - durch die eigene Praxis und die vieler anderer KollegInnen erfolgreich belegt. Er weiß wie er spricht, wenn er in Bildern redet und in (Tageslicht)-Bildern die

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geschriebene Sprache, also die Diktion der Wissenschaft, nachlesbar für die kritischen und den gegenüber Neuerungen oft misstrauischen Zuhörern schwarz auf weiß auf der Leinwand hinter sich anbietet. Er weiß, wann er provoziert oder aufklärt, vor welchem Publikum er redet. Er weiß vor allem, auf was er nicht eingeht, welche Fragen er überhört. Er weiß sogar, wann er sich aufregen muss und wann er eine Faust in der Tasche macht. Er ist ein Redner, weniger ein Schreiber. Er beherrscht auch hier die Palette seiner vorhandenen charismatischen und erarbeiteten Gaben als auch rhetorischer Künstler. Jürgen Reichen überzeugt. 1) Unsere KollegInnen in den romanisch sprachigen Ländern lehnen den Ansatz ab. 2) C.Freinet, La Méthode Naturelle, I. L’Apprentissage de la Language, Niestlé, Schweiz 1973; deutsch:

Boehncke,Heiner/Humbug,Jürgen, Schreiben kann jeder. Handbuch zur Schreibpraxis für Vorschule, Schule, Universität, Hamburg 1980, S. 32-64

3) Boehncke/Humbug, S.32 4) Jürgen Reichen, Rechtschreibung, Funktion und Didaktik, Bad Oldesloe, 1997 5) oder besser gesagt: die auffallend anders wahrnehmen und lernen als andere Menschen 6) vergleiche hierzu: Le Bohec, Paul, Verstehen heißt Wiedererfinden. Natürliche Methode und Mathematik, Bremen

1994, und Glänzel-Zlabinger, Angela, Von Kullersystemen, freien Texten und dem Lob des Fehlers. Freinetbewegte Wege im Mathematikunterricht, In: Hering,Jochen/Hövel,Walter, Immer noch der Zeit voraus. Kindheit, Schule und Gesellschaft aus dem Blickwinkel der Freinetpädagogik, Bremen 1996

7) vergleiche hierzu: Resch,Uschi/Hövel,Walter, Fragen zur Welt; In: Gradauer,Schreger,Wiedermann, Tastendes Versuchen, Wissenschaftliche Erkenntnis. Ein Dialog zur Aktualität der Freinet-Pädagogik, Wien 1996

8) vergleiche hierzu: Hagstedt, Herbert, Freinetpädagogik und Erziehungswissenschaft - ein gestörtes Verhältnis? In: Hering/Hövel, Immer noch der Zeit voraus

9) Reichen, Rechtschreibung, S.9 Text-D07 Lesen durch Schreiben Lesenlernen ohne Leseunterricht erschienen in: Grundschulunterricht Deutsch 2/2008 5 Seiten ohne fortlaufende Pagina

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Text-E01 Jürgen Reichen Zur Theorie und Anwendung «didaktischer Prototypen» erschienen in: Trier, U. P. (Hrsg.): Brennpunkte der Schulpraxis Bern/Stuttgart 1978 Inhalt 1. Problemstellung 2. Die «strukturelle» Auffassung des Lernens oder die Idee der «kognitiven Struktur» 3. Wertvolle Helfer: Ausubels «organizers» 4. Der didaktische Prototyp als «advance organizer» und «kognitive Ersatzstruktur» 5. Notwendigkeit einer neuen Unterrichtsorganisation 6. Der didaktische Prototyp und seine Funktionen im Unterrichtsprozess 7. Konstruktionsbedingungen didaktischer Prototypen 8. Ein Beispiel 9. Exkurs zur Frage, warum die Idee des Prototyps in der Didaktik bisher kaum aufgegriffen wurde. 10. Literaturverzeichnis 1. Problemstellung «Didaktische Prototypen», wie sie in diesem Beitrag vorgestellt und diskutiert werden sollen, wurden vor einigen Jahren durch W. ENNENBACH in die Pädagogik eingeführt (ENNENBACH 1969, DERS. 1970). Sie fußen auf Ergebnissen der modernen Wahrnehmungs- und Lern-psychologie sowie den theoretischen Grundlagen der «morphologischen» Psychologie W. SALBERS (SALBER 1965), welche in den letzten zwanzig Jahren an der Universität Köln entwickelt wurde. Ihrer Theorie nach gehören sie im weitesten Sinne in den Umkreis ganzheits- und gestaltpsychologischer Theoreme und weisen Querverbindungen auf zur «strukturellen» Auf-fassung der Lerntheorie, wie sie vor allem AUSUBEL (AUSUBEL 1974), entwickelt hat und im deutschen Sprachraum u.a. von SKOWRONEK (SKOWRONEK 1972) vertreten wird. Mit der Theorie des didaktischen Prototyps soll ein Beitrag zum Problem der Lernprozesse und - indirekt - zur Frage der Inhalte geleistet werden, indem ein Teil des sogenannten Psycho-Logik-Problems gelöst wird. Das prototypische Prinzip ist nämlich «nichts anderes» als ein Kunstgriff, durch den kognitive Strukturanteile des Lernsubjekts so mit didaktischen Bedeutungs-zusammenhängen des Lernobjekts vereinigt werden, dass für den Schüler eine allgemeine Lernvoraussetzung bzw. Lernbasis geschaffen wird, wie sie in der «strukturellen» Auffassung der neueren Lerntheorie gefordert wird. Bekanntlich fasst diese das Lernen als einen permanenten Umbildungsprozess auf, in dessen Verlauf sich die kognitive Ausrüstung eines Lernenden durch die Aneignung neuer elementarer Erkenntnisse strukturell verändert. Zur Bewältigung dieses Umbildungsprozesses kann ein didaktischer Prototyp eine Hilfe sein, da er bei der Organisation und Steuerung der lernenden Auseinandersetzung des Schülers mit dem Lehrstoff als elementares Ordnungsprinzip wirksam wird. Jedenfalls legen die Ergebnisse verschiedener empirischer Untersuchungen die These nahe, «dass Prototypen, die das Erleben, Erkennen und verstehende Nachgestalten von Funktions- oder Sinnzusammenhängen aufgreifen und strukturiert vermitteln, den Lernprozess intensivieren, konzentrieren, die Transferprozesse beschleunigen, wenn nicht gar bei manchen Schülern überhaupt erst ermöglichen und die selbständige Auseinandersetzung von Schülern mit ihrer Umwelt - auch und besonders "außerhalb, nach" der Schule - fördern» (WESTPHAL 1976, 18).

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Ein didaktischer Prototyp ist zunächst einmal - jenseits aller Theorie - ein didaktisch-methodisches Hilfsmittel, das die Aufnahme, Verarbeitung, Eingliederung, Speicherung und Wiederanwendung komplexer Informationen erleichtern kann. Ein Teil des schulischen Lernens wird dadurch effektiver, der leidige Prozess des Vergessens - crux vieler Lernbemühungen - wird eingeschränkt. Der Grundidee nach ist der didaktische Prototyp ein «graphisches Schema» oder «Graphogramm» (vgl. Abb.), das einen Lerngegenstand bzw. einen Stoffbereich in seinen Grundfakten sowie seinen Sinn- und Sachzusammenhängen symbolisiert und repräsentiert, aber dieses nicht allein unter sachlichen Gesichtspunkten, sondern so, dass die sachlogische Struktur des Lernobjekts in einer Entsprechung zur Erkenntnisstruktur des lernenden Subjekts abgebildet wird. Von der lerntheoretischen Intention her sollte der didaktische Prototyp also ein Vermittler sein zwischen der «Struktur des Lernobjekts» und der «Struktur bzw. Logik des Erkennens». «Beim Prototyp handelt es sich nicht um einen "natürlichen" Gegenstand, der wesentliche Kennzeichen eines Sachgebietes darstellt, sondern um eine Konstruktion, die den Ausgleich der Struktur der Sache und des Seelischen darstellt» (ENNENBACH 1970,136). Er soll dem Tatbestand Rechnung tragen, dass nicht «die Sachstrukturen die Erkenntnis- bzw. Lernmodi bestimmen sondern umgekehrt, dass das Repertoire an "kognitiven Strukturen" die Tendenz hat, die Perzeption und Verarbeitung der Lernobjekte zu bestimmen» (FREY 1973, 38).

