Lenin - Werke 4

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PROLETARIER ALLER LÄNDER, VEREINIGT EUCH! LENIN WERKE

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PROLETARIER ALLER LÄNDER, VEREINIGT EUCH!

L E N I NWERKE

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HERAUSGEGEBEN AUF BESCHLUSS

DES IX. PARTEITAGES DER KPR(B) UND DES

II . SOWJETKONGRESSES DER UdSSR

DIE DEUTSCHE AUSGABE ERSCHEINTAUF BESCHLUSS DES ZENTRALKOMITEES

DER SOZIALISTISCHEN EINHEITSPARTEI

DEUTSCHLANDS

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MAR X-ENGELS-LENIN-STALIN-INSTITUT BEIM ZK DER KPdSU

W I. LENINWERKE

INS DEUTSCHE ÜBERTRAGENNACH DER VIERTEN RUSSISCHEN AUSGABE

DIE DEUTSCHE AUSGABEWIRD VOM MARX-ENGELS-LENIN-STALIN-INSTITUT

BEIM ZENTRALKOMITEE DER SED BESORGT

DIETZ VERLAG BERLIN

1955

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W I.LENINBAND 4

1898 -APRIL 1901

DIETZ VERLAG BERLIN

1955

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VII

V O R W O R T

Die in Band 4 der Werke enthaltenen Arbeiten schrieb W. I. Lenin vonFebruar 1898 bis Februar 1901. Sie sind dem Kampf für den Sieg des re-volutionären Marxismus in der Arbeiterbewegung und der Entlarvungder antirevolutionären Ansichten der Volkstümler, „legalen Marxisten"und „Ökonomisten" gewidmet.

Die Artikel „Notiz zur Frage der Theorie der M ärkte (Aus Anlaß derPolemik zwischen Herrn Tugan-Baranowski und Herrn Bulgakow)",„Noch einmal zur Frage der Realisationstheorie" und „Der Kapitalismus

in der Landwirtschaft (Ober das Buch Kautskys und einen Artikel desHerrn Bulgakow)" sind gegen die „legalen Marxisten" gerichtet, die dieArbeiterbewegung den Interessen der Bourgeoisie unterordnen und an-passen wollten.

Der Band enthält die ersten Arbeiten Lenins gegen den „Ökonomis-mus": „Protest russischer Sozialdemokraten", die Artikel für Nr. 3 der„Rabotschaja Gaseta", „Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozial-demokratie" und „Aus Anlaß der ,Profession de foi'"; in diesen Arbeitenenthüllte Lenin den Opportunismus der „Ökonomisten" und zeigte, daß

der „Ökonomismus" eine Abart des internationalen Opportunismus(„Bernsteinianertum auf russischem Boden") darstellt. Der antimarxisti-schen Position der „Ökonomisten" stellte Lenin den Plan der Vereinigungdes Sozialismus mit der Arbeiterbewegung entgegen.

Eine Reihe der in diesem Band enthaltenen Artikel sind Musterbeispieleder anprangernden Publizistik, der Lenin im Kampf gegen die Willkürder zaristischen Beamten, für die Erweckung des Bewußtseins in den brei-ten Volksmassen gewaltige Bedeutung beimaß. Solche Arbeiten sind die

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Z U R F R A G E U N S E R E R F A B R I K - U N D W E R K S T A T I S T I K

(Neue statistische Taten Professor Karyschews)1

Die russische Leserschaft interessiert sich recht lebhaft für die Frageunserer Fabrik- und Werkstatistik und für die wichtigsten Schlußfolge-rungen, die sich aus ihr ergeben. Dieses Interesse ist durchaus verständ-lich, wenn man bedenkt, daß diese Frage mit der umfassenderen Fragenach dem „Schicksal des Kapitalismus in Rußland" zusammenhängt. Lei-der aber steht die Bearbeitung unserer Fabrik- und Werkstatistik aufeinem Niveau, das in keiner Hinsicht dem allgemeinen Interesse an ihrenDaten entspricht. Die Verfassung, in der sich bei uns dieser Zweig der

Wirtschaftsstatistik befindet, ist wahrhaft beklagenswert, und vielleichtnoch beklagenswerter ist die Tatsache, daß die Leute, die über ihn schrei-ben, häufig ein erstaunliches Unverständnis zeigen für den Charakter derZahlen, die sie bearbeiten, für deren Glaubwürdigkeit und deren Taug-lichkeit zu diesen oder jenen Schlußfolgerungen. So und nicht anders m ußauch über die neueste Arbeit des Herrn Karyschew geurteilt werden, diezuerst in den „Iswestija Moskowskowo Selskochosjaistwennowo Insti-tuta" [Nachrichten des Moskauer Landwirtschaftsinstituts] (Jahrgang IV,Buch 1) gedruckt und dann als Sonderbroschüre unter dem anspruchs-vollen Titel „Materialien zur russischen Volkswirtschaft. I. Unsere Fabrik-und W erkindustrie M itte der neunziger Jah re" (Moskau 1898) erschienenist. Herr Karyschew versucht in dieser Arbeit, Schlußfolgerungen aus derneuesten Veröffentlichung des Departements für Handel und Manufak-turen über unsere Fabrik- und Werkindustrie* zu ziehen. Wir wollen

* „Finanzministerium. Departement für Handel und Manufakturen. DieFabrik- und W erkindustrie Rußlands. Verzeichnis der Fabriken und Werke",St. Petersburg 1897, S. 63 + VI + 1047.

1 Lenin, W erke, Bd. i

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WJ. Lenin

sowohl die Schlußfolgerungen des Herrn Karyschew als auch beson-

ders seine Methoden einer eingehenden Untersuchung unterziehen. Einesolche Untersuchung scheint uns von Bedeutung zu sein, nicht nur, umfestzustellen, wie der Herr Professor so und so das Material bearbeitet(das ließe sich in einer Rezension von wenigen Zeilen sagen), sondernauch, um festzustellen, inwieweit die Daten unserer Fabrik- und Werk-statistik glaubwürdig sind, für welche Schlußfolgerungen sie taugen undfür welche nicht, welches die wichtigsten Erfordernisse unserer Fabrik-und Werkstatistik und was die Aufgaben der Personen sind, die siestudieren.

Die Quelle, deren sich Herr Karyschew bedient hat, enthält, wie auchaus ihrem Titel zu ersehen ist, ein Verzeichnis der Fabriken und Werkeim Russisdien Reich für das Jahr 1894/95. Die Herausgabe eines voll-ständigen Verzeichnisses aller Fabriken und W erke (d. h. der relativgrößeren Gewerbebetriebe, wobei über die Frage, welche Betriebe alsgroß zu gelten haben, verschiedene Auffassungen bestehen) stellt keineNeuheit in unserer Literatur dar. Die Herren Orlow und Budagow habenschon im Jahre 1881 einen „Index der Fabriken und W erke " zusammen-gestellt, dessen letzte (3.) Ausgabe im Jahre 1894 erschienen ist. Bedeu-

tend früher, schon 1869, wurde im ersten Jahrgang des „Jahrbuchs desFinanzministeriums" eine Liste der Fabriken in den Anmerkungen zuden statistischen Berichten über die Industrie abgedruckt. Als Materialfür alle diese Veröffentlichungen dienten die Berichtsbogen, die die Fabri-kanten und Werkbesitzer laut Gesetz alljährlich beim Ministerium ein-zureichen haben. Die neue Veröffentlichung des Departements für Han-del und Manufakturen, die sich von den früheren Schriften dieser Artdurch eine etwas größere Zahl von Angaben unterscheidet, hat zugleichauch sehr große Mängel, von denen die früheren Veröffentlichungen frei

waren und die es aufs äußerste erschweren, diese Veröffentlichung alsMaterial zur Fabrik- und Werkstatistik zu benutzen. In der Einfüh-rung zum „Verzeichnis" wird ausdrücklich auf den unbefriedigendenStand dieser Statistik in früherer Zeit hingewiesen, und damit wird derZweck der Veröffentlichung klar bestimmt: nicht nur als Nachschlage-werk, sondern eben als statistisches Material zu dienen. Als statistischesWerk jedoch überrascht das „Verzeichnis" durch das absolute Fehlenaller wie immer gearteten zusammenfassenden, summierenden Zahlen.

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Zur 7rcuje unserer Fabrik- und 'We rkstatistik

Man wird hoffen dürfen, daß eine derartige Veröffentlichung, die erste in

ihrer Art, auch die letzte statistische Veröffentlichung ohne zusammen-fassende Zahlen sein wird. Für ein Nachschlagewerk wiederum stellt diegroße Masse rohen Materials in Gestalt von Zahlenhaufen einen über-flüssigen Ballast dar. In der Einführung zum „Verzeichnis" wird an denfrüheren Berichtsbogen, die von den Fabrikanten beim Ministerium ein-gereicht wurden, scharfe Kritik geübt und gesagt, daß sie „immer wiederein und dieselben, sich von Jahr zu Jahr wiederholenden verworrenenAngaben enthielten, die es nicht einmal erlaubten, genau zu ermitteln,welche Menge von W aren hergestellt wurde. Indessen sind möglichst voll-

ständige und zuverlässige Daten über die Gewerbe eine dringende Not-wendigkeit." (S. 1.) Wir werden natürlich kein einziges Wort verlieren,um das völlig veraltete frühere System unserer Fabrik- und Werkstatistikzu verteidigen, das sowohl in der Organisation als auch in der Qualitätder Zeit vor der Reform entspricht. Bedauerlicherweise aber ist voneiner Verbesserung seines Zustands auch heute noch fast nidhts zu be-merken. Das soeben erschienene riesige „Verzeichnis" g ibt noch nicht dasRecht, von irgendwelchen ernst zu nehmenden Änderungen in diesemalten, von allen für untauglich erkannten System zu sprechen. Die Be-

richtsbogen „erlaubten nicht einmal, genau zu ermitteln, welche Mengevon Waren hergestellt wurde..." Jawohl, aber gerade in dem neuesten„Verzeichnis" gibt es ja überhaupt keine Angaben über die Menge derWaren, während z. B. der „Index" des Herrn Orlow diese Angaben fürsehr viele Fabriken geliefert hat, in einigen Gewerben sogar für fast alleFabriken, so daß auch die Ergebnistabelle Angaben über die Menge des Pro-dukts enthält (Ledergewerbe, Branntweinbrennereien, Ziegeleien, Grau-penmühlen, Mehlmühlen, Wachsschmelzereien, Talgsiedereien, Flachs-brechereien, Brauereien). Das Material des „Index" bestand aber geradeaus diesen alten Berichtsbogen. Im „Verzeichnis" gibt es keinerlei An-gaben über die Arbeitsmechanismen, während der „Index" für einigeGewerbe diese Angaben geliefert hat. Die „Einführung" beschreibt diein unserer Fabrik- und Werkstatistik eingetretene Änderung wie folgt:Früher hätten die Fabrikanten „auf Grund eines kurzen und nicht ge-nügend klaren Programms" Angaben durch die Polizei eingereicht, undniemand habe diese Angaben geprüft. „Es ergab sich ein M aterial, ausdem sich keinerlei mehr oder minder exakte Schlußfolgerungen ziehen

1*

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W.I.Cenin

ließen." (S. 1.) Jetzt sei ein neues, bedeutend eingehenderes Programm

zusammengestellt, und die Sammlung und Prüfung der statistischen An-gaben über die Fabriken und Werke obliege den Fabrikinspektoren. Aufden ersten Blick könnte man meinen, wir seien berechtigt, jetzt wirklicherträgliche Daten zu erwarten, denn ein richtiges Programm und einegesicherte Prüfung der Daten sind zwei überaus wichtige Vorbedingungeneiner erfolgreichen Statistik. In W irklichkeit aber befinden sich diese bei-den Bedingungen bis auf den heutigen Tag in dem gleichen primitiv-chaotischen Zustand, in dem sie sich früher befunden haben. Ein ausführ-liches Programm mit Erläuterungen ist in der „Einführung" zum „Ver-

zeichnis" nicht abgedruckt, obgleich die statistische Methodologie erheischt,daß das Programm veröffentlicht wird, auf Grund dessen die Angabeneingeholt worden sind. Aus der folgenden Untersuchung des im „Ver-zeichnis" enthaltenen Materials werden wir sehen, daß die grundlegendenProgrammfragen der Fabrik- und Werkstatistik völlig ungeklärt bleiben.Was nun die Prüfung der Daten anbelangt, so liegt das Urteil einesMannes vor, der praktisch eine solche Prüfung vorgenommen hat, näm-lich des Fabrikoberinspektors für das Gouvernement Cherson, Herrn Mi-kulins, der ein Buch herausgegeben hat, worin die im Gouvernement Cher-son nach dem neuen System gesammelten statistischen Daten bearbeitetworden sind.

„Eine faktische Prüfung aller Zahlenangaben, die von den Besitzernder Gewerbebetriebe in den eingereichten Berichtsbogen gemacht wurden,erwies sich als unmöglich, und deshalb wurden die Berichtsbogen nurdann zur Berichtigung zurückgesandt, wenn sich in ihnen ein offenkun-diger Widerspruch zwischen den Antworten und den Daten anderer, ähn-licher Betriebe oder aber den bei Besichtigung der Betriebe festgestelltenTatsachen fand. Auf jeden lall tragen die Verantwortung für die Richtig-

keit der in den Cisten für jeden 'Betrieb angeführten Zahlenangaben die,die sie gemacht haben." („Die Fabrik- und Werkindustrie und das Hand-werk im Gouvernement Cherson", Odessa 1897, Vorwort. Hervorge-hoben von uns.) Also die Verantwortung für die Genauigkeit der An-gaben tragen nach wie vor die Fabrikanten selbst. Die Vertreter derFabrikinspektion waren nicht nur außerstande, alle Angaben zu prüfen,sondern haben auch (wie wir weiter unten sehen werden) nicht einmalfür ihre Gleichartigkeit und Vergleichbarkeit sorgen können.

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Zur J-rage unserer Fabrik- und Werkstatistik

Alle Mängel des „Verzeichnisses" und seines Materials werden wir

später im einzelnen anführen. Sein grundlegender Mangel aber ist, wiewir bereits sagten, das völlige Fehlen zusammenfassender Zahlen (diePrivatpersonen, die den „Index" zusammenstellten, haben zusammenfas-sende Zahlen gegeben und sie mit jeder Ausgabe vermehrt). Herr Kary-schew, der sich der Mitarbeit von zwei weiteren Personen bediente, istauf den glücklichen Gedanken verfallen, diese Lücke wenigstens teilweisezu schließen und zusammenfassende Angaben über unsere Fabrik- undWerkindustrie nach dem „Verzeichnis" zu errechnen. Ein sehr nützlichesBeginnen, für dessen Verwirklichung alle dankbar wären, wenn.. . ja,

wenn Herr Karyschew erstens wenigstens einige der von ihm gewonnenenErgebnisse in vollständiger Form mitgeteilt hätte und wenn er zweitensbeim Umgang mit dem Material nicht eine Kritiklosigkeit an den Taggelegt hä tte , die an völlige Un genierth eit gren zt. Oh ne das Ma terial auf-merksam behandelt und ohne es auch nur einigermaßen „gründlich" stati-stisch bearbeitet zu haben*, hat sich Herr Karyschew beeilt, „Schluß-folgerungen " zu ziehen , und ist dabei natürlich in eine ganze R eihe kurio-sester Fehler verfallen.

Beginnen wir m it der ersten, grundlegende n Frage der Industriestatistik:

Welche Betr iebe s ind zu „Fabriken und Werken" zu zählen? HerrKarysc hew wirft diese Frage nicht einmal auf; er glaubt offenbar, „Fabrikun d W er k " — das sei etwas durchaus Bestimm tes. Bezüglich des „Ver-"zeichnisses" behauptet er mit einer Kühnheit, die besserer Anwendungwürdig wäre, diese Veröffentlichung registriere zum Unterschied vonfrüheren nicht nur die großen, sondern alle Fabriken. Diese Behauptung,die vom Verfasser zweim al (S . 23 und 34) aufgestellt wird, ist direkt

unwahr. In Wirklichkeit ist es gerade umgekehrt: im Unterschied zu denfrüheren Veröffentlichungen zur Fabrik- und Werkstatistik registriert

das „Verzeichnis" lediglich die größeren Betriebe. Wir werden gleich er-klären, wie Herr Karyschew es fertigbrachte, eine derartige „Kleinigkeit"„nicht zu bemerken", doch zuvor wollen wir eine historische Klarstellunggeben. Bis zur Mitte der achtziger Jahre gab es in unserer Fabrik- und

* Entgegen der Meinung des Rezensenten der „Russkije Wedomosti" [Rus-sische Nachrichten] (Jahrgang 1898, Nr. 144), der offenbar ebenso wenig fähigwar, sich zu den Schlußfolgerungen des Herrn Karyschew kritisch zu verhalten,wie Herr Karyschew zu den Zahlen des „Verzeichnisses".

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W. J.Lenin

Werkstatis t ik keinerlei Definitionen un d Regeln, die den Begriff der Fabrik

auf die größeren Gewerbebetriebe beschränkt hätten. In die Statistik der„Fabriken und Werke" gerieten alle und jegliche gewerbliche (und hand-werkliche) Betriebe, wodurch selbstverständlich unter den Daten größtesChaos angerichtet wurde, da eine lückenlose Registrierung aller der-artigen Betriebe mit den vorhand enen Kräften u nd M itteln (d. h. ohneeine richtige Gewerbezählung) absolut undenkbar ist, und in den einenGouvernements bzw. Gewerben wurden Hunder te und Tausende derkleinsten Betriebe, in den anderen aber nur größere „Fabriken" gezählt.Es ist 'deshalb natürlich, daß die Personen, die zum erstenmal den Ver-

such machten, die Daten unserer Fabrik- und Werkstatistik wissenschaft-lich zu bearbeiten (in den sechziger Jahren), alle Aufmerksamkeit dieserFrage zuwandten und alle Anstrengungen darauf richteten, die Gewerbemit mehr oder weniger glaubwürdigen Daten von den Gewerben mitabsolut unglaubwürdigen Daten zu trennen, die Betriebe, die so großwaren, daß man über sie befriedigende Angaben beschaffen konnte, vonden Betrieben zu trennen, die so klein waren, daß die Beschaffung be-friedigender Angaben über sie unmöglich war. Buschen*, Bock** undTimirjasew*** haben derartig wertvolle Hinweise in allen diesen Fragen

gegeben, daß wir heute wahrscheinlich sehr annehmbare Daten hätten,wenn diese Hinweise von den Autoren unserer Fabrik- und W erkstatis t iksorgfältig beachtet und weiterentwickelt worden wären. In Wirklichkeitaber waren alle diese Hinweise, wie üblich, eine Stimme des Predigers inder Wüste, und die Fabrik- und Werkstatistik befindet sich immer noch indem früheren chaotischen Zustand. Seit 1889 gibt das Departement fürHandel und Manufakturen „Zusammenstellungen von Daten über dieFabrik- und Werkindustr ie in Rußland" heraus (für das Jahr 1885 undfolgende Jahre). In dieser Veröffentlichung wurde ein kleiner Schritt vor-

wä rts geta n: es wurde n die Kleinbetriebe hinausgew orfen, d.h. die Betriebe

* „Jahrbuch des Finanzm inisteriums", 1. Jahrgang , St. Peters burg 1869.** „Statistische Annalen für das Russische Reich", Serie II, Lieferung 6,

St. Petersbu rg 1872. Ma terialien für die Statistik der Fabrik- und W erkindu-strie im Europäischen Rußland, bearbeitet unter Redaktion von J. Bodk.

*** „Statistischer Atlas über die wichtigsten Zw eige der Fabrik- und W erk-industrie im Europäischen Rußland mit Namenliste der Fabriken und Werke",3 Lieferungen, St. Petersburg 1869, 1870 und 1873.

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Zur frage unserer Fabrik- und Werkstatistik

mit einer Produktion von weniger als 1000 Rubel. Es verstellt sich von

selbst, daß diese Norm zu niedrig und zu grob war: an eine vollständigeRegistrierung aller Gewerbebetriebe mit einer Produktion, die über dieserSumme liegt, auch nur zu denken, wäre lächerlich, solange die Angabendurch die Polizei eingeholt werden. Nach wie vor haben die einen Gou-vernements und die einen Gewerbe eine Unzahl Kleinbetriebe mit einerProduktion von 2000 bis 5000 Rubel einbezogen, während andere Gou-vernements und andere Gewerbe sie nicht aufgenommen haben. Beispielewe rden w ir weiter unten ken nenlern en. Schließlich hat das neueste Systemunserer Fabrik- und Werkstatistik ein ganz anderes Merkmal für die

Definition des Begriffs „Fabrik und Werk" eingeführt. Registriert wer-den sollten „alle Gewerbebetriebe" (soweit sie „der Aufsicht" der Tabrik-inspektion „untersteben"), „die mindestens 15 Arbeiter beschäftigen, undebenso alle diejenigen, die zw ar we niger als 15 A rbe iter beschäftigen,aber einen Dampfkessel, eine Dampfmaschine oder andere mechanischeAntriebsmittel und Masch inen oder aber Werk- undTabrikeinrichtuncjen"besitzen.* Auf diese Definition müssen wir ausführlich eingehen (die be-sonders unklaren Punkte haben wir unterstrichen), wollen jedoch zunächstbemerken, daß die hier gegebene Definition „Fabrik und Werk" eine ab-solute Neuheit in unserer Fabrik- und Werkstatistik ist: bisher wurdeniemals der Versuch unternommen, den Begriff „Fabrik" auf Betriebe miteiner bestimmten Arbeiterzahl oder mit Dampfmaschinen und dgl. mehrzu beschränken. Allgemein gesprochen, ist es unbedingt notwendig, denBegriff „Fabrik und Werk" streng zu begrenzen, aber die eben ange-führte Definition leidet bedauerlicherweise an äußerster Ungenauigkeit,Unklarheit und Verschwommenheit. Sie zählt für die Betriebe, die vonder „Fabrik- und Werk"statistik zu erfassen sind, folgende Merkmaleauf: 1. D er Betrieb muß de r Aufsicht der Fabrikinspektion unterste hen.Hierdurch werden offenbar Betriebe, die dem Fiskus usw. gehören, Berg-

und Hüttenwerke und dgl. mehr, ausgeschlossen. In das „Verzeichnis"

* Rundschreiben vom 7. Juni 1895 bei Kobeljazki („Handb uch für die Be-amten der Fabrikinspektion usw.", 4 . Auflage, St. Petersburg 1897, S. 35.Hervorgehoben von uns). In der „Einführung" zum „Verzeichnis" ist diesesRundschreiben nicht abgedruckt, und Herr Karyschew hat sich, als er das Ma-terial des „Verzeichnisses" bearbeitete, nicht darum bemüht, in Erfahrung zubringen, was das „Verzeichnis" unter „Fabriken und Werken" versteht!!

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•W.I.Lenin

aber sind viele Fabriken des Fiskus und der Regierung eingegangen (siehe

Alphabetische Liste, S. 1/2), und wir wissen nicht, ob sie in allen Gou-vernements registriert worden sind, ob die über sie gemachten Angabender Kontrolle der Fabrikinspektion unterlagen usw. überhaupt muß be-merkt werden, daß unsere Fabrik- und Werkstatistik, solange sie sichnicht befreit aus dem Spinnengewebe der verschiedenen „Ämter", zudenen die verschiedenen Gewerbebetriebe gehören, nicht befriedigendsein kann: die Grenzen der Amtsbereiche überschneiden sich oft, unter-liegen Veränderungen; die verschiedenen Ämter werden selbst die glei-chen Programme niemals in der gleichen Weise anwenden. Eine rationelleOrganisation der Sache erfordert notwendigerweise die Konzentration allerAngaben über alle Gewybebetriebe in einer rein statistischen Institution,die sorgfältig darüber wacht, daß bei der Sammlung und Bearbeitung derDaten die gleichen Methoden angewendet werden. Solange das nicht derFall ist, wird man gegenüber den Daten der Fabrik- und Werkstatistik,die Betriebe „eines anderen Amtes" bald einschließen, bald ausschließen(zu versdiiedenen Zeitpunkten und in verschiedenen Gouvernements),äußerste Vorsicht walten lassen müssen. Beispielsweise sind die Berg- undHüttenwerke schon längst aus unserer Fabrik- und Werkstatistik aus-geschlossen, trotzdem aber hat der „Index" Orlows auch in der letztenAusgabe nicht wenige Berg- und Hüttenwerke gezählt (fast die gesamteSchienenproduktion, das Ishewsker und Wotkinsker Werk im Gouverne-ment Wjatka, u. ä. m.), die im „Verzeichnis" nicht gezählt wurden, wäh-rend dieses in einigen anderen Gouvernements Berg- und Hüttenwerkeregistriert, die früher in der „Fabrik-und Werk"statistiknichtgezählt wur-den (beispielsweise die Kupferhütte Siemens im Gouvernement Jelisawet-pol, S. 330). In der „Einführung" zum „Verzeichnis" sind in der Ge-werbegruppe VIII die Eisenverarbeitung, Roheisenerzeugung, Eisen- undKupfergießerei sowie andere Industrien (S. III) genannt, doch w ird ab-

solut nicht gesagt, wie die Betriebe des Bergbaus und Hüttenwesens ge-trennt wurden von den Betrieben, die dem Departement für Handel undManufakturen „unterstellt" sind. 2. Der Registrierung unterliegen ledig-lich gewerbliche Betriebe. Dieses Merkmal ist durchaus nicht so klar, wiees auf den ersten Blick scheinen könnte: die Ausscheidung der handwerk-lichen und der landwirtschaftlichen Betriebe erfordert eingehende undsorgfältige Vorschriften, in denen die Besonderheiten der einzelnen Ge-

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Zur "frage unserer Fabrik- und Werkstatistik

werbe zu berücksichtigen sind. Beispiele für den Wirrwarr, der durch ihr

Fehlen hervorgerufen wird, werden wir weiter unten reichlich kennen-lernen. 3. Die Zahl der Arbeiter eines Betriebs soll mindestens 15 be-tragen . Es ist unk lar, ob lediglich die im Betrieb oder aber auch die außer-halb des Betriebs beschäftigten Arbeiter gezählt werden,- es ist nicht klar-gestellt, wie die einen von den anderen getrennt werden (gleichfalls einenicht einfache Frage), ob die Hilfskräfte gezählt werden usw. HerrMikulin bringt in seinem oben zitierten Buch Beispiele für den aus dieserUnklarheit entstehenden Wirrwarr. Das „Verzeichnis" führt nicht wenigeUnternehmen an, die nur Arbeiter außer Haus, außerhalb des Unter-

nehmens haben. Es versteht sich von selbst, daß ein Versuch,alle

Unter-nehmen dieser Art zu erfassen (d. h. a lle Geschäfte, die Arbeitenvergeben, alle Verleger in den sogenannten Kustargewerben* usw.), an-gesichts des Systems, das gegenwärtig bei der Einholung der Angabenangewandt wird, nur ein Lächeln hervorrufen kann und daß die frag-mentarischen Daten über einige Gouvernements und einige Gewerbe be-deutungslos sind und nur Verwirrung stiften. 4. Zu den „Fabriken undW erken" gehören alle Betriebe, die einen Dampfkessel oder eine Dampf'maschine besitzen. Dieses Merkmal ist am genauesten und am glücklich-sten gewählt, da die Anwendung von Dam pfkraft für die Entwicklungder maschinellen Großindustrie wirklich charakteristisch ist. 5. Zu den„Fabriken und Werken" gehören Betriebe, die „andere" (nicht mit Dampfbetriebene) „mechanische Antriebsmittel" besitzen. Dieses Merkmal istsehr ungenau und übermäßig weit gefaßt: auf Grund dieses Merkmalslassen sich Betriebe mit Wasser-, Pferde- und Windantrieb, ja selbst mitTretwerken zu den Fabriken rechnen. Da von einer lückenlosen Regi-strierung aller derartigen Betriebe keine Rede sein kann, muß unweiger-lich ein Wirrwarr entstehen, für den wir gleich Beispiele kennenlernenwerden. 6. Zu den „Fabriken und Werken" werden Betriebe gerechnet,die „Werk- und Fabrikeinrichtungen" besitzen. Dieses letztere, ganz un-bestimmte und verschwommene Merkmal nimmt allen vorhergehendenjede Bedeutung und macht die Daten unweigerlich chaotisch und unver-gleichbar. In den verschiedenen Gouvernements wird diese Definition un-vermeidlich verschieden verstanden werden, ja, und was ist das auch für

* Kustargewerbe — die vorwiegend ländliche russische Hausindustrie. Sieheauch: W. I. Lenin, Werke, Bd. 3, Kapitel VI, Abschnitt VIII. Der übers.

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10 W.J.lenin

eine Definition? Als Fabrik oder Werk wird ein Betrieb bezeichnet, der

Fabrik- oder Werkeinrichtungen besitzt... Das ist das letzte Wort desneuesten Systems unserer Fabrik- und Werkstatistik. Kein Wunder, daßdiese Statistik so unbefriedigend ist. W ir wollen Beispiele aus alkn Grup-pen des „Verzeichnisses" bringen, um zu zeigen, wie in einzelnen Gou-vernements und in einzelnen Gewerben kleinste Betriebe registriertwerden, was Wirrwarr in die Fabrik- und Werkstatistik hineinbringt, davon einer Aufzählung aller derartigen Betriebe gar nicht die Rede seinkann. Da haben wir Gewerbegruppe I: „Baumwollverarbeitung". AufS. 10/11 finden wir fünf „Fabriken", die in Dörfern des Gouvernements

Wladimir liegen und gegen Bezahlung fremdes Gespinst und Leinwandfärben (sie!*). An Stelle des Werts der Produktion ist die Bezahlung desFärbens mit 10 Rubel (? ) bis 600 Rubel angegeben, bei einer Arbeiterzahlvon 0 (ob dies heißt, daß keine Angaben über die Zah l der A rbeiter vor-liegen oder daß keine £ofmarbeiter beschäftigt werden, ist unbekannt)bis 3. Antriebsmaschinen fehlen ganz. Hier handelt es sich um bäuerlicheFärbereien, d. h. um primitivste Handw erksbetriebe, die in dem einenGouvernement zufällig registriert und in anderen selbstverständlich aus-gelassen werden. In Gruppe II (Wollverarbeitung) finden wir in dem

gleichen Gouvernement Wladimir „Fabriken" nur mit Handarbeit, indenen 0 oder 1 Arbeiter fremde Wolle gegen Zahlung von 12 bis 48 Rubeljährlich kämmen. Da ist eine dörfliche Seidenfabrik (Gruppe III, N r. 2517)mit 3 Arbeitern und einer Produktion von 660 Rubel, nur mit H and-arbeit. Dann gibt es in dem gleichen Gouvernement Wladimir wiederdörfliche Färbereien nur mit Handarbeit, mit 0 bis 3 Arbeitern und einerBezahlung von 150 bis 550 Rubel für die Bearbeitung von Leinwand(Gruppe IV, Flachsverarbeitung, S. 141). Da ist im Gouvernement Permeine Matten „fabrik" (Gruppe V) m it 6 Arbeitern und einer Produktionvon 921 Rubel, auch hier nur Handarbeit (Nr. 3936). In anderen Gou-vernements (z. B. Kostroma) gibt es selbstverständlich gleichfalls nichtwenige derartige Betriebe, sie wurden dort aber nicht als Fabriken gezählt.Eine Druckerei (Gruppe VI) mit 1 Arbeiter und einer Produktion von300 Rubel (Nr. 4167): in anderen Gouvernements wurden lediglich großeDruckereien gezählt, in wieder anderen wurden Druckereien überhauptnicht gezählt. Ein Säge „werk" mit 3 Arbeitern und einer Bezahlung von

*"so! Die Red.

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Zur 7rage unserer Fabrik- und Werkstatistik 11

100 Rubel für die Herstellung von Dauben (Gruppe VII , Nr. 6274). Da

ist ein W er k für Metallverarb eitung (G rup pe VIII) mit 3 Arb eitern undeiner Produk tion von 575 Rubel, nur Han darbeit (N r. 8962) . In Grup pe IX(Verarbeitun g von M ineralien) gibt es sehr viele kleinste Betriebe, beson-ders Ziegeleien, beispielsweise mit 1 Arb eiter, einer Produk tion von 48bis 50 Rubel u. ä. m. In Gruppe X (Verarbeitung tierischer Produkte)finden sich Ideine Talg lichtziehe reien, Schaffellkürschnereien, Ge rbereie nund andere derartige Betriebe, in denen es nur Handarbeit gibt, mit 0oder 1 bis 2 Arbeitern und einer Produktion von ein paar Hundert Rubel(S . 489, 507 u. a.). Die meisten Kleinbetriebe von rein handwerklichemTypus jedoch gibt es in Gruppe XI (Nahrungsmittel industr ie) , in der öl-schlägerei und besonders im Müllereigewerbe. Gerade in diesem letz-teren Gewerbe ist es am wichtigsten, die „Werke" streng von den Klein-betrieben abzugrenzen, bisher aber ist das nicht getan worden, und inallen Veröffentlichungen über unsere Fabrik- und Werkstatistik herrschtein völliges Chaos. Ein Versuch, die Statistik des Müllereigewerbes vomFabrik- und Werktypus in Ordnung zu bringen, der von dem ersten Kon-greß der Sekretäre der statistischen Gouvernementskomitees (im Mai1870) unternommen wurde*, blieb gleichfalls ergebnislos, und seitdemscheinen die Autoren unserer Fabrik- und Werkstatistik gar nicht mehran die völlige Untauglichkeit der von ihnen veröffentlichten Daten zudenken. Das „Verzeichnis" hat unter die „Fabriken und Werke" bei-spielsweise W indm ühle n m it 1 Arb eiter un d 0 bis 52 Rubel Za hlun g fürdie Arb eit usw. (S. 587 , 589 und viele andere) aufge nom men, W asser-müh len mit einem Rad, mit 1 Arbeiter, m it 34 bis 80 Rubel Zah lung fürdie Arbeit usw. (S. 589 und viele andere) und dgl. mehr. Selbstverständ-lich ist eine solche „Statistik" einfach lächerlich, denn mit einer Auf-zählun g de rartiger M ühle n ließe sich noch ein Band, ja ließen sich me hrereBände füllen, und dennoch würde die Aufzählung nicht vollständig sein.

Selbst in die Gruppe Chemische Gewerbe (XII) sind Kleinbetriebe ge-raten , beispielsweise dörfliche Pechsiedereien m it 1 bis 3 Ar beit ern un d

* Gemäß dem von dem Kongreß aufgestellten Entwurf von Regeln für dieSammlung von Angaben über die Industrie wurden aus der Zahl der Fabrikenalle Mühlen mit weniger als 10 Mahlgängen ausgeschlossen, die Graupenmüh-len aber nicht. „Statistische Annalen", Serie II, Lieferung 6, Einleitung,S. XIII.

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12 W .1 Centn

einer Produktion von 15 bis 300 Rubel (S. 995 u. a.). Mit derartigen

Methoden könnte man sidi audi bis zu der „Statistik" versteigen, die inden sediziger Jahren das bekannte „Militärstatistisdie Handbudi" pro-duzierte, das im Europäisdien Rußland 3086 Pech- und Teer „werke"zählte, darunter 1450 im Gouvernement Ardiangelsk (mit 4202 Arbeiternund einer Produktion von 156274 Rubel, d.h ., durchschnittlich kamenweniger als 3 Arbeiter und etwas mehr als 100 Rubel auf das „Werk").Und ausgeredinet das Gouvernement Ardiangelsk wird vom „Verzeidi-nis" in dieser Gewerbegruppe überhaupt nidit angeführt: wahrsdieinlidisieden dort die Bauern kein Pech mehr und haben aufgehört, Teer her-

zustellen ! W ir wollen bemerken, daß in allen von uns erwähnten Beispie-len Betriebe registriert worden sind, auf die die Definition des Rund-schreibens vom 7. Juni 1895 nicht anwendbar ist. Deshalb ist ihre Regi-strierung rein zufällig: in einigen Gouvernements (vielleicht sogar Kreisen)wurden sie gezählt, in den meisten ausgelassen. In der früheren Statistik(seit 1885) wurden derartige Betriebe nidit registriert, da ihre Produktionunter 1000 Rubel liegt.

Obgleidi sidi Herr Karysdiew in dieser grundlegenden Frage derFabrik- und Werkstatistik absolut nidit zureditgefunden hat, hat er sich

doch nicht gescheut, „Schlußfolgerungen" aus den Zahlen zu ziehen, diebei seinen Beredinungen herauskamen. Die erste dieser Sdilußfolge-rungen lautet, die Zahl der Fabriken in Rußland gehe zurüde (S. 4 u. a.).Um zu dieser Sdilußfolgerung zu gelangen, verfuhr Herr Karysdiewäußerst einfadi: er nahm die Zahl der Fabriken für 1885 nadi den An-gaben des Departements für Handel und Manufakturen (17014) undzog von ihr die Zahl der Fabriken im Europäisdien Rußland nadi dem„Verzeidinis" (14578) ab. Es ergibt sidi ein Rückgang um 14,3 Prozen t —

der Herr Professor berechnet sogar die Höhe des Prozentsatzes, ohne

sich dadurch beirren zu lassen, daß die Angaben für 1885 die akzise-pfliditigen Betriebe nicht einschließen; er beschränkt sich auf die Bemer-kung, die Hinzunahme der akzisepflichtigen Betriebe würde den „Rüde-gang" der Za hl der Fabriken noch vergrößern. Ferner macht sidi der Autordaran, zu untersudien, in weldiem Teil Rußlands dieser „Prozeß desRückgangs der Zahl der Betriebe" (S. 5) „rascher" erfolgt. In Wirklich-keit ist keinerlei Rüdkgangsprozeß zu verzeiämen, die Zahl der Täbrikenin Rußland vermindert sidb nidbt, sondern nimmt zu, und die von Herrn

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Zur Trage unserer Fabrik- und Werkstatistik 13

Karyschew fabrizierte Schlußfolgerung ist dadurch zustande gekommen,

daß der gelehrte Professor absolut unvergleichbare Zahlen miteinandervergleicht.* Und diese Unvergleichbarkeit kommt keineswegs daher, daßfür 1885 Angaben über die akzisepflichtigen Betriebe fehlen. Herr Kary-schew hätte auch Zahlen nehmen können, die die akzisepflichtigen Be-triebe einschließen (aus dem schon zitierten „Index" Orlows, der nachden gleichen Berichtsbogen des Departements für Handel und Manufak-turen zusammengestellt worden ist), er hätte auf diese Weise die Zahlder „Fabriken" im Europäischen Rußland mit 279 86 für 1879, mit 27 235für 1884, mit 21124 für 1890 feststellen können, und der „Rückgang"

für 1894/95 (14578) hätte sich als unvergleichlich stärker erwiesen. DasMalheur ist nur, daß alle diese Zahlen für einen Vergleich ungeeignetsind, erstens, weil der Begriff „Fa brik" in den alten un d in den jetz igenVeröffentlichungen über Fabrikstatistik nicht der gleiche ist, und zweitens,weil unter die „Fabriken" zufällig und regellos (für gewisse Gouverne-ments, für gewisse Jahre) kleinste Betriebe geraten, an deren lückenloseRegistrierung angesichts der vorhandenen Mittel unserer Statistik auchnur zu denken lächerlich wäre. Hätte z. B. Herr Karyschew sich die Mühegemacht, die im „Verzeichnis" gegebene Definition der „Fabrik" zu un-tersuchen, so hätte er gesehen, daß zum Vergleich der Zahl der Fabrikennach dieser Veröffentlichung mit der Zahl der Fabriken nach anderen Ver-öffentlichungen aussdbHeßHdb Betriebe mit 15 und mehr Arbeitern ge-

nommen werden dürfen, da das „Verzeichnis" nur diese Art Betriebe voll-ständig und ohne jegliche Einschränkung für alle Gouvernements und füralle Gewerbe registriert hat. Da derartige Betriebe zu den verhältnis-mäßig großen gehören, so ist ihre Registrierung auch in den früherenVeröffentlichungen am befriedigendsten. Nachdem wir auf diese Art fürGleichartigkeit der zu vergleichenden Zahlen gesorgt haben, berechnen

* Im Jahre 1889 nahm Herr Karyschew („Juriditscheski Westnik" [Juri-stischer Bote] Nr. 9) für 1885 Zahlen, die aus den alleruntertänigsten Berich-ten der Herren Gouverneure entnommen waren, Zahlen, in denen Tausendeder kleinsten Mühlen, Ölmühlen, Ziegeleien, Töpfereien, Gerbereien, Schaffell-kürschnereien und andere Kustarbetriebe enthalten waren, und bestimmte dieZahl der „Fabriken" im Europäischen Rußland auf 62 80 1! Wir wundern uns,warum er eigentlich den prozentualen „Rückgang" der Zahl der Fabriken inder Gegenwart nicht im Verhältnis zu dieser Zahl berechnet hat.

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wir die Zahl der Fabriken mit 16* und mehr Arbeitern nach dem „Index"

für 1879 und nach dem „Verzeichnis" für 1894/95 im Europäischen Ruß-land. Wir erhalten die folgenden lehrreichen Zahlen:

Qnellen

„Index", I.Ausgabe„Index", 3. Ausgabe

„Verzeichnis"

Jahr

18791890

1894/95

Zahl der Fabriken und Werke im EuropäischenRußland

insgesamt

27986**21124

14578

mit 16 und mehrArbeitern

45516013

6659,o h n e

Druckere iendagegen

6372

mit weniger als16 Arbeitern

2343515111

7919

Somit zeigt ein Vergleich der Zahlen, die allein als annähernd gleich-artig, vergleichbar und vollständig anerkannt werden können, daß dieZahl der Fabriken in Rußland zunimmt, und zwar ziemlich schnell: in15 -1 6 Jahren (18 79-18 94/95) von 4500 auf 6 400, d. h. um 40 Prozent

(die Druckereien wurden 1879 und 1890 nicht zu den Fabriken gezählt).Was nun die Zahl der Betriebe mit weniger als 16 Arbeitern anbelangt,so wäre es unsinnig, sie für die genannten Jahre vergleichen zu wollen,weil in allen diesen Veröffentlichungen verschiedene Definitionen der„Fabrik", verschiedene Systeme bei der Ausscheidung der kleinen Betriebeangewendet wurden. Im Jahre 1879 wurden überhaupt keine Klein-betriebe weggelassen; deshalb wurde in Gewerben, die sich mit der Land-wirtschaft und den bäuerlichen Gewerben (Müllerei, ölschlägerei, Ziege-lei, Gerberei, Töpferei u. ä.) berühren, eine Menge kleinster Betriebe

gezählt, die in späteren Ausgaben ausgeschieden worden sind. Im Jahre

* Wir nehmen 16 und nicht 15 Arbeiter teilweise deswegen, weil die Fabri-ken mit 16 und m ehr Arbe itern schon im „Index" für 1890 gezählt worden sind(3 . Au sgabe , S. X), teilweise deswegen, weil die Erläuterungen des Finanz-ministeriums mitunter diese Norm wählen (siehe Kobeljazki, 1. c. [loco citato —am angeführten Ort. Die Red.], S. 14).

** Einige fehlende Angaben sind annäh ernd ergä nzt w orden: siehe „Ind ex",S. 695.

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Zur 7racje unserer Jabrik- und 'Werkstatistik 15

1890 wurden bereits manche Kleinbetriebe (mit einer Produktion bis zu

1000 Rubel) ausgeschieden; daher auch weniger kleine „Fabriken". Schließ-lich wurde 1894/95 eine Menge von Betrieben mit weniger als 15 Arbei-tern ausgeschieden, wodurch auch sofort die Zahl der kleinen „Fabriken"gegenüber 1890 fast auf die Hälfte zurückging. Die Zahl der Fabriken für1879 und die für 1890 könnten noch auf eine andere Weise vergleichbargemacht werden, indem man nämlich nur die Betriebe mit einer Produk-tion von mindestens 2000 Rubel nimmt. Die Sache ist die, daß sich dieErgebnisse des „Index", die wir weiter oben angeführt haben, auf alleder Registrierung unterliegenden Betriebe beziehen, während der „Index"in das "Namenverzeichnis der Fabriken nur Betriebe mit einer Produktionvon mindestens 2000 Rubel aufgenommen hat. D ie Zahl der Betriebe die-ser Art darf als annähernd vergleichbar gelten (obwohl ein Verzeichnisderartiger Betriebe beim gegenwärtigen Stand unserer Statistik niemalsvollständig sein kann), jedoch mit Ausnahme der Müllerei. In diesemGewerbe trägt die Registrierung sowohl im „Index" als auch in der „Zu-sammenstellung" des Departements für Handel und Manufakturen nachverschiedenen Gouvernements und für verschiedene Jahre ganz zufälligenCharakter. In einigen Gouvernements werden nur Dampfmühlen als„Fabriken" gerechnet, in anderen werden die größten Wassermühlen

hinzugezählt, in wieder anderen werden H underte von Windmühlen mit-gerechnet, in noch anderen sogar Mühlen mit Pferde- und Tretantriebusw. Die Beschränkung auf einen bestimmten Produktionswert beseitigtdas Chaos in der Statistik der Mühlen vom Werktypus durchaus nicht,weil hier an Stelle des Produktionswerts die Mehlmenge genommen wird,die sich auch in sehr kleinen Mühlen häufig auf mehr als 2000 Pudjährlich beläuft. Aus diesem Grunde macht die Zahl der Mühlen, die indie Fabrik- und Werkstatistik geraten, wegen der Ungleichartigkeit derRegistrierungsmethoden unglaubliche Sprünge in den einzelnen Jahren.

So hat z. B. die „Zusammenstellung" für 1889, 1890 und 1891 im Euro-päischen Rußland 5073, 5605 und 5201 Mühlen gezählt. Im Gouverne-ment Woronesh stieg die Zahl der Mühlen von 87 im Jahre 1889 gleichauf 285 im Jahre 1890 und 483 im Jahre 1892, da zufällig die Wind-mühlen m itgezählt wurden. Im Dongebiet ist die Zahl der Mühlen von 59im Jahre 1887 auf 545 im Jahre 1888 und auf 976 im Jahre 1890 gestiegen,um dann im Jahre 1892 auf 685 zu fallen (denn die Windmühlen w urden

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16 W J.Lenin

das eine Mal gezählt, das andere M al nicht gezählt) usw. usf. Es ist natür-

lich unzulässig, solche Zahlen zu benutzen. Wir nehmen deshalb nur dieDampfmühlen, und durch Hinzufügung der Betriebe der übrigen Indu-strien mit einer Produktion von mindestens 2000 Rubel erhalten wir für1879 rund 11 500 und für 1890 rund 15 500 Fabriken im EuropäisdienRußland.* Folglich sehen wir wiederum eine Zunahme der Zahl der Fa-briken und nicht den von Herrn Karyschew fabrizierten Rückgang. DieTheorie des Herrn Karyschew vom „Prozeß des Rückgangs der Zahl derBetriebe" in der Fabrik- und W erkindustrie Rußlands ist eine reine Fabel,die auf einer mehr als ungenügenden Kenntnis des Materials beruht, andessen Bearbeitung er sich gemacht hat. Herr Karyschew befaßte sich schon1889 mit der Z ahl der Fabriken in Rußland („ JuriditscheskiWestnik" Nr. 9),wobei er absolut untaugliche Zahlen, entnommen den alleruntertänigstenBerichten der Herren Gouverneure und abgedruckt in der „Sammlungstatistischer Angaben über Rußland für die Jahre 1884 und 1885" (St. Pe-tersburg 1887, Tabelle XXXIX), mit den kuriosen Zahlen des „Militär-statistischen Handbuchs" (Lieferung IV, St. Petersburg 1871) verglich, daszu den „Fabriken" Tausende kleinster Handwerks- und Kustarbetriebe,Tausende von Tabakpflanzungen (sie! siehe S. 345 und 414 des „Militär-statistischen Handbuchs" über die Tabak„fabriken" des Gouvernements

Bessarabien), Tausende landwirtschaftlicher Mühlen, Ölmühlen usw. usf.rechnete. Kein W und er, daß das „Militärstatistische Handbuch" auf solcheWeise für 1866 mehr als 70000 „Fabriken" im Europäisdien Rußlanderrechnet hat. Es ist verwunderlich, daß sich ein Mann gefunden hat, dersich zu jeder gedruckten Zahl so unaufmerksam und unkritisch verhält,daß er sie unbesehen zur Grundlage von Berechnungen macht.**

* Aus den Daten des „Verzeichnisses" kann eine entsprechende Zahl nichtgewonnen werden, erstens, weil es eine Menge Betriebe mit einer Produktionvon 2000 Rubel und mehr aus dem Grunde ausscheidet, daß sie weniger als15 Arbeiter haben. Zweitens, weil das „Verzeichnis" den Produktionswert (zumUnterschied von der früheren Statistik) ohne Akzise berechnet hat. Drittens,weil das „Verzeichnis" zuweilen nicht den Produktionswert, sondern die Be-zahlung für Bearbeitung des Rohmaterials zugrunde legt.

** He rr Tugan-Baranowski hat am Beispiel der Zahl der F abrik- und W erk-arbeiter bereits die völlige Untauglichkeit der Zahlen des „MilitärstatistischenHandbuchs" gezeigt (siehe sein Buch „Die Fabrik usw.", St. Petersburg 1898,

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Zur Trage unserer "Fabrik- und Werkstatistik 17

Hier ist eine kleine Abschweifung notwendig. Herr Karyschew folgert

aus seiner Theorie vom Rückgang der Zahl der Fabriken, daß ein Prozeßindustrieller Konzentration vor sich gehe. Es ist selbstverständlich, daß

wir mit der Ablehnung seiner Theorie keineswegs diese Schlußfolgerung

bestreiten, die von Herrn Karyschew lediglich falsdi bewiesen wird. Um

diesen Prozeß zu beweisen, müssen die größten Betriebe gesondert be-

trachtet werden. Nehmen wir z. B. die Betriebe mit 100 und mehr Ar-

beitern. Stellen wir die Zahl dieser Betriebe, die Zahl ihrer Arbeiter und

den Wert ihrer Produktion den Angaben über alle Betriebe gegenüber,

so erhalten wir die folgende Tabelle:

Siehe Anmerkimg *

Alle „Fabriken undWe r ke "Betriebe mit 100 un dmehr Arbeitern

[n P rozenten zurGesamtzahl

1879

Zahl der

F

k

27986

1238

Arbe

763152

509643

66,8%

Po

o

inaeRu

1148134

629926

54,8%

1890

Zahl der

Fk

21124

1431

Abe

875764

623146

71,1%

Po

o

inaeRu

1500871

858588

57,2%

1894/95

Zahl der

F

k

14578

1468

_

Arbe

885555

655670

74 %

Po

o

inaeR

1345346

955233

70,8%

Aus dieser Tabelle ist zu ersehen, daß die Zah l der sehr großen Be-

t r iebe und ebenso auch die Zahl der in ihnen beschäftigten Arbeiter sowieder Produktionswert steigen und-daß diese einen immer größer wer-

S. 336ff., sowie „Mir Boshi"2, Jahrgang 1898, Nr. 4), und die Herren N.-on 3

und Karyschew beantworten seine direkte Herausforderung mit Schweigen.Und in der Tat, es bleibt ihnen auch nichts anderes übrig als zu schweigen.

* Die Quellen sind die gleichen. Für das Jahr 1879 wurden, wie bereits be-

merkt, einige Zahlen annähernd ergänzt. Die Gesamtzahlen der „Indizes"und des „Verzeichnisses" sind nicht vergleichbar, doch vergleichen wir hiernur den prozentualen Anteil an der Gesamtzahl der Arbeiter und am Wertder gesamten Produktion, und diese Zahlen sind in den Resultaten bedeutendglaubwürdiger (wie wir unten zeigen werden) als die Angaben über die Ge-samtzahl der Fabriken. Die Berechnung der Großbetriebe ist dem Werk überden „Kapitalismus in Rußland"* entnommen, das der Schreiber dieser Zeilenzum Druck vorbereitet.

