Lebenslinien 2012, Blickpunkt, espresso, Ingolstadt

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BLICKPUNKT Die Wochenzeitung für Ingolstadt und die Region Lebenslinien 2012 Januar bis Juni

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BLICKPUNKTDie Wochenzeitung für Ingolstadt und die Region

Lebenslinien 2012Januar bis Juni

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Inhalt04 Falco-Manager Horst Bork aus Ingolstadt

07 Spielertrainer Denis Dinulovic

10 Ingolstadts 1. Faschingsprinzessin Traudl Riebel

14 Rodger Klingler war in Brasilien im Gefängnis

19 Maler Hans Steber

22 Werner Roß war Bundesliga-Schiedsrichter

26 Martin Reißig und seine zwei Berufe

30 Franz Etsberger Braumeister bei Nordbräu

34 Yojo Christen aus Altmannstein

37 Ulrike Mommendey und ihr Beruf

40 Fritz Böhm und seine Geschichte

44 Paul Schönhuber und seine Buchhandlung

48 Der Arzt Harald Renninger

52 Walther C. Bechstädt und seine Bilder

55 Anja Lößel auf einer oberbayerischen Alm

57 Ingolstädterin kämpft um die Freilassung

ihres Vaters

60 Der ehemalige Rennfahrer Werner Dimperl

64 Tobias Mayers kurioser Trip

68 Silla Pilsners tierische Abenteuer

72 Augenfacharzt Bilal Ibrahim

75 Teona Gubba-Chkeidze

78 Walter Anspann und die Fußballwelt

82 Walter Haber und die Prominenten

85 Marion Hofer und ihre Tattoos

88 Klaus Schirmers will Energiekosten senken

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Lebenslinien im Januar 2012

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Der Piranha im HaifischbeckenWarum der erfolgreiche Falco-Manager Horst Bork aus Ingolstadt gar nicht daran denkt, den Fuß vom Gas zu nehmen

Wenn er an der marmornen Bar in der Küche seines Hauses sitzt, die Nase andächtig über ein Glas Pa-villon Rouge 2005 hält und dabei mit unglaublicher Eloquenz erzählt, wie aus dem kleinen Provinzredak-teur von einst ein arrivierter und über die Maßen erfolgreicher Ma-nager geworden ist, wird man sich schnell bewußt, wie lächerlich das Unterfangen ist, ein Leben wie das von Horst Bork in ein paar Zeilen packen zu wollen.

Nicht nur bei seiner leidenschaft-lichen Liebe zu den Hochgewäch-sen aus dem Bordelais war ihm sei-ne Nase stets ein treuer Ratgeber. Auch in beruflicher Hinsicht konnte er sich immer auf sie verlassen. Er kann Erfolg riechen wie andere Rasierwasser, und er versteht es meisterlich, diesen untrüglichen Sinn in bare Münze umzusetzen. „Künstler wollen reich und berühmt werden“, schmunzelt Horst Bork, die Finger noch immer an seinem Glas Rotwein, „Manager wollen nur reich werden.“ Und das hat er quasi nebenbei geschafft, als er sich in

den 70er Jahren nach seiner Aus-bildung zum Redakteur bei Ariola als Pressesprecher anheuern ließ. Denn dort lernte er schnell neben den Mechanismen des internatio-nalen Musikgeschäfts den legen-dären Manager Hans Beierlein kennen, ursprünglich Journalist wie er selbst und der Mann, der unter anderem für den Welterfolg von Udo Jürgens verantwortlich zeichnet. Bork heuerte bei ihm als Assistent an. Von ihm lernte er das Künstlermanagement in all seinen Facetten kennen, den Handel mit Rechten natürlich auch, mit dem sich leidlich verdienen lässt. Einer der genialsten Coups seines Lehr-meisters Hans Beierlein war es wohl, als er sich die Rechte für die „Internationale“ weltweit gesichert und es so geschafft hatte, dass ihm die damalige DDR jedes Jahr 100 000 Mark an Tantiemen überwei-sen musste. Es war eine perfekte Schule für Horst Bork, die er gut ge-brauchen konnte, als er sich kurze Zeit später von dem italienischen Schlagerstar Salvatore Adamo als Manager verpflichten ließ. „Ein kleines Glück wird einmal groß, und wenn du warten kannst dann fällt es auch in deinen Schoß“, war einer seiner großen Songs.

Allzu lang indes musste Horst Bork

gar nicht warten auf das kleine Glück. Denn dank eines kleinen beruflichen Umweges über die Plattenfirma Teldec stieß er auf ei-nen Musiker, der aus dem kleinen Glück schnell ein großes machen sollte. Und der hieß Johann Höl-zel, war Bassgitarrist in der Wie-ner Anarcho-Band „Drahdiwaberl“ und wild auf eine Solokarriere. So kam es, dass er eines Tages bei Horst Bork an seinem Hamburger Arbeitsplatz auftauchte, mit einer Tonbandrolle unter dem Arm. „Der Song, den er mir vorspielte, war al-les andere als ein großer Kracher“, erinnert sich Bork. Auf die „eher verzweifelte Frage“ allerdings, ob er denn auch ein Lied für die da-mals sogenannte B-Seite hätte, packte Hölzel einen Song aus, der seinen Weltruhm begründen sollte: Der Kommissar. Aus Jo-hann Hölzel wurde Falco, aus sei-nen Songs viele Nummer-eins-Hits in Europa und den USA. Über 60 Millionen Tonträger gingen über die Ladentische und machten ihn zu einem reichen Weltstar. Und mit ihm Horst Bork. Eine Wand seines Ingolstädter Hauses ist übersäht mit Goldenen und Platinschallplat-ten und lässt den Erfolg erahnen, den der Wiener Ausnahmestar und sein bayerischer Manager bis zu Falcos Tod im Jahre 1998 hat-

„Künstler wollen reich und berühmt werden,

Manager wollen nur reich werden.“

Horst Bork

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ten. Für Horst Bork auch darüber hinaus. Denn die meisten Rechte an Falcos Songs liegen bei Horst Bork. Und diese Songs werden auch heute noch fließig gespielt, im Radio, in Revuen und Musicals, im Fernsehen. „Falco wird auch heute noch immer wieder neu ent-deckt“, schwärmt Bork von seinem einstigen Superstar. Und dank Fal-co wurde Horst Bork sogar selbst zur Kinofigur. In dem biografischen Spielfilm „Falco - Verdammt, wir le-ben noch“, der vor allem in Öster-reich ein großer Kassenschlager war, verkörpert Christian Tramitz den quirligen Ingolstädter. Die noch immer sprudelnde Einnah-mequelle namens Falco verschafft Horst Bork eine beneidenswerte Freiheit. „Ich genieße den Luxus, dass ich es mir heute aussuchen kann, wen ich noch manage.“

Sich entspannt zurückzulehnen, was er selbstredend könnte, ist Horst Borks Sache jedenfalls nicht. „Dafür macht dieser Beruf viel zu viel Spaß. Und meine Kontakte und Verbindungen in alle Welt will ich nicht einfach brach liegen lassen“. Auch wenn er in diesem Jahr 63 wird, denkt er gar nicht daran, den Fuß vom Gas zu nehmen oder gar auszusteigen aus diesem Haifisch-becken, wie er seine berufliche Wahlheimat nennt und in dem er selbst zumindest ein nicht zu unter-schätzender Piranha ist. „Mir wäre fürchterlich fad“, meint er schmun-zelnd in dem für ihn so typischen Idiom aus Schanzerischem Baye-risch und Wiener Dialekt, wohl eine Reminiszenz an die vielen Jahre

mit Falco. Und eine Reminiszenz an die lange Freundschaft mit dem Jahrhundertkoch Eckart Witzig-mann. Denn auch um dessen ku-linarische Erfolge „kümmert“ sich Bork seit vielen Jahren, um dessen Kochbücher, die Erlebnisgastro-nomie, die er in den Spiegelzelten quer durch Deutschland viele Jah-re praktiziert hat, um Pasteten und Messer, die den Namen Witzig-mann tragen. Neben der Musik sind die lukullischen Seiten des Lebens die zweite große Leidenschaft des überzeugten Ingolstädters, der nie den Drang verspürt hat, in irgend eine Metropole zu ziehen. Obwohl er seine Büros in München und New York hat, leben will er lieber im beschaulichen Ingolstadt. Auch wenn er kaum mehr als fünf Ta-ge pro Monat zu Hause ist. „Wür-de ich in München wohnen, dann hätte ich wohl ständig Besuch von Künstlern, Köchen oder Rechts-anwälten. Hierher nach Ingolstadt kommt niemand.“ Was so selbst-redend auch nicht stimmt. Der ski-fahrende und fotografierende und natürlich ebenfalls von Horst Bork gemanagte Jet-Set-Prinz Hubertus von Hohenlohe, Enkel des letzten spanischen Königs, ist quasi Dau-ergast im Hause von Marianne und Horst Bork, Blacky Fuchsberger war ebenso häufig da wie „High-lander“ Christopher Lambert.

Denn in seinem „Stall“, wie Horst Bork seine Firma HBC Consulting scherzhaft bezeichnet, finden sich längst nicht nur Musiker, die er ma-nagt. „Als die ersten mp3-Player auf den Markt kamen, war mir schnell

klar, dass in Zukunft zwar sehr viel Musik konsumiert, aber nicht bezahlt wird.“ Bork sollte Recht behalten. Das Musikgeschäft hat sich radikal verändert. „War die Goldene Schallplatte früher mal das Zeichen für eine halbe Million verkaufter Platten, genügen heute 100 000 für diese Auszeichnung“. Seinem Instinkt folgend kümmert sich der agile Manager heute nicht nur um Musikrechte aus längst ver-gangenen Tagen und Sternekö-che, mit denen er Bücher ebenso produziert wie Fernsehshows.

Mit Florian Zimmer hat er beispiels-weise einen überaus hoffnungs-vollen deutschen Magier und Illu-sionisten im Portfolio, der, davon ist Horst Bork überzeugt, das Zeug zu einem zweiten Copperfield hat und der auch schon in Michael Jacksons Villa Auftritte hatte. Auch der Musicalstar Thomas Borchert, der derzeit in Stuttgart in „Rebec-ca“ zu sehen und hören ist, trägt den Stempel des Ingolstädter Ma-nagers. Und schließlich, da „Essen mehr ist, als nur satt zu werden“, ist Horst Bork auch noch selbst als Gastronom im Rennen. Zusam-men mit dem Witzigmann-Schüler Jörg Bachmeier betreibt er in der Nähe des Münchner Viktualien-marktes das Edelrestaurant und Hotel „Blauer Bock“. Und sollte alles so kommen, wie Horst Bork es plant, wird er demnächst auch noch das Weingut von Hubertus von Hohenlohe im südlichen Spa-nien auf Vordermann bringen. Nun ja, die richtige Nase für guten Wein hat er ja. (msc)

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„Es sollte halt nicht sein!“Warum sich Spielertrainer Denis Dinulovic trotz vierer verpasster Profichancen den Spaß am Fußball nicht nehmen lässt

Es ist der Traum vieler junger Nach-wuchsfußballer – einmal Bundes-ligaprofi. Gefeiert von Tausenden von Fans, Millionen verdienen und schließlich der Sprung in die Natio-nalmannschaft schaffen. Nicht mal ein Prozent aller Freizeitkicker in Deutschland schafft diesen Schritt. Oftmals ist es nur ein schmaler Grad. Denis Dinulovic hat dies selbst erlebt. Dreimal stand er kurz vor diesem Traum vieler.

„Es sollte halt nicht sein, ich hatte eine schöne Zeit bei meinen Stati-onen. Das Einzige was schade ist, dass ich nie im Herrenbereich unter Profibedingungen trainieren konnte. So konnte ich nie am Limit arbeiten“, sagt Denis Dinulovic mit einem Lä-cheln, als er seinem Kaffee schlürft. Ohne Groll schaut der jetzige Spie-lertrainer des ST Kraiberg auf er-eignisreiche sechs Jahre zwischen 1997 bis 2003 zurück, als er gleich dreimal an einer Profikarriere vorbei schrammte. „Angefangen hat alles beim TV in Ingolstadt. Wobei, da war es so, dass der Gedanke nicht in die Richtung Profifußball gegan-gen ist! Ab dem Zeitpunkt, wo ich zur A-Jugend von 1860 München gekommen bin, ist es schon kon-kreter geworden. Damals habe ich gegen Spieler wie Owen Hargrea-ves, Zvjezdan Misimovic, Alexand-er Streit oder Steffen Hofmann ge-

spielt“, so der 31-Jährige. Es folgte der erste Karriereknick. Nach dem Abgang von Trainer Hans-Jürgen Gittel, der drei Spieltage vor Sai-sonende aufhörte, stoppte der neue Coach Jürgen Weil den Auf-stieg des Nachwuchstalents. Der damalige Kapitän des U18-Teams hatte dort unter dem neuen Trainer keinen leichten Stand und verließ den Verein im Streit. „Ich wurde so ungerecht behandelt von einem Mann, der mich überhaupt nicht kannte. Gerade als Jugendlicher ist es Wahnsinn. Ich wollte dort schon ganz mit dem Fußballspielen aufhö-ren“, erinnert sich Denis Dinulovic. Nach zweimonatiger Pause vom Fußball konnte ihn sein Vater zum Weitermachen überreden. „Jun-ge, es wäre doch schade, wenn du nicht weitermachst. Du hast so viel Talent“, kann sich der Kraiberger noch gut an die Worte seines För-derers erinnern.

HÖHEN UND TIEFEN BEIM FCAWas folgte war der nächste Karrie-resprung. Der damalige Jugendtrai-ner des FC Augsburg Heiner Schuh-mann rief das damals 18-jährige Talent an, ob dieser nicht zum Pro-betraining beim ehemaligen Drittli-gisten vorbeischauen wolle. Unter 70 Probespielern stach der Young-ster sofort heraus. „Nach zehn Mi-nuten wurde mir gesagt, du kannst

nach oben gehen, der Liberoposten ist für dich reserviert“, verrät der gebürtige Slowene und er ergänzt: „Das war der Startschuss, wo man gedacht hat, es kann was werden mit der großen Karriere. Das Jahr in Augsburg war gigantisch von Null auf 100. Da dachte ich mir, hopp-la da ist was möglich.“ Nach einem halben Jahr hatte er sich so ge-mausert, dass er zu den Topnach-wuchsleuten des Vereins gehörte und dann sogar auf dem Wunsch-zettel einiger Bundesligisten, wie dem MSV Duisburg oder von Borus-sia Mönchengladbach, stand. Denis Dinulovic entschied sich jedoch zu bleiben. Doch auch hier sollte wie-der ein Trainerwechsel die Profikar-riere verhindern. Nach dem Abgang von Gerd Schwickert bei den Profis folgte Alfons Higl, der jedoch den Youngster nicht mehr in den Profi-bereich hochziehen wollte. So folgte die Trennung. Der Nachwuchsmann verlor aber auch dank der Unter-stützung von Familie und Freunden nicht die Hoffnung. „Wenn man hart arbeitet, bekommt man auch etwas. Man darf nie aufgeben. Das ist mein Credo!“, stellt der Fußballer klar. Was folgte war ein Neubeginn beim TSV Rain. Beim Landesligisten fing der lange Weg zurück in den Fuß-ballalltag an. „Ich hatte immer noch den Spaß am Fußball gehabt, aber der Weg zurück war schwer“, ent-

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sinnt sich Denis Dinulovic. Nach einem Jahr beim TSV entschied er sich für den Wechsel zurück in die alte Heimat. Die Station MTV Ingol-stadt, sollte jedoch nur ein kurzes und wenig positives Kapitel in sei-ner Spielerkarriere bleiben. Beim damaligen Bayerligisten lief vieles nicht wie gewünscht. „Ich bin dort nicht richtig zum Zuge gekommen. Da war die Profikarriere eigentlich schon abgehackt, nach dem ich in der Rückrunde einen Schien- und Wadenbeinbruch hatte“, so der Ki-cker.

DRITTE PROFICHANCE BURG-HAUSENAls vieles auf ein Karriereende hin-deutete, gab es wieder einen Hoff-nungsschimmer am Firmament. „Mit meiner Rückkehr nach Rain ist alles erst so richtig losgegangen. In der Herrenmannschaft wechselte ich von der Liberoposition ins Offen-

sive Mittelfeld. Das war mein Durch-bruch. Dann sind viele Leute wieder auf mich aufmerksam geworden“, erinnert sich der Spieler des ST Kraiberg immer noch gerne zurück. Mit jedem Tor stieg das Interesse an dem jungen Mann. Vor allem der damalige Zweitligist Wacker Burg-hausen hatte den Offensivmann auf dem Wunschzettel. Doch zur Überraschung vieler lehnte er das erste Angebot des Klubs ab. „Ich sah mich nie als herausragenden Fußballer und hatte damals mein ganzes Umfeld dort und wollte es nicht verlassen. Es war nicht so der Ehrgeiz da, dies aufzugeben. Wenn ich heute mich entscheiden müsste, würde ich es wohl anders machen“, verrät Denis Dinulovic. Nach vielen Überredungskünsten aus dem pri-vaten Umfeld und dem Willen es noch mal Wissen zu wollen, nahm er dann doch noch die Chance war und unterschrieb einen Vorvertrag.

Auch hier deutete nun wieder alles auf den Sprung in die Profimann-schaft unter Rudi Bommer hin. Und dann der nächste Schock. Kurz vor Ende der Saison kam es ausge-rechnet zum Duell zwischen Wa-cker Burghausen II und dem TSV Rain in der Landesliga. Ein Spiel, was der 31-Jährige nicht so schnell vergessen sollte. In der Partie riss er sich das linke Kreuzband, als ein Gegenspieler ihm von hinten in die Beine grätschte. Die Folge - kein Vertrag und das endgültige Ende des Traums. Auch beim drit-ten Anlauf war die mögliche Profi-karriere tragisch gestoppt. Aber der Leidensweg war noch lange nicht vorbei. Nachdem er sich wieder in Rain erholt hatte und wieder zu al-ter Form lief, liefen die Angebote von Spielerberatern aus dem In- und Ausland ein. Sowohl der ein-stige Regionalligaclub SC Verl, als auch Erstligisten aus Griechenland und Österreich klopften an der Tür. Und wieder stoppte eine Verletzung den Profitraum. Ein Mittelfußbruch machte auch diese Gelegenheit zu nichte. Nach insgesamt zehn Jah-ren in Rain, in der er in 260 Spie-len 170 Tore schoss, ging er nach einer zwischenzeitlichen Station in Pipiensried (Landesliga) schließlich zurück in die Region nach Kraiberg. „Es war mir nicht vorbestimmt und vielleicht fehlte mir am Ende auch der notwendig letzte Wille um es zu schaffen“, sagt der Fußballer mit einem Lächeln und nimmt den letz-ten Schluck aus der Kaffeetasse. Und wer weiß, vielleicht schafft er es doch noch in den Profifußball – diesmal aber als Trainer. (ca)Foto: Bösl

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Foto: Mitic

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„1956 wurde ich zur ersten Fa-schingsprinzessin gekürt und heute, genau 56 Jahre später, kommen Sie zu einem Interview. Das ist wirklich ein sehr schöner Zufall“, begrüßt uns Traudl Riebel herzlich und freut sich sichtlich über das Interesse an ihrer Per-son, das nach so vielen Jahren immer noch besteht. Eine lange Zeit ist seit ihrer dama-ligen Amtszeit vergangen, doch ihre Begeisterungsfähigkeit für den Fasching hat sie immer noch nicht verloren. Und davon können wir uns selbst überzeugen, als wir ihre gemütliche Stube betreten, in deren Wohnzimmer uns ein prächtig dekorierter Esstisch er-wartet, liebevoll dekoriert mit klei-nen Faschingshütchen und Luft-schlangen, die für das passende Faschingsambiente sorgen. „Seit 1956 hat sich so einiges verän-dert und das ist auch gut so“, berichtet Traudl Riebel, nippt an ihrer Kaffeetasse und bietet uns einen Faschingskrapfen an. Auch die Narrwalla hat in den ver-gangen Jahren nicht geschlafen: „Aus einfachen Dingen wurden prachtvolle Dinge geschaffen. Unsere Garde hat unheimlich dazu gewonnen. Früher war das

alles noch anders“, erinnert sie sich. Die Kleider beispielsweise waren im Gegensatz zu einem heutigen Kostüm nicht ganz so extravagant. Der Stoff, aus dem diese damals geschneidert wur-den, war äußerst empfindlich. In den meisten Fällen wurde Fah-nenseide benutzt, ein nicht ge-rade strapazierfähiges Material. „Ich kann mich noch gut an mein Kleid erinnern, das ich auch bei meinen Turniertänzen getragen habe. Eine Schneiderin hat es mit dann „prinzessinnen würdig aufgemotzt“. Dann hatte ich noch eine Staatsrobe mit einer langen Schleppe, die für besondere An-lässe reserviert war.“ Sie benöti-gte als Prinzessin auch in der Tat mehr als ein Kleid, da die Leute engen Körperkontakt suchten und dabei aufgrund des weniger stra-pazierfähigen Materials meistens ein mehr oder weniger großes Malheur mit dem Kleid passierte.

Traudl Riebel hatte sich vor 56 Jahren nicht bewusst für das Amt der Faschingsprinzessin bewor-ben. Es war ihr Prinz, Hans Rie-bel, der darauf bestanden hatte, dass sie seine Prinzessin werden sollte und keine andere. So stach

sie zwei potentielle Prinzessinnen aus und bekam den Zuschlag. „Mein Prinz, der auch Hans der Lederne genannt wurde, da seine Eltern damals das Ledergeschäft Riebel führten, war davor nicht nur mein Tanzpartner mit dem ich zusammen Turnier tanzte, son-dern auch im wirklichen Leben mein Traumprinz“, erinnert sie sich schmunzelnd an die Zeit zu-rück. „Man suchte damals für das Amt des Prinzen einen Ingolstäd-ter, der nicht ganz unbekannt war und so fiel die Wahl auf ihn. „Für meinen Hans war es klar, dass er das Amt nur mit mir zusammen antreten würde. So kam es, dass ich Ingolstadts erste Faschings-prinzessin wurde.“ Auf die Frage, was denn ihr schönstes Erlebnis aus dieser Zeit gewesen sei, lässt die Antwort nicht lange auf sich warten: „Das war eindeutig im Donaukurier.“ Den „Überfall“, den sie und ihr Prinz damals auf Dr. Willhelm Reissmüller, den ehe-maligen Inhaber und Verleger des Donaukuriers ausgeübt hatten, meisterte er mit Bravour und viel Charme, obwohl er sonst eher zu den Faschingsmuffeln zählte: „Er bot mir sofort seinen Stuhl an, auf dem ich ich mich in der Tat wie ei-

„Die Stimmung warunbeschreiblich!“Ingolstadts erste Faschingsprinzessin Traudl Riebel über närrische Zeiten damals und heute

Foto: Mitic

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ne Prinzessin fühlte, die auf ihrem Thron sitzt“, schwelgt Traudl Rie-bel in alten Erinnerungen. „Das gesamte Personal des Donauku-riers brachte uns Huldigung ent-gegen und überraschte uns mit tollen Fantasiegebilden auf den Köpfen, die sie spontan mit Toi-lettenpapier und sonstigen auf-findbaren Utensilien kreiert hat-ten“, fügt sie lächelnd hinzu.

