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Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 30.1.2001 Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „Evolutionsbiologie Anh 8.3 1 Lehrstuhl Biologie und ihre Didaktik, Universität GH Essen Prof. Dr. EBERHARD G. SCHMIDT Skript zum Hauptseminar zur Speziellen Biologiedidaktik S II Bereich E Biologiedidaktik, Teilgebiet E 2 Spezielle Biologiedidaktik, Sommersemester 2000 Evolutionsbiologie als Kursthema der S II Grundsätze und didaktische Rekonstruktion Anhang 8.3: Evolutionsbiologie in der Gymnasialen Oberstufe: Anschaulich, bildend, kritisch gegen Spekulationen. zugleich als Beispiel für eine didaktische Rekonstruktion im Niveau eines Halbjahreskurses Teil der Grundvorlesung Biologiedidaktik (im Wintersemester 2000/2001)

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 1

Lehrstuhl Biologie und ihre Didaktik, Universität GH EssenProf. Dr. EBERHARD G. SCHMIDT

Skript zumHauptseminar zur Speziellen Biologiedidaktik S II

Bereich E Biologiedidaktik, Teilgebiet E 2 Spezielle Biologiedidaktik, Sommersemester 2000

Evolutionsbiologie als Kursthema der S IIGrundsätze und didaktische Rekonstruktion

Anhang 8.3:Evolutionsbiologie in der Gymnasialen Oberstufe:

Anschaulich, bildend, kritisch gegen Spekulationen.

zugleich als Beispiel für eine didaktische Rekonstruktionim Niveau eines Halbjahreskurses Teil der

Grundvorlesung Biologiedidaktik(im Wintersemester 2000/2001)

Biologie und ihre Didaktik, FB 9, Universität EssenJanuar 2001

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 2

Gliederung des Anhangs 8:Evolutionsbiologie als Kursthema der S IIGrundsätze und didaktische Rekonstruktion

Der Anhang 8 setzt sich aus 4 Teilen zusammen, die aus Zeitgründen noch nicht integriert werden konnten und daher (in verschiedenen Dateien) noch aneinander gereiht werden:

Anhang 8.1: Evolutionsbiologie als Beispiel für eine Didaktische Rekonstruktion auf Kursebene in der Grundvorlesung

Anhang 8.2 : Einführung in die Hauptseminare zurSpeziellen Biologiedidaktik Lehramt Biologie SIIWS 1999/2000, SS 2000: Evolutionsbiologie

Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 (Stuttgart, Frankfurt/M.):Evolutionsbiologie in der Gymnasialen Oberstufe:Anschaulich, bildend, kritisch gegen Spekulationen.

Anhang 8.4: Vorläufige Literaturübersicht, nach Sachgebieten geordnet.

Danksagung: Ich danke meinem Biologisch-Technischen Assistenten, Herrn J. KAMINSKI, für die vielfältigen, engagierten Hilfeleistungen und die weitgehende Übernahme der Schriftleitung des Gesamt-Skriptes der Seminare WS 1999/2000 und SS 2000 (bis WS 1998/99 bei meiner früheren Wiss. Mitarbeiterin KARIN BLOMENKAMP, jetzt Biologische Station Bruchhausen in Erkrath, deren Stelle bei uns mit meiner Emeritierung per 31.7.2000 ausgelaufen war).Hinweis: Alle Rechte (wie copy right) der nachstehenden Ausführungen/ Materialien liegen bei meinem Lehrstuhl (bei mir), eine gewerbliche Nutzung ist nur mit schriftlicher Genehmigung von mir zulässig; bei nicht kommerzieller Verwendung im Bildungsbereich ist ein ordnungsgemäßes Zitat geboten.

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 3

Lehrstuhl Biologie und ihre Didaktik, Universität GH EssenProf.em. Dr. EBERHARD G. SCHMIDT

Evolutionsbiologie als Kursthema der S II

Manuskriptfassung für die Vorträge:Evolutionsbiologie in der Gymnasialen Oberstufe:

Anschaulich, bildend, kritisch gegen Spekulationen.

auf dem 91. Kongreß des Vereins zur Förderung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts (MNU)

in Stuttgart, 18.4.2000und auf der Jahresversammlung des Landesverbandes MNU

Hessenin Frankfurt/M. 13.9.2000.

Biologie und ihre Didaktik, FB 9, Universität GH EssenMai 2000

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 4

Prof.em. Dr. Eberhard G. Schmidt

Biologie und ihre Didaktik

Universität GH EssenFB 9/S05, Universität, D-45 117 ESSEN

Evolutionsbiologie in der Gymnasialen Oberstufe:Anschaulich, bildend, kritisch gegen Spekulationen.

0. VorbemerkungMeine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kollegen und Kolleginnen

Ich danke sehr für die Einladung zum einleitenden Plenarvortrag der Jahrestagung 2000 des Landesverbandes Hessen von MNU in Frankfurt/M. Ich habe erstmals eine MNU-Tagung als Primaner vor fast einem halben Jahrhundert in Berlin besucht, bin seit bald 40 Jahren ein oft auch aktives Mitglied bei MNU und freue mich, zum Konzept für einen Kurs Evolutionsbiologie als einem grundlegenden Thema der Gymnasialen Oberstufe sprechen zu können. Zum gleichen Thema hatte ich ähnlich in der Osterwoche dieses Jahres auf der Hauptversammlung MNU in Stuttgart gesprochen. Der Beitrag soll auch in absehbarer Zeit bei MNU erscheinen und damit einfach verfügbar werden. Zuvor (Jan. 2001) wird er unter der Universität Essen/ mein Lehrstuhl im FB 9 in das Netz gestellt.Wo liegt nun das didaktische Problem der Evolutionsbiologie?.Evolutionsbiologie verkörpert den Aspekt der Geschichtlichkeit, Naturwissenschaft dagegen das Aktualitätsprinzip, also die Annahme, daß die heute erforschten Phänomene und ihre Gesetzmäßigkeiten so auch in früheren Epochen gegolten haben, also universell nicht nur im räumlichen, sondern auch im zeitlichen Sinne gültig sind. In der Biologie betrifft das die aktuell/ physiologisch-funktionalen Zusammenhänge.

Geschichtlichkeit ist aber nicht nur ein Kriterium des Lebendigen, sondern auch der Erde als Planet und aller anderen Gestirne. Die Geologie wird so auch vom Aspekt der Erdgeschichte bestimmt und ist daher d i e Grundlagenwissenschaft der Evolutionsbiologie. Die Paläontologie, die Lehre von den Versteinerungen oder Fossilien, stellt die Verbindung her.

Der besondere Denk- und Arbeitsansatz der Erd- und Organismen-Geschichte bedeutet daher für Naturwissenschaftler, insbesondere für Biologen, einen grundlegenden Wechsel im Paradigma, dieses historische Paradigma ist für Naturwissenschaftler ungewohnt. Das macht anfällig für Fehler und Mißverständnisse.

Das zeigt sich schon in der Abgrenzung des Begriffes Evolution. Im folgenden verstehe ich unter Evolution der Organismen nur die Phänomene der Stammesgeschichte oder Phylogenie, und diese auch nur im transspezifischen Bereich (Makroevolution). Evolution in diesem Sinne beginnt also mit der Artaufspaltung, die Veränderlichkeit innerhalb der Art (wie Populationsgenetik, Fitness-Theorie der Öko-Ethologie, Adaptionen an Umweltbedingungen) bleibt ausgespart. Unter Evolutionstheorie werden alle Aussagen über Evolutions-Mechanismen verstanden. Dazu gehören z.B. die synthetisch-darwinistische Evolutionstheorie oder die Auseinandersetzung mit

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 5

dem Kreationismus, die in den neuen Richtlinien NRW ausdrücklich verlangt wird. Die Begründung dieser enger als üblich gefaßten Definitionen folgt im Laufe des Referates.

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 6

Es für die Naturwissenschaften und für die Mathematik selbstverständlich, daß klare Aussagen klare Begriffe erfordern. Hier ist in der Evolutionsbiologie leider ein begriffliches Chaos zu verzeichnen, dessen Klärung ist ein Anliegen dieses Vortrages. Für die Naturwissenschaften gilt dabei (im Gegensatz zur streng und abstrakt logischen Geisteswissenschaft Mathematik), daß die Begriffe nicht gesetzt werden, sondern sich nach dem betreffenden Phänomen richten müssen, sie sind Ausdruck seiner Deutung, also des betreffenden Paradigmas (Paradigma als die Denk- und Arbeitsweisen der Untersuchung) oder, anders ausgedrückt, der betreffenden Arbeits-Hypothese bzw. Theorie. Begriffe sind daher aus dem untersuchten Phänomen abzuleiten, die begriffliche Differenzierung muß der inhaltlichen Differenzierung entsprechen. Diese Kongruenz ist maßgeblich eine Aufgabe der Fachdidaktik. Begriffe können daher nicht universell gültig gesetzt werden, sondern sind dem Kontext anzupassen. In der Ökologie ist der Begriff der ökologischen Nische ein Beispiel für den inhaltlichen Wandel gemäß dem Theoriewandel, in der Fachdidaktik sind die Begriffsdefinitionen auf die jeweiligen Zielsetzungen und Adressaten abzustimmen (entgegen dem Konzept der Gießener Schule um die Kollegen Berck/ Graf).

In diesem Vortrag will ich nun ein meiner Meinung nach schlüssiges Konzept für einen Kurs Evolutionsbiologie in der Gymnasialen Oberstufe vorzustellen. Ich verzichte aus Zeitgründen darauf, unterschiedliche Konzepte zur Evolution aus der Sicht der Biologie und der Biologie-Didaktik oder die unterschiedlichen Richtlinien der einzelnen Bundesländer dazu zu diskutieren, ich begründe auch nicht den Bildungswert der Evolutionsbiologie, da hier Konsenz besteht.