(Wer den Prototyp «Heinrich IV.» nie erläutert bekommen hat, wird von sich aus wohl kaum seinen Bedeutungsgehalt entziffern können, es sei denn, er sei historisch über Heinrich IV. besonders gut informiert. Wer jedoch im Unterricht die historischen Tatsachen und Zusammenhänge, welche durch den Prototyp repräsentiert werden, erklärt erhielt, kann den Bedeutungsgehalt wieder rekonstruieren.) Im ldealfall geht der Prototyp von den «kognitiven Strukturen» der Lernenden aus und organisiert diesen entlang dann den Sachstoff. Seine spezifische Lernwirksamkeit erzielt er durch einen multifunktionalen Unterrichtseinsatz, dessen wesentlichstes Moment darin besteht, dass der didaktische Prototyp nicht nur - wie es nahe läge - im Sinne einer formelhaften Zusammenfassung des im Unterricht Gelernten an den Schluss des Unterrichts gestellt wird, sondern dass der Unterricht mit dem didaktischen Prototyp einsetzt. Dies ist möglich, weil der didaktische Prototyp die gesamte Information über den jeweiligen Lehrstoff zunächst nur verschlüsselt enthält und ein unmittelbares «Ablesen» der Information für einen Uneingeweihten nicht möglich ist. Erst der zugehörige Unterricht liefert nach und nach einen Verständnisschlüssel und mobilisiert dadurch im

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Schüler die notwendigen bedeutungsstiftenden Akte, welche dann zugleich das Verständnis des Lehrstoffes erleichtern. Dieser Verstehensprozess führt also vom Verständnis der Bedeutungs-gehalte der «graphischen» Teile des jeweiligen didaktischen Prototyps zum Verständnis der zugehörigen Sachverhalte. Auf die besonderen Implikationen dieses Vorgehens wird weiter unten näher eingegangen. Hier gilt es zunächst einmal einfach darzutun, dass es der didaktische Prototyp ist, der den Lernprozess sowohl eröffnet, lenkt als auch abschließt. Er ist damit ineins Anfang und Ziel. Während er am Anfang dem Schüler die Richtung seines Lernens nahe legt, fasst er am Schluss das Erarbeitete formelhaft zusammen. Die grundsätzliche Bedeutung dieses Verfahrens liegt dabei darin, dass es dem Lehrer ermöglicht, dem Erkennen der Schüler einen Aufbau anzubieten, wie er durch die neueren Erkenntnisse der strukturellen Auffassungen in der Lerntheorie nahegelegt wird. 2. Die «strukturelle» Auffassung des Lernens oder die Idee der «kognitiven Struktur» Die strukturelle Auffassung geht von der Annahme aus, dass jeder Mensch über eine Vielzahl von Begriffen verfügt, welche zueinander in - stärkeren oder schwächeren - Verweisungs-zusammenhängen stehen und in hierarchisch gegliederten, verzweigten Systemen gespeichert sind, welche kognitive Strukturen genannt werden. Dabei beziehen sich die konstituierenden Begriffe einer kognitiven Struktur weniger auf sinnliche, direkt wahrnehmbare Qualitäten, sondern mehr auf Bedeutungen und Bedeutungskomplexe. Weiter wird angenommen, dass in der Entwicklung eines Menschen, die weitgehend als eine Lern-Entwicklung zu verstehen ist, die kognitiven Strukturen anfänglich getrennt gebildet werden, im Verlauf der späteren intellektuellen Entwicklung untereinander aber eine wachsende Integration und Systematisierung erfahren, so dass ein immer weitergehender Ausbau kognitiver Strukturen eine immer wirksamere Aus-einandersetzung mit der Umwelt gestattet. Unter dieser Voraussetzung ist die bestehende kognitive Gesamtstruktur von größter Bedeutung für das Lernen, weil sie als ein Kontext von Bedeutungen und verwandten Begriffen die Voraus-setzung für den Neuerwerb weiterer Begriffe bildet, ist doch die wichtigste Bedingung für weiter-führendes Lernen die Verankerungsmöglichkeit des neuen Lehrstoffs an relevanten Begriffen der bereits bestehenden kognitiven Strukturen. Sucht man von diesem Grundtatbestand her nach Möglichkeiten, Lernen zu erleichtern bzw. Lernprozesse wirksamer zu steuern, so drängen sich für die beiden wichtigsten Partner im Lerngeschehen, den Lehrer und den Schüler, folgende Regeln auf: Der Schüler sollte von kognitiven Strukturen her lernen, der Lehrer sollte auf kognitive Strukturen hin lehren. Im Sinne eines allgemeinen Grundsatzes sind diese beiden Regeln von der neueren Lerntheorie und Didaktik weitgehend akzeptiert worden. In curricularer Hinsicht aber haben sie sich allerdings kaum durchgesetzt, was mit größter Wahrscheinlichkeit darauf zurückzuführen ist, dass der Begriff der «kognitiven Struktur» vorderhand noch sehr abstrakt ist. Niemand kann bis heute bereits genau irgendwelche kognitiven Strukturen in ihren Inhalten und ihrem Aufbau darstellen. WEINERT z.B. formuliert die Erkenntnisse auf diesem Gebiet sehr einschränkend, wenn er schreibt: das Lernen scheint «umso effektiver zu sein, ... je besser das neu zu Lernende in einen verfügbaren Wissens- und Verstehenshorizont eingebettet werden kann» (WEINERT zitiert in FREY 1973, 28). Auch die Aussagen der maßgeblichen amerikanischen Autoren sind von ähnlicher Allgemeinheit. Für FREY zeigt dieser Allgemeinheitsgrad an, dass die Bedeutung der «kognitiven Struktur» für die Praxis der Unterrichtsgestaltung vorderhand hauptsächlich im Programmatischen

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liegt. Entsprechend wird in Einleitungen und wissenschaftlichen Begleitbüchern zu Curricula neuerdings oft eine Allusion zur «kognitiven Struktur» hergestellt, um auf diese Weise eine Orientierung an der Denkpsychologie zu betonen. FREY schreibt: «In Einleitungen zu Curricula- und Unterrichtseinheiten finden sich oft Hinweise darauf, dass bei der Gestaltung der Unterrichtspläne die Erkenntnisse der Psychologie über «kognitive Strukturen» benutzt worden seien. Es wird dabei angeführt, dass neben den Fachstrukturen die Psychologie als Grundlage für die Unterrichtskonstruktion verwendet worden ist ... Leider muss man annehmen, dass solche pauschalen Begründungen und Verweise mehr die Funktion des Alibis für die Verwendung der Denkpsychologie haben, als den Zweck, daraus Technologien für die Unterrichtsgestaltung abzuleiten. Zuerst müsste geklärt sein, was mit der kognitiven Struktur oder dem kognitiven Stil gemeint sein soll. Denn kognitive Struktur oder Strukturierung hängen als psychologischer Ausdruck vom Ansatz ab, wie Produkte von Denkprozessen analysiert werden, um evtl. Rückschlüsse auf Denkabläufe zu ermöglichen» (FREY 1973,27). Es scheint daher, als ob «das Postulat betreffs die kognitive Strukturierung durch den Lerner in diesem Zusammenhang mehr ein Postulat oder Programm ist als eine Anleitung mit festen Anhaltspunkten» (FREY 1973, 28). Seine «Hauptbedeutung liegt mehr im Normativen für die Curriculumphilosophie und für die Prinzipien beim Aufbau von Curricula. Das bisherige Prinzip der alleinigen Dominanz und zeitlichen wie systematischen Priorität der Sachstruktur in der Curriculumkonstruktion in der deutschen geistes-wissenschaftlichen Didaktik (WENIGER, DERBOLAV, KLAFKI und BLANKERTZ) wird durch die These der kognitiven Strukturierung von Lernmaterialien durch das Individuum und die Möglich-keit, solche Strukturen (organisierende Systeme, Gruppen, Tiefenstrukturen usw.) herauszubilden und zu erfahren, relativiert. Der Einfluss beginnt sich aber erst allmählich in den klassischen Schulfächern abzuzeichnen, denn der herkömmliche Ausbildungsstandard der Lehrer und Pro-fessoren wie das Vorhandensein etablierter Inhalte für die Curricula erschwert die Innovation» (FREY 1973,29). Will man der strukturellen Auffassung der Lerntheorie entsprechen, dann muss die innere Logik eines Curriculums aufgrund der psychologischen Vorbedingungen entwickelt werden. Da diese auf den kognitiven Strukturen beruhen, können als Mittelpunkt des Curriculums nicht mehr jene Begriffe und Denkstrukturen fungieren, die im sachlichen Aufbau im Vordergrund stehen, sondern es muss von jenen begrifflichen Vorstellungen ausgegangen werden, welche «die ausholendste Erklärenskraft, den weitesten Einzugsbereich, die größte Allgemeinheit und Verwandtschaft zum Lerngehalt des betreffenden Bereiches» besitzen (AUSUBEL zitiert in FREY 1973,40). Diese Bedingung wiederum hat zur Folge, dass die psychologischen Aspekte eines jeden Lehr-stoffs herausgearbeitet werden müssen, was einen derart umfangreichen Arbeitsaufwand er-fordert, dass eine allgemeine Verbreitung des strukturellen Ansatzes erschwert wird und man also eine breite pädagogische Wirkung der diesbezüglichen Erkenntnisse vorderhand nicht wird er-warten können. Trotz dieser Schwierigkeiten behält aber das Prinzip, ein Curriculum an den «kognitiven Struk-turen» auszurichten, seine volle Berechtigung, und jegliches Verfahren, das hierzu einen - und sei es bloß einen indirekten - Beitrag leisten kann, sollte beigezogen werden. Solche indirekten Hilfsverfahren aber sieht AUSUBEL in dem, was er «organizers» (= Organisationshilfen) nennt. 3. Wertvolle Helfer: AUSUBELS «organizers» Wenn der Verlauf eines Lernprozesses in allererster Linie von den kognitiven Strukturen abhängt, über die der Schüler jeweils verfügt, dann ist für ein erfolgreiches Lernen vor allem dasjenige