2 Lenin, Werke, Bd. 4

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18 W.J.Lenin

denden Teil der Gesamtzahl der Arbeiter und des Werts der gesamten

Produktion in den offiziell registrierten „Fabriken und Werken" aus-machen. Man könnte uns vielleicht entgegnen: Wenn Konzentration derIndustrie stattfindet, so heißt dies, daß die großen Betriebe die kleinenverdrängen und die Zahl der letzteren, folglich also auch die Zahl allerBetriebe, sinkt. Erstens aber gilt diese letztere Schlußfolgerung nidit mehrallein für die „Fabriken und Werke", sondern für alle Qew erbebetriebe,

von denen zu sprechen wir kein Recht haben, da es bei uns keine auch nureinigermaßen glaubwürdige und vollständige Statistik der Gewerbebe-triebe gibt. Zweitens kann man auch vom rein theoretischen Standpunkt

aus , a priori *, nicht sagen, d aß in d er sich entwickelnden kapitalistischenGesellschaft unbedingt und immer die Zahl der Gewerbebetriebe abneh-men muß, denn neben dem Prozeß industrieller Konzentration geht einProzeß der Abziehung der Bevölkerung von der Landwirtschaft, ein Pro-zeß der Vermehrung der industriellen Kleinbetriebe in den rückständigenTeilen des Landes infolge der Auflösung der halbnaturalen Bauernwirt-schaft usw. vor sich.**

Kehren wir zu Herrn Karyschew zurück. Den am wenigsten glaub-würdigen Angaben (nämlich den Angaben über die Zahl der „Fabriken

und Werke") widmet er beinah die größte Aufmerksamkeit. Er teilt dieGouvernements nach der Zahl der „Fabriken" in Gruppen ein, stellt einKartogramm mit Kennzeichnung dieser Gruppen und eine besondere Ta-belle der Gouvernements mit der größten Zahl der „Fabriken" in jederGewerbegruppe zusammen (S. 16/17); er errechnet eine Menge Zahlenüber den prozentualen Anteil der Fabriken in den einzelnen Gouverne-ments an der Gesamtzahl der Fabriken (S. 12—15). Herr Karyschew hathierbei eine Kleinigkeit vergessen: er hat vergessen zu fragen, ob die An-

gaben über die Zahl der "Fabriken in den versdsiedenen Qouvernements

vergleichbar sind. Diese Frage ist zu verneinen, und folglich gehört dergrößte Teil der Berechnungen, Zusammenstellungen und Betrachtungen

* im voraus. Die Red.** Die „Kustarzählung" von 1894/95 im Gouvernement Perm hat z. B. ge-

zeigt, daß in der Zeit nach der Reform in den Dörfern mit jedem Jahrzehntimmer mehr kleine Gewerbebetriebe gegründet werden. Siehe „Übersicht überdas Permer Gebiet. Skizze des Zustands der Kustarindustrie im Gouverne-ment Perm ", Perm 1896.

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Zur 7rage unserer 7abrik- und Werkstatistik 19

des Herrn Karyschew ins Gebiet harmloser statistischer Übungen. Hätte

sich der Herr Professor mit der Definition des Begriffs „Fabrik undWerk" im Rundschreiben vom 7. Juni 1395 vertraut gemacht, so hätte erleicht erraten, daß eine so unklare Definition in den verschiedenen Gou-vernements nidbt gleichartig angewandt werden kann, und eine aufmerk-samere Prüfung des „Verzeichnisses" selbst hätte ihm zu der gleichenSchlußfolgerung verholfen. Bringen wir Beispiele. Nach der Zahl der Be-triebe in Gruppe XI (Nahrungsmittelindustrie; in dieser Gruppe ist dieZahl der Fabriken am größten) hebt Herr Karyschew die GouvernementsWoronesh, Wjatka, Wladimir hervor (S. 12). Aber die hohe Zahl der

„Fabriken und Werke" in diesen Gouvernements erklärt sich vor allemdadurch, daß gerade in diesen Gouvernements rein zufällig solche Klein-betriebe registriert wurden, die in den anderen Gouvernements nicht er-faßt worden sind. Das Gouvernement Woronesh beispielsweise weist ein-fach deshalb viele „Werke" auf, weil hier kleine Mühlen (von 124 Müh-len haben nur 27 Dampfbetrieb; viele Wassermühlen haben 1 Rad bzw.2 oder 3 Räder. Derartige M ühlen wurden in den anderen Gouvernementsnicht gezählt, ja, es wäre unmöglich, sie vollständig zu erfassen) und kleineÖlmühlen (zum größten Teil mit Pferdeantrieb) gezählt wurden, die in

anderen Gouvernements nicht gezählt worden sind. Im GouvernementWjatka sind von 116 Mühlen nur 3 Dampfmühlen, im GouvernementWladimir sind ein Dutzend Windmühlen und 168 Ölmühlen, davon eingroßer Teil mit Wind- oder Pferde- oder aber Handantrieb, mitgezähltworden. Wenn in den anderen Gouvernements weniger Betriebe gemeldetsind, so heißt das natürlich nicht, daß es dort keine Windmühlen, keinekleinen Wassermühlen und dgl. gäbe. Sie wurden dort nur nicht erfaßt.In einer ganzen Reihe von Gouvernements wurden fast ausschließlich dieDampfmühlen gezählt (Bessarabien, Jekaterinoslaw, Taurien, Cherson

u. a.), aber das Müllereigewerbe stellt in Gruppe XI 2308 „Fabriken" von6233 im Europäischen Rußland. Es war unsinnig, von der Verteilung derFabriken auf die Gouvernements zu reden, ohne die lAngleidbartigkeitder Angaben klargestellt zu haben. N ehmen wir G ruppe IX, Verarbeitungvon Mineralien. Da gibt es z. B. im Gouvernement Wladimir 96 Ziege-leien und im Gouvernement Don 31, d. h. weniger als ein Drittel davon.Nach dem „Index" (für 1890) war es umgekehrt: im GouvernementWladimir 16 und im Gouvernement Don 61 Betriebe. Es stellt sich her-

2*

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aus, daß laut „Verzeichnis" im Gouvernement Wladimir von 96Betrieben

nur 5 Betriebe 16 und m ehr Arbe iter haben , im Gou vernem ent D on aber26 (von 31). Natürlich erklärt sich die Sache einfach dadurch, daß imDo ngebiet die kleinen Ziegeleien nicht so großzügig zu „W erk en" gemachtwurden wie im Gebiet Wladimir, und weiter nichts (die kleinen Ziege-leien im Gouvernement Wladimir sind sämtlich Betriebe mit reiner Hand-arbeit) . Herr Karyschew sieht von alledem nichts (S. 14). Von Gruppe X(Verarbeitung tierischer Produkte) sagt Herr Karyschew, die Zahl derBetriebe sei fast in allen Gouvernements geringfügig, jedoch „eine krasseAusnahm e macht das Gouv ernement Nishni-Now gorod mit seinen 252 Fa-

briken" (S. 14). Das kommt vor allem daher, daß in diesem Gouverne-ment sehr viele kleine Betriebe nur mit Handarbeit gezählt worden sind(ab und zu mit Pferde- und Windantr ieb) , d ie in den anderen Gouver-nements nicht gezählt wurden. Im Gouvernement Mogiljow beispielsweisezählt das „Verzeichnis" nur 2 Fabriken in dieser Gruppe,- jede von ihnenhat über 15 Arbeiter. Man hätte im Gouvernement Mogiljow ebenfallsDutzende von Kleinbetrieben zur Verarbeitung tierischer Produkte zu-sammenbringen können, wie sie auch im „Index" für 1890 zusammen-gebracht wo rden sind, der für dies Gouv ernem ent 9 9 W erk e zu r Ver-

arbeitung tierischer Produkte angibt. Es fragt sich nun: Welchen Sinnhaben hiernach die Berechnungen des Herrn Karyschew über die prozen-tuale Verteilung so verschieden verstandener „Fa brike n"?

Um die verschiedene Auffassung des Term inus „Fabrik" in verschiede-nen Gouvernements recht anschaulich zu zeigen, nehmen wir zwei be-nachbarte Gou vernem ents: Wladimir un d Kostroma. Das erste zählt , laut„Verzeichnis", 993 „Fabriken", das zweite 165. In dem ersten gibt es inallen Industrien (Gewerbegruppen) kleinste Betriebe, die die großen zah-lenmäß ig erdrücken (nu r 324 Betriebe habe n 16 und m ehr Arb eiter). In

dem zw eiten gibt es sehr wenige Kleinbetriebe (1 12 Fab riken von 165habe n 16 und mehr A rbeite r), obgleich jeder begreift, da ß auch hier nichtwenige W indm ühlen, Ö lmühlen , Kleinbetriebe zur Erzeugung von Stärke,Ziegeln, Pech usw. usf. zusammengebracht werden könnten.*

* Hier noch ein Beispiel für die willkürliche Bestimmung der Zahl der „Fa-briken" in unserem „neuesten" System der Fabrik- und Werkstatistik. Fürdas Jahr 1894/95 errechnet das „Verzeichnis" im Gouvernement Cherson 471Fabriken (H err Karyschew, zitiertes W erk, S. 5), für 1896 aber errechnet H err

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Zur 7mge unserer Fabrik- und Werkstatistik 21

Die Sorglosigkeit des Herrn Karyschew hinsichtlich der Glaubwürdig-

keit der von ihm verwendeten Zahlen überschreitet alle Grenzen, wo erdie Angaben über die Zahl der „Fabriken" in den einzelnen Gouverne-ments für 1894/95 (nach dem „Verzeichnis") und für 1885 (nach der„Zusammenstellung") vergleicht. Hier werden mit ernstester Miene Be-trachtungen darüber angestellt, daß im Gouvernement Wjatka die Zahlder Fabriken zugenommen, im Gouvernement Perm „bedeutend abge-nomm en", im Gouvernement Wladimir wesentlich zugenommen habe un d 'dgl. mehr (S. 6/7 ). „Auch hieran kann man erkennen", schließt unserAutor tiefsinnig, „daß der erwähnte Prozeß des Rückgangs der Zahl der

Fabriken die Gegenden mit entwickelterer, älterer Industrie weniger be-rühr t als die, wo sie jünger ist." (S. 7.) Eine derartige Schlußfolgerungklingt sehr „gelehrt" ; schade nu r, daß sie völlig unsinnig ist. Die von He rrnKaryschew verwendeten Zahlen sind absolut zufällig. Im GouvernementPerm z. B. belief sich nach der „Zusammenstellung" in den Jahren 1885bis 1890 die Zahl der Fabriken auf 1001, 895, 951, 846, 917 und 1002,dann aber, für 1891, fällt diese Zahl plötzlich auf 585. Eine der Ursachendieser Sprünge besteht darin, daß einmal (1890) 469, das andere Mal(1891) 229 Mühlen zu den „Fabriken" gerechnet werden. Wenn das„Verzeichnis" in diesem-Gouvernement nur 362 Fabriken rechnet, so mußbeachtet werden, daß es nur noch 66 Mühlen in die Zahl der „Fabriken"einbezieht. Wenn sich im Gouvernement Wladimir die Zahl der „Fa-briken" vergrößert hat, so müssen wir uns erinnern, daß das „Verzeich-nis" die Kleinbetriebe dieses Gouvernements registriert. Die „Zusam-menstellung" zählte für die Jahre 1887—1892 im Gouvernement Wjatka1, 2, 2, 30, 28, 25 Mühlen, das „Verzeichnis" dagegen zählte 116. Kurz-um, der von H errn Karyschew unternommene Vergleich beweist nur aberund abermals seine völlige Unfähigkeit, mit den Zahlen verschiedenerQuellen richtig umzugehen.

W o er die Zahl der Fabriken nach den verschiedenen Gewerbegruppenbringt und ihren prozentualen Anteil an der Gesamtzahl der Fabrikenberedinet, da bemerkt Herr Karyschew wiederum nicht, daß eine un-

Mikulin bereits plötzlich 1249 „Fabrik- und Werkbetriebe" (zitiertes Werk,S. XIII), darunter 773 mit mechanischem Antrieb und 109 ohne mechanischenAntrieb mit einer Arbeiterzahl von mehr als 15. Angesichts der Unklarheit desBegriffs „Fabrik" werden derartige Sprünge stets unvermeidlich sein.

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gleiche Anzahl von Kleinbetrieben in die verschiedenen Gruppen geraten

ist (beispielsweise ist ihre Anzahl in der Textilindustrie und im Hütten-wesen am geringsten, etwa ein Drittel der Gesamtzahl für das EuropäischeRußland, w ährend sie in der Industrie für die Verarbeitung von tierischenProdukten und in der Nahrungsmittelindustrie zwei Drittel de r Gesamtzahlerreicht). Natürlich kommt es bei ihm auf diese Weise zu einem Vergleichungleichartiger Größen, und die Prozentberechnungen (S. 8) sind ohnejeden Sinn. Kurzum, in der ganzen Frage nach der Zahl der „Fabriken"und ihrer Verteilung hat Herr Karyschew völliges Unverständnis für denCharakter der von ihm verwendeten Daten und den Grad ihrer Glaub-

würdigkeit an den Tag gelegt.Um von der Zahl der Fabriken zur Zahl der Arbeiter zu kommen,

müssen wir vor allem sagen, daß die Angaben über die Gesamtzahl derArbeiter in unserer Fabrik- und Werkstatistik bedeutend glaubwürdigersind als die Angaben über die Zahl der Fabriken. Wirrwarr gibt es auchhier natürlich nidit wenig, ebenso Auslassungen sowie Angaben, die ge-ringer sind als die wirkliche Zahl. Es gibt hier jedoch keine solche Bunt-scheckigkeit der Daten, und die maßlosen Schwankungen in der Zahlder Kleinbetriebe, die bald zu den Fabriken gerechnet, bald nicht dazu

gerechnet werden, haben eine sehr geringe Auswirkung auf die Gesamt-zahl der Arbeiter aus dem einfachen Grunde, weil selbst ein sehr bedeu-tender Prozentsatz kleinster Betriebe einen sehr geringen Prozentsatzder Gesamtarb eiterzahl ergibt. W ir haben oben gesehen, daß im Jahre1894/95 in 1468 Fabriken (10 Prozent der Gesamtzahl) 74 Prozent derArbeiter konzentriert sind. Die Zahl der kleinen Fabriken (mit wenigerals 16 Arbeitern) beträgt 7919 von 14578, d. h. mehr als die Hälfte, undungefähr werden in ihnen (selbst wenn man durchschnittlich 8 Arbeiterje Betrieb rechnet) höchstens 7 Prozent der Arbeiter beschäftigt sein.Daher auch die Erscheinung, daß bei sehr großem Unterschied in derZahl der Fabriken für 1890 (nach dem „Index") und für 1894/95 derUnterschied in der Zahl der Arbeiter unbedeutend ist: 1890 waren es875764 in den 50 Gouvernements des Europäischen Rußlands, 1894/95aber 885 555 (wir rechnen nur Arbeiter innerhalb des Betriebs). Ziehenwir von der ersten Zahl die Arbeiter in der Schienenfabrikation (24445)und in den Salzsiedereien (3704) ab, die im „Verzeichnis" nicht berück-sichtigt werden, und von der zweiten Zahl die Arbeiter in den Drucke-

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Zur Jrage unserer Fabrik- und Werkstatistik 23

reien (16521), die im „Index" nicht berücksichtigt werden, so erhalten

wir 847615 Arbeiter für 1890 und 86903 4 Arbeiter für 1894/95, d .h .2,5 Prozent mehr. Selbstverständlich kann dieser Prozentsatz die wirk-liche Zunahme nicht wiedergeben, da 1894/95 viele Kleinbetriebe nichtgezählt worden sind, im ganzen aber zeigt die Ähnlichkeit dieser Zahlendie relative Brauchbarkeit der allgemeinen Angaben über die Gesamtzahlder Arbeiter sowie ihre relative Glaubwürdigkeit. Herr Karyschew, beidem wir die Gesamtzahl der Arbeiter entlehnt haben, untersucht nichtgenau, welche Gew erbe es sind, die 1894/95, verglichen mit den früherenVeröffentlichungen, erfaßt worden sind, und er weist nicht darauf hin,

daß im „Verzeichnis" viele Betriebe fehlen, die früher zu den Fabrikengezählt wurden. Für den Vergleich mit früheren Jahren nimmt er wiederdieselben sinnlosen Angaben des „Militärstatistischen Handbuchs" undwiederholt denselben Unsinn vom angeblichen Rückgang der Zahl derArbeiter relativ zur Gesamtbevölkerung, eine Behauptung, die bereits vonHerrn Tugan-Baranowski (siehe oben) widerlegt worden ist. In Anbe-tracht der größeren Glaubwürdigkeit der Angaben über die Zahl derArbeiter verdienten diese Angaben eine sorgfältigere Bearbeitung als dieAngaben über die Zahl der Fabriken; Herr Karyschew aber hat es geradeumgekehrt gemacht. Er gruppiert nicht einmal die Fabriken nach der Zahlder Arbeiter, was besonders notwendig gewesen w äre, weil das „Verzeich-nis" die Arbeiterzahl als ein wesentliches Merkmal der Fabrik gewählthat. Aus den von uns weiter oben angeführten Angaben ist zu ersehen,daß die Konzentration der Arbeiter sehr groß ist.

Anstatt die Fabriken nach der Zahl der Arbeiter zu gruppieren, hatHerr Karyschew sich an einfachere Berechnungen gemacht: Ermittlungder durchschnittlichen Arbeiterzahl je Fabrik. Da die Angaben über dieZahl der Fabriken, wie wir gesehen haben, besonders unglaubwürdig,

zufällig und ungleichartig sind, so'stecken alle diese Berechnungen vollerFehler. Herr Karyschew vergleicht die Durchschnittszahl der Arbeiter jeFabrik für das Jahr 1886 und das Jahr 1894/95 und zieht den Schluß,daß „der Durchschnittstypus der Fabrik größer wird" (S. 23 und 32/33),wobei er nicht weiß, daß für 1894/95 doch nur die größeren Betriebe ge-zählt wurden, so daß ein Vergleich unrichtig ist. Ganz und gar kurios istdie Gegenüberstellung der Durchschnittsarbeiterzahl je Fabrik in ver-schiedenen Gouvernements (S. 26); Herr Karyschew gelangt zum Beispiel

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zu der Schlußfolgerung, daß im Gouvernement Kostroma „der größte

Durchschnittstypus der Industrie von allen Gouvernements zu verzeichnenist" — 242 Arbeiter je Fabrik gegenüber 125 zum Beispiel im Gouverne-ment W ladimir. Es kommt dem gelehrten Professor gar nicht in den Sinn,daß dies, wie wir bereits oben erklärt haben, einfach von den verschiede-nen Registrierungsmethoden herrührt. Herr Karyschew, der den Unter-schied zwischen der Zahl der großen und der Zahl der kleinen Betriebein den verschiedenen Gouvernements außer acht läßt, hat sich eine sehreinfache Methode ausgedacht, um die Schwierigkeiten dieser Frage zuumgeben. Er multipliziert nämlich die Durchschnittszahl der Arbeiter je

Tabrik im gesamten Europäischen Rußland (und dann auch in Polen undim Kaukasus) mit der Zahl der Fabriken in jedem Gouvernement undträgt die gewonnenen Gruppen in ein besonderes Kartogramm ein (Nr. 3).Wahrhaftig, wie leidit ist das doch! Weshalb die Fabriken nadi der Zahlder Arbeiter gruppieren, weshalb die relative Anzahl der Gro ß-un d Klein-betriebe in den versdiiedenen Gouvernements betraditen, wenn wir aufso einfache Weise die „Durchschnitts"größe der Fabriken in den verschie-denen Gouvernements einer gemeinsamen Norm künstlich angleichenkönnen? Weshalb untersudien, ob viele oder wenige kleine und kleinste

Betriebe in die Zahl der Fabriken des Gouvernements Wladimir oderKostroma geraten sind, wenn wir „einfach" die Durchsdmittszahl derArbeiter je Fabrik für das ganze Europäische Rußland nehmen und mitder Zahl der Fabriken jedes Gouvernements multiplizieren können? Wasmacht es auch, wenn eine solche Methode Hunderte zufällig registrierteWindmühlen und Ölmühlen großen Fabriken gleichsetzt? — der Leserwird das ja nicht bemerken und am Ende gar der von dem Herrn Pro-fessor fabrizierten „Statistik" Glauben schenken!

Außer den Arbeitern innerhalb des Betriebs hat das „Verzeichnis" noch

eine besondere Rubrik für Arbeiter „außerhalb des Betriebs, außerhalbdes Hauses". Hier sind nicht nur diejenigen hingeraten, die auf Bestellungvon Fabriken zu Hause arbeiten (Karyschew, S. 20) , sondern auch Hilfs-arbeiter u . ä. m. Die im „Verzeidinis" genannte Z ahl dieser A rbeiter(66460 im Russischen Reidi) kann in keiner Weise als „Gradmesser da-für, wie weit bei uns die Entwiddung des sogenannten auswärtigen De-partements der Fabrik gediehen ist" (Karyschew, S. 20), betraditet wer-den, denn bei dem heutigen System der Fabrik- und Werkstatistik kann

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Zur frage unserer "Fabrik- und Werkstatistik 25

von einer auch nur einigermaßen vollständigen Registrierung derartiger

Arbeiter gar nicht die Rede sein. Herr Karyschew sagt sehr leichtsinnig:„66500 für ganz Rußland mit seinen Millionen Kustaren und Hand-

werkern ist nicht viel." (ibid.*) Als er dies schrieb, mußte er vergessen

haben, daß von diesen „Millionen Kustaren", wie alle Quellen konsta-

tieren, wenn nicht der größere, so doch ein sehr großer Teil für Aufkäufer

arbeitet, das heißt wiederum aus „Arbeitern außer Haus" besteht. Man

braucht nur die Seiten des „Verzeichnisses" aufzuschlagen, die sich auf die

Bezirke der bekannten „Kustar"gewerbe beziehen, um sich davon zu über-

zeugen, daß die Registrierung der „Arbeiter außer Haus" absolut zufällig

und fragmentarisch ist. In Gruppe II (Wollverarbeitung) beispielsweise

zählt das „Verzeichnis" im Gouvernement Nishni-Nowgorod nur 28 Ar-

beiter außer Haus in der Stadt Arsamas und dem Vorort Wyjesdnaja

Sloboda (S. 89), während aus den „Arbeiten der Kommission zur Er-

forschung der Kustarindustrie in Rußland" (Lieferungen V und VI) be-

kannt ist, daß hier viele Hunderte (an die tausend) „Kustare" für Unter-

nehmer arbeiten. Im Kreise Semjonow weist das „Verzeichnis" überhaupt

keine Arbeiter außer Haus nach, während doch aus der Semstwostatistik

bekannt ist, daß hier über 3000 „Kustare" im Walkerei- und Filzsohlen-

gewerbe für Unternehmer arbeiten. Im Ziehharmonikagewerbe, Gouver-

nement Tula, weist das „Verzeichnis" nur eine „Fabrik" mit 17 Arbeitern

außer Haus nach (S. 395), während die erwähnten „Arbeiten der Kom-

mission usw." schon 1882 2000—3000 Kustare zählten, die für Ziehhar-

monikafabrikanten arbeiteten (Lieferung IX). Es ist daher klar, daß es

einfach lächerlich ist, die Zahl von 66 500 Arbeitern außer Haus auch nur

für einigermaßen glaubwürdig zu halten und von ihrer Verteilung auf die

Gouvernements und Gewerbe zu reden, wie das Herr Karyschew tut, der

sogar ein Kartogramm zusammenstellt. Die wirkliche Bedeutung dieser

Zahlen liegt durchaus nicht darin, daß sie den Umfang kapitalistischer

Hausarbeit bestimmen (eine solche Bestimmung ist nur mit Hilfe einer voll-

ständigen Gewerbezählung möglich, die alle Geschäfte und andere Unter-

nehmen oder Einzelpersonen, die Arbeit außer Haus vergeben, berück-

sichtigt), sondern in der Trennung der Arbeiter im Betrieb, d. h. der

Fabrikarbeiter im strengen Sinne des Wortes, von den Arbeitern außer-

halb des Betriebs. Bisher wurden diese Kategorien der Arbeiter sehr häufig

* ibidem — ebenda. Die Red.

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verwechselt: selbst im „Index" für 1890 sind wiederholt Beispiele für eine

solche Verwechslung zu finden. Jetz t wird im „Verzeichnis" der e rste Ver-such gemacht, dieser Verwechslung ein Ende zu bereiten.

Die Zahlen des „Verzeichnisses", die sich auf die Jahresleistung derFabriken beziehen, sind bei Herrn Karyschew am befriedigendsten be-arbeitet, hauptsächlich weil der Autor statt der üblichen „Durchschnitts-zahle n" hier endlich eine G ruppie rung der Fabriken nach dem Um fang derProduktion gebracht hat. Freilich kann der Autor von diesen „Durch-schnittszahlen" (Produktionsumfang je Fabrik) noch immer nicht los-kommen, ja, er vergleicht sogar die Durchschnittszahlen für 1894/95 mit

den D urchschnittszahlen für 1885 — eine M eth ode , d ie, wie wir schonwiederholt gesagt haben, völlig falsch ist. Wir wollen bemerken, daß dieGesamtzahlen über die Jahresleistung der Fabriken unvergleichlich glaub-würdiger sind als die Angaben über die Gesamtzahl der Fabriken, undzw ar aus dem schon erwä hnten Gru nde , weil die Kleinbetriebe eine geringeRolle spielen. Beispielsweise gibt es im Europäischen Rußland nach dem„Verzeichnis" nur 2 45 Fabriken m it einer Produk tion von me hr als 1 Mil-lion Rubel, das sind 1,9 Prozent, bei ihnen sind jedoch 45,6 Prozent dergesamten Jahresproduktion aller Fabriken des Europäischen Rußlands

konzentriert (Karyschew, S. 38), während die Fabriken mit einer Produk-tion von weniger als 5000 Rubel 30,8 Prozent der Gesamtzahl der Fabri-ken ausmachen, aber nur 0,6 Prozent der gesamten Leistung, d. h. einenganz verschwindenden Anteil, l iefern. Es muß jedoch der Vorbehalt ge-macht werden, daß Herr Karyschew bei diesen Berechnungen den Unter-schied zwischen dem Produktionswert (= Wert des Produkts) und derBezahlung für die Bearbeitung des Rohstoffs außer acht läßt. Diese sehrwichtige Unterscheidung wird in unserer Fabrik- und Werkstatistik zumerstenmal im „Verzeichnis" durchgeführt.* Man begreift, daß diese bei-

* N ur besitzen wir leider keine Garan tie dafür, daß das „Verzeichnis" dieseUnterscheidung streng und folgerichtig durchgeführt hat, d. h., daß der Wertdes Produkts nur für die Fabriken nachgewiesen wird, die ihr Produlct wirklichverkaufen, und die Bezahlung für die Bearbeitung des Rohstoffs nur für die-jenigen, die fremdes Material verarbeiten. Es ist z. B. möglich, daß im Mülle-reigewerbe (wo der erwähnte Unterschied am häufigsten vorkommt) die Be-sitzer bald die eine, bald die andere Zahl ganz zufällig angegeben haben.Diese Frage erfordert eine spezielle Untersuchung.

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renz mit den großen dienen kann" und dgl. mehr. Alle diese Betrachtun-

gen wären vielleicht sehr tiefsinnig, wenn, ja, wenn sie nicht ausnahmslosvöllig falsch wären. Herr Karyschew hat auch hier nicht bemerkt, daß er

ganz unvergleichbare und ungleichartige Angaben miteinander vergleicht.

Weisen wir diese Unvergleichbarkeit an Hand der Angaben über jedes

der von Herrn Karyschew genannten Gouvernements nach.* Im Gou-

vernement Perm war die Gesamtproduktion 1890 gleich 20,3 Millionen

Rubel („Index"), 1894/95 dagegen gleich 13,1 Millionen; darunter das

Müllereigewerbe 1890 mit 12,7Millionen (in 469 Mühlen!) und 1894/95

mit 4,9Millionen (in 66Mühlen). Der scheinbare „Rückgang" hängt folg-

lich einfach von der zufälligen Registrierung einer verschiedenen Anzahlvon Mühlen ab. Die Zahl der Dampfmühlen beispielsweise stieg von 4 in

den Jahren 1890 und 1891 auf 6 im Jahre 1894/95. Ebenso erklärt sich

der „Rückgang" der Produktion auch im Gouvernement Simbirsk (1890:

230 Mühlen - 4,8 Millionen Rubel; 1894/95: 27 Mühlen und 1,7 Mil-

lionen Rubel. Dampfmühlen gab es 10 und 13). Im Gouvernement Wjatka

war die Summe der Produktion 1890 gleich 8,4 Millionen, 1894/95 gleich

6,7 Millionen — 1,7 Millionen Rubel weniger. Im Jahre 1890 aber wur-

den hier zwei Hüttenwerke, das Wotkinsker und das Ishewsker, gezählt,

deren Produktion (zusammengenommen) sich gerade auf 1,7 Millio-

nen beläuft; im Jahre 1894/95 wurden diese Werke, als dem Berg-

departement „unterstellt", nicht gezählt. Im Gouvernement Astrachan

wurde 1890 für 2,5 Millionen Rubel, 1894/95 für 2,1 Millionen produ-

ziert. Im Jahre 1890 wurde jedoch die Salzsiederei (346000 Rubel) ge-

zählt, 1894/95 dagegen nicht, da man sie zu den „Produktionszweigen

des Bergbaus" rechnete. Im Gouvernement Pskow 1890: 2,7 Millionen

Rubel und 1894/95: 2,3 Millionen Rubel; im Jahre 1890 aber wurden

45 Flachsbrechereien mit einer Produktion von 1,2 Millionen Rubel

* Wir nehmen hierbei die Angaben nicht aus der „Zusammenstellung",sondern aus dem „Index" für 1890 und ziehen die akzisepflidbtigen Qewerbeab. M itAu snah m e dieser Gewerbe unterscheiden sich dieAngab en des „Index"fast gar nicht von den Angaben der „Zusammenstellung", denn sie beruhenauf ein und denselben Berichtsbogen des Departements für Handel und Manu-fakturen. Um aber den Fehler des Herrn Karyschew zu finden, brauchen wirdetaillierte Angaben nicht nur über die einzelnen Gewerbe, sondern auch überdie einzelnen Fabriken.

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Zur 7rage unserer Fabrik- und Werkstatistik 29

gezählt, während 1894/95 nur 4 7ladhsspinnereien mit 248 000 Rubel

gezählt wurden. Es versteht sich von selbst, daß die Flachsbrechereien imGouvernement Pskow nicht verschwunden sind, sondern einfach nicht in

die Liste kamen (vielleicht weil die meisten von ihnen Betriebe mit reiner

Handarbeit und weniger als 15 Arbeitern sind). Im Gouvernement Bes-

sarabien wurde die Produktion der Mehlmühlen auf verschiedene Art

registriert, obgleich sowohl 1890 als auch 1894/95 die gleiche Zahl Müh-

len (beide Male 97) ermittelt wurde; im Jahre 1890 wurde die Menge des

gemahlenen Mehls — 4,3 Millionen Pud = 4,3 Millionen Rubel — gezählt,

1894/95 dagegen wiesen die meisten Mühlen nur das Mahlgeld aus, so

daß die Gesamtsumme ihrer Leistung (1,8 Millionen Rubel) sich mit derZahl für 1890 nicht vergleichen läßt. Hier ein paar Beispiele, die diesen

Unterschied illustrieren. 2 Mühlen der Firma Löwensohn wiesen 1890

eine Produktion von 335000 Rubel aus („Index", S. 424), 1894/95

dagegen nur 69000 Rubel Mahlgeld („Verzeichnis" Nr. 14231/32). Um-

gekehrt ist für die Mühle der Firma Schwarzberg 1890 der Wert der Pro-

duktion mit 125000Rubel („Index", S.425) und 1894/95 mit 175000Ru-

bel angegeben („Verzeichnis" Nr. 14214); von der gesamten Produk-

tionssumme im Müllereigewerbe kamen 1894/95 1,4 Millionen Rubel auf

den Wert des Produkts und 0,4 Millionen Rubel auf das Mahlgeld. Das

gleiche auch im Gouvernement Witebsk: 1890 waren es 241 Mühlen mit

einer Produktion von 3,6 Millionen Rubel und 1894/95 82 Mühlen mit

einer Produktion von 120000 Rubel, wobei die meisten Mühlen nur das

Mahlgeld ausweisen (Dampfmühlen gab es 37 im Jahre 1890, 51 im Jahre

1891 und 64 im Jahre 1894/95), so daß von diesen 120000 Rubel mehr

als die "Hälfte nicht den Wert des Produkts, sondern Mahlgeld ausmachen.

Im letzten Gouvernement — Archangelsk — schließlich erklärt sich die von

Herrn Karyschew entdeckte „rückläufige Bewegung in der Industrie" ein-

fach durch einen seltsamen Fehler in seinen Berechnungen: in Wirklichkeit

war die Produktion der Archangelsker Fabriken nach dem „Verzeichnis"

nicht 1,3 Millionen Rubel, wie Herr Karyschew zweimal angibt (S. 40

und 39; gegenüber 3,2 Millionen Rubel in den Jahren 1885—1891), son-

dern 6,9 Millionen Rubel, wovon 6,5 Millionen Rubel auf 18 Sägewerke

entfielen („Verzeichnis", S. 247).

Fassen wir das oben Gesagte zusammen, so kommen wir zu dem Schluß,

daß Herr Karyschew mit dem von ihm bearbeiteten Material erstaunlich

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unaufmerksam und kritiklos umgegangen ist und deshalb eine ganze Reihe

gröbster Fehler gemacht hat. Was nun die von ihm gemeinsam mit seinenMitarbeitern vorgenommene Zusammenrechnung der Zahlen aus dem„Verzeichnis" anbelangt, so verliert ihr statistischer Wert, wie gesagtwerden muß, viel durch den Umstand, daß Herr Karyschew vollständigeErgebnisse, d. h. die Zahl der Fabriken und der Arbeiter sowie denProduktionswert für alle Gouvernements und Gewerbegruppen, nichtveröffentlicht hat (obgleich diese Berechnungen offenbar von ihm an-gestellt worden sind un d ihre vollständige Veröffentlichung einerseitseine Nachprüfung ermöglichen und anderseits allen großen Nutzen

bringen würde, die das „Verzeichnis" benützen). Somit hat sich die reinstatistische Bearbeitung des Materials als äußerst fragmentarisch, unvoll-ständig, unsystematisch erwiesen, und die Schlußfolgerungen, mit denenes Herr Karyschew so eilig hatte, können großenteils als Beispiel dafürdienen, wie man mit Zahlen nicht umgehen darf.

Um zu der oben aufgeworfenen Frage nach dem gegenwärtigen S tandunserer Fabrik- und Werkstatistik überzugehen, müssen wir vor allemsagen: Wenn „vollständige und glaubwürdige statistische Angaben überdie Gew erbe" „dringend notwend ig" sind (so heißt es in der „Einfüh-

rung" zum „Verzeichnis", und dem muß man unbedingt zustimmen), soerfordert ihre Gewinnung eine richtig organisierte Gewerbezählung, diealle und jegliche Gewerbebetriebe, Unternehmen und Arbeiten registriertund die in bestimmten Zeitabschnitten wiederholt wird. Wenn die Da-ten der ersten Volkszählung vom 28. Janua r 1897 5 über die Berufe derBevölkerung sich als befriedigend erweisen und detailliert ausgewertetwerden, so werden sie die Durchführung einer Gewerbezählung bedeu-tend erleichtern. Solange es jedoch solche Zählungen nicht gibt, kann nurvon der Registrierung einiger großer Industriebetriebe die Rede sein. Das

gegenwärtige System der Einholung und Bearbeitung statistischer Unter-lagen für solche Großbetriebe („Fabriken und Wer ke" nach der herrschen-den Terminologie) muß als im höchsten Grade unbefriedigend bezeich-net werden. Sein erster Mangel ist die Zersplitterung der Fabrik- undWerkstatistik auf verschiedene „Ämter" und das Fehlen einer speziellen,rein statistischen Institution, die die Einholung, Prüfung und Bearbeitungaller Angaben über alle Fabriken und Werke zentralisiert. Bei der Be-arbeitung der Daten, die die gegenwärtige Fabrik- und Werkstatistik in

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Zur Trage unserer Tabrik- und. TVerkstatistik 31

Rußland liefert, befindet man sich auf einem Gebiet, das nach allen Rich-

tungen von den Grenzen verschiedener „Amtsbereiche" (die besondereVerfahren und Methoden der Registrierung u. ä. m. haben) durchschnit-ten wird. Es kommt sogar vor, daß diese Grenze mitten durch eine be-stimmte Fabrik oder ein bestimmtes Werk verläuft, so daß eine Werk-abteilung (beispielsweise die Eisengießerei) dem Bergdepartement undeine andere (beispielsweise die Herstellung von Eisenwaren) dem De-partement für Handel und Manufakturen unterstellt ist. Man begreift,wie das die Benutzung der Daten erschwert und in welche Fehler For-scher zu verfallen riskieren (und auch verfallen), die dieser komplizier-

ten Frage nicht genügend Aufmerksamkeit widmen. Insbesondere mußbezüglich der Nachprüfung der Angaben gesagt werden, daß die Fabrik-inspektion selbstverständlich niemals imstande sein wird, alle Angabenaller Fabrikanten auf ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zuprüfen. Bei einem System vom heutigen Typus (d. h., wenn die Unter-lagen nicht mittels Zählung durch einen besonderen Agentenstab, son-dern mittels Versendung von Fragebogen an die Fabrikanten eingeholtwerden) muß vor allem darauf geachtet werden, daß die zentrale sta-tistische Institution mit allen Besitzern der Fabriken und Werke un-mittelbar

verkehrt, daß sie die Qleidiartigkeit der Angaben systematischkontrolliert und für ihre Vollständigkeit sowie für die Versendung vonFragebogen nach allen einigermaßen bedeutenden Industriezentren sorgt,daß sie die zufällige Einbeziehung ungleichartiger Angaben und eine ver-schiedene Anwendung und Auslegung des Programms verhindert. Derzweite Hauptmangel des heutigen Systems besteht darin, daß das Pro-gramm für die Einholung der Angaben in keiner Weise durchgearbeitetist. Wenn ein solches Programm in den Kanzleien ausgearbeitet wird,ohne von Spezialisten kritisiert und (was besonders wichtig ist) von derPresse allseitig erörtert zu werden, können die Angaben niemals auch nureinigermaßen vollständig und gleichartig sein. Wir haben beispielsweisegesehen, wie unbefriedigend heute selbst die Hauptfrage des Programmsgelöst wird: Was heißt „Fabrik und Werk"-? Bei dem Fehlen von Ge-werbezählungen, bei einem System, wo die Angaben von den Industriellenselbst gemacht werden (über die Polizei, die Fabrikinspektion u. ä. m.),muß unbedingt der Begriff „Fabriken und W erke" m it absoluter Ge-nauigkeit definiert und auf Betriebe beschränkt werden, die so groß sind,

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daß man hoffen darf, sie alle und überall lüdkenlos registrieren zu können .

Die Hauptelemente der gegenwärtig üblichen Definition des „Fabrik- undWerkbetriebs" sind offenbar recht glücklich gewählt: l.Zahl der Arbeiterinnerhalb des Betriebs mindestens 15 (wobei die Frage geklärt werdenmuß, wie die Hilfsarbeiter von den Fabrik- un d We rkarb eitern im eigent-lichen Sinne zu trennen sind, wie die Durchschnittsarbeiterzahl im Jahrezu bestimmen ist usw.) und 2. das Vorhandensein einer Dampfmaschine(sei es auch bei geringerer Arbeiterzahl). Leider sind diesen Merkmalenandere, ganz unbestimmte hinzugefügt worden, währen d doch bei der Er-weiterung dieser Definition äußerste Vorsicht geboten ist. Wenn auch bei-

spielsweise größere Betriebe mit Wasserkraftantrieb nicht ausgelassenwerden dürfen, so muß doch mit größter Genauigkeit angegeben werden,welche Betriebe dieser Art eigentlich zu registrieren sind (bei einem An-triebsmechanismus von mindestens der und der Stärke oder bei einerArbeiterzahl nicht niedriger als die und die usw.). We nn es als notwendigangesehen wird, in einigen Gewerben auch kleinere Betriebe zu zählen,so müssen diese Gewerbe mit größter Genauigkeit aufgezählt und andereklare Merkmale des Begriffs „Fabrik- und Werkbetrieb" angegeben wer-den. Den Gewerben, in denen die „Fabriken und Werke" mit „Kustar"-betrieben oder „landwirtschaftlichen" Betrieben verschmelzen (Walke-reien, Ziegeleien, Gerbereien, Mühlen, Ölmühlen und viele andere), mußbesondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Wir meinen, daß die ebenangeführten beiden Merkmale des Begriffs „Fabrik und Werk" auf keinenFall erweitert werden sollten, weil bei dem System, nach dem gegenwärtigdie Angaben eingeholt werden, selbst solche relativ großen Betriebeschwerlich ganz ohne Lücken registriert werden können. Eine Umge-staltung dieses Systems aber kann nur entweder in teilweisen und un-wesentlichen Änderungen oder in der Einführung vollständiger Gewerbe-zählungen bestehen. Was nun die Frage nach dem Umfang der Angaben,d. h. nach der Zahl der den Industriellen vorzulegenden Fragen betrifft,so muß auch hier ein grundlegender Unterschied zwischen einer Gewerbe-zählung und einer Statistik- vom heutigen Typus gemacht werden. Nurim ersten Fall ist es möglich und notwendig, nach Vollständigkeit derAngaben zu streben (Fragen nach der Geschichte des Betriebs, nach sei-nem Verhältnis zu den benachbarten Betrieben und zur benachbarten Be-völkerung, nach der kommerziellen Seite der Sache, nach den Rohstoffen

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Zur frage unserer Fabrik- und Werkstatistik 33

und Hilfsmaterialien, nadi der Menge und Art des Produkts, nach demArbeitslohn, dem Arbeitstag, den Schichten, der Nacht- und Überstund en-arbeit usw. usf.). Im zweiten Fall dagegen muß man sehr vorsichtig sein:es ist besser, wenige relativ glaubwürdige, vollständige und gleichartigeAngaben zu erhalten als viele fragmentarische, zweifelhafte und unver-gleichbare. Unbedingt notwendig ist es nur, Fragen nach den Arbeits-mechanismen und nach der Menge der Erzeugnisse beizufügen.

Wenn wir davon sprechen, daß unsere Fabrik- und Werkstatistik imhöchsten Grade unbefriedigend ist, so wollen wir damit durchaus nichtsagen, daß ihre Daten keine Aufmerksamkeit und Bearbeitung verdien-ten. Ganz im Gegenteil. Wir haben eingehend die Mängel des gegen-wärtigen Systems untersucht, um die Notwendigke it einer besonders sorg-fältigen Bearbeitung der Daten zu unterstreichen. Das wichtigste, dasgrundlegende Ziel dieser Bearbeitung muß die Sonderung der Spreu vomWeizen, die Trennung des relativ brauchbaren Materials von dem un-brauchbaren sein. Wie wir gesehen haben, besteht der Hauptfehler desHerrn Karyschew (und vieler anderer) gerade darin, daß er eine solcheTrennung nicht vorgenommen hat. Die Angaben über die Zahl der„Fabriken und Werke" sind am wenigsten glaubwürdig und können ohneeine sorgfältige vorangehende Bearbeitung (Aussonderung der größerenBetriebe usw.) auf keinen Fall benutzt werden. Die Arbeiterzahl undder Produktionswert sind in den allgemeinen Gesamtergebnissen vielglaubwürdiger (wobei jedoch streng untersucht werden muß, welche Ge-werbe gezählt und wie sie gezählt wurden, wie der Produktionswertbestimmt wurde und dgl. mehr). Nehmen wir dagegen detailliertere Er-gebnisse, so ist es möglich, daß die Angaben sich als unvergleichbar er-weisen und daß ihre Benutzung zu Fehlern führt. Nur durch die Ignorie-rung aller dieser Umstände läßt sich auch die Entstehung der Fabeln voneiner Abnahme der Zah l der Fabriken in Rußland un d von einer Abnahmeder Zahl der Fabrik- und Werkarbeiter (verglichen mit der Gesamtbe-völkerung) erklären, Fabeln, die von den Volkstümlern so eifrig verbreitetwurden.

Was die Bearbeitung des Materials selbst betrifft, so müssen hier un-bedingt Angaben über jede einzelne Fabrik, d. h. Meldekarten, zugrundegelegt werden. Diese Karten müssen vor allem nach territorialen Einheitengruppiert werden. Das G ouvernemen t ist eine zu große Einheit. Die Frage

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nach dem Standort der Industrie ist so wichtig, daß sie eine Gruppierung

nach den einzelnen Städten, Vororten, Dörfern und Dörfergruppen, dieindustrielle Zentren oder Bezirke bilden, erheischt. Ferner ist eine Grup-pierung nach Gewerben notwendig. In dieser Beziehung hat das neuesteSystem unserer Fabrik- und Werkstatistik unserer Meinung nach eineunerwünschte Änderung eingeführt, die einen radikalen Bruch mit deralten, seit den sechziger Jahren (und vorher) herrschenden Einteilung derGewerbe bedeutet. Das „Verzeichnis" teilt die Gewerbe auf neue Art inzwölf Gruppen ein: nimmt man dabei nur die Angaben nach den Grup-pen, so erhält man übermäßig weite Rahmen, die Gewerbe vom allerver-schiedensten Charak ter umfassen und zusammenwerfen (Tuchfabrikenund Filzwalkereien, Sägewerke und Möbelfabriken, Papierfabriken undDruckereien, Eisengießereien und Juwelierwerkstätten, Ziegeleien undPorzellanbrennereien, Gerbereien und Wachsschmelzereien, Ölmühlenund Zuckerraffinerien, Brauereien und Tabakfabriken usw.). Werden da-gegen alle diese Gruppen weitgehend in Gewerbezweige unterteilt, soerhält man (siehe bei Mikulin, a. a. O.) äußerst zersplitterte Gruppen,über dreihundert an der Za hl ! Das alte System, das 10Gew erbegruppenund rund 100 Gewerbearten hatte (91 nach dem „Index" für 1890),erscheint uns bedeutend glücklicher. Notwendig ist weiter eine Gruppie-rung der Fabriken nach der Zahl der Arbeiter, nach der Art der Antriebs-maschinen und nach dem Umfang der Produktion. Diese Gruppierung istbesonders notwendig sowohl vom rein theoretischen Standpunkt aus —

für die Erforschung des Standes und der Entwicklung der Industrie — alsauch für die Trennung der relativ brauchbaren von den unbrauchbarenAngaben in dem vorhandenen Material. Das Fehlen einer solchen Grup-pierung (die innerhalb der territorialen Gruppen und der Gewerbegrup-pen notwendig ist) ist der wesentlichste Mangel unserer jetzigen Ver-öffentlichungen zur Fabrik- und Werkstatistik, die nur die Bestimmung

von „Durchschnittszahlen" ermöglichen, von Zahlen, die fast immer völligfiktiv sind und zu groben Fehlern führen. Schließlich darf sich die Grup-pierung nach allen diesen Merkmalen nicht auf die Bestimmung der Zahlder Betriebe in jeder Gruppe (oder in den Untergruppen) beschränken,sondern muß für jede G ruppe unbedingt durch die Berechnung der Arbei-terzahl wie des Produktionswertes sowohl in den Betrieben mit Dampf-maschinen als auch in den Betrieben mit ausschließlicher Handarbeit usw.

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REZENSION

A.BOGDANOW, Kurzer Lehrgang der ökonomischenWissenschaft. Moskau 1897. Verlag des Mdherlagers

A. JAurmowa. 290 S. Preis 2 Rubel

Das Buch des Herrn Bogdanow stellt in unserer ökonomischen Lite-ratur eine hervorragende Erscheinung dar; es ist nicht nur ein „nichtüberflüssiger" Leitfaden neben anderen (wie der Verfasser im Vorwort„hofft"), sondern entschieden der beste von ihnen. Wir wollen deshalbin der vorliegenden Notiz die Leser auf die außerordentlichen Vorzügedieses Werkes aufmerksam machen und einige unbedeutende Punktehervorheben, die unserer Meinung nach bei späteren Auflagen verbessertwerden könnten; man darf annehm en, daß angesichts des lebhaften Inter-

esses, das die Leserschaft ökonomischen Fragen entgegenbringt, weitereAuflagen dieses nützlichen Buches nicht lange auf sich warten lassenwerden.

Der Hauptvorzug von Herrn Bogdanows „Lehrgang" ist die konse-quente Einhaltung einer Richtung von der ersten bis zur letzten Seite desBuches, das sehr viele und sehr umfassende Fragen behandelt. Der Ver-fasser gibt uns gleich am Anfang eine klare und genaue Bestimmung derpolitischen Ökonomie als der „Wissenschaft, die die gesellschaftlichenProduktions- und Verteilungsverhältnisse in ihrer Entwicklung erforscht"

(3), und er weicht nirgends von dieser Anschauung ab, die oft von dengelehrten Professoren der politischen Ökonomie sehr schlecht begriffenwird; die Professoren verwechseln oft die „gesellschaftlichen Produktions-verhältnisse" mit der Produktion überhaupt und pfropfen ihre dickenLehrbücher mit einem Haufen inhaltsloser und überhaupt nicht zurGesellschaftswissenschaft gehörender Banalitäten und Beispiele voll. JeneScholastik, die die Verfasser von Lehrbüchern häufig veranlaßt, ihre Gei-stesschärfe in „Definitionen" und in der Analyse einzelner Merkmale

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jeder Definition zu beweisen, ist dem Autor fremd, wobei die Klarheit

der Darlegung bei ihm hierdurch keineswegs verliert, sondern geradezugewinnt, und der Leser z. B. eine deutliche Vorstellung von einer Kate-gorie wie dem Kapital sowohl in seiner gesellschaftlichen als auch in seinerhistorischen Bedeutung erhält. Die Auffassung der politischen Ökonomieals der Wissenschaft von den sich historisch entwickelnden Formationender gesellschaftlichen Produktion ist dem Aufbau der Darstellung dieserWissenschaf t im „Lehrgang" des Herrn Bogdanow zugrunde gelegt . DerVerfasser, der zu Anfang kurze „allgemeine Begriffe" von der Wissen-schaft (S. 1—19) und zum Schluß eine kurze „Geschichte der ökonomi-

schen An schauu ngen" (S. 235—290) bringt, legt den Inhalt der W issen-schaft im Abschnitt „C. Der Prozeß der ökonomischen Entwicklung" dar,legt ihn nicht dogmatisch dar (wie das in den meisten Lehrbüchern üblichist), sondern in Form einer Charakteristik der aufeinanderfolgenden öko-nomischen Entwicklungsperioden, nämlich: der Periode des urwüchsigenGentilkommunismus, der Periode der Sklaverei, der Periode des Feuda-lismus und der Zünfte und schließlich des Kapitalismus. So und nicht an-ders mu ß die politische Ökon om ie dargestellt werd en. M an wird vielleichteinwenden, der Autor müsse auf diese Weise unweigerlich ein und den-selben Abschnitt der Theorie (z. B. über das Geld) auf verschiedene Pari 'öden aufteilen und in Wiederholungen verfallen. Aber dieser rein formaleMangel wird durch die grundlegenden Vorzüge der historischen Darstel-lung gänzlich aufgewogen. Ja, und ist dies überhaupt ein Mangel? Esergeben sich nur sehr unbedeutende Wiederholungen, die für den An-fänger nützlich sind, weil er sich die besonders wichtigen Lehrsätze gründ-licher zu eigen macht. Wenn z. B. die verschiedenen Funktionen des Gel-des zusammen mit den verschiedenen Perioden der ökonomischen Ent-wicklung behandelt werden, so zeigt das dem Lernenden anschaulich, daßdie theoretische Analyse dieser Funktionen nicht auf abstrakter Spekula-

tion beruht, sondern auf der genauen Erforschung dessen, was in derhistorischen Entwicklung der Menschheit wirklich vor sich gegangen ist.Die Vorstellung von den einzelnen, historisch bestimmten Formationender gesellschaftlichen Wirtschaft wird geschlossener sein. Besteht dochdie ganze Au fgabe eines Leitfadens der politischen Öko nom ie darin, dem-jenigen, der diese Wissenschaft studiert, die grundlegenden Begriffe vonden verschiedenen Systemen der gesellschaftlichen Wirtschaft und von

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den grundlegenden Zügen jedes einzelnen Systems zu vermitteln; die

ganze Aufgabe besteht darin, daß jemand, der sich den Anfangskurs zueigen gemacht hat, nunmehr einen zuverlässigen Kompaß für das weitereStudium des Gegenstands besitzt, daß er Interesse an diesem Studiumgewinnt, weil er verstellt, daß mit den Fragen der ökonomischen Wissen-schaft die wichtigsten Fragen des heutigen gesellschaftlichen Lebens aufsunmittelbarste verbunden s ind. In neunundneunzig von hundert Fällenist es gerade dies, was den Leitfäden der politischen Ökonomie fehlt. IhrMangel besteht noch nicht einmal so sehr darin, daß sie sich auf ein be-stimmtes System der gesellschaftlichen Wirtschaft (nämlich den Kapita-

lismus) zu beschränken pflegen, als vielmehr darin, daß sie es nicht ver-stehen, die Aufm erksamkeit des Lesers auf die grundlegenden Zü ge diesesSystems zu konzentrieren; daß sie es nicht verstehen, seine historischeBedeutung klar zu bestimmen, den Prozeß (und die Bedingungen) seinerEntstehung einerseits, die Tendenzen seiner weiteren Entwicklung ander-seits zu zeigen; daß sie es nicht verstehen, die einzelnen Seiten und dieeinzelnen Erscheinungen des heutigen Wirtschaftslebens als Bestandteileeines bestimmten Systems der gesellschaftlichen Wirtschaft, als Erschei-nungsformen der grundlegenden Züge dieses Systems darzustellen; daß

sie es nicht verstehen, dem Leser eine zuverlässige Anleitung zu geben,weil sie sich gewöhnlich nicht mit aller Konsequenz an eine Richtunghalten,- daß sie es schließlich nicht verstehen, das Interesse des Lernendenzu wecken, weil sie die Bedeutung der ökonomischen Fragen äußerst engun d zusamm enhanglos auffassen un d „in poetischer U no rdn un g" „Fak-toren" — den ökonomischen, politischen, moralischen Faktor usw. — vor-bringen. Nur die materialistisdhe Qesdbidbtsaujfassung bringt Licht indieses Chaos und ermöglicht eine umfassende, zusammenhängende undsinnvolle Betrachtung einer besonderen Formation der gesellschaftlichenWirtschaft als des Fundaments einer besonderen Formation des gesamtengesellschaftlichen Lebens der Menschen.