Kurz eingehen muß ich jedoch zuvor auf die aktuelle Theorie der Umsetzung von Biologie in das Schulfach Biologie gemäß dem Bildungsauftrag und dem Adressatenbezug der Allgemeinbildenden Schulen, hier der Gymnasialen Oberstufe. Es geht also um die Theorie der didaktischen Rekonstruktion. Dabei integriere ich als Leitziel das Prinzip des Exemplarischen. Das greift den Vorschlag des Kollegen Berck aus Gießen auf und ergänzt ihn noch etwas.

Didaktische Rekonstruktion ist somit (in der Biologiedidaktik) der aktuelle Begriff für den Transfer vom Fach in das Schulfach nach dem Prinzip des Exemplarischen, wobei das Leitziel der Bildung (im Sinne von Verständnis von Zusammenhängen statt enzyklopädischem Faktenwissen und des problemlösenden, also fragenden Zuganges) mit der Optimierung für den Adressaten zu verbinden ist.Maßgeblich für die Kriterien der Stoffauswahl und -anordnung sind dabei die folgenden Prinzipien/Leitziele (vgl. Berck: Biologiedid., 1999): Das Elementare (i.S.v grundlegend für das Fach Biologie) Das Fundamentale (i.S.v. grundlegend für das Selbst- und Weltverständnis der

Adressaten) Ausgang von der Anschauung Fortschreitende Fragekette im Sinne des forschend/entdeckenden,

problemlösenden Lernens (mit möglichst hoher Aktivität der Adressaten) Jeweils kritisches Hinterfragen der Tragfähigkeit und Grenzen der Aussagen

und Hypothesen

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 7

Die Grundbegriffe müssen dabei mit dem Theorieansatz (Hypothesen) in Einklang stehen

Transfer der Ergebnisse auf das Alltagsleben bzw. das biologische Weltbild oder Einordnen in größere Zusammenhänge

Das Denkschema der problemorientierten Herleitung von allgemein gültigen Aussagen anschaulich am konkreten Beispiel ist zugleich ein Beitrag zur Formalen Bildung im Biologieunterricht.

Didaktische Rekonstruktion bedeutet damit eine völlige Umstrukturierung der Gliederungsstruktur des Faches Biologie: Diese ist einfach sachlogisch, enzyklopädisch, abstrakt/typologisch im Fach, unter den didaktischen Aspekten wird sie exemplarisch, konkret anschaulich und problemorientiert (gemäß Erfahrung, Vorwissen und Vorstellungsvermögen der Adressaten). Die Didaktische Rekonstruktion der Evolutionsbiologie ist damit für den Lehrer erheblich anspruchsvoller als die Evolutionsbiologie im Studium.Diese Didaktische Rekonstruktion halte ich für eine wesentliche Aufgabe der Biologiedidaktik in der 1. Phase der Lehrerausbildung an der Universität. Sie ist durch das Umdenken und die erforderlichen breiten fachlich/didaktischen Grundlagen sehr anspruchsvoll, ergänzt damit das Fachstudium berufsfeldbezogen und geht kaum in die Ausbildung im Referendariat ein, die zu Recht wesentlich von der Unterrichtsmethodik bestimmt wird.

2 Gliederung des Vortrages nach den Prinzipien der Didaktischen Rekonstruktion

Ich möchte Ihnen also mit diesem Vortrag ein Modell für die Strukturierung eines Kurses zur Evolutionsbiologie in der Gymnasialen Oberstufe nach den Prinzipien der Didaktischen Rekonstruktion vorstellen und geben Ihnen zunächst die Übersicht, die ich anschließend abarbeite. Sie können damit ständig verfolgen, wo wir gerade stehen.

Im einzelnen werde ich die Möglichkeiten zum praktischen Arbeiten und innovative Anteile dazu etwas breiter vortragen, die klassischen Elemente zur Evolutionsdidaktik nur andeuten.

Ausgespart habe ich auch die Diskussion um den Ursprung des Lebens auf der Erde (wie die „Ursuppe“) oder die Symbionten-Thesen zur Kompartimentierung der Eukaryotenzelle, das würde hier zu weit führen.Die Grundfragen werden hier in der folgenden Reihenfolge gestellt:1 Hat es eine Evolution der Organismen überhaupt gegeben?

(Die Frage nach dem „Daß“ der Evolution: Fossilien als Belegei.S.v. Zeitzeugen; Fossilbildung: Erhaltung im Moor; Versteinerung; praktisches Beispiel: Eiszeitfauna im Heimat-/ Naturkunde-Museum).

2 Wie waren die Abläufe der Evolution?(Die Stammbaum-Frage: Das „Wie“ der Evolution;prakt. Beisp.: Evolution der „Tintenfische“/Cephalopoden).

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 8

3 Stützen der Evolution durch Eröffnen von Sinnzusammenhängenin anderen biologischen Disziplinen (prakt. Beisp.:Embryonal-Entwicklung Säuger; Umkehrschluß: Nauplius-Larven;„rudimentäre“ Organe: Becken Wale).

4 „Natürliches System“ und Konsequenz: PhylogenetischeSystematik (prakt. Beispiel: Wirbeltierklassen).

5 Weitere Konsequenz: Bauplan und homologe Benennungvon Organen (prakt. Beisp. Gebiß Säuger); Probleme derHomologisierung (prakt. Beisp. Gehörknochenbrücke Säuger).

6 Vielfalt der Evolutionsabläufe: „Lebende Fossilien“ (echt Quasten-flosser [Film]; unecht Schildkröten oder Krokodile [Zoo]);adaptive Radiation (Paarhufer [Zoo]; ggf. konvergente adaptiveRadiation bei Beuteltieren und Plazentaliern; fossil: Saurier);additive Typogenese (Pferde bzw. Unpaarhufer allg.).

7 „Gesetzmäßigkeiten“: Konvergente Lebensformtypen (z.B. „Blumen-tiere“ bei festsitzenden Filtrierern/Nesselfängern; Augendifferenzierung bei Freiwasserschwimmern, Augen-Reduktion bei Höhlentieren).

8 Besondere Leistungen der Evolution„Der Weg zurück in das Wasser“ (Wale Delphinarium)Koevolution (z.B. Blüte & Insekten oder Gallen im Bot. Garten; Warnen/Tarnen im Zoo/Aquarium).

9 Artschranken/ Artaufspaltung (transspezifische Evolution)Voraussetzung: Populationsgenetik, Fitness-Theorie.Domestifikation: Großexperiment der Menschheit zur Artschrankeund zur gezielten innerartlichen Variabilität: Selektionstheorie.Unterarten als Vorstufe der Artaufspaltung: Zebras im Zoo;Zeitvorstellung am Beisp. Raben-/Nebelkrähe, Nachtigall/Sprosser.Darwinfinken Grenzen der Selektionstheorie (Darwin s.l.).

10 Begriffsklärung (Evolution/Evolutionstheorie)11 Transfer: Die Evolution des Menschen als festigende Synthese

Phylogenetische Systematik (z.B. Bewegungsapp.: Vergleich mitSchimpansen im Zoo, „physiologische Frühgeburt“) & Fossilgeschichte (z.B. Neanderthal-Museum bei Düsseldorf).

12 Evolutionstheorien (u. ihre Grenzen) als Wissenschaftsgeschichte;religiöse Vorstellungen des Menschen & Kreationismus3 Stichworte zu einem Kurskonzept Evolutionsbiologie

in der Gymnasialen Oberstufe

3.1 Ausgang: Fossilien in einem örtlichen MuseumAm Anfang steht die Frage nach dem „Dass“ der Evolution (vgl. REMANE et al., Evolution, dtv 1973; WUKETITS, Evolutionstheorien, Wiss.Buchges. Darmstadt, 1988). Sie wird zunächst verkürzt auf die Aussage: „In früheren Erdepochen lebten andere Organismen als heute“. Als zweites ist dann nach den phylogenetischen Zusammenhängen zwischen den Formen verschiedener Epochen zu fragen.

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 9

Zeitzeugen/Belege der früheren Organismen sind als Fossilien erhalten. Bezugswissenschaft für die Fossilien ist die Paläontologie, für die zeitliche Einordnung in die Erdgeschichte die Geologie, ihre Ergebnisse werden hier als gesichert angenommen und nicht hinterfragt. Hilfreich ist es dabei, einen geologischen Aufschluß aufzusuchen (an einer Sandgrube, einem Steinbruch; am Ruhrtalhang [z.B. in Essen] sind die angeschnittenen Kohleflöze mit ihren Verwerfungen frei gelegt), um die geologischen Sediment-Schichtungen in (relativer) zeitlicher Abfolge zu erfahren. In den Bergehalden des Steinkohlen-Bergbaus sind Fossilien angereichert und stellenweise (z.B. am Baldeneysee in Essen) zugänglich.

Allerdings sind die Erhaltungswahrscheinlichkeiten sehr unterschiedlich. Direkt erhalten sind Organismen im Hochmoor, allerdings ohne das Eiweiß und Kalkanteile, auch das Chitin der Wasserinsekten wird schnell zersetzt; sehr gut erhalten sich Zellulose/Holz (Heidebeet-Torfprobe mikroskopieren: Die an die 10.000 Jahre alten Torfmoos-Blättchen sehen bis auf die Farbe wie frisch aus), z.B. die Exinen von Blütenstaub, die die nacheiszeitliche Vegetationsgeschichte belegen, und Horn /z.B. Haut und Haare von Moorleichen; Lederbekleidung bleibt erhalten, Flachskleider aber nicht (Röstung!).