Auch die Schlüsselübergabe, die im Unterschied zur heutigen Zeit noch im Historischen Sitzungs-saal des Rathauses stattfand, hat sie in guter Erinnerung behalten. Wie es sich für eine Prinzessin gehört, wurden sie und ihr „leder-ner“ Prinz mit einer Kutsche zum Rathausplatz gebracht, wo sie bereits von Hunderten von Men-schen jubelnd erwartet wurden. Nicht einmal die klirrende Kälte, die an diesem eisigen Winter-tag manch einem heutzutage die Faschingslust verdorben hätte, konnte die Ingolstädter damals davon abhalten, ihr allererstes Prinzenpaar in mit großer Freu-de in Empfang zu nehmen. „Der mit großen Kronleuchtern festlich geschmückte Saal imponierte mir schon gewaltig. Und als wir nach der Schlüsselübergabe auf den Balkon hinaustraten, um unseren „Untertanen“ eine Huldigung, nämlich das Heioho, zuzurufen, war das ein wahnsinnig schönes Gefühl.“ Die Stimmung, die war unbeschreiblich und einzigartig. Es herrschte ausgelassene Fröh-

lichkeit und Dankbarkeit, dass der Krieg und somit die harte Zeit der zahlreichen Entbehrungen endlich vorbei waren. Nur wenige Leute besaßen 1956 überhaupt einen Fernseher. Die Faschings-zeit wurde daher sehnsüchtig und voller Vorfreude erwartet. Die Menschen waren ausgehun-gert nach Musik und guter Stim-mung. Die ganze Stadt war auf den Beinen und alle wünschten sich vor allem eines: Feiern und das Leben genießen! So waren die Kapazitäten der Festsäle er-schöpft. In einem Saal, der für 1000 Menschen bestimmt war, tummelten sich über 14000 Fei-erlustige. „Das kam uns natür-lich entgegen. Wir hatten schon ein leichteres Feld, da die Leute einfacher zu begeistern waren, als es heute der Fall ist“, erinnert sich Traudl Riebel und zeigt uns einige alte Bilder aus ihrem Foto-album, auf denen die Stimmung und die glücklichen Gesichter der Menschen dies eindeutig bestäti-gen können. Sie und ihr Prinz wa-ren als geübtes Turniertanzpaar längst keine Anfänger auf dem Parkett und schwangen gekonnt das Tanzbein. Davon ließ sich das Publikum mächtig beeindru-cken und mitreißen. Ein Glas Sekt oder auch Cognac, Getränke die damals wahrlich zu den Luxus-getränken zählten, wurde schon mal als Belohnung für die schöne Tanzeinlage von den Zuschauern spendiert. „Die Leute waren be-geistert und haben uns mächtig

angefeuert und Tänze wie zum Beispiel den Rumba, den Tango oder auch einen Paso Doble zu tanzen.“Auf unsere Frage, ob sich die Bedeutung der Faschingszeit über die vielen Jahre hinweg ver-ändert habe, antwortet sie fest überzeugt: „Ja, sogar sehr! „Frü-her war der Fasching in Ingolstadt sensationell. Die ganze Stadt hat sich schon Wochen vorher auf die närrische Zeit vorbereitet und konnte es kaum erwarten, dass es endlich losging. Auch lag ei-ne ganz andere Spannung in der Luft. Gehen die jungen Leute heutzutage überwiegend paar-weise feiern, hoffte man vor 56 Jahren auf den Faschingsbällen seinen Schwarm zu treffen oder womöglich jemanden kennenzu-lernen: „Die Vorfreude und vor allem die Aufregung waren riesig. Wir dachten uns: da geh‘ ich hin und seh‘ vielleicht den oder treff‘ jemanden.“

Traudl Riebel, die übrigens zu ihrer großen Freude von der In-golstädter Faschingsgesellschaft beim Krönungsball letztes Jahr einen Orden verliehen bekom-men hatte, ist sehr glücklich, dass sie dies alles erleben durfte. Am meisten überrascht es sie, dass die Ingolstädter ihr nach all den Jahren immer noch die Treue halten.“Die Zeit war wie im Mär-chen, doch jedes hat auch ein En-de. So kann ich nur sagen: Es war einmal...“ (dm)

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Foto: Privat

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Foto: Reichelt

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Das Leben unter der brasilianischen Sonne - ein Traum für viele Men-schen. Palmen, Strand und wun-derschöne Frauen. Klingt für einen Mann nach dem perfekten Leben. Das Paradies an der Copacabana - für Rodger Klingler wurde es zur Hölle.

Heute steht der mittlerweile 47-Jäh-rige hinter der Theke der S-Bar in Ingolstadt und verkauft Hot Dogs. Fröhlich und eloquent unterhält er sich mit den Kunden. Nichts erin-nert an seine Vergangenheit, an die Hölle, die er in Brasilien durchlebte. In seinem Buch „Ein Kilo Paradies“ erzählt Klingler die Geschichte eines jungen Mannes, der einem Traum hinterherjagte und sich in einem Alb-traum wiederfand. Klingler hatte kei-ne leichte Jugend. Als er zwölf Jahre alt war, trennten sich seine Eltern. „Ich musste mich entscheiden, bei wem ich bleiben sollte, und entschied mich für meinen Vater. Das hat mir meine Mutter nie verziehen. Später habe ich mich dann auch noch mit meinem Vater zerstritten.“ Er war gerade 15 Jahre alt, als er zuhause auszog und in einem fränkischen Restaurant eine Lehre als Koch be-gann. Schon damals träumte er von einem Leben an der Copacabana. Und die fehlende soziale Bindung machte ihm die Entscheidung leicht: „Als ich meine Ausbildung beendet

hatte, hielt mich nichts mehr davon ab, diesen Traum zu verwirklichen. Ich wollte dort wirklich ein neues Leben beginnen.“ Ein Leben, dass sich anfänglich wirklich als traumhaft erwies. „Sonne, Meer, Frauen – al-les hat gepasst“, schwärmt Klingler noch heute. Doch der Alptraum ließ nicht lange auf sich warten. Nach etwa neun Monaten in Brasilien rutschte Klingler immer mehr in die Drogenszene ab. „Ich hatte davor nie Kontakt mit Drogen.“ In seinem Buch klingt das so: „In meinem Kopf hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits der Teufel eingenistet und mir ein aben-teuerliches Leben in Saus und Braus vorgegaukelt. Woher aber hätte ich wissen sollen, auf was ich mich da einlassen würde? Die Wirkung von Kokain war jedoch so überirdisch schön, ja – göttlich!“ Irgendwann fasste er den fatalen Entschluss, ein Kilo Kokain nach Deutschland zu schmuggeln und es dort zu ver-kaufen, um sich nicht mehr als Koch abrackern zu müssen. Den Rückflug buchte er für Weihnachten 1984. Es kam, wie es kommen musste: Der brasilianische Zoll fand den Stoff, den er in kleinen Päckchen in sei-ne Jacke genäht hatte. „2000 Dollar und ich lasse dich gehen, aber nur, weil heute Weihnachten ist“, bot ihm der Zöllner an, doch Klingler hatte nur noch 300 Dollar in seiner Brief-tasche.

„Wenn man noch auf zwei Beinen das Zimmer verlassen konnte, war das ein großes Glück“, schreibt Klingler in seinem Buch über die Behandlung bei der Flughafen-Po-lizei. Mit ihm ging man noch glimpf-lich um: „Auch ich bekam Tritte und Faustschkäge!“ Er wurde nach Agua Santa verlegt, ein Hochsicherheits-gefängnis, in dem er ganze neun Monate auf seine Verhandlung war-ten musste, bei welcher er zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. „Man muss bedenken, dass Brasilien zu dieser Zeit im Umbruch war, sich von einer Militärdiktatur zur Demokratie entwickelte. Es gab viele politische Strömungen und auch viele poli-tische Gefangene. Die Gefängnisse hatten Hochkonjunktur, es gab viele Aufstände und Revolten hinter den Gefängnismauern“, erklärt Klingler. Mit 50 anderen Gefangenen hauste Klingler auf 30 Quadratmetern. Das Essen war miserabel und es gab so gut wie keine Medikamente. Ein Um-stand, der Klingler beinahe zum Ver-hängnis geworden wäre. Von einem Mithäftling wurde er schließlich ge-rettet. Der bestach einen Wärter und kam so an Antibiotika heran um Klinglers Fieber zu senken und ihm so das Leben. Mit seinem Lebensret-ter Alois, einem Holländer, verstand sich Klingler bestens. Doch das war die Ausnahme: „Ich hatte nur zu we-nigen der Gefangenen wirklichen

Die Hölle im ParadiesRodger Klingler verbrachte mehrere Jahre in einem brasilianischen Gefängnis

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Kontakt.“ Ein Fluchtversuch der beiden durch einen Tunnel, der von Alois geplant worden war, misslang. Während all dieser Zeit im Gefängnis lernte er perfekt Portugiesisch, was ihn bei Brasilianern beliebt machte, auch bei den anderen Gefangenen.Am schlimmsten war es , wenn es zu Revolten kam. „Die Polizei ließ erst einige Zeit vergehen, bevor sie ein-griff. Dann aber schoss sie auf alles, was sich bewegt. Die Gefängnisse sind nur von außen bewacht, die Ge-fangenen sind sich selbst überlas-sen. Waffen sind natürlich an der Ta-gesordnung. Da ist man als Unbetei-ligter plötzlich mittendrin in so einem Aufstand und muss Angst haben, den Tag nicht zu überleben. Über Leichen laufen zu müssen, zuzuse-hen, wie jemand neben dir erschos-sen wird, das war Alltag“, erinnert sich Klingler an die dunkelsten Tage im Gefängnis. Besonders enttäuscht war er vom deutschen Konsulat: „Die haben keinen Finger für mich krumm gemacht. Lediglich etwas Geld habe ich bekommen, wofür ich auf Knien betteln musste. Mir wurde nur ge-sagt, dass ich Deutschland befleckt hätte.“ Nach insgesamt vier Jahren in den Gefängnissen Agua Santa, Galpao und Lemos de Brito wurde Klingler entlassen dann und kehrte nach Deutschland zurück. Zuerst nach Nürnberg, wo er durch eine neue Ausbildung allmählich wieder zu einem normalen Leben zurück-fand. Später zog er wegen seiner jetzigen Frau nach Ingolstadt. Das ist nun sechs Jahre her. Trotz all sei-ner Erfahrungen, all der grausamen Erlebnisse ist Klingler der geblieben, der er vorher war. „Man ist wie man

ist, auch im Gefängnis. Ein wenig aber habe er sich doch verändert: Er sei verroht und viel demütiger ge-worden. Verständlich nach all dem, was er gesehen hat. Bereuen kann er die Zeit dennoch nicht. „So eine Erfahrung dich auch weiterbringen und größer werden lassen. Auch im dunkelsten Loch gibt es noch ein Licht. Man muss es nur erkennen“, betont er und fügt hinzu: „Natürlich war es ein Fehler. Aber ich bin trotz-dem froh, diese Geschichte weiterer-zählen zu können. Ein wenig scheint Klingler auch nach seinem Gefäng-nisaufenthalt in Brasilien vom Pech

verfolgt. Nachdem vor sieben Jah-ren die Idee zum Buch gereift und der Roman erschienen war, meldete der Verlag nur zwei Wochen nach der Veröffentlichung Insolvenz an. Auch ein Drehbuch hat Klingler aus seinen Erlebnissen geformt. „Es ist mein großer Traum, diese Geschich-te auf der Leinwand zu sehen.“ Aber noch sucht er einen Produzenten, der seinen Albtraum auf die Lein-wand bringt. (kr)

Das Buch „Ein Kilo Paradies“ ist un-ter der Mail-Adresse [email protected] für elf Euro erhältlich.

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Foto: Privat

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Lebenslinien im Februar 2012

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Er gehört zur „Alten Garde“ der Ingol-städter Künstler. Auch ein Schlagan-fall und Kehlkopfkrebs hindern ihn nicht daran, immer weiter zu malen: der Maler Hans Steber.

Obgleich viele seine Bilder lieben und kennen, ohne zu wissen, dass sie von ihm sind, gibt sich Hans St-eber sehr bescheiden: „Ich habe mir nie viel eingebildet auf meine Male-rei. Wenn die Leute zu mir gesagt ha-ben: „Ach, Sie sind ein Künstler!“, da habe ich geantwortet : „Nein, ich bin kein Künstler, ich bin ein Maler. Ich bin als Ingolstädter Maler bekannt, ich bin der Steber Hansi, mit an „i“ wia der Kanarienvogel!“ Steber hat Ingolstadts Bild in der Öffentlichkeit geprägt. Das überregional bekann-te Bild vom Ingolstädter Christkind-lmarkt, das seit mehr als 10 Jahren

in der Weihnachtszeit als Plakat und Anzeige in den Medien verwendet wird, stammt von ihm. Auch auf dem Ingolstädter „Sales Guide“, also Ein-kaufsführer, der als Marketinginstru-ment im ganzen Bundesgebiet ge-streut wird, zierten von 1991 bis 2001 Bilder von Steber das Titelblatt. Zu den Abnehmern seiner Bilder zählen auch die Eltern von Karin Seehofer. „Die Familie Stark aus Schamhaup-ten, ganz reizende Leute, wie auch die Karin, die haben mich einmal angerufen, ob ich nicht ihr Anwesen malen könnte. Der alte Stark, zwi-schenzeitlich ist der leider gestorben, hat mich dann auf einen Berg hinauf geführt, von dem ich einen Blick auf sein Anwesen hatte. Da habe ich es skizziert und zu Hause gemalt und ihm natürlich verkauft - nicht gera-de billig. Das waren ja keine armen

Leute! Dann hat er mich später noch mal angerufen und gesagt, Sie müs-sen mir unbedingt das Bild nochmal malen. Mein Bruder aus Berlin hat es mitgenommen. Da habe ich zwei-mal verdient!“ Und nicht ohne Stolz fügt er hinzu: „Mit den Seehofers und Starks bin ich „per du“, wie auch mit dem Hermann Regensburger. Der Hermann und der Horst haben frü-her im Landratsamt gearbeitet. Und ich in der AOK, praktisch auf der an-deren Straßenseite. So haben wir uns kennen gelernt.“ Mit dem Malen hat Hans Steber 1980 angefangen. Da war er in Südtirol beim Skifahren und hat Ingolstädter Maler Hermann Wallrap getroffen, der dort auch ge-malt hat. „Dem habe ich beim Malen zugeschaut und war ganz begeis-tert. Da habe ich ihn gefragt, ob ich nicht einmal mit ihm zum Malen ge-

Der die Blumen liebtHans Steber will Maler aber kein Künstler sein

Foto: Käbisch

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hen könne. Ich müsse erst mal einen Malkurs machen, hat er mir klar ge-macht. Auf seine Empfehlung hin ha-be ich dann in Neuburg bei Profes-sor Itzinger erstmal einen 14-tägigen Kurs belegt. Das war der Anfang meiner Malerei.“ Die im Neuburger Kurs entstandenen Bilder zeigte er dann Wallrap, was diesen offenbar beindruckte. „Also morgen gehen wir zusammen zum Malen“. Mit diesen Worten Wallraps begann eine lange „Malerfreundschaft“: „Und von da an bin ich bis zu seinem Tod im Jahr 1989 immer mit ihm zum Malen ge-gangen. Mit dem hab ich gemalt wia der Deifi! Wir sind zwei bis dreimal in der Woche gegangen. Da habe ich sehr viel gelernt. Viel mehr als an der Universität.“ Die Begeisterung Ste-bers ist heute noch unüberhörbar.

In Neuburg hat dann bis 1984 fort-wähend Malkurse belegt. Wegen erheblicher Probleme mit der Band-scheibe wurde Hans Steber 1985 vorzeitig pensioniert. „Ich hatte Beschwerden, aber keine fortwäh-renden Schmerzen; so bin ich dann ab 1986 an die Universität in Eich-stätt als Gasthörer gegangen.“ Bei Professor Rindfleisch und anderen Dozenten hat er sechs Semester studiert.„Meine erste Ausstellung hatte ich mit dem Kunstkreis Neu-burg beim Zett in Ehekirchen. Jeder durfte fünf Bilder mitbringen. Von mir haben Sie vier angenommen. Eins haben sie abgelehnt, weil es eine Ähnlichkeit mit einem anderen hat-te. Als dann die Ausstellung zu En-de war, hatte der ganze Kunstkreis drei Bilder verkauft. Aber von meinen vier Bildern waren auch drei verkauft

worden.“ Da sei er mächtig stolz ge-wesen, bekennt Steber und berich-tet von seinem ersten „Auftritt“ in In-golstadt: „1983 bin ich einmal in die Neue Galerie, also ins MO zur Kraus Liesl gegangen und habe gefragt: „Du Liesl, könnte ich bei dir nicht mal mit ausstellen!“ „Du?“ hat die geant-wortet. „Du kannst doch bloß saufen und blöd daher reden!“ Ich habe dann aber einfach ein paar Bilder vorbei gebracht und dann hat sie gemeint, ich könne schon mitmachen. Schon bei der ersten Ausstellung habe ich zwei oder drei Bilder verkauft. Da bin ich immer narrischer gewor-den!. Von da an habe ich praktisch jedes Jahr im MO mit ausgestellt.“ Hans Steber bevorzugt Motive aus seiner Heimatstadt, sowie Blumen und die Landschaft der Toskana. Besonders Blumen sind seine Lei-denschaft. „In der Toskana habe ich auch sehr oft gemalt. Da bin ich einmal auf einen Markt gegangen. Dort hat einer Bilder mit Rahmen verkauft. Da habe ich gesagt, das Bild will ich nicht, aber den Rahmen. Dann hat er mir für 40 DM den Rah-men verkauft und ich habe gleich noch in der Toskana ein Bild mit Mohnblumen gemalt. Das war vom Feinsten!“ Früher hat der Künstler viel in Öl gemalt. Wegen einer Er-krankung hatte er sich dann aber mit den ätherischen Ölen und dem Terpentin Probleme. Jetzt bevor-zugt er Acryl und fertigt viele Aqua-relle und Federzeichnungen. Wenn er in Urlaub fährt, habt er immer sei-nen Zeichenblock dabei und wirft 20, 30 oder 40 Federzeichnungen als Skizzen aufs Papier. Zu Hause in Ingolstadt setzt er diese Skizzen

dann in bunte Bilder um. „Ich bin ein Impressionist oder ich möchte halt einer sein. Farbe und Licht sind das Wesentliche des Impressionismus und auch in meiner Malerei.“ Die französischen Impressionisten wie Cézanne, Monet oder Manet haben ihn schon immer begeistert. Auch die deutschen Impressionisten, wie der Liebermann oder der Corinth sind meine Vorbilder.“ Ein einziges Mal hat er ein abstraktes Bild ge-malt und ausgestellt. „Da hat die Presse gleich geschrieben: „Hans Steber geht neue Wege.“ Da habe ich gleich wieder damit aufgehört.“ Hans Steber liebt auch die Musik. Er habe aber in jungen Jahren kein Instrument erlernt, weil er „ein fauler Hund“ gewesen sei. „Ich bin halt ein musischer Mensch. Über das Rechnen brauchen Sie sich mit mir nicht zu unterhalten!“ Auch jetzt, von schwerer Kankheit einigermaßen erholt, lebt er für die Malerei: „Was tät‘ ich denn den ganzen Tag, zu viel gehen kann ich nicht nach meinem Schlaganfall. Die Malerei ist halt für mich das Höchste.“ Je nachdem, wie es ihm gerade geht, malt Hans Steber manchmal noch10 oder 20, zumeist kleinformatige, Bilder in der Woche. „Manchmal sind es auch nur zwei oder drei. Es kommt natürlich auch auf das Format an. Großforma-tige Bilder strengen mich sehr an, da ich sie im Stehen malen muss. Ein Aquarell kann man nicht im Sitzen malen, weil sonst die Farbe verläuft“ erläutert er. Im Atelier arbeitet er kaum noch; die meisten Bilder ent-stehen jetzt im Esszimmer. Da ist er näher bei seiner Frau, deren Hilfe er jetzt öfter benötigt. (hk)

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Foto: Käbisch

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Foto: Schmatloch

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22 Spieler jagen bei Wind und Wetter einer Kugel hinterher, fal-len immer wieder hin – und am Ende gehen alle duschen: Auch wenn Fußball für manche sinnlos erscheint, ist es für viele doch die schönste Nebensache der Welt. Die richtig guten Spieler werden wie Helden verehrt. Aber es gibt noch eine Person auf dem Fuß-ballfeld – und die mag eigentlich keiner so recht. Im Schiedsrich-ter wird nicht selten der Schuldi-ge für unberechtigte Niederlagen, bittereTränen und erschütternde Skandale ausgemacht. Nicht gerade ein Traumjob also? Der ehemalige Bundesliga-Referee Werner Roß sieht das anders. „Ich würde es heute noch ge-nauso machen, würde den glei-chen Weg einschlagen“, sagt der 67-Jährige.

Sein Weg war ein geradliniger, gerechter und vor allem ehrlicher. Und ein sportlicher: „Sport war immer mein Leben, immer mei-ne Leidenschaft“, sagt er. Selber Kicken durfte der gebürtige Ingol-städter nie. Der strenge Vater er-laubte es nicht. Auch deshalb griff Werner Roßald zur Pfeife. „Ich war oft Zuschauer beim ESV. Als wir über den Eisenbahnsteg nach Hause gegangen sind, waren wir meistens traurig und verärgert über die Schiedsrichter. Ich dach-

te mir dann, dass ich das besser kann“, erzählt er:„Aber das kann man ja nur beweisen, wenn man es selber macht.“

Im Alter von 19 Jahren begann die Schiedsrichter-Karriere des Post-boten. Mit gerade einmal 26 leite-te er bereits Bundesliga-Partien - als jüngster seiner Zunft. „Ich hat-te das Gespür dafür, weil ich einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn habe“, sagt er. Eben diese Fä-higkeit schätzten viele Trainer und Spieler an ihm, obwohl auch Roß freilich nicht fehlerfrei blieb.In einem Bundesligaspiel zwi-schen dem VfL Bochum und dem Hamburger SV etwa gab er einen Strafstoß, der zum 2:1-Sieg der Bochumer führte - obwohl es kein Foul war. Branko Zebec, der da-malige Coach des HSV, kam nach dem Spiel zu Roß, aber nicht um ihn wüst zu beschimpfen oder ihn für die Niederlage verantwortlich zu machen. „Nein, Zebec erklär-te mir, dass er den Elfmeter auch gegeben hätte. Er verstand meine Entscheidung, weil er ebenfalls diesen Blickwinkel hatte. Damit war die Sache vorbei.“

Auch international war Roß im Einsatz, beispielsweise in Bel-gien, Italien, Ungarn oder in den Niederlanden. „Das sind alles schöne Momente, an die man

sich einfach gern erinnert.“ Wel-che Wertschätzung er in Fußball-deutschland genoss, wurde spä-testens im Jahr 1982 klar: Roß sollte am 23. Januar die Partie Ar-minia Bielefeld gegen Werder Bre-men pfeifen. Alles andere als eine ganz normale Begegnung, denn im Hinspiel hatte eine der häss-lichsten Verletzungen in der Bun-desliga-Geschichte für Schlag-zeilen gesorgt. Dem Bielefelder Ewald Lienen war bei einem Foul von Norbert Siegmann der Ober-schenkel im wahrsten Sinne des Wortes aufgeschlitzt worden. Mit einer 25 Zentimeter langen, tiefen Risswunde rannte Lienen wutent-brannt auf Werder-Trainer Otto Rehhagel zu, den er offenbar für das Foul verantwortlich machte. Er soll seinen Spieler angestiftet haben. Hochexplosive Stimmun herrschte da also vor dem Rück-spiel in Bielefeld. „Rehhagel saß mit einer Bleiweste auf der Bank und wurde von Leibwächtern es-kortiert.“ Doch Werder-Präsident Franz Böhmert hatte vor dem Spiel betont: „Wenn der Roß pfeift, können wir beruhigt hin-fahren!“ Er sollte Recht behalten, denn der Unparteiische leitete die Partie gewohnt souverän und ließ keinerlei Unruhe aufkommen.

Auch die Derbys zwischen Schal-ke und Dortmund oder dem FC

Böse Fouls und heiße DerbysWerner Roß war jahrelang Bundesliga-Schiedsrichter – der Fußball lässt ihn einfach nicht los

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Bayern und dem TSV 1860 Mün-chen sind für Roß unvergessene Stationen seiner Schiri-Karriere. „Einmal hatte ich Angst“, erzählt er. Es war das letzte Spiel der Saison und Schalke war nach ei-ner Heimniederlage gegen Köln abgestiegen. 3000 Fans kamen aufs Spielfeld. Doch sie began-nen nur zu singen: „Wir kommen wieder!“

Roß stand stets zu seinen Feh-lern, Probleme mit aufgebrachten Fans oder Kritik an seinen Ent-scheidungen hatte er nicht, wie er betont: „Der Schiedsrichter hin-dert dich manchmal am Gewin-nen - so sehen es die Anhänger, das ist doch klar. Aber wenn 80 000 Fans in Dortmund schreien, da gibt es nichts Schöneres.“

Roß pfiff aus Leidenschaft, und das nicht nur in der Bundesli-ga. Stand er am Samstag nicht in den großen Stadien der Bun-desliga, leitete er Spiele in der Region. 1982 beendete er nach zehn Jahren seine Bundesliga-Karriere. „Es war zu viel Stress, auch wegen der Arbeit. Ich muss-te ja ständig einen Ersatz finden“, räumt er ein.„Ich habe dann sel-ber bestimmt, wann ich aufhöre.“

Seine Leidenschaft lässt ihn aber nicht los: „Wenn ich ein Spiel schaue, beobachte ich meist nur den Schiedsrichter.“ Böse Worte fallen dabei nie, sagt er. Denn Roß weiß, wie anspruchsvoll

dieser Beruf ist. „Mittlerweile ha-ben es die Jungs noch schwerer - aber sie werden auch anstän-dig bezahlt.“ Roß erhielt damals pro Spiel 24 Mark, heute verdie-nen die Schiedsrichter fast das 200-fache. Geändert hat sich aber nicht nur die Vergütung: „Heutzu-tage wird alles im Fernsehen ge-zeigt,. Für uns war ein Spiel im Fernsehen etwas Besonderes, da warst du richtig stolz.“

Auch nach seiner aktiven Zeit blieb Werner Roß dem Fußball treu. In 19 Jahren als Schieds-richter-Beobachter half er inter-nationalen Top-Leuten wie Wolf-gang Stark oder Felix Brych auf ihrem Weg. Beim Bayerischen Landessportverband (BLSV) sitzt er im Aufsichtsrat. Und beim FC Ingolstadt ist er Repräsen-tant – mit Leib und Seele.„Das war schon Wahnsinn, dass Peter Jackwerth und Franz Spitzauer mich dafür wollten“, sagt er und schiebt augenzwinkernd nach: „Komm Werner, mach die Putz-frau, hätten die beiden auch sa-gen können.“ Leidenschaftliche Worte von einem Mann, der im-mer zur Stelle ist, aber lieber nicht im Fokus steht. „Egal wer, wo oder was, ich helfe, wo ich kann, aber ich bleibe im Hintergrund.“ Eine Einstellung, die er auch als Unparteiischer verkörperte. „Je-der einzelne ist wichtig, nicht nur Spieler und Schiedsrichter.“ Roß hatte und hat immer seine eigene Meinung und vertritt diese auch.