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entscheidend, was die kognitiven Strukturen des Schülers beeinflusst und ändert. Von allen Faktoren aber, welche auf die kognitiven Strukturen Einfluss gewinnen können, ist die adäquate Organisation des Lehr-Lern-Materials, d.h. die didaktisch und lernpsychologisch optimale Aufbereitung des Lehrstoffs der wirkungsvollste. Zur optimalen Aufbereitung des Lehrstoffes aber empfiehlt AUSUBEL verschiedene Organisationshilfen: Merkhilfen, vergleichende Organisationshilfen, vor allem aber vorangehende Organisationshilfen (= advance organizers). Das Prinzip solcher Organisationshilfen ist nicht neu. Insbesondere die Merkhilfen sind eigentlich schon immer von jedem guten Lehrer verwendet worden. Merkhilfen machen das Lehr-Lern-Mate-rial wahrnehmungsmäßig prägnanter und verständlicher und erleichtern Prozesse des Einübens. Hierzu gehören rhythmische Unterstützung und vokale Betonung von gesprochenem Lehr-Lern-Material, Unterstreichungen, Unterteilungen durch Überschriften und Untertitel, Benutzung verschiedener Schriftarten und -größen usw. bei schriftlichem Lehr-Lern-Material. Im Zusammenhang mit der Theorie des didaktischen Prototyps interessieren aber vor allem AUSUBEL´s vorangehende Organisationshilfen (advance organizers), weil der didaktische Prototyp - jedenfalls teilweise - als eine solche aufgefasst werden kann. Der «advance organizer» wird zeitlich vor dem Lehrstoff an den Schüler herangetragen, denn er soll die Kluft überbrücken helfen zwischen dem, was der Schüler bereits weiss, und dem, was er sich an Wissen erst noch aneignen muss. Deshalb ist sein Inhalt danach ausgerichtet, den nachfolgenden Lehrstoff zu erklären und dazu beizutragen, die Organisationsstärke der kognitiven Struktur zu vergrössern. Zu diesem Zweck wird er auf einem höheren Abstraktionsniveau und mit einem grösseren Verallgemeinerungsgrad präsentiert, als der eigentliche Lehrstoff, und vermittelt dem Schüler dadurch ein Ideengerüst für die stabile Eingliederung und ein stabiles Behalten all jener detaillierten und differenzierten Informationen, die im nachfolgenden Unterricht gelernt werden sollen. SKOWRONEK als einer der massgeblichen Vertreter der strukturellen Auffassung meint dazu: «Wenn ein Lehrgegenstand oder ein Unterrichtsfach so strukturiert ist, dass umfassende Begriffe den Anfang machen und die Lernaufgaben in der Folge zunehmend differenziert werden, dann sollten allgemein günstige Voraussetzungen für den allmählichen Aufbau einer adäquaten kognitiven Struktur gegeben sein. Aber da diese Idealbedingungen kaum vorliegen dürften, ist als wesentliche Strategie zur Sicherung einsichtigen Lernens die Verwendung von organisierenden Momenten (advance organizers) zu empfehlen. Die Funktion solcher Organizer, d.h. von einführendem Material, ist .... ein Gerüst für die sichere Übernahme des nachfolgenden, differenzierteren Materials zu bieten. Diese Funktion tritt vor allem dann ein, wenn das neue Material kaum Anhalt in schon existierenden, relevanten Begriffen finden kann» (SKOWRONEK 1972,145). In der Meinung AUSUBEL´s erleichtern «advance organizers» das Auffassen und Behalten sinnvollen Lehrstoffes wahrscheinlich auf drei verschiedene Weisen: Erstens verwerten und mobilisieren sie explizit, was immer schon an relevanten Grundbegriffen in der kognitiven Struktur des Lernenden vorhanden ist und machen es zum Teil des neuen Materials. So wird das neue Material vertrauter und potentiell sinnvoller gemacht. Zweitens bieten vorhergehende Organisationshilfen als solche eine optimale Verankerung, indem sie die Einordnung des neuen Lernmaterials unter die Schlüsselbegriffe der Organisationshilfe ermöglichen.

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Drittens macht der Gebrauch von Organisationshilfen vieles mechanisches Memorieren unnötig, auf das Schüler oft zurückgreifen, wenn sie die Einzelheiten einer unbekannten Disziplin lernen müssen, ohne vorher eine genügende Anzahl von verankernden Schlüsselideen verfügbar zu haben. Wegen der Unverfügbarkeit von solchen Ideen in der kognitiven Struktur, auf die die Details zufallsfrei und inhaltlich bezogen werden können, fehlt dem Material, obwohl logisch sinnvoll, potentielle Bedeutungshaltigkeit (vgl. AUSUBEL 1974,147f). Selbstverständlich ist der pädagogische Wert von «advance organizers» relativ, denn er hängt ganz offensichtlich davon ab, wie gut ein «organizer» jeweils konstruiert wird und in welchem Ausmass der nachfolgende Lehrstoff bereits selber organisiert ist. Je mehr eingebaute Organisationshilfen sich bereits im Lehrstoff selbst befinden, desto mehr wird der «advance organizer» überflüssig und d.h. zugleich wirkungslos. Allerdings gilt dies wiederum nicht für alle Schüler im gleichen Ausmass, weil sich «advance organizers» vor allem bei mittelmäßigen und schwachen Schülern positiv auswirken. AUSUBEL schreibt hierzu: «Der Gebrauch einleitender Organisationshilfen, um Lernen und Behalten sinnvollen verbalen Materials zu erleichtern, basiert auf der Prämisse, dass logisch sinnvolles Material äußerst schnell und stabil in die kognitive Struktur eingegliedert wird, wenn es unter spezifisch relevante existierende Ideen subsumierbar ist. Daraus folgt, dass ein Anwachsen der Verfügbarkeit von spezifisch relevanten subsumierenden Systemen in der kognitiven Struktur - durch Einführung geeigneter Organisationshilfen - das sinnvolle Lernen solchen Materials erhöhen sollte. Forschungsbefunde ... bestätigen in der Tat diese Annahme. Der fördernde Effekt von rein einleitenden Organisationshilfen scheint jedoch charakteristischerweise begrenzt zu sein auf Lernende mit geringer verbaler und analytischer Fähigkeit und daher einer vermutlich geringeren Fähigkeit, selbst ein adäquates Schema zu entwickeln, um neues Material in Beziehung zur existierenden kognitiven Struktur zu organisieren» (AUSUBEL 1974, 147). Von vorhergehenden Organisationshilfen profitiert also vor allem der mittelmäßige und schwache Schüler, weil er «in seiner kognitiven Struktur mit geringerer Wahrscheinlichkeit vorhandene relevante subsumierende Systeme besitzt und auswählt, und auch weniger gut angemessene neue Organisationshilfen selbst improvisieren kann» (AUSUBEL 1974, 396). Aus dieser Tatsache erschließt sich nun auch der tiefere Sinn des «advance organizer»: er hilft dem Lehrer - und dadurch indirekt auch dem Schüler - bei der Vorbereitung und Durchführung von Unterricht über die «terra incognita» der kognitiven Struktur hinweg. 4. Der didaktische Prototyp als «advance organizer» und «kognitive Ersatzstruktur» In der Praxis muss jeder Lehrer davon ausgehen, dass bei vielen Lehrstoffen eine strukturelle Einordnungsmöglichkeit, welche als eine der Bedingungen erfolgreichen Lernens anzusehen ist, nicht bzw. nur unzureichend gegeben ist, weil der Stoff für die Schüler tatsächlich völlig neu ist und keinerlei Verwandtschaft mit bereits bestehenden Strukturen mobilisieren kann. Zuweilen kommt es auch vor, dass zwar eine Verwandtschaft besteht, aber für den Schüler unerkannt und d.h. ineins wirkungslos bleibt, weil die alten Strukturen nicht flexibel genug sind, da sie nicht mit einem genügenden Grad von Verallgemeinerbarkeit erlernt wurden (was immer dann der Fall sein dürfte, wenn das Lernen mechanistisch erfolgte). Mit anderen Worten heißt das, dass der Lehrer im allgemeinen die bestehenden kognitiven Strukturen seiner Schüler nicht so genau übersieht, dass er direkt mit ihnen operieren könnte. Und deshalb empfiehlt sich für den Lehrer eben, bei jedem neuen Lernangebot auf jeden Fall organisierende Momente, d.h. einen allgemein begrifflichen Rahmen für den jeweils neuen Lehrstoff vorauszuschicken, damit beim Schüler auf jeden Fall die zur einsichtigen Aufnahme notwendige Resonanz gesichert ist. Weil der Lehrer im allgemeinen nicht weiss, ob seine Schüler über die zum Erfassen eines bestimmten