Zu klären ist die Frage nach den Bedingungen für die Erhaltung als Fossil und die Veränderungen dabei (z.B. Versteinerung) an einem passenden Beispiel. In Gegenden mit Vermoorung ist die Frage der Erhaltung im Hochmoorgewässer interessant (vgl. E. Schmidt, Ökosystem See I, 5.Aufl. 1996, Kap. 7.3, Stoffhaushalt im Hochmoorweiher): Gut erhalten bleiben (aber nur submers bzw. unter den lebenden Torfmoosrasen!) Holz (also Baumstubben, aber nicht die emersen Stämme/Kronen) und Zellulose von Pflanzen (z.B. Blumenbinsen-Rhizome, aber nicht die emersen Triebe), Haare/Haut/Horn von Tieren/ Menschen, aber nicht die Eiweißanteile (vom Pollen bleiben nur die leeren Exinen, unter der gut erhaltenen Haut von Moorleichen ist nicht Muskulatur, sondern Torf).

Praktisches Beispiel: Ungedüngten Blumentorf (Heidebeet-Torf) mikroskopieren, die Torfmoosblättchen haben die Torfgewinnung intakt überstanden und sehen aus wie frisch, von der Vielfalt an Wasserinsektenlarven ist jedoch nichts erhalten (auch das eiweißähnliche Chitin wird im Hochmoor rasch abgebaut).

Gute Erhaltungswahrscheinlichkeiten haben allgemein Organismen des Karbonat-Flachwassers in den Sedimenten (wie Kreide, Tone, Schlamm/Schiefer), insbes. deren Kalkskelette, diese auch in trockenen Höhlen, schlechte zarte Organismen des Freien Wassers und von Laubwäldern (z.B. reiche Vormenschenfunde, wenige von Menschenaffen). Über lange Zeiträume hinweg kommt es zu Versteinerungen. Dabei sind Hartteile generell besser erhalten als Weichteile. Fossil-Belege für eine Evolution sind daher nur exemplarisch gegeben. Das reicht jedoch für die Schule.Anschaulicher Ausgangsspunkt für die Arbeit mit Fossilien bildet ein Besuch in einem örtlichen Museum mit einer geeigneten Sammlung aus einer regional wichtigen Epoche (z.B. in Essen das Ruhrland-Museum zur Vegetation/Tierwelt der Steinkohle [Karbon], an vielen Orten die Tierwelt der Eiszeit, ggf. statt des Museums der Besuch einer didaktisch erschlossenen Höhle, im Senckenberg-Museum in Frankfurt/M. Saurier oder die tertiäre Tierwelt der Grube Messel). Protokollierung

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 10

der Informationen des Museums. Nacharbeit in der Schule mit Arbeitspapieren zu den Fossilien und ihren Rekonstruktionen, Einordnung in die höheren systematischen Einheiten, Analyse ihres erdgeschichtlichen Schicksals (wann ausgestorben bzw. wie heute vertreten?).

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 11

Vorgeschlagen wird der Einstieg mit der jüngsten Erdepoche, mit dem Eiszeitalter (Pleistozän = Diluvium, Beginn vor etwa 600.000 Jahren). Es wird mit der Jetzt- = Nacheiszeit (Holozän = Alluvium, Beginn vor etwa 15.000 Jahren, ist möglicherweise nur eine weitere Zwischeneiszeit) zum Quartär zusammengefaßt (vgl. z.B. HANTKE, Eiszeitalter, die jüngste Erdgeschichte der Alpen und ihrer Nachbargebiete, Ecomed 1992). Fossilien aus dem Eiszeitalter sind in vielen (Heimat-) Museen ausgestellt. Die Großtiere sind attraktiv und heutigen Formen ähnlich (Mammut, Nashörner, Riesenhirsch) bis gleich (Pferde, Moschusochsen) und daher ein guter Einstieg (als Projektarbeit). Im Zoo sind die überlebenden Formen (z.B. Ren, Wildpferd) oder überlebende Verwandte (z.B. Elefanten, Nashörmer) mit dem Museums-Material zu vergleichen.Zu erarbeiten sind dabei: Es wechselten Warm- und Kaltzeiten mit verschiedenen, aber oft ähnlichen

Großtierformen (z.B. Elefanten/Mammut, Nashörner) Die Tierwelt der letzten Warmzeit (Ende vor rund 150.000 Jahren) und die

der letzten Kaltzeit (Ende vor etwa 15.000 Jahren) waren nicht neu entstanden (keine Evolution), sondern wanderten aus dem Mittelmeergebiet bzw. aus Ostsibirien ein, als das Klima passend wurde (Areal-Anpassung an den Klimawechsel).

Gegen Ende der letzten Eiszeit starben zahlreiche Kalt- und Warmformen aus, die Ursache ist unklar.

Im frühen Eizeitalter waren die Formen stärker verschieden. Evolutionsabläufe sind z.B. für die Elefanten oder Nashörner dicht durch Fossilien belegt und oft in Museen dargestellt. Damit ist das „Dass“ der

Evolution für diesen Zeitabschnitt unstrittig.Fazit: Die Eiszeitfauna ist nicht nur attraktiv und nahe liegend, sondern liefert mit den Elefanten oder Nashörnern nicht nur den Nachweis des Formenwechsels durch Fossilien, sondern macht auch die phylogenetische Verbindung innerhalb der Eiszeit und zur rezenten Fauna plausibel. Damit ist das „Dass“ der Evolution exemplarisch als belegt anzusehen

3.2 Beispiel zum zeitlichen Kontinuum der Fossilien mit den rezenten Formen:Tintenfische (Cephalopoden) als Beispiel einer Stammbaum-Analyse

Die abgestufte Verschiedenheit der Fossilien von einem Zeithorizont zum anderen ist ein paläontologisches Faktum (wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse generell jedoch unter dem Vorbehalt andersartiger neuer Befunde). Das hatte schon CUVIER um 1800 erkannt (CUVIER war geborener Elsässer, Schule und Studium in Stuttgart, Begründer der Paläontologie am Naturkundemuseum Paris). Damit ist aber für große geologische Zeiträume noch nicht belegt, daß diese Fossilien untereinander und mit den rezenten Formen in einem evolutiven, also in einem Stammbaum-Kontinuum stehen. Dieses ist zwar sehr plausibel, logisch zu fordern, jedoch nicht direkt nachzuweisen (mehr dazu bei WEINER, ... Evolution, Droemer Knaur, 1994). Ein Beispiel dafür waren schon die Eiszeit-Elefanten. Als schulisches Beispiel für eine Klasse von dem Erdaltertum an eignen sich die Tintenfische (Cephalopoden):

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 12

Praktische Anschauung vermittelt ein Aquarium, in dem Nautilus und „moderne“ Tintenfische zu sehen sind, in Verbindung mit einem Museum, das Ammoniten und Belemniten zeigt. Cephalopoden sind als Unterrichtsbeispiel gut geeignet, da sich die Evolutionsstufen Funktionstypen zuordnen lassen, überdies Ammoniten (z.B. vom Weihnachtsmarkt) als Zimmerschmuck bekannt und beliebt sind und Belemniten (als Donnerkeile) z.B. auf Helgoland am Strand herum liegen.

Nautilus ist in einem Aquarium in Verbindung mit halbiertem Schalenpräparat als Gasblasen-Auftriebsschweber zu verstehen; die modernen Tintenfische/ Kalmaren/ Kraken sind dagegen wendige Atemwasser-Rückstoß-Schnellschwimmer. Anzuschließen ist eine Stammbaum-Analyse: Bauplan-Herkunft von Schnecken mit flacher Schale, die sich aufwölbt und über Luftkammern das Abheben vom Boden und ein Auftriebs-Schweben ermöglicht; Konvergenz von Nautilus-Verwandten und den davon abgeleiteten Ammoniten (deren Besonderheit: Schalen-Wandverstärkungen, Septenstrukturierung); Übergang zum horizontalen Schwimmen bei den Belemniten (mit den Donnerkeilen als Gegengewicht zu den Luftkammern), perfektioniert bei den modernen Tintenfischen (mit Rückbildung der Schalen, Ausbildung von nur 10 bzw. 8 Fangtentakeln mit Saugnäpfen, Tintenbeutel als Feindschutz, Reduktion der Kiemenzahl dank des verbesserten Wasserwechsels in der Atemkammer). Die Ammoniten sind zugleich ein Beispiel für einen Wechsel von Formenmannigfaltigkeit (zu Zeiten breiter Schelfmeerflächen) und Rückgang bis zum Aussterben (bei Absinken des Meeresspiegels und Einengung der Schelfmeerflächen); bei den Nautilus-Verwandten konnte Nautilus als lebendes Fossil überleben (Arbeitsbogen).

Fazit: Die Fossilien belegen nicht nur den Formenwandel in der Erdgeschichte, sondern machen auch die abgestufte Ähnlichkeit durch Abstammung plausibel. Das „Dass“ der Evolution kann im naturwissenschaftlichen Sinne nicht in Frage gestellt werden. Hintergrund ist die Ökonomie der wissenschaftlichen Theorienbildung als Wahl der einfachst möglichen, mit den Fakten konformen Version.

3.3 Zusätzliche Stützen der Evolution durch Eröffnen von Sinnzusammenhängen in anderen biologischen Disziplinen

Die Erklärung der abgestuften Ähnlichkeiten der Organismen durch die Evolution/Phylogenese bringt Fakten aus verschiedenen Teilgebieten der Biologie (wie Entwicklungsbiologie oder Biogeographie) in einen schlüssigen Kontext.