Deswegen ist er heute noch be-liebt bei ehemaligen Kollegen. Erst vor kurzem traf er in Dort-mund auf Eugen Strigel, der ihn gleich begrüßte: „Werner, darf ich dich zu deinem Platz bringen? Du bist einmalig!“

Für Veränderungen im Fußball macht er sich nur bedingt stark. Doch er bezieht klar Stellung. „Eine Torkamera habe ich 1972 schon gefordert, sie würde hel-fen.“ Mehr sollte sich aber kaum wandeln am Regelwerk. Fußball sei einfach eine ganz besondere Leidenschaft.

Wenn Roß in die Zukunft schaut, spürt man seine positive Einstel-lung. „Ich bin sicher, dass wir nicht absteigen dieses Jahr.“ Wir, sagt er, und meint den FC Ingol-stadt 04, der wieder um den Klas-senerhalt in der zweiten Bundes-liga ringt. Und Roß meint wirklich den ganzen Klub. „Ich bin so ein wenig die Mutter Teresa des Ver-eins“, sagt er lächelnd. Auch die Perspektive des deutschen Fuß-balls sieht er rosig. „Wir haben gute Chancen, Europameister zu werden. Aber man sollte auch mit dem Halbfinale zufrieden sein.“

Zufrieden ist er auch mit sich, seiner Vergangenheit und der Welt. Und es klingt so ein-fach, wenn Werner Roß sagt: „Man sollte sich nicht verbiegen lassen und an die Menschlichkeit glauben.“ (kr)

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Foto: Privat

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Foto: oh

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In der „Liebl-Klinik“ am Kreuz-tor geboren, mit „Schutterwas-ser“ getauft: Martin Reißig ist ein waschechter Ingolstädter. Als er am Reuchlin-Gymnasium in die Schule ging und dort das Abitur machte, ahnte er nicht, dass er im Jahre 1974 direkt neben der Schule seine Praxis als Zahnarzt eröffnen würde.

Der Träger des Bundesverdienst-kreuzes am Bande ist nicht nur Zahnarzt, sondern war auch lange Jahre Vorstand der Kassenzahn-ärztlichen Vereinigung Bayerns. Ungeachtet dieser Doppelbela-stung fand er immer genügend Zeit, um - vorzugsweise mit dem Wohnmobil - andere Länder zu bereisen.

„Zwei Reisen durch Süd- und Nordamerika und eine durch Süd-ostasien - das waren die am wei-testen entfernten Reiseziele, die meine Frau Karin und ich besucht haben. Da waren wir natürlich mit dem Flugzeug unterwegs. Anson-sten bin ich mit meiner Frau mit dem Zelt, Wohnwagen und später dann mit dem Wohnmobil gereist. Unser erstes Reiseziel war der Gardasee. Um mit ihr dort hinfah-ren zu dürfen, mussten wir uns erst verloben. Ansonsten hätten die späteren Schwiegereltern kei-ne ,Reiseerlaubnis‘ erteilt.“

Später bereiste das Ehepaar Rei-ßig mit dem Wohnmobil von Por-tugal bis an die Ostgrenze der Türkei vor allem südliche Länder. Auf dem Plan steht noch eine komplette Umrundung des Mit-telmeers. Zunächst geht es aber möglicherweise nach Norden: so-bald es der gesundheitliche Zu-stand seiner Ehefrau, die um die Jahreswende am Herzen operiert wurde, erlaubt, wollen beide die Ostsee mit dem Wohnmobil um-runden.

Nach den schönsten Reiseerin-nerungen befragt, muss Martin Reißig nicht lange nachdenken: „Das war einmal ein Sonnenauf-gang auf dem Wayna Picchu in MP in Peru. Meine Frau und ich waren mit dem Ehepaar Am-berger unterwegs und erlebten, wie die Sonne über den Anden aufging. Nicht minder beeindru-ckend war ein Sonnenuntergang in der Türkei, abermals auf einem Berg: Am Nemrut Dagi, 2206 Me-ter hoch, in Mesopotamien sahen wir, umgeben von in Stein gehau-enen Göttern, deren am Boden liegende Köpfe ich auch fotogra-fiert habe, wie die Sonne im Tau-rusgebirge versank.“

Angst vor einsamen Gegenden kennen Martin Reißig und seine Frau nicht. „Es ist uns schon pas-siert, dass nachts in freier Natur

in der Türkei jemand an unser Wohnmobil geklopft hat. Die Ein-heimischen wollten uns dann zu sich nach Hause einladen, weil sie meinten, wir könnten dort ru-higer und komfortabler schlafen. Wir haben aber dankend abge-lehnt, weil unser Wohnmobil nicht nur in sanitärer Hinsicht große Vorteile bot.“

Im letzten Jahr war das Ehepaar vier Wochen lang mit dem Gelän-dewagen in Afrika unterwegs: Na-mibia, Botswana und Simbabwe wurden Anfang Februar in Angriff genommen, nachdem Martin Rei-ßig Ende Januar offiziell als Vor-stand der Kassenärztlichen Ver-einigung Bayerns verabschiedet worden war. Die „neue Freiheit“ wollte Martin Reißig genießen, nachdem er zuvor sechs Jahre lang als Zahnarzt und Vertreter seines Standes einer Doppelbe-lastung ausgesetzt war.

Bereits vor seiner sechsjäh-rigen Amtszeit, die im Dezember 2010 endete, war Martin Reißig schon 1990 zum (damals noch ehrenamtlichen) Vorstandsvor-sitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung gewählt worden. In dieser Zeit, als Horst Seehofer Gesundheitsminister in der Re-gierung Kohl war, verhandelten beide miteinander. Der Vertreter der bayerischen Zahnärzte wollte

Im Wohnmobil unterwegsMartin Reißig hatte zwei Berufe und dennoch viel Zeit zum Reisen

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sein Konzept der „Vertrags- und Wahlleistungen“ durchsetzen. „Der mündige Bürger sollte ei-nen vollen Anspruch auf Leistun-gen seiner Krankenkasse haben, Wunschleistungen aber selbst tragen.“ Seehofer, mit dem er sich eigentlich schon einig war, musste aber mangels Mehrheit der Regierung Kohl im Bundes-rat auf Vorstellungen der Sozial-demokraten Rücksicht nehmen, so dass der Plan scheiterte. Fru-striert von diesem „Ausflug in die Gesundheitspolitik“ trat Martin Reißig 1993 von allen Ämtern zu-

rück und widmete sich nur noch seiner Praxis. Doch schon 2004 wurde er wieder gerufen: die Kas-senärztliche Vereinigung Bayerns war in „schweres Fahrwasser“ ge-raten und die Staatskanzlei hatte einen Kommissar aus dem auf-sichtsführenden Ministerium ein-gesetzt, um die Lage unter Kon-trolle zu halten. Martin Reißig, den man zutraute, die Gemüter zu beruhigen und zu vermitteln,

wurde zum neuen Vorstandsvor-sitzenden gewählt und übte ab 2004 das Amt hauptberuflich aus. Nachdem wieder „geordnete Ver-hältnisse“ herrschten, zog er sich Ende 2010 freiwillig zurück.

Besonders gefreut hat er sich, als er im Jahr 2009 aus den Hän-den des Bayerischen Minister-präsidenten Horst Seehofer das Bundesverdienstkreuz am Bande erhielt. Die Wertschätzung See-hofers dokumentiert auch eine Videobotschaft des Ministerprä-sidenten: Da Horst Seehofer bei der offiziellen Verabschiedung im Januar 2011 persönlich nicht an-wesend sein konnte, schickte er ein Video, indem er Martin Reißig bestätigt, dass sich dessen Kon-zept, das dieser in den neunziger Jahren schon realisieren wollte, nunmehr durchgesetzt habe. Ei-ne nette Geste des Ministerpräsi-denten, mit dem sich Martin Rei-ßig, der wie Seehofer in Gerolfing wohnt, auch in den Zeiten, in de-nen man unterschiedliche berufs-politische Positionen einnehmen musste, gut verstand.

Seine Heimatstadt Ingolstadt schätzt der weit gereiste Zahn-arzt sehr: „Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie schlecht die wirtschaftliche Lage in den sieb-ziger Jahren hier war. Ingolstadt hat sich grandios entwickelt. Das

geplante Hotel- und Kongress-zentrum hält er für sehr wichtig. „Ich habe in meiner Eigenschaft als Vorstand der Kassenärzt-lichen Vereinigung Bayerns zahl-reiche Veranstaltungen organi-sieren müssen.

Dabei habe ich den Eindruck ge-wonnen, dass Kongresse außer-halb von München oder Nürnberg gern besucht werden. Aufgrund meiner Erfahrung kann ich sagen, dass es sehr sinnvoll ist, neben einem Kongresszentrum ein Ho-tel zu bauen. Dieses Hotel sollte auch über mindestens 600 Betten verfügen.

Veranstalter haben es nicht gern, wenn die Kongressteilnehmer auf mehrere Hotels verteilt wer-den müssen. Ich hoffe nur, dass man hier nicht, wie bei der „dritten Donaubrücke“, bei der die vierte Fahrspur heute doch sehr stark vermisst wird, einen „faulen Kom-promiss“ eingeht, sondern ein Zentrum errichtet, das den Anfor-derungen, die Veranstalter stel-len, gerecht wird.“ Angst davor, dass das neue Bauwerk auf dem Gießereigelände die Wirkung des historischen Neuen Schlosses beeinträchtigen könnte, hat Mar-tin Reißig nicht. „Das Stadttheater beweist doch, dass man alte und neue Architektur sehr gut kombi-nieren kann.“ (hk)

„Am Nemrut Dagi in Mesopo-tamien sahen wir, umgeben von in Stein gehauenen Göt-

tern, wie die Sonne im Taurus-gebirge versank“

Martin Reißig

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Foto: privat

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Foto: oh

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(kr) Der Bayer an sich ist ein stol-zer Mensch, stolz auf sein Bayern und noch stolzer auf sein baye-risches Bier. Natürlich gebraut nach dem Reinheitsgebot von 1516. Wer nach Bayern kommt, muss feststellen: Bier ist in Bayern ein grundlegendes Lebensmittel – dafür ist Franz Etsberger der beste Beweis. Über 40 Jahre ar-beitete er mit Leib und Seele bei der Firma Nordbräu.

Als Sohn eines Biersieders, so wie der Bierbrauer damals noch hieß, wurde Etsberger sein spä-terer Beruf praktisch in die Wiege gelegt. „Es war zu dieser Zeit oft-mals üblich, dass der Sohn das gleiche lernt, wie der Vater“, er-klärt Etsberger. „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“, blickt er auf die Anfänge seiner Ausbildung zurück. „Mit gerade 14 Jahren ging es täglich bereits um fünf Uhr los. Wir mussten das Bier in Holzkisten oder Fässern auf die Bierautos laden. Bevor man dann die Ladung mit einer Pla-ne abdecken konnte, wurden die Fässer in Eis eingepackt um sie

zu kühlen“, erzählt Etsberger von seiner Arbeit.

Etsberger erlernte den Beruf des Brauers und Mälzers. Als Mälzer-lehrling musste er die keimenden Malzhaufen umschaufeln und sauber aufstechen. Eine äußerst mühsame und gekonnte Arbeit. „Der Stolz eines Mälzers war, wenn man eine Wasserwaage da-rüber legen oder gar eine Schnur spannen konnte.“ Auf der Darre wurde das Malz getrocknet und geröstet, bei 80 Grad Celsius! Bei diesen Temperaturen muss-te man täglich drei Tonnen Malz herunter schaufeln. Aber auch in den kalten Kellern musste der Lehrling in die Holzfässer schlüp-fen und diese von innen mit Bürs- te und Schrubber sauber machen. Denn Reinlichkeit und Sauberkeit war schon immer das 1. Gebot eines Bierbrauers“, betont Ets-berger. Was heute die Elektronik steuert, musste man selber mit der Feuerung steuern: „Wir mussten besonders viel Regulierungsge-fühl beim Biersieden erlernen, so dass die Maische nicht anbrannte oder die Sudpfanne überkochte.“ Trotz anstrengenden Aufgaben, war die Lehrzeit in Ehekirchen, Etsbergers Heimatort, eine schö-ne Zeit. „Ich habe nicht nur fach-liches, sondern auch das Arbeiten

an sich gelernt.“Nach der dreijährigen Ausbil-dung, verbrachte er seine Bun-deswehr-Zeit bei den Pionieren in Ingolstadt. „Diese eineinhalb Jahre haben zu meiner Reife bei-getragen und mir sicherlich nicht geschadet“, gibt Etsberger of-fen zu. Nach dieser Pionierszeit und einigen Praktika als Gesel-le in verschiedenen Brauereien, folgte die Ausbildung zum Brau- und Malzmeister. Direkt nach dem Abschluss 1969 kam er als Betriebskontrolleur zum Brau-haus Oberhaunstadt, wie die Brauerei Nordbräu zu dieser Zeit noch hieß.

Bereits vier Jahre später stieg der junge Etsberger zum 1. Braumei-ster der Brauerei Nordbräu, die 1971 umbenannt wurde. „An er-

ster Stelle stand immer gutes Bier mit gleichbleibender Qualität zu brauen“, bemerkt Etsberger fügt aber einen weiteren wichtigen Punkt hinzu. „Für mich war es im-mer auch wichtig, an Neuentwick-lungen zu arbeiten. Den Erfinder-

„Stillstand ist Rückgang“

Franz Etsberger

„Ich habe nicht nur fachliches, sondern auch das Arbeiten an

sich gelernt“Franz Etsberger

Der Mann fürs BesondereFranz Etsberger war mehr als 40 Jahre lang Braumeisterbei Nordbräu

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geist hatte ich immer schon, es hat mir Spaß gemacht, an neuen Dingen zu arbeiten.“ Dieses Ge-spür für Innovationen führte auch zur Erfindung des alkoholfreien Bieres Promillus. „Wir waren 1976 die dritte Brauerei weltweit, die ein solches Bier braute.“ Auch bei der Rezeptur des Privat Pilsener hat er entscheidend mitgewirkt.

Dass der Erfindergeist auch nach hinten los gehen kann, musste Etsberger allerdings auch fest-stellen. „Ich wollte aus Bierhefe ein Vitaminprodukt herstellen, denn die Bierhefe an sich ist sehr vitaminreich. Diese habe ich dann mit Zucker, in diesem Fall einen caramellisiertem Sirup ver-setzt. Es war wirklich ein hervor-ragendes Produkt, welches ich selber als Versuchskaninchen in großen Mengen zu mir genom-men habe. Letztendlich war es allerdings nicht ganz gelungen, denn die Hefe fing im Magen an zu gären. Es ist oben und hinten wieder heraus gekommen, aber wir haben schon so viel über die-se Geschichte gelacht“, erzählt Etsberger und kann sich selber ein Lachen nicht verkneifen. Auch diese Geschichte brachte ihn je-doch nicht von seinem zukunfts-orientierten Denken ab, denn: „Stillstand ist Rückgang.“

1979 stieg er zum Prokuristen, 1986 zum technischen Ge-schäftsführer auf. Auch als die Grenzen zur DDR geöffnet wur-den, baute er in Thüringen eine Brauerei mit auf, bei welcher er

ebenfalls als Geschäftsführer fungierte. Ein Meilenstein den Etsberger miterlebte war 1993 die Anerkennung der Jesuiten Quelle als natürliches Mineralwasser. Es wurde eine eigene Jesuiten Quel-le GmbH gegründet, bei welcher er ebenfalls als Geschäftsführer agierte. 1993 gab es außerdem noch ei-nen anderen wichtigen Aspekt in der Geschichte von Nordbräu, den Etsberger mit vorantrieb. „Wir waren die Ersten, die ein Hefewei-zen nicht klar und mit viel Kohlen-säure herstellten, sondern genau umgekehrt. Das 93er Weizen, so wie es heute noch heißt, war trüb und hatte einen deutlich ge-ringeren Gehalt an Kohlensäure. Deshalb ist das Bier so bekömm-lich.“

Eine weitere Neuheit, die Ets-berger Anfang des Jahrtausends einführte, ist der Eisbock. „Jeder hatte einen Bock, aber wir ha-ben eben den Eisbock“, sagt er nicht ohne ein stolzes Grinsen. Dabei war es wieder Drang von Etsberger etwas Besonderes zu machen. Eine alte Geschich-te half ihm auf die Sprünge. „Ich habe in einem alten Buch eine Geschichte gelesen. Da ging es darum, dass ein Bierbrauer die Bierfässer auf dem Hof verges-sen hatte und diese Holzfässer über Nacht aufgrund der Kälte aufplatzten. Der Brauer muss-te zur Strafe das Eis aufhacken und stellte dabei fest, dass in der Mitte des Eises ein ganz beson-deres Gebräu entstanden war.

Als ich diese Geschichte gelesen hatte, haben wir experimentiert. Das Bier wurde sehr stark ein-gebräut, wie es bei einem Bock-Bier üblich ist, und mit einem speziellen Gefrierverfahren im Lagerkeller nochmal gezielt ge-froren. Dabei gefriert natürlich nicht der Alkohol, die Stamm-würze oder das Süße, sondern das Wasser. Damit wird das Bier noch stärker und noch süffiger.“ Beim anschließenden Starkbier-fest war der Eisbock natürlich das Highlight.

Durch den Aufschwung und den Zuwachs an Mitarbeitern mussten die Anlagen für eine höhere Kapa-zität und Qualität ausgebaut wer-den. Einen Aufschwung den Ets-berger nicht nur begleitete son-dern mit anschob. „Man muss mit Leib und Seele dabei sein. Ich ha-be mich mit Firma und Produkt völ-lig identifizieren können. Der Auf-bau und Aufschwung vom Brau-haus Oberhaunstadt zur heutigen Firma Nordbräu war für mich eine Lebensaufgabe“, betont der ehe-malige Braumeister, der sich 2010 in den Ruhestand zurückzog. Auch jetzt ist er noch als Berater für die Firma tätig: „Es ist schön, immer noch helfen zu können. Man sieht auch, dass sich Jung und Alt bei einem offenen und ehrlichen Umgang sehr gut ergänzen kön-nen.“ Wie lange er noch aktiv tätig bleibt, ist unsicher:„Solange es noch Sinn ergibt, mache ich weiter.“ Es dürfte also noch lan-ge weitergehen mit Etsberger und Nordbräu.

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Lebenslinien im März 2012

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Foto: Zell

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Er schreibt gerade an seiner ersten Oper. Gibt regelmäßig Konzerte. Demnächst erscheint seine erste CD. Das Klavier ist sein Leben. Er ist 15 Jahre alt und ein Ausnahme-talent. Yojo Christen aus Altmann-stein wird eine große Zukunft als Pianist und Komponist vorausge-sagt. Von Franz Hummel. Und der muss es wissen.

Mit vier Jahren hat Yojo das Klavier für sich entdeckt. Seit seinem fünf-ten Lebensjahr wird er vom Kom-ponisten und Pianisten Franz Hum-mel unterrichtet, seinem Ziehvater. „In seinem Alter war ich pianistisch sehr anerkannt“, sagt er über Yo-jo, „aber ich war nicht so gut wie er.“ Das klingt wie ein Ritterschlag. Denn der 73-Jährige war, bis er An-fang der 1970er aufhörte, öffentlich zu spielen, einer der besten Pianis-ten auf dem Globus. Im Kindesalter entdeckt und gefördert von Richard Strauss und Eugen Papst, studier-te er Klavier und Komposition und gab Konzerte in ganz Europa. Er nahm Schallplatten mit fast dem gesamten klassisch-romantischen Repertoire und fast ebenso viel mit zeitgenössischer Musik auf. Dann gab er, zumindest öffentlich, das Klavierspielen auf. Seither widmet er sich ausschließlich dem Kompo-nieren. Für sein Musical „Ludwig II. Sehnsucht nach dem Paradies“ wurde in Füssen ein eigenes Ge-

bäude errichtet. Wenn also einer das Talent von Yojo beurteilen kann, dann er.

Aber nicht nur, was Yojos Fähig-keiten als Pianist angeht, ist Franz Hummel voll des Lobes. „Auch kompositorisch hat er alles, was man braucht. Seine Fantasie ist rie-sig.“ Das imponiert Franz Hummel nicht nur, das treibt ihn an, täglich stundenlang mit Yojo zu arbeiten. „Er studiert Klavier und Komposi-tion – aber eben nicht an irgendei-ner Musikhochschule, sondern bei mir“, sagt Hummel. Und wer ihn kennt, der weiß: Das ist überhaupt nicht überheblich gemeint.

Und wenn er Yojo in höchsten Tö-nen lobt, dann tut er das nicht, weil er über seinen Ziehsohn spricht, sondern, weil er überzeugt ist vom Können des Jugendlichen. „Ich war in seinem Alter angepasster“, sagt Hummel, „Yojo ist radikaler.“ Das imponiert dem Franz. Denn Ange-passtheit, das weiß jeder, der auch nur einmal mit ihm auf ein Bier war, Angepasstheit langweilt ihn.

„Er lobt mich ziemlich oft“, sagt Yo-jo, „das find ich schon toll.“ Aber Anerkennung gibt es nicht nur vom Ziehvater und Lehrer. Die Presse überschlägt sich. „Ungewohnte Ausdruckstiefe“, wird ihm attestiert. „Souverän, spritzig und spontan“,

heißt es, „unheimlich witzig, krea-tiv, effektvoll.“ Und „authentisch, couragiert, virtuos“. Er sei „nicht mehr lange ein Geheimtipp“, urteilt ein anderes Blatt.

Unter Kennern ist der 15-Jährige ohnehin längst kein Geheimtipp mehr. Er hatte Auftritte in Ingol-stadt, Regensburg, München und Friedrichshafen. Im Bayerischen Fernsehen trat er auf, und in Japan war er auf Konzertreise. Als kürz-lich in Bremen Franz Hummels Oper „Blaubart“ Premiere feierte, setzte sich Yojo um zwei Uhr früh ans Klavier und spielte ein biss-chen. „Da war plötzlich alles still“, sagt Franz Hummel. Und Stille, das weiß man, ist die größte Anerken-nung in unserer lauten Welt.

„Ich nehme die Musik sehr, sehr ernst“, sagt Yojo. „Es macht mir einfach Spaß.“ Vermutlich ist es die Leichtigkeit eines 15-Jährigen, die Ernsthaftigkeit und Spaß auf so einfache Weise zusammenbringt. Doch von den Flausen eines Pen-nälers ist bei Yojo so gar nichts zu spüren. „Meiner Meinung nach ist er schon ein ausgewachsener Musiker“, sagt Franz Hummel. „In zwei, drei Jahren spielt er auf allen Podien.“

Drei, vier Stunden täglich sitzt Yojo unter den wachen Augen und Oh-

Yojos „Hummelflug“Franz Hummel will seinen Ziehsohn zum Weltstar machen

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ren Hummels am Klavier. Üben, üben, üben. Darüber hinaus kom-poniert Yojo. Vier eigene Stücke werden auf der CD zu hören sein, die noch diesen Monat heraus-kommt. Außerdem sind Werke von Haydn, Mozart, Beethoven darauf.Doch Yojo arbeitet noch an einem viel größeren Projekt. Die ersten Seiten seiner Oper über Kemal Atatürk liegen bereits fertig im Musikzimmer im Riedenburger Froschgässchen. Atatürk, gestor-ben 1938, war der Begründer der modernen Republik Türkei und er-ster Präsident der nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Osmanischen Reich hervorgegangenen Repu-blik. Wie bitte kommt ein 15-Jäh-riger auf die Idee, Atatürk zum The-ma einer Oper zu machen? „Ich in-

teressiere mich ziemlich für Politik“, sagt er. „Atatürk hat die Moderne in die Türkei gebracht.“ Das Libretto hat Yojos Mutter Sandra Hummel geschrieben. Yojo erschafft die Mu-sik. „Ich improvisiere, daraus ent-stehen Teile der Oper“, erklärt er, „andere Teile komponiere ich me-lodisch durch. Mir fällt immer was ein.“ Kein Wunder also, dass Franz Hummel sagt: „Ich beobachte sei-ne Arbeit mit größter Spannung.“

Als Pianist hat Yojo keine Vorbilder, wie er sagt. Und er sagt es so, dass man das Gefühl bekommt, diese Frage sei schrecklich uninspiriert gewesen. „Mit seiner Technik kann er alles spielen“, sagt Hummel. „Die muss man sich über Jahre antrai-nieren.“ Und worauf kommt‘s vor

allem an? „Eine gescheite Hand-haltung“, weiß Yojo. „So, als wenn man einen Apfel in der Hand hält, unverkrampft.“ So lernt man also Klavier. Seine Erkenntnisse hat der junge Virtuose bereits in einem Lehrbuch zusammengefasst. Die meisten Übungsstücke hat er selbst komponiert.

Als junger Komponist zieht Yojo den Hut vor Beethoven, Liszt und Chopin. Und immer wieder spricht er vom Improvisieren. „Es macht mir Spaß, an den Stücken zu ar-beiten, eigene Improvisationen zu schaffen.“ Fußball dagegen inte-ressiert ihn zum Beispiel überhaupt nicht.