Der außerordentl iche Vorzug des „Lehrgangs" von Herrn Bogdanowbesteht eben darin, d aß der Verfasser sich konseq uent an den historischenMaterialismus hält. Wenn er eine bestimmte Periode der ökonomischenEntwicklung charakterisiert, gibt er gewöhnlich in der „Erläuterung" einenAbriß der politischen Zustände, der Familie und der gesellschaftlichenideologischen Hauptströmungen im Z usammenhang mit den Grundzügen

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der betreffenden Wirtschaftsordnung. Nachdem er klargestellt hat, wie

die betreffende Wirtschaftsordnung eine bestimmte Teilung der Gesell-schaft in Klassen hervorbrachte, zeigt der Verfasser, wie diese Klassen inder Politik, in der Familie und im intellektuellen Leben der betreffendengeschichtlichen Periode in Erscheinung traten, wie die Interessen dieserKlassen sich in bestimmten ökonomischen Schulen widerspiegelten, wiez. B. die Interessen der aufsteigenden Entwicklung des Kapitalismus vonder Schule der freien Konkurrenz, die Interessen der gleichen Klasse ineiner späteren Periode dagegen von der Schule der Vulgärökono men (284 ),der Schule der Apologie, zum Ausdruck gebracht wurden. Mit vollem

Recht weist der Verfasser auf den Zusammenhang hin, der zwischen derLage bestimmter Klassen und der historischen Schule (284) sowie derSchule der Kathederreformer (der „realistischen" oder „historisch-ethi-schen") besteht, einer Schule, die mit ihrer inhaltslosen und falschen Vor-stellung von der „außerhalb der Klassen liegenden" Herkunft und Be-deutung der juristisch-politischen Institutionen (288) usw. als „Schule desKompromisses" (287) bezeichnet werden muß. Der Verfasser bringt mitder Entwicklung des Kapitalismus auch die Lehren Sismondis und Prou-dhons in Zusammenhang, die er mit Recht zu den kleinbürgerlichen Öko-nomen rechnet, wobei er die Wurzeln ihrer Ideen in den Interessen jenerbesonderen Klasse der kapitalistischen Gesellschaft aufzeigt, die eine„mittlere Stellung, eine Übergangsstellung" einnimmt (279), und diereaktionäre Bedeutung derartiger Ideen ohne Umschweife feststellt(280/281). Dank der Folgerichtigkeit seiner Anschauungen und der Fähig-keit, die einzelnen Seiten des Wirtschaftslebens im Zusammenhang mitden grundlegenden Zügen der betreffenden Wirtschaftsordnung zu un-tersuchen, hat der Verfasser die Bedeutung solcher Erscheinungen richtigbewertet wie die Beteiligung der Arbeiter am Betriebsgewinn (eine der„Form en des A rbe itslo hn s", die „sich übe raus selten als vorteilhaft fürden Unternehm er erweisen kann" (S. 132/133)) oder die Produktions-assoziationen, die, „in kapitalistischen Verhältnissen organisiert", „imGrunde nur die Kleinbourgeoisie vermehren" (187).

Wir wissen, daß gerade diese Eigenschaften des „Lehrgangs" vonHerrnBogdanow nicht wenig Mißbilligung finden werden. Unzufrieden werdenselbstverständlich die V ertre ter und Anh äng er der „ethisch-soziologischen"Schule in Rußland sein. Unzufrieden werden diejenigen sein, die da mei-

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rien, daß „die Frage der ökonomischen Geschichtsauffassung eine rein

akademische Frage ist" *, und noch viele andere.. . Aber auch abgesehenvon dieser sozusagen parteiischen Unzufriedenheit wird man wahrschein-lich darauf hinweisen, da ß die umfassende Fragestellung eine auße rordent-liche Gedrängtheit der Darstellung im „Kurzen Lehrgang" verursachthat, der auf nur 290 Seiten sowohl über alle Perioden der ökonomischenEntwicklung, von der Gentilgemeinschaft und den Wilden bis zu denkapitalistischen Kartellen und Trusten, als auch über das politische Lebenund die Familie der antiken Welt und des Mittelalters und schließlichnoch über die Geschichte der ökonomischen Anschauungen berichtet. Die

Darstellung des Herrn A. Bogdanow ist wirklich in höchstem Maße ge-drängt, wie er auch selbst im Vorwort erklärt, wo er sein Buch geradezuals „Konzept" bezeichnet. Zweifellos werden manche der konzeptartigenBemerkungen des Verfassers, die sich zumeist auf Tatsachen historischenCh arak ters, zuweilen aber auch auf detailliertere Fragen d er theoretischenÖkonomie beziehen, für den Anfänger, der das Buch liest und sich mitder politischen Ökonomie erst vertraut machen möchte, unverständlichsein. Uns scheint jedoch, daß wir dies nicht dem Verfasser zur Last legenkönnen. Wir möchten sogar sagen, ohne den Vorwurf der Paradoxie zu

fürchten, daß wir derartige Bemerkungen eher als einen Vorzug denn alseinen Mangel des rezensierten Buches zu betrachten geneigt sind. In derTat, wenn der Verfasser sich vorgenommen hätte, jede derartige Bemer-kung eingehend zu entwickeln, zu erläutern und zu begründen, so wäreder Umfang seines Werkes über alle Maßen angeschwollen, was den Auf-gaben eines kurzen Leitfadens in keiner Weise entspricht. Außerdem istes auch undenkbar, in einem Lehrbuch, und sei es auch das dickste, alleDaten der modernen Wissenschaft über al le Perioden der ökonomisdienEntwicklung und über die Geschichte der ökonomischen Anschauungenvon Aristoteles bis Wagner darzulegen. Hätte er alle derartigen Bemer-kungen weggelassen, so hätte sein Buch durch Einengung des Bereichs undder Bedeutung der politischen Ökonomie entschieden verloren. In ihrerjetzigen Gestalt werden diese konzeptartigen Bemerkungen, wie wir glau-ben, sowohl den nach diesem Konzept Lehrenden als auch den nach ihm

* So meint der Zeitschriftenrezensent in der „Russkaja Mysl" [Der russi-sche Gedanke] (1897, Novem ber, Abteilung Bibliographie, S. 517). Auch solchelächerlichen Tröpfe gibt es!

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Rezension über das Bud> von A. Bogdanow 41

Lernenden großen Nutzen bringen. Von den ersteren braucht man gar

nicht zu reden. Die Zweitgenannten werden aus der Gesamtheit dieserBemerkungen ersehen, daß man die politische Ökonomie nicht einfachso, mir nichts dir nichts*, ohne alle Vorkenntnisse, ohne Bekanntschaftmit sehr vielen und wichtigen Fragen der Geschichte, der Statistik usw.studieren kann. Die Lernenden werden sehen, daß es unmöglich ist, mitden Fragen der gesellschaftlichen Wirtschaft in ihrer Entwicklung undihrem Einfluß auf das Leben der Gesellschaft an Hand eines oder auchmehrerer jener Lehrbücher und Lehrgänge vertraut zu werden, die sichhäufig durch erstaunliche „Leichtigkeit der Darstellung", dafür aber auch

durch erstaunliche Inhaltslosigkeit, durch leere Phrasendrescherei aus-zeichnen; daß mit den ökonomischen Fragen die brennendsten Fragender Geschichte und der heutigen Wirklichkeit untrennbar verbunden sindund daß die Wurzeln dieser letzteren Fragen in den gesellschaftlichenProduktionsverhältnissen stecken. Gerade dies ist ja die Ha uptau f gäbe jedesLeitfadens: die Grundbegriffe des darzustellenden Gegenstands zu ver-mitteln und darauf hinzuweisen, in welcher Richtung er eingehender stu-diert werden sollte und weshalb ein solches Studium wichtig ist.

Wenden wir uns jetzt dem zweiten Teil unserer Bemerkungen zu, der

Behandlung der Stellen in Herrn Bogdanows Buch, die unserer Meinungnach Korrekturen oder Ergänzungen erfordern. Wir wollen hoffen, daßder verehrte Verfasser nicht gegen uns die Klage erheben wird, diese Be-merkungen seien kleinlich oder gar Nörgelei: in einem Konzept sind ein-zelne Sätze und selbst einzelne Worte von unvergleichlich größerer Be-deutung als in einer umständlichen und eingehenden Darstellung.

Herr Bogdanow hält sich im allgemeinen an die Terminologie der öko-nomischen Schule, zu d er er sich bekenn t. W o er jedoch von der W ert -form spricht, da ersetzt er diesen Terminus durch den Ausdruck „Tausch-

formel" (S. 39ff.). Dieser Ausdruck, so scheint uns, ist ungeschickt; derTerminus „Wertform" ist wirklich in einem kurzen Leitfaden unprak-tisch, und vielleicht sollte man statt dessen Form des Austausches oderEntwicklungsstufe des Austausches sagen, so aber erhalten wir sogar Aus-drücke wie „Herrschaft der zweiten Tauschformel" (43) (?). Wo er

* Wie Kautsky im Vorwort zu seinem bekannten Bach „Karl Marx' ökono-mische Lehren " treffend bemerkt ha t. [„M ir nichts dir nichts "b ei Lenin deutsch.Der Tibers.]

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42 ' IV J. Lenin

vom Kapital spricht, hätte der Verfasser nicht versäumen dürfen, die all-

gemeine Formel des Kapitals zu behandeln, die dem Lernenden helfenwürde, sich die Gleichartigkeit des Handels- und des Industriekapitalsklarzum achen. — W o er den K apitalismus charakterisiert, hat der V er-fasser die Vermehrung der kommerziell-industriellen Bevölkerung aufKosten der landwirtschaftlichen und die Konzentration der Bevölkerungin den Großstädten außer acht gelassen; diese Lücke ist um so fühlbarer,als der Verfasser dort, wo er vom Mittelalter spricht, auf das Verhältnisvon Dorf und Stadt ausführlich eingegangen ist (63—66), während er vonder modernen Stadt nur mit ein paar Worten sagt, daß sie sich das Dorf

unterwirft (174). — Wo er von der Geschichte der Industrie spricht, stelltder Verfasser das „Haussystem der kapitalistischen Produktion"* sehrentschieden „ in die Mit te des Weges vom Handwerk zur Manufaktur"(S . 156, Jhesis 6) . In der vorliegenden F rage scheint uns eine solche Ver-einfachung der Sache nicht ganz angebracht zu sein. Der Verfasserdes „Kapitals" schildert die kapitalistische Hausarbeit im Kapitel überdie maschinelle Industrie und rechnet sie direkt zur umwandelndenWirkung der großen Industrie auf die alten Formen der Arbeit . Inder Tat dürfen solche Formen der Hausarbeit , wie sie sowohl in Europa

als auch in Rußland z. B. in der Bekleidungsindustrie herrschen, in keinerW eise „ in die M it te des W eges vom Ha nd we rk zu r M anufak tur" geste ll twerden. Sie stehen in der historischen Entwicklung des Kapitalismus wei-ter als die Manufaktur, und darüber hätten, wie wir glauben, einigeWorte gesagt werden sollen. — Eine merkliche Lücke in dem Kapitel überdie Maschinenperiode des Kapitalismus ** ist das Fehlen eines Abschnittsüber die Reservearmee und die kapitalistische Übervölkerung, über ihreVerursachung durch die maschinelle Industrie, über ihre Bedeutung imindustriellen Zyklus und über ihre Hauptformen. Die äußerst flüchtigeErw ähnu ng dieser Erscheinungen durch den Verfasser, die m an auf S. 20 5

un d S. 270 findet, ist zweifellos unge nügen d. — D ie B ehauptung des

* S.93, 95 , 147,15 6. Uns scheint, daß der Verfasser durch diesen Terminusden von Korsak in unsere Literatur eingeführten Ausdruck „Haussystem derGroßproduktion" glücklich ersetzt hat.

** Die strenge Einteilung des Kapitalismus in die Manufaktur- und dieMaschinenperiode ist ein sehr großer Vorzug des „Lehrgangs" von HerrnBogdanow.

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Rezension über das Buch von A. Bogdanow 43

Verfassers, daß „im letzten halben Jahrhundert" „der Profit viel rascher

ansteigt als die Rente" (179), ist allzu kühn. Nicht nur Ricardo (gegenden Herr Bogdanow diese Bemerkung richtet), sondern auch Marx kon-statiert, daß die Rente unter allen und jeglichen Bedingungen die allge-meine Tendenz hat, besonders rasch zu steigen (möglich ist sogar stei-gende Rente bei sinkendem Getreidepreis). Das Sinken der Getreidepreise(und der R ente unter bestimmten Bedingungen), das in letzter Z eit durchdie Konkurrenz der jungfräulichen Böden Amerikas, Australiens usw.hervorgerufen wurde, macht sich erst seit den siebziger Jahren kraß be-merkbar, u nd Engels' Anm erkung in dem Abschnitt über die Rente („Da s

Kapital", III, 2, 259/260°), die der gegenwärtigen Agrarkrise gewidmetist, ist viel vorsichtiger formuliert. Engels konstatiert hier das „Gesetz"des Steigens der Rente in den zivilisierten Ländern, das die „wunderbareLebenszähigkeit der Klasse der großen Grundbesitzer" erklärt, und weistweiter lediglich darauf hin, daß diese Lebenszähigkeit „allmählich sicherschöpft". — Die der Landwirtschaft gewidmeten A bschnitte leidengleichfalls unter zu großer Kürze. In dem Abschnitt über die (kapitali-stische) Rente wird lediglich ganz flüchtig gesagt, daß ihre Vorbedingungkapitalistische Landwirtschaft ist. („In der P eriode des Kapitalismus bleibt

der Boden weiter Privateigentum und fungiert als Kapital", 127 — undweiter nichts!) Hierauf wäre, um alle Mißverständnisse zu vermeiden,mit einigen Worten ausführlicher einzugehen gewesen, ebenso auf dieEntstehung der Dorfbourgeoisie, auf die Lage der Landarbeiter und aufdie Unterschiede zwischen ihrer Lage und der Lage der Fabrikarbeiter(größere Anspruchslosigkeit und niedrigeres Le bensn iveau/Ü berreste derBindung an den Boden oder verschiedener Gesindeordnungen* usw.).Schade ist es auch, daß der Verfasser die Frage nach der Genesis der kap i-talistischen Rente nicht berührt hat. Nach den Bemerkungen, die er über

die Kolonen7

und die abhängigen Bauern, ferner über die Pacht unsererBauern gemacht hat, hätte er kurz den allgemeinen Entwicklungsgang derRente von der Arbeitsrente zur Produktenrente, dann zur Geldrente undschließlich zur kapitalistischen Rente charakterisieren sollen (vgl. „DasKapital", III, 2, Kap.47 s) . — Wo er von der Verdrängung der Neben-gewerbe durch den Kapitalismus und von der dadurch verlorengehendenStabilität der bäuerlichen Wirtschaft spricht, drück t der Verfasser sich wie

* „Gesindeordnungen" bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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folgt aus: „Die bäuerliche Wirtschaft wird im allgemeinen ärmer — der

Gesamtbetrag der von ihr produzierten Werte verringert sich." (148.)Dies ist sehr ungenau. D er P rozeß des Ruins der Bauernschaft durch denKapitalismus besteht in ihrer Verdrängung durch die Dorfbourgeoisie, dieaus der gleichen Bauernschaft hervorgeht. Herr Bogdanow hätte z. B.schwerlich den Verfall der bäuerlichen Wirtschaft in D eutschland schildernkönnen, ohne die Vollbauern* zu streifen. An der angeführten Stellespricht der Verfasser von den Bauern überhaupt, gleich darauf jedochbringt er ein Beispiel aus dem russischen Leben — vom russischen Bauernaber „im allgemeinen" zu sprechen ist mehr als riskant. Auf der gleichen

Seite sagt der Verfasser: „Der Bauer befaßt sich entweder ausschließlichmit Landwirtschaft, oder er geht in die Manufaktur", d. h. — fügen wirvon uns aus hinzu —, er wird entweder zu einem Dorfbourgeois oderzu einem Proletarier (mit einem winzigen Stück Land). Dieser zweiseitigeProzeß hätte erwähnt werden müssen. — Schließlich müssen wir als einenallgemeinen Mangel des Buches das Fehlen von Beispielen aus dem rus-sischen Leben vermerken. Zu sehr vielen Fragen (wie z. B. zur Organi-sation der Produktion im Mittelalter, zur Entwicklung der maschinellenProduktion und der Schienenwege, zur Zunahme der Stadtbevölkerung,

zu den Krisen und den Syndikaten, zum Unterschied zwischen Fabrikund Manufaktur usw.) wären derartige Beispiele aus unserer ökonomi-schen Literatur sehr wichtig, denn sonst wird die Aneignung des Gegen-stands für den Anfänger durch das Fehlen ihm bekannter Beispiele sehrerschwert. Uns scheint, die Ausfüllung der erwähnten Lücken würde denUmfang des Baches nur ganz unbedeutend vergrößern und seiner weitenVerbreitung, die in jeder Beziehung sehr wünschenswert ist, nicht hinder-lich sein.

Qesdbrieben im Februar i898.Veröffentlicht im A pril 1898 in der Nach dem 3'ext der ZeitschriftZeitschrift „M ir Bosbi" 5Vr. 4.

* „Vollbauern" bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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N O T I Z Z U R F R A G E D E R T H E O R I E D E R M Ä R K T E

(Aas Anlaß der Polemik zwischenHerrn Tugan-Baranowski und Herrn Bulgakow)

Die Frage der Märkte in der kapitalistischen Gesellschaft nimmt be-kanntlich einen in höchstem Maße wichtigen Platz in der Lehre der volks-tümlerischen Ökonomen m it den Herren W. W .9 und N.-on an der Spitzeein. Es ist deshalb ganz natürlich, daß die Ökonomen, die die Theoriender Volkstümler ablehnen, es für notwendig gehalten haben, dieser FrageAufmerksamkeit zu schenken und vor allem die grundlegenden, die ab-strakt-theoretischen Punkte der „Theorie der M ärk te" klarzustellen. Einesolche Klarstellung versuchte im Jahre 1894 Herr Tugan-Baranowski inseinem Buch „Die Industriekrisen im heutigen England", zweiter Teil,Kapitel I: „Die Theorie der Märkte", und dann widmete im vorigen JahrHerr Bulgakow der gleichen Frage das Buch „über die Märkte bei kapi-talistischer Produktion" (Moskau 1897). Beide Verfasser stimmen in dengrundlegenden Anschauungen überein; bei beiden liegt der Schwerpunktin einer Darlegung der hervorragenden Analyse der „Zirkulation undReproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals",'die Marx im „Kapi-tal", Band II, Abschnitt III, gegeben hat. Beide Autoren sind sich dar-über einig, daß die Theorien der Herren W . W . und N .-on über denMarkt (besonders den inneren Markt) in der kapitalistischen Gesell-

schaft unbedingt falsch sind und entweder auf Ignorierung oder Nichtver-stehen der Analyse von Marx beruhen. Beide Autoren erkennen an, daßsich die in Entwicklung begriffene kapitalistische Produktion hauptsäch-lich auf der Linie der Produktionsmittel, nicht aber der 'Konsumtionsmittelden Markt selber schafft; — daß sich die Realisation des Produkts im all-gemeinen und des Mehrwerts10 im besonderen durchaus ohne Einbezie-hung des äußeren Marktes erklären läßt; — daß die Notwendigkeit des

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46 V.l. Centn

äußeren Marktes für ein kapitalistisches Land sich keineswegs aus den

Bedingungen der Realisation ergibt (wie die Herren W . W . und N.-on an-nehmen), sondern aus historischen Bedingungen und dgl. mehr. Man solltemeinen, angesichts einer so vollständigen Übereinstimmung gebe es zwi-schen Herrn Bulgakow und Herrn Tugan-Baranowski keine Streitfragenund sie könnten ihre Kräfte gemeinsam der weiteren und ausführlicherenKritik der volkstümlerischen Ökonomie widmen. In Wirklichkeit aber istzwischen den erwähnten Schriftstellern eine Polemik entbrannt (Bulga-kow, a. a. O., S. 246—257 passim*,- Tugan-Baranowski in „Mir Boshi",Jahrgang 1898, Nr. 6: „Kapitalismus und Markt", zu dem Buch S. Bul-

gakows). Unserer Meinung nach sind sowohl Herr Bulgakow als auchHerr Tugan-Baranowski in ihrer Polemik etwas zu weit gegangen undhaben ihren Bemerkungen einen zu persönlichen Charakter verliehen.Versuchen wir festzustellen, ob zwischen ihnen eine wirkliche Meinungs-verschiedenheit besteht und, wenn ja, wer von ihnen mehr recht hat.

Herr Tugan-Baranowski wirft Herrn Bulgakow vor allem vor, er sei„wenig originell" und liebe es zu sehr, jurare in verba magistri** („MirBoshi", 123). „Die bei mir entwickelte Lösung der Frage nach der Rolledes äußeren Marktes für ein kapitalistisches Land, die von Herrn Bulga-

kow in vollem Umfang akzeptiert wird,ist durchaus nicht Marx entlehnt",erklärt Herr Tugan-Baranowski. Uns scheint, daß diese Erklärung un-richtig ist, denn Herr Tugan-Baranowski hat die Lösung der Frage beikeinem anderen als Marx entlehnt; von dort hat sie zweifellos auch HerrBulgakow genommen, so daß nicht über „Originalität", sondern nur überdie Auffassung dieser oder jener These von Marx, über die Notwendig-keit, Marx so oder anders darzulegen, gestritten werden kann. HerrTugan-Baranowski erklärt, daß Marx „im zweiten Band die Frage desäußeren Marktes absolut nicht berührt" (1. c.***). Das ist falsch. In dem-

selben (dritten) Abschnitt des zweiten Bandes, in dem die Realisationdes Produkts analysiert wird, stellt Marx m it aller Bestimmtheit klar, wasder auswärtige Handel und folglich auch der äußere Markt mit dieserFrage zu tun haben. Er sagt darüber folgendes:

„Kapitalistische Produktion existiert überhaupt nicht ohne auswärtigen

* und an anderen Stellen. Die Red.

** auf die Worte des Meisters zu schwören. Die Red.

*** loco citato — am angeführten Ort. Die Red.

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TJotiz zur frage der Jbeorie der Märkte 47

Handel. Wird aber normale jährliche Reproduktion auf einer gegebnenStufenleiter unterstellt, so ist damit auch unterstellt, daß der auswärtigeHandel nur durdb Artikel" (Waren) „von andrer Qebraudos- oder Natu-ralform einheimische Artikel ersetzt, ohne die Wertverhältnisse zu affi-zieren, also auch nicht die Wertverhältnisse, worin die zwei Kategorien:Produktionsmittel und Konsumtionsmittel, sich gegeneinander umsetzen,und ebensowenig die Verhältnisse von konstantem Kapital, variablemKapital und Mehrwert, worin der Wert des Produkts jeder dieser Kate-gorien zerfällbar. Die Hereinziehung des auswärtigen Handels bei Ana-lyse des jährlich reproduzierten Produktenwerts kann also nur verwirren,ohne irgendein neues Moment, sei es des Problems, sei es seiner Lösungzu liefern. Es ist also ganz davon zu abstrahieren..." („Das Kapital",II1 , 46911. Hervorgehoben von uns.) Die „Lösung der Frage" durchHerrn Tugan-Baranowski: — „ . . . in jedem Lande, das Waren aus demAusland einführt, kann Kapital im Überfluß vorhanden sein; ein äußererMarkt ist für ein solches Land unbedingt notwendig" („Industriekrisen",S. 429. Zitiert in „Mir Boshi", 1. c , 121) — ist eine einfache Umstilisierungder These von Marx. Marx sagt, bei Analyse der Realisation darf derAußenhandel nicht in Betracht gezogen werden, denn er ersetzt nur dieeinen Waren durch andere. Herr Tugan-Baranowski, der die gleiche Frage

der Realisation untersucht (Teil 2, Kapitel I der „Industriekrisen"), sagt,daß ein W aren einführendes Land auch Waren ausführen, d. h. einenäußeren Markt haben muß. Fragt sich, ob man hiernach sagen kann, HerrTugan-Baranowski habe die „Lösung der Frage" „durchaus nicht Marxentlehnt"? Herr Tugan-Baranowski sagt weiter: „BandII und III des,Kapitals' bilden nur einen bei weitem nicht vollendeten Rohentwurf"und „aus diesem Grunde finden wir in Band III keine Schlußfolgerungenaus der hervorragenden Analyse, die in Band II gegeben wird" (angeführ-ter Artikel, 123). Auch diese Behauptung ist ungenau. Neben einzelnen

Analysen der gesellschaftlichen Reproduktion ( „Das Kapital" ,111,1,289)x2,wo klargestellt wird, in welchem Sinne und inwieweit die Realisation deskonstanten Kapitals von der individuellen Konsumtion „unabhängig" ist,„rinden wir in Band III" ein spezielles Kapitel (49. „Zur A nalyse desProduktionsprozesses"), das den Schlußfolgerungen aus der in Band IIgegebenen' hervorragenden Analyse gewidmet ist, ein Kapitel, worin dieResultate dieser Analyse verwendet werden, um die sehr wichtige Frage

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48 W.T.Lenin

nach den Arten des gesellschaftlichen Einkommens in der kapitalistischen

Gesellschaft zu lösen. Schließlich muß als ganz genauso falsch die Behaup-tung des H errn Tugan-Baranowski bezeichnet werden , daß sich angeblich„Marx in Band III des ,Kapitals' über die vorliegende Frage ganz andersgeäußert" habe, daß wir angeblich in Band III „sogar Behauptungen fin-den, die durch diese Analyse entschieden widerlegt werden" (angeführterArtikel, 123). Herr Tugan-Baranowski führt auf S. 122 seines Artikelszwei solche, der grundlegenden Doktrin angeblich widersprechende Be-trachtungen von Marx an. Nehmen wir diese näher in Augenschein. Marxsagt in Band III: „Die Bedingungen der unmittelbaren Exploitation unddie ihrer Realisation sind nicht identisch. Sie fallen nicht nur nach Zeitund Ort, sondern auch begrifflich auseinander. Die einen sind nur be-schränkt durch die Produktivkraft der Gesellschaft, die andren durchdie Proportionalität der verschiednen Produktionszweige und durch dieKonsumtionskraft der Gesellschaft... Je mehr sich aber die Produktiv-kra ft" (der Gesellschaft) „entwickelt, um so mehr gerät sie in W ide r-spruch mit der engen Basis, worauf die Konsumtionsverhältnisse be ruhe n."(III, 1, 226. Russ. üb er s., S. 189 .)13 Herr Tugan-Baranowski deutetdiese Worte wie folgt: „Die Proportionalität der Verteilung der natio-nalen Produktion allein garantiert noch nicht die Möglichkeit, die Pro-dukte abzusetzen. Es kann sein, daß die Produkte keinen Markt finden,obgleich die Verteilung der Produktion proportional ist — das ist offenbarder Sinn der zitierten Worte von Marx." Nein, nicht das ist der Sinn die-ser Worte. Es gibt keinen Grund, in diesen Worten irgendeine "Berichti-gung zu der in Band II dargelegten Realisationstheorie zu sehen. Marxkonstatiert hier nur jenen Widerspruch des Kapitalismus, auf den er auchan anderen Stellen des „Kapitals" hingewiesen hat, nämlich den Wider-spruch zwischen dem Bestreben, die Produktion schrankenlos auszudeh-nen, und der Notwendigkeit einer beschränkten Konsumtion (infolge des

proletarischen Zustands der Volksmassen). Herr Tugan-Baranowski wirdnatürlich nicht bestreiten, daß dieser Widerspruch dem Kapitalismus eigenist; und da Marx an eben dieser Stelle auf ihn hinweist, so haben wirkein Recht, noch irgendeinen weiteren Sinn in seinen Worten zu suchen.Die „Konsumtionskraft der Gesellschaft" und die „Proportionalität derverschiedenen Produktionszweige" sind keineswegs irgendwelche isolier-ten, selbständigen, nicht miteinander verbundenen Bedingungen. Im Ge-

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JVotiz zur 7rage d er 7h eorie der Märkte 49

genteil, ein bestimmter Stand der Konsumtion ist eines der Elemente der

Proportionalität. In der Tat, die Analyse der Realisation hat gezeigt, daßdie Bildung eines inneren Marktes für den Kapitalismus nicht so sehrauf der Linie der Konsumtionsmittel erfolgt als vielmehr auf der Linieder Produktionsmittel. Hieraus folgt, daß sich die erste Abteilung der ge-sellschaftlichen Produktion (Produktion von Produktionsmitteln) rascherentwickeln kann und muß als die zweite (Produktion von Konsumtions-mitteln). Hieraus folgt aber selbstverständlich nicht, daß sich die Produk-tion von Produktionsmitteln völlig unabhängig von der Produktion derKonsumtionsmittel und ohne jeden Zusammenhang mit ihr entwickeln

könnte. Marx sagt zu diesem Punkt: „Außerdem findet, wie wir gesehnhaben (Buch II , Abs chnitt III) , eine beständige Zirku lation statt zwischenkonstantem Kapital und konstantem Kapital, die insofern zunächst un-abhängig ist von der individuellen Konsumtion, als sie nie in dieselbe ein-geht, die aber doch durch sie definitiv begrenzt ist, indem die Produktionvon konstantem Kapital nie seiner selbst wegen stattfindet, sondern nurweil mehr davon gebraucht wird in den Produktionssphären, deren Pro-dukte in die individuelle Konsumtion eingehn." (III , 1, 289. Russ. übers. ,2 4 2 . ) 1 4 Also ist in letzter Instanz die produktive Konsumtion (die Kon-sumtion von Produktionsmitteln) stets mit der individuellen Konsumtionverbunden, stets von ihr abhängig. Indessen ist dem Kapitalismus einer-seits das Streben nach schrankenloser Ausdehnung der produktiven Kon-sumtion, nach schrankenloser Ausdehnung der Akkumulation und derProduktion und anderseits die Proletarisierung der Volksmassen eigen,die der Erweiterung der individuellen Konsumtion recht enge Grenzensetzt. Es ist klar, daß wir es hier mit einem Widerspruch in der kapitali-stischen Produktion zu tun haben, und Marx tut an der zitierten Stellenichts anderes, als diesen Widerspruch zu konstatieren.* Die Analyse

* Genau den gleichen Sinn hat auch eine andere Stelle, die Herr Tugan-Baranowski zitiert (III, 1, 231, vgl. S. 232 bis zum Schluß des Unterkapitels) 15 ,und ebenso die folgende Stelle über die Krisen: „De r letzte Grund aller wirk-lichen Krisen bleibt immer die Arm ut un d K onsumtionsbeschränkung der M as-sen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfteso zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaftihre Grenze bilde." („Das Kapital", III, 2, 21. Russ. übers., S. 395.) 16 Dengleichen Sinn hat die folgende Bemerkung von Marx: „Widerspruch in der

4 Lenin, W erke, Bd. 4

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50 V.l. Lenin

der Realisation in Band II widerlegt diesen Wid erspru ch (entgegen der

Meinung von Herrn Tugan-Baranowski) in keiner Weise, sie zeigt imGegenteil den Zusammenhang zwischen produktiver und individuellerKonsumtion. Selbstverständlich wäre es ein grober Fehler, aus diesemWiderspruch des Kapitalismus (oder aus seinen anderen Widersprüchen)schließen zu wollen, daß der Kapitalismus unmöglich oder aber gegenüberfrüheren Wirtschaftssystemen nicht fortschrittlich ist (wie das unsereVolkstümler gern tun). Die Entwicklung des Kapitalismus kann nicht an-ders verlaufen als in einer ganzen Reihe von Widersprüchen, und derHinweis auf diese Widersprüche erklärt uns lediglich den historisch ver-

gänglichen Charakter des Kapitalismus, erklärt die Bedingungen und Ur-sachen seiner Tendenz, in eine höhere Form überzugehen.

Fassen wir das oben Dargelegte zusammen, so kommen wir zu demfolgenden Schluß: Die bei Herrn Tugan-Baranowski entwickelte Lösungder Frage nach der Rolle des äußeren Marktes ist niemand anderem alsMarx entlehnt; zwischen Band II und III des „Kapitals" besteht keinerleiWiderspruch in der Frage der Realisation (und der Theorie der Märkte).

Gehen wir weiter . Herr Bulgakow wirf t Herrn Tugan-Baranowski vor ,daß er die Lehre von den Märkten bei den Ökonomen vor Marx falsch

beurteile. Herr Tugan-Baranowski wirft Herrn Bulgakow vor, daß er dieMarxschen Ansichten von dem wissenschaftlichen Boden losreiße, auf demsie erwachsen sind, daß er die Sache so darstelle, als ob „die MarxschenAnsichten in keinerlei Zusammenhang mit den Anschauungen seiner Vor-gänger stehen". Dieser letzte Vorwurf ist absolut unbegründet, denn HerrBulgakow hat eine derartige absurde Meinung nicht geäußert, er hat, imGegenteil, die Anschauungen von Vertretern verschiedener Schulen vorMarx angeführt . Unserer Meinung nach haben sowohl Herr Bulgakowals auch H err Tugan-Baranowski zu Unrech t bei der Darstel lung der G e-

kapitalistischen Produktionsweise: Die Arbeiter als Käufer von Ware sindwichtig für den Markt. Aber als Verkäufer ihrer Ware — der Arbeitskraft —

hat die kapitalistische Gesellschaft die Tendenz, sie auf das Minimum desPreises zu beschränken." („Das Kapital", II, 303.)17 Von der unrichtigenDeutung dieser Stelle bei Herrn N.-on haben wir schon im „Nowoje Slowo"[Neues Wort], Jahrgang 1897, Maiheft, gesprochen (siehe Werke, 4. Ausgabe,Bd. 2, S. 149/150, ross. Die Red.). Es besteht kein Widerspruch zwischen alldiesen Stellen und der Analyse der Realisation im dritten Abschnitt von Band II .

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Notiz zur Trage der Jheorie der Märkte 51

schichte dieser Frage so wenig Aufmerksamkeit auf Adam Smith verwandt,

auf den man bei der speziellen Darlegung der „Theorie der Märkte" un-bedingt mit größter Ausführlichkeit hätte eingehen müssen; „unbedingt"deshalb, weil gerade Adam Smith der Stammvater jener falschen Doktrinvom Zerfall des gesellschaftlichen Produkts in variables Kapital und Mehr-wert (Arbeitslohn, Profit und Rente nach der Terminologie von AdamSmith) ist, die sich bisM arx so zähe gehalten hat und es unmöglich madite,die Frage der Realisation richtig zu lösen, ja, sie auch nur richtig zu stellen.Herr Bulgakow sagt mit vollem Recht: „Bei der Unrichtigkeit der Aus-gangspunkte und der falschen Formulierung des Problems selbst konnten

diese Streitigkeiten" (über die Theorie der Märkte, die in der ökonomi-schen Literatur entbrannten) „nur zu leeren und scholastischen Wort-streitereien führen." (A. a. O., S. 21, Anmerkung.) Indessen hat der Ver-fasser Adam Smith nicht mehr als eine Icnappe Seite gewidmet, wobei erdie von Ma rx im 19. Kapitel von Band II des „Kapitals" (Unterkapitel II,S. 353—383)18 gebotene eingehende und glänzende Untersuchung derTheorie von Adam Smith unberücksichtigt ließ, und ist statt dessen aufdie Lehren zweitrangiger und unselbständiger Theoretiker wie J. S. Millund v. Kirchmann eingegangen. Was Herrn Tugan-Baranowski anbelangt,so hat er A. Smith völlig übergangen und daher bei der Schilderung derAnschauungen der späteren Ökonomen ihren grundlegenden fehler über-

sehen (die Wiederholung des vorstehend erwähnten Fehlers von Smith).Es versteht sich von selbst, daß die Darstellung unter diesen Umständennicht befriedigend sein konnte. Wir beschränken uns auf zwei Beispiele.Nach Entwicklung seines Schemas Nr. 1, das die einfache Reproduktionerklärt, sagt Herr Tugan-Baranowski: „Aber der von uns vorausgesetzteFall einfacher Reproduktion ruft ja gar keine Zweifel hervor,- unsererVoraussetzung entsprechend konsumieren die Kapitalisten ihren ganzenProfit — da ist es verständlich, daß das Angebot von Waren die Nach-

frage nicht übersteigen kann." („Industriekrisen", S.409.) Das ist falsch.Die Sache ist durchaus nicht „verständlich" für die früheren Ökono-men, denn diese konnten nicht einmal die einfache Reproduktion desgesellschaftlichen Kapitals erklären, ja, sie läßt sich auch nicht erklären,wenn man nicht begriffen hat, daß das gesellschaftliche Produkt seinemW ert nach in konstantes Kapital + variables Kapital + Mehrwert zerfällt,seiner materiellen Form nach aber in zwei große Abteilungen: Produk-

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52 TV.I.Lenin

tionsmittel und Konsumtionsmittel. Deshalb erweckte auch dieser Fall bei

A. Smith „Zweifel", die ihn, wie Marx gezeigt hat, schließlich verwirr-ten. Wenn nun die späteren Ökonomen den fehler von Smith wieder-holten, ohne die Zweifei von Smith zu teilen, so zeigt dies bloß, daß siein theoretischer Beziehung in der vorliegenden Frage einen Schritt rück-wärts gemacht haben. Ebenso falsch ist es, wenn Tugan-Baranowski sagt:„Die Lehre von Say und Ricardo ist theoretisch absolut richtig; hättensich ihre Gegner die Mühe gegeben, in Zahlen zu berechnen, wie dieWaren in der kapitalistischen Wirtschaft verteilt werden, so hätten sieleicht begriffen, daß die Verneinung dieser Lehre einen logischen Wider-

spruch in sich birgt." (1. c, 427.) Nein, die Lehre von Say und Ricardo isttheoretisch völlig falsch: Ricardo wiederholte den Fehler von Smith (sieheseine „Werke", übersetzt von Sieber, St. Petersburg 1882, S. 221), undSay hat ihn außerdem durch die Behauptung vollendet, der Unterschiedzwischen dem Rohprodukt und dem Reinprodukt der Gesellschaft seivöllig subjektiv. Und wieviel auch Say, Ricardo und ihre Gegner „in Zah-len berechnet" hätten — sie hätten dabei niemals etwas errechnet, denn eshandelt sich hier durchaus nicht um Zahlen, wie auch Bulgakow bereitszu einer anderen Stelle in Herrn Tugan-Baranowskis Buch absolut richtig

bemerkt hat (Bulgakow, 1. c , S. 21 , Anmerkung).Jetzt sind wir auch zu dem anderen Gegenstand des Streits zwischen

Herrn Bulgakow und Herrn Tugan-Baranowski gekommen, nämlich zurFrage nach den Zahlenschemata und ihrer Bedeutung. H err Bulgakow be-hauptet, daß die Schemata des Herrn Tugan-Baranowski, „weil sie vomVorbild" (d. h. vom Marxschen Schema) „abweichen, in bedeutendemMaße ihre Überzeugungskraft verlieren und den Prozeß der gesellschaft-lichen Reproduktion nicht erklären" (1. c, 248), während Herr Tugan-Baranowski sagt, daß „Herr Bulgakow den eigentlichen Zweck derartiger

Schemata nicht klar versteht" („Mir Boshi", Jahrgang 1898, Nr.6, S. 125).Unserer Meinung nach liegt in diesem Fall die Wahrheit völlig auf derSeite des Herrn Bulgakow. Es ist eher Herr Tugan-Baranowski, der „dieBedeutung der Schemata nicht klar versteht", denn er meint, daß dieSchemata „die Schlußfolgerung beweisen" (ibid.*). Schemata an und fürsich können nichts beweisen; sie können nur einen Prozeß illustrieren,wenn dessen einzelne Elemente theoretisch klargestellt sind. Herr Tugan-

* ibidem — ebenda. Die Ked.

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Notiz zur 7rcu)e der Jheorie der Märkte 53

Baranowski hat eigene Schemata z usamm engestellt, die sich von de nM ar x-

schen Schemata unterscheiden (und unvergleichlich weniger klar sind alsdie Marxschen Schemata), wobei er es unterließ, diejenigen Elemente desProzesses, die durch die Schemata illustriert werden sollen, theoretisch zuklären. Die Hauptthese der Theorie von Marx, der bewiesen hat , daßdas gesellschaftliche Pro du kt nicht allein in variables Kapital + M eh rw ertzerfällt (wie A. Smith, Ricardo, Proudhon, Rodbertus u. a. glaubten),sondern in kon stantes K apital + die gena nnten Teile — diese These ha tHerr Tugan-Baranowski absolut nicht erläutert, obgleich er sie in seinenSchemata angenommen hat. Der Leser des Buches von Herrn Tugan-

Baranowski ist nidht in der Lage, diese Hauptthese der neuen Theorie zuverstehen. Herr Tugan-Baranowski hat die Notwendigkeit , die beidenAbteilungen der gesellschaftlichen Produktion (I: Produktionsmittel undI I : Konsumtionsmittel) zu unterscheiden,absolutnichtmotivier t , während,wie Herr Bulgakow richtig bemerkt, „allein in dieser Teilung mehr theo-retischer Sinn liegt als in allen vorangegangenen Wortstreitereien bezüg-lich der Theorie der Märkte" (1. c , S. 27) . Da s ist der G rund , w eshalbdie Darstellung der Theorie von Marx bei Herrn Bulgakow viel klarerund richtiger ist als bei Herrn Tugan-Baranowski.

Zum Schluß müssen wir bei eingehenderer Betrachtung des Buches vonHerrn Bulgakow folgendes bemerken. Etwa ein Drittel seines Buches istder „Verschiedenheit der Kapitalumschläge" und dem „Lohnfonds" ge-widm et. Die Paragrap hen m it diesen Überschriften scheinen uns am wenig-sten geglückt zu sein. In dem ersten der erwähnten Paragraphen versuchtder Verfasser die An alyse von Ma rx zu ergän zen (siehe S. 6 3, Anm er-kung) und verliert sich in sehr komplizierte Berechnungen und Schemata,um zu illustrieren, wie der Prozeß der Realisation bei Verschiedenheitenim Kapitalumschlag erfolgt. Uns scheint, daß die Schlußfolgerung, zu

der Herr Bulgakow am Ende gelangt (zur Erklärung der Realisation beiVerschiedenheit der Kapitalumschläge sei es notwendig, das Vorhanden-sein von Vo rräten bei den Kapitalisten beider Abteilungen zu unterstellen,vgl. S. 85), ganz von selbst aus den allgemeinen Gesetzen der Produktionund der Zirkulation des Kapitals folgt und daß deshalb keine Notwendig-keit bestand, für das Verhältnis zwischen den Umschlägen des Kapitalsin den Abteilungen II und I verschiedene Fälle vorauszusetzen und eineganze Reihe von Diagrammen zu konstruieren. Das gleiche muß auch

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54 W J.Lenin

vom zweiten der erwähnten Paragraphen gesagt werden. Herr Bulgakow

weist mit vollem Recht auf die Fehlerhaftigkeit der Behauptung des HerrnHerzenstein hin, der in dieser Frage einen Widersp ruch in der MarxschenLehre erblickt. D er Verfasser bemerkt ganz richtig: „Wenn man denUmschlag aller Kapitale einem Jahr gleichsetzt, so sind die Kapitalistenzu Beginn des betreffenden Jahres Eigentümer sowohl des gesamten imVorjahr erzeugten Produkts als auch einer Geldsumme, die diesem Wertgleichkommt." (S. 142/143.) Herr Bulgakow übernahm jedoch ganz zuUnrecht (S. 92 ff.) die rein scholastische Stellung dieser Frage von denfrüheren Ökonomen (wird der Arbeitslohn aus der laufenden Produktion

oder aus der Produktion der vorangegangenen Arbeitsperiode genom-men?) und schuf sich überflüssige Schwierigkeiten, als er die Darstellungvon Ma rx „verwarf", der „seiner eigenen Grundansicht zu widersprechenscheint", „wenn er so argumentiert, als ob" „der Arbeitslohn nicht demKapital, sondern der laufenden Produktion entnommen werde" (S. 135).Marx stellt die Frage überhaupt nicht in dieser Form. Herr Bulgakowmußte die Darstellung von Marx „verwerfen", weil er versucht, auf dieTheorie von Marx eine diesem ganz fremde Fragestellung anzuwenden.Ist einmal geklärt, auf welche Weise der Prozeß der gesamten gesell-

schaftlichen Produktion im Zusammenhang mit der Konsumtion des Pro-dukts durch die verschiedenen Klassen der Gesellschaft vor sich geht, aufwelche Weise die Kapitalisten das für die Zirkulation des Produkts not-wendige Geld vorschießen — sobald all dies klargestellt ist, verliert dieFrage, ob der Arbeitslohn der laufenden oder aber der vorangegangenenProduktion entnommen wird, jede ernstliche Bedeutung. Deshalb sagtauch Engels, der Herausgeber der letzten Bände des „Kapitals", im Vor-wort zum zweiten Band, die Spekulationen z. B. von Rodbertus darüber,„ob der Arbeitslohn aus Kapital oder Einkommen stamme, gehören der

Scholastik an und erledigen sich endgültig durch den dritten A bschnitt die-ses zweiten Buchs des .Kapital'" („Das Kapital", II , Vorwort, S. X XI19).

Qesdbriebeii Ende i898.

Veröffentlicht im Januar i 899 in der Nach dem 7ext der Zeitschrift.Zeitschrift „Nautscfonoje Obosrenije"20 ?lr. {."Unterschrift: Wladimir lljin.

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55

REZENSION

PARVUS, D er W eltmarkt und die Agrarkrisis. ökonomisdbeSkizzen. Aus dem Deutschen übertragen von L.J., St. Peters-burg 1898. Verlag O.N.Pop owa (Bildende Bibliothek,

2. Serie, Wr. 2). 142 S. Preis 40 %op.

Dieses Buch des talentierten deutschen Publizisten, der unter dem Pseud-onym Parvus schreibt, besteht aus einer Reihe von Skizzen, die einigeErscheinungen der modernen Weltwirtschaft charakterisieren, wobei diegrößte Aufmerksamkeit Deutschland gewidmet ist. Parvus geht von derEntwicklung des Weltmarkts aus und schildert vor allem, welche Stadiendiese Entwicklung in letzter Zeit im Zusammenhang mit dem Niedergangder industriellen Hegemonie Englands durchmacht. Im höchsten Gradeinteressant sind die Bemerkungen des Verfassers über die Rolle, die die

alten Industrieländer dadurch spielen, daß sie jüngeren kapitalistischenLändern als Markt dienen: z. B. nimmt England immer größer werdendeMengen deutscher Fabrikate auf, gegenwärtig zwischen einem Fünftelund einem Viertel der Gesamtausfuhr Deutschlands. Gestützt auf dieDaten der Handels- und Industriestatistik, schildert Parvus die originelleArbeitsteilung zwischen verschiedenen kapitalistischen Ländern, vondenen die einen hauptsächlich für den Absatz in den Kolonien, die anderenfür den Absatz in Europa produzieren. In dem Kapitel „Städte undEisenbahnen" unternimmt der Verfasser den außerordentlich interessan-

ten Versuch, die wichtigsten „Formen kapitalistischer Städte" und ihreBedeutung im Gesamtsystem der kapitalistischen Wirtschaft zu charakte-risieren. Der übrige, größere Teil .des Buches (S. 33—142) ist Fragen derWidersprüche in der modernen kapitalistischen Landwirtschaft und derAgrarkrise gewidmet. Parvus klärt zunächst den Einfluß der industriellenEntwicklung auf die Getreidepreise, auf die Grundrente usw. Dann legter die von Marx in Band III des „Kapitals" entwickelte Theorie derGrundrente dar und erläutert vom Standpunkt dieser Theorie die Haupt-

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56 IV.1. Lenin

Ursache der kapitalistischen Agrarkrisen. Nach Ergänzung der rein theo-

retischen Untersuchung dieser Frage durch die auf Deutschland bezüg-lichen Daten gelangt Parvus zu folgendem Schluß: „Der letzte undeigentliche Grund der Agrarkrisis sind einzig die durch die kapitalistischeEntwicklung hochgetriebenen Grundrenten resp. Bodenpreise." „Man be-seitige diese Bodenpreise", sagt Parvus, „und die europäische Landwirt-schaft kann wieder die Konkurrenz aufnehmen mit der russischen undamerikanischen." „Ihr" (der Privateigentümer) „einziges Mittel gegen dieAgrarkrisis, sieht man von einer etwaigen günstigen Gestaltung des Welt-markts ab, ist deshalb: Subhastation des gesamten kapitalistischen Grund-

besitzes." (141.) Somit fällt die Schlußfolgerung, zu der Parvus gelangt,im großen und ganzen mit der Meinung von Engels zusammen, der inBand III des „Kapitals" darauf hingewiesen hat, daß die moderne Agrar-krise die von den europäischen Grun dbesitzern bezog enen früherenGrundrenten unmöglich macht.2 1 Wir geben allen Lesern, die sich fürdie erwähnten Fragen interessieren, nachdrücklich den Rat, sich mit demBuch von Parvus bekannt zu machen. Dieses Buch bildet ein vortrefflichesGegengewicht gegen die landläufigen volkstümlerischen Betrachtungenüber die moderne Agrarkrise, die ständig in der volkstümlerischen Presse

zu finden sind und unter einem sehr wesentlichen Mangel leiden: dieTatsache der Krise wird nicht im Zusammenhang mit der Gesamtent-wicklung des Weltkapitalismus, nicht vom Standpunkt bestimmter Ge-sellschaftsklassen untersucht, sie wird nur untersucht, um daraus die klein-bürgerliche M ora l von der Lebensfähigkeit der kleinbäuerlichen W irtschaftabzuleiten.

Die Übersetzung des Buches von Parvus kann im ganzen als befriedi-gend gelten, obgleich an einzelnen Stellen mißlungene und schwerfälligeRedewendungen vorkommen.

Qesdhrieben im Februar i899.

Veröffentlicht im Mä rz i899 . Nadi dem 7ext der Zeitschrift.in der Zeitschrift „Natschah" '22 9vr. 3.Unterschrift: Wl.Jljin.