Schulisch relevante, in den Schulbüchern aufgearbeitete Beispiele sind: Ähnlichkeit der Embryonen von Wirbeltieren (HAECKEL: Ontogenie = Rekapitulation der Phylogenie); Beuteltiere der Region Australien mit adaptiver Radiation analog zu den Plazentaliern in der übrigen Welt passend zur frühen Trennung Australiens im Sinne der Wegener'schen Kontenentaldrift-Theorie. Ein aktuelles Arbeitsgebiet ist die Korrelation von Ähnlichkeiten bei Eiweiß-/ Nucleinsäuren-Sequenzen und phylogenetischer Nähe (quasi als Fortsetzung der klassischen Eiweiß-Fällungsreaktionen [Blutserum] von Wirbeltieren). Die Evolution ist z.B. schon sprachlich in den Begriffen „rudimentäre“ Organe (Beispiel Wal-Beckenrest) oder Atavismen enthalten.

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 13

Diese Fakten stützen damit die Annahme einer Evolution. Sie können umgekehrt auch als Indizien für eine natürliche Verwandtschaft dienen. So ist die Naupliuslarve der Ruderfußkrebse auch bei den stark abgeleiteten und direkt systematisch nicht ansprechbaren Seepocken (sessile Filtrierer) und Wurzelfußkrebsen (pilzähnliche Endoparasiten bei höheren Krebsen) vorhanden und Indiz für deren Verwandtschaft.

Sachlogisch zu hinterfragen ist dabei die vielfach übliche Zusammenfassung mit den Fossilien als „Belege“ oder „Beweise“ der Evolution, die sie nicht sein können. Vorgeschlagen wird der Begriff „Stützen“ des Phänomens einer Evolution (im Sinne von Stammesgeschichte = Phylogenie).

Akzeptanz der Evolution als unstrittiges Faktum und deren KonsequenzenDas Phänomen der Evolution der Organismen (nicht zu verwechseln mit den Evolutionstheorien zu Mechanismen der Evolution!) ist von den Biologen, insbesondere von den Morphologen und Systematikern schon im vorigen Jahrhundert (vor Darwin) als Faktum akzeptiert worden. Strittig waren nur die Evolutionstheorien, also die Theorien zu den Mechanismen (den Kausalfaktoren) der Evolution. Darwin lieferte als erster eine viele Biologen (aber nicht alle) überzeugende Theorie zu den Mechanismen („Mutation + Selektion + Separation = Evolution“). Sie überzeugte voll im Bereich innerartlicher Veränderungen (Domestifikation als Großexperiment der Menschheit) und bei Artaufspaltungen (Darwin-Finken auf Galapagos). Das wurde großzügig auf die Makroevolution extrapoliert und verhalf dem Faktum der Evolution zu seiner Verbreitung bis in das Pensum der Schulen.

Diese Akzeptanz der Evolution (aber nicht unbedingt der Evolutionstheorien) durch alle Biologen hatte 2 Konsequenzen, die im Schulunterricht als solche herauszustellen sind: Die Umstellung der Systematik von künstlichen Kriterien (wie bei Linné)

auf die Phylogenie als natürliches Ordnungsprinzip („natürliches System“). Künstliche Kriterien bleiben dann nur als Notbehelf für die (in Wahrheit zahlreichen) Fälle, in denen sich die Phylogenie nicht rekonstruieren läßt. Das aktuelle System der Organismen repräsentiert damit den aktuellen Stand der Stammbaum-Forschung.

Die Annahme eines Grundbauplanes für die natürlichen Einheiten und die Homologisierung (Benennung) der Organe gemäß der phylogenetischen Verwandtschaft.

3.4 Konsequenz 1: Das natürliche SystemDie Theorie von der Evolution der Organismen war für die Biologie so überzeugend, daß sie die Evolution/ Phylogenese als Grundlage für die Ordnung der Mannigfaltigkeit genommen hat: Die abgestufte Ähnlichkeit wurde auf phylogenetische Verwandtschaft zurückgeführt und in ihrem Charakter als hierarchische (enkaptische) Ordnung natürlich erklärt. Damit ergibt sich für die Systematik/Taxonomie der rezenten Arten jedoch das Problem, für alle heute lebenden Organismen ihren Stammbaum zu rekonstruieren, auch wenn keine oder zu wenige fossile Belege dazu vorliegen. Grundlage ist die hierarchisch

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abgestufte phylogenetische Bewertung von Differentialmerkmalen; wichtig sind allein die „Neuerfindungen“ (abgeleitete Merkmale: Autapomorphien) an den Gabelstellen des Stammbaumes, die dann „beibehalten“ werden (Synapomorphien). Das Problem liegt in den Parallelentwicklungen/ Konvergenzen, auch darin, daß Apomorphien auch Rückbildungen sein können: Frage der „Lesrichtung“ von Merkmalsreihen). Diese Theorie der phylogenetischen Systematik zur Rekonstruktion der natürlichen Verwandtschaft wurde von HENNIG (1950; Entomologe am Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart/ Ludwigsburg) griffig formuliert (nicht erfunden!) und mit einem praktikablen Denk- und Arbeitsschema verbunden. Sie sollte daher auch in den Kurs Evolutionsbiologie Eingang finden, zugleich kann damit die zu Unrecht verdrängte Systematik exemplarisch wieder belebt werden. Gut geeignet sind die Wirbeltiere, zumal auch hier Evolution mit einem Wechsel der Funktionsgestalt (Lebensformtyp) verbunden und daher leicht verständlich ist:

Phylogenetische Systematik am Beispiel der „Klassen“ der WirbeltiereDie Wirbeltiere sind (in der Dimension der höheren Taxa) ein schulrelevantes Beispiel für die phylogenetische Systematik im ökologischen Kontext (Übergang vom Wasser- zum Landleben, konvergente Warmblütigkeit bei Vögeln und Säugern mit den Alternativen Flugvermögen bzw. Optimierung der Bewegung am Substrat und mit spezialisierten sekundären Wasserbewohnern, z.B. Pinguine, Wale).

Im Aquarium lassen sich die „Fische“ am Beispiel der Schwestergruppen Knorpel-: Knochenfische und der evolutiven Reihe Lungenfische/ Flösselhechte (geeignet für das Schulaquarium der Flösselaal)/ Störe/ Knochenhechte/ echte Knochenfische im evolutiven Kontext erarbeiten. Dazu liegt ein Bogen vor.

Amphibien als Feuchtlufttiere mit z.T. fischähnlichen, mit Kiemen atmenden Larven, Amnioten (mit Hornhaut und „Mikroaquarium“ [Amnionhöhle] für den Embryo sind dann an das Leben in trockener Luft/ auf trockenem Boden besonders angepaßt. Eine frühe Linie sind die Schildkröten, zu verstehen als Starrkörper-Schwimmer, in der Kreidezeit haben die Saurier eine faszinierende Vielfalt mit zahlreichen Riesenformen entwickelt (adaptive Radiation), von denen die Krokodile überlebt haben. Eidechsen und Schlangen stellen die modernen Reptilien mit der Tendenz zur Reduktion der Beine. Aus Reptilien haben sich unabhängig Vögel (Fortentwicklung von Sauriern) und Säuger (früher, eigenständiger Ast) entwickelt. Sie sind warmblütige Ausdauerflieger bzw. -Läufer mit konvergenter Perfektion des Kreislaufes und Feder- bzw. Haarkleid als Wärmedämmung. Bei den Säugern sind die beiden Gabelstellen Monotremen : Theria (lebendgebärende „Zitzentiere“) und unter diesen Schwestergruppen Beutel- : Plazentatiere gute Beispiele für das Denken in Synapomorphien und für Evolution als Abfolge von Gabelstellen. Auch hier ist die Veranschaulichung in Aquarien/ Zoos, für Saurier im Museum zu nutzen.

Herauszustellen ist dabei, daß das Aufdecken von phylogenetischer Verwandtschaft Rekonstruktion von Evolutionsabläufen aus Indizien und aus phylogenetischer Merkmalsbewertung bedeutet, also (je nach Faktenlage) auch ± mit Willkür behaftet ist und im Einzelfall in aller Regel ein derartiges Spezialwissen erfordert, daß phylogenetische Systematik vom Laien (einschließlich der Biologielehrer) nur ausnahmsweise nachzuvollziehen ist.

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3.5 Konsequenz 2: Der „Bauplan“ als Grundbild für die Taxa der Metazoen,Homologie als Grundlage einheitlicher Benennung von Organender Verwandtschaftskreise (Taxa) von Pflanzen, Pilzen und Tieren.

Die Ausgangsformen der natürlichen Verwandtschaftseinheiten der Metazoen (Tiere i.e.S.), auch z.B. der „höheren Pflanzen“ (Moose, Kormophyten) können als Funktionsgestalten, als Baupläne, aufgefaßt werden (vgl. die Cephalopoden). Sie werden in der Evolution zwar weiter abgewandelt, bleiben aber als Schema erkennbar. Diese Baupläne wurden (in Anlehnung an das klassische Lehrbuch der Zoologie von KÜHN, z.B. 12. Aufl. 1957 bei Thieme, Stuttgart) in die früheren Schulbücher für die Gymnasiale Oberstufe aufgenommen, z.T. bis heute. Das Faktum der Evolution und der gängigen Stammbaum-Bilder ist die Grundlage für diesen didaktisch bedeutsamen Denkansatz.