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Lehrstoffes notwendigen «kognitiven Strukturen» verfügen, liefert er ihnen zur Sicherheit vor dem Unterricht mit einem «advance organizer» eine «kognitive Ersatzstruktur» bzw. eine «kognitive Quasistruktur». Freilich sind die Ansprüche, die an einen solchen «advance organizer» zu stellen sind, aus der Natur der Sache heraus sehr hoch. Sie können auf verschiedene Weise eingelöst werden, wobei eine der tauglichen Formen im Prinzip des didaktischen Prototyps gegeben ist. Mit einem Prototyp können das Lernangebot und seine Präsentation an jenen Bedingungen ausgerichtet werden, welche die strukturelle Auffassung der Lerntheorie nahe legt - jedenfalls sofern zusätzliche Maßnahmen im Bereich der Unterrichtsorganisation ergriffen werden. 5. Notwendigkeit einer neuen Unterrichtsorganisation Durch «advance organizing» mit einem didaktischen Prototyp bietet der Lehrer dem Schüler nicht nur eine Verankerungsmöglichkeit zur Einordnung des neuen Lehrstoffs; durch das hierin involvierte Prinzip der Vor-Gabe grundlegender, «kategorialer» Begriffe ist er auch zu einer wesentlichen Umkehrung des Unterrichtsverlaufs genötigt. Während im bisherigen Unterrichtsverständnis stets vom Grundsatz ausgegangen wurde, dass man vom Besonderen zum Allgemeinen fortzuschreiten habe, dass das Allgemeine aus Abstraktion vom Besonderen zu gewinnen sei, wird nun umgekehrt vorgegangen: Mit dem didaktischen Prototyp erfährt der Schüler zuerst das Allgemeine, von dem aus er erst im Verlauf des Unterrichts zum Besonderen gelangt, das Besondere zeigt sich im Lichte des Allgemeinen. Zunächst ist wohl jeder Unterricht seiner Zielsetzung nach nicht nur auf Einzelfakten, sondern auf Sach- und Sinnzusammenhänge, d.h. auf Gesetzmäßigkeiten ausgerichtet. Verschiedene Unterrichtskonzeptionen unterscheiden sich aber recht stark voneinander durch den Weg, auf dem sie die Schüler zum Verständnis der intendierten Gesetzmäßigkeiten zu bringen versuchen. Es bestehen gleichsam zwei entgegengesetzte, reine Typen: der eine Unterricht endet bei der Gesetzmäßigkeit, der andere fängt mit ihr an. Der herkömmliche, vorwissenschaftliche Unterricht folgt zumeist einer Konzeption, «wonach man zunächst die Aufmerksamkeit wecken soll, anschließend mit Hilfe der Wahrnehmung die Erfahrung zu bereichern hat, das Erfahrene danach durch das Denken zu strukturieren und einzuordnen habe, um es schließlich durch Übung im Gedächtnis zum bleibenden Besitz werden zu lassen» (ENNENBACH 1970,119). Im Rahmen dieser Konzeption hält sich der Unterricht jeweils an eine Ablaufsregel des inhaltlichen Nacheinanders, bei dem sich zumeist drei Phasen unterscheiden lassen: 1) empirische, anschauliche, erlebnismäßige Begegnung mit dem Inhalt 2) durchdenken und verarbeiten des auf verschiedene Weisen Angebotenen 3) einfügen in größere Zusammenhänge. Das durchgehende Aufbauprinzip allen solchen Unterrichts ist dabei an der Grundregel orientiert: Gesetze dürfen nicht am Anfang gegeben, sie müssen im Unterricht erarbeitet werden, wobei der Weg hierzu «von der Anschauung zum Begriff», «vom Leichten zum Schweren» und «vom Nahen zum Fernen» verläuft. Diese Grundsätze halten sich hartnäckig und scheinen unausrottbar. Noch heute werden sie manchenorts in der Lehrerausbildung weitergegeben und als vermeintlich «empirische» Methode missverstanden, obwohl sich bei jeder genaueren Analyse zeigt, dass diese Grundsätze an eine elementenhafte, lineare und additive Auffassung des Aufbaus des Erkennens gebunden bleiben, der seit KANT und seinen Nachfolgern der Boden entzogen ist. Bereits 1914 hat MEUMANN festgehalten, dass «das Kind von allgemeinen Begriffen und nicht von den speziellen Arten her nach oben fortschreitend in das Reich der Abstraktion vordringt»

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und die mittlere Gattung nicht auf dem Weg der Abstraktion von unten nach oben erreicht, sondern auf dem der Determination von oben nach unten. Entsprechend folgert er, «dass der alte Satz: „die Entwicklung des Kindes geht von der Anschauung zum Begriff“ in dieser allgemeinen Fassung unrichtig ist und eine einseitige Auffassung von der intellektuellen Entwicklung enthält. Sie geht in viel höherem Masse vom Begriff zur Anschauung, in dem die den Apperzeptionsprozess beherrschenden Begriffe bestimmen, was angeschaut wird und von ihnen aus der stufenweise erfolgende Fortschritt des Anschauens erweckt wird» (MEUMANN 1914,321). Besonders deutlich zeigen sich diese Phänomene im Bereich der Spracherziehung, die einen Grossteil der Begriffsbildung steuert. Wo im Sprachunterricht die «empiristischen» Grundsätze konsequent angewendet werden, didaktisch gleichsam auf die Spitze getrieben werden, gerät der Unterricht in Künstlichkeiten, die sogar den «gesunden Menschenverstand» befremden, obwohl dieser ein Anhänger des naiven Empirismus ist. Ein anschauliches Beispiel hierzu findet sich etwa bei ESTERHUES, welcher verlangt, eine Erzählung dürfe «nur Wörter, Ausdrücke und Wendungen enthalten, von denen die Kinder einen Begriff, also ein Wissen um die Bedeutung haben. Alle Ausdrücke, bei denen das nicht der Fall ist, müssen durch bereits verständliche, durch Bilder oder auf andere Weise erklärt werden» (ESTERHUES zitiert in ENNENBACH 1969,21 1). Von der auslegenden Funktion des sprachlichen Kontextes, in dem ein für das Kind zunächst unbekannter Ausdruck steht, ist in einer solchen offensichtlich elementenhaften Auffassung nichts zu spüren. Eine ganzheitliche Sichtweise kommt nämlich geradezu zur umgekehrten Forderung, wie sie bereits von STERN mit seinem Prinzip der «Mehrdarbietung» erhoben wurde: STERN befürwortete ausdrücklich, Kindern gegenüber auch Begriffe zu verwenden, für die dem Kind das tiefere Verständnis noch fehlt. «Was sie sich darunter vorstellen, - wir wissen es nicht. Aber es wäre total falsch, Kindern solche Dinge vorzuenthalten, an denen sie eine vorübende Freude haben und die sicher dazu beitragen, ihnen später viele Begriffsbildungen zu erleichtern» (STERN 1928,152). Die didaktischen Konsequenzen, die aus den Auffassungen MEUMANNs oder STERNS zu ziehen wären, hat in jüngerer Zeit ODENBACH gezogen, wenn er feststellt: 1. «Wenn der Weg der Wirklichkeitserfassung mit seiner Vorstellungs- und Begriffsbildung vom

Undifferenzierten zum Differenzierten, vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitet, so kann dem Unterricht nicht verwehrt werden, größere gedankliche Zusammenhänge ... den Kindern nahezubringen, auch wenn diese zunächst nur zu einem umrissmäßigen Erfassen befähigt sind.»

2. «Wenn nicht die konkrete Sinnhaftigkeit des Gegenstandes alleinentscheidend ist für die

Leichtigkeit und Intensität der Erfassung, sondern schon das anschauende Betrachten in hohem Masse von Begriffen her bestimmt und gesteuert wird, und wenn bei diesem Kontakt rückwirkend wiederum eine Bereicherung und Differenzierung des Begriffsfeldes stattfindet, so ist die peinliche Vorsicht der Schule vor unvollständigen, skizzenhaften Begriffsbildungen als übertrieben anzusehen. Es muss gestattet sein, auch solche Begriffe einzuführen, die nur in einem Teilgebiet oder nur umrisshaft erfasst werden können» (ODENBACH 1963,242).

Die «peinliche Vorsicht der Schule» vor einer «Vorwegnahme» ist nicht nur unbegründet, sondern dem Lernen geradezu hinderlich, denn «es liegt zutiefst im Wesen des menschlichen Geistes

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begründet, dass uns alles Besondere immer nur von einem Allgemeinen her verständlich wird» (KLAFKI zitiert in ENNENBACH 1969,213). Wenn der Unterricht «empiristisch» verläuft, d.h. von der Anschauung zur Abstraktion führt, kann es beim Schüler zu Auffassungs- bzw. Verarbeitungsstörungen kommen, die als Lernversagen in Erscheinung treten. In der «empirischen» Unterrichtsphase kann der Schüler den Lehrstoff unter Umständen in inadäquaten kognitiven Strukturen, bzw. Kategoriensystemen einbringen, d.h. die Zusammenhänge in «falschen» Verweisungssystemen stiften. Wird dann in der nächsten Unterrichtsphase, der rationalen Phase, der Versuch unternommen, bestimmte Sinnzusammen-hänge zu erarbeiten, so trifft man auf einen Widerstand, der durch die vorherigen inadäquaten sinnstiftenden Akte des Schülers bedingt ist. Dieser Widerstand, bzw. diese «Fehl»einordnungen zeigen sich, wenn Fragen gestellt werden, «die überhaupt nichts mit der Sache zu tun haben», wenn Schüler «nicht mehr mitmachen», oder wenn nach dem Unterricht Reproduktionen des Gelernten entstehen, in denen nichts mehr von den Zusammenhängen zu finden ist, um deren Vermittlung man sich nachdrücklich bemühte (vgl. ENNENBACH 1970,135). Zur Vermeidung solcher Lernstörungen genügt es noch nicht, wenn a) der Unterricht in einem bestimmten Lehrgebiet innerhalb eines curricularen Kontinuums erteilt

wird und dadurch die spezifischen, fachdidaktischen Voraussetzungen für das Verständnis des jeweils anschließenden Kapitels des betreffenden Lehrstoffs geschaffen werden; und

b) durch optimales «advance organizing» in den Schülern die fundamentalen Begriffe aktualisiert werden, auf denen der neue Lehrstoff aufbaut und an denen er festgemacht wird; sondern es muss dem Schüler zusätzlich

c) der Verweisungszusammenhang vorgegeben werden, in den die neu zu erwerbenden Begriffe kommen sollen, d.h., es soll dem Schüler gleichsam zum voraus ein «Bauplan» geliefert werden, der ihm zeigt, wie die neuen Begriffe zueinander in Beziehung zu setzen sind.