Yojo wirkt cool, wenn er über seine Kompositionen spricht. Oder nein, eigentlich mehr so, als wäre ihm das alles gar nicht so recht. Weil er doch einfach lieber vorspielt, als drüber zu reden. Er will doch nur spielen. Lampenfieber kennt er nach so vielen Jahren offenbar oh-nehin nicht mehr. „Vor ein paar Jah-ren war es noch schlimmer, jetzt ist das so gut wie weg.“ Ob drei oder 300 Zuhörer, das mache doch kei-nen Unterschied. Und Franz Hum-mel sagt: „Ich finde, du bist umso besser, je mehr Leute zuhören.“

Yojo im Rampenlicht. In Jeans und Pulli oder T-Shirt, meistens. „Ich zieh da nie einen Anzug an“, sagt er. Franz Hummel lächelt und nickt. Diese Unangepasstheit gefällt ihm so. Denn Kunst, sagt er, „Kunst braucht keine Kleidung. Und schon gar keine Verkleidung.“ (tz)

Foto: Zell

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Sie erzählt Märchen von von Völ-kern auf der ganzen Welt und schlüpft dabei in die Rollen unter-schiedlicher Charaktere. Dabei folgt sie immer dem roten Faden, der sie ans Ziel führt. Ans Ende ihrer Geschichte: Ulrike Mom-mendey ist Geschichtenerzäh-lerin und besitzt ein großes Re-pertoire an Erzählungen: Von Mitmach-Märchen für Kinder von vier bis zehn Jahren, die sich durch Singen oder Klatschen be-teiligen können, über Märchen für Manager bis hin zu russischen Märchen, bei denen der landesty-pische Chai mit seinem rauchigen Geschmack das Publikum durch den Abend begleitet. Geeignet sind ihre Geschichten für alle Al-tersgruppen und Berufsschichten. „So verschieden die Geschichten auch sind, sie erzählen alle das Gleiche und jeder kann für sich das herausziehen, was ihm mög-lich ist und was er sieht.“

Wenn sie ihre freiberufliche Tätig-keit, die zu den ältesten Künsten der Welt gehört, ausübt, dann lernt sie weder auswendig noch liest sie vor: „Ich gebe die Ge-schichten nicht wortwörtlich wie-der, sondern erzähle sie frei“, sagt sie. „Es ist wie ein Theaterstück, allerdings bin ich keine Schau-spielerin, die in ihrer festen Rolle verharrt. Ich wechsele die Rollen und Charaktere der Figuren, die

in meinen Geschichten vorkom-men.“ Dabei ist freilich Improvisa-tion gefragt, denn jede Geschich-te entsteht beim Erzählen neu. Ob eine Passage ausgebaut oder verkürzt werde, sei ganz allein von der Reaktion des Publikums abhängig.

Wer bisher dachte, Geschichten-erzählen sei etwas für Kinder, der irrt. „Kinder brauchen Märchen und Erwachsene auch, denn sie überliefern wichtige Botschaften für Generationen und dienen als Beispiele zur Lebensentwick-lung und zur Gestaltung von Be-ziehungen“, betont Ulrike Mom-mendey, die in Thüringen geboren ist. Das Geheimnis der Märchen liegt ihrer Meinung nach darin, dass sie jedermann ansprechen und Jung und Alt auf der Ebene erreichen, auf der sich die Person gerade befindet. Märchen seien symbolhafte Beschreibungen und Darstellungen seelischer Pro-zesse, sagt sie philosophisch – und sie besäßen somit die Kraft, den Menschen bei der Erkennung und Bewältigung von Problemen zu helfen. Doch keine Sorge. Im Gegensatz zu den Kindern wer-den die Erwachsenen nicht zum Mitmachen animiert. Sie dürfen sich entspannt zurücklehnen, in eine phantastische Welt eintau-chen und den Alltag einfach für ein paar Stunden hinter sich las-

sen.

Wie sie zum Geschichtenerzäh-len gekommen ist? Als sie vor einigen Jahren gemeinsam mit einer Freundin eine Märchener-zählerin in Augsburg besucht hat, weckte die Frau den Wunsch in ihr, dasselbe zu machen: „Mir ging sofort das Herz auf und ich dachte: Genau das will ich auch machen.“ Seitdem hat sich Ul-rike Mommendey neben ihrer Tätigkeit als Krankenschwester ein zweites Standbein aufgebaut und entführt ihre Zuhörer in Kin-dergärten, Schulen, unter frei-em Himmel, am Lagerfeuer oder auch in ihrem „Märchen(t)raum“, einem faszinierenden Zimmer wie aus Tausend und einer Nacht, der sich bei ihr zu Hause befindet, in eine fremde Welt, die zum Ent-spannen und Sich-verzaubern-lassen einlädt.

Die moderne Psychologie hat sich immer wieder mit der ent-wicklungsfördernden Wirkung der Märchen befasst und beleuchtet, was eigentlich dahinter steckt. Ein Ansatz, über den auch Mom-mendey zu den Märchen gelangt ist. Sie interessiert sich vor allem für die Geschichte hinter der Ge-schichte: „Die Märchenwelt ist nichts anderes, als das innere Er-leben der Geschichte. All die Fi-guren, die darin vorkommen, sind

Märchen ohne EndeUlrike Mommendey hat einen der ältesten Berufe der Welt

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Persönlichkeitsanteile von uns selbst, die das Ziel verfolgen, Ent-wicklungsstufen in der eigenen Persönlichkeit zu durchlaufen.“ So verschieden die einzelnen Ge-schichten auch seien, sie hätten doch alle dasselbe Kernthema.

Ein persönliches Lieblingsmärchen hat die Geschichtenerzählerin, die sich von alten Märchenbüchern aus ihrer Kindheit oder auch klas-sischen Märchen wie denen der Gebrüder Grimm inspirieren lässt, zwar nicht, jedoch haben es ihr die irischen Märchen besonders ange-tan. „Die Iren sind tolle Geschich-tenerzähler, deren Erzählungen äußerst tiefgründig sind“, sagt sie. „Sie besitzen einen feinen Humor, der mir sehr gut gefällt.“

Was einen guten Erzähler aus-macht? „Er muss auch ein guter Zuhörer sein, da sich Zuhören und Erzählen gegenseitig bedingen“, weiß Mommendey. Und richtiges Zuhören, eine Eigenschaft, die in unserer schnelllebigen Medien-welt immer mehr in den Hinter-grund gelangt, bedeute weitaus mehr, als nur zu warten, bis der andere ausgeredet hat. „Zuhören setzt voraus, dass wir für einen Moment unsere eigenen Anliegen hinten anstellen und unsere gan-ze Aufmerksamkeit auf unseren Gesprächspartner richten.“

Nach der Erzählstunde entstün-den meistens noch spontane Ge-spräche, bei denen sich die Ge-legenheit bietet, in gemütlicher

Runde die Geschichten zu re-flektieren und sich darüber aus-zutauschen. Ganz besonders in Erinnerung geblieben ist Ulrike Mommendey ein Abend, an dem der russische Kulturkreis in ih-ren „Märchen(t)raum“ gekommen war: „Für den Kulturkreis war es eine außergewöhnliche Erfah-rung, Märchen aus ihrer Kindheit in einer Sprache, die nicht ihre Muttersprache ist, zu hören.“ Am Ende haben sie dann ihre eige-nen Lebensgeschichten erzählt. „Für mich war das ein sehr inte-ressantes Erlebnis“, erinnert sie sich.

So konnte auch Ulrike Mom-mendey einmal in die Rolle des Zuhörers schlüpfen. (dm)

Fotos: dm

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Foto: oh

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Der Mann ist ein Phänomen: Er ist 92 Jahre alt, liest täglich sechs bis sieben Stunden Zeitungen, Zeit-schriften und Bücher bis weit nach Mitternacht und das ohne Brille. Die Rede ist von Ingolstadts Eh-renbürger Fritz Böhm, der maß-geblichen Anteil daran hatte, das die AUTO UNION nach dem Krieg nicht das neue Werk in Düsseldorf baute, der verhinderte, dass aus der eigenständigen Marke Werk 7 im VW-Konzern wurde und der frühzeitig den lange umstrittenen Ferdinand Piech förderte.

Fritz Böhm, 1920 in Jägerndorf in der heutigen Tschechischen Re-publik geboren, kam nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1950 aus russischer Gefangenschaft nach Ingolstadt und begann, ob-gleich im Besitz einer kaufmän-nischen Ausbildung, als Lagerar-beiter bei der Auto Union GmbH.

DER POLITIKER

Im Gespräch erwähnt Fritz Böhm seine politische Laufbahn und sei-ne Leistungen nur am Rande. Da-bei ist er einer der Väter der Neu-fassung des Betriebsverfassungs-gesetzes (1971) und blickt auch auf eine lange politische Laufbahn zurück. Von 1952 bis 1963 und 1978 bis 2000 war er in Ingolstadt Stadtrat und gehörte ab 1958 dem Bayerischen Landtag an, bis er

1965 in den Bundestag gewählt wurde, wo er bis 1972 aktiv war. Doch das scheint ihm nicht allzu wichtig zu sein und obgleich er in diesen Funktionen politisch viel für die Stadt erreicht hat, wiegen seine Erfolge, die er auf einer an-deren beruflichen Ebene erzielte, mehr. Als Arbeitnehmervertreter bei Audi und im VW-Konzern hat er Entscheidungen beeinflusst, deren Tragweite heute fast keiner mehr erahnt.

DÜSSELDORF ODERINGOLSTADT

Im April 1958 hatte Daimler-Benz die Auto-Union GmbH übernom-men. Damals wurden in Ingol-stadt nur DKW Motorräder sowie die DKW Schnelllaster und für die Bundeswehr entwickelte DKW Ge-ländewagen gebaut. Die gesamte Pkw-Produktion erfolgte in einem Werk in Düsseldorf, das bereits 1950 in Betrieb genommen wor-den war.

Für die Fertigung eines modernen Kleinwagens, von dem man sich viel versprach, sollte ein neues Werk gebaut werden – in Zons bei Düsseldorf, wo bereits die Grund-stücke dafür erworben worden waren. Da trat Fritz Böhm, da-mals Betriebsratsvorsitzender und neues Mitglied im Bayerischen Landtag auf den Plan. „In dieser

Situation habe ich die Politik ein-geschaltet. Ich bin mit dem SPD-Spitzenmann Volkmar Gabert zum damaligen Ministerpräsidenten Hans Seidl (CSU) gegangen. Wir haben ihm klar gemacht, dass hier etwas getan werden muss, damit das Werk in Ingolstadt und nicht in Düsseldorf gebaut wird. Auch der frühere bayerische Minister-präsident Wilhelm Högner (SPD) und Franz Josef Strauß (CSU) wurden eingeschaltet.“ Dank Böh-ms Engagement wurde erreicht, dass nicht nur ein Darlehen der Bayerischen Staatsbank in Höhe von 25 Millionen DM gewährt wur-de, sondern dass auch Zuschüs-se an das Unternehmen gezahlt und Staatsbürgschaften gegeben wurden. „Mit diesen staatlichen Zusagen haben wir die Kurve be-kommen und der Aufsichtsrat des Unternehmens entschied, dass nun das neue Werk in Ingolstadt gebaut werden sollte“, erinnert sich Fritz Böhm. Ohne Böhms Ein-satz und den Werksneubau in der Ettinger Straße wäre Ingolstadt heute wohl keine AUDI-Stadt, denn das Zweiradgeschäft brach alsbald zusammen und wurde im Herbst 1958 ganz eingestellt. Die Zukunftspläne des Unternehmens in Gestalt des Kleinwagens „DKW Junior“ wären in Düsseldorf reali-siert worden. So aber lief es umge-kehrt. Der Standort im Rheinland verlor immer mehr an Bedeutung

Vorsprung durch StrategieWas wären Audi und Ferdinand Piech ohne Fritz Böhm

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und wurde schließlich ganz aufge-geben.

VW WOLLTE „AUDI“ BEGRABEN

„Für den Fortbestand von Au-di war Böhm von kaum zu über-schätzendem Einfluss. Er kannte nur die Interessen von Audi.“ Das schreibt der frühere Vorstands-vorsitzende des VW-Konzerns Carl H. Hahn in seinem Buch: „Meine Jahre mit Volkswagen“ über den Arbeitnehmervertre-ter Fritz Böhm. Hahn wurde 1982 Vorstandsvorsitzender von VW. Audi war damals zwar noch eine eigenständige Marke, hatte aber keine eigene Absatzorgani-sation mehr, natürlich auch kei-nen Vertriebsvorstand. Audi drohte Werk 7 im VW-Konzern zu werden.

Damals stand das Ingolstädter Unternehmen nicht gut da. Und das wusste auch Fritz Böhm. „Die Übernahme des Haustarifvertrags von VW durch Audi wäre der „To-deskuss“ gewesen, denn wir wa-ren nicht in der Lage, das zu erar-beiten, was nach diesem Tarifver-trag zu bezahlen war“, erklärt er. Böhm plädierte also für niedrigere Löhne in Ingolstadt, als sie die VW-Mitarbeiter in Wolfsburg erhielten und riskierte damit Ärger mit der IG-Metall-Zentrale in Frankfurt. „Böhm verstand es, seine Kolle-gen und Mitarbeiter hinter sich zu scharen und ihnen sogar klar zu machen, dass es für sie besser sei, auf Wolfsburger Spitzenlöhne zu verzichten, das heißt auf den VW-Haustarif. Dieser Kostenvor-

teil wurde zu einem tragenden Ele-ment für das Überleben von Audi. Mit dem Haustarifvertrag wäre der Weg zum Werk 7 sehr kurz gewe-sen“, würdigt Carl H. Hahn die Ver-dienste des Ingolstädters. Böhms weitsichtiges Verhalten hat letzt-endlich die Marke Audi vor dem Untergang bewahrt, worüber man in Wolfsburg heute genau so froh sein dürfte wie in Ingolstadt.

PIECHS QUALITÄTEN ERKANNT

Der an sich sehr bescheidene Fritz Böhm ist doch ein wenig stolz, wenn es um den jetzigen un-umstrittenen Herrscher des VW-Konzerns, also Ferdinand Piech, geht. „Ich war immer einer, der auf der Seite von Piech stand, weil ich von allem Anfang an erkannt hat-te, was in dem Mann steckt“, schil-dert er seine Beziehung zum Len-ker des VW-Imperiums. Piech war am Anfang, auch zu seiner Zeit in Ingolstadt bei Audi durchaus um-stritten. Als stellvertretender Vor-standsvorsitzender wartete Piech darauf, bei Audi die Nummer eins zu werden. Als der Vertrag des Vorsitzenden Wolfgang Habbel 1987 verlängert wurde, wollte er aufhören. Laut Manager-Maga-zin (Ausgabe November 2011) schickte seine Frau Ursula die bereits geschriebene Kündigung aber nicht ab. Piech gab seinen Stellvertreterposten bei Audi ab, blieb aber Entwicklungschef. Nach einem Dreivierteljahr lief Piech in der Vorstandsetage lief es bei Au-di nicht mehr rund, das Unterneh-men schrieb Verluste und laut Ma-

nager-Magazin wandte sich Fritz Böhm mit den Worten an Piech: „Was kann ich tun, damit Sie sich wieder mehr um das Unternehmen kümmern?“

Fritz Böhm schildert die Situation mit eigenen Worten: „Wie lange wollen Sie denn das Spielchen noch treiben. Sie spielen doch mehr oder minder „toter Käfer“. Wann wollen Sie endlich wieder zupacken?“ Piech formulierte seine Vorstellungen, unter denen er wieder „zupacken“ wollte und Böhm half bei der Umsetzung. „Der Arbeiterführer sorgt dafür, dass Piechs Bitte erfüllt wird: Am 1. Januar 1988 übernimmt der Porsche-Enkel die Vorstandsspit-ze der Audi AG“, schreibt das Ma-nager-Magazin. Letztendlich wäre Piech ohne Böhm wohl nicht Vorstandsvorsitzender der Audi AG geworden. Auch als Piech zum 1. Januar 1993 Vorstandsvorsit-zender von Volkswagen wird, hat Fritz Böhm, der bis 1987/1990 Gesamtbetriebsratsvorsitzender und stellvertretender Aufsichts-ratsvorsitzender von Audi war, hinter den Kulissen den Weg mit bereitet. Aus seinen Worten kann man entnehmen, wie sehr er Piech auch heute noch schätzt: „Pi-echs Motto lautet: Das Produkt, die Qualität und die Mannschaft müs-sen stimmen. Ums Geld ging es ihm nie in erster Linie. Ferdinand Piech wird jetzt 75 Jahre alt. Wenn er bis zu seinem 80. Lebensjahr wei-termacht, wäre das richtig gut für Volkswagen und natürlich für Audi.“ (hk)

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Foto: oh

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Foto: Käbisch

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Es gibt sie noch die „Buchhandlung Schönhuber“ - genauer gesagt, ei-nen Laden gleichen Namens. Denn „den richtigen Schönhuber“ gibt es nicht mehr als stadtbekannte Buch-handlung in der Theresienstraße, sondern „nur“ noch in der Person Paul Schönhubers, der aber zwi-schenzeitlich mit antiquarischen Bü-chern im Internet handelt. Aus der „Buchhandlung Schönhuber“ wurde wirtschaftlich der „Ganghofer“ und nun „Hugendubel“. OSTERHAS‘ AUF REISEN Paul Schönhuber kann nicht von Bü-chern lassen. Auch nach dem zwei-ten Verkauf seiner Buchhandlung vor zehn Jahren, hat er nach einiger Zeit wieder mit dem Handel mit Bü-chern begonnen. Jetzt aber ohne La-den und mit gebrauchten Büchern. „Das Internet ist eine schöne Mög-lichkeit für mich, nachdem ich jetzt keinen Buchladen mehr habe, noch mit Büchern umzugehen. Bücher zu besorgen und diese wieder an die richtige Adresse zu bringen. Der an-tiquarische Buchhandel ist ein sehr schöner zweiter Markt. Da gibt es bestimmte Titel, die gar nicht mehr im Handel verfügbar sind“, erzählt der jung gebliebene 73-Jährige. Er kauft Nachlässe auf oder erwirbt Bücher bei karitativen Einrichtungen, die Bücher gespendet bekommen. „Da sind oft ganz erstaunliche Din-ge dabei. Zum Beispiel: Ich erstand

eine Dissertation mit dem Titel „Der Lichteinfall bei den pompejianischen Wandmalereien“. Da fragt man sich natürlich, wie kann man bei diesem Thema 200 Seiten zu Papier bringen. Es ging dabei nur um den Lichteinfall bei der Darstellung dieser Fresken in Pompeji. Das Buch war schnell weg. Je spezifischer ein Thema ist, desto schneller sind die Bücher ver-kauft.“ Viele Bestellungen treffen bei Paul Schönhuber von Universitäten und privat aus dem Ausland ein: „Da wurde das Buch „Osterhas‘ auf Rei-sen“ geordert, ein Bilderbuch in deut-scher Sprache. Der Käufer wohnte in Hongkong: Vermutlich war es eine äl-tere Dame deutscher Abstammung“, schmunzelt der Buchhändler. JEDER VERKAUF IST EIN AB-SCHIED Paul Schönhuber liebt die Bücher nicht nur, er lebt mit ihnen. Der Ver-kauf eines Buches ist ein Stück Ab-schied: „Immer wenn ein Buch bei mir abgeht, habe ich die letzte Chance, noch einmal rein zu schauen. Und dann ist alles interessant. Zwei Stun-den sind da gleich vorbei.“ Da drängt sich die Frage auf, ob es Bücher gibt, von denen er sich nicht trennen möchte. Die Antwort überrascht: „Ich bin altersmäßig in einer Phase, in der man sich sagt: Es gibt nichts, was man unbedingt braucht. Man fragt sich ja schon: Wer weiß, wie lan-ge ich noch da bin. Man muss sich

nicht an irgendwelche irdischen Din-ge klammern.“

DIE URSPRÜNGE IN DER DON-AUSTRASSE „Meine frührere Buchhandlung ha-be ich von meinem Vater übernom-men. Er hat im Jahre 1933 von dem legendären Fotografen Max Weiß dessen Laden in der Donaustraße gekauft. Max Weiß hatte da eine Art „Gemischtwarenladen“ im da-maligen „Bruckmayr-Haus“, den er 1923 gegründet hatte: Es gab Zei-tungen, Zeitschriften, Bücher und Schreibmaterial. Nebenbei hat er Postkarten produziert und verkauft. Der Laden wurde im Zweiten Welt-krieg ausgebombt, das Haus bis auf die Grundmauern zerstört. Zu diesem Zeitpunkt war meine Mutter im Laden und hat es überlebt. Das kann man sich kaum vorstellen, wenn man die Bilder davon sieht. Dann kamen die zahlreichen Umzü-ge: „Am Stein“, Rathausplatz Haus-nummer 5 und dann die Donau-straße Nummer 7 - das war 1951. Im Jahr 1968 zogen wir dann in die Theresienstraße.“

SCHICKSALSSCHLÄGE Für viele völlig überraschend ver-kaufte Paul Schönhuber 1989 sei-ne Buchhandlung an den Konzern, zu dem heute die Thalia-Buch-handlung gehört. „Innerhalb einer

Doppelt hält besserPaul Schönhuber veräußerte seine Buchhandlung zweimal

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schrecklichen Woche im Mai 1989 ereigneten sich zwei Dinge: In die-ser Woche verstarb meine Frau und es wurde bekannt, dass der Ver-leger und Buchhändler Pustet aus Regensburg einen riesigen Laden in der Innenstadt eröffnen möchte. Da-hinter stand selbstverständlich eine Verdrängungsabsicht. Nach dieser Woche hatte ich den Eindruck, dass ich sowohl privat als auch wirtschaft-lich keine Zukunft mehr habe. Das hat mich umgeworfen. Ich habe des-halb an Thalia verkauft.“

Doch die Buchhandelskette wurde angesichts der Konkurrenzsituation mit Pustet und der Ganghoferschen Buchhandlung in Ingolstadt nicht glücklich und schrieb rote Zahlen. Nur zwei Jahre später bot man Paul Schönhuber die Buchhandlung wie-der an und der sagte, weil er zwi-schenzeitlich aus der Lebenskrise herausgefunden hatte, sofort zu. „Zum damaligen Zeitpunkt war Pu-stet noch in der Ludwig-straße mit seinem riesigen Laden. Damals ha-be ich, als die Fachhochschule nach Ingolstadt kam, gleich noch den La-den am Stein dazu gemietet. Das scheint den Regensburger Pustet so schockiert zu haben, dass er mich sofort um ein Gespräch bat. Er sagte zu mir: „Wissen Sie, Herr Schönhu-ber, ich wollte Sie ja kaputtmachen. Das ist mir nicht gelungen. Was ma-chen wir jetzt?“ Das ist heute die Tonart, in der man ganz locker über Leben und Tod spricht - gemeint ist die wirtschaftliche Seite. Das ist die verkommene Moral von heute. Da hilft es dann nichts, wenn es sich

beim Pustet-Verlag um einen erzka-tholischen Verlag handelt. Pustet hat mir dann zum Schluss den komplett eingerichteten Laden in der Ludwig-straße für eine Mark angeboten. Ich habe ihn nicht genommen, denn ich hätte in den Mietvertrag einsteigen müssen. Die Miete betrug 68 000 DM im Monat. Ich wusste, dass das nicht geht. Als ich abgelehnt habe, hat Pustet die Buchhandlung einfach geschlossen.“

ZUKUNFTSÄNGSTE

Ungeachtet dieses Sieges über einen mächtigen Konkur-renten plagten Paul Schön-huber später Zukunftsängste: „Im Jahre 2002 bin ich eines Morgens aufgewacht mit dem Geistesblitz: Um Gottes willen, du hast ja den Laden noch und du lebst in einer aggressiven Verdrängungsgesellschaft. Der Laden muss weg!“ „Ich habe mich dann sofort an den Donaukurier ge-wendet. Mein Gedanke war, wenn in Ingolstadt die zwei großen Buch-handlungen, also die Ganghofer-sche und meine, in einer Hand sind und der Donaukurier als Zeitung im Hintergrund steht, dann wird der Ge-org Schäff, der Besitzer des Donau-kuriers, in Gottes Namen die Fahne des Mittelstandes hochhalten. Viele haben mich damals gefragt: Du hast dich doch jahrzehntelang mit Herrn Dr. Reissmüller herum gestritten. Wie kannst du jetzt an den Donauku-rier verkaufen? Aber ich habe einen Schlussstrich unter die Streitigkeiten mit Herrn Dr. Reissmüller gezogen. Er lebt nicht mehr. Jetzt lebt sein En-

kel. Und ich dachte mir: Machen wir einen Neubeginn. Allerdings hat Ge-org Schäff dann schon bald einen An-teil an Hugendubel verkauft und jetzt die gesamte Buchhandlung. Auch er hat auf den brutalen Verdrängungs-wettbewerb hingewiesen. Das war letztendlich auch eine Bestätigung für mich, dass ich es richtig gemacht habe. Obwohl mich natürlich die Ab-gabe des Schlüssels meiner Buch-handlung fast umgebracht hätte. Schließlich hatte ich 40 Jahre lang mit großer Begeisterung die Buch-handlung geführt. Das war ja eine wunderschöne Zeit mit meinen Mitar-beitern, mit meinen Kunden und mit dieser Materie.“ Nach dem Verkauf hatte Paul Schönhuber zwei schwie-rige Jahre: „Ich hatte nichts in der Hand. Die Buchhandlung war so ausfüllend und so spannend ge-wesen, dass daneben nichts Platz gehabt hatte. Ich hatte kein Golf-Spiel gebraucht und musste keine Asien-Reisen unternehmen.“ Deshalb fiel Paul Schönhuber das plötzliche Nichts-Tun schwer. Die Wende kam aber schon bald, als er mit dem Internetbuchhan-del begann. Jetzt ist Paul Schön-huber mit sich und der Welt im Reinen: „Wenn ich in meinem Haus, das ich ja auch einmal verkauft, aber wieder erwor-ben habe, im Arbeitszimmer am Computer sitze, das Internet nach interessanten Büchern durch-stöbere, nebenbei klassische Musik höre und in den grünen Garten blicke, dann denke ich mir oft: So gut habe ich es noch nie gehabt.“ (hk)

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Lebenslinien im April 2012

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Foto: oh

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Er reiste per Anhalter durch die ganze Welt, ritt auf Kamelen durch die Wüste, überquerte auf einem Esel die persische Gren-ze, betreute als Vorsitzender des Roten Kreuzes nach dem Tsuna-mi in Thailand die Camps mit den Verletzten, sammelte Geld für die Schulausbildung notleidender Kinder und heilte Menschen mit Schlangenbissen in Brasilien. Bereits mit dreizehn Jahren trieb Harald Renningers Freiheitsdrang ihn in die große weite Welt. Na-ja, für den Anfang zumindest auf die Spitze des 3798 Meter hohen Großglockners, des höchsten Berges von Österreich. Mit 15 folgten das Ötztal in Tirol, danach der zwischen Italien und Frank-reich liegende Mont Blanc, das Gebirgsmassiv Monte Rosa in den Walliser Alpen und noch einige mehr. Das größte Abenteuer sei-nes Lebens? „Mein Leben selbst“, antwortet er.