Innerhalb eines Bauplanes werden homologe Organe gleich benannt. Das setzt wieder die Phylogenie voraus. Die Homologisierung ist oft einfach einsichtig (z.B. Extremitäten der meisten Tetrapoden). Als einfaches Beispiel für Homologie und Analogie (schon in der Unterstufe) bieten sich die Zähne der Säugetiere an. Homologie zeigen die Lage-Begriffe Vorder-/Eck-/Backenzähne (mit Vorbackenzähnen, die schon im Milchgebiß vorhanden sind, und den Nachbackenzähnen, die erst mit dem Zahnwechsel kommen) an; sie sollten nicht mit Funktions-Begriffen, also Analogien (wie Schneide-, Mahl-, Reiß-, Stoß-, Hengstzähne) verwechselt werden. Die wissenschaftliche Bezeichnung der Zähne ist leider auch hier inkonsequent (Incisiva, Canina, Prämolaren, Molaren)!

Problematisch wird die Homologisierung, wenn in einem bekannten Verwandtschaftskreis Organe so stark abgewandelt sind, daß sie nicht mehr einfach mit dem Bauplan zu identifizieren sind. Die vergleichende Morphologie, die die Biologie im 19. Jahrhundert bestimmte, hat hier beachtliche Erfolge erzielt. Schulrelevant ist das Beispiel der Homologisierung der für die Säugetiere spezifischen Mittelohr-Knochen-Schwingungsbrücke für die optimale Schallübertragung aus dem Medium (Außen-) Luft in das Medium Wasser (der Schnecke). Problematisch ist beispielsweise die Homologisierung des Flügelgeäders von Fliegen im Vergleich mit Schlupfwespen, Käfern oder Libellen, wie sie in den gängigen Insekten-Bestimmungsbüchern erfolgt.

Beim Homologisieren kamen die klassischen Homologie-Kriterien zum Tragen (vgl. OSCHE, s.o. und das klassische Lehrbuch von REMANE: Die Grundlagen des natürlichen Systems der Vergleichenden Anatomie und der Phylogenetik, Akad. Verlagsges. Geest & Portig, Leipzig 1952):

Das Kriterium der Lage Das Kriterium der Kontinuität oder Stetigkeit

(Existenz von Zwischenstadien in der Ontogenie oder in demVerwandtschaftskreis, wenn auch nicht unbedingt in direkterphylogenetischer Linie, also auf verschiedenen Nebenästen)

Das Kriterium der spezifischen QualitätDiese Homologie-Kriterien sind jedoch heute in der Schule nicht mehr

nachzuvollziehen, und sollten daher weiotgehend aus dem Lehrplan gestrichen werden.

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Die schulrelevanten Beispiele für Homologisierung (wie die der Mundwerkzeuge oder Extremitäten von Insekten) können auch ohne die Kriterien, die sowieso nur vom Spezialisten verstanden und angewendet werden können, in den Unterricht eingebracht werden.

Wichtiger für das Problemverständnis ist es, einfach einsichtige Stellen aufzuzeigen, an denen die Homologisierung unsicher bleibt oder mißglückt. Schulrelevante Beispiele sind schon die vereinfachten und vermehrten Zähne und Fingerglieder bei Walen, das reduzierte oder sekundär verdichtete Flügelgeäder von Insekten. Es lassen sich auch die Gliederungen der Extremitäten vieler Krebstiere, der Spinnen und Insekten nicht einfach homologisieren, was sich an den unterschiedlichen Benennungen zeigt. Zu bedenken ist dabei, daß an den Hochschulen Systematik und noch mehr die Vergleichende Morphologie ihren Stellenwert eingebüßt haben und daß damit fast keine akademische Forschungskapazität mehr besteht und daher derartige Probleme nicht mehr aufgearbeitet werden können.Die Homologisierung ist also didaktisch relevant geblieben, aber nicht als Stammbaum-Forschung, sondern gerade umgekehrt als Konsequenz aus der Annahme der Evolution im Sinne der Phylogenie mit den Stichworten Baupläne und Homologie als Grundlage der Organbenennung in einem Verwandtschaftskreis.

3.6 Vielfalt des EvolutionsgeschehensEvolution ist als einmaliges, unvorhersagbares, also geschichtliches (und nicht funktional/ kausal deterministisches) Geschehen zu verstehen. Dazu ist das Nebeneinander von langfristiger Unveränderlichkeit (Beispiel echte „Lebende Fossilien“ wie Nautilus [s.o] oder der Quastenflosser Latimeria [Filmbeispiel zur Bewegungsweise; Lesetext zur Entdeckungsgeschichte bei THOMSON, Quastenflosser, Birkhäuser 1993] und Formen-„Explosion“ mit einer Vielfalt an Lebensformtypen (adaptive Radiation) aufzuzeigen (weitere Beispiele: Saurier, aktuell z.B. echte Knochenfische [Teleostier] im Vergleich zu Stören, Flösselhechten: Arbeit im Aquarium) didaktisch wertvoll. Dabei gibt es alle Übergänge. Wertvoll für die Diskussion der „lebenden Fossilien“ sind alte, aber eben nicht extrem artenarme Gruppen (wie Schildkröten oder Krokodile: Arbeit im Aquarium). Schulisch relevant ist auch die Ausbildung von Trends im ökologischen Kontext [additive Typogenese der Pferde].

3.7 „Gesetzmäßigkeiten“ bei Evolutionsabläufen: Konvergente LebensformtypenAls „Gesetzmäßigkeiten“ bei Evolutionsabläufen wurden früher konvergente Lebensformtypen bzeichnet Dazu gehört auch der „Weg zurück“ ins Wasser (z.B. bei der Fischgestalt von Ausdauer-Schnell-Wrigg-Schwimmern [wie Wale, Fischsaurier], im Gegensatz zu Starrkörper-Schwimmern [wie die relativ langsamen Seeschildkröten einerseits und die wendigen Unterwasser-Schnellschwimmer unter den Vögeln, Riesenalk und Pinguine, andererseits], Veranschaulichung wieder am Objekt im Zoo, gestützt durch Filme [ggf. selbst gedreht: unproblematisch mit digitaler Kamera und PC-Bearbeitung für Arbeitsblätter/ Klausuraufgaben]).

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3.8 Besondere Leistungen der EvolutionEin besonderes Phänomen ist die Koevolution, z.B. die Angepaßtheit von Bestäubern und Blütenbau-/ Biologie (bis hin zu Kesselfallenblume Aronstab, -Mimese von Ophrys-Orchideen oder der komplexen Symbiose der Feige mit Gallwespen) bzw. Samen-/ Sporenverbreitung (unter Pilzen z.B. Stinkmorchel: Aasfliegen, Trüffel: Wildschwein) oder die Angepaßtheit von Parasiten an ihre Wirte (z.B. Kleiner Leberegel oder der Saugwurm Leucochloridium mit pulsierendem Schneckenfühler als Attraktion für Vögel), ein Spezialfall sind die Pflanzen-Gallen.

Das evolutive Potential belegen Konvergenzen bei extremen Lebensformtypen. Ein Beispiel sind die festsitzenden, kopflos und beschalt gewordenen Filtrierer (wie Seelilien, Röhrenwürmer, Seepocken, Manteltiere; Muscheln und Brachiopoden) oder extreme Gestaltsreduktionen bei Endoparasiten (wie beim Wurzelkrebs Sacculina, der nur an der Nauplienlarve als Krebstier zu erkennen ist, s.o.). Auch die konvergente Ausbildung perfekter Linsenaugen bei Freiwasserschwimmern (Wirbeltieren unter den Chordaten, Tintenfische unter den Mollusken, bei Meeresringelwürmern), die Augenreduktion bei Höhlenfischen oder Grottenolm, Hämoglobin bei Wirbellosen in sauerstoffarmen Milieu (wie Tubifex, Posthornschnecke, „rote“ Zuckmückenlarven) sind Beispiele dafür. Grenzen zeigen sich dagegen bei Fähigkeit zur Bildung von Zellulasen bei Blattfressern, die statt dessen in mannigfaltiger Weise komplexe Symbiosen mit Bakterien (oft in besonderen Kulturkammern und Übertragungsmechanismen, z.B. bei Insekten; vgl. auch z.B. das Wiederkäuen bei Paarhufern und Hasen, Blinddarm als Gärkammer bei Pferden) entwickeln.

Konvergenzen sind daher für die phylogenetische Systematik eine Erschwernis, für das Verstehen von Evolution aber eine Hilfe.

3.9 Die Art als die natürliche Grundeinheit der Systematik:Artschranken, Artaufspaltung

Die Art wurde früher nach dem Gefühl der Spezialisten abgegrenzt. Inzwischen hat sich (besonders in der Zoologie) die biologische Artdefinition (Art als potentielle, natürliche Fortpflanzungs-Gemeinschaft, d.h. Genfluß innerhalb der Art, aber Abschottung gegen die anderen Arten) durchgesetzt. Einfach gesagt heißt das, daß die Organismen selbst bei der Partnerwahl über die Artzugehörigkeit entscheiden. Das gilt aber nur unter natürlichen Bedingungen, die Kreuzbarkeit in Gefangenschaft ist nicht ohne weiteres ein Beleg für Artzusammengehörigkeit (Tiger und Löwe lassen sich im Zoo beliebig kreuzen, bleiben aber in freier Natur [Indien] getrennt). Ob ähnliche Formen zu derselben Art gehören, läßt sich also nur entscheiden, wenn sich ihre Areale überschneiden und sie dort unvermischt bleiben. So ist z.B. nicht zu entscheiden, ob unser Rothirsch und der nordamerikanische Wapiti oder Bison und Wisent zu vershciedenen Arten gehören oder nicht. Die Art ist also eine natürliche Einheit im Gegensatz zu den höheren Taxa (Denkkategorien und damit ± willkürlich), diese Artdefinition hat aber Schwächen in der praktischen Anwendung.