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REZENSION

R. GW OSDEW , Das wudiertreibende Kulakentnm, seine sozial-ökonomische Bedeutung. St. Petersburg i 899. Verlag IN. Qarin

Das Buch des Herrn Gwosdew zieht das Fazit aus den Daten, die inunserer ökonomischen Literatur über die interessante Frage des wucher-treibenden Kulakentums gesammelt worden sind. Der Verfasser gibt eineReihe von Hinweisen auf die Entwicklung der Warenzirkulation und derWarenproduktion in der Epoche vor der Reform, eine Entwicklung, diedas Handels- und Wucherkapital hervorgebracht hat. Dann wird dasMaterial über den Wucher in der Getreideproduktion, über das Kulaken-tum im Zusammenhang mit den Umsiedlungen, denKustargewerben*,den

Wandergewerben sowie im Zusammenhang mit Abgaben und Kredit zueiner Übersicht zusammengefaßt. He rr Gwosdew erklärt mit vollem Recht,daß die Vertreter der volkstümlerischen Ökonomie das Kulakentumfalsch betrachten, wenn sie in ihm einen „Auswuchs" am Organismusder „Volksproduktion" sehen und nicht eine der Formen des Kapitalis-mus, die eng und unauflöslich mit dem gesamten System der gesellschaft-lichen Wirtschaft Rußlands verbunden ist. Die Volkstümler ignorierenden Zusammenhang des Kulakentums mit der Auflösung der Bauern-schaft, die nahe Verwandtschaft der wuchertreibenden „Blutsauger des

Dorfes" usw. mit den „tüchtigen Bauern", diesen Vertretern der dörf-lichen Kleinbourgeoisie in Rußland. Die Überreste der mittelalterlichenEinrichtungen, die auf unserem Dorfe lasten (ständische Abgeschlossen-heit der bäuerlichen Dorfgemeinde, Bindung der Bauern an den Boden-anteil, solidarische Haftung, ständische Ungleichheit der Abgaben),schaffen gewaltige Hindernisse für die Anlage kleiner Kapitalien in derProduktion, für ihre Anwendung in Landwirtschaft und Industrie. Das

* Siehe Note auf S. 9 dieses Bandes. Der Tibers.

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58 TV.1 Lenin

natürliche Resultat hiervon ist die übermäßige Verbreitung der niedrig-

sten und schlechtesten 7ormen des Kapitals, des Handels- und Wucher-kapitals. In der Masse der „wirtschaftlich schwachen" Bauern, die aufihren winzigen Bodenanteilen ein Hungerdasein fristen, wird die geringeZahl wohlhabender Bauern unvermeidlich zu Ausbeutern schlimmsterSorte, die die D orf arm ut durch Verleihung v on Geld, winterliches Gedingeusw. und dgl. mehr knechten. Die veralteten Einrichtungen, die die Ent-wicklung des Kapitalismus sowohl in der Landwirtschaft als auch in derIndustrie hemmen, engen dadurch die Nachfrage nach Arbeitskräften ein,ohne den Bauern irgendeine Garantie gegen die schamloseste und schran-

kenloseste Ausbeutung, ja selbst gegen den Hungertod zu bieten. Die inHerrn Gwosdews Buch angeführten ungefähren Berechnungen der Sum-m en, die die unbe mittelte Bauernschaft den Kulaken un d W uche rern zahlt,zeigen anschaulich, wie unbegründet es ist, in der üblichen Weise dierussische Bauernschaft mit ihrem A nteilland dem westeuropäischen Prole-tariat gegenüberzustellen. In Wirklichkeit befindet sidi die Masse dieserBauernschaft in einer viel schlechteren Lage als das Landproletariat imWesten; in Wirklichkeit gehören unsere unbemittelten Bauern zu denPaupern, und immer häufiger wiederholen sidi Jahre, wo extraordinäre

Hilfsmaßnahmen für Millionen hungernder Bauern nötig sind. Wennnicht die fiskalischen Institutionen die wohlhabende Bauernschaft unddie Dorfarmut künstlich verbänden, so müßte unweigerlich diese letztereoffiziell eben zu den Paupern gerechnet werden, und das würde das Ver-hältnis der modernen Gesellschaft zu diesen Bevölkerungsschichten ge-nauer und wahrheitsgetreuer bestimmen. Der Nutzen des Buches vonHerrn Gwosdew besteht darin, daß es die Angaben über den Prozeßder „nicht proletarischen Verelendung" * zusammenfaßt und diesen Pro-zeß richtig als die niedrigste und schlechteste Form der Auflösung der

Bauernschaft charakterisiert. Herr Gwosdew ist offenbar mit der russi-schen ökonomischen Literatur gut bekannt, sein Buch hätte jedoch ge-wonnen, wenn der Verfasser weniger Raum für Zitate aus verschiedenenZeitschriftenartikeln verwendet und der selbständigen Bearbeitung desMaterials mehr Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Die volkstümlerischeBearbeitung des vorhandenen Materials vernachlässigt gewöhnlich die in••* Tarvus, Der W eltma rkt und die Agrarkrisis, St. Petersburg 1898, S. 8,

Anmerkung.

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Rezension über das Buch vo n JZ. Qwosdew . 59

theoretischer Beziehung wichtigsten Seiten der gegebenen Frage. Weiter

leiden die eigenen Betrachtungen Herrn Gwosdews nicht selten an zugroßer Oberflächlichkeit und Allgemeinheit. Dies muß besonders von demKapitel gesagt werden, das den Kustargewerben gewidmet ist. An man-chen Stellen leidet der Stil des Buches unter Manieriertheit und Nebel-haftigkeit.

Qesdhrieben im 7ebruar i899.

Veröffentlicht im TAärz 1899 TJadb dem 7ext der Zeitschrift.in der Zeitschrift „J iatsdoah" 3Vr. 3.

Unterschrift: WUljin.

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REZENSION

HANDEL UND INDUSTRIE IN RUSSLAND. Wandbild}für Kaufleute und Tabrikanten. Zusammengestellt unter Re-daktion von A. A. Blau, Leiter der statistischen Abteilung imDepartement für "Handel und Manufakturen. St. "Petersburg

i899. Preis iO Rubel

Die Herausgeber dieses riesigen Bandes verfolgten das Ziel, „eine Lückein unserer ökonomischen Literatur auszufüllen" (S. I), nämlich gleich-zeitig sowohl die Adressen der Handels- und Industrieunternehmen ganzRußlands als auch Angaben „über den Zustand dieses oder jenes Indu-striezweigs" zu geben. Man könnte gegen eine solche Vereinigung vonAdressen und wissenschaftlich-statistischem Material nichts einwenden,wenn sowohl das eine als auch das andere Material genügend vollständigbeigebracht worden wäre. In dem erwähnten Werk aber erdrücken die

Adressen leider ganz das statistische Material, das unvollständig undin sehr ungenügend bearbeiteter Gestalt geboten wird. Vor allem unter-scheidet sich die vorliegende Veröffentlichung dadurch unvorteilhaft vonden vorangegangenen Veröffentlichungen des gleichen Typus, daß sienicht statistische Daten über jeden Betrieb und jedes Unternehmen bringt,die in die Liste aufgenommen sind. Infolge dieser Lücke verliert dieAufzählung der Betriebe und Unternehmen, die 2703 große Spaltenin engstem Druck einnimmt, jede wissenschaftliche Bedeutung. Bei demchaotischen Zustand unserer Handels- und Industriestatistik aber wären

gerade Angaben über jeden einzelnen Betrieb und jedes einzelne Unter-nehmen außerordentlich wichtig, denn eine auch nur einigermaßen an-nehmbare Bearbeitung dieser Angaben wird von unseren offiziellenstatistischen Institutionen niemals vorgenommen, die sich auf die Mit-teilung von Ergebnissen beschränken, in denen relativ glaubwürdigesMaterial mit absolut unglaubwürdigem Material vermengt ist. Wirwerden gleich zeigen, daß diese letztere Bemerkung auch für die vor-liegende Veröffentlichung gilt, zunächst aber wollen wir die folgende

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Rezension über das Buch „Handel und Industrie in Rußland" 61

originelle Methode der Herausgeber vermerken. Sie drucken die Adressen

der Betriebe und U nternehmen für jedes Gewerbe, fuhren jedoch die Zahlder Betriebe und die Summe ihres Umsatzes nur für ganz Rußland an;sie berechnen den Durchschnittsumsatz je Betrieb in jedem Gewerbeund trennen durch ein besonderes Zeichen die Betriebe, deren Umsatzüber, und die, deren Umsatz unter diesem Durchschnitt liegt. Es wäreviel zweckmäßiger gewesen (wenn es schon nicht möglich war, die An-gaben für jeden Betrieb besonders zu veröffentlichen), mehrere für alleHandels- und Industriezweige gleiche Kategorien von Betrieben und Un-ternehmen (nach der Höhe des Umsatzes, nach der Arbeiterzahl, nach

der Art der Antriebsmaschinen usw.) festzusetzen und alle Betriebe nachdiesen Kategorien einzuteilen. Dann könnte man wenigstens darüber ur-teilen, inwieweit das Material für die verschiedenen Gouvernements unddie verschiedenen Produktionszweige vollständig und vergleichbar ist.Was z. B. die Statistik der Fabriken und W erke betrifft, so genügt es, diephänomenal verschwommene Definition dieses Begriffs auf S. 1 der vor-liegenden Veröffentlichung (Anmerkung) zu lesen und die Fabrikanten-listen für einige Gewerbe durchzublättern, um sich von der Ungleichartig-keit des in dem Buch veröffentlichten statistischen Materials zu über-

zeugen. Daher muß an die zusammenfassenden Zahlen der Fabrik- undWerkstatistik, die in Abteilung I, Teil I von „Handel und Industrie inRußland" („Historisch-statistischer Überblick über die Industrie und denHandel Rußlands") angeführt sind, sehr vorsichtig herangegangen wer-den. Wir lesen dort, es habe im ganzen Russischen Reich 1896 (teilweise1895) 38401 Fabriken m it einer Produktion im Betrage von 2745 Mil-lionen Rubel und mit 1742181 Arbeitern gegeben, wobei sowohl dieakzisefreien als auch die akzisepflichtigen Gewerbe und die Berg- undHüttenwerke gezählt wurden. Wir meinen, daß diese Zahl ohne gründ-liche Untersuchungen nicht mit den Zahlen unserer Fabrik- und Werk-statistik der früheren Jahre verglichen werden kann. Im Jahre 1896 wurdeeine ganze Reihe von Gewerben registriert, die früher (bis 1894/95) nichtzu den „Fabriken und Werken" gerechnet wurden: Bäckereien, Fische-reien, Schlächtereien, Buch- und Steindruckereien usw. und dgl. mehr. DerProduktionswert aller Berg- und Hüttenwerke des Russischen Reichesist mit Hilfe origineller Methoden, von denen wir nur erfahren, daß derWert des Roheisens offenbar im Wert des Eisens und Stahls ein zweites

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Mal berechnet wurde, in der H öhe von 614 Millionen Rubel ermittelt.

Umgekehrt ist die Zahl der Arbeiter im gesamten Bergbau und Hütten-wesen offenbar zu gering angegeben: für 1895/96 werden nur 505000ausgewiesen. Dies ist entweder ein Fehler oder beruht auf der Auslassungvieler Zweige des Bergbaus und H üttenwesens. Aus den in dem Buch ver-streuten Zahlen ist zu ersehen, daß die Arbeiterzahl allein in einigenZweigen dieser Gruppe 474000 erreicht, nicht gerechnet die Arbeiter imSteinkohlenbergbau (etwa 53 000), in der Salzgewinnung (etwa 20000),den Steinbrüchen (etwa 10000) und einigen anderen Zweigen des Berg-baus und Hüttenwesens (etwa 200 00). Im Jahre 1890 gab es im gesamten

Bergbau und Hüttenwesen des Russischen Reiches mehr als 505000 Arbei-ter, und gerade diese Produktionszweige haben sich seitdem besondersentwickelt. In fünf Produktionszweigen dieser Abteilung z. B., zu denenim Tex t des Buches historisch-statistische Angaben geliefert werden (Eisen-gießereien, Drahtfabrikation, Maschinenbau, Gold- und Kupfererzeug-nisse), wurden 1890 908 Betriebe mit einer Produktion von 77 MillionenRubel und 69000 Arbeitern gezählt, 1896 dagegen 1444 Betriebe miteiner Produktion von 221,5 Millionen Rubel und 147000 Arbeitern. Faßtman alle in dem Buch verstreuten historisch-statistischen Angaben zu-

sammen, die sich leider nicht auf alle Gewerbe, sondern nur auf einigebeziehen (Baumwollverarbeitung, chemische Industrie und über 45 an-dere Gewerbe), so erhält man für das ganze Reich die folgenden Zahlen.Im Jahre 1890 gab es 19639 Fabriken und Werke mit einer Produktionvon 929 Millionen Rubel und mit 721000 Arbeitern, 1896 dagegen19162 Fabriken und Werke mit einer Produktion von 1708 MillionenRubel und mit 985000 Arbeitern; fügt man 2 akzisepflichtige Indu-strien hinzu, Rübenzuckerindustrie und Branntweinbrennerei (1890/91:116000 Arbeiter; 1895/96: 123000 Arbeiter), so erhält man als Zahlder Arbeiter 8 37000 und 1108 000, was eine Zunahme um fast einT)rittel in einer Periode von sechs Jahren ergibt. Wir bemerken, daßdie Abnahme der Zahl der Fabriken auf die verschiedene Registrierungder Mühlen zurückzuführen ist: im Jahre 1890 wurden 7003 Mühlen(156 Millionen Rubel, 29638 Arbeiter) als Fabriken gezählt, im Jahre1896 dagegen nur 4379 Mühlen (272 Millionen Rubel, 37954 A rbeiter).

Das sind die Daten, die sich aus der vorliegenden Veröffentlichung ge-wännen lassen und die es ermöglichen, sich eine gewisse Vorstellung vom

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Rezension über das "Budh „Handel und Industrie in Rußland" 63

industriellen Aufstieg Rußlands in den neunziger Jahren zu machen. Aus-führlicher wird man auf diese Frage eingehen können, sobald die voll-ständigen statistischen Daten für 1896 veröffentlicht sind.

Qesdhrieben im februar i899.

Veröffentlicht im Mä rz 1899 7}ad> dem 7ext der Zeitsdbrift.in der Zeitschrift „Jiatsdialo" SVr. 3.V.nters&rijt:rWl.'il)in.

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N O C H E I N M A L .

ZUR FRAGE DER REALISATIONSTHEORIE

Im Januarheft des „Nautschnoje Obosrenije" für das laufende Jahr(1899) ist meine „Notiz zur Frage der Theorie der Märkte (Aus Anlaßder Polemik zwischen Herrn Tugan-Baranowski und Herrn Bulgakow)"und gleich dahinter ein Artikel von P. B. Struve „Zur Frage der Märktebei kapitalistischer P roduktion (Aus Anlaß des Buches von Bulgakow unddes Artikels von Iljin)" abgedruckt. Struve „verwirft in einem bedeuten-den Ausmaß die Theorie Tugan-Baranowskis, Bulgakows und Iljins"(S. 63 seines Artikels) und legt seine eigene Ansicht über die Realisations-theorie von Marx dar.

Meiner Meinung nach ist Struves Polemik gegen die genannten Schrift-steller nicht so sehr durch eine Meinungsverschiedenheit über das Wesender Frage als vielmehr durch Struves falsche Vorstellung vom Inhalt dervon ihnen vertretenen Theorie hervorgerufen worden. Erstens verwechseltStruve die Theorie der Märkte der bürgerlichen Ökonomen, die lehrten,daß Produkte gegen P rodukte ausgetauscht werden und daß deshalb eineÜbereinstimmung zwischen Produktion und Konsumtion existieren muß,mit der Realisationstheorie von Marx, der durch seine Analyse gezeigt

hat, wie die Reproduktion und die Zirkulation des gesellschaftlichen Ge-samtkapitals, d. h. die Realisation des Produkts in der kapitalistischen Ge-sellschaft, vor sich geht.* W eder M arx noch die seine Ansichten darlegen-den Schriftsteller, gegen die Struve polemisiert, haben aus dieser Analyseeine Harmonie zwischen Produktion und Konsumtion abgeleitet, sie habenim Gegenteil die dem Kapitalismus eigenen Widersprüche energisch un-

* Siehe meine „Stadien", S. 17 u. a. (siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 2, S. 133u. a., russ. Die Red.').

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TJodi einmal zur frage der Realisationstbeorie 65

terstrichen, die bei der kapitalistischen Realisation unweigerlich zutage

treten müssen.* Zweitens verwechselt Struve die abstrakte Realisations-theorie (nur von ihr haben ja seine Opponenten geschrieben) mit denkonkreten historischen Bedingungen für die Realisation des kapitalisti-schen Produkts in diesem oder jenem Lande, in dieser oder jener Epoche.Es ist dasselbe, als ob jeman d die abstra kte Theorie der G rund rente mit denkonk reten Entwicklungsbedingungen des Agrarkap italismus in diesem oderjenem Lande verwechselt. Aus diesen beiden grundlegenden IrrtümernStruves ergab sich eine ganze Reihe von Mißverständnissen, deren Klar-stellung eine Untersuchung der einzelnen Thesen seines Artikels er-

forder t .1. Struve ist nicht einverstanden mit meiner Meinung, daß bei der Dar-

stellung der Realisationstheorie besonders auf Adam Smith eingegangenwerden muß. Wenn man bis auf Adam zurückgeht , schreibt er , so hät teman nicht auf Smith, sondern auf die Physiokraten eingehen müssen.Nein, das stimmt nicht. Gerade A. Smith beschränkte sich nicht auf dieAnerkennung der (auch den Physiokraten bekannten) Wahrheit , daß Pro-dukte gegen Produkte ausgetauscht werden, sondern er warf auch dieFrage auf, wie die verschiedenen Bestandteile des gesellschaftlichen Kapi-

tals und P rodukts nach ihrem W ert ** ersetzt ( real isiert) werden. D eshalbwidm ete M ar x, der durchaus anerkannte, daß es in der Lehre der Phy sio-krate n, z . B. im „Tableau economique" *** Qu esna ys, Thesen gab, d ie„für ihre Zeit genial" + waren, der feststellte, daß A. Smith in der Ana-lyse des Reproduktionsprozesses im Vergleich mit den Physiokraten ineinigen Beziehungen sogar einen Schritt rückwärts getan hat („Das Kapi-

* Ibid., S.20,17, 24 u.a. (sieheWerke, 4. Ausgabe, Bd.2, S. 136,144/145,141/142 u.a., russ. Die Red.).

** übrigens ist in meinem Artikel im „Nautschnoje Obosrenije" der Aus-druck „stoimost" überall durch den Ausdruck „zennost" ersetzt. Dies wurdenicht von mir, sondern von der Redaktion getan. Ich messe der Frage nach derBenutzung dieses oder jenes Ausdrucks keine besonders wesentliche Bedeutungbei, halte es jedoch für notwendig zu bemerken, daß ich stets den Ausdruck„stoimost" gebraucht habe und gebrauche.

*** „ökonomische Tafel". Die Red.+ Fr. Engels, „Herrn E. Dührings Um wälzung der W issenschaft", dritte

Aufl., S. 270 2 3 , in dem von Marx geschriebenen Kapitel.

5 Lenin, W erke, Bd. 4

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tal", I2 , 612, Anm. 32) 2 i , dennoch den Physiokraten nur ganze andert-

halb Seiten in der Übersicht über die Geschichte der Frage der Realisation(„Das Kapital", II1 , S. 350/3 51) 25 , während er A. Smith mehr als dreißigSeiten widmete (ib., 351—383)2S, wobei er den H auptfehler von A. Smith,den dieser der gesamten späteren politischen Ökonomie vererbte, ein-gehend analysierte. Somit ist ein Eingehen auf A. Smith gerade deshalbnotwendig, um die Realisationstheorie der bürgerlichen Ökonomen klar-zustellen, die sämtlich den Fehler von Smith wiederholt haben.

2. Herr Bulgakow sagt in seinem Buch ganz mit Recht, daß die bürger-lichen Ökonomen einfache Warenzirkulation und kapitalistische Waren-

zirkulation miteinander verwechselten, während Marx den Unterschiedzwischen beiden festgestellt hat. Struve meint, die Behauptung des HerrnBulgakow beruhe auf einem Mißverständnis. Meiner Meinung nach liegthier das Mißverständnis nicht auf Seiten des Herrn Bulgakow, sondernumgekehrt auf Seiten Struves. In der Tat, wie widerlegt Struve Herrn Bul-gakow? Äußerst seltsam: Er widerlegt ihn dadurch, daß er dessen Thesewiederholt. Struve sagt: Marx kann nicht als Anhänger jener Realisations-theorie bezeichnet werden, der zufolge das Produkt innerhalb der be-treffenden Gesellschaft realisiert werden kann, weil Marx „einen scharfen

Unterschied zwischen einfacher Warenzirkulation und kapitalistischerZirkulation" gemacht hat (!! S. 48). Abe r das ist es doch gerade, was H errBulgakow behauptet hat! Gerade deshalb reduziert sich ja die MarxscheTheorie nicht auf die Wiederholung der Wahrheit, daß Produkte gegenProdukte ausgetauscht werden. Deshalb hat doch Herr Bulgakow mitvollem Recht den Streit der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ökono menüber die Möglichkeit einer Überproduktion als „leere und scholastischeWortstreitereien" betrachtet: beide streitende Parteien haben Waren-zirkulation und kapitalistische Zirkulation miteinander verwechselt, sie

haben beide den Fehler von A. Smith wiederholt.3. Struve nennt die Realisationstheorie zu Unrecht eine Theorie propor-

tionaler Verteilung. Das ist ungenau und führt unweigerlich zu Mißver-ständnissen. Die Realisationstheorie ist eine abstrakte* Theorie, die zeigt,wie die Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapi-tals erfolgt. Notwendige Voraussetzung dieser abstrakten Theorie ist

* Siehe meinen Artikel im „Nautschnoje Obosrenije", S. 37 (siehe den vor-liegenden Band, S. 45. TtieRed.').

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TJodh einmal zur frage der Realisationstheorie 67

erstens die Abstrahierung vom Außenhandel, von den äußeren Märkten.

Aber indem sie vom Außenhandel abstrahiert, behauptet die Realisations-theorie keineswegs, daß die kapitalistische Gesellschaft jemals ohneAußenhandel existiert hat oder existieren kann.* Zweitens setzt die ab-strakte Realisationstheorie proportionale Verteilung des Produkts zwi-schen den verschiedenen Zweigen der kapitalistischen Produktion vorausund muß sie voraussetzen. Indem sie dies voraussetzt, behauptet die Rea-lisationstheorie aber keineswegs, daß in der kapitalistischen Gesellschaftdie Produkte stets proportional verteilt werden oder verteilt werdenkönnen.** Herr Bulgakow vergleicht ganz mit Recht die Realisations-

theorie mit der W erttheorie. D ie Werttheorie setzt Gleichheit von Nach-frage und Angebot voraus und muß sie voraussetzen, aber sie behauptetkeineswegs, daß in der kapitalistischen Gesellschaft stets eine solcheGleichheit besteht oder bestehen kann. Ebenso wie jedes andere Gesetzdes Kapitalismus „verwirklicht sich" das Realisationsgesetz „nur durchNichtVerwirklichung" (Bulgakow, zitiert in Struves Artikel, S. 56). DieTheorie der allgemeinen, der Durchschnittsprofitrate setzt im Grunde die-

* Ibid., S. 38 (siehe den vorliegenden Band, S. 46 /47 . "Die Red.). Vgl. „Stu-dien", S. 25 (siehe W erke, 4. Ausgabe, Bd. 2, S. 143, russ. Die Red.)-. „Leug-nen wir nicht die Notwendigkeit eines äußeren Marktes für den Kapitalismus?Nein, natürlich nicht. Nur hat die Frage des äußeren Marktes absolut nichtsmit der Frage der Realisation gemein."

** „Nicht nur die Produkte, die den Mehrwert ersetzen, sondern auch dieProdukte, die das variable... und das konstante Kapital ersetzen..., werdenalle in gleicher Weise nur unter .Schwierigkeiten', unter ständigen Schwankun-gen realisiert, die mit der weiteren Entwicklung des Kapitalismus immer stär-ker w er de n. .." („Stud ien", S. 27 [siehe W erke , 4. Ausgabe, Bd. 2, S. 145, russ.T)ie Red.]!) Vielleicht wird Herr Struve sagen, dieser Stelle widersprächen an-

dere Stellen, z. B . auf S. 31 (siehe W erke, 4. Ausgabe, B d.2 , S. 150, russ.Die Red.) -. „.. .die Kapitalisten können den Mehrwert realisieren..."? DieserWiderspruch ist nur scheinbar. Sofern wir die abstrakte Realisationstheorienehmen (und die Volkstümler haben gerade eine abstrakte Theorie von derUnmöglichkeit, den Mehrwert zu realisieren, aufgestellt), ist auch die Schluß-folgerung unvermeidlich, daß die Realisation möglich ist. Aber bei Darlegungder abstrakten Theorie muß auch auf die Widersprüche hingewiesen werden,die dem wirklichen Realisations'prozeß eigen sind. Eben diesen Hinweis habeich in meinem Artikel gegeben.

5*

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selbe proportionale Verteilung der Produktion zwischen ihren verschie-

denen Zweigen voraus. Aber Struve wird doch diese Theorie deshalbnicht eine Theorie proportionaler Verteilung nennen!

4. Struve bestrei tet meine Meinung, daß Marx mit Recht Ricardo be-schuldigte, den Fehler von A. Smith wiederholt zu haben. „Marx hatteunre cht", schreibt Struve. M a rx zitiert jedoch direkt eine Stelle aus Ricar-dos Werk ( I I 1 , 383) .2 7 Struve ignoriert diese Stelle. Gleich auf der näch-sten Seite führt Marx die Meinung Ramsays an, der gleichfalls geradediesen Fehler Ricardos herausgefunden hat. Ich habe auch auf eine andereStelle in Ricardos Werk verwiesen, wo er direkt sagt: „Das ganze Pro-

dukt des Bodens und der Arbeit jedes Landes wird in drei Teile geteilt:Arbeitslohn, Profit und Rente" (hier wird irrtümlich das konstante Kapi-tal ausgelassen. Siehe „Ricardos Werke", übersetzt von Sieber, S. 221).Struve übergeht auch diese Stelle mit Schweigen. Er zitiert lediglich eineBem erkung Ricardos, in der auf die Ung ereimtheit der Betrachtungen Saysüber den Unterschied zwischen Roh- und Reineinkommen hingewiesenwird. M ar x führt im 49. Kapitel von Band III des „ Ka pitals", worin dieSchlußfolgerungen aus der Realisationstheorie dargelegt werden, geradediese Bemerkung Ricardos an und sagt dazu folgendes-, „übrigens, wie

man später sehen wird" — gemeint ist offenbar Band IV des „Kapitals"

2 8

,der noch nicht erschienen ist —, „hat auch Ricardo nirgends die falscheSmithsche Analyse des W arenpreises, seine Auflösung in die W ertsu m m eder Revenuen widerlegt. Er kümmert sich nicht um sie, und nimmt sie beiseinen Analysen soweit als richtig an, daß er von dem konstanten Wert-teil der Waren ,abstrahiert ' . Er fällt auch von Zeit zu Zeit in dieselbeVorstellungsweise zurück" (d. h. in die Vorstellungsweise von S mith. „D asKapital" , I I I , 2 , 377. Russ. übers. 696) . 2 9 Wir über lassen es dem Leserzu urteilen, wer recht hat: Marx, der da sagt, daß Ricardo den Fehlervon Smith wiederholt*, oder Struve, der da sagt, Ricardo habe „ausge-

* Wie richtig Marx urteilt, sieht man besonders anschaulich auch daran,daß Ricardo die falsche Smithsche Ansicht von der Akkumulation des indivi-duellen Kapitals teilte. Ricardo glaubte nämlich, daß der akkumulierte Teildes Mehrw erts restlos für Arbeitslohn verausgabt w ird, wäh rend er 1. für kon-stantes Kapital und 2. für Arbeitslohn verausgabt wird. Siehe „Das Kapital",P , 611—613, Kapitel 22, Unterkapitel 2. 30

— Vgl. „Studien", S.29, Anmer-kung (siehe W erk e, 4. Ausgabe, Bd. 2, S. 148, russ.

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"Noch einmal zur frage der "Reatisationstheorie 69

zeichnet (?) verstanden, daß sich das ganze gesellschaftliche Produkt nicht

in Arbeitslohn, Profit und Rente erschöpft", und Ricardo habe „unbe-wußt (!) von denjenigen Teilen des gesellschaftlichen Produkts, die dieProduktionsauslagen ausmachen, abstrahiert". Kann man ausgezeichnetverstehen und gleichzeitig unbewußt abstrahieren?

5. Struve hat die Marxsche Behauptung, daß Ricardo den Fehler vonSmith übernommen hat, nicht nur nicht widerlegt, er hat den gleichenFehler auch in seinem Artikel wiederholt. „Se ltsa m ... zu den ken", schreibtStruve, „daß diese oder jene Einteilung des gesellschaftlichen Produktsin Kategorien für die Gesamtauffassung der Realisation von wesentlicher

Bedeutung sein könnte, um so mehr, als wirklich alle Teile des zu reali-sierenden Produkts im Prozeß der Realisation die Form von Einkommen(Roheinkommen) annehmen und die Klassiker sie als Einkommen be-trachteten." (S. 48.) Darum geht es ja gerade, daß nidbt alle Teile des zurealisierenden Produkts die Form von Einkommen (Roheinkommen) an-nehmen; gerade diesen Fehler von Smith hat Marx ja klargestellt durchden Nachweis, daß ein Teil des zu realisierenden Produkts niemals dieForm von Einkommen annimmt und annehmen kann. Das ist der Teil desgesellschaftlichen Produkts, der das konstante Kapital ersetzt, das zurProduktion von Produktionsmitteln dient (konstantes Kapital in Abtei-lung I, nach der Terminologie von M ar x) . Saatkorn in der Landwirtschaftz. B. nimmt niemals die Form von Einkommen an; die Steinkohle, diewieder zur Förderung von weiterer Steinkohle verwendet wird, nimmtniemals die Form von Einkommen an usw. und dgl. mehr. Der Prozeßder Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitalskann nicht begriffen werden, wenn nicht derjenige Teil des Rohproduktsausgesondert wird, der nur als Kapital zu dienen vermag, der niemals dieForm von Einkommen annehmen kann.* In der in Entwicklung begriffe-nen kapitalistischen Gesellschaft muß dieser Teil des gesellschaftlichenProdukts notwendigerweise rascher wachsen als alle anderen Teile diesesPro dukts. N ur durch dieses Gesetz kann ja auch einer der tiefsten Wider-sprüche des Kapitalismus erklärt werden: der Nationalreichtum wächstmit gewaltiger Schnelligkeit, während die Konsumtion des Volkes (wennüberhaupt) nur sehr langsam wächst.

*~Siehe „Das Kapital", III, 2, 375/376 (Russ. übers., 696)S1 über denUnterschied von Rohprodukt und Roheinkommen.

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6. Struve „begreift ganz und gar nicht", weshalb die Marxsche Unter-

scheidung von konstantem und variablem Kapital „für die Realisations-theorie notwendig" ist und weshalb ich auf ihr „besonders besteh e".Dieses Nichtbegreifen Struves ist einerseits das Resultat eines einfachen

Mißverständnisses. Erstens erkennt Struve selbst einen Vorzug dieserUnterscheidung an, nämlich, daß in ihr das ganze Produkt, und nicht nurdie Einkommen, Platz findet. Ihr anderer Vorzug besteht darin, daß siedie Analyse des Realisationsprozesses logisch verbindet mit der Analysedes Produktionsprozesses des individuellen Kapitals. Welches ist die Auf-gabe der Realisationstheorie? — zu zeigen, wie die Reproduktion und

Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals erfolgt. Ist es nichtschon auf den ersten Blick klar, daß die Rolle des variablen Kapitals sichhierbei in kardinaler Weise von der Rolle des konstanten Kapitals unter-scheiden muß? Die Produkte, die das variable Kapital ersetzen, müssenin letzter Instanz gegen Konsumtionsmittel der Arbeiter ausgetauschtwerden und den gewöhnlichen Verbrauch der Arbeiter decken. Die Pro-dukte, die das konstante Kapital ersetzen, müssen in letzter Instanz gegenProduktionsmittel ausgetauscht werden und als Kapital für neue Produk-tion verwendet werden. Deshalb ist die Unterscheidung von konstantem

und variablem Kapital für die Realisationstheorie unbedingt notwendig.Zweitens wird das Mißverständnis Struves dadurch hervorgerufen, daßer auch hier ganz willkürlich und fehlerhaft unter Realisationstheorieeine Theorie versteht, die zeigt, daß die Produkte proportional verteiltwerden (siehe besonders S. 50/51). Wir haben schon oben gesagt undwiederholen noch einmal, daß eine solche Vorstellung vom Inhalt derRealisationstheorie unrichtig ist.

Anderseits wurde Struves Nichtbegreifen dadurch hervorgerufen, daßer es für notwendig hält, einen Unterschied zwischen „soziologischen"

und „ökonomischen" Kategorien in der Theorie von Marx zu machen,und mehrere allgemeine Bemerkungen gegen diese Theorie richtet. Hier-auf muß ich antworten, erstens, daß all dies überhaupt nicht zur Realisa-tionstheorie geh ört; zweitens, da ß ich die von Struve durchgeführteUnterscheidung für unklar halte und keinerlei realen Nutzen in ihr sehe.Drittens halte ich Struves Behauptungen nicht nur für strittig, sondernsogar für direkt falsch, wenn er erklärt, daß „Marx selbst sich zweifellosim unklaren war über das Verhältnis der soziologischen Grundlagen"

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9Jod> einmal zur frage der Realisationstheorie 71

seiner Theorie zur Analyse der Markterscheinungen, daß „die Lehre vomWert, wie sie in Band I und III des ,Kapitals' dargelegt ist, zweifellos an

Widersprüchen leidet".* Alle diese Erklärungen Struves sind völlig halt-los. Es sind keine Argumente, sondern Dekrete. Es sind die vorwegge-nommenen Resultate jener Kritik an der Marxschen Theorie, die dieNeukantianer beabsichtigen.** Wir werden sehen, was diese Kritik geben

* Dieser letzten Erklärung Struves stelle ich die neueste Darlegung derWerttheorie durch K^Jgantsky entgegen, der ausführt und zeigt, daß durchdas Gesetz der Durchschnittsprofitrate „das Wertgesetz... nicht aufgehoben,sondern nur modifiziert" wird („Die Agrarfrage", S. 67/68). Wir wollen übri-

gens die folgende interessante Erklärung Kautskys in der Vorrede zu seinemhervorragenden Buch festhalten: „Sollte es mir gelungen sein, in vorliegenderSchrift neue, fruchtbare Gedanken zu entwickeln, so bin ich dafür vor allemmeinen beiden großen Meistern zu Dank verpflichtet, und ich betone das hierum so lieber, als seit einiger Zeit selbst in sozialistischen Kreisen [bei Lenin:unseren Kreisen. Der Zlbers.] sich Stimmen erheben, die den Standpunkt vonMarx und Engels für veraltet erklären... Die Ursache dieser Zweifel scheintmir mehr in den Personen der Zweifler als in der angezweifelten Lehre be-gründet zu sein. Das schließe ich nicht nur aus den Resultaten, welche einePrüfung solcher Bedenken ergibt, sondern auch aus den Erfahrungen, die ich an

mir selbst gemacht. Meine Sympathien gehörten in den Anfängen meiner Be-schäftigung mit dem Sozialismus [bei Lenin: meiner... Tätigkeit. Der Ubers.]durchaus nicht dem Marxismus. Ich trat ihm ebenso kritisch und zweifelnd ent-gegen, wie nur irgendeiner derjenigen, die heute verachtungsvoll auf meinenDogmenfanatismus herabsehen. Nur widerstrebend wurde ich Marxist. Aberdam als, sowie späte r, so oft mir in einer grundlegenden Frag e Zweifel auf-stiegen, habe ich schließlich stets gefunden, d aß die Schuld an mir lag und nichtan meinen M eistern, d aß eine Vertiefung in den G egenstand mich zwang, ihrenStandpunkt als den berechtigten zu erkennen. So hat jede Neuprüfung, jederVersuch einer Revision bei mir nur zu vermehrter Zuversicht, verstärkter An-

erkennung der Lehre geführt, deren Verbreitung und Anwendung die Aufgabemeines Lebens geworden ist."

** Nebenbei ein paar Worte über diese (künftige) „Kritik", für die Struveso schwärmt. Gegen Kritik überhaupt wird natürlich kein vernünftig denken-der Mensch Einwände erheben. Aber Struve wiederholt offensichtlich seinenLieblingsgedanken von der Befruchtung des Marxismus durch die „kritischePhilosophie". Ich bin selbstverständlich weder gewillt noch imstande, hier aufden philosophischen Inhalt des Marxismus einzugehen, und beschränke mich

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wird. Vorläufig aber konstatieren wir, daß diese Kritik für die Frage derRealisationstheorie nichts gegeben hat.

7. Zur Bedeutung der Marxschen Schemata im dritten Abschnitt vonBand II des „Kapitals" behauptet Struve, die abstrakte Realisationstheoriekönne mittels der verschiedensten Verfahren zur Einteilung des gesell-schaftlichen Produkts vortrefflich dargestellt werden. Diese erstaunlicheBehauptung erklärt sich ganz und gar durch das grundlegende Mißver-ständnis Struves, wonach sich die Realisationstheorie „völlig erschöpft"(??!) mit der Banalität, daß Produkte gegen Produkte ausgetauscht wer-den. Nur infolge dieses Mißverständnisses konnte Struve einen Satz wiediesen schreiben: „Welches die Rolle dieser" (zu realisierenden) „W are n-massen in der Produktion, Verteilung usw. ist, ob sie Kapital darstellen(sie!!) und was für Kapital, konstantes oder variables, ist für das Wesender gegebenen Theorie durchaus gleichgültig." (51.) Für die MarxscheRealisationstheorie, die aus der Analyse der Reproduktion und Zirku-lation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals besteht, ist es gleichgültig,ob die Waren Kapital darstellen!! Dies ist dasselbe, als wenn jemandsagen wollte, es sei für das Wesen der Grundrententheorie gleich-gültig, ob sich die Landbevölkerung in Grundbesitzer, Kapitalisten undArbeiter teile oder nicht, denn diese Theorie laufe ja darauf hinaus, '

auf die verschiedene Fruchtbarkeit verschiedener Landparzellen hin-zuweisen.

daher auf die folgende Bemerkung. Diejenigen Schüler von Marx, die „Zurückzu Kant" rufen, haben bisher aber auch gar nichts vorgebracht, was die Not-wendigkeit einer solchen Umkehr beweist und anschaulich klarmacht, welchenGewinn die Theorie von M arx von einer Befruchtung durch das Ne uka ntian er-tum 3 2 haben könnte. Sie haben nicht einmal die ihnen vor allem zukommendePflicht erfüllt, Engels' negatives Urteil über das Neukantianertum eingehendzu untersuchen und zu widerlegen.- Diejenigen Schüler dagegen, die nicht zu

Kant, sondern zum philosophischen Materialismus vor Marx einerseits undzum dialektischen Idealismus anderseits zurückgegangen sind, haben eine be-merkenswert geschlossene und wertvolle Darlegung des dialektischen Materia-lismus geliefert, sie haben gezeigt, daß er das gesetzmäßige und unvermeidlicheProdukt der ganzen neueren Entwicklung der Philosophie und Gesellschafts-wissenschaft ist. Ich brauche nur auf das bekannte Werk von Herrn Beltow inder russischen und auf die „Beiträge zur Geschichte des Materialismus" (Stutt-gart 1896) 3S in der deutschen Literatur zu verweisen.

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!ATod7 einmal zur frage der Realisationstheorie 73

Nur infolge desselben Mißverständnisses konnte Struve behaupten:„Die Naturalbeziehung zwischen den Elementen der gesellschaftlichenKo nsum tion — der gesellschaftliche Stoffwechsel — ka nn am beste n g e-zeigt werden" nicht mit Hilfe der Marxschen Teilung des Produkts , son-dern mit Hilfe der folgenden Einteilung: Produktionsmittel + Konsum-tionsmittel + M eh rw ert (S. 50 ). — W orin besteht d er gesellschaftlicheStoffwechsel? Vor allem im Austausch von Produktionsmitteln gegenKonsumtionsmittel. Wie kann man aber diesen Austausch zeigen, wennman den Mehrwer t von den Produktionsmitteln und von den Konsum-tionsmitteln trennt und gesondert dars tel l t? Der Mehrwert verkörpertsich doch entweder in Produktionsmitteln oder in Konsumtionsmitteln!Ist es nicht klar, daß eine derartige Teilung — die logisch nicht Stich hält(denn sie vermischt die Einteilung nach der Naturalform des Produktsmit der Einteilung nach den W ertelem enten ) — den Pro ze ß des gesell-schaftlichen Stoffwechsels verdunkelt?*

8. Struve sagt, ich hätte Marx die apologetisch-bürgerliche Theorie vonSay un d Ricardo zugeschrieben (52) — eine Th eorie der Harm onie vonProd uktio n und K onsum tion (51) —, eine Th eorie , die in schreiendemWiderspruch zu der Lehre von Marx über die Evolution und das schließ-liche Verschwinden des Kapitalismus steht (51/52); deshalb würden meine„völlig richtigen Ausführungen" darüber, daß Marx sowohl im II. alsauch im III. Band den dem Kapitalismus eigenen Widerspruch zwischenschrankenloser Ausdehnung der Produktion und begrenzter Konsumtionder Volksmassen hervorgehoben hat, „jene These der Realisation völligumstoßen. . . , deren Verteidiger in anderen Fällen" ich sei .

Auch diese Behauptung Struves ist ebenfalls falsch und beruht eben-falls auf dem obengenannten Mißverständnis, das ihm passiert ist.

Woraus entnimmt Struve, daß ich unter Realisationstheorie nicht die

Analyse des Prozesses der Reproduktion und Zirkulation des gesellschaft-lichen Gesamtkapitals verstehe, sondern eine Theorie, die lediglich be-sagt, daß Produkte gegen Produkte ausgetauscht werden, eine Theorie,

* W ir möchten den Leser daran erinnern, daß M arx da s ganze gesellschaft-liche Produkt nach der Naturalform des Produkts in zwei Abteilungen teilt:I. Produ ktionsm ittel; II. Konsum tionsmittel. Hierauf wird in jeder dieser Ab-teilungen das Produkt nach den Wertelementen in drei Teile geteilt: 1. kon-stantes Kapital,- 2. variables Ka pital; 3. Me hrwe rt.

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74 "W.O. Lenin

die die Ha rmo nie zwischen Produktion u nd K onsumtion lehr t? Du rch eine

Analyse meiner Artikel könnte Struve nicht beweisen, daß ich die Reali-sationstheorie im zweiten Sinne aufgefaßt habe, denn ich habe direkt undbestimmt gesagt, daß ich die Realisationstheorie gerade im ersten Sinneverstehe. In dem Artikel „Zur Charakteristik des ökonomischen Roman-tizismus" heißt es in dem Paragraphen, der der Klarstellung des Fehlersvon Smith und Sismondi gewidmet ist: „Die Frage ist gerade die, wie dieRealisation, das heißt der Ersatz aller Teile des gesellschaftlichen Pro-dukts, erfolgt. Deshalb muß der Ausgangspunkt einer Betrachtung übergesellschaftliches Kapital und Einkommen — oder, was dasselbe ist, überdie Realisation des Pro du kts in de r kapitalistischen Gesellschaft — dieTeilung zwischen. . . Produktionsmitteln und Konsumtionsmitteln sein ."(„Studien", 17.)* „Die Frage der Realisation besteht eben darin, denErsatz aller Teile des gesellschaftlichen Produkts nach dem Wert undnach der stofflichen Form zu ana lysieren." (ib. , 26.) ** W iede rho lt Struvenicht das gleiche, wenn er — scheinbar gegen mich — sagt, daß die unsinteressierende Theorie „den Mechanismus der Realisation zeigt. . . , so-weit diese Realisation verwirklicht wird" („Nautschnoje Obosrenije",62) ? W idersprech e ich der Realisationstheorie, die ich vertrete, wenn ichsage, die Realisation erfolge „nur unter Schwierigkeiten, unter ständigen

Schw ankungen, die mit der weiteren Entwicklung des Kapitalismus imm erstärker werden, in einer wütenden Konkurrenz und dgl . mehr" („Stu-die n", 2 7) ?* ** — we nn ich sage, die volkstümlerische Theo rie zeige„nicht nur Nichtverstehen der Realisation, sondern schließt überdies aucheine äußerst oberflächliche Auffassung der dieser Realisation eigenenWidersprüche in sich ein" (26/27) ? + — wenn ich sage, die Realisation desProdukts, die nicht so sehr auf der Linie der Konsumtionsmittel als viel-mehr auf der Linie der Produktionsmittel erfolgt, sei „natürlich einWiderspruch, aber eben solch ein Widerspruch, der in der Wirklichkeit

besteh t, der sich aus dem eigensten W ese n des Kapitalismus ergib t" (24) ++,ein Widerspruch, der „der historischen Mission des Kapitalismus und sei-

* Siehe W erke, 4. Ausgabe, Bd. 2, S. 134, russ . Die Red.** Ebenda, S. 144. Die Red.

*** Ebenda, S. 145. Die Red.+ Ebenda, S. 144. Die Red.

++ Ebenda, S. 141. Die Red.

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einmal zu r "frage der JLealisationstheorie 75

ner spezifischen sozialen S tru ktu r völlig ent spric ht: die erst e" (d . h. dieMission) „besteht gerade in der Entwicklung der Produktivkräfte derGesellschaft (Prod uktio n für die Pr od uk tio n); die zw eite" (d. h. die sozialeStruktur des Kapitalismus) „schließt ihre Utilisation durch die Masse derBevölkerung aus" (20)?*

9. In der Frage nach dem Verhältnis von Produktion und Konsumtionin der kapitalistischen Gesellschaft besteht zwischen mir und Struve offen-bar keine Meinungsverschiedenheit. Wenn Struve jedoch meint, daß dieMarxsche These (die besagt, daß die Konsumtion nicht der Zweck derkapitalistischen Produktion ist) „den deutlichen Stempel des polemischenCharakters des ganzen Marxschen Systems überhaupt trägt. Sie ist ten-denziös . . ." (53) , so bestreite ich entschieden, daß derart ige Einwändeangebracht und berechtigt sind. Daß die Konsumtion nicht den Zweckder kapitalistischen Produktion darstellt, ist eine Tatsache. Der Wider-spruch zwischen dieser Tatsache und der Tatsache, daß auch in der kapi-talistischen Gesellschaft die Produktion in letzter Instanz mit der Kon-sumtion verbun den is t, von der Konsumtion abhän gt — ist ein W ider-spruch nicht der Doktrin, sondern des wirklichen Lebens. Die MarxscheRealisationstheorie ist übrigens gerade deshalb von gewaltigem wissen-schaftlichem Wert, weil sie zeigt, wie sich dieser Widerspruch verwirk-licht, weil sie diesen W idersp ruch in den V ord ergr und stellt. Einen „pole-mischen Charakter" trägt „das Marxsche System" nicht deshalb, weil es„ten den ziös" ** wä re, sond ern weil es alle die Wid ersprü che , die imLebe n bestehen, in, der Theo rie genau abbildet. Desh alb m ißglücken ü bri-gens auch alle Versuche, sich das „M arxsche Sy stem " zu eigen zu machen ,ohne sich seinen „polemischen Charakter" zu eigen zu machen, und siewerden auch weiter mißglücken: der „polemische Charakter" des Systemsist nur die genaue Widerspiegelung des „polemischen Charakters" desKapitalismus selbst.

10. „Welches ist die reale Bedeutung der Realisationstheorie?" fragtStruve und führt die Meinung des Herrn Bulgakow an, der sagt, daß dieMöglichkeit der Erweiterung der kapitalistischen Produktion in der Praxis

* Siehe We rke, 4 . Ausgabe, Bd. 2, S. 137, rass. Die Red.** Als Warnung gegen die Verwendung derartiger Ausdrücke könnte das

klassische Beispiel von H erren ä la A . Skworzcw d ienen, de r die M arxscheTheorie von der Durchschnittsprofitrate als tendenziös betrachtet.

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76 TV.!. Lenin

verwirklicht wird, wenn auch durch eine Reihe von Krisen. „Die kapita-

listische Produktion wächst in der ganzen Welt", erklärt Herr Bulgakow.„Dieses Argument", wendet Struve ein, „ist völlig haltlos. Es handeltsich darum, daß die reale ,Erweiterung der kapitalistischen Produktion'sich durchaus nicht in jenem idealen oder isolierten kapitalistischen Staatvollzieht, den Bulgakow voraussetzt und der seiner Annahme nach sichselbst genügt, sondern in der Arena der Weltwirtschaft, wo die mannig-faltigsten Stufen der ökonomischen Entwicklung und verschiedene For-men des wirtschaftlichen Lebens zusammentreffen." (57.)

Struves Einwand läuft somit darauf hinaus, daß die Realisation in

Wirklichkeit nicht in einem isolierten, sich selbst genügenden, kapitalisti-schen Staat erfolgt, sondern „in der Arena der Weltwirtschaft", d. h.durch den Absatz von Produkten nach anderen Ländern. Man erkenntleicht, daß dieser Einwand auf einem Irrtum beruht. Ä ndert sich in irgend-einem Maße die Frage der Realisation, wenn wir uns nicht auf den inne-ren Markt („sich selbst genügender" Kapitalismus) beschränken, sondernuns auf den äußeren berufen? wenn wir an Stelle eines Landes mehrereLänder nehmen? W enn wir nicht annehmen wollen, daß die Kapitalistenihre Waren ins Meer werfen oder sie an Ausländer gratis abgeben, wenn

wir nicht vereinzelte, eine Ausnahme bildende Fälle oder Perioden neh-men, so liegt es auf der Hand, daß wir eine bestimmte Ausgeglichenheitder Ausfuhr und der Einfuhr annehmen müssen. Wenn das betreffendeLand bestimmte Produkte ausführt, um sie „in der Arena der Weltwirt-schaft" zu realisieren, so führt es dafür andere Produkte ein. Vom Stand-punkt der Realisationstheorie muß unterstellt werden, daß „der aus-wärtige Handel nur durch Artikel" (Waren) „von andrer Gebrauchs-oder Naturalform einheimische Artikel ersetzt" („Das Kapital", II , 469.34

Bei mir zitiert im „Nautschnoje Obosrenije", S. 38*). Ob wir ein Land

oder einen Komplex von Ländern nehmen, das Wesen des Realisations-prozesses ändert sich hierdurch nicht im mindesten. Mit seinem Einwandgegen Herrn Bulgakow wiederholt Struve folglich den alten Fehler derVolkstümler, die die Frage der Realisation mit der Frage des äußerenMarktes verbanden.**

* Siehe den vorliegenden Band, S. 47. Die Red.** Diesen Fehler der Volkstümler habe ich in den „Studien", S. 25—29,

untersucht (siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 2, S. 142—147, russ. Die Red.).

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"NoA) einmal zur 7rage der Jlealisationstbeorie 77

In Wirklichkeit haben diese Fragen nichts miteinander gemein. Die

Frage der Realisation ist eine abstrakte Frage, die zur Theorie des Kapi-talismus überhaupt gehört. Ob wir ein Land oder die ganze Welt neh-men, die von Marx entdeckten grundlegenden Gesetze der Realisationbleiben ein und dieselben.

Die Frage des Außenhandels oder des äußeren Marktes ist eine histo-rische Frage, eine Frage der konkreten Entwicklungsbedingungen des Ka-pitalismus in diesem oder jenem Land in dieser oder jener Epoche.*

11. Gehen wir noch etwas auf die Frage ein, die Struve „seit langembeschäftigt": Welches ist der reale wissenschaftliche W ert der Realisations-

theorie?Genau der gleiche, den alle übrigen Lehrsätze der abstrakten Theorievon Marx haben. Wenn Struve der Umstand verwirrt, daß „eine voll-kommene Realisation das Ideal kapitalistischer Produktion ist, aber keines-wegs ihre Wirklichkeit", so wollen wir ihn daran erinnern, daß auch alleanderen von Marx entdeckten Gesetze des Kapitalismus genauso nur dasIdeal des Kapitalismus, keineswegs aber seine Wirklichkeit abbilden.Marx schrieb, daß „wir nur die innere Organisation der kapitalistischenProduktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen

haben" („Das Kapital", III, 2, 367; russ. übers., S.688).