Für die konkrete Unterrichtsgestaltung erfordern diese Bedingungen didaktisch- methodische Konsequenzen, wie sie beispielsweise bei der Verwendung didaktischer Prototypen und einer prototypischen Unterrichtsorganisation gezogen werden, erfüllt doch der didaktische Prototyp mindestens einen Teil jener Funktionen, welche ein gut organisierter Lernprozess erfüllen sollte. 6. Der didaktische Prototyp und seine Funktionen im Unterrichtsprozess Im Rahmen einer prototypischen Unterrichtsorganisation erfüllt der didaktische Prototyp für den Schüler verschiedene Funktionen: a) In der Eingangsphase des Unterrichts, wo der Prototyp dem Schüler als solcher vorgegeben und sodann in seinen Bedeutungsgehalten erläutert wird, übernimmt er die Rolle eines «advance organizer», der insbesondere motivierende, aber auch erkenntnisleitende Funktion hat. Dabei steht das motivierende Moment zunächst im Vordergrund, indem des Schülers Neugierde geweckt wird, der Lernende zugleich aber auch verbindlich dokumentiert bekommt, dass sie - die Neugierde - im Verlauf des Unterrichts gestillt werden wird. Auf diesen Punkt verweist besonders SKOWRONEK, wenn er betont, dass die motivierenden Wirkungen von «advance organizing» nicht zuletzt darauf beruhen, dass das «advance organizing» z.B. durch einen didaktischen Prototyp «dem Lernenden eine gewisse Zielbestimmung vermittelt, über welche Kenntnisse und Begriffe er am Ende der Lernperiode etwa verfügen wird» (SKOWRONEK 1972, 146). Schon nur diese Leistung allein würde den Gebrauch eines Prototyps rechtfertigen, kann doch der Beitrag wirkungsvoller Motivatoren zum schulischen Lernerfolg gar nicht hoch genug eingeschätzt

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werden. Es kommt schließlich auch nicht von ungefähr, dass manche Autoren, wie etwa GAGNÉ, die langfristige und dauerhafte Motivierung als das Schlüsselproblem des schulischen Lernens überhaupt ansehen. Eine erkenntnisleitende Funktion erfüllt der Prototyp, weil er die tragenden Sinnmomente des kommenden Unterrichts bereits jetzt andeutet und als Ziel vorformuliert, obwohl ihr völliges Verständnis erst nach der unterrichtlichen Durcharbeitung erreicht wird. Da diese Andeutungen aber auf graphischen Typisierungen beruhen, welche die Sinnzusammenhänge mindestens formelhaft vereinheitlichen, kann sie der Schüler bereits jetzt erfassen. b) Dadurch wird der didaktische Prototyp zum organisierenden Prinzip, das sich während des Unterrichts zum Kristallisationskern für kognitive Strukturen wandelt und als Kontext von Bedeutungen und verwandten Begriffen eine Voraussetzung für den Neuerwerb weiterer Begriffe schafft, indem er neuem Material Verankerungsmöglichkeiten an relevanten Begriffen einer bereits bestehenden kognitiven Struktur bietet. Dazu ist freilich erforderlich, dem Schüler gegenüber die Verfügbarkeit über den Prototyp während der gesamten Erarbeitung eines Themas zu sichern. In der Praxis kann zu diesem Zweck eine groß gezeichnete Fassung des Prototyps, z.B. auf einem Bogen Packpapier, im Klassenzimmer aufgehängt werden, auf dem der Lehrer jede neue Sachetappe farbig markiert. Der Schüler sieht dann immer genau, was unterrichtlich bereits im einzelnen erarbeitet wurde und was zur Erarbeitung noch aussteht. Auf diese Weise kann man auch im weiteren Unterricht stets vom Prototyp ausgehen und den Lehrstoff stets unter seiner Führung erarbeiten. Dadurch gelingt es, sich von der Ebene der reinen Sachgesetze zu lösen, so dass man weder Induktion noch Deduktion betreibt (vgl. ENNENBACH 1969, 37). Dies ist möglich, weil der Prototyp erlaubt, «sich mit den erst jetzt angebotenen zahlreichen Fakten in der richtigen Weise auseinanderzusetzen. Dadurch werden auch die in ihm dar-gestellten - eventuell noch ergänzten - und sich bewährenden Zusammenhänge aufgewertet und präzisiert, so dass jetzt folgende Fakten noch eindeutiger verarbeitet werden können. Es entwickelt sich so ein Kreisprozess, in dem die Auswahl und Auslegung des Kommenden vom präziser durchgestalteten Vergangenen eingeengt wird, so dass am Ende die Sinnzusammen-hänge ganz deutlich zutage treten, jetzt aber nicht mehr losgelöst von den Fakten, sondern in ihrer spezifischen Durchformung gegeben. In diesem Teil des Unterrichtsverlaufs lässt sich ein empirisches Moment gar nicht mehr von einem rationalen trennen; denn was im Laufe des sich verengenden Auslegungsvorgangs zur 'Empirie' wird, ist zum Teil durch den vorangehenden Schritt determiniert, wird von ihm erst "geschaffen"» (ENNENBACH 1969,38). Verstehen bzw. Begreifen wird dabei dem Schüler auf Anhieb möglich, d.h. aber zugleich, dass der Unterrichtsprozess mit der Erarbeitung des Prototyps endet. Wiederholungen in eigenen Übungsphasen sind unnötig, «da während der Entwicklung des Gegenstandes die grundsätzlichen Sinnzusammenhänge und Prinzipien immer wieder auf neue Themenbereiche übertragen wurden, so dass während dieser Phase genügend Übung stattfand. Es empfiehlt sich allerdings, in einer Zusammenfassung den Prototyp noch einmal in allen Bereichen des Themas "durchzuspielen", um seine Praktikabilität zu betonen und zu zeigen, dass alles Erarbeitete von ihm her Sinn und Zusammenhang erfährt» (ENNENBACH 1969,38). c) Nach Abschluss des Unterrichts schließlich wird der Prototyp zur «mnemotechnischen Eselsbrücke». Er liefert Assoziationsanreize und bietet Erinnerungsauslöser, welche eine produktive Reproduktion des Gelernten auch noch Jahre nach Abschluss des Unterrichts

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ermöglichen. Mit Hilfe des Prototyps ist es nämlich möglich, sich einstmals Erlerntes durch Rekonstruktion ins Gedächtnis zurückzuholen, Einsichten zu reaktivieren und Informationslücken dank des «prototypischen Bauplans» durch Schlussfolgern wieder zu schließen. Je nach der Gestaltqualität und der logischen Prägnanz eines didaktischen Prototyps ist dazu nicht einmal eine besonders ausgeprägte Abstraktionsfähigkeit vonnöten. Selbst Volksschüler erwiesen sich als dazu in der Lage. Im Unterschied zu sonst gebräuchlichen Gedächtnisstützen wie etwa Zusammenfassungen, Stichworten, Merksätzen u.ä. weist der didaktische Prototyp einen Zug auf, der ihn zur geradezu idealen Gedächtnisstütze macht: die Information, die er enthält, enthält er verschlüsselt. Das aber hat zur Folge, dass derjenige, der vermittels eines didaktischen Prototyps sein Gedächtnis in einem bestimmten Themenkreis wieder auffrischen möchte, zu einem viel aktiveren Auseinandersetzungsprozess gezwungen ist als einer, der zu diesem Zweck bloß eine Zusammenfassung überliest. In der Wiederbegegnung nach längerer Zeit wirkt der Prototyp als ganz außergewöhnlicher «Herausforderer», er wirkt bekannt und fremd zugleich, macht neugierig und motiviert in hohem Masse zum Wieder-Entschlüsseln dessen, was man zwar im Augenblick vergessen hat, aber doch eigentlich wissen müsste. Man konzentriert sich auf den Prototyp, erinnert meistens noch den Bedeutungsgehalt des einen oder anderen Symbolteils, bekommt dadurch den «roten Faden» in die Hand und erlebt schließlich durch eine sich fortzeugende Kette von Aha-Erlebnissen, wie es gelingt, den ganzen Prototyp seinem Sinngehalt nach wieder aufzudecken. Nun wäre es zwar gedächtnispsychologisch hochinteressant, phänomenologisch exakt zu beschreiben, was sich im Prozess des Entschlüsselns eines lange nicht gesehenen Prototyps ereignet, und diesen Prozess daraufhin zu analysieren, würde aber den Rahmen dieses Beitrages sprengen, so dass die obigen Andeutungen zur Erklärung der außerordentlichen Eignung des Prototyps als Gedächtnisstütze genügen müssen. Von einer außerordentlichen Eignung aber darf gesprochen werden, nachdem ENNENBACH´s Untersuchungen ergaben, dass die Reproduktionsquote bei Volksschülern im Falle der Verwendung von Prototypen praktisch doppelt so hoch ist als die Reproduktionsquote bei sonst gebräuchlichen Verfahren. d) Neben diesen unmittelbar unterrichtlichen Funktionen erfüllt der Prototyp schließlich auch noch eine - ebenso entscheidende - vorunterrichtliche Aufgabe, indem er - zwar nur indirekt - Einfluss auf die Qualität der Unterrichtsvorbereitung ausübt. Wer einen Lerngegenstand, den er didaktisch und methodisch vorbereitet hat, auf einen Prototyp reduzieren will, kann das nur bewältigen, wenn der vorbereitete Unterricht einen sachlogisch und methodisch einwandfreien Aufbau besitzt. Weist der entsprechende Unterrichtsentwurf jedoch Unklarheiten auf oder logische, evtl. chronolo-gische Sprünge, fehlen ihm wesentliche Teile oder schleppt er unnötigen didaktischen Ballast mit sich, dann wird das bei den Konstruktionsversuchen zum Prototyp sichtbar, und die Konstruktion kann nicht gelingen, weil den Konstruktionsbedingungen eines Prototyps - eigentlich per defini-tionem - nur ein Unterricht genügen kann, der curricular optimal aufbereitet ist. Deshalb wird der Prototyp zu einem impliziten Maßstab, an dem die didaktische und teilweise auch methodische Qualität von Unterricht gemessen werden kann, was gleichzeitig einschließt, dass die Orien-tierung am prototypischen Prinzip die curriculare Konzentration und Transparenz fördert. 7. Konstruktionsbedingungen didaktischer Prototypen Damit ein didaktischer Prototyp die anspruchsvollen Funktionen, die ihm von der Theorie zugewiesen werden, in der Praxis auch wirklich erfüllen kann, muss er optimal konstruiert sein; das aber bedeutet: Die sachlichen Gehalte und logischen Zusammenhänge, für welche er Medium sein soll, müssen in ein adäquates graphisches Korrelat überführt werden. Entscheidend ist dabei die graphische Qualität, so dass es mehr als Zufall ist, wenn die Idee des Prototyps stark