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Arten können über ihr Areal hinweg genetisch verschiedene Unterarten (subspecies: ssp.; oft fälschlich als „Rassen“ [Anglizismus von engl. „race“] bezeichnet, das deutsche Wort Rasse bezeichnet aber in der Zoologie Zuchtformen von Haustieren, die begrifflich scharf von den Unterarten zu trennen sind) bilden, Zeichen für eingeschränkten Genfluß (Beispiel: die Elbe als schmale Vermischungszone der westlichen schwarzen Rabenkrähe und der östlichen grauen Nebelkrähe). Die trinäre Nomenklatur für die ssp. kann hier eingeführt werden.

Ein schönes Beispiel für einen Art-/ Unterart-Komplex (mit massiven Eingriffen durch den Menschen) bilden die afrikanischen Pferde (im Zoo erarbeiten, Bogen liegt vor): Im NO (am Roten Meer/ Golf von Aden) der einfarbig grau/bräunliche Wildesel mit 2 ssp. (im N der Nubische Wildesel mit schwarzem Schulterkreuz, am Golf der Somali-Wildesel mit Beinringelung, beide Halbwüstentiere, fast ausgerottet; schon in der Römerzeit wurde der Atlas-Wildesel [grau mit Schulterkreuz und Beinringelung] ausgerottet, lebt aber in großer Rassenvielfalt als Hausesel fort), südlich davon 3 Zebraarten (Streifung konvergent!): In Bergsteppen von Äthiopien/Kenia das eng schwarz-weiß gestreifte, eselartige Grevy-Zebra (ohne ssp.), in Gebirgshalbwüsten der Kapregion und SW das weit schwarz-weiß gestreifte Bergzebra (Halswamme, Querstreifung auf der Kruppe) in 2 ssp (Kap-, Hartmann-Bergzebra), im Gebiet dazwischen in Savannen mit beiden Arten überlappend das pferdeähnliche Steppenzebra mit verschiedenen Unterarten, im N gegen das Grevy-Zebra mit breit schwarz-weißen Streifen kontrastierend (Grant-/ Böhm-Steppenzebra), nach Süden hin Auflösung der Beinstreifung, braune Zwischenstreifen, Grundfarbe zum gelblich/ bräunlichen hin verlaufend, damit zum Bergzebra kontrastierend, besonders krass beim nur vorn gestreiften Quagga der Kapregion (Mitte vorigen Jahrhunderts ausgerottet), recht deutlich auch beim Damara-Steppenzebra von SW-Afrika (lokal zusammen mit dem Hartmann-Bergzebra). Die Unterarten des Steppenzebras sind im Zoo beliebig kreuzbar, die Mischlinge aus Esel (bzw. Pferd) mit den Zebras (Zebroide) und aus verschiedenen Zebraarten sind in der Regel unfruchtbar (Beleg für die Arttrennung). Die Benennung der Steppenzebra ssp. ist uneinheitlich. Esel/Zebras können im Zoo auf die Art-/ Unterart-Merkmale hin überprüft und in den geographischen Kontext gestellt werden, ehe der Artkomplex im o.g. Sinne an Hand von Bildmaterial erarbeitet wird. Arbeitsbögen wurden dafür entwickelt.Die Allen‘sche und die Bergmann‘sche Regel:

Unterarten im ökologischen Kontext;das Beispiel Ohrgröße;das Schul-Beispiel Pinguin-Größe als Verdummung der Schüler

und seine „Rettung“Beispiele für die innerartliche Veränderlichkeit liefern z.B. Bergmannsche Regel, Allensche Regel; Züchtung als Modell für Evolution (Tauben als historisches Beispiel: DARWIN) und die Fitness-Theorie der Ethologie. Sie belegen, daß Mutation (in Verbindung mit innerartlichem Genfluß) und Selektion (ggf. Separation, vgl. die Züchtung) als Mechanismen für innerartliche Veränderungen wirken!

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Evolution als Aufspaltung von ArtenAn dieser Stelle kann nun der Begriff Evolution hinterfragt und auf die Aufspaltung von Arten zurückgeführt werden. Die Umwandlung einer Art im Laufe der Zeiten ist mit dem natürlichen Artbegriff nicht zu vereinen, da er nur in einem Zeithorizont (Koexistenz) zu realisieren ist. Der Denkansatz der Systematik zur Artaufspaltung geht von der Bildung von Unterarten aus, die isoliert, also geographisch getrennt werden (bei der o.g. Aaskrähe durch die Vereisung getrennte Refugien), dabei so verschieden werden, daß sie sich beim erneuten Zusammentreffen nicht mehr vermischen, also zu verschiedenen Arten geworden sind. Bei der Aaskrähe hat die geografische Isolation während der letzten Eiszeit dafür nicht ganz gereicht (etwas weitergehend z.B. Nachtigall und Sprosser).

Übliches Schulbeispiel sind die Darwin-Finken auf den Galapagos-Inseln. Neuere Untersuchungen haben aber eine hohe Plastizität der Schnäbel und eine rasche Anpassungsfähigkeit an die klimatisch/ ökologischen Gegebenheiten des jeweiligen Jahres ergeben, auch daß die Arten mit ähnlichen Schnäbeln nur bedingt auf einer Insel koexistieren (dann den Kontrast verstärken), die Wetterbedingungen können auch in manchen Jahren Bastardierungen zwischen Arten fördern, in anderen die Mischlinge wieder unterdrücken (ein anschaulicher Bericht dazu bei J. WEINER, der Schnabel des Finken oder der kurze Atem der Evolution, was Darwin noch nicht wußte, Droemer Knaur, 1994). Darwin-Finken sind damit zu einem Beispiel dafür geworden, daß bei wechselnden Umweltbedingungen Artschranken wieder durchlässig werden können und daß die so gewonnenen Allel-Neukombinationen dann das Überleben verbessern können. Vom Bodensee gibt es dazu ein Beispiel bei Wasserflöhen (Daphnia: MORT in STREIT 1990 aaO) und für die Veränderungen der Felchen (einer sehr plastischen Salmoniden-Gruppe).Die Selektionstheorie als Mechansmus für die Veränderlichkeit innerhalb der Arten als Modell für die Makro-Evolution?Die Veränderlichkeiten innerhalb der Art lassen sich mit der Selektionstheorie im Sinne von DARWIN, in der Öko-Ethologie Fitnes-Theorie genannt, erklären. Einbezogen werden die Gesetzmäßigkeiten der Populationsgenetik: Erweiterung zur Synthetischen Evolutionstheorie (im Sinne von MAYR, LORENZ u.a.). Die statistisch faßbaren Neukombinationen der in der Populationen vorhandenen Allele (bei der Meiose: vgl. die MENDELschen Regeln), die zufällig entstehenden Neu-Mutationen und ihre Verteilung über die Population, die phänotypische Selektion der jeweils best-angepaßten und die Auseinander-Entwicklung von isolierten Populationen sind ein aktuell belegtes Faktum.

Unser Einblick in Mechanismen bei der Evolution ist also auf die Dimension innerartlicher Veränderungen beschränkt, sie erlauben damit jedoch keine gesicherten Vorhersagen, ob und wann im konkreten Fall die Artschranke überschritten werden könnte. Dennoch ist es plausibel, daß auch die Artaufspaltung, der erste Schritt der transspezifischen Evolution, nach diesem Modell erklärt werden kann.

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 20

DARWIN hat dieses Modell („als natürliche Zuchtwahl“) auf die Makroevolution extrapoliert (Evolutionstheorien i.e.S.). Allerdings gibt es Zeitprobleme. Das Eingangs-Beispiel der letzten Vereisung zeigt das auf: Unsere heutige Fauna wich mit Beginn der letzten Kaltzeit in südliche Refugien aus und veränderte sich in den über 100.000 Jahren kaum, i.a. nur auf dem Niveau von Unterarten (Raben-/Nebelkrähe) oder von Zwillingsarten (Nachtigall/Sprosser) mit kleinen Überlappungs-/Vermischungsgebieten. Geht man aber 500.000 Jahren so sind die Formenunterschiede vielfach groß. Evolution läuft also vielfach nicht linear, sondern exponentiell ab. Außerdem ist daran zu erinnern, daß zur gleichen Zeit bei anderen Gruppen anscheinend keinen Evolution zu erkennen ist („Lebende Fossilien“) und daß zur gleichen Zeit in den einen Gruppen eine rasante Aufspaltung in unterschiedlichste Lebensformtypen mit hoher ökologischer Differenzierung (Adaptive Radiation wie bei den Wiederkäuern unter den modernen Säugetieren) und in anderen eine formenarme Fortentwicklung eines Lebensformtyps (Additive Typogenese wie bei den Pferden oder den Menschen) zu verzeichnen sind.Hier hilft ein Modell aus der Mathematik, genauer aus der (axiomatischen) Geometrie: Die Erde hat eine Kugeloberfläche. Für die Erdvermessung im Kleinen (wie bei den alljährlichen Landvermessungen der alten Ägypter nach den Überflutungen durch das Nil-Hochwasser) können wir hinreichend genau die euklidische Geometrie (Winkelsumme im Dreieck 180°, genau 1 Parallel zu einer Gerade durch einen Punkt außerhalb der Geraden). Wir können aber aus diesem Horizont heraus mit nichts entscheiden, ob wir wirklich in einer euklidischen Ebene oder ob wir nicht in Wahrheit mit einer sphärischen Geometrie (wie auf der Erde) oder mit einer hyperbolischen Geometrie zu rechnen haben, deren Korrekturglieder nur im Kleinen zu vernachlässigen sind; es könnte überdies auch ein völlig unregelmäßiger Raum vorliegen.

Bei zeitlich exponentieller Aufspaltung wächst der Fehler einer linearen Fortschreibung der innerartlichen Mechanismen (wie bei den aktuellen Selektionstheorien) mit der Zeit exponentiell: Die Extrapolation der innerartlichen Mechanismen auf die Makroevolution wird damit unzulässig!