35

Die Theoriedes Kapitals setzt voraus, daß der Arbeiter den vollen Wert seiner Ar-beitskraft erhält. Dies ist das Ideal des Kapitalismus, keineswegs aberseine Wirklichkeit. Die Theorie der Rente setzt voraus, daß die gesamtelandwirtschaftliche Bevölkerung völlig in Grundbesitzer, Kapitalistenund Lohnarbeiter gespalten sei. Dies ist das Ideal des Kapitalismus, aberkeineswegs seine Wirklichkeit. Die Theorie der Realisation setzt propor-tionale Verteilung der Produktion voraus. Dies ist das Ideal des Kapita-lismus, aber keineswegs seine Wirklichkeit.

Der wissenschaftliche Wert der Theorie von Marx besteht darin, daßsie den Prozeß der Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichenGesamtkapitals erklärt hat. Weiter hat die Marxsche Theorie gezeigt, wieder dem Kapitalismus eigene Widerspruch verwirklicht wird, daß dasriesige Anwachsen der Produktion keineswegs von einem entsprechendenAnwachsen der Konsumtion des Volks begleitet wird. Deshalb stellt die

* Ibid. Vgl. „Nautschnoje Obosrenije" Nr. 1, S. 37 (siehe den vorliegen-den Band, S. 45/46. Die Red.)-

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78 W.JXenin

Marxsche Theorie nicht nur nicht die bürgerlich-apologetische Theorie

wieder her (wie Struve phantasiert), sondern im Gegenteil, sie liefert diestärkste Waffe gegen die Apologetik. Aus dieser Theorie folgt, daß selbstbei ideal glatter und proportionaler Reproduktion und Zirkulation desgesellschaftlichen Gesamtkapitals der Widerspruch zwischen dem Wachs-tum der Produktion und dem beschränkten Ausmaß der Konsumtion un-vermeidlich ist. Außerdem verläuft jedoch in der Wirklichkeit der Rea-lisationsprozeß nicht mit ideal glatter Proportionalität, sondern nur unter„Schwierigkeiten", „Schwankungen", „Krisen" usw. »

W eiter liefert die Marxsche Realisationstheorie die stärkste Waffe nicht

nur gegen die Apologetik, sondern auch gegen die kleinbürgerliche re-aktionäre Kritik am Kapitalismus. Gerade diese Kritik am Kapitalismuswollten unsere Volkstümler durch ihre fehlerhafte Realisationstheorieunterstützen. Die Marxsche Auffassung der Realisation aber führt un-weigerlich, zur Anerkennung der historischen Fortschrittlichkeit des Ka-pitalismus (Entwicklung der Produktionsmittel und folglich auch derProduktivkräfte der Gesellschaft), wobei sie den historisch vergänglichenCharakter des Kapitalismus nicht nur nicht vertuscht, sondern im Gegen-teil klarstellt.

12. „Bezüglich der idealen oder sich selbst genügenden isolierten kapi-talistischen Gesellschaft" behauptet Struve, erweiterte Reproduktion seiin ihr unmöglich, „denn nirgendwo können die unbedingt notwendigenzusätzlichen Arbeiter beschafft werden".

Ich kann mich mit dieser Behauptung Struves in keiner Weise einver-standen erklären. Struve hat nicht bewiesen, daß es unmöglich ist, die zu-sätzlichen Arbeiter aus der Reservearmee zu nehmen, und das läßt sichauch nicht beweisen. Dagegen, daß die zusätzlichen Arbeiter aus dem na-türlichen Bevölkerungszuwachs genommen werden können, w endet Struve

ohne jeden Beweis folgendes ein: „Die auf natürlichem Zuwachs beruhendeerweiterte Reproduktion ist arithmetisch vielleicht mit der einfachen nichtidentisch, aber praktisch-kapitalistisch, d. h. ökonomisch, fällt sie mit ihrvöllig zusammen." Da er fühlt, daß die Unmöglichkeit, zusätzliche Ar-beiter zu finden, theoretisch nicht bewiesen werden kann, weicht Struveder Frage aus, indem er sich auf historische und praktische Verhältnisseberuft. „Ich glaube nicht, daß M arx eine historische (?!) Frage auf Grunddieser völlig abstrakten Konstruktion lösen konnte..." „Der sich selbst

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yjodh einmal zur frage der Realisationstbeorie 79

genügende Kapitalismus ist ein historisch (!) undenkbares Extrem..."

„Der Intensivierung der Arbeit, die man dem Arbeiter aufzwingen kann,sind nicht nur real, sondern auch logisch sehr enge Grenzen gesetzt..."„Die unaufhaltsame Steigerung der Arbeitsproduktivität muß unweiger-lich die Nötigung zur Arbeit schw ächen ..."

Wie unlogisch alle diese Erklärungen sind, springt ins Auge! Keinerder Opponenten Struves hat irgendwo und irgendwann den Unsinn be-haup tet, eine historische Frage könne m it Hilfe abstrakter Konstruktionengelöst werden. Jetzt aber hat Strave selbst eine durchaus nicht historische,sondern völlig abstrakte Frage gestellt, die rein theoretische Frage „be-

züglich der idealen kapitalistischen Gesellschaft" (57). Ist es nicht klar,daß er einfach der Frage ausweicht? Ich denke natürlich gar nicht daran,zu bestreiten, daß zahlreiche historische und praktische Bedingungen exi-stieren (ganz zu schweigen von den immanenten Widersprüchen des Kapi-talismus), die viel eher zum Untergang des Kapitalismus führen undführen werden als zur Verwandlung des heutigen Kapitalismus in einenidealen Kapitalismus. Aber in der rein theoretischen Frage „bezüglich deridealen kapitalistischen Gesellschaft" bleibe ich bei meiner früheren Mei-nung, daß es keinen theoretischen Grund gibt, die Möglichkeit erweiter-ter Reproduktion in dieser Gesellschaft zu leugnen.

13. „Die Herren W . W . und N .-on haben auf die Widersprüche unddie Hindernisse in der kapitalistischen Entwicklung Rußlands hingewie-sen, aber da zeigt man ihnen die Marxschen Schemata und sagt: Kapitalewerden stets gegen Kapitale ausgetauscht..." (Struve, a. a. O., 62.)

Das ist im höchsten Grade bissig gesagt. Nur schade, daß die Sachedabei völlig falsch dargestellt wird. Jeder, der die „Skizzen der theore-tischen Ökonomie" des Herrn W. W. und Unterkapitel XV des zweitenAbschnitts der „Skizzen" des Herrn N.-on liest, wird sehen, daß diese

beiden Schriftsteller gerade die abstrakt-theoretische Frage der Realisation,die Frage nach der Realisation des Produkts in der kapitalistischen Gesell-schaft überhaup t, aufgeworfen haben. Dies ist eine Tatsache. Eine Tatsacheist ferner der Umstand, daß im Gegensatz zu ihnen andere Schriftsteller„es für notwendig gehalten haben, vor allem die grundlegenden, die ab-strakt-theoretisdben Punkte der Theorie der M ärk te klarzustellen" (wie esgleich in den ersten Zeilen meines Artikels im „Nautschnoje Obosrenije"heißt). Tugan-Baranowski sprach von der Realisationstheorie in dem Ka-

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80 W.l Lenin

pitel seines Buches über die Krisen, das den Untertitel „Die Theorie der

Märkte" trägt. Bulgakow gibt seinem Buch den Untertitel „Eine theore-tische Studie". Es fragt sich, wer denn nun abstrakt-theoretische und kon-kret-historische Fragen miteinander verwechselt, die Opponenten Struvesoder Struve selbst?

Auf der gleichen Seite seines Artikels führt Struve meinen Hinweisan, daß sich die Notwendigkeit des äußeren Marktes nicht aus den Reali-sationsbedingungen, sondern aus historischen Bedingungen ergibt. „Aber",wendet Struve ein (dies ist ein sehr kennzeichnendes „aber"!), „Tugan-Baranowski, Bulgakow und Iljin haben sich nur mit der Klärung der ab-

strakten Bedingungen der Realisation, aber nicht mit der Klärung derhistorischen Bedingungen befaßt." (S. 62.) — Alle die erwähnten Schrift-steller haben sich eben deshalb nicht mit der Klärung der historischenBedingungen befaßt, weil sie sich vorgenommen hatten, von abstrakt-theoretischen und nicht von konkret-historischen Fragen zu sprechen. Inmeinem Buch „Zur Frage der Entwicklung des Kapitalismus in Rußland"(„Über den inneren Markt für die Großindustrie und über den Prozeßseiner Bildung in Rußland"), dessen Druck jetzt (März 1899)* beendetist, werfe ich nicht die Frage der Theorie der Märkte, sondern die des

inneren M arktes für den russischen Kapitalismus auf. Deshalb spielen dieabstrakten W ahrheiten der Theorie dort nur die Rolle von Leitsätzen, siesind nur Werkzeuge für die Analyse der konkreten Daten.

14. Struve „hält voll und ganz" seinen „Standpunkt" zur Theorie „der drit-ten Personen" „aufrecht", den er in den „KritischenBemerkungen" entwik-ke ltha t.Ich meinerseits halte voll undganz das aufrecht, was ich dam als,alsdie „Kritischen Bemerkungen" erschienen, aus diesem Anlaß gesagt habe .36

Struve sagt auf S. 251 der „Kritischen Bemerkungen", d ie Argum en-tation des Herrn W. W. „stützt sich auf eine ganze eigenartige Theorie

der Märkte in der ausgebildeten kapitalistischen Gesellschaft". „DieseTheorie" , so bem erkt S truve, „ist richtig, insofern sie die Tatsache kon-statiert, daß der Mehrwert nicht durch die Konsumtion der Kapitalistenoder der Arbeiter realisiert werden kann, sondern die Konsumtion dritterPersonen voraussetzt." Un ter diesen dritten Personen „versteht" Struve „inRußland die russische ackerbautreibende Bauernschaft" (S . 61 des Artikelsim „Nautschnoje Obosrenije").

* Siehe Werke, Bd. 3. Die "Red.

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TJodo einmal zur Trage der Realisationstheorie : 81

- Also Herr W . W . stellt eine ganze eigenartige Theorie der Märkte in•der ausgebildeten kapitalistischen Gesellschaft auf, und man weist ihnauf die russische ackerbautreibende Bauernschaft hin. Ist denn das nichtVerwechslung der abstrakt-theoretischen Frage der Realisation mit derkonkret-historischen Frage des Kapitalismus in Rußland? Ferner, wennStruve die Theorie des Herrn W. W. auch nur zum Teil als richtig an-erkennt, so heißt das, daß er an den theoretischen Hauptfehlern desHerrn W . W . in der Frage der Realisation vorbeigeht, an der fehler-haften Anschauung vorbeigeht, wonach die „Schwierigkeiten" der kapi-talistischen Realisation auf den Mehrwert beschränkt oder mit diesemTeil des Produktenwerts speziell verbunden wären; — an der fehlerhaf-

ten Anschauung vorbeigeht, die die Frage des äußeren Marktes mit derPräge der Realisation verbindet.

• Struves Hinweis, daß die russische ackerbautreibende Bauernschaftdurch ihre Auflösung einen Markt für unseren Kapitalismus schafft,ist: völlig richtig (ich beweise diese These in dem obenerwähnten Buchausführlich durch eine Untersuchung der Daten der Semstwostatistik).Die theoretische Begründung dieser These aber gehört durchaus nicht zurTheorie der Realisation des Produkts in der kapitalistischen Gesellschaft,sondern zur Theorie der Bildung der kapitalistischen Gesellschaft. Es istferner nicht zu übersehen, daß die Bezeichnung der Bauern als „dritte Per-sonen" sehr unglücklich ist und daß sie geeignet ist, Mißverständnisse her-vorzurufen. W enn die Bauern „dritte Personen" für die kapitalistische Indu-strie sind, so sind die Leute der Industrie, die kleinen und nicht kleinen,die Fabrikanten und die Arbeiter, „dritte Personen" für die kapitalistischeLandwirtschaft. Anderseits schaffen die ackerbautreibenden Bauern (die,,dritten Personen") nur insoweit einen Markt für den Kapitalismus, als siesich in die Klassen der kapitalistischen Gesellschaft (Dorfbourgeoisie undDorfproletariat) auflösen, d. h. nur insoweit, als sie aufhören, „dritte" Per-sonen zu sein, und handelnde Personen imSystem des Kapitalismus werden.

15. Struve sagt: „Bulgakow macht die scharfsinnige Bemerkung, daßsich kein prinzipieller Unterschied zwischen dem inneren und dem äuße-ren Markt für die kapitalistische Produktion feststellen läßt." Ich schließemich dieser Bemerkung völlig an: wirklich, eine Zollschranke oder poli-tische Grenze ist sehr häufig ganz ungeeignet zur Trennung des „inne-ren" und „äußeren" Marktes, Aber aus den eben erwähnten Gründen

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82 "W.J. Lenin

kann ich midi nicht mit Struve darin einverstanden erklären, daß „hier-

aus eine Theorie folgt . . . , die die Notwendigkeit dr i t ter Personen bestä-t igt" . Unm ittelbar folgt hieraus nur die Forderung: Bei Untersuchung derFrage des Kapitalismus nicht vor der traditionellen Teilung zwischen inne-rem und äußerem Markt s tehenzubleiben. Diese in s treng theoretischerHinsicht nicht stichhaltige Teilung taugt besonders wenig für Länder wieRußland. Man könnte s ie durch eine andere Teilung ersetzen, indem manz. B. die folgenden Seiten im Entwicklungsproz eß des Kapitalismus unte r-scheidet: 1. Herausbildung und Entwicklung kapitalistischer Verhältnissein den Grenzen eines gegebenen völlig besiedelten und besetzten Terri-

toriums; 2. Ausdehnung des Kapital ismus auf andere Terr i tor ien (diezum Teil überhaupt nicht besetzt s ind und von Auswanderern aus demalten Land besiedelt werden, zum Teil von Völkerschaften besetzt sind,die abseits vom Weltmarkt und Weltkapital ismus s tehen). Man könntedie erste Seite des Prozesses Entwicklung des Kapitalismus in die Tiefe,die zweite — Entwicklung d es K apitalismus in die Breite nennen .* Einesolche Teilung würde den ganzen historischen Entwicklungsprozeß desKapitalismus um fassen: einerseits seine Entwicklung in den alten Lä ndern ,die im Verlauf von Jahrhunderten Formen kapitalistischer Verhältnissebis zur maschinellen Großindustrie einschließlich entwickelt haben; ander-seits das machtvolle Streben des entwickelten Kapitalismus, auf andereTerritorien überzugreifen, neue Teile der Welt zu besiedeln und unterden Pflug zu nehmen, Kolonien zu bilden und wilde Stämme in den Ka-tarakt des Weltkapital ismus hineinzuziehen. In Rußland wirkte und wirktsich dieses letztere Streben des Kapitalismus besonders fühlbar in unserenRandgebieten aus, deren Kolonisierung nach der Reform, in der kapitali-stischen Periode der russischen Geschichte, einen so großen Anstoß er-halten hat. Der Süden und der Südosten des Europäischen Rußlands, derKaukasus, Mittelasien und Sibirien dienen dem russischen Kapitalismusgleichsam als Kolonien und sichern ihm eine gewaltige Entwicklung nichtnur in die Tiefe, sondern auch in die Breite.

* Es versteht sich von selbst, daß in der Wirklichkeit beide Seiten des Pro-zesses eng miteinander verschmolzen sind und daß ihre Teilung nur eine Ab-straktion ist, nur eine Methode zur Erforschung eines komplizierten Prozesses.Ich habe das obenerwähnte Buch ausschließlich der ersten Seite des Prozessesgewidm et; vgl. dort K apitel VIII, Abschnitt V .

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TJodh einmal zur Trage der Realisationstheorie 83

Schließlich ist die vorgeschlagene Teilung deshalb praktisch, weil sie

exakt das Fragengebiet bestimmt, das die Realisationstheorie allein umfaßt.Es ist klar, daß diese Theorie nur zur ersten Seite des Prozesses, nur zurEntwicklung des Kapitalismus in die Tiefe, gehört. Die Realisationstheo-rie (d. h. die Theorie, die den Prozeß der Reproduktion und Zirkulationdes gesellschaftlichen Gesamtkapitals erklärt) mu ß für ihre K onstruktionennotwendigerweise eine in sich geschlossene kapitalistische Gesellschaftwählen, d. h. vom Prozeß der Ausbreitung des Kapitalismus auf andereLänder, vom Prozeß des Warenaustauschs eines Landes mit einem ande-ren abstrah ieren, weil dieser Pro zeß nichts zur Lösung der Frage der Reali-sation beiträgt, sondern die Frage nur von einem Lan de in mehrere Länderverlegt. Klar is t auch, daß die abstrakte Realisationstheorie eine ideal ent-wickelte kapitalistische Gesellschaft als Voraussetzung nehmen muß.

Zur Literatur des Marxismus macht Struve die folgende allgemeineBemerkung: „Die orthodoxen Kehrgesänge dominieren noch immer, abersie können den neuen kritischen Klang nicht ersticken, denn in wissen-schaftlichen Fragen liegt die wahre Kraft stets auf Seiten der Kritik undnicht des Glaubens." Wie aus der vorstehenden Darlegung zu ersehenist, mußten wir uns davon überzeugen, daß der „neue kritische Klang"keine Garantie gegen die Wiederholung alter Fehler bietet. Nein, bleibenwir schon lieber „unter dem Banner der Orthodoxie"! Glauben wir nicht,daß die Orthod oxie, gestatte, irgend etwas auf Treu und Glauben anzu-nehmen, daß die Orthod oxie eine kritische Wand lung und Weiterentwick-lung ausschließe, daß sie es gestatte, historische Fragen durch abstrakteSchemata zu verdunkeln. Wen n es orthodoxe Schüler gibt, die sich dieserwirklich schweren Sünden schuldig gemacht haben, so fällt die Schuldganz und gar auf diese Schüler, keineswegs aber auf die Orthodoxie, diesich durch diametral entgegengesetzte Eigenschaften auszeichnet.

Qesdbrieben im  "März 1899.

Veröffentlicht im Au gust 1899 in der Tiach dem 7ext der Zeitschrift.Zeitschrift „Nautsdhnoje Obosrenije" 9Jr. 8.Unterschrift: W.Jljin.

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REZENSION

KARL KAUTSKY, Die Agrarfrage. Eine Übersicht über dieTendenzen der modernen Candwirtsdbaft und die Agrar-

politik usw. Stuttgart, Dietz, i899

Kautskys Buch ist—nach Band III des „Kapitals"—die hervorragendsteErscheinung der neuesten ökonomischen L iteratur. Dem Marxismus fehltebisher ein Werk, das den Kapitalismus in der Landwirtschaft systematischuntersucht.' Jetz t hat K autsky diese Lücke durch den ersten A bschnittseines umfangreichen (450 Seiten starken) Buches ausgefüllt, der dieÜberschrift trägt: „Die Entwicklung der Landwirtschaft in der kapitali-stischen Gesellschaft" (S. 1—300). In der Vorrede bemerkt Kautsky mitvollem Recht, daß sich eine „erdrückende Fülle" von statistischem Material

und ökonomischen Schilderungen über den Kapitalismus in der Landwirt-schaft angesammelt ha t; es sei eine dringende N otwendigkeit, die „Grund-tendenzen" der ökonomischen Entwicklung auf diesem Gebiet der Volks-wirtschaft bloßzulegen, um die mannigfaltigen Erscheinungen des Kapi-talismus in der Landwirtschaft als „Teilerscheinungen eines Gesamtpro-zesses" betrachten zu können. In der Tat, die Formen der Landwirtschaftund die Verhältnisse der Landbevölkerung in der modernen Gesellschaftzeichnen sich durch eine so gigantische Mannigfaltigkeit aus, daß nichtsleichter ist, als aus einer beliebigen Untersuchung eine Menge von Hin-

weisen und Tatsachen herauszugreifen, die die Anschauungen des betref-fenden Schriftstellers „bestätigen". Eben nach dieser Methode ist eineganze Reihe von Betrachtungen in unserer volkstümlerischen Presse auf-gebaut, die die Lebensfähigkeit der kleinbäuerlichen Wirtschaft oder so-gar ihre Überlegenheit über den Großbetrieb in der Landwirtschaft zubeweisen sucht. Das kennzeichnende Merkmal aller dieser Betrachtungenbesteht darin, daß einzelne Erscheinungen herausgerissen, einzelne Fällezitiert und nicht einmal Versuche gemacht werden, sie mit dem allgemei-

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Rezension über das Bud? X. Kautskys, „ Die Agrarfrage" 85

nen Bild der gesamten Agrarordnung der kapitalistischen Länder über-

haupt und mit den Grundtendenzen der ganzen neuesten Entwicklung derkapitalistischen Landwirtschaft zu verbinden. Kautsky verfällt nicht indiesen üblichen Fehler. Er hat sich seit mehr als 20 Jahren mit derFrage des Kapitalismus in der Landwirtschaft beschäftigt und verfügtüber ein außerordentlich umfassendes Material; insbesondere baut Kaut-sky seine Untersuchung auf den Daten der letzten landwirtschaftlichenZählungen und Enqueten in England, Amerika, Frankreich (1892) undDeutschland (1895) auf. Kein einziges Mal aber verliert er sich im Wust

.der Tatsachen, kein einziges Mal läßt er den Zusammenhang auch der

kleinsten Erscheinung mit dem Gesamtsystem der kapitalistischen Land-wirtschaft und mit der gesamten Entwicklung des Kapitalismus aus demAuge.

Kautsky stellt sich nicht irgendein Teilproblem, z.B. die Frage nachdem Verhältnis von Groß- und Kleinbetrieb in der Landwirtschaft, son-dern die allgemeine Frage, ob sich das Kapital der Landwirtschaft be-mächtigt, ob es die Produktionsformen und die Eigentumsformen in ihrumbildet und wie nun dieser Prozeß verläuft. In voller Erkenntnis dergroßen Rolle, die vorkapitalistische und nichtkapitalistische Formen der

Landwirtschaft in der modernen Gesellschaft spielen, sowie der Notwen-digkeit, das Verhältnis dieser Formen zu den rein kapitalistischen klar-zustellen, beginnt Kautsky seine Untersuchung mit einer außerordentlichprägnanten und genauen Charakteristik der patriarchalischen Bauern-wirtschaft und der Landwirtschaft der Feudalzeit. Nachdem er auf dieseWeise die Ausgangspunkte der Entwicklung des Kapitalismus in der Land-wirtschaft festgestellt hat, geht er zur Charakteristik der „modernenLandwirtschaft" über. Zunächst wird ihre technische Seite dargestellt(Fruchtwechselwirtschaft, Arbeitsteilung, Maschinen, Düngemittel, Bak-

teriologie), und vor dem Leser ersteht ein prägnantes Bild der giganti-schen Umwälzung, die der Kapitalismus im Laufe mehrerer Jahrzehntezuwege brachte, indem er die Landwirtschaft aus einem zur Routineerstarrten Handwerk in eine Wissenschaft verwandelte. Weiter wirdder „kapitalistische Charakter der modernen Landwirtschaft" unter-sucht — eine kurze und populäre, aber in höchstem Maße exakte undgelungene Darlegung der Marxschen Theorie über Profit und Rente.Kautsky zeigt, daß das Pachtsystem und das Hypothekarsystem nur zwei

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86 W.l Centn

verschiedene Formen ein und desselben von M arx festgestellten Prozesses

der Trennung der landwirtschaftlichen Unternehm er von den Grundeigen-tümern darstellen. Dann wird das Verhältnis von Großbetrieb und Klein-betrieb untersucht, wobei sidi herausstellt, daß der erstere dem zweitenzweifellos technisch überlegen ist. Kautsky beweist diese These eingehendund geht ausführlich auf die Klarstellung des Umstands ein, daß die Sta-bilität des Kleinbetriebs in der Landwirtschaft durchaus nicht durch seinetechnische Rationalität, sondern dadurch bedingt ist, daß sich die Klein-bauern mehr schinden als die Lohnarbeiter und daß sie ihr Bedürfnis-niveau noch unter das Bedürfnisniveau und den Lebensstandard dieser,

letzteren senken. Die Daten, die Kautsky anführt, um dies zu beweisen,sind im höchsten Grade interessant und plastisch. Die Untersuchung derFrage der Genossenschaften in der Landwirtschaft führt Kautsky zu demSchluß, daß diese einen zweifellosen Fortschritt darstellen, daß sie jedocheinen Übergang nicht zur gemeinschaftlichen Produktion, sondern zumKapitalismus bedeuten; die Genossenschaften verringern nicht, sondernverstärken die Überlegenheit des Großbetriebs in der Landwirtschaft überden Kleinbetrieb. Es wäre ein Unding, zu erwarten, der Bauer könnte inder heutigen Gesellschaft zur gemeinschaftlichen Produktion übergehen.

Gewöhnlich beruft man sich auf die Daten der Statistik, die nicht für dieVerdrängung des Kleinbetriebs durch den Großbetrieb zeugt, aber dieseDaten besagen lediglich, daß der Entwicklungsprozeß des Kapitalismusin der Landwirtschaft viel komplizierter ist als in der Industrie. Auch indieser letzteren wird die Grundtendenz der Entwicklung nicht selten vonErscheinungen wie die Verbreitung kapitalistischer Hausarbeit usw. ge-kreuzt. In der Landw irtschaft nun w ird die Verdrängung des Kleinbetriebsvor allem durch die Beschränktheit der Bodenfläche behindert; der Auf-kauf kleiner Parzellen zwecks Bildung einer großen Bodenfläche ist durch-

aus keine leichte Sache; bei Intensivierung der Landwirtschaft ist Ver-kleinerung der Betriebsfläche zuweilen mit Vergrößerung der gewonne-nen Produktenmenge vereinbar (deshalb ha t eine Statistik, die ausschließ-lich mit Daten über die Bodenfläche der Wirtschaften operiert, wenig Be-weiskraft). Die Konzentration der Produktion erfolgt dadurch, daß einBesitzer viele Güter aufkauft; die so gebildeten Latifundien dienen alsBasis für eine der höchsten Formen der großen kapitalistischen Landwirt-schaft. Schließlich wäre es für den Großgrundbesitz unvorteilhaft, den

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Rezension über das Budh X. Xautskys, „"Die Agrarfrage" 87

Kleinbesitz ganz zu verdrängen: der letztere liefert ihm Arbeitskräfte!

Deshalb setzen die Grundbesitzer und die Kapitalisten nicht selten Ge-setze durch, die die Kleinbauernschaft künstlich stützen. Die kleine Land-wirtschaft gewinnt dann Stabilität, wenn sie aufhört, ein Konkurrent dergroßen zu sein, wenn sie zu einem Lieferanten von Arbeitskräften fürdiese wird. Die Beziehungen zwischen Groß- und Kleingrundbesitzernnähern sich immer m ehr den Beziehungen zwischen Kapitalisten und Pro-letariern. Kautsky widmet dem Prozeß der „Proletarisierung des Bauern"ein besonderes Kapitel, reich an D aten — besonders in der Frage nach dem„Nebenerwerb" der Bauern, d. h. verschiedenen Formen der Lohnarbeit.

Nachdem er die Grundzüge der Entwicklung des Kapitalismus in derLandwirtschaft klargestellt hat, geht Kautsky dazu über, den historischvergänglichen Charakter dieses Systems der gesellschaftlichen Wirtschaftzu beweisen. Je weiter sich der Kapitalismus entwickelt, auf desto größereSchwierigkeiten stößt die kommerzielle (warenproduzierende) Landwirt-schaft. Das Monopol des Grundeigentums (die Grundrente), das Erbrecht,die Majorate37 hindern die Rationalisierung der Landwirtschaft. DieStädte beuten das Land immer mehr und mehr aus, indem sie den Land-wirten die besten Arbeitskräfte wegnehmen und einen immer größerenTeil des von der Landbevölkerung produzierten Reichtums heraussaugen,wodurch die Landbevölkerung die Möglichkeit verliert, dem Boden zu-rückzugeben, was ihm genommen wird. Besonders ausführlich geht Kaut-sky auf die Entvölkerung des flachen Landes ein: er gibt durchaus zu,daß die mittelbäuerlichen Wirtschaften unter dem Arbeitermangel amwenigsten leiden, fügt jedoch gleich hinzu, daß die „guten Staatsbürger"(wir können sagen : die russischen Volkstümler ebenfalls) über diese Ta t-sache zu Unrecht jubeln und zu Unrecht glauben, darin eine neue Blüteder Bauernschaft sehen zu dürfen, die die Anwendbarkeit der MarxschenTheorie auf die Landwirtschaft w iderlege. W enn die Bauernschaft weniger

als andere landwirtschaftliche Klassen von dem Mangel an Lohnarbeiternbetroffen wird, so ha t sie dafür viel stärker unter dem W ucher, unter demSteuerdruck, unter der Unrationalität ihrer Wirtschaft, unter der Er-schöpfung des Bodens, unter Uberarbeit und Unterkonsumtion zu leiden.Eine anschauliche Widerlegung der Ansicht der optimistisch gestimmtenkleinbürgerlichen Ökonomen ist die Tatsache, daß nicht nur Landarbeiter,sondern auch Bauernkinder — in die Städte fliehen! Besonders große Ver-

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änderungen aber hat die Lage der europäischen Landwirtschaft durch die

Konkurrenz des billigen Getreides erfahren, das aus Nordamerika, Argen-tinien, Indien, Rußland usw. eingeführt wird. Kautsky untersucht ein-

gehend die Bedeutung dieser Tatsache, die durch die Entwicklung der nach

Märkten suchenden Industrie hervorgerufen wird. Er schildert den Rück-

gang der Getreideproduktion in Europa unter dem Einfluß dieser Kon-

kurrenz sowie das Sinken der Rente und geht besonders ausführlich auf

die „Industrialisierung der Landwirtschaft" ein, die sich einerseits in indu-

strieller Lohnarbeit der Kleinbauern äußert, anderseits in der Entwick-

lung landwirtschaftlicher Industrien (Branntweinerzeugung, Zuckerfabri-

kation usw.) und sogar in der Verdrängung gewisser Zweige der Land-wirtschaft durch die Fertigungsindustrie. Optimistische Ökonomen, sagt

Kautsky, glauben mit Unrecht, die erwähnten Wandlungen der euro-

päischen Landwirtschaft könnten diese vor der Krise retten: die Krise

greift immer weiter um sich und kann nur mit einer allgemeinen Krise

des gesamten Kapitalismus enden. Natürlich berechtigt dies durchaus nicht,

von einem Untergang der Landwirtsdiaft zu sprechen, aber ihr konser-

vativer Charakter ist unwiderruflich dahin; sie ist in einen Zustand unauf-

hörlicher Umwandlung geraten, einen Zustand, der die kapitalistische

Produktionsweise überhaupt charakterisiert. „Die große Bodenfläche des

landwirtschaftlichen Großbetriebs, dessen kapitalistischer Charakter sich

immer mehr entwickelt,- die Zunahme des Pacht- und Hypothekenwesens,

die Industrialisierung der Landwirtschaft, das sind die Elemente, die den

Boden vorbereiten für die Vergesellschaftlichung der landwirtschaftlichen

Produktion..." Es sei eine Absurdität zu glauben, sagt Kautsky zum

Schluß, in einer Gesellschaft entwickle sich ein Teil in der einen Richtung

und ein anderer in entgegengesetzter Richtung. Wahrheit ist vielmehr.-

„Die gesellschaftliche Entwicklung geht in der Landwirtschaft in derselben

Richtung wie in der Industrie."

Kautsky wendet die Ergebnisse seiner theoretischen Analyse auf die

Fragen der Agrarpolitik an und spricht sich natürlich gegen alle Versuche

aus, die bäuerliche Wirtschaft zu stützen und zu „retten". Es ist über-

haupt nicht daran zu denken, sagt Kautsky, daß die Dorfgemeinde zu

einem genossenschaftlichen landwirtschaftlichen Großbetrieb übergehen

könnte (S. 338, Unterkapitel „Der Dorfkommunismus", vgl. S. 339).

„Der Bauernschutz, das bedeutet in erster Linie nicht Schutz der bäuer-

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Rezension über das Buch X. Xautskys, „ Die Agrarfrage" 89

liehen Persönlichkeit" (gegen einen solchen Schutz würde natürlich nie-

mand etwas einzuwenden haben), „sondern Schutz des bäuerlichen Eigen-tums. Ge rad e dieses aber ist die Hau ptursach e der Verelend ung des Bauern.Wir haben gesehen, daß die Lohnarbeiter auf dem Lande heute schonvielfach besser daran sind als die besitzenden Kleinbauern.. . Der Bauern-schutz ist also nicht Schutz gegen die Verelendung des Bauern, er istSchutz der Fesseln, die den Bauern an sein Elend ketten." (S. 320.) Dervom Kapitalismus bewirkte Prozeß einer radikalen Umwälzung der ge-samten Landwirtschaft ist eben erst in seinen Anfängen, aber dieser Pro-zeß schreitet rasch vorw ärts, er verursacht die Verw andlung des Bauern in

einen Lohnarbeiter und die verstärkte Landflucht der Bevölkerung. Ver-suche, diesen Prozeß aufzuhalten, wären reaktionär und schädlich: wieschwer auch die Folgen dieses Prozesses in der heutigen Gesellschaft seinmögen, die Folgen einer Hemmung des Prozesses wären noch schlimmerund würden die werktätige Bevölkerung in eine noch hilflosere und aus-weglosere Lage versetzen. Eine fortschrittliche Tätigkeit in der modernenGesellschaft kann nur danach streben, die schädlichen Auswirkungen deskapitalistischen Fortschritts auf die Bevölkerung zu schwächen, das Be-wußtsein dieser letzteren zu stärken und sie zu kollektivem Selbstschutzzu befähigen. Kautsky verlangt daher die Sicherung der Freizügigkeitusw., die Abschaffung aller Überreste des Feudalismus in der Landwirt-schaft (z.B. der Gesindeordnungen*, die die Landarbeiter in eine per-sönlich abhängige, halbleibeigene Stellung bringen), das Verbot der Kin-derarbeit bis zum Alter von 14 Jahren, die Einführung des Achtstunden-tags, eine strenge Gesundheitspolizei, die die Arbeiterwohnungen über-wacht, usw. und dgl. mehr.

Es ist zu hoffen, daß Kautskys Buch auch in russischer Übersetzungerscheinen wird.

Qescbrieben im März 1899.

Veröffentlicht im April 1899 "Nach dem 7ext der Zeitschrift,in der Zeitschrift „ TJatsdido" 3Vr. 4.Unterschrift: WUljin.

„Gesindeordnungen" bei Lenin deutsch. Der TXbers.

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REZENSION

HOBSON, Die Entwicklung des modernen Kapitalismus.Aus dem Englischen. St. Petersburg i898. Verlag O. IN.

Popowa. Preis 1,50 Rubel

Hobsons Buch ist eigentlich keine Untersuchung über die Entwicklungdes modernen K apitalismus, es besteht vielmehr aus Skizzen der neuestenindustriellen Entwicklung, hauptsächlich auf Grund englischer Daten. Des-halb ist der Titel des Buches etwas zu weit gefaßt: die Landwirtschaftberührt der Verfasser gar nicht, und auch die Ökonomie der Industrie be-handelt er bei weitem nicht in ihrem vollen Umfang. Seiner Richtung nachgehört Hobson zusammen mit dem bekannten Schriftsteller-EhepaarWebb zu den Vertretern einer der fortschrittlichen Strömungen des eng-

lischen gesellschaftlichen Denkens. Zum „modernen Kapitalismus" ver-hält er sich kritisch, wobei er vollauf die Notwendigkeit seiner Ablösungdurch eine höhere Form der gesellschaftlichen Wirtschaft anerkennt undan diese Frage mit dem typisch englischen praktischen Geist des Reformersherangeht. Zu der Überzeugung, daß eine Reform notwendig ist, ge-langt er mehr auf empirischem Wege, unter dem Einfluß der neuestenGeschichte der englischen Fabrikgesetzgebung, der englischen Arbeiter-bewegung, der Tätigkeit der englischen Munizipalitäten usw. Einheitlicheund in sich geschlossene theoretische Anschauungen, die seinem reforma-

torischen Programm als Basis zu dienen und Teilfragen der Reform zubeleuchten vermöchten, gibt es bei Hobson nicht. Deshalb ist Hobson dortam stärksten, wo es sich um die Ordnung und Darstellung der neuestenstatistischen und ökonomischen Daten handelt. Wo es sich dagegen umallgemeintheoretische Fragen der politischen Ökonomie handelt, da er-weist sich Hobson als sehr schwach. Es ist für den russischen Leser sogarseltsam zu sehen, wie ein Schriftsteller mit so umfassenden Kenntnissenund praktischen Bestrebungen, die volle Sympathie verdienen, sich hilflos

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92 IV.1. Lenin

nach Arbeit" enthalten eine große Lücke, da er die Theorie der „kapita-

listischen Übervölkerung" oder Reservearmee ignoriert. Zu den bessergeglückten Kapiteln des Budies von Hobson gehören diejenigen, in denener die Lage der Frauen in der modernen Industrie und die modernenStädte untersucht. Nach Anführung der statistisdien Daten über die Zu-nahme der Frauenarbeit und nach Schilderung der äußerst schlechten Berdingungen dieser Arbeit weist Hobson mit Recht darauf hin, daß dieHoffnung auf Verbesserung dieser Bedingungen nur in der Verdrängungder Hausarbeit durch Fabrikarbeit besteht, die zu „engeren sozialen Be-ziehungen" und zur „Organisation" führt. Genauso nähert Hobson sich

auch in der Frage nadi der Bedeutung der Städte den allgemeinen An-schauungen von Marx und erkennt an, daß der Gegensatz zwischen Stadtund Land dem System einer kollektivistisdien Gesellsdiaft widerspricht.Hobsons Sdilußf olgerungen würden an Überzeugungskraft viel gewinnen,wenn er die Lehre von Marx nicht audi in dieser Frage ignorierte. Sonstwürde Hobson wahrscheinlich die historisch fortschrittliche Rolle der Groß -städte und die Notwendigkeit einer Vereinigung von Landwirtsdiaft undIndustrie bei kollektivistisdier Organisation der Wirtsdiaft klarer unter-streidien. Das letzte Kapitel in Hobsons Buch, „Zivilisation und indu-

strielle Entwicklung", ist wohl das beste; der Verfasser beweist hier miteiner ganzen Reihe glücklicher Argumente die Notwendigkeit einer Re-form des modernen Industriesystems im Sinne der Verstärkung der „öffent-lichen Kontrolle" und der „Sozialisierung der Industrie". Bei Beurteilungder etwas optimistischen Ansichten Hobsons über die Methode zur Ver-wirklichung dieser „Reformen" müssen die Besonderheiten der englisdienGesdiichte und des englischen Lebens in Betradit gezogen werden: hoheEntwicklung der Demokratie, Fehlen von Militarismus, große Kraft derorganisierten Trade-Unions, wachsende Investition englischen Kapitals

außerhalb Englands, die den Antagonismus zwischen den englischen Un-ternehmern und Arbeitern schwächt, u. a.

Professor W. Sombart vermerkt in seinem bekannten Buch über diesoziale Bewegung im 19. Jahrhundert unter anderem die „Tendenz zurEinheit" (Überschrift des 6. Kapitels), d. h. die Tendenz der sozialenBewegung verschiedener Länder in ihren verschiedenen Formen und Schat-tierungen zur Gleichartigkeit upd zugleich audi die Tendenz zur Ver-.breitung der Ideen des Marxismus. In bezug auf England sieht Sombart

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DER KAPITALISMUS IN DER LANDWIRTSCHAFT

(über das Buch Kautskys und einen Artikel des Herrn Bnlgakow)

geschrieben April—Mai i899.

Veröftentlidht im Januar und Jebruar TSado dem Jext der Zeitsdortft.i900 in der Zeitsdmft „Sbisn" ss

'Untersdirift: Wl.Jljin.

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NO&Q.

1900 t.

Umschlag der Zeitschrift „Shisn", in der W . I. Lenins Schrift„Der Kapitalismus in der Landwirtschaft" im Jahre 1900

veröffentlicht wurde.

Verkleinert

7 Lenin, W erke, Bd. 4

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ERSTER ARTIKEL

In Nummer 1—2 des „Natschalo" (Abt. II , S. 1—21) ist ein Artikel vonHerrn S. Bulgakow, betitelt „Zur Frage der kapitalistischen Entwicklungder Landwirtschaft", erschienen, der sich mit einer Kritik des Kautsky -schen Werkes über die Agrarfrage befaßt. Herr Bulgakow sagt mit vol-lem Recht, daß „das BuchKautskys eine ganze Weltanschauung darstellt",daß es von großer sowohl theoretischer als auch praktischer Bedeutungsei. Dies sei wohl die erste systematische und wissenschaftliche Unter-suchung einer Frage, die in allen Ländern selbst unter Schriftstellern, diein den allgemeinen Anschauungen übereinstimm en und sich als M arxistenbekennen, heftige Streitigkeiten hervorgerufen habe und noch hervorrufe.Herr Bulgakow „beschränkt sich auf eine negative Kritik", auf die Kritik„einzelner Thesen des Buches Kautskys" (dessen Inhalt er den Lesern des„Natschalo" „kurz" — wie wir sehen werden, allzu kurz und sehr un-genau — darlegt). „Zu gegebener Zeit" hofft Herr Bulgakow „eine syste-matische Darstellung der kapitalistischen Entwicklung der Landwirtschaftzu geben" und somit Kautsky „ebenfalls eine ganze Weltanschauung"entgegenzustellen.

Wir zweifeln nicht daran, daß auch in Rußland das Buch Kautskysnicht wenig Streitigkeiten unter den Marxisten hervorrufen wird, daßauch in Rußland die einen von ihnen gegen Kautsky, die andern für ihnsein werden. Der Schreiber dieser Zeilen zumindest stimmt mit der Mei-nung des Herrn Bulgakow, mit dessen Urteil über das Kautskysche Buchganz entschieden nicht überein. Dieses Urteil überrascht — ungeachtetdessen, daß Herr Bulgakow „Die Agrarfrage" als „vortreffliche Arbeit"anerkennt — durch seine Schärfe und seinen in einer Polemik zwischen

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100 W . J. Lenin

Schriftstellern verwandter Richtung ungewöhnlichen Ton. Hier einige

Exempel der Ausdrücke, die Herr Bulgakow gebraucht: „außerordent-lich oberflächlich" . . . „ebensowenig wirkliche Agronomie wie wirklicheÖkonomie" ... „ernste wissenschaftliche Probleme übergeht Kautsky miteiner 'Phrase" (hervorgehoben von Herrn Bulgakow!!) usw. usw. Sehenwir uns die Formulierungen des strengen Kritikers nun ein wenig näheran, und machen wir gleichzeitig den Leser mit Kautskys Buch bekannt.

Noch bevor Herr Bulgakow Kautsky zu Leibe geht, bekommt Marxim Vorbeigehen eins ausgewischt. Selbstverständlich betont Herr Bulga-kow die gewaltigen Verdienste des großen Ökonomen, doch bemerkt er,daß bei Marx „teilweise" sogar „falsche Vorstellungen..., die" von derGeschichte schon zur Genüge widerlegt worden sind", vorkommen. „Zudiesen Vorstellungen gehört zum Beispiel die, daß in der Landwirtschaftdas variable Kapital relativ zum konstanten ebenso abnehme wie inder Fertigungsindustrie und sich somit die organische Zusammensetzung

des agrarischen Kapitals ständig erhöhe." Wer irrt hier, Marx oderHerr Bulgakow? Herr Bulgakow hat die Tatsache im Auge, daß in derLandwirtschaft der Fortschritt der Technik und die Intensivierung derWirtschaft oft zu einer Erhöhung des Arbeitsaufwandes führen, der für dieBearbeitung der gegebenen Bodenfläche erforderlich ist. Das ist unbestreit-bar, aber von hier ist es noch weit bis zur Verneinung der Theorie vonder Abnahme des variablen Kapitals relativ zum konstanten, im Verhält-nis zum konstanten. Die Marxsche Theorie behauptet lediglich, daß das

Verhältnis — (w = variables Kapital, c = konstantes Kapital) im allge-meinen die Tendenz hat, sich zu verringern, selbst wenn v pro Flächen-einheit zunimmt — wird etwa die Marxsche Theorie widerlegt, wenn hier-bei c noch schneller zunimmt? In bezug auf die Landwirtschaft der kapi-talistischen Länder, im großen und ganzen genommen, sehen wir eineAbnahme von v und eine Zunahm e von c. Die Landbevölkerung und dieZahl der Landarbeiter nehmen sowohl in Deutschland als auch in Frank-reich und in England ab, während die Zahl der in der Landwirtschaft an-

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Der Kapitalismus in der Landwirtschaft 101

gewandten Maschinen zunimmt. In Deutschland zum Beispiel ging die

Lan dbev ölkeru ng von 1882 bis 1895 von 19,2 auf 18,5 M illionen (dieZa hl der ländlichen Lo hna rbei ter von 5,9 auf 5,6 M illionen) zurück,während die Zahl der in der Landwirtschaft angewandten Maschinen von458 369 auf 9 13 391 gestiegen is t*; die Zah l der in der Landwirtschaftangew andten Dam pfmaschinen erhöhte sich von 2731 (1879) auf 12 856(1897) ; wobei die Za hl der Dam pfpferdestärken noch stärker anstieg. DieZahl der Rinder erhöhte sich von 15,8 auf 17,5 und die der Schweine von9,2 auf 12,2 Millionen (von 1883 bis 1892). In Frankreich verringertesich die Lan dbe völk erun g von 6,9 M illionen („se lbstän dige r") Perso nen

im Jahre 1882 auf 6,6 Millionen im Jahre 1892, während die Zahl derlandwirtschaftlichen Maschinen wie folgt anstieg: im Jahre 1862 : 13 27 84 ;1882: 278896; 1892: 355795; die Zahl der Rinder stieg von 12,0 auf13,0 un d 13,7 M illionen, die der Pferde ging von 2,91 auf 2,84 un d2,79 Millionen zurück (die Abnahme der Zahl der Pferde in den Jahren1882 bis 1892 ist weniger bedeutend als die Abnahme der Landbevölke-rung) . Im großen und ganzen hat somit die Geschichte in bezug auf diemodernen kapitalistischen Länder die Anwendbarkeit des Marxschen Ge-setzes auf die Landwirtschaft bestätigt und keineswegs widerlegt. Der

Fehler des Herrn Bulgakow besteht darin, daß er einzelne agronomischeTatsachen, ohne ihre Bedeutung genau zu prüfen, zu eilfertig in den Rangallgemeiner ökonomischer Gesetze erhoben hat. Wir betonen „allgemei-ner", da sowohl Marx als auch seine Schüler das betreffende Gesetz stetsals ein Gesetz der allgemeinen Tendenzen des Kapitalismus betrachtethaben, nicht aber als ein Gesetz aller Einzelfälle. Sogar in bezug auf dieIndustrie hat Marx selbst darauf hingewiesen, daß die Perioden der

technischen Um wä lzunge n (wo sich das Verhältnis — verringert) mit Pe-

rioden des Fortschritts auf der gegebenen technischen Grundlage (wo das

Ve rhältnis — unv erän dert is t, ja sich in einzelnen F ällen auch erhö hen

kann) wechseln. Wir kennen in der industriellen Geschichte der kapi-talistischen Länder Fälle, wo dieses Gesetz bei ganzen Industriezweigendurchbrochen wird. Zum Beispiel, wenn große kapitalistische Werkstätten

* Die verschiedenen Maschinensindhierzusammengerechnet. Alle Zahlen sind,soweit kein besond erer H inweis gegeben wird, dem Buch Kautskys entnommen.

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102 WJ.Lenin

(die ungenau Fabriken genannt werden) sich auflösen, um der kapita-

listischen Hausarbeit Platz zu machen. Bezüglich der Landwirtschaft aberunterliegt es keinem Zweifel, daß in ihr der Entwicklungsprozeß desKapitalismus unermeßlich komplizierter ist und unvergleichlich mannig-faltigere Formen annimmt.

Gehen wir zu Kautsky über. Die Darstellung der Landwirtschaft in derFeudalzeit, mit der Kautsky beginnt, ist angeblich „sehr oberflächlich ver-faßt und überflüssig". Es ist schwer, die Motive eines solchen Verdikts zubegreifen. Wir sind überzeugt, daß Herr Bulgakow, sollte es ihm gelingen,seinen Plan zu verwirklichen und eine systematische Darstellung der kapi-

talistischen Entwicklung der Landwirtschaft zu geben, unbedingt die Öko-nomie der vorkapitalistischen Landwirtschaft in den Grundzügen wirdschildern müssen. Sonst sind w eder der Charakter der kapitalistischen Wirt-schaft noch die Ubergangsformen zu verstehen, die sie mit der feudalenWirtschaft verbinden. Herr Bulgakow selbst erkennt die gewaltige Bedeu-tung „der Form an, die die Landwirtschaft zu Beginn" (hervorgehoben vonHerrn Bulgakow) „ihres kapitalistischen Laufs besaß". Kautsky beginntaber gerade mit dem „Beginn des kapitalistischen Laufs" der europäischenLandwirtschaft. Der Abriß der feudalen Landwirtschaft ist bei Kautsky

unsere r Ansicht nach vortrefflich abgefaß t: mit jener hervorragend en Klar-heit und mit jener Fähigkeit, das Wichtige und Wesentliche auszuwählen,ohne sich in nebensächliche Einzelheiten zu verlieren, wie sie diesemSchriftsteller überhaupt eigen sind. Kau tsky brin gt schon in der Einleitungeine in höchstem Grade genaue und richtige Fragestellung. Er erklärt ganzentschieden: „Kein Zweifel, und das wollen wir von vornherein als er-wiesen annehmen, die Landwirtschaft entwickelt sich nicht nach dersel-ben Schablone wie die Industrie,- sie folgt eigenen Gesetzen." (S. 5/6.)Die Aufgabe besteht darin, zu „untersuchen, ob und wie das Kapital sich

der Landwirtschaft bemächtigt, sie umwälzt, alte Produktions- und Eigen-tumsformen unhaltbar macht und die Notwendigkeit neuer hervorbringt"(S . 6). Eine solche und nur eine solche Fragestellung kann zu einer be-friedigenden Klärung der „Entwicklung der Landwirtschaft in der kapi-talistischen Gesellschaft" (Titel des ersten, theoretischen Abschnitts inKautskys Buch) führen.

Zu Beginn des „kapitalistischen Laufs" befand sich die Landwirtschaftin den Händen des Bauern, der in der Regel dem Regime der feudalen

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Der Kapitalismus in der Candwirtsdiaft 103

gesellschaftlichen Wirtschaft unterworfen war. Kautsky charakterisiertnun vor allem das System der bäuerlichen Wirtschaft, die Verbindung derLandwirtschaft mit der Hausindustrie, ferner die Elemente der Auflösungdieses Paradieses kleinbürgerlicher und konservativer Schriftsteller (ä laSismondi), die Bedeutung des Wuchers, wie „der Klassengegensatz..."allmählich „in das Dorf, ja in den bäuerlichen Haushalt selbst eindringtund die alte Harmo nie und Interessengemeinschaft zerstört" (S. 13).Dieser Prozeß begann schon im Mittelalter und ist auch in der Gegen-wart noch nicht völlig abgeschlossen. Wir unterstreichen diese Erklärung,weil sie sofort die ganze Unrichtigkeit der Behauptung des Herrn Bulga-kow zeigt, Kautsky habe nicht einmal die Frage gestellt, wer der Trägerdes technischen Fortschritts in der Landwirtschaft gewesen sei. Kautskyhat diese Frage mit aller Bestimmtheit gestellt und geklärt, und jeder, dersein Buch aufmerksam gelesen hat, wird sich die (von den Volkstümlern,Agronom en und vielen andern oft vergessene) W ahrheit zu eigen machen,daß der Träger des technischen Fortschritts in der modernen Landwirt-schaft die Ttorfbourcjeoisie, die kleine wie die große, ist, wobei die große(wie Kautsky gezeigt hat) in dieser Beziehung eine wichtigere Rolle spieltals die kleine.