„Es gibt eine wichtige Säule in meinem Leben, die meine Philo-sophie entscheidend geprägt hat: eine Reise nach Afghanistan“, er-zählt Renninger. Im Alter von 21 Jahren packte er seine sieben Sa-chen und reiste per Anhalter nach Afghanistan. Über die Autobahn durch das ehemalige Jugoslawien, Griechenland, die Türkei und quer

durch Persien, bis er schließlich sein Ziel erreicht hatte: eines der ärmsten Länder der Welt, viertau-send Kilometer entfernt von seiner Heimat. Von dort aus ging es wei-ter durch die Wüste. Auf Kamelen versteht sich. „Ich könnte einen Roman über meine Erlebnisse schreiben.“

Um seine Eltern nicht in Angst zu versetzen, hatte er sich vor Antritt seiner gefahrvollen Reise einer kleinen Notlüge bedient. Er ließ sie im Glauben zurück, nach Italien zu trampen. Ob seine Eltern ihm nicht auf die Schliche kamen? „Das ist ein Kapitel für sich“, schmunzelt er und verrät nur so viel: „Natürlich haben sie es herausgefunden und dass ich ihnen so einiges zugemu-tet habe, das ist noch untertrieben ausgedrückt. Aber letztendlich waren sie immer stolz auf mich.“

Renninger sprach kein Wort Ara-bisch. Das Einzige, das er sich vor seiner Reise selbst beigebracht hatte, war es, bis zehn zu zählen. Trotzdem lernte er unzählige Ein-heimische kennen und schaffte es, mit ihnen zu kommunizieren. „Ich habe mich mit Händen und Füßen verständigt, mir ging es ja schließlich nicht ums Philoso-phieren, sondern darum, meine Bedürfnisse mitzuteilen. Mimik

und Gestik sagen doch viel mehr als tausend Worte.“ So ging er oft einfach in die Küche eines Gast-hauses, packte sich das Essen, das ihn ansprach auf den Teller, und versuchte mithilfe von Gesten, den Preis zu eruieren. „Wenn mir das Essen zu teuer war, hab ich es einfach wieder zurück in den Topf gelegt“, lacht der 69-Jährige. Sein Budget von damals 800 Mark, das er sich als Student durch einen Ne-benjob zusammengespart hatte, musste für neun Monate reichen.Bis nach Kabul ins Gebiet der Taliban führte ihn seine Abenteuerlust. Diese Erfahrungen haben seine Lebensauffassung in hohem Maße beeinflusst: „Ich bin schon immer ein Minimalist gewesen“, versichert er, „je weni-ger man hat, desto freier ist man.“ Die Erfahrungen in der Fremde, in Ländern, in denen es weder Stra-ßen noch irgendwelche Trans-portmittel gab, konnten seine Einstellung nur noch verstärken. Er lebte im Hier und Jetzt, ohne dabei an gestern oder morgen zu denken. Sein Wunsch nach ab-soluter Freiheit war so groß, dass er unter freiem Himmel oder auch im Heu schlief, ohne Mauern, die ihn schützten. Mutterseelenalllein. Das Einzige, das er immer bei sich hatte: sich selbst, seinen Mut, sei-nen Freiheitsdrang und eine ge-

Das größte Abenteuer ist das LebenDie Suche nach grenzenloser Freiheit und sich führte den Arzt Harald Renninger um die ganze Welt

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waltige Portion Selbstdisziplin. Die einzige Möglichkeit zur da-maligen Zeit, mit seiner Familie in Kontakt zu bleiben, war das Te-lefon in der Botschaft. „In Afgha-nistan gab es nicht einmal das, dafür hatte ich beim Goethe-In-stitut mehr Glück.“ Doch das Ge-rät entsprach nicht wirklich dem heutigen Standard. So dauerte es schon mal zwei Stunden, bis eine Verbindung aufgebaut wer-den konnte, um dann höchstens ein paar Worte mit den Liebsten wechseln zu können.

Renninger, der im Gebirge aufge-wachsen ist, bewegte sich in ei-ner Fremde, die für ihn eigentlich keine war. Er wurde ein Teil der Gemeinschaft dieser Menschen. Er war Gast auf Hochzeiten und Familienfeiern und aufgrund sei-ner hellen Hautfarbe auch eine kleine Attraktion. Insbesondere bei den Kindern, die ihm immer wieder staunend über die Haut fuhren, um sich zu vergewissern, dass seine Hautfarbe auch wirk-lich echt war. Am meisten begeis-tert haben ihn die Gastfreund-schaft, das Gemeinschaftsgefühl und die Offenheit der Menschen, die er kennen und schätzen ge-lernt hat. „Ich habe ein völlig an-deres Bild von den Afghanen, als die meisten Menschen hier.“ Dass die eine Kalaschnikow und einen Dolch tragen, sei für ihn nichts Ungewöhnliches. „Wie bei uns zu einem waschechten Bayern die

Lederhose gehört, trägt ein stolzer Afghane halt seine Waffen.“ Er kehrte mit der Erkenntnis, frei zu sein von jeglichem Materialis-mus, nach Deutschland zurück. Er hatte sich spürbar vom Leben in seiner Heimat distanziert. Das Wirtschaftswunder sowie das überschwängliche Konsumverhal-ten, das in den 60er Jahren in vol-ler Blüte war, ließ ihn absolut kalt. „Meine Eltern mussten mich sogar regelrecht zwingen, mir eine zwei-te Hose zuzulegen“, erzählt er la-chend. Sein Fokus lag einzig und allein darauf, sein Medizinstudium zu beenden, um den Beruf als All-gemeinarzt ergreifen zu können, der zweiten wichtigen Säule in sei-nem Leben.

Renninger übt seinen Beruf als Arzt, der ihm zugleich Berufung ist, mit voller Leidenschaft aus. Was das Beste daran ist? „Das Resultat meiner Tätigkeit, der Zu-gang, den ich zu meinen Patienten bekomme, die Erfolgserlebnisse, das unbeschreiblich tolle Gefühl, anderen Menschen zu helfen und ihnen ein Stück meiner eigenen Lebenserfahrung weitergeben zu können“, so der Liebhaber klas-sischer Musik und französischer Literatur, der bereits seit vierzig Jahren seine eigene Praxis führt und beschlossen hat, erst mit 75 Jahren in den Ruhestand zu gehen. Zu viel Freude bereitet ihm sein Beruf, der auch gleichzeitig sein Hobby ist.

Das, was er getan hat, kann er nur allen jungen Menschen ans Herz legen: „ Geht hinaus in die weite Welt, um euch selbst ken-nenzulernen. Getreu dem Motto: Der kürzeste Weg zu dir selbst führt um die Welt’. In der Fremde, in der euch niemand kennt und ihr niemanden kennt, da lernt ihr euch selbst erst kennen.“ Die mei-sten Menschen seien sich nicht darüber im Klaren, welches Poten-zial in ihnen stecke. „Wenn man denkt, man kann nicht mehr, dann kann man immer noch“, betont er. Welche Träume und Ziele im Le-ben kann jemand noch haben, der wie er selbst behauptet „in sein Leben das reingepackt hat, was für zwei Leben reicht?“ Auch als Stadtrat habe er in dreißig Jah-ren so einiges bewegt, vor allem im gesundheitlichen Bereich. Dieses Jahr werde er sein Amt allerdings niederlegen. Sein ein-ziges Ziel ist es weiterhin, sein Leben zu genießen. „Wäre ich zehn Jahre jünger, würde ich mir schon noch ein großes Ziel setzen“, betont Renninger, der fünfmal die Woche Sport treibt, und kommt dabei ins Grübeln. „Hm . . ., vielleicht gibt es doch noch etwas“, überlegt er, „Arzt oh-ne Grenzen könnte ich mir vorstel-len, vielleicht auf Haiti.“ Und da ist es wieder, das Funkeln in seinen Augen und das Reisefieber, das ihn jederzeit wieder packen und dazu verleiten könnte, sich in ein neues Abenteuer zu stürzen.

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Foto: Privat

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Foto: Käbisch

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„Kunst ist das, was ich kann und die anderen nicht.“ Das hat der Ma-ler und Kunsterzieher Walther C. Bechstädt einmal in einer Sendung des Regionalsenders intv gesagt.

Bei einem Glas Wein in seinem Stammlokal „Due“, gleich gegen-über der „Neuen Galerie“, in Künst-lerkreisen nur „das MO“ genannt, erläutert Bechstädt seinen eigen-willigen Kunstbegriff: „Ich wollte damit sagen, dass jeder Maler ein Individualist ist. So versuche ich, in meine Bilder Leben und manch-mal etwas Außergewöhnliches hineinzubringen. Ich habe einmal ein Bild gemalt von der Kneipe „Rinne“, die sich auf dem Park-platz beim Hallenbad befand. Das war früher mal ein Pissoir, dann eine Gaststätte. In dieses Bild ha-be ich eine Person hinein gemalt, die an einen Baum bieselt. Mei-ne Frau hat gesagt, das müsste ich wieder übermalen. Aber ich bin der Meinung, so etwas muss drin bleiben. Das sind so außer-gewöhnliche ironische Dinge, die eben nicht jeder macht.“ So einen außergewöhnlichen ironischen Punkt müsse man setzen, ergänzt Bechstädt, sonst könne man die Dinge gleich fotografieren und bräuchte sie nicht zu malen.

Die Liebe zur Malerei entdeckte der Ingolstädter Künstler schon als Kind. Seine Eltern veranstalteten früher im Fasching jedes Jahr ei-nen Hausball im Keller. Dieser Ball stand stets unter einem anderen Motto, und der Keller wurde des-halb in jedem Jahr neu ausgemalt. Da durfte der Siebenjährige mit-machen und bei Themen wie „Ba-yerischer Himmel“, „Meeresgrund“ oder „1001 Nacht“ sein kindliches Talent unter Beweis stellen. Die-se heiteren Themen haben letzt-endlich seine Malerei beeinflusst. „Wenn man malt, sollte man in hei-terer Stimmung sein. Die Locker-heit sieht man dann auch in den Bildern. Wenn dies nicht der Fall ist und man sich etwas „abringen“ muss, dann sollte man es lieber 14 Tage einmal bleiben lassen.“ Walther C. Bechstädt malt nach eigenem Bekunden aus Freude am Leben. Malerei sei für ihn keine Form der Krisenbewältigung. Ein düsteres Bild habe er nie gemalt. Als sein Vater verstarb, habe er gerade an einem Bild, das mehre-re „Kasperl“ darstellte, gearbeitet. „Ein „Kasperl“ hat genauso ausge-sehen wie mein Vater; er war näm-lich ein lebenslustiger Mensch und dem wollte ich gerecht werden.“Schon mit 17 Jahren hat er seine

ersten Werke, es waren Radie-rungen, bei Weihnachtsausstel-lungen im „MO“ mit präsentiert; seine erste eigene Ausstellung hatte er im Alter von 24 Jahren zusammen mit dem bekannten Künstlerkollegen Hans Steber. „Den hatte ich zuvor einfach ange-sprochen, als er mal im „MO“ am Tresen stand.“Überraschend nennt er den ös-terreichischen Bildhauer Alfred Hrdlicka als sein künstlerisches Vorbild. Dieser Wiener Künstler, der auch gemalt hat, sei in seinen Bildern recht witzig gewesen. Dass Hrdlicka Zeit seines Lebens dem Kommunismus sehr nahe stand, während Walther C. Bechstädt - auch im Gegensatz zu seinem so-zialdemokratischen Bruder Robert - der CSU angehört, scheint der Bewunderung und Vorbildfunktion nicht geschadet zu haben.

Ausgebildet wurde Bechstädt in Eichstätt bei Professor Rind-fleisch als Kunsterzieher. Seinen Beruf als Lehrer übt er bis heute ungeachtet seiner künstlerischen Erfolge aus. Er unterrichtet in Ho-henwart, wohnt aber in Hög, wo er auch sein Atelier hat. Allerdings ist er sehr oft in Ingolstadt, wo er – in der Liebl-Klinik – geboren wurde

„Ich habe nie ein düsteres Bild gemaltWalther C. Bechstädt will sich in keinen bestimmten Stil hinein-drängen lassen

Foto: Käbisch

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und aufwuchs. In Ingolstadt fin-det er seine Motive - vor allem in der Altstadt. „Ich male zumeist fi-gürliche Szenerien, die ins Stadt-bild mit eingebunden sind.“ Auf die Frage, wie er selbst seinen Stil charakterisiere, antwortet er: „Als Bechstädt-Painting - weil ich mich in keinen Malstil hineinzwin-gen lasse.“ Hat er bei sich selbst eine künstlerische Entwicklung festgestellt? „Ich bin mit meinem Pinselstrich freier und lockerer ge-worden. Bei mir ergeben sich die Figuren und Bildgegenstände aus der Bewegung, aus der Lockerheit des Pinselstrichs. Ich hänge nicht mehr so am Detail.“ Was ändert sich mit zunehmenden Alter - eine vielleicht etwas zu früh gestellte

Frage, denn Walther C. Bechstädt wurde kürzlich erst 50 Jahre alt. „Der Zech Hans hat einmal gesagt, man merkt, wenn Künstler älter werden und die Augen etwas nach-lassen, dass dann die Farben kräf-tiger werden. Auch meine Farben sind etwas kräftiger geworden.“ Zu seinen bevorzugten Farben gehö-ren Orange und Terracotta, was mit Ingolstadt zusammenhänge, weil hier maßgebliche Gebäude, so das Münster, das Kreuztor und die vielen Backsteinbauten von diesen Farbtönen geprägt seien.Einen großen Coup hätte Bech-städt fast mit einer Figur für den FC Bayern gelandet. Ein älterer Bru-der, der in der Öffentlichkeitsarbeit tätig war und er stellten zu früh-

reren Zeiten einmal fest, dass der FC Bayern noch kein Maskottchen hatte. Da entwarf der Maler einen „Bayern-Kasperl“, auch „Bayazzo“ genannt. Der wurde von Hoeneß und Beckenbauer dem Präsidi-um des Vereins vorgestellt. Der Kasperl hatte eine Pritschn in der Hand, weil der sportliche Gegner ja geschlagen werden sollte. „Die fanden das schon lustig, aber für den FC Bayern sollte es dann doch etwas „Starkes“ sein. Ein halbes Jahr später kam dann der Bär „Ba-zi“, der jetzt „Berni“ heißt, heraus. So ist es leider nichts geworden.“ Für den Namen hat sich Bechstädt aber vorsichtshalber einen juristi-schen Geschmacksmusterschutz einräumen lassen. (hk)

Foto: Käbisch

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Das Gras ist saftig grün, soweit das Auge blickt. Dazwischen sorgt der Löwenzahn für gelbe Farbtup-fer. Der Himmel ist strahlend blau, wolkenlos klar. Die Tür und die Fensterläden der Hütte sind aus dunklem Holz und bilden damit ei-nen Kontrast zur weißen Fassade des Gebäudes. Vor der Hütte ste-hen ein Brunnen, ein Tisch und ei-ne Bank, alles aus Holz. Wer hier sitzt, kann sich von der Sonne die Nasenspitze kitzeln lassen  .Wenn Anja Lößel von ihrem in Er-füllung gegangenen Lebenstraum erzählt und Fotos zeigt, kommt man unweigerlich ins Träumen, ei-ne Spur „Heidi-Romantik“ kommt auf. Doch da wiegelt die 48-Jäh-rige rasch ab: „Nein, mit Heidi-Romantik hat das nichts zu tun. Das war eine wirklich schwere und körperlich anspruchsvolle Arbeit. Aber die Zeit war wunderschön . “

Von Ende Mai bis Ende Septem-ber verließ die Ingolstädterin ihre Heimat. Den Sommer 2011 ver-brachte sie auf der Seelachen Alm, einem 60 Hektar großen Are-al, 1300 Meter über Oberaudorf. Dort lebte und arbeitete sie 127 Tage als Hirtin von 67 Rindern und sechs Pferden. „Ich wollte das schon immer einmal machen. Das war die Erfüllung eines Traumes, den ich schon seit meiner Kind-

heit habe“, sagt Lößel und lä-chelt. Zahlreiche „Ferien auf dem Bauernhof“ in ihrer Kindheit oder auch die Zeit bei den Pfadfindern festigten in der Künstlerin diesen Wunsch.

Im vergangenen Sommer sollte er Wirklichkeit werden. Sie ab-solvierte einen Grundlehrgang für tierische Erzeugung mit Melkausbildung und schließlich noch einen „Alm-Kurs“ in Kemp-ten. Lößel fühlte sich fit und bereit für ihre „Auszeit“. Was noch fehl-te, war allerdings eine passende Alm. Sie inserierte in einem Wo-chenblatt für Landwirte: „Senne-rin sucht Alm“. Neben unzähligen Heiratsanfragen alleinlebender Bauern kam noch am Erschei-nungstag der Zeitung der „richtige“ Anruf aus Oberaudorf. Es konnte los gehen.

„Die ersten Tage“, so erzählt Lö-ßel heute, „waren schon nicht ein-fach.“ In der Hütte gab es keinen Strom: „Das bedeutete: Keinen Kühlschrank, keinen Fernseher, kein Internet.“ Über ein batterie-betriebenes Radio und das Han-dy, das sie über ihr Auto auflud, hielt sie Kontakt zur Außenwelt. Der einzige Luxus in der Alm-hütte waren eine Gaslampe und ein Gasherd. „Da hat man natür-

lich viel Zeit, um über sich selbst nachzudenken, die Vergangenheit zu reflektieren und Überlegungen zur Zukunft zu machen“, sagt Lö-ßel nachdenklich. Statt einem Hol-lywood-Blockbuster gab es „Kuh-TV“: „Es ist hoch interessant, was diese Tiere für ein Sozialverhalten haben!“. Die Mutter von zwei Kin-dern führte Tagebuch, notierte das Wetter. Einmal pro Woche ging es zum Einkaufen und Wäsche waschen in die Stadt, ab und zu schauten die Nachbarn anderer Hütten vorbei oder Lößels Ver-wandte und Bekannte kamen zu Besuch. Den Großteil der Zeit aber war sie allein. „Auf einmal hatte ich Zeit. Kein Terminkalender, der mir etwas vorschreibt, keine Uhr – ich lebte vier Monate ohne Uhr! Das ist purer Luxus. Aber anfangs hat man schon ein schlechtes Gewis-sen, wenn man so in der Sonne liegt . . .“

Doch Lößel war ja nicht (nur) zum Spaß dort oben. Gegen eine geringe Entlohnung („Hirtengeld“) hatte sie die Verantwortung für eine ganze Menge Tiere. Und diese mussten jeden Tag gezählt werden. „Ich war jeden Vormittag zweieinhalb Stun-den damit beschäftigt. Wenn mal eines fehlte, weil ich es nicht gleich gefunden habe, war ich den ganzen Tag unruhig.“ Die Künstlerin, die

Ganz allein mit 67 RindviechernAnja Lößel lebte und arbeitete vier Monate auf einer oberbayerischen Alm

Foto: Käbisch

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leidenschaftlich gerne malt und di-es auch auf der Alm tat, stand täg-lich so gegen sieben Uhr morgens auf. Meist sorgte ein anstrengender Tag dafür, dass Lößel gegen 22 Uhr müde ins Bett fiel. Egal, ob es hagelte, stürmte oder wie an einem Tag im September, sogar schnei-te – Lößel musste immer raus. Mal schrien die Tiere vor Angst und Hunger, mal war der Zaun kaputt und die 48-Jährige musste schwere Eisenpfosten quer über die Felder schleppen. Dann gab es die sieben Brunnen für das Quellwasser, die geputzt werden mussten. Oder die zehn Kilogramm schweren Salzle-ck-Steine für die Rinder mussten ausgetauscht werden. Und, und, und... „Ich bin echt an meine Gren-zen gekommen“, quittiert Lößel und fügt dann lächelnd hinzu: „Aber es ist eine unglaubliche Befriedigung, wenn man alles geschafft hat!“ Und wenn alles nichts mehr geholfen hat, rettete sich Lößel mit einem Ki-no- oder Schwimmbadbesuch vor dem „Almkoller“, wie sie selbst sagt. Im Nachhinein bereut die Künstlerin ihre umfangreichen Vorbereitungen auf die vier Wochen Alm nicht: „Das war sehr gut und enorm wichtig.“ Aber eines hatte Lößel nicht be-dacht: Das Wieder-nach-Hause-kommen. „Es war sehr schwer, wie-der im Alltag zu sein, so viele Leute wollten etwas von mir wissen, es gab auf einmal wieder Termine. Ich habe schon etwa einen Monat ge-braucht, um wieder hier anzukom-men.“ Trotzdem: Der letzte „Aus-flug“ auf die Alm war dies für Lößel wahrscheinlich nicht: „Vielleicht, wenn ich Rentnerin bin...“

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Fast ein Jahr ist vergangen, seit-dem der Vater von Katja Statke-vich von einem weißrussischen Gericht zu „sechs Jahren Ar-beitslager mit erhöhten Sicher-heitsauflagen“ verurteilt wurde. Die Situation dort im Gefängnis ist prekär – denn hier regiert der KGB. Der weißrussiche Geheim-dienst – ein Überbleibsel aus sowjetischen Zeiten. Körper-liche Gewalt ist keine Seltenheit. Menschenrechtsorganisationen

kritisieren schon lange die men-schenunwürdigen Haftzustände. „Mein Vater sitzt zusammen mit Schwerverbrechern, mit Mördern und Vergewaltigern, ein“, berich-tet die Tochter. „Der Kontakt nach außen ist ihm streng verboten, Anrufe und Briefe werden kon-trolliert und zensiert. Mein Vater ist der Willkür der Wärter ausge-setzt.“

Katjas Familie stammt aus Minsk, der Hauptstadt von Weißruss-land, etwa eine Flugstunde von München entfernt. Seit mehr als fünf Jahren lebt sie mit ihrem

Mann in Ingolstadt, hat promo-viert und arbeitet bei Audi. Wegen der völlig grundlosen Verhaftung ihres Vaters im Dezember 2010 kämpft die Ingolstädterin nun mit aller Kraft für seine Freilas-sung – ja, vielleicht sogar um sein Leben. Sie schreibt Briefe, trifft Politiker, organisiert Veranstal-tungen - doch bislang waren die Mühen der Ingolstädterin vergeb-lich. „Ehrlich gesagt, bin ich der-zeit etwas müde und enttäuscht, dass die ganzen Aktivitäten, die wir hier in Deutschland gemacht haben, doch keine Freilassung bewirkt haben“, erzählt Katja Statkevich traurig. „Es hat mich wirklich viel Kraft gekostet, paral-lel zu meinem Vollzeitjob noch je-den Tag und jedes Wochenende Artikel zu schreiben, Veranstal-tungen zu organisieren und mit Politikern zu telefonieren oder zu mailen.“

Kurzer Rückblick: Bei den Präsi-dentschaftswahlen im Dezember 2010 in Minsk wird Alexander Lu-kaschenko wiedergewählt. Als „der letzte Diktator Europas“ wird der seit 17 Jahren amtierende weißrussische Präsident häufig bezeichnet. Eine überwältigende Mehrheit an Stimmen vereint der 56-Jährige auf sich. Betrugs- und Manipulationsvorwürfe stehen im Raum – wie jedes Mal nach ei-ner Wahl. Doch dieses Mal will

sich die Bevölkerung das nicht mehr gefallen lassen. Mehrere Zehntausend Menschen gehen in der Wahlnacht auf die Straße. Auf dem Oktoberplatz kommt es zu einer großen, aber friedlichen Demonstration gegen den Wahl-betrug und für Neuwahlen – unter Ausschluss Lukaschenkos. Unter den Demonstranten befindet sich auch Katjas Vater – Nikolai. Niko-lai Statkevich ist weißrussischer Sozialdemokrat und gilt bei der Bevölkerung als viel verspre-chender Präsidentschaftsanwär-ter. „Es heißt mein Vater wäre der größte Kritiker Lukaschenkos,“ berichtet Katja. Nikolai Statke-vich prangert die Missstände im Land öffentlich an – lässt sich den Mund nicht verbieten. Er ist offensichtlich eine Gefahr für den Machthaber.