Das macht es wahrscheinlich, daß in großen Zeiträumen Faktoren wirksam werden, die wir uns aus unserem beschränkten Zeithorizont und unserem beschränkten Vorstellungsvermögen einfach nicht vorstellen können. Alle diese Evolutionstheorien sind damit sicher Erklärungsmodelle für die innerartliche Dynamik, doch ist die lineare Extrapolation (wie gesagt) auf den oft exponentiellen Ablauf der Evolution unzulässig.In jüngerer Zeit häufen sich Sachbücher, die genau das kritisieren (z.B. B. MÜLLER: Das Glück der Tiere. Einspruch gegen die Evolutiontheorie. Fest Verlag, Berlin 2000; vgl. auch Anhang 8.4). Besonders deutlich formuliert das REINHARD EICHELBECK (Bertelsmann: Riemann-Verlag, 1999):

„Das Darwin-KomplottAufstieg und Fall eines pseudowissenschafltichen Weltbildes“.

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 21

Diese Extrapolation wird auch dann nicht besser, wenn die synergistische Ökosystem-Struktur („Chaostheorie“) differenziert einbezogen wird, wenn also Evolution nicht aus Arten und ihren Populationen, sondern aus dem komplexen Beziehungsgefüge im Ökosystem (als dynamische, wechselhafte Selektionsfaktoren) erklärt werden soll (vgl. z.B. S. KAUFFMANN: Der Öltropfen im Wasser. Chaos, Komplexität, Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft. Piper, München 1996).Die Extrapolation der gängigen Evolutionstheorien (als Theorien von innerartlich plausiblen bis gesicherten Mechanismen für die Veränderlichkeit) auf die Makroevolution erweist sich damit als Grenzüberschreitung von (im Artniveau) positivistischer naturwissenschaftlicher Erfahrung, also zu spekulativ/ transzendentaler Naturphilosophie.

Das muß nach den didaktischen Leitzielen (z.B. nach dem Prinzip des Exemplarischen) scharf verurteilt werden! Die erkenntnistheoretische Eigenart beider Bereiche und ihre jeweils unterschiedlichen Aussage- und Anwendungsbereiche (Naturwissenschaft : naturwissenschaftliches Weltbild) sind in der SII klar herauszustellen und strikt zu trennen!Wenn wir tatsächlich vor Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit stehen, die den Schülern aufzuzeigen sind, so sind sie hinzunehmen, eine Suche nach nach Kausalität ist naturwissenschaftlich sinnlos, der Zugang ist höchstens naturphilosophisch zu suchen. Evolution ist dann naturwissenschaftlich nur als geschichtliches Phänomen zu begreifen.

Die Geschichte der Evolutionstheorien (CUVIER, LAMARCK, DARWIN als Pioniere) lieferte dann Beispiele für das Ringen um kausale Erklärungen der (Makro-) Evolution (in der Gewißheit, daß es sie gäbe!), es ist jedoch die Frage nach den Grenzen naturwissenschaftlicher Aussagefähigkeit kritisch zu stellen. Die gängigen Theorien zur Kausalität der Makro-Evolution sind dann eine Grenzüberschreitung von positivistisch/ empirischer Naturwissenschaft in die spekulativ/ naturphilosophische Transzendenz. sie stehen damit in die Konkurrenz zum Schöpfungsglauben von Religionen, der in diesem Bereich als Alternative als zulässig angesehen werden muß.

3.10 Begriffsklärung; Evolution/EvolutionstheorieAus dem Vorstehenden ergibt es sich, daß aus Gründen der logischen Klarheit und Konsistenz die Begriffe Evolution und Evolutionstheorie didaktisch enger als in der Wissenschaft Biologie zu fassen sind.

Das beginnt mit dem Begriff Evolution, wenn jedwede genetische Veränderung innerhalb einer Population schon als Evolution bezeichnet wird (z.B. STREIT, 1990, Evolutionsprozesse im Tierreich, Birkhäuser, oder die Fitness-Theorie der Ökoethologie), selbst wenn sich der Trend bei anderer Konstellation schnell wieder umkehren kann (vgl. die dunklen Mutanten des Birkenspanners in Industriegebieten). Hier handelt es sich nämlich um Beispiele für die (auch genetische) Anpassungsfähigkeit von Arten (eigentlich Dynamik ihrer ökologischen Nischen) und damit um ihre Überlebensstrategien in wechselnder Umwelt, also um reversible Veränderungen. Das sind aktuelle funktionale Zusammenhänge. Evolution im eigentlichen Sinne setzt aber erst ein, wenn derartige Trends

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sich manifestiert, also mit dem Überschreiten der Artschranke: Evolution = transspezifische Evolution!.

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 23

Evolution beginnt mit der Artaufspaltung Die innerartliche Dynamik ist als Überlebensstrategie davon zu trennen Mit Evolution wird nur das (aus wissenschaftlicher Sicht hinreichend

gesicherte) Phänomen der Stammesentwicklung/ Phylogenie/ Deszendens (einschließlich der Abläufe) bezeichnet

Der Begriff „Evolutionstheorie“ ist auf die vorwiegend spekulativ/vordergründigen Theorien zu den Mechanismen (zur Kausalität) der (Makro-) Evolution zu beschränken; sie sind als ungesicherte Extrapolation von Mechanismen innerartlicher Dynamik auf die Makro-Evolution darzustellen!

3.11 Transfer: Die Evolution des Menschen als SyntheseNach den vorangegangenen Abschnitten kann die Evolution des Menschen (ohne Frage nach der Kausalität!) an den Abschluß gestellt werden. Sie hat zwei Zugänge, die Fossilienkette und die phylogenetische Systematik. Die Deutung der erstaunlich reichhaltigen, aber oft nur bruchstückhaft erhaltenen Fossilien setzt Kriterien für die Abgrenzung des Menschen von den Menschenaffen voraus. Daher ist die phylogenetische Systematik voranzustellen. Es ist also nach den abgeleiteten Merkmalen der Hominiden zu fragen. Diese Synapomorphien werden auch mit dem Begriff „Sonderstellung des Menschen“ bezeichnet. Zu bedenken ist dabei, daß sie nur relativ auf die Ursprungsform (die gemeinsamen Ahnen) der Menschenaffen und der Menschen, nicht aber auf andere Stellen im Tierreich (z.B. aufrechter Gang bei Bären, besonders ausdauernd z.B. bei [Kaiser-] Pinguinen) zu beziehen sind. Auch die Gibbons sind auszuschließen, nach dem aktuellen Stand der Systematik auch die asiatischen Menschenaffen (Orang).

Im Mittelpunkt sollte die biomechanische Analyse der menschlichen Gestalt als Lebensformtyp des bipeden Ausdauergehers (-läufers) mit geschickten Greifhänden (+ Wurfarmen), zugleich mit der Fähigkeit zum ausdauernden Schwimmen und zum Tauchen. Zum Vergleich sind die Menschenaffen im Zoo (vor allem Schimpansen/Bonobos) zu studieren (Stemmkletterer mit der Fähigkeit zum Hangeln [beim überschweren Gorilla reduziert] und dazu passenden Füßen + Händen). Dazu gehören z.B. die Proportionen der Beine + Arme, die Hochverlegung der Muskulatur beim Menschen (beim Schenkel z.T. bis zum Becken: spezifisch menschlicher Po bezogen auf die Menschenaffen [Analogien z.B. bei Pferden]), die Proportionen des Thorax und eine Taille (Abfangen von Körperschwingungen beim Gehen [Menschenaffen pendeln!]). Allein schon der Gewölbefuß zeigt die Angepaßtheit an den aufrechten Gang; das gilt auch für die Gestalt des Beckens und des Kopfaufsatzes genau im Schwerpunkt (damit schwache Halsmuskulatur/ Halswirbel-Fortsätze). Dieser Aspekt bedeutet zugleich eine Querverbindung zum Sport und zum Alltagsleben.

Leider ist eine fundierte biomechanische Analyse des Menschen erst unzureichend für den Biologieunterricht aufgearbeitet. Hilfreich sind die Publikationen des Kollegen Franzen vom Senckenberg-Museum (z.B. in „Natur & Museum).

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 24

Andere Stichpunkte sind das große Hirnvolumen, die differenzierte Sprachartikulation (mit dem Nebeneffekt des Problems des „Verschluckens“) und das Problem der „physiologischen Frühgeburt“. Die Deutung des Hirnvolumens hat in jüngerer Zeit einen interessanten Aspekt dadurch erhalten, daß der Intelligenzquotient nicht mit dem Hirnvolumen korreliert ist (vgl. KANT mit unter 1000 ml), daß aber z.B. viel Platz für das „Expertenwissen“ (enormes Faktenwissen, das im Einzelfall koordiniert zu Zusammenhängen zusammengefügt werden kann) benötigt wird und erst mit hoher Erfahrung die volle Leistung entfaltet (vgl. die alten Jäger mit ihrer detaillierten Wildbiologie und differenzierten Fähigkeit zum Spurenlesen als Voraussetzung für den Jagderfolg der ganzen Gruppe).

Als Verbindung zur Sexualerziehung könnten besondere Erscheinungsmerkmale des Menschen herausgestellt werden (z.B. reduzierte Körperbehaarung, langes Kopfhaar, kleine Eckzähnen bei beiden Geschlechtern, Breitschultrigkeit (bes. ) Busen, Taille, Po (bes. ), Langbeinigkeit, großes Genital , versteckter Östrus (vgl. die riesigen Genitalschwellungen der Schimpansen-), vielfach anhaltende Paarbindung (Ehe); extrem lange Abhängigkeit der Kinder zunächst vor allem von der Mutter, dann von den Eltern.