II

Nach einer Schilderung der Grundzü ge der feudalen Landwirtschaft(in Kapitel III) — Herrschaft der Dreifelderwirtschaft, des konservativ-sten Ackerbausystems; Unterdrückung und Expropriation der Bauern-schaft durch den adligen Großgrundbesitz; Organisierung der feudal-kapitalistischen Wirtschaft durch diesen letzteren; Verwandlung desBauern in einen Hungerleider im Laufe des 17. und 18. Jah rhu nderts ;

Entwicklung der bäuerlichen Bourgeoisie (der Großbauern*, die nichtohne Dingung von Knechten und Tagelöhnern auskommen), für die diealten Formen der Agrarverhältnisse und des Grundeigentums nicht ge-eignet waren; Niederreißung dieser Formen, Freimachung des Weges für„die Entwicklung einer kapitalistischen, intensiven Landw irtschaft" (S . 26)durch die im Schoß der Industrie und der Städte zur Entwicklung gelangte

* „Großbauern" bei Lenin deutsch. Der Tibers,

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104 W.lZenin

Klasse der Bourgeoisie — nach dieser Schilderung geht Kautsky zur Cha-

rakteristik der „modernen Landwirtschaft" (Kapitel IV) über.Dieses Kapitel gibt einen außerordentlich präzisen, gedrängten undklaren Abriß jener gigantischen Revolution, die der.Kapitalismus in derLandwirtschaft vollzog, indem er an Stelle des zur Routine erstarrtenHandwerks der von Not bedrückten und in Unwissenheit lebenden Bauerndie wissenschaftliche Anwendung der Agronomie setzte, dem jahrhun-dertelangen Stillstand der Landwirtschaft ein Ende machte und den An-stoß zu einer schnellen Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaft-lichen Arbeit gab (und noch gibt). Die Dreifelderwirtschaft wurde durchdie Fruchtwechselwirtschaft ersetzt, die Viehhaltung und die Boden-bearbeitung wurden verbessert, die Ernten erhöht, die Spezialisierung derLandwirtschaft und die Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Betriebenstark entwickelt. Die vorkapitalistische Einförmigkeit wurde durch einestets zunehmende Mannigfaltigkeit abgelöst, die in allen Zweigen derLandwirtschaft von technischem Fortschritt begleitet ist. Es begann dieAnwendung von Maschinen in der Landwirtschaft, die Anwendung derDampfkraft nahm rasch zu; es beginnt die Anwendung der Elektrizität,die nach den Angaben der Fachleute berufen ist, in diesem Produktions-zweig eine noch größere R olle zu spielen als die Dam pfkraft. Es entwik-kelten sich die Verwendung von Feldbahnen, die Melioration und dieVerwendung von Kunstdünger entsprechend den Ergebnissen der Pflan-zenphysiologie; es begann die Anwendung der Bakteriologie in der Land-wirtschaft. Die Meinung des Herrn Bulgakow, Kautsky „unterziehe dieseAngaben* keiner ökonomischen Analyse", ist völlig unbegründet. Kautskyzeigt genau den Zusammenhang dieser Umwälzung mit dem Wachstum

* „Alle diese An gab en", me int He rr Bulgakow, „kann man jedem beliebigen(sie!) Leitfaden der Öko nomie der Landwirtschaft entnehm en." W ir teilen diese

optimistische Ansicht des Herrn Bulgakow über die „Leitfäden" nicht. Greifenwir aus der Zahl der „beliebigen" die russischen Bücher der Herren Skworzow(„D as Dam pftransportwesen") und N . Kablukow („Vorlesungen", zur Hälftenachgedruckt in dem „neuen" Buch „Die Entwicklttngsbedingungen der bäuer-lichen Wirtschaft in Rußland") heraus. Weder bei dem einen noch bei demanderen könnte der Leser von der Umwälzung ein Bild gewinnen, die derKapitalismus in der Landwirtschaft vollzogen hat, weil keiner von ihnen sichauch nur das Ziel setzt, ein allgemeines Bild des Übergangs von der feudalenzur kapitalistischen Wirtschaft zu geben.

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Der Kapitalismus in der Landwirtschaft 105

des Marktes (insbesondere mit dem W achstum der Städte), mit der Unter-

werfung der Landwirtschaft unter die 'Konkurrenz, die die Umgestaltungder Landwirtschaft und ihre Spezialisierung erzwang. „Diese, von städti-schem Kapital ausgehende Umwälzung vergrößert die Abhängigkeit desLandwirts vom Markte, ändert aber auch unaufhörlich für ihn die Markt-verhältnisse. Ein Produktionszweig, der rentabel war, solange nur eineLandstraße den nächsten Markt mit dem Weltmarkt verband, wird un-rentabel und muß durch einen anderen ersetzt werden, wenn eine Eisen-bahn durch dieGegend gebaut wird, die z. B. billigeres'Getreide hinbringt,so daß der Körnerbau nicht mehr lohnt, gleichzeitig aber eine Absatz-

möglichkeit für Milch eröffnet. Der wachsende Verkehr bringt auch immerwieder neue oder verbesserte Kulturpflanzen ins Land" usw. (S. 37/38).In der Feudalzeit — sagt Kautsky — gab es keine andere Landwirtschaftaußer der kleinen, denn der Gutsherr ließ seine Felder ebenfalls mitbäuerlichem Inventar bearbeiten. Erst der Kapitalismus ermöglichte denGroßbetrieb in der Landwirtschaft, der technisch rationeller war als derKleinbetrieb. Wo Kautsky über die Maschinen in der Landwirtschaftspricht, untersucht er (der, nebenbei gesagt, die Besonderheiten der Land-wirtschaft in dieser Hinsicht genau dargetan hat) den kapitalistischenCharakter ihrer Anwendung, ihren Einfluß auf die Arbeiter, die Bedeu-tung der Maschinen als Faktor des Fortschritts, den „reaktionären uto-pischen" Charakter der Projekte, die Anwendung landwirtschaftlicherMaschinen zu beschränken. Die landwirtschaftliche Maschine wird „fort-fahren, ihre revolutionäre Tätigkeit zu übe n; sie wird die Landarbeiter indie Stadt treiben und dadurch ein kräftiges Mittel werden, auf der einenSeite die Arbeitslöhne auf dem flachen Lande zu heben, auf der anderendie weitere Entwicklung des Maschinenwesens daselbst zu fördern" (S. 41).Es sei hinzugefügt, daß Kautsky in besonderen Kapiteln sowohl den kapi-talistischen Charakter der modernen Landwirtschaft als auch das Verhält-

nis zwischen Großbetrieb und Kleinbetrieb sowie die Proletarisierungder Bauernschaft genau klarstellt. Die Behauptung des Herrn Bulgakow,Kautsky habe „nicht die Frage gestellt, warum alle diese wunderwirken-den Veränderungen notwendig waren", ist, wie wir sehen, völlig falsch.

In Kapitel V („Der kapitalistische Charakter der modernen Landwirt-schaft") erläutert Kautsky die Marxsche Theorie des Wertes, des Profitsund der Rente. „Ohne Geld ist der moderne landwirtschaftliche Betrieb

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106 IV . 7. Lenin

unmöglich", sagt Kautsky, „oder, was dasselbe sagen will, ohne Kapital;

denn in der heutigen Produktionsweise kann jede Geldsumme, die nichtZwecken des persönlichen Konsums dient, zu Kapital, zu Mehrwert hek-kendem Wert werden und wird es in der Regel auch. Der moderne land-wirtschaftliche Betrieb ist also kapitalistischer Betrie b." (S. 56.) DieseStelle bietet uns übrigens die Möglichkeit, die folgende Erklärung desHerrn Bulgakow zu beurteilen: „Ich gebrauche diesen Ausdruck (kapitali-stische Landwirtschaft) in dem üblichen Sinne (in demselben Sinn ge-braucht ihn auch Kautsky), d. h. im Sinne des Großbetriebs in der Land-wirtschaft. In Wirklichkeit aber (sie!) gibt es bei kapitalistischer Organi-

sation der gesamten Volkswirtschaft überhaupt keine nichtkapitalistischeLandwirtschaft, die ja ganz durch die allgemeinen Bedingungen der Pro-duktionsorganisation bestimmt wird, und nur innerhalb ihrer Grenzenlassen sich groß e, von Un tern ehm ern be triebene Landw irtschaft u nd kleineLandwirtschaft untersdieiden. Der Klarheit halber ist auch hier ein neuerTerminus nötig." Es zeigt sich also, daß Herr Bulgakow Kautsky korri-

giert hat... „In Wirklichkeit aber" gebraucht Kautsky, wie der Lesersieht, den Ausdruck „kapitalistische Landwirtschaft" keineswegs in dem„üblichen", ungenauen Sinn, in dem ihn Herr Bulgakow gebraucht. Kaut-sky versteht sehr wohl und sagt es sehr klar und deutlich, daß bei kapita-listischer Produktionsweise jeder landwirtschaftliche Betrieb „in der Regel"kapitalistisch ist. Zur Begründung dieser Meinung wird die einfache Tat-sache angeführt, daß die moderne Landwirtschaft Geld braudit, Geldaber, das nicht für den persönlichen Konsum verwendet wird, wird in dermodernen Gesellschaft zu Kapital. Es scheint uns, daß dies ein bißchenklarer ist als die „Korrektur" des Herrn Bulgakow und daß Kautskydurchaus die Möglichkeit bewiesen hat, auch ohne einen „neuen Te rm inu s"auszukommen.

In Kapitel V seines Buches stellt Kautsky unter anderem fest, daß so-wohl das Pachtsystem, das in England so voll ausgebildet ist, als auch dasHypothekarsystem, das sich auf dem europäischen Kontinent mit erstaun-licher Schnelligkeit entwickelt, im Grunde Ausdruck ein und desselbenProzesses sind: nämlich des Prozesses der Jrennung des Landwirts vom

Qrund und 'Boden* Im kapitalistischen Pachtsystem ist diese Trennung

* In Band III des „Kapitals" wies Marx auf diesen Prozeß hin (ohne seineverschiedenen 7ormen in den verschiedenen Ländern zu untersuchen) und be-

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Der Kapitalismus in der Landwirtschaft 107

klar wie der Tag. „Beim Hypothekarsystem liegt die Sache weniger klar

und einfadi, aber im Grunde läuft es auf dasselbe hinaus." (S. 86.) Es istin der Tat offenkundig, daß die Verpfändung des Bodens eine Verpfän-dung oder eine Veräußerung der Grundrente ist . Folglich sind die Be-zieher der Rente ( = Grun deigentüm er) sowohl beim Hy pothe karsystemals auch beim Pachtsystem von den Beziehern des Unternehmerprofits( = Lan dw irte, landwirtschaftliche U nter neh m er) getrennt. H er rn Bulga-kow „ist die Bedeutung dieser Behauptung Käutskys überhaupt unklar".„Es kann wohl kaum als bewiesen betrachte t werden, daß die HypothekAusdruck der Trennu ng des G run d und Bodens vom Landwirt is t . "„Erstens läßt sich nicht beweisen, daß die Verschuldung die ganze Renteverzehrt , dies is t nur a ls Ausnahme möglich. . . " Wir antworten hierauf:

Es besteht gar keine Notwendigkeit , zu beweisen, daß die Zinsen fürHypothekenschulden die ganze Rente verzehren, ebenso wie keine Not-wendigkeit besteht, zu beweisen, daß der tatsächliche Pachtzins mit derRente zusammenfällt . Es genügt der Beweis, daß die Hypothekarverschul-dung mit gigantischer Schnelligkeit wächst, daß die Grundbesitzer sichbem ühen, ihren gesamten G run d un d Boden zu verpfänden, bestrebt s ind,die ganze Rente zu veräußern. Da ß diese Tend enz besteht — eine theore-t ische ökonomische Analyse kann es übe rhau pt n ur m it Tend enzen zu tun

haben —, darüber kann es keinen Zweifel geben. Folglich ist auch der Pro-zeß der Tre nnu ng des G run d und Bodens vom Land wirt unzweife lhaft.Die Vereinigung des Beziehers der Rente und des Beziehers des Unter-nehmerprofits in einer Person „i st . . . historisch eine Ausn ahm e" (S. 91). . . „Zweitens m uß man in jedem gegebenen Fal l die Ursachen und Qu el-len der Verschuldung analysieren, um ihre Bedeutung zu verstehen." Dasist wahrscheinlich entweder ein Druckfehler oder ein Lapsus. Herr Bul-gakow kann nicht verlangen, daß ein Ökonom (der noch dazu „die Ent-wicklung der Landwirtschaft in der kapitalistischen Gesellschaft" im all-

gemeinen behandelt) die Ursachen der Verschuldung „in jedem gegebenenJall" untersudi t oder auch nur imstande is t , das zu tun. Wenn HerrBulgakow von der Notwendigkeit sprechen wollte, die Ursachen der Ver-merkte, daß es „eines der großen Resultate der kapitalistischen Produktions-weise" ist, „den Grund und Boden als Arbeitsbedingung... vom Grundeigen-tum un d Grundeigentümer" g etrennt zu haben (III, 2, S. 156/157. Russ. übers . ,509/510).39

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schuldung in verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeiten zu analy-

sieren, so können wir ihm nicht beistimmen. Kautsky hat vollkommenrecht, daß sich viel zuviel Monographien über die Agrarfrage angehäufthaben, daß die dringendste Aufgabe der modernen Theorie keineswegsin der Vermehrung der Monographien um neue, sondern in der „Erfor-schung der Grundtendenzen" der kapitalistischen Entwicklung der Land-wirtschaft in ihrer Gesamtheit besteht (Vorrede, S. VI). Zu diesen Grund-tendenzen gehört zweifellos auch die Trennung des Grund und Bodensvom Landwirt in Form der steigenden Hypothekarverschuldung. Kautskyhat die wirkliche Bedeutung der Hypotheken, ihren fortschrittlichen histo-

rischen Charakter (die Trennung des Grund und Bodens vom Landwirtist eine der Bedingungen der Vergesellschaftung der Landwirtschaft, S. 88)und ihre notwendige Rolle in der kapitalistischen Entwicklung der Land-wirtschaft klar und deutlich definiert.* Alle Betrachtungen Kautskys indieser Frage sind theoretisch außerordentlich wertvoll und liefern einestarke Waffe gegen die (besonders in „jedem beliebigen Leitfaden derÖkonomie der Landwirtschaft") so verbreiteten bürgerlichen Redereienüber „die schlimmen Folgen" der Verschuldung sowie über „Hilfsmaß-nahmen"... „Drittens", schließt Herr Bulgakow, „kann der verpachtete

Boden seinerseits verpfändet werden und in diesem Sinne die Stelle un-verpachteten Bodens einnehmen." Ein sonderbares Argument! Möge H errBulgakow auch nur eine ökonomische Erscheinung, auch nur eine ökono-mische Kategorie nennen, die sich nicht mit anderen verflechten. Die Fälle,wo die Pacht mit der Hypothek vereinigt ist, bedeuten weder eine W ider-legung noch auch nur eine Abschwächung der theoretischen These, daß sich

der Prozeß der Trennung des Grund und Bodens vom Landwirt in zweiFormen äußert: im Pachtsystem und in der Hypothekarverschuldung.

Für „noch überraschender" und „völlig unrichtig" erklärt Herr Bul-

gakow auch die These Kautskys, „die Länder des ausgebildeten Pacht-* „Die Zunahme der Hypothekarverschuldung braucht... nicht notwen-

digerweise einen Notstand der Landwirtschaft anzuzeigen... auch der Fort-schritt und die Blüte der Landwirtschaft" (ebenso wie ihr Niedergang) „mußsich in einer Zunahme der Hypothekarschulden äußern, einmal wegen deswachsenden Kapitalbedürfnisses, das von einer fortschreitenden Landw irtschaftentwickelt wird, und dann wegen des Steigens der Grundrente, das eine Aus-dehn ung des landwirtschaftlichen Kred its ermöglicht." (S . 87.)

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Der Kapitalismus in der Landwirtschaft 109

Systems" seien „auch Länder m it vorwiegendem Großgrun dbesitz" (S . 88).Kautsky spricht hier von der Konzentration des Grundeigentums (unterdem Pachtsystem) und der Konzentration der Hypotheken (unter demSystem des Eigenbetriebs der Grundbesitzer) als von einer Bedingung,die die Aufhebung des privaten Grundeigentums erleichtert, über dieKonzentration des Grundeigentums, fährt Kautsky fort, gibt es keineStatistik, die „die Vereinigung verschiedener Besitzungen in einer H a n d . . .verfolgen ließe", aber „im allgemeinen darf man wohl annehmen", daßdort, wo die Zahl der Pachtungen und die Fläche des Pachtlandes zu-nehmen, sich auch der Grundbesitz konzentriert. „Die Länder des aus-gebildeten Pachtsystems sind auch Länder mit vorwiegendem Großgrund-besitz." Es ist klar, daß sich diese ganze Darlegung Kautskys eben aus-schließlich auf Länder mit ausgebildetem Pachtsystem bezieht, währendHerr Bulgakow sich auf Ostpreußen beruft, wo er eine Zunahme derPacht bei gleichzeitiger Zersplitterung des Großgrundbesitzes „zu zeigenhofft" — und durch dieses Einzelbeispiel Kautsky widerlegen w ill!Nur hätte Herr Bulgakow nicht vergessen sollen, dem Leser mitzuteilen,daß Kautsky selbst auf die Zersplitterung der großen Güter und die Zu-nahme der Bauernpacht in Ostelbien hinweist und daß er dabei, wie wirweiter unten sehen werden, die wirkliche Bedeutung dieser Prozesse

klarmacht.Die Konzentration des Grundbesitzes in Ländern mit Hypothekarver-

schuldung beweist Kautsky an Hand der Konzentration der Hypotheken-institute. Herr Bulgakow hält das für nicht beweiskräftig. „Es kann",seiner Meinung nach, „leicht der Fall sein, daß eine Dekonzentrationdes Kapitals (durch Aktien) bei gleichzeitiger Konzentration der Kredit-institute vor sich geht." Nun, über diese Frage wollen wir mit HerrnBulgakow schon gar nicht streiten.

III

Nachdem Kautsky die Grundzüge der feudalen und der kapitalistischenLandwirtschaft behandelt hat, geht er zur Frage des „Großbetriebs undKleinbe triebs" (Kapitel VI) in der Landw irtschaft über. D ieses Kapitelist eins der besten in Kautskys Buch. Zunädist untersucht er hier die„technische Überlegenheit des Großbetriebs". Kautsky entscheidet die

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110 IV.J.Lenin

Frage zugunsten des Großbetriebs und gibt keineswegs eine abstrakte

Formel, die die ungeheure Mannigfaltigkeit der agrarischen Verhältnisseignoriert (wie Herr Bulgakow höchst unbegründet meint), sondern weistim Gegenteil klar und eindeutig auf die Notwendigkeit hin, diese Mannig-faltigkeit bei der Anwendung des Gesetzes der Theorie auf die Praxis zuberücksichtigen. Die Überlegenheit des landwirtschaftlichen Großbetriebsüber den Kleinbetrieb ist „selbstverständlich" nur „unter der Annahmesonst g leidter Verhältnisse" unvermeidlich (S. 100. Hervorgehoben vonmir). Dies erstens. Auch in der Industrie ist ja das Gesetz der Überlegen-heit des Großbetriebs keineswegs so absolut und so einfach, wie man

manchmal denkt; auch dort gewährleistet erst die Gleichheit der „son-stigen Verhältnisse" (die in der Praxis bei weitem nicht immer vorliegt)die volle Anwendbarkeit des Gesetzes. In der Landwirtschaft aber, diesich durch unvergleichlich größere Kompliziertheit und Mannigfaltigkeitder Verhältnisse auszeichnet, ist die volle Anwendbarkeit des Gesetzesder Überlegenheit des Großbetriebs an bedeutend strengere Bedingungengeknüpft. Kautsky bemerkt zum Beispiel sehr treffend, daß an der G renzezwischen dem bäuerlichen Betrieb und dem kleinen Gutsbetrieb ein „Um-schlag der Quantität in die Qualität" stattfindet: der bäuerliche Groß-betrieb kann dem gutsherrlichen Kleinbetrieb „wenn auch nicht technisch,so doch ökonomisch überlegen" sein. Die Kosten für einen wissenschaft-lich geschulten Leiter (einer der wichtigsten Vorteile des Großbetriebs)belasten ein kleines Rittergut über seine Leistungsfähigkeit hinaus, wäh-rend die eigene Leitung durch den Besitzer selbst oft bloß „junkerlich",keineswegs aber wissenschaftlich ist. Zweitens ist die Überlegenheit desGroßbetriebs in der Landwirtschaft nur bis zu einer bestimmten Grenzegegeben. Kautsky untersucht diese Grenze in der weiteren Darlegungausführlich. Es versteht sich ebenfalls von selbst, daß diese Grenze fürdie verschiedenen Zweige der Landwirtschaft und unter verschiedenengesellschaftlich-ökonomischen Verhältnissen nicht gleich ist. Drittens igno-riert Kautsky keineswegs, daß es „vorläufig" auch Zweige der Landwirt-schaft gibt, in denen die Fachleute den Kleinbetrieb als konkurrenzfähiganerkennen, zum Beispiel die Garten- und Weinkultur, den Anbau vonHandelspflanzen usw. (S. 115). Diese Kulturarten sind aber von völliguntergeordneter Bedeutung gegenüber den entscheidenden Zweigen derLandwirtschaft, dem Getreidebau und der Viehzucht. Außerdem „gibt es

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Der Kapitalismus in der Landwirtschaft i 11

auch auf dem Gebiete der Garten- und Weinkultur bereits genug erfolg-

reiche Großbetriebe" (S. 115). Daraus folgt: „Spricht man von der Land-wirtschaft im allgemeinen, dann kommen die Kulturarten, in denen derKleinbetrieb dem Großbetrieb überlegen, kaum in Betracht, und dannkann man wohl sagen, daß der Großbetrieb dem Kleinbetrieb entschiedenüberlegen ist." (S. 116.)

Nachdem Kautsky die technische Überlegenheit des Großbetriebs inder Landwirtschaft nachgewiesen hat (ausführlicher behandeln wir dieArgumente Kautskys weiter unten, wo wir uns mit den Einwänden desHerrn Bulgakow befassen), wirft er die Frage auf: „Was hat der Klein-

betrieb diesen Vorteilen des Großbetriebs entgegenzusetzen?" und ant-wortet: „Den größeren Fleiß und die größere Sorgsamkeit des Arbeiters,der für sich selbst schafft im Gegensatz zu dem Lohnarbeiter, und dieBedürfnislosigkeit des kleinen selbständigen Landwirts, die selbst die desLandarbeiters noch übersteigt" (S. 106) — und durch eine ganze Reihevon anschaulichen Angaben über die Lage der Bauern in Frankreich, Eng-land und Deutschland stellt Kautsky die Tatsache „der Überarbeit undder Unterkonsum tion im Kleinbetrieb" außerhalb jedes Zweifels. Schließ-lich weist Kautsky darauf hin, daß sich die Überlegenheit des Großbetriebs

auch in dem Bestreben der Landwirte, Qenossensdbaften zu bilden, aus-drückt: „Genossenschaftlicher Betrieb ist Großbetrieb." Es ist bekannt,wieviel Aufhebens die Ideologen des Kleinbürgertums im allgemeinenund die russischen Volkstümler im besonderen (es sei nur das oben zitierteBuch des Herrn Kablukow genannt) von den Genossenschaften der klei-nen Landwirte machen. Um so mehr gewinnt deshalb die hervorragendeAnalyse der Rolle der Genossenschaften an Bedeutung, die von Kautskygegeben wurde. Die Genossenschaften der kleinen Landwirte sind natür-lich ein Glied des ökonomischen Fortschritts, doch bringen sie den Fort-

schritt zum Kapitalismus, nicht aber zum Kollektivismus, wie man viel-fach meint und behauptet, zum Ausdruck (S. 118). Die Genossenschaftenverringern nicht den Vorsprung des landwirtschaftlichen Großbetriebs vordem Kleinbetrieb, sondern vergrößern ihn, weil die großen Besitzer eherdie Möglichkeit haben, Genossenschaften zu bilden, und diese Möglich-keit auch mehr ausnutzen. Daß der genossenschaftliche, kollektiv be-wirtschaftete Großbetrieb dem kapitalistischen Großbetrieb überlegen ist,das stellt Kautsky — selbstverständlich — mit aller Entschiedenheit fest.

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112 W.J.Lenin

Er geht auf die Versudie, die Landwirtschaft kollektiv zu betreiben, die

in England von Anhängern Owens gemacht wurden*, und auf ähnlicheGemeinden in den Vereinigten Staaten von Nordamerika ein. Alle dieseExperimente, sagt Kautsky, beweisen unwiderieglido, daß die kollektiveFührung eines modernen landwirtschaftlichen Großbetriebs durch Ge-nossenschaftsmitglieder durchaus möglich ist, soll aber diese MöglichkeitWirklichkeit werden, so ist „eine Reihe bestimmter ökonomischer, politi-scher, intellektueller Voraussetzungen" notwendig. Der kleine Produzent(sowohl der Handwerker als auch der Bauer) wird am Übergang zu ge-nossenschaftlicher Produktion gehindert durch seinen äußerst schwach

entwickelten Gemeinsinn, seine schwache Disziplin, seine Isoliertheit, sei-nen „Eigentumsfanatismus", der nicht nur unter den westeuropäischenBauern, sondern, fügen wir von uns aus hinzu, auch unter den russischenBauern der „D orfgemeinsch aft" zu finden ist (man de nk e an A. N . Engel-hardt und G. Uspenski). „Dagegen ist es ein Unding, zu erwarten", er-klärt Kautsky kategorisch, „daß der Bauer in der heutigen Qeseüsdbaft

zur genossenschaftlichen Produktion übergehen wird." (S. 129.)

Dies ist der außerordentlich reiche Inhalt von Kapitel VI des Kautsky-schen Buches. He rr Bulgakow ist mit diesem K apitel beson ders unzufrieden .

Kautsky, sagt man uns, hat sich der „schweren Sünde" schuldig gemacht,verschiedene Begriffe verquickt zu haben, „technische Vorteile werden mitökonomischen verquickt". Kautsky „geht von der falschen Voraussetzungaus, daß die technisch vollkommenere Produktionsweise auch die ökono-

misch vollkommenere, d. h. lebensfähigere sei". Dies entschiedene Urteildes Herrn Bulgakow ist, wovon sich der Leser, so hoffen wir, bereits ausunserer Darlegung des Kautskyschen Gedankengangs überzeugt habenwird, völlig unbegründet. Ohne Technik und Ökonomik im geringstenzu verquicken**, geht Kautsky völlig richtig vor, wenn er die Frage des

Verhältnisses von Großbetrieb und Kleinbetrieb in der Landwirtschaftunter sonst gleichen "Umständen in kapitalistischen Wirtschaftsverhält-

* Auf S. 124—126 schildert Kautsky die landwirtschaftliche Kommune inRalahine, von der übrigens auch Herr Dioneo im „Russkoje Bogatstwo" [Rus-sischer Reichtum] Nr. 2 dieses Jahres den russischen Lesern berichtet.

** Das einzige, worauf sich Herr Bulgakow stützen könnte, ist der Jitel,den Kautsky dem ersten Teil des VI. Kapitels gegeben hat: ,,a) Die technischeÜberlegenheit des Großbetriebs", obgleich in diesem Abschnitt sowohl von

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Der Kapitalismus in der Landwirtschaft 113

nissen untersucht. Qleich im ersten Satz des ersten Abschnitts von "Kapi-tel VI weist Kautsky diesen Zusammenhang zwischen der Höhe der

Entwicklung des Kapitalismus und dem Qrad der allgemeinen Anwend-barkeit des Qesetzes von der ^Überlegenheit des landwirtschaftlichenQroßbetriebs genau nach: „Je kapitalistischer die Landwirtschaft wird,desto mehr entwickelt sie einen qualitativen Unterschied der Technikzwischen Großbetrieb und Kleinbetrieb." (S. 92.) In der vorkapita-listischen Landwirtschaft bestand dieser qualitative Unterschied nicht.Was soll man da von der strengen Belehrung sagen, die Herr BulgakowKautsky zuteil werden läßt: „Tatsächlich muß die Frage so gestelltwerden: Welche Bedeutung können in der K onkurrenz des Großbetriebs

und Kleinbetriebs, unter den gegebenen sozialökonomischen "Bedingungendiese oder jene Besonderheiten jeder dieser Betriebsformen haben?"Dies ist eine „Korrektur" genau derselben Art wie die oben von unsbetrachtete.

Sehen wir jetzt zu, wie Herr Bulgakow die Argumente widerlegt, dieKautsky für die technische Überlegenheit des Großbetriebs in der Land-wirtschaft vorbringt. Kautsky sagt: „Einer der wichtigsten Unterschiedezwischen Industrie und Landwirtschaft liegt darin, daß in letzterer immer

den technischen als auch von den ökonomischen Vorteilen des Großbetriebs ge-sprochen wird. Zeigt das aber etwa, wie Kautsky Technik und Ökonomikverquickt? Und dabei ist es im Grunde genommen immer noch eine Frage, obdie von Kautsky gegebene Bezeichnung ungenau ist. Die Sache ist die, daßKautsky das Ziel verfolgt, den Inhalt der ersten beiden Unterkapitel vonKapitel VI einander gegenüberzustellen: im ersten (a) wird von der technischenÜberlegenheit des Großbetriebs in der kapitalistischen Landwirtschaft ge-sprochen, und hier figuriert neben den Maschinen und anderem beispielsweiseder Kredit. Herr Bulgakow ironisiert: „eine eigenartige technische Überlegen-heit". Aber — rira bien qui rira le dernier! [W er zu letzt lacht, lacht am besten!

Die Red.] Man werfe einen Blick in Kautskys Buch, und man wird sehen, daßer hauptsächlich den Fortschritt in der Jechnik des Kreditwesens (und weiterauch in der Technik des Handels) meint, der nur dem großen Landwirt zugäng-lich ist. Im zweiten Unterkapitel (b) dagegen werden die Arbeitsmenge unddie Verbrauchsnorm des Arbeitenden im Großbetrieb und Kleinbetrieb ver-glichen, folglich werden hier rein ökonomische ^Unterschiede zwischen Klein-betrieb und Großbetrieb untersucht. Die Ökonomik des Kredits und des Han-dels ist für beide gleich, die 7edm»k aber verschieden.

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114 •W.J.Lenin

noch der eigentliche Wirtschaftsbetrieb und der Haushalt eine feste Ein-heit bilden, während in der Industrie... beide völlig voneinander un-

abhängig sind." D aß aber der größere H aushalt dem kleineren an Arbeits-und Materialersparung überlegen ist, bedarf kaum eines Beweises. Dererste kauft (man beachte dies! "W. 7.) „Petroleum, Zichorienkaffee undMargarine im großen", der zweite „im kleinen" usw. (S. 93). Herr Bul-gakow „korrigiert": „Kautsky wollte nicht sagen, daß dies technisch vor-teilhafter ist, sondern daß dies weniger kostet...!" Ist es nicht klar, daßauch in diesem Fall (wie in allen übrigen) der Versuch des Herrn Bulga-kow, Kautsky zu „korrigieren", ganz und gar mißglückt ist? „Dies Argu-ment", fährt der strenge Kritiker fort, „ist an und für sich ebenfalls sehr

zweifelhaft, da in den Wert des Produkts, unter gewissen Bedingungen/der Wert der einzelnen Bauernhäuser durchaus nicht einzugehen braucht,während der Wert des gemeinsamen Bauernhauses darin eingehen wird u ndobendrein mit Zinsen. Das hängt ebenfalls von den sozialökonomischenBedingungen ab, und die sollte man untersuchen — nicht aber die schein-bar technischen Vorteile des Großbetriebs vordem Kleinbetrieb..." Er-stens vergißt Herr Bulgakow die Kleinigkeit, daß Kautsky, der zunächstdie relative Bedeutung des Großbetriebs und des Kleinbetriebs unter sonstgleichen Umständen behandelt, in der weiteren D arlegung auch diese Um-

stände eingehend untersucht. Herr Bulgakow möchte folglich verschiedeneFragen in einen Topf werfen. Zweitens, wieso braucht der Wert derBauernhäuser nicht in den Wert des Produkts einzugehen? Nur aus demGrunde, weil der Bauer den Wert seines Holzes oder seine beim Bau undbei der Instandhaltung des Hauses geleistete Arbeit „nicht rechnet". So-weit der Bauer noch Naturalwirtschaft betreibt, braucht er seine Arbeitnatürlich „nicht zu rechnen" — und zu Unrecht vergißt Herr Bulgakowdem Leser zu sagen, daß Kautsky dies mit voller Klarheit und Präzisionauf den Seiten 165-167 seines Budbes aufzeigt (Kapitel VIII, „Die Pro-

letarisierung des Bauern"). Aber hier handelt es sich doch um die „sozial-ökonomischen Bedingungen" des Kapitalismus, nicht aber um die derNaturalwirtschaft und der einfachen Warenwirtschaft. Und unter kapita-listischen Gesellschaftsverhältnissen seine Arbeit „nicht rechnen", das be-deutet, seine Arbeit (dem Kaufmann oder einem anderen Kapitalisten)umsonst geben, das bedeutet, gegen nicht volle Bezahlung der A rbeitskraftarbeiten, das bedeutet, das Niveau der Bedürfnisse unter die Norm senken.

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Der 'Kapitalismus in der £andwirtsdhaft 115

Diese Besonderheit des Kleinbetriebs hat Kautsky, w ie wir gesehen haben,völlig anerkannt und richtig gewertet. Herr Bulgakow wiederholt bei sei-nem Einwand gegen Kautsky die übliche Methode und den üblichen Fehlerder bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ökonomen. Diese Ökonomen san-gen allen die Ohren voll mit ihren Lobeshymnen auf die „Lebensfähig-keit" des Kleinbauern, der ja seine Arbeit nicht zu rechnen und wederProfit noch Rente herauszuwirtschaften brauche usw. Diese guten Leutevergaßen nur, daß eine derartige Auffassung die „sozialökonomischen Be-dingungen" der Naturalwirtschaft, der einfachen Warenproduktion unddes Kapitalismus durcheinanderwirft. Alle diese Fehler werden von Kaut-sky vortrefflich klargestellt, wobei er die einzelnen Systeme der gesell-schaftlich-ökonomischen Verhältnisse streng unterscheidet. „Ist der land-wirtschaftliche Betrieb des Kleinbauern", sagt er, „dem Bereich der Waren-produktion entrückt, bildet er bloß ein Stück des Haushalts, dann bleibter auch außerhalb des Bereichs der zentralisierenden Tendenzen der mo-dernen Produktionsweise. Wie irrationell und verschwenderisch seine Par-zellenwirtschaft auch sein mag, er hält an ihr fest, wie seine Frau an ihremkümmerlichen Haushalt, der auch mit dem größten Aufwand von Arbeits-kraft ein unendlich dürftiges Resultat erzielt, der aber das einzige Gebietbildet, auf dem sie nicht fremdem Willen Untertan zu sein braucht und

frei ist von Ausbeutung." (S. 165.) Die Sache ändert sich, wenn die Na-turalwirtschaft durch die Warenwirtschaft verdrängt wird. Der Bauermuß dann Produkte verkaufen, Werkzeuge kaufen, Boden 'kaufen. So-lange der Bauer einfadher Warenproduzent bleibt, kann er sich mit demLebensniveau eines Lohnarbeiters begnügen. Er kann auf Profit und Grund-rente verzichten und für ein Grundstück einen höheren Preis zahlen,als ihn ein kapitalistischer U nternehmer zahlen könnte (S. 166). Aber dieeinfache Warenproduktion wird durch die kapitalistische Produktion ver-drängt. W enn zum Beispiel der Bauer auf sein G rundstück eine Hypothek

aufgenommen hat, muß er auch schon die Rente, die dem Gläubiger ver-kauft ist, aufbringen. Auf dieser Entwicklungsstufe kann man den Bauernnur formal als einfachen Warenproduzenten ansehen. De facto* hat eres gewöhnlich bereits mit dem Kapitalisten — dem Gläubiger, Kaufmann,industriellen Unternehmer — zu tun, bei dem er „Nebenerwerb" suchen.,d. h., dem er seine Arbeitskraft verkaufen muß. In diesem Stadium — und

*Tn"der Tat. T>ie Red.

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116 W.I.Lenin

Kautsky, wiederholen wir, stellt landwirtschaftlichen Groß- und Klein-

betrieb in der kapitalistischen Gesellschaft einander gegenüber — bedeutetdie Möglichkeit, „seine Arbeit nicht zu rechnen", für den Bauern nur eins:sich bei der Arbeit halbtot zu schuften und seine Bedürfnisse endlos ein-zuschränken.

Ebenso haltlos sind auch die anderen Einwände des Herrn Bulgakow.Der Kleinbetrieb zieht der Anwendung von Maschinen engere Grenzen;für den kleinen Landwirt ist die Kreditaufnahme schwieriger und teurer,sagt Kautsky. Herr Bulgakow findet, daß diese Argumente falsdi sindund verweist auf die... bäuerlichen Genossenschaften! Mit absolutem

Schweigen übergeht er hierbei die Beweise Kautskys, der die von unsoben angeführte Einschätzung dieser Genossenschaften und ihrer Be-deutung gegeben hat. In der Frage der Maschinen erteilt Herr BulgakowKautsky wiederum eine Rüge, weil er nicht „die allgemeinere ökonomischeFrage gestellt hat: welches überhaupt die ökonomische Rolle der Maschi-nen in der Landwirtschaft ist" (Herr Bulgakow hat das Kapitel IV desKautskyschen Buches bereits vergessen!) „und ob sie in ihr ein ebensounvermeidliches Werkzeug sind wie in derFertigungsindustrie?". Kautskyhat den kapitalistischen Charakter der Anwendung von Maschinen in dermodernen Landwirtschaft klar bewiesen (S. 39, 40ff.), hat die Besonder-heiten der Landwirtschaft, die für die Anwendung von Maschinen in derLandwirtschaft „technische und ökonomische Schwierigkeiten" schaffen,hervorgehoben (S. 38ff.), Daten über die zunehmende Anwendung vonMaschinen (40), über ihre technische Bedeutung (42ff.) und über dieRolle der Dampfkraft und der Elektrizität angeführt. Kautsky hat ge-zeigt, welcher Betriebsumfang nach den Angaben der Agronomie er-forderlich ist, damit die verschiedenen Maschinen voll ausgenutzt werdenkönnen (94), und darauf hingewiesen, daß nach der deutschen Betriebs^Zählung von 1895 der Prozentsatz der Maschinen anwendenden Wirt-

schaften gleichmäßig und schnell vom Kleinbetrieb zum Großbetrieb an-steigt (2 Prozent in Betrieben unter 2 Hektar; 13,8 Prozent in Betriebenmit 2 bis 5 Hektar; 45,8 Prozent in Betrieben mit 5 bis 20 Hektar;78,8 Prozent in Betrieben mit 20 bis 100 Hektar,- 94,2 Prozent in Be-trieben mit 100 Hektar und darüber). H err Bulgakow möchte an Stelledieser Daten „allgemeine" Erörterungen über die „Unbesiegbarkeit" oderBesiegbarkeit der Maschinen sehen!...

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Der Kapitalismus in der £andwirtsdbaft 117

„Der Hinweis darauf, daß beim Kleinbetrieb mehr Zugvieh auf den

Hektar ko m m t..., ist aus dem G ru nd e. .. nicht übe rzeug end ..., weil dabeider Intensitätsgrad der Viehhaltung in der Wirtschaft nicht untersuchtwird", sagt Herr Bulgakow. Schlagen wir die Seite des KautskyschenBuches auf, wo dieser Hinweis gegeben wird. Wir lesen dort: „Die große,Zahl von Kühen beim Kleinbetrieb" (auf 1000 Hektar berechnet) „ist innicht geringem Maße auch darauf zurückzuführen, daß der Bauer mehrViehzucht und weniger Getreidebau treibt als der Großbetrieb; die Diffe-renz in der Pferdehaltung kann dagegen dadurch nicht erklärt werden."(S. 96 , wo Angaben über Sachsen für das Jahr 1860, über ganz Deutsch-;

land für das Jahr 1883 und über England für das Jahr 1880 gemacht wer-den.) Es sei daran erinnert, daß auch in Rußland die Semstwostatistikdasselbe Gesetz aufgedeckt hat, das die Überlegenheit des landwirtschaft-,liehen Großbetriebs über den Kleinbetrieb zum Ausdruck bringt: diebäuerlichen Großbetriebe kommen pro Flächeneinheit mit einer geringe-ren Menge von Vieh und Inventar aus.*

Kautskys Argumente von der Überlegenheit des Großbetriebs über denKleinbetrieb in der kapitalistischen Landwirtschaft werden von HerrnBulgakow bei weitem nicht vollständig dargelegt. Die Überlegenheit des

landwirtschaftlichen Großbetriebs besteht nicht nur in geringerem Verlustan Kulturfläche, in Einsparungen an lebendem und totem Inventar, in vol-lerer Ausnutzung des Inventars, in der größeren Möglichkeit, Maschinenanzuwenden, und in der leichteren Kreditbeschaffung, sondern auch inder kommerziellen Überlegenheit des Großbetriebs und in der Verwen-dung wissenschaftlich geschulter Leiter (Kautsky, S. 104). Der landwirt-schaftliche Großbetrieb bedient sich in höherem Maße der Kooperationder Arbeiter und der Arbeitsteilung. Eine besonders große Bedeutungmißt Kautsky der wissenschaftlichen agronomischen Bildung des Land-

wirts bei. „Einen wissenschaftlich vollkommen gebildeten Landwirt kannnur jener Betrieb anwenden, der groß genug ist, daß die Arbeit derLeitung und Beaufsichtigung der Wirtschaft eine Arbeitskraft ausschließ-.lieh beschäftigt." (S .98: „Diese Größe " der Wirtschaft „wechselt mit derBetriebsart" von 3 Hektar beim Weinbau bis 500 Hektar bei extensiver

* Siehe W.S.Postnikow, „Die südrussische Bauernwirtschaft". Vgl. W.Jljin,

„Die Entwicklung des Kapitalismus", Kapitel II, Abschnitt 1 (siehe Werke,Bd. 3 . Die R e d r > .

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118 IV.3. Lenin

Wirtschaft.) Kautsky hebt hierbei die interessante und äußerst charak-

teristische Tatsache hervor, daß die Verbreitung landwirtschaftlicherSchulen niederer und mittlerer Stufe nicht dem Bauern Nutzen bringt,sondern dem großen Landwirt, dem sie Angestellte zuführen (dasselbeläßt sich auch in Rußland beobachten). „Aber jene höhere Bildung, dieein vollkommen rationeller Betrieb erfordert, ist allerdings mit den heu-tigen Existenzbedingungen des Bauern schwer verträglich. Dam it ist na tür-lich nicht eine Verurteilung der höheren Bildung, sondern der Lebens-bedingungen des Bauern ausgesprochen. Es besagt nichts anderes, als daßder bäuerliche Betrieb dem Großbetrieb gegenüber sich nicht auf seine

höheren Leistungen, sondern auf seine geringeren Ansprüche stützt."(99.) Der Großbetrieb muß nicht nur bäuerliche Arbeitskräfte halten,sondern auch städtische Arbeitskräfte, deren Ansprüche auf einem unver-gleichlich höheren Niveau stehen.

Die in höchstem Grade interessanten und wichtigen D aten, die Kautskyzum Beweis für „die Überarbeit und Unterkonsumtion im Kleinbetrieb"anführt, nennt Herr Bulgakow „einige (!) zufällige (??) Zitate". HerrBulgakow „nimmt es auf sich", die gleiche Anzahl „Zitate entgegengesetz-ten C harakters" anzuführen. Er vergißt nur zu sagen, ob er es nicht eben-

falls auf sich nimmt, die entgegengesetzte Behauptung aufzustellen, dieer mit „Zitaten entgegengesetzten Charakters" beweisen würde. Das istja gerade der Kern der Sache! Nimmt es Herr Bulgakow etwa auf sich,zu behaupten, daß sich der Großbetrieb in der kapitalistischen Gesell-schaft vom bäuerlichen Betrieb durch überarbeit und Unterkonsumtiondes Arbeitenden unterscheidet? Herr Bulgakow ist vorsichtig genug, einesolch lächerliche Behauptung nicht aufzustellen. Die Tatsache der Über-arbeit und der Unterkonsumtion der Bauern glaubt er mit der Bemerkungabtun zu können, daß „die Bauern in einer Gegend wohlhabend, in der

anderen dürftig leben"!! Was würde man von einem Ökonomen sagen;der, statt die Daten über die Lage des Klein- und Großbetriebs zu ver-allgemeinern, sich daran machen wollte, den Unterschied in der „Wohl-1

habenheit" der Bevölkerung dieser oder jener „Gegenden" zu unter-suchen? Was würde man von einem Ökonomen sagen, der die Tatsacheder Überarbeit und der Unterkonsumtion der Hausarbeiter, verglichenmit den Fabrikarbeitern, mit der Bemerkung abtun würde, daß „die Haus-,arbeiter in einer Gegend wohlhabend, in der anderen dürftig leben"?

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Der Kapitalismus in der Landwirtsöhaft 119

Apropos Hausarbeiter. „Offenbar", schreibt Herr Bulgakow, „hat Kaut-

sky im Geiste die Parallele mit der Hausindustrie* vorgeschwebt, wo dieÜberarbeit keine technischen Grenzen hat" (wie in der Landwirtschaft),„aber diese Parallele taugt hier nicht." Offenbar, antworten wir hierauf,ha t sich Herr Bulgakow zu dem von ihm kritisierten Buch erstaunlich un-aufmerksam verhalten, denn die Parallele mit der Hausindustrie „hatKautsky nicht im Geiste vorgeschwebt", vielmehr weist er auf sie klarund deutlich sdhon auf der ersten Seite des Absdmitts hin, der der Frageder Überarbeit gewidmet ist (Kapitel VI, b, S. 106): „Wie in der Haus-industrie wirkt auch in der kleinbäuerlichen Wirtschaft die Familienarbeit

der Kinder noch verderblicher als die Lohnarbeit bei Fremden." Wieentschieden Herr Bulgakow auch dekretieren mag, daß diese Parallelehier nicht tauge, so ist seine Meinung dennoch völlig falsch. In der Indu-strie hat die Überarbeit keine technischen Grenzen, für den Bauern aberist sie „durch die technischen Bedingungen der Landwirtschaft begrenzt",urteilt Herr Bulgakow. Es fragt sich, wer nun wirklich Technik undÖkonomik verquickt, Kautsky oder Herr Bulgakow? Was soll denn hierdie Technik der Landwirtschaft oder der Hausindustrie, wo die Tat-sachen besagen, daß der Kleinproduzent sowohl in der Landwirtschaft

als auch in der Industrie die Kinder vom frühesten Alter an zur Arbeittreibt, eine größere Anzahl Stunden täglich arbeitet, „sparsamer" lebt,seine Ansprüche so weit beschneidet, daß er in einem zivilisierten Landeals ein wirklicher „Barbar" (ein Ausdruck von Marx) erscheint? Kannman denn die ökonomische Gleichartigkeit solcher Erscheinungen in derLandwirtschaft und in der Industrie deshalb verneinen, weil die Landwirt-schaft eine Menge Besonderheiten aufzuweisen hat (die Kautsky keines-wegs vergißt)? „Der Kleinbauer kann, selbst wenn er es wünscht, nichtlänger arbeiten, als dies sein Feld erfordert", sagt Herr Bulgakow. Aber

der Kleinbauer kann 14 statt 12 Stunden arbeiten und arbeitet auch solange,- er kann mit jener übernormalen Anstrengung arbeiten, die seineNerven und Muskeln bedeutend schneller verbraucht als eine normaleArbeit, und tut das auch. Und dann, was für eine falsche und überspitzteAbstraktion — alle Arbeiten des Bauern nur auf Feldarbeit zu reduzie-ren! Bei Kautsky ist dergleichen nicht zu finden. Kautsky w eiß sehr wohl,daß der Bauer auch in der häuslichen Wirtschaft arbeitet, daß er am Bau

* „Hausindustrie" im Original deutsch. Der Tibers. .

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120 W.3. Centn

und an der Instandhaltung des Hauses, des Stalles, der Geräte usw. arbei-

tet, „ohne" all diese zusätzliche Arbeit „zu redbnen", für die der Lohn-arbeiter im Großbetrieb den üblichen Lohn fordert. Ist es nicht für jeden

unvoreingenommenen Menschen klar, daß die Uberarbeit für den Bauern

— den kleinen Landwirt — unvergleichlich weitere Qrenzen hat als für den

gewerblichen Kleinproduzenten, wenn er nur gewerblicher Kleinprodu-

zent ist? Die Überarbeit des kleinen Landwirts als allgemeine Erscheinung

wird dadurch anschaulich bewiesen, daß alle bürgerlichen Schriftsteller

einmütig den „Fleiß" und die „Sparsamkeit" des Bauern bezeugen und

die Arbeiter der „Faulheit" und „Verschwendung" bezichtigen.

Die kleinen Bauern, sagt der von Kautsky zitierte Beobachter desLebens der Landbevölkerung in Westfalen, überhäufen ihre Kinder derart

mit Arbeit, daß ihre körperliche Entwicklung gehemmt wird; derartig

schlechte Seiten hat die Lohnarbeit nicht. Der Parlamentskommission,

die 1897 die Lebensverhältnisse in den Agrargebieten Englands unter-

suchte, erklärte ein Kleinbauer aus Lincoln: „Ich habe eine Familie groß-

gezogen und sie nahezu totgeschunden." Ein anderer sagt: „Ich und

meine Kinder, wir arbeiten mitunter 18 Stunden im Tag, durchschnittlich

10 bis 12", ein dritter: „Wir arbeiten härter als Taglöhner, wie Sklaven."

Mr. Read charakterisiert vor derselben Kommission die Lage der kleinenFarmer in Gegenden, wo der Ackerbau im engeren Sinne des Wortes

vorherrschend ist, folgendermaßen: „Der einzige Weg für ihn, sich zu

behaupten, ist der, zu arbeiten wie zwei Taglöhner und nicht mehr aus-

zugeben wie einer. Seine Kinder sind mehr abgerackert und schlechter

erzogen als die Kinder von Taglöhnern." („Royal Commission on Agri-

culture final report"*, S. 34, 357, zitiert bei Kautsky, S. 109.) Nimmt es

Herr Bulgakow etwa auf sich, zu behaupten, daß nicht minder oft die

Tagelöhner wie zwei Bauern arbeiten? Besonders charakteristisch ist

jedoch folgende von Kautsky angeführte Tatsache, die zeigt, wie „bäuer-liche Hungerkunst zur ökonomischen Überlegenheit eines Kleinbetriebs

führen kann": ein Vergleich der Rentabilität zweier Bauern wirtschaften

in Baden zeigt in der einen, der großen, ein Defizit von 933 Mark, in der

anderen, einer halb so großen, einen Überschuß von 191 Mark. Aber die

erste Wirtschaft, die ausschließlich mit Lohnarbeitern betrieben wurde,

mußte ihnen reichliche Kost verabreichen und dafür pro Kopf und Tag.

* „Abschließender Bericht der Königlichen Agrarkommission". T)ie Red.