Auch die vielen Demonstranten am Oktoberplatz in der Wahl-nacht passen Lukaschenko nicht ins Konzept. Öffentliche Kund-gebungen sind in Weißrussland streng verboten. Das Regime fährt ein massives Sicherheits-aufgebot auf – eine Hundertschaft an Polizisten ist vor Ort. Unab-hängige Wahlbeobachter berich-ten später, dass Telefone und Internetzugänge abgeschaltet wurden, um Gespräche mit west-lichen Medien zu verhindern. Die weißrussische Polizei schlägt die

Gefangen vom KGB Ingolstädterin kämpft um die Freilassung ihres Vaters

„Ich bin enttäuscht, dass die ganzen Aktivitäten in

Deutschland keine Freilassung bewirkt haben.“Katja Statkevich

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Demonstration brutal und gewalt-sam nieder – es gibt zahlreiche Verletzte. Nikolai Statkevich wird aus seinem Auto gezerrt, verprü-gelt und verhaftet – auch seine anderen Mitstreiter werden fest-genommen. Ein trauriger Rekord, sieben Präsidentschaftskandi-daten verhaften die Schergen des Präsidenten in einer Nacht. Das Regime schiebt Statkevich die Organisation der Proteste in die Schuhe – sechs Jahre soll er nun hinter Gittern bleiben. Im Januar diesen Jahres kommt es noch schlimmer. Die Regierung verhängte eine Haftverschärfung gegen den Sozialdemokraten. „Die offizielle Begründung der Haftverschärfung lautet ‚man-gelnde Besserung‘“, berichtet Katja Statkevich. „Die Beweisfüh-rung war sogar für weißrussische Verhältnisse so absurd, dass sie viel mehr zu einem Kafka-Roman passen würde, als zu einem Land mitten in Europa“, so die 31-Jäh-rige weiter. „Es wurde zum Bei-spiel die fehlende Häftlingsnum-mer auf der Kleidung am ersten Tag im Arbeitslager bemängelt - eigentlich ein Versäumnis des Ar-beitslagers.“ Unvorstellbar, doch in weißrussischen Gefängnissen regiert die Willkür. Grundlos ha-be der Arbeitslagerleiter auch in die Akte des Politikers „neigt zu Gewalt und Flucht“ geschrieben. Deswegen verbrachte Statkevich die ersten Wochen in Isolations-haft. „Aktuell befindet er sich in einer kleinen Zelle und hat einen Nachbar“, erzählt die Tochter. „Eine Menschenrechtsorganisa-

tion in Weißrussland hat über in-offizielle Kanäle herausgefunden, dass dieser Zellennachbar früher ein Offizier der Spezialeinheit der Polizei gewesen ist.“ Er soll in den 1990er Jahren für Lukaschen-ko die „unbequemen Menschen“

eliminiert haben. Damals hätte der Offizier sogar eine Leitungs-funktion in diesem „Eskadron des Todes“ gehabt, so Katja Statke-vich. „Wir wissen nicht, was dies zu bedeuten hat, warum ausge-rechnet er jetzt der Zellennachbar von meinem Vater ist. Wir sind sehr verunsichert.“

Im April 2012 lässt Lukaschenko überraschenderweise einige der

Oppositionellen frei – Katjas Vater ist jedoch nicht dabei.Die 31-Jährige vermutet, die wirtschaftlichen Sank-tionen der EU seien Grund für die Freilassungen. „Leider hat die Situ-ation aber noch keine Änderungen für meinen Vater gebracht. Er ist der größte Kritiker des Präsidenten Lu-kaschenkos, deshalb sitzt er immer noch in der Haft.“ Hin und wieder erhält Katja Statkevich einen Brief vom ihrem Vater. Doch meistens ist der Inhalt belanglos, denn die Briefe werden kontrolliert und zen-siert. Auch die seltenen Telefonge-spräche werden abgehört. Trotz der Niederschläge gibt Katja Statkevich den Kampf um ihren Vater nicht auf, sie will weiter kämpfen, bis auch er aus dem Gefängnis entlassen wird. Wer sie unterstützen will, kann eine Petition auf der Internetseite www.lasst-sie-frei.de unterzeichnen. Die Ingolstädterin ist um jede Unterstüt-zung dankbar. (kg)

„Mein Vater ist der größte Kriti-ker von Lukaschenko.“

Katja Statkevich

Foto: Privat

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Die Liebe seines Lebens ist rot, feuerrot. Sie ist Italienerin und hört auf den Namen „La rossa“. Aller-dings steht sie nicht auf zwei Bei-nen, sondern auf Rädern. Denn wenn Werner Dimperl von Kurven schwärmt, meint er meist nicht die einer Frau. Er ist Ducatisti, Mo-torradfreak mit Haut und Haaren. Und Motorrad ist für ihn gleichbe-deutend mit dem Begriff „Ducati“, eine Liebe, die schon früh begann und die sein ganzes Leben ge-prägt hat.

Seine Motorräder braucht man auch nicht in der Garage zu su-chen. Denn die gehören zur Fami-lie, wie er sagt. Und wie es sich für Familienmitglieder gehört, haben die einen Ehrenplatz. Zwei sei-ner „Babys“ jedenfalls. Die stehen mitten im Wohnzimmer. „Damit ich sie morgens, wenn ich auf-stehe, gleich sehen kann“, grinst Werner Dimperl. Natürlich hat er auch noch ein paar Ducatis in der Garage stehen, mit denen er re-gelmäßig fährt, an denen er „rum-schraubt“, bis sie so unverwech-selbar sind, wie ein echter Ducati-sti sich das wünscht.Mit dem „Rumschrauben“ hat er schon sehr früh begonnen. Zu-

erst an Mofas. Da war er 14 Jahre alt. Mit 16 hat er sich seine erste Motocross-Maschine gekauft, ist Crossrennen gefahren, bis er mit 18 Jahren mit seiner ersten Ducati den Weg auf die Straße fand. „Das war eine Ducati 815.“ Und es war Liebe auf den ersten Blick. „Ich war total infiziert und bin gefahren wie ein Irrer“, erzählt der 46-Jäh-rige, „und ich war wirklich schnell.“An die Grenzen zu gehen, fah- ren, was die Maschine hergibt, war natürlich auf Dauer nichts für die Straße. Deshalb ist er mit Freun-den öfter mal nach Brünn in der Tschechische Republik gefahren, um bei Amateur-Autorennen in den Pausen seine Ducati über die Piste zu jagen. Die Faszination wuchs und wuchs. Und Werner Dimperl fuhr von einem dieser Rennen zum nächsten. Er war für den Rennsport geboren, daran gab es für ihn keinen Zweifel.

Inzwischen war er auf die Duca-ti 916 SP umgestiegen, knapp 27 Jahre alt, als eines Tages ein pro-fessioneller Pilot, der ihn bei dem Amateurrennen in Brünn beobach-tet hatte, zu ihm in die Box kam und ihm riet, er solle unbedingt als Profi einsteigen.

Verrückt genug war Werner Dim-perl und offensichtlich auch talen-tiert genug. So erwarb er zunächst die so genannte B-Lizenz und wur-de damit bereits im ersten Jahr Vi-zemeister in der rein deutschen Rennserie, die damals Pro Super-bike Pokal hieß und die sich auf provisorischen Rennstrecken wie Lager Lechfeld oder Zweibrücken abspielte. „Das war wirklich Hard-core“, erinnert sich Dimperl.Um in die Liga mit internationaler Beset-zung aufzusteigen, musste man sich genügend Punkte „erfahren“. Das hat der Ingolstädter mit seiner Vizemeisterschaft bereits im ersten Jahr geschafft. Nun also galt es, gegen Piloten aus 16 Ländern auf Kursen wie dem Nürburgring oder dem von Hockenheim zu beste-hen, in einer Rennserie eine Stufe unter der Weltmeisterschaft. Zu-sammen mit einem befreundeten Mechaniker baute er seine Ducati als reinrassige Rennmaschine um. „Wir haben hier in Hundszell tage- und nächtelang geschraubt. Die Ersatzteilbeschaffung war extrem schwer damals.“ Das funktionierte, wie er es ausdrückt, nur auf „itali-enischen Umwegen“. Gemeinsam mit dem österreichischen Piloten Andi Meklau fand Werner Dimperl

Von der Liebe zu einer roten ItalienerinDer ehemalige Rennfahrer Werner Dimperl aus Hundszell ist ein Ducatisti mit Leib und Seele

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auch den Zugang zu dem Sponso-renpool von Michelin und Red Bull. Denn billig war seine Leidenschaft nicht gerade. „Ich habe im Lauf der Jahre ein sehr sehr schönes Ein-familienhaus versenkt“, lacht der Ducatisti.

Der Erfolg blieb nicht aus. Nicht nur, dass er zusammen mit Meklau als Team für Ducati Deutschland gefahren ist und die Teamwertung gewann. „Das war nicht ganz ein-fach gegen die tollen Teams von Yamaha und Suzuki.“ Er erfuhr sich auch zum zweiten Mal den Ti-tel des Vizemeisters.Als im Jahr 2000 die Rennserie Pro Superbike zerschlagen wur-de, schlug auch für Werner Dim-perl die Stunde des Abschieds vom professionellen Rennsport. Denn die vom Deutschen Sport-fernsehen (DSF) übertragene Serie sicherte ihm die Spon-sorengelder, die er brauchte, um seine Rennleidenschaft zu finan-zieren. Mit dem Fernsehen indes zogen sich 2000 auch die Spon-soren zurück. Dimperl entschied sich damals, als Vizemeister aus dem professionellen Rennsport auszusteigen, nach sechs ak-tiven Jahren im Rennsportzirkus. Zumal ihm die Doppelbelastung auch über den Kopf zu wachsen drohte. In Ingolstadt musste er seine Firma für Haustechnik lei-ten, daneben die Rennmaschinen warten und schließlich an den Wochenenden Rennen fahren. „Von 52 Wochenenden pro Jahr war ich 35 auf der Rennstrecke“, erzählt er. Und auch, dass seine

erste Ehe an seiner Leidenschaft für Ducati gescheitert ist. Mit sei-ner zweiten Frau jedoch war das anders. „Die hat mich als profes-sionellen Rennfahrer kennen ge-lernt und hat das akzeptiert.“ Auch wenn sie zu den meisten Rennen mitfährt, die er heute noch als Zu-schauer oder auch als Instruktor besucht, muss sie schon einiges erdulden für die Leidenschaft ihres Mannes. „Bei allem, was mit Duca-ti und mit mir zu tun hat, ist sie bru-tal leidensfähig“, formuliert Dim-perl die Vorzüge seiner zweiten Frau, die auch damit leben kann, dass eben keine Schrankwand im Wohnzimmer steht, sondern sei-ne Babys“, eine „Werksracing 916 RR“ und die Desmosedici 16 RR, die einen Wert von rund 120 000 Euro hat. „Auch Ferdinand Pi-ech hat eine davon“, sagt er, während er auf die rote Schön-heit deutet, von der es weltweit nur 1500 gibt. Die Namen der anderen Besitzer klingten auch nicht übel: Tom Cruise und Brad Pitt. Werner Dimperl hat zwei davon, denn eine steht noch in der Garage. Auch wenn er selbst nicht mehr als Profi an Rennen teilnimmt, der Leidenschaft für den Rennsport und vor allem Ducati tut das keinen Abbruch. „Wenn du mal einen Vierer vor der Uhr ste-hen hast, kannst du mit Professio-nellen nicht mehr fahren, weil die Jungen über Grenzen gehen, über die du nicht mehr drübergehst“, schildert er den Unterschied zwi-schen den jungen „Playstationfah-rern“ und einem alten Hasen wie ihm, der seine Kurventechnik noch

ohne elektronische Fahrhilfen perfektionieren musste und der sein Können mit rund 50 teilweise schweren „Abwürfen“ bezahlt hat. „Ich habe keinen Knochen, den ich mir noch nicht gebrochen habe.“

Das, was er gelernt hat, was er von Ideallinie und Racelinie weiß, gibt er aber gerne an die jungen Kollegen weiter. Als Instruktor. Und ein paar Showrennen fährt er selber schon auch noch.

Und jetzt hat sein Ducati-Fieber neue Nahrung erhalten. Ducati ist Audi. Für ihn als Schanzer und Ducatisti war diese Nachricht wie Weihnachten und Ostern zusam-men. „Ich hatte schon Bedenken gehabt, Ducati würde an irgend-einen Inder verramscht“, schildert Dimperl seine Freude über den Deal mit Audi, „Ducati ist unter den Motorräder weltweit das absolute Premiumprodukt. Es verkörpert Lifestyle. Und ein Ducatisti wird sich immer von der Masse der Mo-torradfahrer abheben.“

Und wie sehr es ihn reizt, sein Le-ben vollends dem Rennsport zu verschreiben, merkt man, wenn er erzählt, dass es ihn reizen würde, an dem Aufbau eines Rennstalls für Ducati mitzuarbeiten. „Ich könnte mir durchaus vorstellen, ein Team für die Rennserie Super-bike aufzubauen und auch wieder zum Titel zu führen“, meint der er-fahrene Motorrad-Rennfahrer, der sich gerne mal bei Audi vorstellen würde. „Damit die wissen, wer ich bin.“ (msc)

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Lebenslinien im Mai 2012

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Mayer kann Cannes! Im vergan-genen Jahr spielte der Pfaffen-hofener Tobias Christian Mayer die Hauptrolle eines Wehrmacht-Offiziers in einem französischen Weltkriegs-Drama. Dieser 40-Mi-nüter wird nun bei den Filmfest-spielen in Cannes gezeigt, die am Mittwoch beginnen. Und Mayer macht sich ohne Akkreditierung, aber mit Kameramann, seinem heiß-geliebten Akkordeon und im gesponserten Kleinbus auf den Weg nach Südfrankreich, um live dabei zu sein und weiter an seiner Karriere zu basteln.

Mayer, Jahrgang 1979, ist so et-was wie der Inbegriff eines Künst-lers. In seinem Kopf tanzen die Ideen Tango, er wirkt immer ein bisschen konfus, ist chronisch pleite und schlägt sich mal mehr, mal weniger erfolgreich durch. Spitzwegs legendäres Gemälde „Der arme Poet“ könnte genauso gut auch ihn zeigen. Eine Koch-lehre hat Mayer einst absolviert und sich danach mit zig Jobs über Wasser gehalten, als Animateur in Ferienclubs hat er sein Geld verdient und die Schauspielschu-le besucht, er macht Musik und tritt hier und da auf, kürzlich fei-erte er mit seinem ersten großen Kabarett-Solo-Programm Premi-

ere. Mit dem will er demnächst auch in Ingolstadt auftreten. Und wenn in Pfaffenhofen von einer ungewöhnlichen, schrägen oder sonstwie seltsamen Aktion die Rede ist, kann man ziemlich si-cher sein: Mayer ist dabei. Ein Hansdampf in allen Gassen.

Aber es sind nicht nur regionale Blödel-Aufritte und Augenzwin-ker-Rollen, mit denen Mayer auf sich aufmerksam macht. In „Der Untergang“ (2003) war er als Kleindarsteller dabei, ebenso in „Traumschiff Surprise“ (2004), im ZDF-Streifen „Heiraten muss gelernt sein“ (2004) und im RTL-Film „Crazy Race 3“ (2004) sowie 2005 in einem „Tatort“ und 2009 bei „Liebe und ihre Gefahren“ (ZDF). Doch die todernste Haupt-rolle in dem Film „Bir Hakeim – le Maquis des Patriotes“, der nun im Rahmen der weltbekannten Film-festspiele in Cannes gezeigt wird, ist zweifelsohne der Höhepunkt seiner noch jungen Karriere.

Dennoch sagt Mayer: „Ob ich als Comedian arbeite oder als Schau-spieler in Geschichten mit schwe-rem Stoff – beides ist gleichwertig ernst zu nehmen.“ In jedem Cha-rakter stecke eine Menge Arbeit. „Unterm Strich geht es immer nur

um eines: Die Rolle muss glaub-würdig rübergebracht werden.“

Die in „Bir Hakeim“ verfilmte Ge-schichte aus dem Zweiten Welt-krieg, in der Mayer einen deut-schen Nazi-Schergen und Par-tisanen-Jäger spielt, beruht auf einer wahren Begebenheit und wurde an Originalschauplätzen in den südfranzösischen Orten La Borie und La Parade in der Nähe der Stadt Mende gedreht. Während die Deutschen Frank-reich besetzten, gründete sich in Afrika eine Widerstandsbe-wegung namens „Bir Hakeim“; die Freiheitskämpfer hießen

Maquisard und kamen aus Al-gerien, Frankreich, Spanien, aber auch deutsche Überläufer schlossen sich an. „Um gegen die Wehrmacht zu kämpfen, ver-steckten die Einheimischen die Rebellen in den zwei kleinen Ort-schaften“, erzählt Mayer. „Und nachdem die Deutschen heraus-gefunden hatten, dass sich die

„Vielleicht läuft mir ja der Depp übern Weg“Tobias Mayers kurioser Trip zu den Filmfestspielen in Cannes

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„An einem Gedenkstein wurde mir bewusst: Ich spiele hier den Mann, der all diese Menschen

exekutiert hat.“Tobias Christian Mayer

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Maquisard dort aufhalten, umzin-gelten sie diese Dörfer und nah-men alle Bewohner inklusive der Rebellen gefangen. Die SS ord-nete an, alle exekutieren zu las-sen.“ Den befehlshabenden Offi-zier, Hauptmann Lange, mimt Ma-yer in dem Film. „Lange beorderte damals den Pastor der Dörfer in die Kirche zum Gespräch und gab dem Geistlichen das Wort, die Zi-vilbevölkerung zu verschonen. Dieses Versprechen hielt er. Die Freiheitskämpfer jedoch ließ er gnadenlos hinrichten.“

Die Rolle in „Bir Hakeim – le Ma-quis des Patriotes“ war Mayers bislang größte Herausforde-rung. Nicht nur, dass er bis zu den Dreharbeiten nach eigenen Worten „keinen Brocken Franzö-sisch“ konnte; auch die Rolle des deutschen Hauptmanns wollte in seiner „Tiefgründigkeit und Zer-rissenheit“ erst einmal erfasst werden. „Denn der Offizier wird in dem Film keineswegs bloß als obrigkeitshöriger Nationalsozia-list dargestellt“, sagt Mayer. „Lan-ge war natürlich ein überzeugter Nazi, aber auch ein Mensch und überzeugter Familienvater – und doch: Es ist Krieg, und da ist es seine Aufgabe, Feinde zu töten.“ Diese Rolle glaubwürdig zu ver-körpern, war freilich eine He-

rausforderung für den gebürtigen Mainzer. Während der Dreharbei-ten kam er der Geschichte hinter dem Film manchmal beklemmend nahe: „Ich erinnere mich noch an eine Pause, als ich vor einem Ge-denkstein auf meinen nächsten Einsatz warten musste“, erzählt er. „Es war der Gedenkstein, auf dem die Namen der getöteten Wi-derstandskämpfer stehen. Und da wurde mir plötzlich klar: Ich spiele hier den Mann, der all diese Men-schen exekutiert hat.“

Dem Regisseur Baptiste Ména-ge attestiert Mayer „ausgezeich-nete Arbeit“. Für sein Alter, An-fang 20, habe er das großartig gemacht. Dabei hat Ménage, das betont Mayer, einen ganz beson-deren Bezug zu dieser Geschich-te: „Er ist ein Nachkomme eben dieser Zivilisten, die seinerzeit von Hauptmann Lange verschont wurden.“

Tobias Mayer ist stolz darauf, in dem Film eine so bedeutende Rol-le zu spielen. „Mir war gar nicht bewusst, was dieses Engagement für mich bedeuten könnte“, räumt er ein. Doch nun wird der Strei-fen in Cannes gezeigt: Außerhalb des Wettbewerbs zwar, aber im-merhin in der „Short Film Corner“. Ein Ritterschlag sei das, betont

Mayer. „Cannes ist eben Cannes. Das ist eigentlich unglaublich.“ Als fest stand, dass der Streifen bei den Filmfestspielen in Cannes gezeigt wird, war für Mayer klar: „Da muss ich rein! Und wenn ich mich als Koch verkleidet durch die Küche schleiche.“ Eine Ak-kreditierung hat er noch nicht und das Geld ist wieder mal knapp. Aber er ist wild entschlossen, hin-zufahren. Diesen Samstag macht er sich mit einem von einer Pfaf-fenhofener Firma zur Verfügung gestellten Kleinbus auf den Weg an die Côte d‘Azur. Im Schlepp-tau einen Kameramann, der sei-ne Erlebnisse dokumentieren soll – und der vor allem perfekt Französisch spricht. „Wir wollen daraus ein Roadmovie machen.“ Der Arbeitstitel lautet: „Mayer kann Cannes.“ Und er ist fest da-von überzeugt, dass aus seinem Abenteuer-Trip ein spannender Film entsteht. „Vielleicht läuft mir ja der Depp übern Weg“, sagt er. Und meint natürlich Johnny Depp, den famosen Schauspieler, der unter anderem in den jetzt schon legendären „Fluch der Karibik“-Filmen für Furore sorgte.

Wie es Mayer auf seinem Trip nach Cannes ergeht und was er dabei erlebt, wird er täglich auf www.tobmayer.de berichten.

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Es war der 27. Februar 2012, als Silla Pilsner auf der Autobahn in Thessaloniki in Griechenland ei-nen abgemagerten, schwer ver-letzten Hund fand. „Das arme Tier bestand nur noch aus Haut und Knochen“, erzählt die Ingol-städterin. Wegen einer offenen Wunde am Bein war es der Hün-din nicht mehr möglich, auch nur einen Schritt zu laufen. Tags zu-vor hatte Silla Pilsner selbst einen schweren Autounfall. Dreimal ha-be sie sich überschlagen, bis das Auto endlich auf dem Dach liegen geblieben ist. Die Nase war ge-brochen, Prellungen, Schürfwun-den, der Fuß verletzt – trotzdem setzte die Tierschützerin ihre Mis-sion unbeirrt fort.

Silla Pilsner kommt ursprünglich aus Thessaloniki. Vielen Ingol-städtern ist die toughe Griechin vermutlich aus 25 Jahren Volks-hochschul-Unterricht oder von verschiedenen Volksfesten und Märkten in der Region bekannt. Denn dort verkauft sie schon seit vielen Jahren Gyros. Ihr Herz schlägt allerdings für die Tiere. Sie rettet herrenlosen Hunden in Griechenland das Leben – bringt sie nach Ingolstadt, um hier für die Vierbeiner ein neues Zuhau-se zu finden.

„Einen Tag nach meinem Unfall fand ich den verletzten Hund auf der Autobahn. Der liebe Gott hat mir das Leben geschenkt, damit ich die Hundemutter finde“, er-zählt die gläubige Griechin. Denn als Silla Pilsner aus dem Auto stieg, um sich um das verletzte Tier zu kümmern, hörte sie er-bärmliches Wimmern. Ein paar Meter neben der Autobahn fand sie schließlich ein Erdloch – da-rin zehn Hundewelpen. „Es hat schlimm gestunken“, berichtet die Tierfreundin mit Tränen in den Augen. Die rund zwei Wochen al-ten Welpen waren völlig unterer-nährt, denn die Mutter konnte kei-ne Milch mehr geben. „Was hätte ich machen sollen? Ich hätte die Tiere ja nicht einfach dort lassen können.“

Zusammen mit den zehn Welpen und der Mutter wollte Silla Pils-ner mit dem Flieger zurück nach Deutschland kommen. „Doch zehn Hundewelpen waren der Fluggesellschaft zu viel“, erzählt die Ingolstädterin. Da ihr eigenes Auto durch den Unfall einen To-talschaden hatte, bat sie einen jungen Mann, sie bis Venedig mitzunehmen. „In seinem kleinen Citroën sind die zehn Welpen in einer Kiste, die verletzte Mutter auf meinem Schoß und ich mit

meinen Verletzungen bis Venedig mitgefahren. Dort hat uns meine Tochter abgeholt.“ In Venedig gingen die Probleme weiter. Die Polizei war überfor-dert mit den vielen Tieren, berich-tet Silla Pilsner. Die Tierärztin in Griechenland hatte die Chipnum-mern nicht in die Pässe eingetra-gen, so war die Polizei nicht si-cher, ob alles in Ordnung ist. „Sie wollten mich mit den Hunden nicht weiter fahren lassen. Da habe ich dann erst einmal zum Weinen an-gefangen“, so die Tierschützerin. „Ich hatte seit 48 Stunden nicht geschlafen, mir ging es durch den Unfall selbst nicht so gut und dann noch das.“ Irgendwann kam endlich der Amtstierarzt. Der ha-be die eingesetzten Chips der Hunde abgescannt und gesehen, dass alles in Ordnung war.