Als Verbindung zum Kunst-Unterricht kann die Analyse von Kunstwerken auf spezifisch menschliche Eigenschaften auch bei höherer Abstraktion dienen.

Nach diesen Kriterien ist die Ableitung der Menschen von der Basis der (afrikanischen) Menschenaffen zu fordern. Dem widerspricht die molekulargenetische Verwandtschaftsanalyse (nahezu Übereinstimmung mit dem Bonobo sowie dem Großschimpansen, Abstand zum Gorilla, also Ableitung von den Schimpansen).

Hier hilft die Analyse der Fossilfunde (Ausgang von Ausstellungen in Museen, wie dem Neanderthal-Museum bei Düsseldorf). Die Frage der abgestuften Zuordnung zu den Menschen wird durch die vorstehend genannten „Besonderheiten des Menschen“ plausibel. Moderne Rekonstruktionen werden dem gerecht, hilfreich sind auch Film-Simulationen des Ganges („Lucy“). Die Fossilfunde belegen eine lange Eigenständigkeit des Menschen und eine differenzierte Evolution, also keine engere phylogenetische Verwandtschaft zum Schimpansen und zum Gorilla. Interessant ist das Nebeneinander von 2 Menschenformen am Ende der Eiszeit (Neandertaler : Cro Magnon), das rätselhafte Verschwinden des Neandertalers (der als Unterart in dem anderen aufgegangen sein könnte, jetzt aber meistens als eigene Art aufgefaßt wird). Auch der Neuzeit-Mensch war in „Rassen“ (Unterarten im Sinne der Evolution) gegliedert, die sich durch die großen Wanderbewegungen (in Europa schon zur Zeit der Völkerwanderung, weltweit vor allem nach Entdeckung Amerikas) räumlich und vielfach auch ethnisch-kulturell und biologisch vermischt haben (Umschwung dieser Evolution), vielfach aber auch zu heftigen ethnisch-kulturellen Konflikten führten. Der Evolutionskurs berührt damit abschließend die soziologischen Grundprobleme der Menschheit.

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Anhang 8.3: Vorträge MNU 2000 „EvolutionsbiologieAnh 8.3 — 25

Hinweisen möchte ich abschließend auf die aktuell brisante Frage der innerartlichen Aggression des Menschen und seiner Grundlegung in der Evolution. Die Fossilfunde geben dafür wenig her. Wir können aber die Sozialordnung der Großaffen mit den vorherrschenden Sozialstrukturen der Menschen vergleichen. Typisch, aber nicht absolut für den Menschen (und völlig abweichend von den Menschenaffen) sind Familien als Teil von ± festgefügten und in der Regel hierarchisch geordneten Gruppen (wie Indianer-Stämme) mit Arbeitsteilung von Mann und Frau in der Familie. Bei der Menschenfrau ist dabei der Östrus kaschiert (im auffallendem Gegensatz zu den promiskuitiven Schimpansen mit lockerer und wechselnder Substruktur in der Horde). Für schlüssige Erklärungen zu der Evolution dieser Sozialstruktur des Menschen gibt es nur widersprüchliche Hypothesen, nur Spekulationen, keine naturwissenschaftlichen Fakten.

Typisch ist ein hoher Altruismus innerhalb der Familie und innerhalb des Stammes verbunden mit zumindest zeitweilig hoher Abgrenzung und Aggression nach außen. Altruismus nach innen und Aggression nach außen sind dabei negativ korreliert.

Wichtig für den inneren Zusammenhalt menschlicher Gesellschaften ist nicht die genetische Nähe, sondern der ethno-kulturelle Konsenz. Innerhalb der Gruppe können Außenseiter im ethno-kulturellen Konsenz rigoros ausgegrenzt werden. Großgruppen wie die modernen Gemeinwesen können ethno-kulturelle Schichten (z.B. die Gesellschaftsschichten oder ethno-kulturelle Minderheiten wie Glaubensgemeinschaften) mit entsprechender Aggression gegeneinander bilden (vgl. die Basken in Spanien, die Korsen in Frankreich, die Glaubensgruppen in Jugoslawien oder Nordirland). Langfristig aufzuheben ist das nur durch gegenseitige Toleranz (wie in der Schweiz) oder durch ethno-kulturelle Integration (wie bei den polnischen Bergarbeitern des Ruhrgebietes um die Jahrhundertwende).

Üblich ist der Begriff des Rassismus für eine ethno-kulturelle Intoleranz. Rasse ist ein biologisch definierter Begriff für genetisch verschiedene, ursprünglich geographisch getrennte Völker oder Stämme. Der Begriff Rasse lenkt den Blick auf in der Sache unwesentliche oder gar nicht vorhandene biologische Unterschiede und lenkt vom wesentlichen ethno-kulturellen Konsenz bzw. der Toleranz ab. So sind die Deutschen als Volk der Mitte Europas mit Austausch nach allen Seiten nie eine Rasse im biologischen Sinne gewesen, auch beispielsweise die Juden waren nie eine Rasse, sondern biologisch übereinstimmend mit benachbarten Arabern, aber seit Jahrtausenden eine klar abgegrenzte Glaubensgemeinschaft, also eine ethno-kulturelle Einheit. Der Begriff Rassismus ist daher von seinem Ursprung her verfehlt, dennoch gebräuchlich und daher differenziert zu behandeln.

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3.12 Vereinbarkeit religiöser Vorstellungen des Menschenund Kreationismus mit der Evolutionstheorie

Eine Besonderheit der Menschen (i.e.S.) ist der Glaube an ein Jenseits nach dem Tode, also ein religiöses Bewußtsein (vgl. z.B. H.-J. BRAUN: Das Leben nach dem Tod. Jenseitsvorstellungen der Menschheit. Komet/ Artemis & Winkler, Düsseldorf 1996). Es ist beim Neanderthaler an den Bestattungsriten zu erkennen. Dieser Glaube ist oft ein wesentlicher Bestandteil ethno-kultureller Identität bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen ethno-kulturellen Gruppen (ich erinnere an den 30jährigen Krieg in Deutschland). Das erklärt auch den Fanatismus von religiösen Sekten hinsichtlich einer scheinbaren Unvereinbarkeit ihres Schöpfungsglaubens mit den biologischen Fakten der Evolution (Kreationismus). Dabei wirkt die verschwommene Definition des Begriffes „Evolutionstheorie“ durch die Vermengung des Faktums der Evolution mit Spekulationen zu Evolutionsmechanismen verschärfend. Das ist im Unterricht heraus zu arbeiten. Hinzuweisen ist darauf, daß zu den großen Offenbarungs-Religionen (Judentum und seine Abkömmlinge, die christlichen Religionen und der Islam) derzeit derartige Akzeptanz-Konflikte beim Phänomen Evolution der Erde und ihrer Organismen nicht bestehen. Die Evangelische Religion hatte z.B. durch BULTMANN vor mehr als einem halben Jahrhundert eine grundlegende theoretische Klärung erfahren (Schöpfungsgeschichte als Symbol/ Gleichnis, nicht als naturwissenschaftliche Erdgeschichte/ Abstammungslehre).

Es muß für den Biologielehrer aber deutlich sein, daß bei der Extrapolation der Mechanismen für innerartliche Veränderungen auf ein Erklärungsmodell für die (Makro-) Evolution (Evolutionstheorien im o.g. Sinne) die Grenze der naturwissenschaftlichen Erkenntnis überschritten wird und daß damit aus einer naturwissenschaftlichen Aussage eine Art Glaubensbekenntnis wird, das unzulässig mit religiösen Vorstellungen konkurriert und mit der Glaubensfreiheit in unserem Staate illegal kollidiert. Hier muß die Schule angesichts ihres Bildungsauftrages und ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung schärfer differenzieren als die wissenschaftliche Disziplin Biologie. Auf dieses Problem hatte der leider früh verstorbene Kollege ILLIES, ein tief gläubiger (evangelischer) Systematiker und Evolutionsforscher immer wieder hingewiesen. Naturwissenschaft muß sich auf das Diesseits beschränken und ist da kompetent, bildend und unersetzlich. Die Mechanismen der Makroevolution, also die Evolutionstheorien, entziehen sich dagegen der (positivistischen) Naturwissenschaft.

Damit besteht also in Wahrheit kein Konflikt von Evolutionsbiologie und Kreationismus.

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Meine Damen und Herren! Ich habe eine Reihe von Punkten unkonventionell, aber ich hoffe schlüssig, angesprochen. Ich wollte eine Reihe von Widersprüchen in den gängigen Konzepten zur Evolutionsbiologie in der Schule aufdecken, und ich machte Vorschläge, sie abzustellen. Dabei kam es mir besonders darauf an, das faszinierende Phänomen Evolution breiter und auf mehr Anschauung gestützt in den Unterricht einzubringen, dafür die Frage nach der Kausalität oder den Mechanismen der Makro-Evolution viel vorsichtiger zu behandeln und in den Kontext der Erkenntnistheorie/ Naturphilosophie zu stellen, damit auch den scheinbaren Konflikt von Evolutionsbiologie und Kreationismus zu relativieren. Wir müssen erst ein Phänomen gut kennen, ehe wir nach dem Warum/Wozu fragen, auch sollten wir bereit sein, daß sich Phänomene unseren Erklärungsbemühungen entziehen können.

Im Sinne des letzten Absatzes hoffe ich nun auf Akzeptanz oder zumindest auf Tolerierung, bei Kontroversen auf sachliche Diskussion statt einfacher Ausgrenzung ungewohnter Gedankengänge. Im übrigen ist keine einzige meiner Aussagen wirklich neu, am ehesten ist es die Zusammenstellung. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bin zur Diskussion bereit.