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an wahrnehmungs- psychologischen Erkenntnissen ausgerichtet wird. Wollte man den didaktischen Prototyp in Analogien kennzeichnen, könnte man sagen, er entspreche im Bereich des Wahrnehmens in etwa einer «komplexen Gestalt» (im Sinne der Gestalt- Psychologie) bzw. er entspreche im Bereich des Erkennens in etwa einem «komplexen Schema» (Im Sinne KANTS). Analysiert man die Funktionsweise eines didaktischen Prototyps, dann zeigt sich, dass seine unmittelbare Wirkung darauf beruht, dass er die produktiven Anteile des Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesses für den Lernprozess wirksam werden lässt. Mit der Vorweggabe von später zu Lernendem nutzt er für den Lernprozess die Tatsache aus, dass eigentlich in jedem Augenblick des Wachseins je schon alle Momente des psychischen Geschehens aktualisiert sind, dass nicht nur im Denken als solchem, sondern bereits im Wahrnehmen selber «gedacht», gestaltet und ein- geordnet wird. (Diese These gilt im Übrigen für alle Akte des bewussten Erlebens, gibt es doch überhaupt kein Erleben, ohne dass eingeordnet und in ein Bezugssystem gestellt wird. Bei den eigentlichen Denkprozessen geschieht dieses Einordnen, Gruppieren usw. nur ausgeprägter und ist deshalb auffälliger als etwa in Akten des Wahrnehmens oder Fühlens, wo es keineswegs fehlt, sich bloß verborgener ereignet.) Deshalb muss ein didaktischer Prototyp so aussehen, dass er «dem Wahrnehmen zu denken» gibt, d.h., zur Konstruktion angemessener Prototypen müssen nicht nur fundierte Kenntnisse der Sache, sondern auch der Psychologie vorliegen. Von hier aus sind der wichtigste Bestandteil eines Prototyps «sachsinnfreie Ausdruckswerte figuraler Gestalten» (ENNENBACH 1970,13 1), deren unmittelbares Verständnis zunächst nicht gelehrt zu werden braucht, da sie ein gewisses Maß an vager, «primitiver» Anschaulichkeit besitzen, welche jedoch im Zuge einer «Entschlüsse-lung» während der unterrichtlichen Durcharbeitung einem Bedeutungswandel unterzogen werden können, wodurch sie Repräsentanten von nur mittelbar zu Verstehendem werden. Was ein didak-tischer Prototyp bedeutet, soll man ihm nicht unmittelbar zur Gänze ansehen können, gleichwohl soll er nicht absolut fremd wirken. Der Begriff «Saurier» etwa, der im nachfolgenden Beispiel (vgl. Abschnitt 8) Bestandteil des Prototyps ist, darf demnach nicht durch das Wort Saurier oder den Buchstaben S oder durch ein mehr oder weniger konkretes Bildzeichen dargestellt werden, noch darf er durch etwas repräsentiert werden, das gar nichts mit dem Begriff Saurier zu tun hat. Als Repräsentant braucht es irgend etwas «Dazwischenliegendes». Am wirkungsvollsten erwiesen sich bisher Repräsentanten, die es erlaubten, Träger von Doppelbedeutungen zu sein, einer un-mittelbaren, «unverschlüsselten» Bedeutung, sowie einer zusätzlichen «verschlüsselten» Bedeu-tung, auf welche aber von der unverschlüsselten her ein Zugang besteht. In diesem Sinne wurde als Repräsentant für den Begriff Saurier das Zeichen verwendet. Wenn der Schüler zum ersten Mal dem Prototyp begegnet, fasst er das Zeichen mit größter Wahrscheinlichkeit in der Bedeutung «Ei» auf, ohne jedoch vorderhand zu verstehen, worauf der Begriff Ei im Zusam-menhang des Prototyps verweisen soll. Erst später erfährt er durch die Erläuterungen des Lehrers, dass das Zeichen Saurier bedeute. Dabei mag er sich über die Zuordnung = Saurier wun-dern, kann sie aber gleichwohl im Sinne einer gesetzten Vereinbarung akzeptieren und das Zeichen in der Bedeutung Saurier im Zusammenhang des Prototyps einordnen. Die sachliche Berechtigung dieser Zuordnung wird dem Schüler erst während der detaillierten unterrichtlichen Behandlung des Themas einsichtig: Der Schüler erfährt, dass zwischen den Amphibien und den Reptilien, also den Sauriern, entwicklungsgeschichtlich u.a. ein wesentlicher biologischer Unterschied im Grade der Abhängigkeit von Wasser besteht. Während Amphibien ihren Laich in Wasser ablegen müssen, weil er sonst austrocknen würde, haben die Reptilien das Ei «erfunden», dessen harte Schale eine Austrocknung verhindert und eine Eiablage unabhängig vom Wasser erlaubt. In der Entwicklungsgeschichte der Wirbeltiere stehen die Saurier also auf jener Stufe, wo

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der Laich durch das Ei ersetzt wurde. Sobald diese Kenntnis vorliegt, erfasst der Schüler den Sinn der vorher unverstanden gebliebenen Zuordnung. Bei vielen Schülern kommt es zum Aha-Erlebnis, das besonders gut gespeichert wird. Ist das Thema seit einiger Zeit abgeschlossen, die Bedeutung des Prototyps im einzelnen vergessen, ermöglicht nun aber der unmittelbare Anschauungsgehalt des Prototyps die Rekonstruktion. Das Ei wird zunächst als Ei gesehen, dann als Gegenpol zum Laich erfasst und von dieser Gegenüberstellung her mit Saurier assoziiert. Im Hin und Her zwischen unmittelbarer, unverschlüsselter Bedeutung als Ei und mittelbarer, verschlüsselter Bedeutung als Saurier bildet sich das Spannungsfeld, welches zum Erinnern motiviert und das Gedächtnis aktiviert. Wenn also die figuralen Gestalten des Prototyps so, wie es hier am Beispiel gezeigt wurde, durch die unterrichtliche Auseinandersetzung mit konkreten Inhalten zunehmend präzisiert werden, dann wird der Prototyp die verdichtete Darstellung des gesamten Unterrichts-themas, nicht in der abstrakten Fassung einer Formel, sondern so, dass von ihm her leicht ein Zu-gang zu konkreten Inhalten und zur Abstraktion gefunden werden kann; das aber bedeutet, dass der Prototyp jene Funktionen, die man von ihm erwartet, wirklich zu übernehmen vermag. 8. Ein Beispiel Damit sich der Leser über die notwendigerweise abstrakten Erläuterungen hinaus einen möglichst anschaulichen Eindruck von der Idee des didaktischen Prototyps verschaffen kann, sei hier zum Schluss noch ein praktisches Beispiel aufgeführt. Der hierbei zugrundeliegende Prototyp wird im 4. Grundschuljahr verwendet und repräsentiert eine einfache «Theorie», welche mit den Schülern jeweils zum Thema «Entwicklungsgeschichte der Dinosaurier» erarbeitet wird. Im Unterricht geht der Einführung des Prototyps eine Einstimmung von mehreren Lektionen voraus, innerhalb derer die Kinder mit den Erlebnissen von vier Knaben bekanntgemacht werden, welche einen versteinerten Ammoniten gefunden hatten. Die Knaben brachten diesen Ammoniten in ein Museum und bekamen auf diese Weise Gelegenheit, ihre «paläontologische» Neugierde zu stillen. Hierbei tauchte auch die Frage auf, wie denn eigentlich die Dinosaurier entstanden seien, und hierzu erhielten die Knaben im Museum folgende Erklärung: (Der Lehrer übernimmt nun die Rolle des Museums-Fachmanns und erklärt anhand des Prototyps, den er Teil für Teil an die Wandtafel zeichnet, die «Entwicklungsgeschichte der Dinosaurier»): Fig. 1 Ihr wisst, es gab früher einmal eine Zeit, da war es auf der Erde viel kälter als heute - das war ... (Schüler: die Eiszeit). Es gab aber auch schon Zeiten, da war die Erde viel wärmer als heute. So hat man z.B. in Grönland Überreste von tropischen Pflanzen gefunden. Woher diese Temperatur- und Klimaunter-schiede stammen, weiß man nicht genau. Wahrschein-lich hängen sie von Temperaturschwankungen in der Sonne ab. Jedenfalls können wir annehmen, dass es Zeiten gab, da es wärmer war als heute, und Zeiten, da es kälter war als heute.