In Ingolstadt verpachtete ihr eine gute Freundin einen Garten mit einem kleinen Häuschen. Dort konnte die Tierfreundin die Hun-defamilie unterbringen. Regelmä-ßig komme ein Tierarzt vorbei, um nach den Vierbeinern zu sehen. Die Tiere werden geimpft, gechip-ped und untersucht – wenn mög-lich auch gleich noch kastriert. Die Kosten trägt Silla Pilsner momentan allein. „Die verletzte Hundemutter hat mich 600 Euro

Silla Pilsners tierische AbenteuerDie leidenschaftliche Tierschützerin hat schon 215 herrenlose Hunde und etliche Katzen aus Griechenland gerettet

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gekostet.“ Auch der Transport der Hundefamilie von Griechen-land nach Ingolstadt war ziemlich teuer, doch für die hilflosen Tiere würde die Hundeliebhaberin na-hezu alles tun. Von den neuen Besitzer verlangt Silla Pilsner lediglich einen Unkostenbeitrag von rund 150 Euro. Auch wenn es manchmal sehr schwierig sei, die Tiere zu vermitteln, gibt sie die Vierbeiner nicht an jeden weiter.

„Mein Gefühl sagt mir ganz genau, wem ich einen Hund geben kann und wem nicht.“ Es müsse auf je-den Fall ein Garten dabei sein. Auch bei jungen Menschen sei sie eher vorsichtig. Denn in deren Leben ändere sich noch so viel und wenn es hart auf hart kommt, müsse als erstes der Hund weg. „Ich muss immer noch weinen, wenn ich einen Hund hergebe. Es entsteht im Laufe der Zeit natür-lich eine intensive Bindung, denn ich will ja, dass die Tiere verges-sen, was ihnen in Griechenland zugestoßen ist.“ Hin und wieder bringen ihr auch gute Freunde Futter vorbei oder bieten an, eine Rechnung zu be-gleichen. Zu ihrem 60. Geburts-tag wünschte sich die Ingolstäd-terin von jedem ihrer Gäste einen Sack Hundefutter. Ansonsten finanziert die Tierfreundin ih-re Rettungsaktionen aus dem Verkauf von Wein und Ouzo auf Volksfesten oder dem Christkind-lmarkt. „Da kommt zumindest ein bisschen was zusammen“, so Sil-la Pilsner. „Manchmal geben die Leute auch mehr, denn sie wis-

sen was ich tue, das macht mich glücklich.“

Seit 1992 fährt die Ingolstädterin nach Griechenland, um Tiere zu retten. Insgesamt habe sie schon 215 Hunde und 20 Katzen vermit-telt. Auch die Welpen aus ihrem letzten Transport konnte sie alle an neue Besitzer weitergeben. „Nur für die Mutter habe ich noch kein geeignetes Zuhause gefun-den“, berichtet Silla Pilsner trau-rig. „Ich hoffe sehr, dass ich für sie auch bald ein nettes Herrchen oder Frauchen finde.“

Regelmäßig nimmt die Tierfreun-din 38 bis 40 Stunden Autofahrt nach Griechenland in Kauf. Noch nie sei sie ohne einen Hund zu-rück gekommen. Sie wisse genau, wo sich die herrenlosen Hunde aufhalten, erzählt sie weiter. Wenn sie komme, laufen ihr die

Tiere gleich hinterher und freuen sich. „Das Gefühl ist so toll. Aber wohl nur für den, der auch Tiere liebt“, schwärmt die Ingolstädte-rin. „Jemand anderes kann das wohl nicht verstehen. Viele Leute mögen zwar Tiere, aber trotzdem halten sie mich für verrückt.“

Silla Pilsner verbringt ihre ge-samte Zeit mit den Tieren. Hin und wieder schimpft ihre Familie, weil sie Silla nicht zu Gesicht be-kommt. „Ihr braucht mich nicht, ihr habt was zu essen. Wenn ihr mich sehen wollt, müsst ihr mich begleiten“, antwortet ihnen die Tierfreundin dann. Wie lange sie dieser nervenaufreibenden und teuren Leidenschaft noch nach-gehen wird, weiß Silla Pilsner nicht sicher. Was sie aber sicher weiß ist, dass sie in diesem Som-mer wieder nach Griechenland fahren wird.

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Nach wie vor quälen Dr. Bilal Ibrahim Albträume von seinen Er-lebnissen in den Kriegsgebieten. Speziell der Einsatz 2006 in den Krisengebieten des Libanons, als der Facharzt für Augenheilkunde unter Todesangst, von Bomben getroffen zu werden, gearbeitet hat, bleibt ihm ein Leben lang in Erinnerung.

„Es gab in den Operationssälen oftmals keinen Strom und es war so heiß, dass man das Fenster öffnen musste. Man operierte da-bei am offenen Menschen. Und immer war die Angst vor Bomben da“, erinnert sich der gebürtige Li-banese an die schrecklichen Er-lebnisse im Kriegsgebiet. Schon bei seiner damaligen Fahrt in den Libanon war für den Medizi-ner, der in Ingolstadt seine Pra-xis hat, eines klar: „Ich will den Menschen vor Ort helfen.“ „Man-che Leute sagen ich habe ein Helfersyndrom“, sagt Ibrahim. „So etwas muss man in sich ha-ben. Gerade die Erlebnisse im Krieg, wenn Menschen mit Bom-benverletzungen zu einem kom-men, schaut man, wo kann man als Arzt helfen.“ Schon bei seiner Ankunft vor sechs Jahren waren die Menschen vor Ort von seinem Einsatz verwundert. „Leute flüch-ten aus dem Land und ich komme

aus dem sicheren Deutschland in den Krieg. Es ist schon fast ei-ne Ironie.“ Die Leute fragten ihn, warum er komme. „Ich antwortete nur: Ich möchte euch helfen.“

„DREI MAL GEWEINT“

Wenn sich der Augenarzt an die Zeit erinnert, merkt man, wie al-te Wunden wieder aufklaffen und die schrecklichen Bilder von Leid und Not wieder hochkommen. „Ich sah, wie eine Mutter gestor-ben ist. Sie hielt ihr lebendes Ba-by noch im Arm. Oder ein Opa schützt seinen Enkel beim Bom-benangriff mit seinem Leben“, erzählt er mit trauriger Mine und: „Das Kind überlebte unter dem to-ten Opa. Damals war der Bub 13; er lebt inzwischen als 18-Jähriger in Mönchengladbach.“Ibrahim verrät einen ganz pri-vaten Moment in dieser Zeit: „Ich habe zwei, drei Mal alleine geweint, aber nie vor anderen Leuten“, sagt er. „Wenn du nicht betroffen bist von den Leiden, dann kannst du den Job nicht machen.“ Leidenschaft bedeute auch Mitgefühl für die Menschen. „Sie treibt dich an, zu helfen.“

Aber es gab auch viele Seiten des Krieges, die dem Arzt neue Kraft gegeben haben. „Ich habe eine

Frau und einen Mann im Libanon kennengelernt, die ihre Beine ver-loren hatten. Als ich dort hinkam, waren sie immer am Lachen. Ich fragte ihn, warum er lacht, und er sagte mir: Wenigstens habe ich noch zwei Arme. Er war so po-sitiv gestimmt. Das hat mich be-eindruckt, dass man trotz dieser Verletzungen immer noch lachen kann“, erzählt Ibrahim. „Das hat mir Hoffnung gegeben. Denn die Hoffnung stirbt wirklich zuletzt.“

In den Kriegsgebieten war Ibra-him nicht nur als Arzt gefragt, son-dern oftmals auch als Botschafter oder Psychologe. „Ich hatte ei-nen Patienten, der war in einem sehr schlechten Zustand.“ Er hat-te seine ganze Familie verloren. „Ich war sehr religiös zu ihm und fragte ihn, wer wichtiger für Gott sei: er oder der Prophet Hiob. Er sagte: Hiob, er ist ein Prophet. Darauf ich: Auch Hiob hat seine Familie verloren und lebte weiter. Du musst dir Hiob als Vorbild neh-men.“ Am Ende, erzählt der Me-diziner, „konnte der Mann sogar wieder lachen“ .

WELTWEITER KRISENHELFER

Für Bilal Ibrahim sind Erfah-rungen extrem wichtig. „Gerade die Erlebnisse vor Ort haben ei-

Der heimliche HeldWarum Augenfacharzt Bilal Ibrahim ehrenamtlich Verwundeten in den Krisen- und Kriegsgebieten hilft

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nen geprägt“, sagt er. „Man über-legt sich, was man noch mehr machen hätte können.“ Man lerne von diesen Erfahrungen. „Jeder Fall war für mich eine Lektion“, sagt er und weiß, dass man auch lernen muss, mit den Eindrücken umzugehen: Die Frage „Wie gehe ich auch persönlich damit um?“ sei wie eine Hürde, „und du musst die Power haben, diese zu über-winden“.

Neben seinen Einsätzen im Liba-non war der Mediziner auch in den Kriegswirren von Nigeria sowie als Tropenarzt auf verschiedenen Inseln in Südamerika unterwegs. Ihm war dabei stets eines wichtig: „Ich habe nie Geld genommen, wenn ich dort hingegangen bin. Ich habe sogar meine Flugtickets selbst bezahlt. Helfen ist für mich, wenn ich etwas umsonst mache.“

Eine Einstellung, die ihm schon in die Wiege gelegt worden sei. „Ich helfe schon seit meiner frü-hesten Kindheit den Menschen.“ Das habe er von seinem Vater beigebracht bekommen. „Er hat den Menschen immer eine Hand gereicht. Ich bedanke mich bei ihm, dass ich die Kraft und Geduld habe, jemandem zu helfen“, sagt er und mahnt: „Wer schon früh immer nur an sich selbst denkt, wird das als Erwachsener auch machen.“

HOFFNUNG AUF WELTFRIEDEN

Inzwischen reist der Augenarzt nicht mehr in die Kriegsgebiete, hilft den Menschen aber immer noch. Sein Credo: „Man muss sich für andere engagieren. Je-der Mensch hat eine Verantwor-tung für seine Gemeinde.“ In In-

golstadt betreut er unter anderem ein Projekt, in dem arabisch-stämmigen Mitbürgern die deut-sche Sprache gelehrt und die deutsche Kultur nähergebracht wird. Aber auch sein Einsatz für die Ärmsten dauert an. „Ich hel-fe nun von hier aus.“ Er versen-det zum Beispiel Medizin, „und früher habe ich die alten Brillen meiner Kunden gesammelt und diese in die Armutsgebiete nach Afrika geschickt“.

Eine Botschaft ist dem Mediziner nach wie vor wichtig. „Gewalt und Krieg bringen keine Lösung, son-dern nur Verletzungen, Armut und noch mehr Probleme“, betont er. „Besser ist der Dialog, da kann man etwas erreichen. Ich möchte Frieden und Harmonie. Lieber ge-he ich auf ein Fest, wo die Wun-den des Krieges am Heilen sind.“

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Man kennt sie vor allem aus dem Georgischen Kammer- orchester, von den Simon-Mayr-Tagen oder der Ingolstädter Or-gelmatinee. Teona Gubba-Ch-keidze verzaubert mit ihrer Violine nicht nur die Ingolstädter Musik-fans. Seit 2006 ist die hübsche Ingolstädterin – zusammen mit ih-rer französischen Violine - fester Teil des Georgischen Kammer- orchesters. Ursprünglich stammt die 39-Jährige aus Georgien, ge-nauer gesagt aus Tiflis, der Haupt-stadt. Ihre Leidenschaft zur Musik entdeckte Teona schon sehr früh - mit fünf Jahren bekam das jun-ge Talent die erste eigene Geige geschenkt. „Ich war gerade fünf Jahre alt, da hat mir meine Mut-ter eine Achtel-Geige geschenkt“, erinnert sich die Musikerin. „Mei-ne Mutter ist selbst Geigerin und immer wenn sie beim Üben eine Pause gemacht und ihr Instru-ment weggelegt hat, habe ich mit dem Bogen über die Saiten gestri-chen. Das fand sie nicht so gut.“ Doch an der kleinen Geige durf-te sich der aufstrebende Stern dann selbst versuchen. Die ersten richtigen Violinstunden folgten im Alter von acht Jahren. Zu die-ser Zeit wurde Teona auch Mit-glied der sowjetischen Girlband „Mziuri“. Pop und mehrstimmige georgische Volkslieder gaben die insgesamt elf Mädchen zum

Besten. Jede spielte ein anderes Instrument. „Ich habe damals E-Gitarre gespielt und gesungen“, schwelgt die 39-Jährige in ih-ren Erinnerungen. Profis haben „Mziuri“ - was übrigens „sonnig“ bedeutet – ins Leben gerufen. In der Sowjetunion spielte sie ei-ne wichtige Rolle. „Zehn Jahre sind wir als Band, oft monatelang durchs Land getourt“ und sogar im Ausland sei „Mziuri“ damals aufgetreten, erzählt die Musike-rin. Die Tourneen führten „Mziu-ri“ unter anderem von Petersburg über Krim bis Baku, dreimal führte ihr Weg sogar nach Deutschland. Selbst heute musizieren die elf „Girls“ noch gerne miteinander – vor allem werde dann viel gesun-gen, erzählt Teona. „In Georgien singen die Leute sowieso gern und viel.“

Teona Gubba-Chkeidze stammt aus einer sehr künstlerisch-mu-sikalischen Familie. Die Mutter ist eine anerkannte Geigerin, der Vater - ein weltweit bekannter Re-gisseur. Seit mehr als 20 Jahren ist er Intendant am großen dra-matischen Theater in Petersburg, nebenbei inszeniert er Opern. Großmutter und Schwester haben sich ganz der Schauspielerei ver-schrieben, die Tante ist Ballerina. Für die junge Teona jedoch, war von Anfang an klar, dass sie später

einmal Musikerin wird. „Ich wüsste nicht, ob ich als Kind jemals einen anderen Berufswunsch hatte. Ich denke meine Familie hat mich sehr geprägt“, erzählt die Violinistin.

Nach dem Gymnasium für musi-kalisch begabte Kinder, studierte die Musikerin an der Musikhoch-schule in Tiflis in der Violinklasse von Konstantin Vardeli. Doch der kam 1993 mit seinem Staatsquar-tett nach Ingolstadt. Dort spielte er – neben seiner Tätigkeit als erster Geiger im Staatsquartett – auch als Musiker im Georgischen Kammerorcherster unter Liana Issakadzes Leitung. Ein Jahr spä-ter beschloss die damals 21-jäh-rige Teona ihrem Lehrmeister zu folgen. 1995 zog es die Violini-stin nach München, wo sie nach einer Aufnahmeprüfung an der Hochschule für Musik und Thea-ter als Vollstudentin aufgenom-men wurde. „In München war es wirklich sehr toll“, schwärmt die In-golstädterin. „Die Hochschule hat damals sogar wirklich berühmte Dirigenten wie Zubin Mehta oder Krzysztof Penderecki eingeladen. Das war eine fantastische Erfah-rungen und prägt einen natürlich ungemein“. Das Staatsexamen mit der Note „sehr gut“ und Auszeich-nung in der Tasche, wurde Teona zum Meisterklassenstudium zuge-lassen. Nach sechs Jahren Studi-

„Jeder Auftritt ist ein Erlebnis“Teona Gubba-Chkeidze eine wahre Meisterin an der Geige

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um hielt die ehrgeizige Musikerin schließlich ihr Meisterklassendi-plom in den Händen.

Neben der Musik hegt Teona Gub-ba-Chkeidze eine weitere Leiden-schaft und zwar die Sprachen. Ne-ben ihrer Muttersprache spricht sie natürlich Deutsch, Englisch, Rus-sisch, Spanisch - und sogar ein bisschen Persisch hat sie während ihrer Schulzeit gelernt. „Es macht mir Spaß, die Literatur in der Origi-nalsprache zu lesen. Das ist etwas ganz anders“, so die Violinistin. „Ich finde es außerdem höchst in-teressant, welche Wörter aus wel-cher Sprache abstammen und wie die sich dann entwickelten.“ Vermutlich ist das auch einer der Gründe wieso die 39-Jährige vor einigen Monaten ein eigenes Trio namens Trio con moto gegründet hat, in dem nicht nur die Musik im Vordergrund steht. Einen ersten Auftritt vor 60 Leuten im Altstadt-theater hat es bereits gegeben und der sei beim Publikum wahnsin-nig gut angekommen. Es geht um Kunst-, Musik- und Literatur aus dem 20. Jahrhundert. „Wir spielen zum Beispiel nicht nur Piazzolla, sondern erzählen auch seine Bi-ographie und die Entstehung des Tangos“, erklärt sie. „Dazu zeigen wir Bilder von Frida Kahlo, erklären deren Bedeutung, berichten von ih-rem Leben und der Beziehung zu ihrem Mann.“ Zwischen drin spielt das Trio – bestehend aus einer

Pianistin, einer Cellistin und Teo-na selbst, natürlich an der Violine Piazzollas Tangos. Gedichte vom chilenischen Dichter und Schrift-steller Pablo Neruda gibt Teona in der Originalsprache zum Besten. „Ich habe gemerkt, dass gerade das deutsche Publikum immer al-les ganz genau wissen will. Es ist sehr aufmerksam, hört gut zu und ist sehr interessiert. Da dachte ich mir, wieso nicht einfach mal Musik, Literatur und Kunst kombinieren.“Das nächste Mal ist das „Trio con moto“ bei einer Orgelmatinee – al-lerdings ohne Kunst und Literatur am 16. September in Ingolstadt zu hören.

Jeder Auftritt ist für Teona ein Er-lebnis, erzählt sie. An jedes ein-zelne Konzert erinnere sich die leidenschaftliche Musikerin sehr gerne. „Wenn es Spaß macht zu spielen, dann ist es ein gutes Kon-zert. Die Freude am Spielen steht stets im Vordergrund, denn nur so kann man ein Stück dem Pu-blikum auch gut überbringen.“ Am liebsten spielt die Ingolstädterin Stücke aus der Romantik, berich-tet sie. Aber auch moderne Musik und vor allem Bach gehören zu ihren Favoriten. Ihr persönliches Vorbild ist jedoch ein Pianist, Swjatoslaw Richter. „Er war ein ganz bescheidener, kluger Mensch – ein Musiker durch und durch. Während seiner Rei-sen spielte er auf nahezu jedem Instrument, vor kleinstem Pu-blikum. Aber er spielte, weil er spielen wollte.“

Ähnlich wie ihr Vorbild lebt auch Teona Gubba-Chkeidze für die Musik. Neben den Orchesterpro-ben übt die Ingolstädterin täglich mehrere Stunden an Interpreta-tion, Intonation, Rhythmus und Klang. Für ihren Ehemann ist das aber kein Problem, er liebt das Geigenspiel seiner Frau. „Wenn ich oben übe und die Tü-re zu mache, dann kommt er rauf und macht die Türe wieder auf“, erzählt die 39-Jährige lachend. „Ich will auch was hören“, sagt er dann. (kg)

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An diesem Wochenende begin-nt das Fußball-Großereignis des Jahres: Die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine hält ei-nen ganzen Kontinent in Atem. Wenn die deutsche Nationalelf den ersten Titel nach 16 Jahren holen möchte, geht es dabei al-lerdings nicht nur um das Spiel an sich. Immer mehr rückt das Event Fußball in den Vordergrund. Ein Mann, der andere Zeiten miterlebt hat, erinnert sich: Walter Anspann, ehemaliger Spieler und Kapitän des MTV Ingolstadt. In der zweiten Bundesliga Süd spielte Anspann 77 Mal und erzielte dabei elf Tore.

„Achtung, Achtung, Nein! Nicht im Tor, kein Tor. Oder doch? Jetzt, was entscheidet der Linienrichter? Tor.“ Der Kommentar von Rudi Mi-chel zum berühmten Wembley-Tor beim Finale der Weltmeisterschaft 1966 zwischen Deutschland und England ist legendär, ebenso wie der Treffer, der vielleicht gar keiner war. Als die Engländer den Pokal im eigenen Land holten, war Wal-ter Anspann gerade einmal zehn Jahre alt. Die WM 1966 war das erste große Fußballturnier, das er bewusst wahrnahm. „Wir haben das damals an einem Schwarz-weiß Fernseher verfolgt“, erinnert er sich. Für ihn als Bub, sei das damals sehr interessant gewe-sen. „Der Stern Beckenbauers ist damals aufgegangen. Dazu haben

damals Spieler wie Helmut Haller auf dem Platz gestanden, das ver-gisst man nicht.“

Das Wembley-Tor hat er gut in Erinnerung. Ob es ein Treffer war oder nicht, kann er bis heute nicht beantworten: „Es war ja nur ein kleiner Fernseher. Außerdem hat-te man damals nicht annähernd so viele Zeitlupen wie heutzutage.“

Tatsächlich hat sich in den vergan-genen 46 Jahren einiges geändert, spielerisch aber auch allgemein im Fußball. „Heute ist es kaum mehr ein Fußballspiel, sondern eigent-lich ein Event. Früher war das alles ganz anders. Man sollte das Spiel nicht aus dem Auge verlieren“, betont er. Anspann selbst hat von 1978 bis 1981 erfolgreich beim MTV Ingolstadt gespielt. Doch da-mals habe das auch in Ingolstadt kaum Interesse geweckt. „Damals hat es niemanden interessiert, wo und wie wir spielen. Da gab es kei-ne regionalen Medien.“ Heute ist das freilich anders, das weiß der ehemalige Spielführer gut: „Es geht ja schon von unten los. Wen hätte es denn gekümmert, ob der FC Gerolfing in die Landesliga aufsteigt? Niemanden.“

Doch nicht nur die Medienland-schaft wächst: „Wenn man hört, dass Adidas damit rechnet, rund eine Million Trikots zu verkaufen,

ist das Wahnsinn. Bei uns wur-de nicht einmal eines verkauft.“ Trotzdem sieht er auch Nachteile in diesem Boom. „Die Spieler füh-len sich fast wie Filmstars. Wenn ich mir aber vorstelle, mit 21 Jah-ren hätte ich sechs bis acht Mil-lionen Euro verdient, wäre das schon schwer zu verarbeiten ge-wesen. Das steigt einem in den Kopf“, sagt Anspann. Doch solche Verdienste kennt der ehemalige Mittelfeldspieler freilich nicht. „Wir waren keine Profis, wir waren ja nicht einmal Halbprofis.“ Traurig, dass er nicht solche Gehälter wie nun Schweinsteiger & Co. erhal-ten hat, ist er jedoch nicht: „Ich fin-de das nicht schlimm. Unsere Zeit war damals richtig schön, von der Kameradschaft vielleicht sogar schöner.“ Zu seiner Zeit Anfang der 1980er-Jahre, haben die Spie-ler noch gewusst, wie die Zukunft aussieht. „Wir sind gerne in die Arbeit gegangen, weil wir uns so unsere Zukunft gesichert haben. Damit wussten wir, was nach dem Fußball sein wird.“ Manche Fuß-baller müssten heutzutage von Verein zu Verein wechseln, um ihre Familien zu finanzieren und wüssten daher nicht, wo sie die nächsten fünf Jahre ihres Lebens verbringen. Fußball sei nicht alles gewesen. „Konnte es ja auch gar nicht“, erklärt Anspann und fügt hinzu: „Für uns war der Fußball mehr Spiel und Sport.“

Von Haller bis LahmWalter Anspann über den großen Wandel in der Fußballwelt

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Dennoch war es auch eine stres-sige Angelegenheit für die Spie-ler, besonders, wenn es zu Aus-wärtspartien kam. Bei einem Samstagsspiel, welches 500 Kilo-meter entfernt stattfand, sei man schon am Freitag angereist. „Frei-tag Anreise, Samstag Spiel und Sonntag Rückreise. Da war man dann erst in der Nacht zu Hause und in der Früh ging es wieder zum Arbeiten. Als Spieler war man dann ordentlich gestresst.“ Natürlich kann er sich aber auch an schöne Momente aus vergan-genen Tagen erinnern. „Es war ei-ne erfolgreiche Zeit. Zum 100-jäh-rigen Jubiläum vom MTV sind wir damals auch bayerischer Meister geworden.“ Eine besonderes Be-gegnung gab es in München. In einem bayerischen Pokalendspiel musste die MTV-Elf gegen den TSV 1860 München antreten. Das Grünwalder Stadion, die damalige Heimat der Münchner Löwen, war extra für dieses Spiel besonders dekoriert worden. „Ein roter Tep-pich war ausgelegt, es gab Lor-beerkränze und die wichtigsten Herren hatten wohl auch schon ihre Reden vorbereitet. Alle haben mit einem Sieg der Löwen gerech-net.“ Doch die Ingolstädter mach-ten Spielern, Fans und dem Um-feld einen Strich durch die Rech-nung. „Wir haben gewonnen“, lacht Anspann bei der Erinnerung an das Spiel. Sofort wurde alles abgebaut. Eine Siegerehrung ha-be es nicht wirklich gegeben, weil die Löwen so enttäuscht über die

Niederlage waren. Als Kapitän der Mannschaft erhielt Anspann den Kristallpokal von Alfred Fackler, zu dieser Zeit Chef des Olympia-parks, überreicht.