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Der Kapitalismus in der £andwirtsdbaft 121

fast 1 Mark (ungefähr 45 Kopeken) ausgeben, während in der kleinen

Wirtschaft ausschließlich die Familienmitglieder arbeiteten (Frau undsechs erwachsene Kinder), deren Kost halb so gut war: 48 Pfennig proKopf und Tag. Hätte die Familie des Kleinbauern ebenso gut gegessenwie die Lohnarbeiter des großen Landwirts, so hätte die kleine Wirt-schaft ein Defizit von 1250 Mark aufzuweisen gehabt! „Ihr Überschußstammte nicht aus der vollen Scheune, sondern aus dem leeren Magen."Welche Menge ähnlicher Beispiele würde ans Tageslicht kommen, wennman zusammen mit den vergleichenden Untersuchungen über die „Ren-tabilität" der Groß- und Kleinbetriebe in der Landwirtschaft auch den

Konsum und die Arbeit der Bauern und der Lohnarbeiter berechnete.*Nehmen wir eine andere Berechnung der höheren Rentabilität eines Klein-betriebs (4,6 Hektar) im Vergleich zu einem Großbetrieb (26,5 Hektar),eine Berechnung, die in einer der Fachzeitschriften angestellt worden ist.Aber wie kommt die höhere Einnahme zustande? fragt Kautsky. Es stelltsich heraus, daß dem kleinen Landwirt die Kinder helfen, und zwar vondem Alter an, wo sie zu laufen beginnen, während den großen Landwirtdie Kinder Geld kosten (Schule, Gymnasium). Im Kleinbetrieb ersetzenauch Greise im Alter von über 70 Jahren „noch eine volle Arbeitskraft".„Der gewöhnliche Taglöhner, besonders im G roßbetrieb, denkt bei seinerArbeit: wenn es doch erst Feierabend wäre,- der Kleinbauer, wenigstensbei allen dringenden Arbeiten: wenn der Tag doch noch ein paar Stundenlänger dauerte." Die Kleinproduzenten, belehrt uns eben dieser Verfasserdes Aufsatzes in der Agrarzeitschrift, nutzen die Zeit bei eiligen Arbeiten„durch Früheraufstehen und Länger- und... Schnellerarbeiten" besseraus „als der größere Besitzer, dessen Arbeiter dann gewöhnlich nicht eheraufstehen, nicht länger und nicht besser arbeiten wollen als an anderenTagen". Der Bauer versteht es dank seinem „einfachen" Leben, einenReinertrag zu erzielen: er bew ohnt eine Lehmkate, die hauptsächlich durchdie Arbeit der Familie gebaut ist; die Frau ist siebzehn Jahre verheiratet,hat aber erst ein Paar Schuhe gebraucht, meistens geht sie barfuß oder inHolzpantoffeln, Kleider webt sie selbst für ihre Fam ilie. Kartoffeln, Milch,seltener ein Hering, bilden die Nahrung. Der Mann raucht nur sonntags

* Vgl. W.Hjin, „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland", S. 112,175, 201 (siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 3, S. 137/138, 207/208, 233/234, russ.D ie Red.). >

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122 TV J.Lenin

eine Pfeife Tabak. „Die Leute wußten nicht, daß sie besonders einfach

lebten und äußerten sich nicht unzufrieden über ihre Lage... Bei diesereinfachen Lebensweise hatten die Leute fast jährlich einen kleinen Über-schuß aus ihrer Wirtschaft."

IV

Nach der Analyse des Verhältnisses von Großbetrieb und Kleinbetriebin der kapitalistischen Landwirtschaft geht Kautsky zu einer speziellenUntersuchung der „Schranken der kapitalistischen Landwirtschaft" (Ka-

pitel VII) über. Gegen die Theorie der Überlegenheit des landwirtschaft-lichen Großbetriebs, sagt Kautsky, rebellieren vor allem die „Menschen-freunde" (wir hätten fast gesagt Volksfreunde...) in den Reihen derBourgeoisie, die „Nichtsalsfreihändler" *° und die Agrarier. In letzter Zeittreten viele Ökonomen für den landwirtschaftlichen Kleinbetrieb ein. Sieberuf en sich gewöhnlich auf die Statistik, die zeigt, daß eine Verdrängungder Kleinbetriebe durch Großbetriebe nicht stattfindet. Auch Kautskyführt Daten der Statistik an: In Deutschland wuchs von 1882 bis 1895am stärksten die Fläche der Mittelbetriebe an, dagegen in Frankreich von

1882 bis 1892 die der kleinsten und die der größten Betriebe, währendsie bei den Mittelbetrieben abnahm . In England verringerte sich von 1885bis 1895 die Fläche der kleinsten und der größten Betriebe; am meistenvergrößerte sich die Fläche der Betriebe mit 40 bis 120 Hektar (100 bis300 Acres), d. h. von Betrieben, die man nicht zu den kleinen zählenkann. In Amerika verringert sich die Durchschnittsgröße der Farmen:1850 - 203 Acres, 1860 - 199 Acres, 1870 - 153 Acres, 1880 -134 Acres, 1890 — 137 Acres. Kautsky untersucht die Angaben deramerikanischen Statistik genauer, und seine Analyse ist, entgegen der

Meinung des Herrn Bulgakow, von großer prinzipieller Bedeutung. DieHauptursache für die Verringerung der Durchschnittsgröße der Farmenist die Zerschlagung der großen Plantagen des Südens nach der Befreiungder Neger; in den Südstaaten hat sich die Durchschnittsgröße der Farmenum mehr als die Hälfte verringert. „Einen Sieg des Kleinbetriebs überden modernen" (= kapitalistischen) „Großbetrieb wird kein Sachkundigerin diesen Zahlen sehen." überhaupt zeigt die LIntersuchung der Datender amerikanischen Statistik nach den einzelnen Qebieten viele ver^

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Der Kapitalismus in der Landw irtschaft 123

schiedenartige Verhältnisse. Im Nordzentralgebiet, in den wichtigsten

„Weizens taaten" , stieg die Durchschnittsgröße der Farmen von 122 auf133 Acres . „N ur dort behält der K leinbetrieb die Oberha nd, w o dieLandwirtschaft verkommt oder wo vorkapitalistischer Großbetrieb inKonkurrenz mit bäuerlichem Betrieb tritt." (135.) Diese Folgerung Kaut-skys ist sehr wichtig, da sie die Bedingungen zeigt, ohne die der Gebrauchder Statistik nur Mißbrauch sein kann: es ist notwendig, kapitalistischenGroßbetrieb von vorkapitalistischem zu unterscheiden. Es ist notwendig,detaillierte Untersuchungen einzelner Gebiete vorzunehmen, die sichdurch wesentliche Besonderheiten in den Formen der Landwirtschaft undden historischen Entwicklungsbedingungen der Landwirtschaft unter-scheiden. Man sagt: „Zahlen beweisen!" Aber man muß doch unter-suchen, was eigentlich die Zahlen beweisen. Sie beweisen nur das, was sie

direkt sagen. Direkt sprechen die Zahlen nicht von der Größe des Be-t r iebs, sondern von dem Areal der Wirtschaften. Es ist jedoch möglich,und das gibt es auch in der Wirklichkeit, daß „ein intensiv bewirtschafte-tes kleines Gut ein größerer Betrieb sein kann als ein umfangreiches, ex-tensiv bewirtschaftetes". „Die Statistik, die uns nur über das Areal einesBetriebs Auskunft gibt, läßt uns ganz im dunkeln darüber, ob eine even-tuelle Verkleinerung seines Gebietsumfangs auf einer tatsächlichen Ver-kleinerung oder einer Intensifizierung der Wirtschaft beruht." (146.) DieWald- und die Weidewirtschaft, diese ersten Formen der kapitalistischenGroßwirtschaft, lassen die größte Ausdehnung der Güter zu. Der Acker-bau erfordert bereits eine geringere Betriebsfläche. Die verschiedenenSysteme des Ackerbaus sind in dieser Hinsicht wiederum verschieden: dieRau b Wirtschaft, die extensive W irtschaft (die in Am erika bis jetzt übe r-wog) läßt riesige Farmen zu (von etwa 10000 Hektar wie die bonanzafarms * Dalrymples, Glenns u. a. Auch in unseren Steppen erreichen diebäuerlichen Anbauflächen, und um so mehr die der Kaufleute, solche

Ausdehnung). Der Übergang zur Düngung usw. muß unbedingt eineVerringerung der Betriebsfläche der Wirtschaften nach sich ziehen, diezum Beispiel in Europa kleiner sind als in Amerika. Der Übergang vonder Feldwirtschaft zur Viehwirtschaft erfordert wiederum eine Verringe-

* Kapitalistische Großwirtschaften in Nordamerika (vorwiegend für Wei-zenerzeugung), die extensive Wirtschaftsweise mit der Anwendung modern-ster Maschinen vereinigen. Die Red.

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124 " TV.I.Lenin

rang der Betriebsfläche: in England betrug im Jahre 1880 die Durch-

schnittsgröße der Viehwirtschaften 52,3 Acres, die der Getreidewirtschaf-ten 74,2 Acres. Deshalb muß der sich in England vollziehende Übergangvom Ackerbau zur Viehzucht die Tendenz hervorruf en, die Betriebsflächezu verkleinern. „Es hieße aber sehr oberflächlich urteilen, wollte mandaraus auf einen Rückgang des Großbetriebs schließen." (149.) In Ost-elbien (durch dessen Erforschung Herr Bulgakow Kautsky zu gegebenerZeit zu widerlegen hofft) findet eben ein Übergang zu intensiver Wirt-schaft statt: Die großen Güter, sagt der von Kautsky zitierte Sering, er-höhen die Produktivität ihres Bodens durch Verkauf oder Verpachtung

entlegener Teile der Güter an Bauern, weil diese entlegenen Teile beiintensiver Wirtschaftsführung schwer nutzbringend zu bestellen sind.„Daher werden die großen Güter in Ostelbien verkleinert, neben ihnenkleine Bauernwirtschaften geschaffen, nicht weil der Kleinbetrieb demgroßen überlegen ist, sondern weil die bisherigen Gutsflächen den Be-dürfnissen extensiver Wirtschaft angepaßt waren." (150.) Die Verkleine-rung der Betriebsfläche führt in allen diesen Fällen gewöhnlich zu einerVergrößerung (pro Einheit Bodenfläche) der Menge des Produkts undoft zu einer Erhöhung der Zahl der beschäftigten Arbeiter, d. h. zu einertatsächlichen Vergrößerung des Betriebsumfangs.

Hieraus geht klar hervor, wie wenig beweiskräftig die summarischenAngaben der landwirtschaftlichen Statistik über die Betriebs/lachen sindund mit welcher Vorsicht man sie benutzen muß. In der Industriestatistikhaben wir es mit unmittelbaren Kennziffern des Betriebsumfangs (Waren-menge, Wert der Produktion, Arbeiterzahl) zu tun und können oben-drein die einzelnen Produktionszweige leicht voneinander trennen. Diesen,für die Beweiskraft der Angaben unerläßlichen Bedingungen genügt dielandwirtschaftliche Statistik sehr selten.

Weiterhin setzt das Monopol des Grundeigentums der kapitalistischenLandwirtschaft Schranken: in der Industrie wächst das Kapital durch dieAkkumulation, durch die Verwandlung des Mehrwerts in Kapital; dieZentralisation, d. h. die Vereinigung mehrerer kleiner Kapitale zu einemgroßen, spielt eine geringere Rolle. Anders in der Landwirtschaft. DerBoden ist vollständig in Besitz genommen (in den zivilisierten Ländern),und die Betriebsfläche erweitern kann man nur durch die Zentralisationmehrerer Grundstücke, und zwar so, daß sie eine zusammenhängende

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Der Kapitalismus in der Candwirtsdbaft 125

Tlädoe bilden. Es ist klar, da ß die Vergrößerung eines Guts durch Ankaufanliegender Grundstücke eine sehr schwierige Sache ist, besonders des-halb, weil die kleinen Grundstücke teils von Landarbeitern besetzt sind(die der Großbetrieb braucht), teils von Kleinbauern, die die Kunst be-herrschen, sich durch eine maßlose und unglaubliche Herabsetzung ihrerAnsprüche zu halten. Die Feststellung dieser einfachen und sonnenklarenTatsache, die die Schranken der kapitalistischen Landwirtschaft zeigt,schien Herrn Bulgakow aus irgendeinem Grunde eine „Phrase" (??!!) zusein und ließ ihn in das ganz und gar unbegründete Freudengeschrei aus-brechen: ,,Also(!) zerschellt(!) die Überlegenheit des Großbetriebs amersten Hindernis." Zuerst hat Herr Bulgakow das Gesetz der Überlegen-heit des Großbetriebs falsch verstanden und ihm eine übermäßige Ab-straktheit zugeschrieben, von der Kautsky weit entfernt ist, und nun ver-wandelt er sein Unverständnis in ein Argument gegen Kautsky! Höchstsonderbar ist die Meinung des Herrn Bulgakow, er könne Kautsky mitder Berufung auf Irland (Großgrundbesitz, aber ohne Großbetrieb)widerlegen. Aus der Tatsache, daß der Großgrundbesitz eine der Bedin-gungen des Großbetriebs ist, folgt keineswegs, daß er eine ausreichendeBedingung ist. In einem Werk über den Kapitalismus in der Landwirt^schaft im allgemeinen konnte Kautsky selbstverständlich nicht die histo-

rischen un d andere Ursachen der B esonderheiten Irlands oder eines ande-ren Landes untersuchen. Es würde wohl niemand einfallen, von Marx zufordern, bei einer Analyse der allgemeinen Gesetze des Kapitalismus inder Industrie zu erläutern, warum sich in Frankreich die kleine Industrielänger hält, warum sich in Italien die Industrie schwach entwickelt usw.Ebenso haltlos ist der Hinweis des Herrn Bulgakow, daß die Konzentra-tion allmählich erfolgen „könne": ein Gut durch Kauf der Grundstückeder Nachbarn zu erweitern, ist bei weitem nicht so einfach, wie an eineFabrik neue Räumlichkeiten für eine zusätzliche Zahl von Werkbänken

usw. anzubauen.

Während sich Herr Bulgakow auf diese rein fiktive Möglichkeit derBildung von Großbetrieben durch allmähliche Konzentration oder Pachtberuft, hat er die wirkliche Besonderheit der Landwirtschaft im Konzen-trationsprozeß wenig beachtet — eine Besonderheit, auf die Kautsky hin-weist. Es sind das die Latifundien, die Anhäufung mehrerer Güter ineiner Hand. Die Statistik zählt gewöhnlich nur die einzelnen Güter und

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126 'W.l.Lenm

macht keinerlei Angaben über den Prozeß der Konzentration verschie-

dener Güter in den Händen der Großgrundbesitzer. Kautsky teilt in be-zug auf Deutschland und Österreich äußerst plastische Beispiele einersolchen Konzentration mit, die zu einer besonderen, der höchsten Formdes kapitalistischen Großbetriebs in der • Landwirtschaft führt, bei dermehrere große G üter zu einem wirtschaftlichen Ganzen vereinigt werden,das von einem Zentralorgan verwaltet wird. Ein so gigantisches landwirt-schaftliches Unternehmen ermöglicht es, verschiedenartigste Zweige derLandwirtschaft zu vereinigen und die Vorteile des G roßbetriebs in höch-stem Maße auszunutzen.

Der Leser sieht, wie weit Kautsky von einer abstrakten und schablo-nenhaften Auffassung der „Marxschen Theorie", der er treu bleibt, ent-fernt ist. Kautsky warnte vor dieser schablonenhaften Auffassung undfügte sogar in das hier behandelte Kapitel einen besonderen Abschnittüber den Untergang des Kleinbetriebs in der Industrie ein. Er weist sehrrichtig darauf h in, daß der Sieg des Großbetriebs auch in der Industriedurchaus nicht so einfach ist und sich nicht in so gleichförmiger Weisevollzieht, wie das Leute zu glauben gewohnt sind, die behaupten, dieMärxsche Theorie sei auf die Landwirtschaft nicht anwendbar. Es sei nurauf die kapitalistische H ausarbeit hingewiesen und an die schon von M arxgemachte Bemerkung über die außerordentliche Buntheit der Ubergangs-und Mischformen erinnert, die den Sieg des Fabriksystems verhüllen.Um wievielmal komplizierter ist die Sache in der Landwirtschaft! DieEntwicklung des Reichtums und des Luxus führt beispielsweise d azn , d aßMillionäre riesige Bodenflächen aufkaufen, die sie zu ihrem Vergnügenin Waldland verwandeln. In Österreich, im Salzburgischen, nimmt derRinderbestand seit 1869 ab. Die Ursache ist der Verkauf von Alpen anreiche Jagdliebhaber. Sehr treffend bemerkt Kau tsky, es ließe sich, wennman die Daten der landwirtschaftlichen Statistik summarisch und kritik-los benutzt, mühelos nachweisen, daß die kapitalistische Produktions-weise die Tendenz ha t, die modernen Völker in Jägervölker zurückzuver-wandeln!

Schließlich nennt Kautsky unter den Bedingungen, die der kapitalisti-schen Landwirtschaft, Schranken setzen, auch den Umstand, daß unterdem Druck des Mangels an Arbeitskräften, einer Folge der Abw anderungder Bevölkerung vom Lands, die Großgrundbesitzer danach trachten,

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Der Kapitalismus in der Landw irtschaft 117

den Arbeitern Landstücke zuzuteilen und ein Kleinbauemtum zu schaf-

fen, das den Gutsbesitzern Arbeitskräfte liefert. Ein völlig besitzloser

Landarbeiter ist eine Seltenheit, da in der Landwirtschaft der landwirt-schaftliche Betrieb in strengem Sinne mit dem Haushalt verbunden ist.Ganze Kategorien von landwirtschaftlichen Lohnarbeitern besitzen odernutzen Land. W ird der Kleinbetr ieb allzu s tark verdrängt, so trachten die

Großgrundbesitzer danach, ihn durch Landverkauf oder Landverpachtungzu festigen oder wiederherzustellen. „In allen europäischen Ländern",sagt der von Kautsky zit ier te Sering, „ . . . macht s ich ne ue rdi ng s. . . eineBewegung geltend, welche. . . die Landarbeiter durch Verleihung vonBodenbesitz seßhaft machen will." Es ist mithin im Rahmen der kapita-

listischen Produktionsweise nicht damit zu rechnen, daß der Kleinbetriebin der Landwirtschaft völlig verdrä ngt w ird, da die Kapitalisten un d A gra-rier selbst darauf bedacht sind, ihn wiederherzustellen, wenn der Ruinder Bauernschaft zu weit gegangen ist. Marx wies schon 1850 in der„Neuen Rheinischen Zeitung" auf diesen Kreislauf von Konzentrationund Zersplitterung des Bodens in der kapitalistischen Gesellschaft hin. **

Herr Bulgakow findet, daß diese Erwägungen Kautskys „ein KörnchenWahrheit , aber noch mehr Irr tümer enthalten". Gleich allen übrigen Ur-teilssprüchen des Herrn Bulgakow ist auch dieser äußerst schwach und

äußerst nebelhaft motiviert. Herr Bulgakow findet, daß Kautsky „eineTheorie des proletarischen Kleinbetriebs konstruiert hat" und daß dieseTheorie nur für ein sehr beschränktes Gebiet zutrifft. Wir sind andererMeinung. Die landwirtschaftliche Lohnarbeit der kleinen Landwirte (oder,was dasselbe ist, der Typus des Landarbeiters und Tagelöhners mit Par-zelle) ist eine Erscheinung, die in dem einen oder dem andern Maße allen

kapitalistischen Zandern eigen ist. Keinem Schriftsteller, der den Kapita-lismus in der Landwirtschaft darstellen möchte, wird es möglich sein, dieseErscheinung unberücksichtigt zu lassen, ohne sich gegen die Wahrheit zu

vergehen.* Daß unter anderem auch in Deutschland der proletarischeKleinbetrieb eine allgemeine Tatsache ist, diesen Umstand hat Kautskyin Kapitel VIII seines Buches: „Die Proletarisierung des Bauern" ausführ-

* Vgl. „D ie Entwicklung des Kapitalismus in Rußla nd" , Kapitel II, Ab -schnitt XII, S. 120 (siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 3, S. 146, russ. Die Red.).Man rechnet, daß in Frankreich ungefähr 75 Prozent der Landarbeiter eigenenBoden besitzen. Ebenda auch andere Beispiele.

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lieh nachgewiesen. Der Hinweis des Herrn Bulgakow, daß auch andereSchriftsteller, unter ihnen Herr Kablukow, von dem „Mangel an Arbeits-kräften" gesprochen haben, läßt das Wichtigste unberüöksidbtigt: den ge-waltigen prinzipiellen Unterschied zwischen der Theorie des Herrn Kab-lukow und der Theorie Kautskys. Herr Kablukow „konstruiert" aufGrund des ihm eigenen kleinbürgerlichen* Standpunkts aus dem Man-gel an Arbeitskräften den Bankrott des Großbetriebs und die Lebens-fähigkeit des Kleinbetriebs. Kautsky charakterisiert die Tatsachen genauund zeigt ihre wirkliche Bedeutung in der modernen Klassengesellschaft:die Grundbesitzer werden durch ihre Klasseninteressen veranlaßt, danachzu trachten, den Arbeitern Landparzellen zuzuteilen. Ihrer Klassenlage

nach stehen die landwirtschaftlichen Lohnarbeiter mit Parzelle zwischendem Kleinbürgertum und dem Proletariat, jedoch näher zu letzterem. Mitandern W orte n: H err Kablukow m acht aus einer Seite des kom pliziertenProzesses eine Theorie vom Bankrott des Großbetriebs, Kautsky dagegenanalysiert die besonderen Formen der gesellschaftlich-ökonomischen Be-ziehungen, die durch die Interessen des Großbetriebs in einem gewissenStadium seiner Entwicklung und in einer bestimmten historischen Situa-tion geschaffen werden.

Gehen wir zu dem folgenden Kapitel in Kautskys Buch über, dessenTitel wir soeben angeführt haben. Kautsky untersucht hier erstens die„Tendenz zur Bodenzerstücklung", zweitens die „Formen des bäuerlichenNebenerwerbs". Hier werden somit jene in höchstem Grade wichtigenTendenzen des Kapitalismus in der Landwirtschaft geschildert, die derübergroßen Mehrheit der kapitalistischen Länder eigen sind. Die Boden*Zerstücklung, sagt Kautsky, führt zu einer verstärkten Nachfrage nach

kleinen Parzellen von Seiten der Kleinbauern, die für den Boden mehrbezahlen als die großen Landwirte. Diese letztere Tatsadie wurde voneinigen Schriftstellern als Bestätigung dafür angeführt, daß der landwirt-schaftliche Kleinbetrieb dem Großbetrieb überlegen sei. Kautsky ant-wortet hierauf sehr treffend durch einen Vergleich der Bodenpreise mit!den Wohnungspreisen: es ist bekannt, daß kleine und billige Wohnun-

* „Kleinbürger" bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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Der Kapitalismus in der Candunrtsdtaft 129

gen, auf die Raumeinheit berechnet (1 Kubikmeter usw .), teurer zu stehenkommen als große und teure Wohnungen. D er höhere Preis für kleineParzellen erklärt sich nicht aus einer Überlegenheit des landwirtschaft-lichen Kleinbetriebs, sondern aus der besonderen Notlage des Bauern.Wie groß die Menge von Zwergwirtschaften ist, die der Kapitalismushervorgebracht hat, ist aus folgenden Zahlen zu ersehen: In Deutschland(1895) haben von 5 lA Millionen landwirtschaftlichen Betrieben 4}4 Mil-lionen, d. h. mehr als drei Viertel, eine Bodenfläche von weniger als 5 Hek-ta r (5 8 Prozent weniger als 2 Hektar). In Belgien haben 78 Prozent(709500 von 909000) weniger als 2 Hektar. In England (1895) haben118000 von 520000 weniger als 2 Hektar. In Frankreich (1892) haben2,2 Millionen (von 5,7 Millionen) weniger als 1 Hektar, 4 Millionen weni-ger als 5 Hektar. Herr Bulgakow glaubt die Behauptung Kautskys, daßdiese Zwergwirtschaften höchst unrationell sind (Mangel an Vieh, Gerät,Geld und Arbeitskräften, die durch Nebenerwerb abgezogen werden),mit dem Hinweis zu widerlegen, daß der Boden „sehr oft"(??) mitdem Spaten „mit unglaublich starker Intensität", wenn auch... mit „einemäußerst unrationellen Aufwand an Arbeitskräften" bearbeitet wird. Esversteht sich von selbst, daß dieser Einwand absolut unhaltbar ist, daßEinzelbeispiele einer vorzüglichen Bearbeitung des Bodens durch den Klein-

bauern ebensowenig geeignet sind, die von Kautsky gegebene allgemeineCharakteristik der Wirtschaften dieses Typ us zu widerlegen, wie das obenangeführte Beispiel größerer Rentabilität eines Kleinbetriebs die Thesevon der Überlegenheit des Großbetriebs zu widerlegen vermag. D aßKautsky völlig recht hat, wenn er diese Betriebe im großen und ganzen *zu den proletarischen zählt, ergibt sich klar aus der durch die deutscheBetriebszählung von 1895 aufgedeckten Tatsache, daß die Masse derKleinwirtschaften nicht ohne Nebenerwerb auskommt. Von der Ge-

* Wir unterstreichen „im großen und ganzen", weil sich natürlich nicht be-streiten läßt, daß in Einzelfällen auch diese Betriebe mit winziger Bodenflächeviel Produkt und Ertrag abwerfen können (Weinberge, Gemüsegärten usw.).Aber was würde man von einem Ökonomen sagen, der den Hinweis auf denständigen Rückgang des Pferdebestands der russischen Bauern mit einem Hin-weis auf das Beispiel, sagen wir, der Gemüsegärtner der Umgebung Moskauswiderlegen wollte, die manchmal auch ohne Pferd eine rationelle und rentableLandwirtschaft treiben können?

9 Lenin, W erke, Bd. 4

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130 W.7. Lenin

samtzahl der 4,7 Millionen Personen, die selbständig von der Landwirt-

schaft leben, gehen 2,7 Millionen oder 56 Prozent noch einem Nebener-werb nach. Von 3,2 Millionen Betrieben mit weniger als 2 Hektar Land

haben nur 0,4 Millionen oder 4 3 Prozent keinen Nebenerwerb! In ganz

Deutschland gehören von 5H Millionen landwirtschaftlichen Betrieben

lH Millionen landwirtschaftlichen und industriellen Lohnarbeitern

(+704000 Handwerkern). Und hiernach nimmt Herr Bulgakow es auf

sich, zu behaupten, die Theorie des proletarischen Kleingrundbesitzes

sei von Kautsky „konstruiert".* Die Formen der Proletarisierung der

* In der Anmerkung auf S. 15 sagt Herr Bulgakow, Kautsky wiederhole

den Fehler der Verfasser des Buches über die Getreidepreise42 , wenn er dieAnsicht vertrete, daß die gewaltige Mehrheit der Landbevölkerung an denGetreidezöllen nicht interessiert sei. Auch mit dieser Meinung können wir nichteinverstanden sein. Die Verfasser des Buches über die Getreidepreise habeneine Menge Fehler gemacht (auf die ich in dem obengenannten Buch wieder-holt hingewiesen hab e), aber in der Anerkennung der Tatsache, daß die Masseder Bevölkerung an hohen Getreidepreisen nicht interessiert ist, liegt keinFehler. Ein Fehler ist es nur, von diesem Interesse der Masse unmittelbar aufdas Interesse der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung zu schließen. DieHerren Tugan-Baranowski und Struve wiesen mit Recht darauf hin, daß das

"Kriterium für die Wertung der Getreidepreise darin bestehen muß, ob siemehr oder weniger schnell die Abarbeit durch den Kapitalismus verdrängen,ob sie die gesellschaftliche Entwicklung vorwärtstreiben. Das ist eine Frage,die an Hand der Tatsachen zu entscheiden ist, und ich entscheide diese Frageanders als Struve. Ich glaube, daß eine Verlangsamung der Entwicklung desKapitalismus in der Landwirtschaft infolge niedriger Preise durchaus nichtbewiesen ist. Im Gegenteil, das besonders schnelle Wachstum des landwirt-schaftlichen Maschinenbaus und der Anstoß, den das Sinken der Getreidepreise,der Spezialisierung der Landwirtschaft gegeben hat, zeigen, daß die niedrigen.Preise die Entwicklung des Kapitalismus in der russischen Landw irtschaft vor-

wärtstreiben (vgl. „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland", S. 147,Anmerkung 2 in Kapitel III, Abschnitt V) (siehe W erke , 4. Ausgabe, Bd. 3,S. 177, russ. Die Red.). Das Sinken der Getreidepreise übt auf alle übrigenVerhältnisse in der Landwirtschaft eine starke umbildende Wirkung aus.,

Herr Bulgakow sagt: „Eine der wichtigsten Bedingungen für die Intensivie-rung der Bodenkultur ist die Erhöhung der Getreidepreise" (in gleicher Weiseäußert sich Herr P. S. in der „Inneren Ru ndschau ", S . 299 desselben Heftsdes „Natschalo"). Das ist ungenau. Marx zeigt im „Kapital", Band III, Ab-;

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Der Kapitalismus in der Landwirtschaft 131

Bauerrischaft (die Formen des bäuerlichen Nebenerwerbs) sind von Kaut-

sky höchst gründlich untersucht w orde n (S. 174—193). Leider kön nenwir aus Raummangel nicht ausführlich auf die Charakteristik dieser For-men eingehen (landwirtschaftliche Lohnarbeit; Hausindustrie*, „das in-famste System der kapitalistischen Ausbeutung"; Arbeit in Fabriken undBergwerken usw.) . Wir bemerken nur , daß Kautsky dieWandergewerbein genau derselben Weise wertet, wie es die russischen Wissenschaftlertun. Die Wandergänger, die rückständiger und bedürfnisloser sind als diestädtischen Arbeiter, üben oft einen schädlichen Einfluß auf die Lebens-bedingungen dieser le tzteren a us. Ab er „dort , woher sie kamen und wo-hin sie wieder zurückkehren", werden sie „höchst wirksame Pioniere desFortschr i t ts . . ." „Sie nehmen neue Bedürfnisse, neue Ideen an" (S. 192) ,sie wecken unter der in ländlicher Abgeschiedenheit lebenden Bauern-schaft das Bewußtsein und das Gefühl menschlicher Würde und denGlauben an die eigenen Kräfte.

Zum Schluß wollen wir uns mit dem letzten, besonders scharfen An-griff des Herrn Bulgakow auf Kautsky befassen. Kautsky sagt, daß sichin Deutschland von 1882 bis 1895 die (der Fläche nach) kleinsten Betriebeund die größten Betriebe zahlenmäßig am stärksten vermehrt haben (so

daß die Parzellierung des Bodens auf Kosten der mittleren Betriebe er-folgt) . Un d tatsächlich hab en sich die Betriebe unter 1 H ek tar zahlen-mäßig um 8,8 Prozent, die Betriebe von 5 bis 20 Hektar um 7,8 Prozentund die Betriebe mit über 1000 H ek tar um 11 Pro zen t verm ehrt (diedazwischen liegenden Betriebsgrößen weisen fast keine Veränderung auf,während die Gesamtzahl der landwirtschaftlichen Betriebe um 5,3 Pro-zent zugenommen hat). Herr Bulgakow ist zutiefst darüber entrüstet,daß das prozentuale Verhältnis der größten Betriebe genommen wird,deren Zahl ganz gering ist (515 und 572 in den genannten Jahren). DieEntrüstung des Herrn Bulgakow ist völlig unbegründet. Er vergißt, daß

schnitt VI 4 3 , daß die Produktivität der auf den Boden angelegten zusätzlichenKapitale sinken, aber audo steigen kann, bei einem Sinken der Getreidepreisekann die Rente fallen, aber audo steigen. Folglich kan n die Intensivierung — inverschiedenen historischen Perioden und in verschiedenen Län dern — durchvöllig verschiedene Bedingungen, unabhängig vom Stand der Getreidepreise,hervorgerufen werden.

: *. „H ausind ustrie" bei Lenin deutsch. D er Tibers.

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diese an Zahl geringen Betriebe die größten Betriebe sind, daß sie fast

ebensoviel Bodenflädhe einnehmen wie die 2,3—2,5 Millionen Zwerg-wirtschaften (unter 1 Hektar). Wenn ich sage, daß im Lande die Zahlder größten Fabriken mit 1000 und mehr Arbeitern, sagen wir, von 51auf 57, d. h. um 11 Prozent, gestiegen ist, während die Gesamtzahl derFabriken um 5,3 Prozent gestiegen ist — würde das etwa nicht das Wachs-tum des Großbetriebs zeigen, obgleich die Zahl der größten Fabriken imVergleich mit der Gesamtzahl der Fabriken ganz gering sein kann? DieTatsache, daß die bäuerlichen Betriebe von 5 bis 20 Hektar nach demAnteil der von ihnen eingenommenen Bodenfläche am stärksten zuge-

nommen haben (Herr Bulgakow, S. 18), kennt Kautsky sehr wohl, under behandelt sie im folgenden Kapitel.

Kautsky untersucht weiter die Veränderungen im Umfang der Nutz-flächen und in den verschiedenen Kategorien für die Jahre 1882 und1895. Es erweist sich, daß die größte Vermehrung ( + 563477 H ektar) aufdie bäuerlichen Betriebe mit 5 bis 20 Hektar, dann auf die größten mitüber 1000 Hek tar (+94 01 4) entfällt, während sich die Fläche der Be-triebe mit 20 bis 1000 Hektar um 86809 Hektar verringert hat. Die Be-triebe unter 1 Hektar haben ihre Fläche um 32683 Hektar und die Be-

triebe mit 1 bis 5 Hektar um 45 604 Hektar vergrößert.Und Kautsky folgert: Die Abnahme der von den Betrieben mit 20 bis

1000 Hektar eingenommenen Fläche (die durch die Zunahme der Flächeder Betriebe mit mehr als 1000 Hektar mehr als wettgemacht wird) ent-springt nicht einem Rückgang des Großbetriebs, sondern seiner Intensi-vierung. Wir haben bereits gesehen, daß diese Intensivierung in Deutsch-land fortschreitet und oft eine Verringerung der Betriebsfläche erfordert.Daß eine Intensivierung des Großbetriebs vor sich geht, ist aus der stei-genden Anwendung von Dampfmaschinen, wie auch aus dem gewaltigen

Anwachsen der Zahl der landwirtschaftlichen Angestellten, die in Deutsch-land nur der Großbetrieb beschäftigt, zu ersehen. Die Zah l der Gutsver-walter (Inspek toren), Aufseher, Buchhalter usw. stieg in den Jahren 1882bis 1895 von 47465 auf 7697 8, d .h . um 62 Prozent; der Prozentsatzder Frauen unter diesen Angestellten stieg von 12 auf 23,4.

„Alles dies zeigt deutlich, um wieviel intensiver und kapitalistischerder landwirtschaftliche Großbetrieb seit dem Anfang der achtziger Jahregeworden ist. Die Erklärung dafür, warum daneben gerade die mittel-

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Der Kapitalismus in der £andwirtsdhaft 133

bäuerlichen Betriebe so sehr an Boden gewonnen haben, werden wir im

folgenden Kapitel rinden." (S. 174.)Herr Bulgakow sieht in dieser Darstellung einen „schreienden Wider-spruch zur Wirklichkeit", aber seine Argumente rechtfertigen auch dies-mal nicht im geringsten ein so entschiedenes und kühnes Verdikt underschüttern nicht um ein Jota die Schlußfolgerung Kautskys. „Vor allemerklärt die Intensivierung des Betriebs, wenn sie stattfände, noch nichtdie relative wie die absolute Ve rringerung des Ackerbodens, die A bna hm edes prozentualen Anteils der Betriebsgruppe mit 20 bis 1000 Hektar.Das Ausmaß des Ackerbodens könnte sich gleichzeitig mit der Vermeh-rung der Zahl der Betriebe vergrößern; letztere müßte sich nur (sie!)etwas schneller vergrößern, so daß das Flächenausmaß eines jeden ge-gebenen Betriebs kleiner würde." *

Wir haben diese Betrachtung, aus der Herr Bulgakow den Schluß zieht,daß „die Verr ingerung des Umfangs der Unternehmen unter dem Ein-fluß der steigenden Intensität eine reine Phantasie ist" (sie!), absichtlichungekürzt wiedergegeben, weil sie uns anschaulich eben den Fehler zeigt,vor dem Kautsky so dringend gewarnt hat, nämlich Mißbrauch mit „stati-stischen Angaben" zu treiben. Herr Bulgakow stellt an die Statistik derBetriebs/Iäcfoen lächerlich strenge Anforderungen und mißt dieser Stati-stik eine Bedeutung bei, die sie niemals haben kann. Warum, in der Tat,sollte sich die Ackerfläche „etwas" vergrößern? Warum „sollte" dieIntensivierung des Betriebs (die manchmal, wie wir gesehen haben, zumVerkauf und zur Verpachtung abgelegener Gutsländereien an die Bauernführt) nicht eine bestimmte Zahl von Betrieben aus einer höheren Kate-gorie in eine niedrigere versetzen? Warum „sollte" sie nicht die Acker-fläche der Betriebe mit 20 bis 1000 H ek tar v erringern? ** In der Industrie-statistik würde eine Abnahme des Produktionswerts bei den größten Fa-

* Herr Bulgakow bringt Daten, die noch mehr ins einzelne gehen, aber siefügen zu den Daten Kautskys nicht das geringste hinzu, da sie dieselbe Zu-nahme der Zahl der Betriebe und Abnahme der Bodenfläche in der einenGruppe der Großgrundbesitzer zeigen.

** Eine Verringerung von 16986101 Hektar in dieser Betriebsgröße auf16802115 Hektar, d. h. um ganze... 1,2 Prozent! Nicht wahr, das spricht sehrüberzeugend von der von Herrn Bulgakow entdeckten „Agonie" des Groß-betriebs?

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briken von einem Niedergang des Großbetriebs zeugen. Dagegen gibt

die Verringerung der Tlädoe der großen Güter um 1,2 Prozent nicht dengeringsten Aufschluß über den Umfang des Betriebs, der nicht selten mitder Verringerung der Betriebsfläche wächst, und kann ihn audb nichtgeben. Wir wissen, daß in Europa im allgemeinen eine Verdrängung derGetreidewirtschaften durch Viehzuchtwirtschaften vor sich geht, die inEngland besonders stark ist. Wir wissen, daß dieser Übergang manch-mal eine Verringerung der Betriebsfläche erfordert, aber wäre es nichtsonderbar, aus einer Verringerung der Betriebsfläche auf den Niedergangdes Großbetriebs zu schließen? Deshalb beweist übrigens die „beredte

Tab elle" noch gar n ichts, die H err Bulgakow auf S. 20 bringt unddie eine Abnahme der Zahl der Groß- und Kleinbetriebe sowie einezahlenmäßige Zunahme der mittleren Betriebe (5—20 H ek tar) , welcheVieh für Feldarbeit besitzen, zeigt. Das könnte auch auf Veränderungenin den Betriebssystemen zurückzuführen sein.

Daß der landwirtschaftliche Großbetrieb in Deutschland intensiver undkapitalistischer geworden ist, ist ersichtlich erstens aus der steigenden An-zahl der landwirtschaftlichen Dampfmaschinen: von 1879 bis 1897 istdiese auf das Fünffache gestiegen. Herr Bulgakow beruft sich bei seinem

Einwand ganz zu Unrecht darauf, daß die absolute Zahl aller Maschinenüberhaupt (und n idit der Dampfmaschinen allein) bei den K leinbetrieben(bis 20 Hektar) weit größer ist als bei den Großbetrieben, wie auch dar-auf, daß in Amerika Maschinen bei extensiver Betriebsführung ange-wendet werden. Es handelt sich jetzt nicht um Amerika, sondern umDeutschland, wo es keine bonanza farms gibt. Hier die prozentualen An -gaben über die Betriebe mit Dampfpflügen und mit Dampfdreschmaschi-nen in Deutschland (1895):

Betriebe

unter 2 Hektar2— 5 Hektar5 - 20 Hektar

20-100 Hektar100 Hektar und darüber

Prozentsatz

DampfpflSgen

0,000,000,010,10

5,29

der Betriebe mitDampfdrescfc-

masdunen

1,085,20

10,9516,6061,22 .

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Der Kapitalismus in der Landwirtsdhaft 135

Wenn sich nun die Gesamtzahl der Dampfmaschinen in der Landwirt-

schaft De utschland s verfünffacht ha t, bew eist das etwa nicht die wach-sende Intensität des Großbetriebs? Man darf nur nicht vergessen, wie esHerr Bulgakow wiederum auf S. 21 tut, daß steigende Betriebsgröße in derLandwirtschaft nicht immer mit wachsender Betriebsfläche identisch ist.

Zweitens ist die Tatsache, daß der Großbetrieb kapitalistischer gewor-den ist, aus der Zunahme der Zahl der landwirtschaftlichen Angestelltenzu ersehen. M it U nrecht nen nt H er r B ulgakow dieses Argum ent Kautskysein „Kuriosum": „Zunahme der Zahl der Offiziere bei Verringerungder Ar m ee" — bei abnehm ender Za hl der landwirtschaftlichen Lohn -

arbeiter. Wiederum sagen wir: r ira bien qui rira le dernier!* Kautskyvergißt die Verringerung der Zahl der landwirtschaftlichen Arbeiter nicht,er zeigt sie vielmehr ausführlich für eine ganze Reihe von Län dern auf;nur hat diese Tatsache hiermit nicht das geringste zu tun, da ja auch diegesamte Landbevölkerung abnimmt, während die Zahl der proletarischenkleinen Landwirte zunimmt. Angenommen, ein Großgrundbesitzer gingevom Getreidebau zum Anbau von Zuckerrüben und zu ihrer Verarbei-tun g zu Zucker üb er (in Deutschland wurde n 1871/72 2,2 MillionenTo nne n Z uckerrü ben verarbeitet, 1881/82 6,3 M illionen, 1891/929,5 M illionen, 1896/97 13,7 Millionen To nn en ). Abgelegene T eile desGuts könnte er sogar an kleine Bauern verkaufen oder verpachten, be-sonders wenn er die Frauen und Kinder der Bauern als Tagelöhner aufden Rübenfeldern benötigt. Angenommen, er führt den Dampfpflug ein,der die früheren Pflüger verdrängt (in den sächsischen Rübenwirtschaften— „Musterwirtschaften intensiver Kultur"** — werd en Dampf pflüge jetztallgemein angewendet). Die Zahl der Lohnarbeiter wird abnehmen. DieZahl der höheren Angestellten (Buchhalter, Verwalter, Techniker u.a.)wird unbedingt zunehmen. Will Herr Bulgakow etwa bestreiten, daß wirhier ein Anwachsen der Intensität und des Kapitalismus im Großbetrieb

* Wirklich kurios ist die Bemerkung des Herrn Bulgakow, daß die Zu-nahme der Zahl der Angestellten vielleicht vom Wachstum der landwirtschaft-lichen Indu strie, keineswegs aber(l) von der zunehmenden Intensität des Groß-betriebs zeugt. Wir haben bis jetzt geglaubt, daß eine der wichtigsten Formendes Steigens der Intensität das W achstum d er landwirtschaftlichen Industrienist (das von Kautsky in "Kapitel X ausführlich gesdhildert und gewertet wird).

** Kärger, zitiert bei Kautsky auf S. 45.

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vor uns haben? Will er behaupten, daß nichts dergleichen in Deutsch-

land vor sich gehe?Um die Darlegung von Kapitel VIII des Kautskyschen Buches über dieProletarisierung der Bauern abzuschließen, müssen wir folgende Stelleanführen: „Was uns hier interessiert", sagt Kautsky nach der oben vonuns zitierten und bei Her rn Bulgakow angeführten Stelle, „ist die Ta t-sache, daß die Proletarisierung des Landvolks in Deutschland ebenso wieanderswo fortschreitet, trotzdem hier die Tendenz auf Parzellierung dermittleren Güter zu wirken aufgehört hat. Von 1882 bis 1895 hat sich dieZahl aller landwirtschaftlichen Betriebe um 281000 vermehrt. Davon

aber entfällt der weitaus größte Teil auf die Zunahme der proletarischenBetriebe unter 1 Hektar. Diese nahmen um 206000 zu.Die Bewegung der Landwirtschaft ist, wie man sieht, eine ganz eigen-

artige, von der des industriellen und kommerziellen Kapitals ganz ver-schiedene. Wir haben im vorigen Kapitel darauf hingewiesen, daß in derLandwirtschaft die Tendenz zur Zentralisation der Betriebe nicht zur völ-ligen Aufhebung des Kleinbetriebs führt, sondern daß sie, wo zu weit zurGeltung gebracht, die entgegengesetzte Tendenz erzeugt, daß die Ten-denz zur Zentralisation und die zur Zersplitterung einander ablösen.

Jetzt sehen wir, daß beide Tendenzen auch nebeneinander wirken kön-nen. Es wächst die Zahl der Kleinbetriebe, deren Besitzer auf dem Waren-markt als Proletarier, als Verkäufer der W are Arbeitskraft er sd iei ne n.. .Diese kleinen Landwirte haben auf dem Warenmarkt als Verkäufer derWare Arbeitskraft alle entscheidenden Interessen mit dem industriellenProletariat gemein, ohne durch ihren Besitz in einen Gegensatz zu ihmzu geraten. Sein Grundbesitz emanzipiert zwar den Parzellenbauern mehroder weniger vom Lebensmittelhändler, nicht aber von der Ausbeutungdurch den kapitalistischen Unternehmer, mag dieser nun ein industrieller

oder ein landwirtschaftlicher sein." (S. 174.)

Im nächsten Artikel werden wir den übrigen Teil des KautskyschenBuches darlegen und eine allgemeine Wer tung dieses Buches geben, wobeiwir zugleich die Einwände untersuchen wollen, die Herr Bulgakow in sei-nem weiteren Artikel macht.

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Z W E I T E R A R T I K E L

In Kap itel IX seines Buches ( „D ie wach senden Schwierigkeiten de rwarenproduzierenden Landwirtschaft") geht Kautsky zur Analyse derder kapitalistischen Landwirtschaft eigenen Widersprüche über. Die Ein-wände, die Herr Bulgakow gegen dies Kapitel vorbringt und die wir untenbetrachten werden, lassen erkennen, daß der Kritiker die allgemeine Be-deutung dieser „Schwierigkeiten" nicht ganz richtig begriffen hat. Es gibt„Schwierigkeiten", die für die volle Entwicklung einer rationellen Land-wirtschaft „Hindemisse" darstellen und dennoch einen Anstoß geben zurEntwicklung der kapitalistischen Landwirtschaft. Beispielsweise nenntKautsky unter anderen „Schwierigkeiten" die Entvölkerung des flachenLandes. Zweifellos ist die Abwanderung der besten und intelligentestenArbeitskräfte vom flachen Lande ein „Hindernis" für die volle Entwick-lung einer rationellen Landwirtschaft, ebenso zweifellos ist jedoch, daßdie Landwirte gegen dieses Hindernis durch Entwicklung der lechnik,

z. B. Einführung von Maschinen, kämpfen.

Kautsky untersucht folgende „Schwierigkeiten": a) die Grundrente,b) das Erbrecht, c) die Beschränkungen des Erbrechts, die Majorate (Fidei-kommiß und Anerbenrecht4*), d) die Ausbeutung des Landes durch dieStadt, e) die Entvölkerung des flachen Landes.

Die G rundren te is t der Teil des M ehrwe rts , der nach Abz ug des Durch-schnittsprofits für das im landwirtschaftlichen Betrieb angelegte Kapitalübrigbleibt. Das Monopol des Grundeigentums gibt dem Grundeigentümerdie Möglichkeit, sich diesen Überschuß anzueignen, wobei der Boden-preis (= kapitalisierte Rente) die einmal erzielte Höhe der Rente fixiert.

Es ist klar, daß die Rente die volle Rationalisierung der Landwirtschaft

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138 W.J.Cenin

„erschwert": beim Pachtsystem verringert sich das Interesse an Vervoll-

kommnungen usw., beim Hypothekarsystem muß der größere Teil desKapitals nicht in der Produktion, sondern im Landkauf angelegt werden.Herr Bulgakow weist bei seinem Einwand erstens darauf hin, daß in derZunahme der Hypothekarverschuldung „nichts Schreckliches" zu sehensei. Er vergißt nur , daß Kautsky nicht „in einem and eren Sinne ", sonderngerade in diesem Sinne bereits auf die Unvermeidlichkeit der Zunahm e derHypothekarverschuldung auch bei einer Blüte der Landwirtschaft hinge-wiesen hat (siehe oben, erster Artikel, II). Für die Gegenwart aber stelltKautsky keineswegs die Frage, ob die Zunahme der Hypothekarverschul-

dung „schrecklich" ist oder nicht, sondern die Frage, welche Schwierig-keiten es dem Kapitalismus nicht erlauben, seine Mission ganz zu erfüllen.Zweitens ist es, meint Herr Bulgakow, „wohl kaum richtig, das Steigender Rente nur als Hindernis anzusehen... Das Steigen der Rente, dieMöglichkeit ihrer Erhöhung ist für die Landwirtschaft ein selbständigerAntrieb, der zu technischem und jeder Art anderem Progreß anregt"(„Prozeß" ist offenbar ein Druckfehler). Der Antrieb zum Fortschritt inder kapitalistischen Landwirtschaft ist das Anwachsen der Bevölkerung,das Anwachsen der Konkurrenz, das Anwachsen der Industrie, die Rente

aber ist ein Tribut, den der Grundbesitz von der gesellschaftlichen Ent-wicklung, vom Aufschwung der Technik erhebt. Darum ist es falsch, dasSteigen der Rente für einen „selbständigen Antrieb" zum Fortschritt zuerklären. Theoretisch ist die kapitalistische Produktion durchaus verein-bar mit dem Nichtbestehen von Privateigentum an Grund und Boden,mit der Nationalisierang des Grund und Bodens (Kautsky, S. 207), woes die absolute Rente übe rhau pt nicht gäbe und die Differentialrentedem Staat zufiele. Hierbei würde der Antrieb zu agronomischem Fort-schritt nicht schwächer werden, sondern sich im Gegenteil gewaltig ver-stärken.

„Nichts irrtümlicher", sagt Kautsky, „als zu glauben, es liege im In-teresse der Landwirtschaft, die Güterpreise in die Höhe zu treiben odersie künstlich hochzuhalten. Dies liegt im Interesse der augenblicklichenGrandbesitzer, der Hypothekenbanken und der Güterspekulanten, nichtaber im Interesse der Landwirtschaft, am allerwenigsten in dem ihrerZukunft, der kommenden Generation der Landwirte." (199.) Der Preisdes Bodens aber ist die kapitalisierte Rente.

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Der Kapitalismus in der Landw irtschaft 139

Die zweite Schwierigkeit der warenproduzierenden Landwirtschaft be-steht darin, daß sie unbedingt das Privateigentum an Grund und Bodenerfordert, dies aber führt dazu, daß der Grund und Boden bei Vererbungentweder zersplittert (und diese Parzellierung des Bodens führt stellen-weise sogar zu technischem Rückschritt) oder durch Hypotheken belastetwird (wenn der Erbe, dem das Land zufällt, den übrigen Miterben Geld-kapital auszahlt, das er sich durch Aufnahme von Hypotheken auf seinenBoden verschafft). Herr Bulgakow macht Kautsky den Vorwurf, daß erangeblich „in seiner Darstellun g die positive Seite" de r Mob ilisierung desBodens „übersieht". Dieser Vorwurf ist absolut unbegründet, da Kautskysowohl durch den historischen Teil seines Buches (insbesondere durchdas Kapitel III des ersten Abschnitts, das die feudale Landwirtschaft unddie Ursachen ihrer Ablösung durch die kapitalistische behandelt) wieauch durch den praktischen Teil* dem Leser die positive Seite und diehistorische Notwendigkeit des Privateigentums an Grund und Boden, derUnterwerfung der Landwirtschaft unter die Konkurrenz und folglichauch der Mobilisierung des Bodens klar nachweist. Was den anderenVorwurf des Herrn Bulgakow gegen Kautsky betrifft, daß nämlich letz-terer das Problem, das „im verschiedenen Grad des Wachstums derBevölkerung in verschiedenen Gegenden besteht", nicht untersucht,

so ist uns dieser Vorwurf völlig unverständlich. Hat Herr Bulgakowetwa erwartet, in Kautskys Buch Studien über Bevölkerungstheorie zufinden?

Ohne auf die Frage der Majorate, die (nach dem oben Ausgeführten)nichts Neues darstellt, einzugehen, wenden wir uns der Frage der Aus-beutung des Landes durch die Stadt zu. Die Behauptung des Herrn Bul-gakow, daß angeblich bei Kautsky „die positiven Seiten und vor allemdie Bedeutung der Stadt als Markt für die Landwirtschaft den negativen

Seiten nicht entgegengestellt sind", widerspricht direkt den Tatsachen.Die Bedeutung der Stadt als Markt für die Landwirtschaft ist von Kaut-sky gleich auf der ersten Seite des Kapitels, das „die moderne Landwirt-schaft" (S . 30 ff.) b eha nde lt, m it voller Bestimm theit dargele gt. G era de

* Kautsky hat sich entschieden gegen jede Art mittelalterlicher Beengungder Bodenmobilisierung, gegen die Majorate (Fideikommiß und Anerbenrecht[„Anerbenrecht" bei Lenin deutsch. Der 'übers.]), gegen die Unterstützungdes mittelalterlichen Dorfkommunismus (S. 332) u. a. ausgesprochen.