Fig. 2 Vor etwa 400 Mio. Jahren, als es auf dem Festland noch keine Tiere und Pflanzen gab und erst das Meer belebt war, wurde es auf der Erde wärmer, als es heute ist. Was geschah dann?

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Fig. 3 (Schüler: Das Eis von Nord- und Südpol und der Gebirge schmolz, der Meeresspiegel hob sich, und riesige Gebiete an der Küste wurden überschwemmt.)

Fig. 4 Da hatten die Fische einen schier unerschöpf-lichen Lebensraum.

Fig. 5 Doch dann wurde es wärmer und wärmer. Was geschah dann? (Schüler: das Wasser verdunstete, der Spiegel des Meeres senkte sich, viele Binnenseen und Tümpel trockneten aus.)

Fig. 6 Die Fische dieser Tümpel verendeten bis auf ein paar, die unter dem Druck der Umstände lernten, an Land zu leben. Sie begannen, an der Luft zu atmen, bildeten Beine statt Flossen und verwandelten sich zu Molchen. Fig. 7 Dann wurde es wieder kühler - Folge: neue Überschwemmungen, ideale Lebensbedingungen für Molche.

Fig. 8 Die Molche, die an Land keine Feinde und viel Futter hatten, entwickelten sich zu Riesenformen: Mastodonsaurus 3,5 m lang.

Fig. 9 Dann wurde es wieder wärmer und wieder (Schüler: trockneten die Binnenseen und Tümpel aus). Die Molche hatten keinen Lebensraum mehr und gingen ein, ausgenommen jene, welche

Fig. 10 «lernten», sich vor dem Austrocknen an der Sonne durch eine andere Haut zu schützen. Sie verwandelten sich zu Eidechsen und begannen, ihre Eier im Sand abzulegen, indem sie sie mit einer festen Schale schützten.

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Fig. 11 Es wurde wieder kühler, es kam wieder zu üppigem feuchttropischem Klima, und die Echsen hatten ideale Lebensbedingungen:

Fig. 12 Sie bildeten Riesenformen und

Fig. 13 später auch Skurrilformen.

Fig. 14 Dann wurde es noch kälter und es gab (Schüler: eine Eiszeit).

Fig. 15 Die Riesenechsen starben aus. (Nur die kleinen überlebten, weil sie sich im Winter unter einem Stein verkriechen konnten, gleich wie die kleinen Molche.)

In welchem Ausmass der Lernertrag bei den Schülern sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht durch die Verwendung des obigen Prototyps gesteigert wurde, konnte nicht empirisch evaluiert werden. Nachdem aber alle Lehrer, die bisher mit dem Prototyp gearbeitet haben, zur Überzeugung gekommen sind, dass eine Steigerung bewirkt wurde, darf man die Annahme machen, dass die Verwendung von Prototypen die Erfassung der grundlegenden Sinnzusammenhänge erleichtert und dadurch ein umfassenderes und dauerhafteres Behalten des Gelernten ermöglicht. Wem dieses Spontanurteil der Lehrer als Legitimation nicht ausreicht, der sei auf die Untersuchung ENNENBACH´s verwiesen. Die obige Annahme ist auf jeden Fall gesichert für die Prototypen, welche ENNENBACH in seiner Untersuchung verwendete. Er hatte eine quantitative Analyse des Lernerfolgs seiner Versuchsgruppe, welche prototypisch unterrichtet wurde, und einer Kontrollgruppe mit traditionellem Unterricht vorgenommen und kam dabei zu folgendem Ergebnis: - Die gleichen Sachinhalte wurden bei herkömmlichem Unterricht nach einer Woche im Mittel zu

30% gewusst, nach prototypischem Unterricht noch zu 71%. - Nach einem halben Jahr konnten die Schüler, die herkömmlich unterrichtet wurden, noch

immer 30% der Sachinhalte reproduzieren, die prototypisch unterrichteten Schüler reproduzierten noch 56%.

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Allerdings muss man dazu wissen, dass die Schüler des prototypischen Unterrichts angehalten wurden, vor ihren Reproduktionen den Prototyp zu zeichnen. Es zeigte sich dabei folgendes an möglichen Nachteilen: Die verschiedenen Prototypen erwiesen sich nicht alle als gleichermaßen funktionstüchtig bzw. lernwirksam. Zum andern kam es gegen Ende des Schuljahres zu Verwechs-lungen, indem schwächere Schüler zeichnerische Elemente verschiedener Prototypen miteinander vermischten und dadurch die «Eselsbrücken-Wirkung» zerstörten oder zumindest einschränkten. Andererseits nahmen natürlich auch die Schüler aus dem traditionellen Unterricht gegen Ende des Jahres Verwechslungen vor und brachten Fakten und Zusammenhänge zusammen, die ursprüng-lich nichts miteinander zu tun hatten. Aber die Fehlerquote war hier eher noch höher. Im Ganzen jedenfalls zeigte sich, dass der prototypische Unterricht in jeder Beziehung lernwirksamer war, weil man mit dem Prototyp nicht nur organisierende Verstehens-Prinzipien anbietet, sondern auch eine entsprechende zusammenhängende Reproduktion, d.h. richtige Zu- und Einordnung der Fakten begünstigt. Der Prototyp entspricht somit dem lernpsychologischen Grundpostulat, wonach Lernerfolg im Unterricht nicht nur abhängt von der Beachtung der Sachstrukturen, sondern ebenso sehr von der Berücksichtigung der Gesetze seelischer Formenbildung. 9. Exkurs zur Frage, warum die Idee des Prototyps in der Didaktik bisher kaum aufgegriffen wurde Ein Unterricht, der prototypisch aufgebaut ist, hat mehrere Vorteile, die sich auf die Unterrichtsform, den Unterrichtsverlauf, das Verstehen und Behalten, die Motivation und den Transfer beziehen. So wird z.B. das Verstehen gefördert, weil der didaktische Prototyp immer wieder das Wesentliche und Typische pointiert zum Ausdruck bringt. Oder, indem er auf das Kommende neugierig macht, ruft er eine dynamisierende Spannung hervor und wird so zum Motivator. Schließlich gelingt dank ihm das Behalten des Gelernten besser, weil aufgrund des für den Schüler überschaubaren Unterrichtsverlaufs und des im Prototyp in einer «guten Gestalt» strukturierten Gehalts des Lehrstoffes bei einer späteren Reproduktion dieser «guten Gestalt» gemäss gearbeitet werden kann. Angesichts dieser möglichen Vorteile wird die Frage legitim, weshalb die neuere Didaktik dem Prinzip des Prototyps ihre Aufmerksamkeit bislang eher versagt hat. Neben ENNENBACH haben sich bisher nur noch HEISTERKAMP bzw. WESTPHAL bemüht, praktikablen Schulunterricht auf prototypischer Basis zu entwickeln. Vor allem WESTPHAL hat sich die Theorie des Prototyps zunutze gemacht und für den Primarstufenunterricht an Sonderschulen einen Lehrgang im Bereich der sog. «social studies» vorgelegt. Allerdings benutzt er das proto-typische Prinzip in einem etwas anderen Sinne als es im vorliegenden Referat erörtert wurde. WESTPHAL benutzt den Prototyp gleichsam als curriculares Leitprinzip, indem er z.B. einen all-gemeinen Prototyp «Versorgungseinheit» entwickelte, den er mit kleineren Varianten für so unter-schiedliche Thematas wie Schule, Wohnviertel, Kaufhaus, Bahnhof, Kreislauf des Wassers, Wald, Versorgung von Tieren, Unser Körper, usw. benutzte und solcherart für Themen, die bisher in einem zufälligen Zusammenhang standen, einen gemeinsamen didaktischen Nenner schuf. Da-durch aber wurde eigentlich der Prototyp und nicht das jeweilige Sachthema der primäre Unter-richtsgegenstand. «Er wird "durchgenommen" und die traditionellen Unterrichtsgegenstände, die sogenannten Sachthemen, sind Beispiele für die Vielfalt der Versorgungsproblematik; sie werden damit übertragen in ein einheitliches Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungssystem, das der Ver-sorgungseinheit; Lehren und Lernen im Unterricht wird so charakterisiert als eine Tätigkeit, die eine Vielfalt von Sachthemen, Erlebnisweisen, Erfahrungen, Sinn- und Funktionszusammenhängen