Im Grünwalder Stadion spielte Anspann damals nicht nur wegen dieses Triumphs sehr gerne. „Wir haben ja fast lieber auswärts ge-spielt, weil es da schöne Stadien gab.“ Ob Karlsruhe, Offenbach, Fürth oder Neunkrichen – die an-deren Mannschaften hätten über die Bezirkssportanlage Mitte ge-lacht, so der 55-Jährige. „Das war, verglichen mit den Spielstätten anderer Vereine, kein Stadion, sondern eine Fahrradhalle“, sagt er. Umso schöner wäre es natür-lich für ihn, heutzutage im Stadi-on des FC Ingolstadt 04 aufzulau-fen. „Für Ingolstadt ist das wirklich ein Traumstadion. Da würde man schon gerne spielen.“

Seine Karriere musste Anspann letztlich aus beruflichen Gründen beenden. Mit den Kollegen von vor 30 Jahren hat er aber noch Kontakt. Gerade, weil viele Spie-ler immer noch in der Umgebung wohnen, sei der Kontakt noch recht intensiv. Die Mannschaft war beispielsweise zusammen zum Pfingstvolksfest eingeladen. Bei solchen Treffen herrsche eine Super-Stimmung.

Im Rückblick räumt er auch mit einem Irrtum auf. „Zwischen dem ESV und dem MTV gab es keine

Rivalität, zumindest nicht unter den Spielern. Da haben sich auch Freundschaften entwickelt. Die Ri-valität bestand, wenn überhaupt, nur zwischen den Vorständen.“ In einer Auswahlmannschaft aus Spielern des ESV und MTV Ingol-stadt sowie aus Neuburg schnürt er manchmal noch seine Fußball-schuhe.

Bei der Europameisterschaft in diesem Jahr wird er sicherlich auch wieder vor dem Fernseher sitzen. „Ich schaue natürlich noch gerne, jedes große Turnier hat et-was Besonderes.“ Mitfiebern wür-de er auf jeden Fall, mit dem FC Bayern hat er zuletzt beim verlo-renen Champions-League-Finale gelitten. Allerdings erklärt er auch: „Ich bin kein direkter Fan. Für mich soll der Bessere gewinnen, ich will nur ein schönes Fußballspiel se-hen.“ Trotzdem hofft er auf den Titel für die deutsche Elf bei der EM. „Man hatte seit Jahren keine so spielstarke Mannschaft. Man hat das Zeug zum Europameister, denn man ist auf Augenhöhe mit Spanien und Holland.“

Wenn er an den größten Unter-schied zwischen dem Fußball jetzt und früher denkt, muss er lachen. „Der Fußball ist viel athletischer geworden. Wenn die heute ihr Tri-kot ausziehen, ist da kein Gramm Fett. Das sind Modelathleten. Bei Helmut Haller hat man 1966 dage-gen ein Bäuchlein unter dem Tri-kot gesehen.“

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Ursprünglich wollte der heute 61-Jährige Lehrer werden. Die Aus-bildung sowie zwei Jahre Referen-dariat hatte er bereits abgeschlos-sen. „Doch dann kam die Neue Welt.“Angefangen hat alles, als Ha-ber Student war: „Weil in Ingolstadt musiktechnisch sehr wenig gebo-ten war, gründeten wir die „För-derbandmusikinitiative“. Sie setzte sich zum Ziel, am laufenden Band Künstler nach Ingolstadt zu holen. In der Aula der Berufsschule be-gann die Erfolgsgeschichte. Doch nach dem Studienabschluss hatte der damals 27-Jährige erst einmal wenig Glück. Denn zu dieser Zeit herrschte in der Region ein Einstel-lungsstopp für Gymnasiallehrer. „Um die Wartezeit zu überbrücken, schaute ich mich nach einer Alter-native um“, erzählt der Unterneh-mer. „Ich wollte gerade einen Job bei einer Versicherung annehmen, als das Angebot von Michael Zöpfl, dem Gründer der Neuen Welt kam.“

Zöpfl betrieb die Neue Welt zu dem Zeitpunkt knapp ein Jahr, er bat Ha-ber, einzusteigen. Mit finanzieller Hilfe seitens der Familie entschied sich Haber, das Angebot anzuneh-men. „Dann habe ich allerdings erst einmal mein blaues Wunder erlebt“,

erinnert sich der zweifache Famili-envater. „Michael hat ziemlich bald und ohne Vorwarnung das Hand-tuch geschmissen und ist ausge-stiegen. Dann stand ich natürlich mit Schulden und Verpflichtungen in der Neuen Welt.“ Eine wirkliche Wahl hatte er nicht mehr, denn ein Verkauf der Kleinkunstbühne wäre nur mit großen finanziellen Einbu-ßen möglich gewesen. „Außerdem wäre es Unsinn gewesen, denn die Neue Welt ist damals sehr gut ge-laufen“, erzählt Haber. „Es war die In-Kneipe in Ingolstadt. Das Ein-zige, was gefehlt hat, war ein kon-tinuierlicher künstlerischer Betrieb, aber den hab ich dann langsam aufgebaut.“ Ein Jahr später nahte endlich Unterstützung – Josef Jau-ernig stand in der Tür, ebenfalls auf der Suche nach einer beruflichen Alternative. „So haben wir uns zu-sammengefunden und das ist bis heute so geblieben.“

Natürlich gab es auch im Leben von Haber immer wieder den Punkt, an dem er sich überlegte, beruflich neue Wege einzuschlagen. Ange-bote gab es viele, berichtet er. So hätte er zum Beispiel als Kulturma-nager in einer anderen Stadt arbei-ten können. „Aber ich bin sehr ver-

wurzelt mit Ingolstadt“, und etwas anderes kam eigentlich auch gar nicht in Frage. „Es ist die Idealbe-setzung, wenn man seine Leiden-schaft beruflich umsetzen kann.“ Schon in der Kindheit verschrieb sich Haber der Musik, „hier in der Neuen Welt konnte ich all das ver-wirklichen, was ich mir immer er-träumt hatte“. Auch finanziell und kommerziell war es um die Klein-kunstbühne – gerade in den ersten zehn Jahren – sehr gut bestellt. Doch nach und nach wurde auch die Konkurrenz in Ingolstadt im-mer größer und die Kneipendichte immer höher. „Inzwischen hat sich leider sehr viel verändert“, klagt er. „Die ersten zehn, 15 Jahre haben wir von der Kneipe gelebt, heute ist es umgekehrt, wir leben von den Umsätzen der Veranstaltungen.“ Der Grund dafür ist, dass die Men-schen es einfach nicht mehr „in“ finden, eine ruhige Kneipe zu besu-chen, glaubt Haber. Laute Szene-kneipen seien in der heutigen Zeit angesagt.

Er selbst will sich auf keine Musi-krichtung festlegen. „Ich bin offen für alle Genres – von Klassik bis zu guter Volksmusik.“ Auch einen Lieblingskünstler hat er nicht, „es

Legenden der LeidenschaftWalter Haber hat in seinem Leben schon viele Promis getroffen – Lizzy Aumeier, Helge Schneider oder Günter Grünwald. Seit fast 30 Jahren betreibt er – zusammen mit Josef Jauernig – die Klein-kunstbühne Neue Welt.

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gibt so viele und es kommen täglich neue dazu. Wenn mich wer fragt, würde ich wahrscheinlich jeden Tag einen anderen Namen sagen“, lacht er.

Haber wählt alle Künstler bewusst aus und ist bei jeder Veranstaltung anwesend. „Das ist für mich eine Maxime, ich mache keine Veran-staltung, bei der ich nicht dabei bin, und das rechnen mir die Künstler sehr hoch an“. Geregelte Arbeits-zeiten oder Urlaubstage gibt es in seinem Job nicht. Die Organisation beansprucht enorm viel Zeit. Am 18. September spielt zum Beispiel ein Bluesmusiker in der Neuen Welt, „den habe ich 18 Jahre lang – Jahr für Jahr – beackert, nach In-golstadt zu kommen. Jetzt habe ich

es endlich geschafft“.

Zumindest ist es – im Zeitalter des Internets – einfacher geworden, mit den Künstlern in Kontakt zu treten. Noch eine interessante Beobach-tung hat Haber im Laufe der Zeit gemacht: „Bei musikalischen Ver-anstaltungen ist das Publikum hier sehr begeisterungfähig. Beim Ka-barett dagegen halten sich die Zu-schauer enorm zurück und zeigen erst am Schluss, dass es ihnen ge-fallen hat. Unter den Künstlern gibt es sogar einen Running-Gag“, er-zählt Haber. „Da simsen sie sich in den Pausen zu: Wie ist es bei dir? Und als Antwort kommt nur zurück: Ingolstadt.“ Die Kabaretttage sind zwar jedes Mal restlos ausgebucht, doch während des Stücks reagie-

ren die Ingolstädter wohl zu wenig. „Man muss das aber positiv sehen“, meint Haber, „die Leute hören sehr genau zu. Nach dem Motto: ,Jetzt zeigt mal was ihr drauf habt, wir haben schon viel gesehen.´ Aber vielleicht ist es auch das typische Schanzer Lebensgefühl.“

Im Oktober 2013 feiert die Klein-kunstbühne Neue Welt ihr 30-jäh-riges Bestehen. Es wird ein großes Fest im Stadttheater geben, „das wird unser Höhepunkt werden“, verrät Haber. „Danach wird es zwar weiter gehen, aber wie lange noch, dass wollen wir uns offenhalten.“ Das Jubiläum steht unter dem Mot-to „Sieben auf einem Streich“, doch was dahinter steckt, will Haber noch nicht verraten. (kg)

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Der Kopf ist kahl rasiert, statt Haa-ren ziert ein großes Tattoo das Haupt von Marion Hofer. Ein Le-opardenmuster, das spitz zuläuft und erst am Nasenansatz endet. Über beiden Schläfen glitzert ei-ne Reihe von Microimplantaten, auch auf der Stirn blitzt ein kleines Steinchen auf. Egal wo Marion Hofer hingeht, sie zieht sofort alle Blicke auf sich.

Die Reaktionen auf ihr Äußeres sind sehr unterschiedlich, erzählt sie. „Menschen mit außergewöhn-lichem Aussehen werden schnell in Schubladen gesteckt.“ Sie kann es zwar nachvollziehen, dass die Leute im ersten Moment über-rascht oder erschrocken sind, „doch am besten finde ich es, wenn mich die Leute ansprechen, wenn sie was wissen wollen.“ Ne-ben negativen Reaktionen hat Marion Hofer aber auch viele sehr positive und lustige Begegnungen gehabt.

Vor einigen Jahren sprach sie ei-ne ältere Dame an: „‚Ist das täto-wiert?, fragt sie. Ich sag ja. Dann packt sie ihr Stofftaschentuch aus, leckt es ab und reibt über meinen Kopf. Als sie merkte, dass es wirk-lich nicht mehr weggeht, meinte sie: ‚Hast du dir das gut überlegt, Kind?‘ Die ist mir wirklich im Ge-

dächtnis geblieben“, erzählt die Ingolstädterin lachend.

Angefangen hat ihre berufliche Laufbahn eigentlich ganz harmlos. Aufgewachsen ist die Unterneh-merin in Ingolstadt, machte nach der Schule eine Ausbildung zur Arzthelferin und bekam drei Kinder. Zwei Mädchen und einen Jungen. „Ich war eine Zeit lang zu Hause, doch irgendwann dachte ich mir, das kann es jetzt auch nicht ge-wesen sein, ich muss etwas tun.“ Also holte sie ihr Abitur an der Abendschule nach, absolvierte ein Heilpraktiker- und Psychologie-studium und fing beim Rettungs-dienst an. Von da an rettete sie acht Jahre lang, hauptsächlich in der Nachtschicht, Leben. Bis der Job sie schließlich krank machte. Burnout. „Es ging so weit, dass ich sagte, ich will nicht mehr le-ben. Psychologen, die einen nach schweren Einsätzen betreut hät-ten, gab es zu der Zeit leider nicht.“ Die Belastung war für Hofer zum Schluss so groß, dass sie auf ein Hochhaus stieg, um hinunter zu springen. „Was mich letztendlich zurückgehalten hat, war der Ge-danke an meine Kinder. Denn die sind mir das Wichtigste in meinem Leben.“ Nach dem Ausstieg beim Bayerischen Roten Kreuz hagelte es für Marion so einige Jobange-

bote aus der Branche – sogar aus Übersee kamen Anfragen. Doch Hofer schlug alle Angebote aus – wegen ihrer Kinder. „Ich weiß, wenn ich den Job weiter gemacht hätte, hätte das ein böses Ende genommen. Ich wollte mich mei-nen Kindern nicht wegnehmen.“ Eine längere Tätigkeit im Ausland kam für die dreifache Mutter auch nicht in Frage, denn die Erziehung ihrer Kinder und vor allem, jeder-zeit für sie da zu sein, war und ist ihr bis heute noch sehr wichtig. „Ich bin sehr konservativ“, gesteht sie, „auch wenn ich nicht so aussehe.“

Ihr Äußeres, so sagt sie, veränderte sie zu ihrem eigenen Schutz – „um nie wieder in meinen alten Beruf zurück zu können. Ich bin kein Tat-toofreak oder so etwas, damit hat das alles absolut nichts zu tun.“ Hofer war 32 Jahre alt, als sie die extreme Typveränderung durchzog

– die bis heute noch nicht vollstän-dig abgeschlossen ist. Ihrem da-mals zwölf-jährigen Sohn musste sie lediglich versprechen, sich nicht

Wenn die Haut Geschichten erzähltWarum Marion Hofer mit Tattoos und Piercings ihr Äußerers radikal veränderte

„Ich bin kein Tattoofreak oder

so etwas, damit hat das alles absolut nichts zu tun.“

Marion Hofer

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das komplette Gesicht tätowieren zu lassen. Die Mädchen wuchsen mit dem außergewöhnlichen Aus-sehen der Mutter auf – heute sind alle drei Kinder stolz auf sie.

„Für mich ist meine Mutter mensch-lich und beruflich ein Vorbild“, wirft Nina, die jüngste Tochter, ein. Das innige Verhältnis zwischen Mutter und Tochter merkt man sofort. Ni-na trägt übrigens – obwohl sie 20 Jahre alt ist – bis heute noch kein einziges Tattoo.

Jedes einzelne Bild auf der Haut von Marion Hofer hat eine be-stimmte Bedeutung. Ein großes Kunstwerk sozusagen, das viele Geschichten erzählt. Der Löwen-kopf an ihrer Schläfe steht bei-spielsweise für den täglichen Kampf ums Überleben, das Leo-pardenmuster im Übrigen für ihre Tierliebe. Denn nebenbei peppelt die Piercerin – zu Hause in ihrem Garten – kranke und verlassene Tiere auf. 15 Katzenbabys waren es zu Spitzenzeiten, auch ein Uhu oder einige Mauersegler standen schon auf der Patientenliste. Fach-lich unterstützt wird sie dabei von ihren beiden Töchtern, die Tierarzt-helferinnen sind.

Nach den acht Jahren beim Ret-tungsdienst änderte Marion ihre Lebenseinstellung grundlegend.

Der Gedanke daran, dass das Le-ben morgen vorbei sein könnte, rückte ihr Weltbild in ein anders Licht. Nach dem Vorfall auf dem Dach des Hochhauses beschloss sie, ihr Leben in eine vollkommen andere Richtung zu lenken. Dass es letztendlich ein Tattoostudio wurde, ist eigentlich nur Zufall ge-wesen. „Ich hatte gerade am Ar-beitsamt meine Unterlagen abge-geben, um mich arbeitslos zu mel-den, als ich an einem Tattoostudio vorbei kam. Dort hing ein Zettel an der Tür, dass sie Personal suchten. Also bin ich – ohne großartig darü-ber nachzudenken – sofort rein ge-gangen und habe mich vorgestellt. Der Chef des Ladens behielt mich gleich da“, erzählt sie lachend. 2001 eröffnete Hofer dann ihr eige-nes Studio namens „Cee-Kay-Art“, das inzwischen internationalen Ruf genießt und am Münzbergtor in In-golstadt zu finden ist.

In ihrem Reich gelten klare Regeln. Zum Beispiel lässt sie keine sicht-baren Tattoos bei jungen Leuten stechen, die womöglich noch in der Ausbildung stecken. Selbst wenn der Arbeitgeber einverstanden ist, lässt Marion Hofer nicht mit sich verhandeln. „Bei einem 18-Jäh-rigen ist das schließlich nicht der letzte Arbeitgeber.“ Und die Ingol-städterin weiß, wovon sie spricht. Mit 18 Jahren ließ sie sich ihr er-

stes Tattoo – einen Adler – auf den Unterarm stechen. Immer wieder gab es seitens der Arbeitgeber Pro-bleme deswegen. Auch Frauen, die ihre Familienplanung noch nicht abgeschlossen haben, bekommen auf ihrem Stuhl kein Brustwarzen-piercing. „Da bin ich zwar der Feind meines Geldes, aber das ist mir in dem Fall egal. Gerade die jungen Leute wissen einfach oft nicht, was sie damit anrichten können. Man kann sagen, ich tue meinen Kun-den nichts an, was ich nicht auch meinen Kindern antun würde.“

Am Telefon vereinbart das „Cee-Kay-Art“ grundsätzlich keine Ter-mine. Ein persönliches Gespräch und eine ausführliche Beratung sind der Ingolstädterin enorm wich-tig. „Der Großteil reagiert über-raschenderweise einsichtig und dankbar. Viele wissen zum Beispiel gar nicht, dass ein Arbeitgeber ei-nen Bewerber auf Grund von sicht-baren Tattoos ablehnen kann.“ Na-türlich gibt es auch Kundschaft, die den Mehrwert der Beratung nicht erkennt und schimpfend in ein an-ders Studio weiter zieht. Doch da steht die dreifache Mutter dann drüber.

Sie selbst habe aber bisher noch kein einziges Tattoo oder Piercing bereut: „Ich würde alles genauso wieder machen.“

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Fotos: Schmatloch

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Neustart mit 67Klaus Schirmers neue Firma will Energiekosten senken

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Ortsbesichtigung in Bergheim - ein schmuckes Haus am Berg. Die Pho-tovoltaik- und Brauchwasseranlage auf dem Dach vermitteln einen er-sten Eindruck von dem Mann, der als Ingenieur mit besserer Mess-technik die Energie-, insbesondere die Heizkosten, drastisch reduzieren will.

Klaus Schirmer ist 67 Jahre alt. Vor neun Jahren, im April 2003, been-dete er seine berufliche Laufbahn. Er hatte Maschinenbau und Elektro-technik an der TU in München stu-diert und startete seine berufliche Laufbahn bei Siemens. Bei Knorr Bremse-Nucletron wurde er Grup-penleiter und entwickelte ABS-An-lagen für die Eisenbahn, darunter das weltweit erste Seriengerät auf Mikroprozessor-Basis mit Diagno-semodul.

AUDI UND TELEFUNKEN

Neue Perspektiven eröffnete ihm Audi, wo er 1981 die Leitung der Elektronik-Entwicklung übernahm. Innovative Projekte wie das erste zeigerlose vollelektronische Kombi-Instrument mit Display und Sprach-ausgabe, die erste intelligente „Onbord“-Diagnose (Audi 200), brachte er in kurzer Zeit in Serie.

1983 wurde Schirmer Entwicklungs-chef bei Telefunken in Ingolstadt, wo zu seinen Aufgaben auch der Auf-bau der KFZ-Elektronik-Abteilung gehörte. Unter seiner Leitung entwi-ckelte sich Telefunken zu einem gut aufgestellten Automobil-Zulieferer. Eine Reihe von Schirmers rund 60

Patenten ermöglichten Temic, wie das Unternehmen nun hieß, eine führende Stellung in der Automoti-ve-Baugruppentechnologie einzu-nehmen.

INNOVATIONSPREIS VON DAIM-LER

Stolz ist der Bergheimer auf die von ihm entwickelte Temic Planartech-nologie: Früher gab es im Motor-raum den Hydraulikblock für ABS (Antiblockiersystem). Die eigent-liche Steuerung des Systems be-fand sich aber in der Fahrgastzelle und musste mit einem längeren Ka-belbaum verbunden werden. Durch das mit der Planartechnik mögliche Einbinden der Elektronik in die Hy-draulik, also die Mechatronik, wur-den enorme Kosten – der teure Ka-belbaum wurde entbehrlich – und Platz im Fahrgastbereich gespart.

Aufgrund dieser außerordentlichen Entwicklungsleistung erhielt Schir-mer 1996 aus der Hand von Daim-ler-Chef Jürgen Schrempp den erst-mals vergebenen Innovationspreis der Daimler Benz AG. Von 1996 bis 1999 zog er mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten und baute als Geschäftsführer die Temic Automo-tive of North America in Detroit auf, leitete aber zeitgleich weiterhin den ABS Bereich in Ingolstadt. Im April 2001 wurde Temic an Continental verkauft, Schirmers Geschäftsbe-reich ging in den Bereich des frü-heren Kunden auf. Nach zwei inter-nen Projekten übernahm er Anfang 2002 die Geschäftsführung des Ge-schäftsbereichs „Isad“ und sorgte

dafür, den ersten deutschen Hybrid serienreif zu machen, verhandelte den ersten Serienauftrag für einen Kunden in den USA und startete noch den Serienanlauf. Dann ver-wirklichte er, was er schon immer angestrebt hatte: spätestens mit 60 in Rente zu gehen.

INTELLIGENTES HAUS MIT WINDRAD

Doch das Rentenalter war für Klaus Schirmer von Anfang an kein Ruhe-zeitalter: Er arbeitete mit beim Seni-orenbeirat der Stadt Neuburg (Or-ganisation und Durchführung von Radtouren und Computerkursen), kandidierte für den Gemeinderat. Die Elektronik wurde jetzt wieder ganz sein Hobby: Seit 2006 arbeitet er an seinem Projekt „Intelligentes Haus”. Sein Ziel: Effizienz, Komfort und Si-cherheit zu steigern. Er entwirft und baut Möbel und optimiert laufend die Energieversorgung: Sein 900-Liter-Warmwasserspeicher wird über die Solarbrauchwasseranlage und ei-nen Wärmetauscher-Einsatz in sei-nem mit Buchenholz geheizten Ka-minofen gespeist. Die im gesamten Haus verlegte Fußbodenheizung bezieht das warme Wasser auch von einer Luft- Wasser Wärmepum-pe. Und auf dem Dach natürlich die Photovoltaikanlage.

Schirmer träumt von einer Halbierung der Stromkosten in einem 24-Volt-Haus: „230 V nur in der Waschkü-che, der Küche, und für die Heizung. Alles andere lässt sich mit 24 Volt-Gleichspannung bewerkstelligen. Für die autarke Stromversorgung

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des 24-Volt-Bereichs braucht man einen ausdauernden 15KWh-Akku, der ab der Jahreswende auf dem Markt sein soll, eine vier Quadrat-meter Photovoltaik-Fläche und ein 500 Watt-Kleinstwindrad auf dem ei-genen Dach. Das Ganze koste nicht mehr als 6000 Euro und rechne sich bei den steigenden Strompreisen innerhalb von zehn Jahren. Voraus-setzung ist aber, dass es auch die entsprechenden Niedrigvolt-Geräte wie beispielsweise Fernseher und so weitergibt.

GENAUER MESSEN – HEIZUNG SPAREN

Doch während das 24-Volt-Haus noch eine Vision ist, will Schirmer mit neuer Messtechnik Energieko-sten bei allen Systemen sparen. Er hat einen neuen Temperatursensor entwickelt, der in zehn Sekunden

Temperaturveränderungen genau messen kann, während herkömm-liche Fühler dafür zwei Minuten be-nötigen. Dieser auf den ersten Au-genblick geringe Unterschied wirke sich auf Dauer erheblich aus. Der neue Sensor kann beispielsweise bei Durchlauferhitzern, wo es auf hohe und schnelle Messgenauig-keit ankommt, eingesetzt werden. Die Sensoren können auch bei der Messung der Vor- und Rücklauf-temperatur von Heizungen und bei Wärmepumpen die Regelung we-sentlich verbessern.

TAT STATT RAT

Schirmers Ziel ist es, diesen Sensor so zu vermarkten, dass er „in Auto-mobilstückzahlen“ gefertigt und da-mit sehr preiswert wird. Er hat des-halb in diesem Jahr mit einem ehe-maligen Arbeitskollegen, dem eine

mittelständische Firma im Bereich der Automobilzulieferung gehört, ei-ne GmbH gegründet. Innerhalb der neuen Firma teilen sich beide die Aufgaben. Gestartet wird im Herbst. Auf die Frage, warum er sich das al-les noch antue, wo er doch in den letzten Jahren als Berater für Au-tomobilzulieferer erfolgreich war, antwortet der 67-Jährige: „Es ist auf Dauer unbefriedigend, nur zu be-raten und dann zu sehen, wie der Ratschlag unzureichend umgesetzt wird. Ich will es nochmal wissen und meine Ideen auch selbst zügig verwirklichen. Und nicht nur für ein bisschen Arbeitnehmererfinderver-gütung. Ich will meine gesamte Le-benserfahrung dafür einsetzen.“

Schirmer steckt voller Energie, in seinen Augen lodert unternehme-risches Feuer. Gute Vorausset-zungen für ein Gelingen. (hk)

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