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usw. verrechnet, das heißt auf einen einheitlichen, didaktischen Nenner bringt» (WESTPHAL 1976,17). Abgesehen von diesen Ausnahmen bleibt nun aber die Frage gestellt, warum die Didaktik von der Idee des Prototyps kaum Notiz nahm. Will man in diesem misslichen Sachverhalt nicht einfach einen weiteren Beweis für die bereits sprichwörtliche Resistenz des Bildungswesens fruchtbaren Ideen gegenüber sehen, dann bleibt wohl nur die Erklärung, die ENNENBACH selber gibt, indem er vermutet, die den didaktischen Prototyp fundierenden Theoriekonzepte seien zu komplex, als dass sie von der Praxis hätten adaptiert werden können. (Ein ähnliches Schicksal ist natürlich auch anderen und wesentlicheren Theoremen widerfahren - sehr zum Nachteil der Erziehungswissenschaften, vor allem aber der Schulpraxis. Wenn die gegenwärtige Erziehungs-wissenschaft im Grunde noch immer recht wenig über den eigentlichen Lernprozess weiss, dann liegt das vermutlich nicht zuletzt daran, dass sie die Erkenntnisse ihrer Hilfswissenschaften nicht systematisch und seriös genug aufarbeitet. Dies belegt z.B. nachdrücklich die armselige Rezep-tion, welche die ganzheits- und gestaltpsychologischen Theorien seit den grundlegenden Schriften WITTMANN´s und KERN´s aus den dreißiger Jahren durch die Pädagogik erfuhren. Sie befruch-teten im Bereich der Schule zwar den Schlagwortkatalog, konkrete Auswirkungen curricularer Art blieben jedoch aus. Nicht einmal im Erstlese- bzw. Erstrechenunterricht kann man effektiv von einer Auswirkung sprechen, «denn was die Begriffe Ganzheit und Gestalt psychologisch fassen, wurde selbst von den Verfechtern der sogenannten Ganzheitsmethode im Erstleseunterricht nicht verstanden.» (ENNENBACH 1970, 1 1). ENNENBACH ist überzeugt davon, «dass man sich in dreihundert Jahren didaktischer Bemühungen eigentlich im Kreis gedreht hat. Das belegt nachdrücklich ein Vergleich älterer und jüngerer Bildungstheorien. Es ist erstaunlich, mit welcher Schärfe etwa Comenius und Pestalozzi Zusammenhänge im "Bildungsprozess" zu formulieren wussten, die zwei Jahrhunderte später - also heute - kaum differenzierter dargestellt werden können und erst jetzt von der Psychologie aufgearbeitet werden» (ENNENBACH 1970, 10). Den Grund dieses Nachhinkens sieht ENNENBACH darin, dass nur wissenschaftlich einseitige Systeme Auswirkungen auf die Praxis hatten. Einseitige Systeme «lösen aber nur einen geringen Teil der anstehenden Fragen, wenn sie nicht gar, wie z.B. die 'Formalstufentheorie', zur Verfälschung aller Bereiche führen. (Mit der Formalstufentheorie, vor allem in der Form der HERBART-Schüler ZILLER und REIN, wurden ein so umfassendes «Stufendenken» und ein Methodenschematismus ins Werk gesetzt, dass nicht nur ein Fruchtbarwerden umfassenderer bildungstheoretischer Gedanken verhindert wurde, sondern negative Auswirkungen bis heute noch die Unterrichtsorganisation bestimmen.) Das verweist sehr deutlich auf die Problematik komplexer Theorien, gleichviel in welchem Bereich. Sie tauschen die angemessenere Sachlichkeit gegen mangelnde Praktizierbarkeit ein». (ENNENBACH 1970, 10). Diese Erscheinung hat im Bereich der Schule übrigens auch HEIMANN beklagt. Ihre realen Folgewirkungen sieht er in der bedauerlichen Tatsache «dass das, was in konkreten Unterrichtsstunden wirklich geschieht, weit mehr von der didaktischen Kompendienliteratur beeinflusse wird, als von den weitreichenden Entwürfen der großen Bildungstheoretiker und deshalb ganz unverhältnismäßig weit unter ihrem Niveau liegt». (HEIMANN 1962, 410). Geht man davon aus, dass das Theorie-Praxis-Problem in der Pädagogik seit eh und je Schwierigkeiten bereitet, wobei diese Schwierigkeiten im Falle komplexer Theorien noch erheblich größer sind als im Falle linearer Theorien, dann muss man eigentlich fordern, die Theoretiker müssten sich bemühen, dem Praktiker entgegenzukommen, d.h., sie sollten komplexe Theorien nicht zusätzlich in komplizierter Form fassen.

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Wenn ENNENBACH meint, der didaktische Prototyp hätte sich nicht durchgesetzt, weil seine Theoriebasis zu komplex sei, dann hat er nur zum Teil recht. Zum anderen Teil liegt es auch daran, dass die Theorie zu kompliziert ist, d.h., von ENNENBACH in einer Begrifflichkeit, auf einem Abstraktionsniveau und einem Dispositionsmodell entlang vorgetragen wird, das der Lesbarkeit und Verständlichkeit wenig entgegenkommt. Nachdem die Theorie des didaktischen Prototyps stark bestimmt wird durch ganzheits- und gestaltpsychologische Konzeptionen, die im deutschen Sprachraum zur Zeit führenden Pädagogen, Lernpsychologen und Didaktiker aber kaum von den Erkenntnissen und Leitideen der Ganzheits- und Gestaltpsychologie beeinflusst erscheinen, wiegt die Schwerverständlichkeit der ENNENBACH´schen Ausführungen im Hinblick auf deren mögliche erziehungswissenschaftliche Rezeption besonders schwer. Es dürfte doch so sein, dass jemand, der sich nicht ausgiebig mit dem Problem beschäftigt, zwar wohl eine gewisse Plausibilität in den Überlegungen zum didaktischen Prototyp erkennen wird, vermutlich aber ein Missverhältnis zwischen Aufwand bei Konstruktion und Entwicklung des Prototyps und Ertrag im Sinne der Steigerung des Lernerfolgs beim Schüler vermutet. Die Herausforderung, sich näher auf die Sache einzulassen, ist dann naturgemäß gering. Für den Praktiker schließlich, dem der didaktische Prototyp am unmittelbarsten dienen würde, stellt sich nicht nur die Theoriebarriere infolge Unverständlichkeit, er dürfte sehr oft auch am curricularen Niveau scheitern, das der didaktische Prototyp verlangt, kann doch ein didaktischer Prototyp nur zu einem Unterrichtsgegenstand entwickelt werden, der didaktisch-methodisch optimal aufbereitet ist. So bleibt denn die alte Herausforderung in alter Schärfe bestehen: Das scheinbare Ausschluss-verhältnis von Komplexität versus Praktizierbarkeit einer Theorie kann nur durchbrochen werden, wenn es gelingt, im Rahmen komplexer Theorien sowohl die Bereiche der Inhalte als auch der Prozesse ähnlich exakt zu bestimmen, wie es z.B. bei den Reiz-Reaktions-Theorien offenbar der Fall ist. Eines Tages wird dies sicher möglich sein. Dann aber wird es nötig, die gewonnenen Erkenntnisse übersichtlich und ohne den Ballast von Imponierbegriffen darzustellen, damit sie auch den einzelnen Lehrer erreichen. 10. Literaturverzeichnis AUSUBEL D.P.: Psychologie des Unterrichts, Bd. 1/2, deutsch 1974. Weinheim, Basel 1974. (Beltz) ENNENBACH W.: Untersuchungen über ein morphologisches Unterrichtsprinzip. Diss. Mainz 1969. ENNENBACH W.: Prototypen des Lernens und Unterrichtens. München, Basel 1970. (Reinhardt) FREY K.: Kognitionspsychologie und Unterricht: Zum heutigen Stand der Kenntnisse und ihrer Implementation. In: FREY K., LANG M. (Hrsg.): Kognitionspsychologie und naturwissenschaftlicher Unterricht. Bern, Stuttgart 1973. (Huber) HEISTERKAMP G.: Psychologische Prinzipien des Mathematik- und des Physikunterrichts. Saarbrücken 1974. MEUMANN E.: Abriss der experimentellen Pädagogik. Leipzig 1914. (Engelmann) ODENBACH K.: Zum Problem der Vorwegnahme. In: Pädagogische Rundschau 3 (1963) SALBER W.: Morphologie des seelischen Geschehens. Ratingen 1965. (Henn) SKOWRONEK H.: Lernen und Lernfähigkeit. München 1972. (Juventa) STERN W.: Psychologie der frühen Kindheit. Berlin 1928. (Quelle & Meyer) WESTPHAL F., FRANKE H., PERHAVEC-KLIEMANN M., WIEBER H.: Prototypischer Sachunterricht auf der Primarstufe. Düsseldorf 1976. (Schwann)