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der „städtischen Indu strie" (S. 292) schreibt Kautsk y die Ha up trol le

bei der Umgestaltung der Landwirtschaft, bei ihrer Rationalisierung usw.z u . *

Wir können es daher absolut nicht verstehen, wie Herr Bulgakow inseinem Artikel (S. 32 in Nr . 3 des „Natschalo") dieselben Ged ank en ge -

wissermaßen gegen Kautsky wiederholen konnte! Das ist ein besondersanschauliches Beispiel dafür, wie falsch der strenge Kritiker den Inhaltdes kritisierten Buches darlegt. „Es darf nicht vergessen werden", belehrtHerr Bulgakow Kautsky, „daß ein Teil des Wertes" (der in die Stadt ab-strömt) „auf das flache Lan d zurüc kkeh rt." Jedermann wird glauben, Kaut-

sky hab e diese Binsenwahrheit vergessen. In Wirklichkeit aber unterscheidetKautsky den Abfluß der Werte (vom flachen Lande in die Stadt) ohneGegenleistung und auf Gegenleistung, und zwar weitaus klarer, als diesH er r Bulgakow zu tun versucht. Zue rst behandelt Kautsky „das Abströmender Warenwerte ohne Gegenleistung von dem flachen Lande in die Stadt"(S. 210) (Rente, die in der Stadt verzehrt wird, Steuern, Zinsen fürSchulden bei den städtischen Banken) und erblickt hierin mit vollem Rechtdie ökonomische Ausbeutung des flachen Landes durch die Stadt. Dannstellt Kautsky die Frage des Abflusses der Werte auf Gegenleistung, d. h.des Austausches landwirtschaftlicher Produkte gegen Industrieprodukte.„Aber so wenig dieser Abfluß vom Standpunkt des Wertgesetzes", sagtKautsky, „eine Ausbeutung der Landwirtschaft bedeutet**, so führt erdoch tatsächlich, ebenso wie die anderen eben erwähnten Faktoren, zuihrer stofflichen Ausbeutung, zu einer Verarmung des Grund und Bodensan Nährstoffen." (S. 211.)

Was diese stoffliche Ausbeutung des Landes durch die Stadt betrifft,so vertritt Kautsky auch in dieser Beziehung eine der Grundthesen der

* Vgl. auch S. 214, wo Kautsky von der Rolle der städtischen Kapitalienbei der Rationalisierung der Landwirtschaft spricht.

** Möge der Leser die im Text angeführte präzise Erklärung Kautskysmit folgender „kritischer" Bemerkung des Herrn Bulgakow vergleichen: „WennKautsky überhaupt die Abgabe von Getreide durch die unmittelbaren Erzeu-ger an die nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung als Ausbeutung ansieht" usw.Es ist nicht zu glauben, daß ein Kritiker, der sich auch nur einigermaßenaufmerksam mit dem Buch Kautskys befaßt hat, dieses „Wenn" schreibenkonnte!

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"Der Kapitalismus in der £andwirtsdhaft 141

Theorie von Marx und Engels, daß nämlich der Gegensatz zwischen

Stadt und Land das notwendige gegenseitige übereinstim mu ngs- und Ab -hängigkeitsverhältnis zwischen der Landwirtschaft und der Industrie zer-stört und dieser Gegensatz daher mit der Verwandlung des Kapitalismusin eine höhere Form verschwinden muß. * Herr Bulgakow findet, daß dieMeinung Kautskys von der stofflichen Ausbeutung des Landes durch dieStadt „sonderbar" sei und daß „Kautsky hier jedenfalls den Boden derreinen Phantasie betreten hat" (sie!!!). Uns setzt der Umstand in Er-staunen, daß Herr Bulgakow hierbei die Identität der von ihm kritisiertenAnsichten Kautskys mit einer der Grundideen von Marx und Engels igno-

riert. Der Leser ist berechtigt zu glauben, daß Herr Bulgakow den Ge-danken von der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Landfür „reine Phantasie" hält. Wenn dies wirklich die Meinung des Kri-tikers ist, dann sind wir mit ihm entschieden nicht einverstanden undhalten es mit der „ Pha ntasie " (d . h. in W irklichkeit nicht mit der Pha n-tasie, sondern mit einer tiefer schürfenden Kritik des Kapitalismus). DieAnsicht, daß der Gedanke von der Aufhebung des Gegensatzes zwischenStadt und Land eine Phantasie sei, ist gar nicht neu. Das ist die üblicheAuffassung der bürgerlichen Ökonomen. Diese Auffassung wurde auchvon einigen Schriftstellern mit tiefer begründeten Anschauungen über-nommen. So fand z. B. Dühring, daß der Gegensatz zwischen Stadt undLand „der Natur der Sache nach unvermeidlich" sei.

Weiter ist Herr Bulgakow darüber „erstaunt" (!), daß Kautsky auf dieimmer häufiger eintretenden Pflanzen- und Tierseuchen als eine derSchwierigkeiten der warenproduzierenden Landwirtschaft und des Kapi-tal ismus hinweist . „Was hat denn der Kapital ismus hiermit zu tun. . .?"fragt Herr Bulgakow. „Könnte die Notwendigkeit der Veredlung derViehrassen etwa durch irgendeine höhere soziale Organisation aufge-

hoben werden?" Wir unserseits s ind darüber ers taunt, wie Herr Bulga-* Es versteht sich von selbst, daß diese Meinung von der Notwendigkeit

der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land in einer Gesellschaftassoziierter Produzenten nicht im geringsten der Anerkennung der fortschritt-lichen bistorisdhen Rolle widerspricht, die die Abwanderung der Bevölkerungvon der Landwirtschaft zur Industrie spielt. Ich hatte Gelegenheit, hierüberan and erer Stelle zu sprechen („S tudien" , S. 81, Anmerkung 69) (siehe Werke,4. Ausgabe, Bd. 2, S. 208, Anmerkung, russ. Die Red.').

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142 ' l/V. 1 . Lenin

kow diesen völlig klaren Gedanken Kautskys nicht verstehen konnte. Die

alten, in natürlicher Zuchtwahl entstandenen Pflanzen- und Tierrassenwerden durch „veredelte" Rassen, die durch künstliche Zuchtwahl ent-wickelt wurden, ersetzt. Die Pflanzen und Tiere werden empfindlicherund anspruchsvoller; die Seuchen verbreiten sich bei den modernen Ver-kehrsmitteln mit erstaunlicher Schnelligkeit, während jedoch die Wirt-schaftsweise nach wie vor individuell, zersplittert, nicht selten klein (einebäuerliche) bleibt und der Kenntnisse und Mittel entbehrt. Der städtischeKapitalismus bemüht sich, alle Mittel der modernen Wissenschaft für dieEntwicklung der landwirtschaftlichen Technik zu liefern, aber die Produ-

zenten läßt er in derselben elenden sozialen Lage wie vordem; er über-trägt nicht die städtische Kultur systematisch und planmäßig aufs Land.Die Notwendigkeit, die Viehrassen zu verbessern, wird keine höhere so-ziale Organisation aufheben (selbstverständlich hat Kautsky nicht einmaldaran gedacht, eine solche Absurdität auszusprechen), doch leidet diemoderne kapitalistische soziale Organisation um so mehr unter dem Feh-len einer gesellschaftlichen Kontrolle und unter der elenden Lage derBauern un d Arb eiter, je me hr sich die Technik entwickelt und je empfind-licher die Vieh- un d Pflanzenrassen we rden. *

Die letzte „Schwierigkeit" der warenproduzierenden Landwirtschafterblickt Kautsky in der „Entvölkerung des flachen Landes", in der Auf-saugung der besten, energischsten un d intelligentesten A rbeitskräfte durchdie Stadt. Herr Bulgakow findet, daß diese These in ihrer allgemeinenForm „auf jeden Fall falsch" sei und „die jetzige Entwicklung der städti-schen Bevölkerung auf Kosten der Landbevölkerung ist keineswegs Aus-druck eines Entwicklungsgesetzes der kapitalistischen La ndw irtscha ft",sondern der Abwanderung der Landbevölkerung aus den Industr ie- , denExportländern nach Übersee, in die Kolonien. Ich glaube, Herr Bulgakow

irrt sich. Die Zunahme der städtischen (allgemeiner: der industriellen)Bevölkerung auf Kosten der Landbevölkerung ist nicht nur eine Erschei-nung der Gegenwart, sondern eine allgemeine Erscheinung, die geradeein Qesetz des Kapitalismus zum Ausdruck bringt. Die theoretische Be-gründung dieses Gesetzes besteht, wie ich an anderer Stelle ausgeführt

* Darum empfiehlt Kautsky im praktischen Teil seines Buches eine Sanitäts-inspektion, die das Vieh und die Bedingungen der Viehhaltung zu überwachenhat (S. 397). . . . :

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Der Kapitalismus in der Landimrtsdoaft 143

habe* , erstens darin, daß die Zunahme der gesellschaftlichen Arbeits-

teilung immer mehr und mehr Industriezweige vom urwüchsigen Acker-bau losreißt**, und zweitens darin, daß das zur Bearbeitung eines ge-gebenen Bodenstücks benötigte variable Kapital sich im großen und gan-zen verringert (vgl. „Das Kapital", III , 2, S. 177. Russ. Obers. , S. 526 1 5 .Von mir zitiert in „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland", S. 4und 444***). Weiter oben haben wir bereits bemerkt, daß in einzelnenFällen und einzelnen Perioden eine Erhöhung des zur Bearbeitung einesgegebenen Bodenstücks erforderlichen variablen Kapitals zu beobachtenist, aber das erschüttert nicht die Richtigkeit des allgemeinen Gesetzes.Kautsky wäre es natürlich nicht eingefallen zu bestreiten, daß aus derrelativen Abnahme der landwirtschaftlichen Bevölkerung nicht in allenEinzelfällen eine absolute Abnahme wird und daß das Ausmaß dieserabsoluten Abnahme auch vom Wachstum der kapitalistischen Kolonienabhängt. An den entsprechenden Stellen seines Buches hat Kautsky mitvoller Klarheit auf dieses Wachstum der kapitalistischen Kolonien, dieEuropa mit billigem Getreide überschwemmen, hingewiesen. („DieselbeLandflucht, die das flache Land Europas entvölkert, führt nicht nur denStädten, sondern auch den Kolonien stets neue Scharen kräftiger Land-leute zu. . ." S. 242.) Daß die Industr ie der Landwir tschaf t d ie stärksten,

energischsten und intelligentesten Arbeiter entzieht, ist eine allgemeine

* „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland", Kapitel I, Abschnitt 2,und Kapitel VIII, Abschnitt 2 (siehe Werke, Bd. 3. Die Red.).

** Herr Bulgakow weist auf diesen Umstand hin und sagt, daß „die land-wirtschaftliche Bevölkerung sich auch in einer Blüte der Landwirtschaft rela-tiv" (von ihm hervorgehoben) „verringern kann". Sie „kann" nicht nur, son-dern muß sich unvenneidlidh in der kapitalistischen Gesellschaft verringern,..„Die relative Abnahme" (der landwirtschaftlichen Bevölkerung) „zeigt hiernur (sie!) das Aufblühen neuer Zweige der Volksarbeit", folgert Herr Bulga-

kow. Dieses „nur" ist äußerst seltsam. Eben die neuen Industriezweige sindes, die die „energischsten und intelligentesten Arbeitskräfte" aus der Land-wirtschaft abziehen. Es genügt somit schon diese einfache Überlegung, umdie allgemeine These Kautskys als völlig ridbtig zu erkennen: die relative Ab-nahm e de r landwirtschaftlichen Bevölkerung ist ein völlig ausreichender Beweisdafür, daß diese allgemeine These (der Kapitalismus entzieht der Landwirt-schaft die energischsten und intelligentesten Arbeitskräfte) richtig ist.

*** Siehe W erke, 4. Ausgabe, Bd. 3, S. 18 und 493, russ. Die Red.

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Der Kapitalismus in der £andurirtsdhaft 145

Staatsbürgern. „Sie erwächst nicht aus dem Wohlstand der Bauernschaft,sondern aus der Bedrängnis der gesamten Landwirtschaft." (230.) Kurzvorher hat Kautsky gesagt: „Trotz aller technischen Fortschritte ist be-reits, daran kann man nicht zweifeln, stellenweise" (hervorgehoben vonKautsky) „ein Niedergang der Landwirtschaft eingetreten." (228.) Die-ser Niedergang führt beispielsweise zur Wiedergeburt des Feudalismus:zu Versuchen, die Arbeiter an die Scholle zu fesseln und ihnen be-stimmte Pflichtleistungen aufzuerlegen. Was ist dabei verwunderlich,wen n auf dem Boden dieser „Bedrängnis" rückständige W irtschaftsformenWiederaufleben? Wenn die Bauernschaft, die sich überhaupt von denArbeitern des Großbetriebs durch ein niedrigeres Niveau der Bedürfnisseund durch die größere Fähigkeit, Hunger zu leiden und sich halb zu Todezu arbeiten, unterscheidet, sich in der Krise länger hält?* „Die Agrar-

* „Die kleineren Be trie be ...", sagt Kautsky an anderer Stelle, „halten zäherin einer aussichtslosen Position aus. Ob das ein Vorzug des Kleinbetriebs ist,darf füglich bezweifelt werden." (S. 134.)

Wir verweisen übrigens auf die die Ansicht Kautskys völlig bestätigendenDaten Koenigs, der in seinem Buch („Die Lage der englischen Landwirtschaftetc.", Jena 1896, von D r. F. Ph . Koenig) die Lage der englischen Land wirt-schaft in einigen der typischsten Grafschaften ausführlich geschildert hat. Hin-

weise auf die überarbeit und die Unterkonsumtion der kleinen Landwirte imVergleich zu den Lohnarbeitern finden wir hier die Gierige, während gegen-teilige Hinweise nicht vorkommen. Die Rentabilität der Kleinbetriebe, lesenwir zum Beispiel, wird „durch ungeheuren Fleiß und Sparsamkeit" erreicht(88); die Wohnungen der kleinen Besitzer sind herzlich schlecht (107); derkleine Gutsbesitzer (yeoman farmer) ist jetzt schlimmer daran als der Pächter(149); „am schlimmsten ist die Lage de r kleinen Gutsbesitzer (in Linco lnshire);ihre Wohnungen sind nicht so gut wie die Arbeiterwohnungen auf den großenPachtgütern; einige sind ganz schlecht. Sie arbeiten härter und länger als ge-wöhnliche Arbeiter und verdienen weniger; sie leben weniger gut und essen

weniger Fleisch... die Töchter und Söhne des Besitzers arbeiten ohne Lohnund leben und kleiden sich schlecht" (157). „Die kleinen Farmer .arbeiten wieSklaven, oft im Sommer von morgens 3 U hr bis abends 9 Uhr ." (Mitteilungder „Chamber of Agriculture" [Landwirtschaftskammer. Die Red.] in Boston,S. 158.) „Zweifellos", sagt ein große r Farm er, „h at der kleine Ma nn , derwenig Kapital besaß und dessen Familie die ganze Arbeit besorgt hat, sich amehesten im Haushalt einschränken können, während der große Pächter seineKnechte ebenso gut nähren muß, ob die Zeiten gut oder schlecht sind." (218.)

10 Lenin, W erke , Bd. 4

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146 "W J.Lenin

krisis erstreckt sich auf alle warenproduzierenden Klassen der Landwirt-

schaft; sie macht vor den Mittelbauern nicht halt." (S. 231.)Man sollte meinen, alle diese Thesen Kautskys sind so klar, daß esunmöglich ist, sie nicht zu verstehen. Und nichtsdestoweniger hat sieunser Kritiker offenbar nicht verstanden. Herr Bulgakow gibt seine Mei-nung nicht bekannt: ob er diese Zunahme der mittelbäuerlichen Betriebeso oder anders erklärt, aber Kautsky schreibt er die Ansicht zu, daß „dieEntwicklung der kapitalistischen Produktionsweise zum Untergang derLandwirtschaft führt". Und Herr Bulgakow bricht in die Worte aus: „DieBehauptung Kautskys von der Zerstörung der Landwirtschaft ist falsch,

willkürlich, unbewiesen, widerspricht den grundlegendsten Tatsachen derWirklichkeit" usw. usw.

Wir bemerken hierzu, daß Herr Bulgakow die QedarikenXautskys völ-

lig falsdb wiedergibt. Kautsky be haup tet keineswegs, da ß die Entwicklungdes Kapitalismus zum Untergang der Landwirtschaft führt, sondern erbehauptet das Gegenteil. Aus den Worten Kautskys von der Bedrängnis( = Krisis) der Landwirtschaft u nd von dem stellenweise (nota bene*)eintretenden technischen Rückschritt zu folgern, daß Kautsky von der„Zerstörung", vom „Untergang" der Landwirtschaft spricht, das ist nur

möglich, wenn man Kautskys Werk die größte Unaufmerksamkeit ent-gegenbringt. In Kapitel X, das speziell der Frage der überseeischen Kon-kur renz (d. h. der Grun dbe dingu ng der Agrarkrise) gewidm et ist, sagtKautsky: „Die kommende Krisis braucht natürlich die von ihr betroffeneIndustrie nicht zu ruinieren. Sie tut das nur in den seltensten Fällen. In

Die kleinen Farmer (in Ayrshire) „sind ungeheuer fleißig und ihre Frauenund Kinder arbeiten nicht weniger, ja oft mehr als Tagelöhner; man sagt, daßzwei von ihnen in einem Tage ebensoviel arbeiten, als drei Lohnarbeiter"(231). „Das Leben des kleinen Pächters, der mit seiner Familie arbeiten m uß ",

ist „ein reines Sklavenleben." (253.) „Im großen und ganzen... scheinen diekleinen Farmer die landwirtschaftliche Krisis besser überstanden zu haben alsdie größeren, allein dieser Schluß ist nicht maßgebend für die größere Renta-bilität der kleinen Farmen. Vielmehr glauben wir den Grund darin zu finden,daß der kleine Mann die unentgeltliche Hilfe seiner Familie bei der Arbeitbesitzt... ist es Sitte bei dem kleinen Farmer, seine ganze Familie in seinemBetriebe arbeiten zu lassen... Die Kinder... erhalten nur ihre Verköstigungund nur selten einen bestimmten Tagelohn" (277/278) usw. usw.

* wohlgemerkt. Die Red.

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Der Kapitalismus in der Eandwirtsdhaft 147

der Regel führt sie nur dahin, die bestehenden Eigentumsverhältnisse im

Sinne des Kapital ismus um zu w äl ze n. . ." (273/274.) Diese Bemerkung überdie Krise der landwirtschaftlichen Industrien zeigt mit aller Klarheit dieallgemeine Ansicht Kautskys von der Bedeutung der Krise. In demselbenKapitel wiederholt Kautsky diese Ansicht auch in bezug auf die gesamteLandwirtschaft: „Man braucht deswegen noch lange nicht von einemUntergang der Landwirtschaft zu sprechen. Aber ihr konservativer Cha-rakter ist unwiderruflich dahin, wo die moderne Produktionsweise einmalfesten Fuß gefaßt. Das Verharren beim alten droht dem Landwirt siche-res Verderben; ununterbrochen muß er die Entwicklung der Technik ver-

folgen, ununterbrochen seinen Betrieb den neuen Verhältnissen anpas-sen . . . Auch auf dem flachen Land e gerät das ganze ökonomische Leben ,das sich bisher so einförmig streng in ewig gleichen Geleisen bewegte, inden Zustand beständiger Revolutionierung, der das Kennzeichen der kapi-talistischen Produktionsweise ist." (289.)

Herr Bulgakow „begreift nicht", wie die Tendenzen zur Entwicklungder Produktivkräfte der Landwirtschaft mit den Tendenzen zur Ver-schärfung der Schwierigkeiten der warenproduzierenden Landwirtschaftvereinbar sind. Was gibt es denn da Unbegreifliches?? Der Kapitalismus

gibt sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie der Entwick-lung der Produktivkräfte einen gigantischen Anstoß, aber gerade dieseEntwicklung verschärft je länger je mehr die Widersprüche des Kapitalis-mus und stellt ihm neue „Schwierigkeiten" in den Weg. Kautsky ent-wickelt einen der G rund ged ank en von Ma rx, der die fortschrittliche histo-rische Rolle des Kapitalismus in der Landwirtschaft (Ration alisierung derLandw irtschaft, Tre nnu ng des Gru nd und Bodens vom Land wirt, Befreiungder Landbevölkerung von den Herrschafts- und Knechtschaftsverhält-nissen usw.) kategorisch betont und gleichzeitig nidit minder kategorisch

auf die Verelendung und Bedrängnis der unmittelbaren Produzenten,auf die Unvereinbarkeit des Kapitalismus mit den Forderungen einerrationellen Landwirtschaft hingewiesen hat. Es ist in höchstem Gradeseltsam, daß Herr Bulgakow, der erklärt, daß seine „allgemeine sozialeund philosophische Weltanschauung die gleiche ist wie die Kautskys"*,

* Bezüglich der philosophischen Weltanschauung wissen wir nicht, ob dieseWorte des Herrn Bulgakow den Tatsachen entsprechen. Kautsky ist, wie esscheint, nicht Anhänger der kritischen Philosophie wie Herr Bulgakow.

10*

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148 TV.7. Centn

nicht bemerkt, daß Kautsky hier einen Grundgedanken von Marx ent-

wickelt. Die Leser des „Natschalo" müssen unvermeidlich darüber imZweifel bleiben, wie Herr Bulgakow zu diesen Grundgedanken steht undwie er bei Identität der allgemeinen Weltanschauung sagen kann: „Deprincipiis non est disputandum"*!!? Wir erlauben uns, dieser Erklärungdes Herrn Bulgakow nicht zu glauben; wir halten den Streit zwischenihm und anderen Marxisten gerade infolge der Gemeinsamkeit dieser„principia" ** für möglich. Wenn Herr Bulgakow sagt, der Kapitalismusrationalisiere die Landwirtschaft, die Industrie liefere der Landwirtschaftdie technische Ausrüstung usw., so wiederholt er nur eins dieser „prin-

cipia". Nur sagt er dabei durchaus zu Unrecht „ganz im Gegenteil". DieLeser könnten glauben, Kautsky sei anderer Meinung, während Kautskygerade diese Grundgedanken von Marx mit aller Entschiedenheit undBestimmtheit in seinem Buche entwickelt. „Es war die Industrie", sagtKautsky, „die dann die technischen und wissenschaftlichen Bedingungender neuen, rationellen Landwirtschaft erzeugte, sie durch Maschinen undKunstdünger, durch das Mikroskop und das chemische Laboratoriumrevolutionierte und dadurch die technische Überlegenheit des kapitalisti-schen Großbetriebs über den bäuerlichen Kleinbetrieb herbeiführte."

(S. 292.) Kautsky verfällt somit nicht in den Widerspruch, den wir beiHerrn Bulgakow antreffen: einerseits erkennt Herr Bulgakow an, daß „derKapitalismus" (d. h. Produktion mittels Lohnarbeit, d. h. nicht bäuer-licher, sondern Großbetrieb?) „die Landwirtschaft rationalisiert", wäh-rend anderseits „der Träger dieses technischen Fortschritts hier keines-wegs der Großbetrieb ist"!

II

Kapitel X des Kautskyschen Buches ist der Frage der überseeischenKonkurrenz und der Industrialisierung der Landwirtschaft gewidmet.Herr Bulgakow läßt sich über dies Kapitel äußerst geringschätzig aus:„Nichts besonders Neues oder Originelles, mehr oder minder bekanntegrundlegende Tatsachen" usw.; die Hauptfrage, die Auffassung derAgrarkrise, ihres Wesens und ihrer Bedeutung, läßt er dabei außer acht.

* Ober Grundsätze soll man nicht streiten. Die Red.** Grundsätze, Prinzipien. Die Jled.

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150 W.l. Lenin

stische Grundbesitz erhob bisher einen immer größer werdenden Tribut

von der gesellschaftlichen Entwicklung und fixierte die Höhe dieses Tri-buts in den Bodenpreisen. Jetzt muß er auf diesen Tribut verzichten.*Die kapitalistische Landwirtschaft ist jetzt in denselben Zustand derLabilität versetzt worden, der der kapitalistischen Industrie eigen ist,und is t gezwungen, s ich den neuen Marktbedingungen anzupassen. Wiejede andere Krise, so ruiniert auch die Agrarkrise die Massen der Land-wirte, zerbricht gründlich die herkömm lichen Eigentum sverhältnisse, führtstellenweise zu technischem Rückschritt, zum Wiederaufleben mittelalter-licher Verhältnisse und Formen der Wirtschaft, im großen und ganzenjedoch beschleunigt sie die gesellschaftliche Entwicklung, verdrängt denpatriarchalischen Stillstand aus seinen letzten Zufluchtsstätten, erzwingtdie weitere Spezialisierung der Landwirtschaft (einer der Grundfaktorendes landwirtschaftlichen Fortschritts in der kapitalistischen Gesellschaft),die weitere Anwendung von Maschinen usw. Im großen und ganzen —

das hat K autsk y in Kapitel IV seines Buches an H an d der D aten übereinige Länder gezeigt — sehen wir sogar in Westeuropa in den Jahren1880—1890 keinen Stillstand der Landwirtschaft, sondern einen tech-nischen Fortschritt. Wir sagen „sogar in Westeuropa", weil dieser Fort-schritt z. B. in Amerika noch klarer ist.

Kurz, es liegt kein Grund vor, in der Agrarkrise eine Erscheinung zusehen, die den Kapitalismus und die kapitalistische Entwicklung hemmt.

* Die absolute Rente ist das Resultat des Monopols. „Zum Glück hat dasSteigen der absoluten Grundrente seine Grenzen... Bis vor kurzem war sieallerdings in Europa in stetem Steigen begriffen, ebenso wie die Differential-rente... Aber die überseeische Konkurrenz hat dieses Monopol in hohemGrade durchbrochen. Wir haben keinen Grund zur Annahme, daß die Diffe-rentialrente in Europa unter der überseeischen Konkurrenz gelitten hat, aus-genommen einige Distrikte Englands... Aber die absolute Grundrente ist ge-sunken, und dies ist vor allem dai arbeitenden Klassen zugute gekommen."(S . 80, vgl. auch S. 328.)

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ANTWORT AN HERRN P . NESHDANOW

In Nr. 4 der „Shisn" untersucht Herr P. Neshdanow meinen Artikelund die Artikel anderer Autoren über die Theorie der Märkte. Ich beab-sichtige nur auf eine Behauptung des Herrn P. Neshdanow zu antworten,und zwar darauf, daß ich durch meinen Artikel in Nr. 1 des laufendenJahrgangs von „Nautschnoje Obosrenije" meinen „Kampf gegen die Theo-rie der dritten Personen entstellt" hätte. Was die übrigen von HerrnP. Neshdanow hinsichtlich der Theorie der Märkte und insbesondere derAnsichten P. B. Struves aufgeworfenen Fragen anbelangt, so beschränkeich mich darauf, auf meinen Antwortartikel an Struve zu verweisen („Nocheinmal zur Frage der Realisationstheorie"; der Abdruck dieses Artikelsim „Nautschnoje Obosrenije" wurde durch Umstände, die nidit vomAutor abhängen, verzögert).

Herr P. Neshdanow behauptet: „Die kapitalistische Produktion leidetan keinem Widerspruch zwischen Produktion und Konsumtion." Hier-aus folgert er, daß mit der Anerkennung dieses Widerspruchs „Marx aneinem ernsten inneren Widerspruch litt" und ich den Fehler von Marxwiederhole.

Ich halte die Meinung des Herrn P. Neshdanow für absolut irrig (oderauf einem Mißverständnis beruhend) und kann keinerlei Widerspruchin den Ansichten von Marx erkennen.

Herrn P . Neshdanows Behauptung, es gebe im Kapitalismus keinenWiderspruch zwischen Produktion und Konsumtion, ist so seltsam, daßsie sich nur durch den ganz besonderen Sinn erklären läßt, den er demBegriff „Widerspruch" beilegt. Herr P. Neshdanow meint nämlich: „Wennwirklich ein Widerspruch zwischen Produktion und Konsumtion besteht,

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Antwort anyierrn V.5Vesb danow 153

und Konsumtion besteht ausschließlich darin, daß wachsender National-

reichtum mit wachsendem Elend des Volkes einhergeht, daß die Produk-tivkräfte der Gesellschaft ohne eine entsprechende Zunahme der Kon-sumtion des Volkes, ohne Utilisierung dieser Produktivkräfte zugunstender werktätigen Massen wachsen. In diesem Sinne verstanden, ist derhier behandelte Widerspruch eine keinem Zweifel unterliegende, durchdie tagtäglichen Erfahrungen von Millionen Menschen bestätigte Tat-sache, und eben die Beobachtung dieser Tatsache führt ja die Arbeiten-den zu den Ansichten, die in der Marxschen Theorie ihren vollen undwissenschaftlichen Ausdruck gefunden haben. Dieser Widerspruch hatkeineswegs unvermeidlich zur Folge, daß systematisch ein überschüssigesProdukt erzeugt wird (wie Herr Neshdanow glauben möchte) . Wir kön-nen uns durchaus (wenn wir rein theoretisch von einer idealen kapita-listischen Gesellschaft sprechen) die Realisation des gesamten Produktsin der kapitalistischen Gesellschaft ohne jedes überschüssige Produkt vor-stellen, aber wir können uns keinen Kapitalismus vorstellen ohne Miß-verhältnis zwischen Produktion und Konsumtion. Dieses Mißverhältniskommt (wie Marx in seinen Schemata klar gezeigt hat) darin zum Aus-druck, daß die Produktion von Produktionsmitteln die Produktion vonKonsumtionsmitteln überholen kann und überholen muß.

Somit hat Herr Neshdanow absolut falsch gefolgert, daß der Wider-spruch zwischen Produktion und Konsumtion systematisch ein über-schüssiges Produkt ergeben muß, und dieser Fehler hatte zur Folge, daßer Marx ungerechterweise beschuldigte, inkonsequent zu sein. Im Gegen-teil, Marx bleibt streng konsequent, wenn er zeigt:

1. daß das Produkt in der kapitalistischen Gesellschaft realisiertwerden kann (Proportionalität zwischen den verschiedenen Industrie-zweigen selbstverständlich vorausgesetzt); daß es falsch wäre, zur Er-

klärung dieser Realisation den Außenhandel oder „dritte Personen"heranzuziehen;

2. daß die Theorien der kleinbürgerlichen Ökonomen (ä la Prou-dhon) bezüglich der Unmöglichkeit, den Mehrwert zu realisieren, über-haupt auf völligem Nichtverstehen des Realisationsprozesses selbst be-ruhen ;

3. daß wir uns selbst bei durchaus proportionaler, ideal reibungsloserRealisation den Kapitalismus nicht vorstellen können ohne Widerspruch

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154 TV.I.Lenin

zwischen Produktion und Konsumtion, ohne daß das gigantische An-

wachsen der Produktion begleitet wäre von äußerst schwachem Wachs-tum (wenn nicht sogar von Stillstand und von Verschlechterung) derKonsumtion des Volkes. Die Realisation erfolgt mehr auf der Linie derProduktionsmittel als auf der Linie der Konsumtionsmittel — dies folgtklar aus den Marxschen Schemata; und hieraus wiederum ergibt sich mitNotwendigkeit: „Je mehr sich.. . die Produktivkraft entwickelt, um somehr gerät sie in Widerspruch mit der engen Basis, worauf die Konsum-tionsverhältnisse beruhen." (Marx.) 4 6 Aus allen Stellen des „Kapitals",die der Frage nach dem Widerspruch zwischen Produktion und Konsum-tion gewidmet sind*, ist klar zu ersehen, daß Marx den Widerspruchzwischen Produktion und Konsumtion eben nur in diesem Sinne ver-s tanden hat .

üb rig en s meint H err P. Nesh danow , auch H err Tugan-Baranowskileugne den Widerspruch zwischen Produktion und Konsumtion in derkapitalistischen Gesellschaft. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Herr Tugan-Baranowski selbst hat in seinem Buch ein Schema angeführt, das die Mög-lichkeit steigender Produktion bei sinkender Konsumtion zeigt (und dasist im Kapitalismus wirklich möglich und kommt vor). Kann man denn

leugnen, daß wir es hier mit einem Widerspruch zwischen Produktionund Konsumtion zu tun haben, obgleich hier kein überschüssiges Produktvorhanden is t?

Als H err P . Nesh danow M ar x (un d mich) der Inkonsequenz zieh, daließ er zudem außer acht, daß er zur Begründung seines Standpunktshätte klarstellen müssen, wie die „Unabhängigkeit" der Produktion derProduktionsmittel von der Produktion der Konsumtionsmittel zu ver-stehen ist. Marx zufolge beschränkt sich diese „Unabhängigkeit" darauf,

daß ein bestimmter (und ständig größer werdender) Teil des Produkts,

das aus Produktionsmitteln besteht, durch Austauschakte innerhalb derbetreffenden Abteilung , d. h. durch Austausch von Produk tionsmittelngegen Produktionsmittel (oder durch Verwendung des gewonnenen Pro-

* Diese Stellen sind in meinem Artikel im „N autschnoje Obosrenije", Jahr-gang 1899, Nr. 1, angeführt (siehe den vorliegenden Band, S. 46 ff. Die Red.)und in Kapitel 1 der „Entwicklung des Kapitalismus in Ruß land" , S. 18/19,wiederholt (siehe W erke, 4. Ausgabe, Bd. 3, S. 35, russ. Die Red).

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Antwort an Herrn T> . "Neshdanow 155

dukts in natura für neue Produktion) realisiert wird; aber in letzter In-stanz hängt die Produktion von Produktionsmitteln notwendigerweisemit der Produktion von Konsumtionsmitteln zusammen, denn die Pro-duktionsmittel werden nicht um der Produktionsmittel selbst willen er-zeugt, sondern nur deshalb, weil immer mehr und mehr Produktions-mittel in den Industriezweigen erforderlich sind, die Konsumtionsmittelherstellen.* Somit besteht der Unterschied zwischen den Ansichten derkleinbürgerlichen Ökonomen und denen von Marx nicht darin, daß dieers teren den Zusammenhang zwischen Produktion und Konsumtion inder kapitalistischen Gesellschaft schlechthin anerkannt hätten, währendder letztere diesen Zusammenhang schlechthin bestritten hätte (dies wäre

ein Widersinn). Der Unterschied besteht darin, daß die kleinbürgerlichenÖkonomen diesen Zusammenhang zwischen Produktion und Konsumtionfü r unmittelbar hielten, daß sie glaubten, die 'Konsumtion bedinge dieProduktion. Marx hat dagegen gezeigt, daß dieser Zusammenhang nur

mittelbar ist, daß er sidi nur in letzter Instanz auswirkt, denn in der kapi-talistischen Gesellschaft wird die Konsum tion durch die Produ ktion be-dingt. Aber ein Zusammenhang, wenn auch ein mittelbarer, besteht; dieProduktion muß in letzter Instanz die Konsumtion bedingen, und wenndie Produ ktivkräfte nach schrankenloser Entwicklung der Produ ktion drän -

gen, während die Konsum tion d urch den proletarischen Zustan d der Volks-massen eingeschränkt wird, so liegt hier zweifellos ein Widerspruch vor.Dieser Wid erspruc h be deu tet nicht, daß der K apitalismus unm öglich ist**,wohl aber bedeutet er die Notwendigkeit seiner Verwandlung in einehöh ere Fo rm : je stärker dieser Wide rspruch w ird, um so weiter entwickelnsich sowohl die objektiven Bedingungen für diese Verwandlung als auch

* „Das Kapital", III, 1, 289.4r Von mir zitiert im „Nautschnoje Obo-srenije", S.40 (siehe den vorliegenden Band, S.49. Die Red.) und in der „Ent-wicklung des Kapitalismus", S. 17 (siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 3, S. 33, russ.Die Red.).

** „Studien", S. 20 (siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 2, S. 137, russ. Die Red.),„Nautschnoje Obosrenije" Nr. 1, S. 41 (siehe den vorliegenden Band, S. 50.Die Red.), „Die Entwicklung des Kapitalismus", S. 19/20 (siehe Werke, 4. Aus-gabe, Bd. 3, S. 36, russ. Die Red.). Wenn dieser Widerspruch zu einem „syste-matischen überschüssigen Produkt" führte, so würde er eben die Unmöglich-keit des Kapitalismus bedeuten.

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156 IV.J. Lenin

die subjektiven B edingungen, d. h. die Erkenntnis des Widerspruc hs durch

die Arbeitenden.Es fragt sich jetzt, welche Stellung Herr Neshdanow zur Frage der„Unabhängigkeit" der Produktionsmittel von den Konsumtionsmittelneinnehmen könnte. Eins von beiden: Entweder leugnet er völlig jede Ab-hängigkeit zwischen ihnen, behauptet die Möglichkeit der Realisation vonProduktionsmitteln, die absolut nidht zusammenhängen mit den Kon-sumtionsmitteln, mit ihnen auch in „letzter Instanz" nicht zusammen-hängen — und dann gelangt er unweigerlich zu einem Widersinn,- oderaber er erkennt im Gefolge von Marx an, daß in letzter Instanz die

Produktionsmittel mit den Konsumtionsmitteln zusammenhängen — unddann muß er zugeben, daß meine Auffassung der Marxschen Theorierichtig ist.

Zum Schluß nehme ich ein Beispiel, um die abstrakten Betrachtungendurch konkrete Tatsachen zu illustrieren. Man weiß, daß in jeder kapitali-stischen Gesellschaft die Anwendung von Maschinen häufig durch einenübermäßig niedrigen Arbeitslohn (= niedriges Konsumtionsniveau derVolksmassen) verhindert wird. Noch mehr: Es kommt sogar vor, daß dievon den Unternehmern angeschafften Maschinen stillstehen, weil der Preis

der Arbeitskraft so tief sinkt, daß für den Unternehmer Handarbeit vor-teilhafter wird!* Das Vorhandensein eines Widerspruchs zwischen Kon-sumtion und Produktion, zwischen dem Streben des Kapitalismus, dieProdu ktivkräfte schrankenlos zu entwickeln, und der Beschränkung diesesStrebens durch den proletarischen Zustand, das Elend und die Arbeits-losigkeit des Volkes ist in diesem Fall klar w ie der T ag . Nich t weniger kla rist aber, daß aus diesem Widerspruch richtigerweise einzig und allein derSchluß gezogen werden kann, daß schon die ganze Entwicklung der Pro-duktivkräfte mit unaufhaltsamer Gewalt zur Ablösung des Kapitalismus

durch eine Wirtschaft assoziierter Produzenten führen muß. Umgekehrtwäre es völlig falsch, aus diesem Widerspruch den Schluß zu ziehen, daß

* Für die letztgena nnte E rscheinung habe ich ein Beispiel aus de r russischenkapitalistischen Landwirtschaft in der „Entwicklung des Kapitalismus in Ruß-land ", S. 165 (siehe W erke , 4. Ausgabe, Bd. 3, S. 197, russ. Bie Kei.) an-geführt. Und derartige Erscheinungen sind keine Einzelfälle, sondern einegewöhnliche und unvermeidlidhe Folge der Grundeigenschaften des Kapita-lismus.

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Antwort an Herrn 7> . 'Neshdanoto 157

der Kapitalismus systematisch ein überschüssiges Produkt erzeugen muß,

d. h., daß der Kapitalismus das Produkt überhaupt nicht realisieren,daß er deshalb keine progressive historische Rolle spielen kann und dgl.mehr .

geschrieben im M ai 1899.

Veröffentlicht im Deze mber 1899 Nach dem 3'ext der Zeitschrift.in der Zeitschrift „Shisn".U nterschrift: Wladim ir Jljin.

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PROTEST

RUSSISCHER SOZIALDEMOKRATEN 48

Qesdhrieben Ende August —

Anfang September i899.

Zuerst veröffentlicht im Dezember i899 9Jadh dem 7ext der Zeitsdhrift.im Ausland als Sonderdruck aus 9Jr. 4/5der Zeitsdhrift „ Rabotsdheje Velo ".

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163

Eine Versammlung von siebzehn Sozialdemokraten eines Ortes (in Ruß-

land) bat einstimmig die folgende Resolution angenom men und beschlossen,sie zu veröffentlidoen und allen Qenossen zur Erörterung zu unterbreiten.

In der letzten Zeit sind unter den russischen Sozialdemokraten Ab-weichungen von jenen Grundprinzipien der russischen Sozialdemokratiezu bemerken, die sowohl von den Begründern und Vorkämpfern — denMitgliedern der Gruppe „Befreiung der Arbeit" — als auch in den sozial-demokratischen Veröffentlichungen der russischen Arbeiterorganisationender neunziger Jahre verkündet wurden. Das unten wiedergegebene

„Credo"*, das die Grundauffassungen einiger („junger") russischer So-zialdemokraten zum Ausdruck bringen soll, stellt einen Versuch dar, die„neuen Anschauungen" systematisch und eindeutig darzulegen. Wir las-sen dieses „Credo" in ungekürzter Form folgen:

„Die Zunft- und Manufakturperiode im Westen hat in der ganzen nach-folgenden Geschichte, insbesondere in der Geschichte der Sozialdemokratie,ihre tiefe Spur hinterlassen. Die für die Bourgeoisie bestehende Notwendigkeit,sich freie Formen zu erkämpfen, das Bestreben, sich von den die Produktionfesselnden Zunftreglemen ts zu befreien, machten s ie, die Bourgeoisie, zu einem

revolutionären Element; überall im Westen beginnt sie mit Iiberte, fraternit£,egalite' (Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit), mit der Eroberung freier politi-scher Formen. Durch diese Eroberung aber hat sie, nach einem Ausdruck Bis-marcks, ihrem Antipoden, der Arbeiterklasse, einen Wechsel auf die Zukunftausgestellt. Fast überall im Westen hat die Arbeiterklasse als Klasse die demo-kratischen Einrichtungen nicht erkämpft — sie ha t sie ben utzt . M an könn te

* Glaubensbekenntnis,Programm, Darlegung einer W eltanschauung. BieJLed.

II»

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164 TV.l.Cenm

uns entgegenhalten, sie habe an den Revolutionen teilgenommen. Die geschicht-lichen Zeugnisse widerlegen diese Meinung, da g erade 1848, als sich im Westen

die konstitutionelle Regierungsform festigte, die Arbeiterklasse ein handwerk-lich-städtisches Element, die kleinbürgerliche Demokratie, darstellte; ein Fa-brikproletariat gab es kaum, und das Proletariat der Großproduktion (die We-ber Deutschlands — Hauptmann, die Weber Lyons) war eine rohe Masse, dienur zu Rebellionen, keineswegs aber zur Aufstellung irgendwelcher politischerForderungen fähig war. Man kann geradezu sagen, daß die Verfassungen desJahres 1848 von der Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum, den Artisans, er-obert worden sind. Anderseits war die Arbeiterklasse (die Artisans und dieM anufaktura rbeiter, die Buchdrucker, W eber, Uhrmacher u. a.) es noch vomM ittelalte r her gewohnt, sich an Organ isationen , an Hilf skassen, religiösen Ver-

einen usw. zu beteiligen. Dieser Organisationsgeist lebt bis heute noch bei dengelernten Arbeitern des Westens und unterscheidet sie scharf vom Fabrik-proletariat, das sich nur schwer und langsam organisieren läßt und nur zu so-genann ter loser Organisation fähig ist, nicht aber zu dauerhaften Organisa-tionen mit Statuten und Reglements. Eben diese gelernten Ma nufakturarb eiterbildeten den Kern der sozialdemokratischen Parteien. So ergab sich folgendesBild: einerseits verhältnismäßige Leichtigkeit und uneingeschränkte Möglich-keit des politischen Kampfes, anderseits die Möglichkeit planmäßiger Organi-sierung dieses Kampfes mit Hilfe der durch die Manufakturperiode erzogenenArb eiter. Auf diesem Boden ist ini W esten der theoretische und prak tische Ma rxis-

mus groß geworden. Der Ausgangspunkt war der parlamentarische politischeKampf mit de r Perspektive — die nur äußerlich dem Blanquismus ähnlich,ihrem Ursprung nach aber ganz anders beschaffen ist —, mit der Perspektiveder Machtergreifung einerseits und des Zusammenbruchs* anderseits. DerMarxismus war der theoretische Ausdruck der herrschenden Praxis: des poli-tischen Kampfes, der den ökonomischen überwog. Sowohl in Belgien als attchin Frankreich und besonders in Deutschland haben die Arbeiter mit unglaub-licher Leichtigkeit den politischen Kampf, aber in schwerer Arbeit, unter ge-waltigen Reibungen den ökonomischen Kampf organisiert. Noch heute leidendie ökonomischen Organisationen im Vergleich zu den politischen (von Eng-

land abgesehen) an außerordentlicher Schwäche und Labilität, und überalllaissent ä desirer quelque chose (lassen sie einiges zu wünschen übrig). Solangedie Energie nicht gänzlich im politischen Kampf aufgebraucht war, war derZusammenbruch * ein notwendiges organisierendes Schlagwort **, dem es be-schieden war, eine gewaltige geschichtliche Rolle zu spielen. Das Grundgesetz,

* „Zusammenbruch" im Original deutsch. Der Tibers.** „Schlagwort" im Original deutsch. Der Tibers.

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Protest russischer Sozialdemokraten 165

das sich aus dem Studium der Arbeiterbewegung ableiten läßt, ist die Linie des

geringsten Widerstands. Im Westen bestand diese Linie in der politischenTätigkeit, und der Marxismus, in der Gestalt, wie er im .KommunistischenManifest' formuliert wurde, erwies sich als jene höchst glückliche Form, in diesich die Bewegung ergießen mußte. Als aber alle Energie in der politischenTä tigkeit erschöpft worden w ar, als die politische Bewegung einen solchen Gradder Anspannung erreicht hatte, über den hinaus sie zu führen schwer und fastunmöglich war (langsamer Stimmenzuwachs in der letzten Zeit, Apathie desPublikums in den Versammlungen, verzagter Ton in der Literatur), erzeugtedies in Verbindung m it der Ohnmacht der parlamentarischen Tätigkeit und demErscheinen der unwissenden Masse des unorganisierten und der Organisierung

fast unzugänglichen Fabrikproletariats in der Arena im Westen das, was heuteBemsteiniade, Krise des Marxismus genannt wird. Ein logischerer Gang derDinge als die Entwicklungsperiode der Arbeiterbewegung vom kommunisti-schen Manifest' bis zur Bemsteiniade läßt sich schwer vorstellen, und durcheine aufmerksame Untersuchung dieses ganzen Prozesses läßt sich mit astro-nomischer Genauigkeit der Ausgang dieser .Krise' bestimmen. Es handelt sidihier natürlich nicht um Niederlage oder Sieg der Bemsteiniade — das wärevon geringem Interesse; es handelt sich um eine grundlegende Änderung derpraktischen Tätigkeit, die sich schon seit langem im Innern der Partei nachund nach vollzieht.

Diese Änderung wird nicht nur in der Richtung einer energischeren Füh-rung des ökonomischen Kampfes, der Festigung der ökonomischen Organisa-tionen erfolgen, sondern auch, und das ist das Wesentlichste, in der Richtungeiner Änderung des Verhältnisses der Partei zu den übrigen oppositionellenParteien. Der unduldsame Marxismus, der verneinende Marxismus, der primi-tive Marxismus (der eine allzu schematisdie Vorstellung von der Klassentei-lung der Gesellschaft hat) wird dem demokratischen Marxismus Platz machen,und die soziale Stellung der Partei in der heutigen Gesellschaft muß sich radi-kal ändern. Die Partei wird die Gesellschaft anerkennen, ihre eng korpora-tiven, in den meisten Fällen sektiererischen Aufgaben erweitem sich zu gesell-schaftlichen Aufgaben, und ihr Streben nach Ergreifung der Macht wird zumStreben nach Änderung, Reformierung der heutigen Gesellschaft in demokra-tischer Richtung, angepaßt an die heutige Lage der Dinge, mit dem Ziel mög-lichst erfolgreicher, möglichst vollständiger Verteidigung der Redite (jederArt) der werktätigen Klassen. Der Inhalt des Begriffs .Politik' erweitert sichzu wahrhaft gesellschaftlicher Bedeutung, und die praktischen Forderungendes Augenblicks erhalten größeres Gewicht, können auf größere Beachtungrechnen, als es bis jetzt der Fall war.

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Protest russischer Sozialdemokraten 167

retischen Kenntnisse, soweit er sie nicht als Werkzeug der Jorsdbimc), sondern

als Schema des Handelns verwendet, sind für die Erfüllung selbst dieser kläg-lichen praktischen Aufgaben wertlos. Außerdem erweisen sich diese für einenFremden zugeschnittenen Schemata in der Praxis als schädlich. Unsere M arxi-sten, die vergessen haben, daß im Westen die Arbeiterklasse ein bereits ge-säubertes politisches Tätigkeitsfeld bet rat, bringen mehr als nötig der radikal-oder liberal-oppositionellen Tätigkeit aller anderen, nicht proletarischen Ge-sellschaftsschichten Verachtung entgegen. Die geringsten Versuche, die Auf-merksamkeit auf gesellschaftliche Äußerungen liberal-politischer Art zu kon-zentrieren, rufen den Protest der orthodoxen Marxisten hervor, die vergessen,daß eine ganze Reihe geschichtlicher Bedingungen uns hindert, Marxisten des

Westens zu sein, und einen anderen, für die russischen Verhältnisse passendenund notwendigen Marxismus von uns verlangt. Der Mangel an politischemGefühl und politischem Sinn bei allen Bürgern Rußlands kann offensichtlichnicht durch Gerede über Politik oder Aufrufe an eine nicht existierende Kraftwettgemacht werden. Dieser politische Sinn kann nu r durch Erziehung geschaffenwerden, d.h. durch Beteiligung an demjenigen Leben (wie unmarxistisch esauch sein m öge), das die russische Wirklichkeit bietet. So angebracht die .Ne -gation' im Westen (zeitweilig) war, so schädlich ist sie bei uns, weil eine Nega-tion, die von etwas Organisiertem und wirkliche Kraft Besitzendem ausgeht,etwas anderes ist als eine Negation , die von einer formlosen M asse z erstreuter

Einzelpersonen ausgeht.

Es gibt für den russischen Marxisten nur einen Ausweg: Beteiligung amwirtschaftlichen Kampf des Proleta riats, d. h. U nte rstü tzu ng dieses Kampfes,und Beteiligung an der liberal-oppositionellen Tätigkeit. Als ,Negierer' ist derrussische Marxist sehr früh aufgetreten, aber dieses Negieren hat in ihm dasMaß von Energie geschwächt, das auf den politischen Radikalismus hätte ge-richtet werden sollen. Einstweilen ist alles das nicht so schlimm, wenn aber dasKlassenschema den russischen Intellektuellen daran hindert, aktiv am Lebenteilzunehmen, und ihn allzuweit von den oppositionellen Kreisen entfernt, so wird

das ein wesentlicher Nachteil für alle sein, die gezwungen sind, nicht in Gemein-schaft mit der Arbeiterklasse, die sich noch keine politischen Aufgaben gestellthat, für Rechtsformen zu kämpfen. Die hinter wirklichkeitsfremden Betrach-tungen über politische Themen versteckte politische Unschuld des russischenmarxistischen Intellektuellen kann diesem selbst einen üblen Streich spielen."

W ir wissen nicht, ob sich viele russische Sozialdemokraten finden wer-den , die diese Ansichten teilen. Unzw eifelhaft ist aber, daß im allgemei-nen derartige Ideen Anhänger haben, und deshalb halten wir uns für

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168 TV .1). Lenin

verpflichtet, gegen solche Ansichten kategorisch zu protestieren und alle

Genossen vor der Gefahr zu wamen, daß die russische Sozialdemokratievon dem Wege weggeführt wird, den sie sich bereits vorgezeichnet hat,nämlich von der Bildung einer selbständigen politischen Arbeiterpartei ,die untrennbar ist vom Klassenkampf des Proletariats und sich die Er-kämpfung der politischen Freiheit als nächste Aufgabe stellt.

Das oben wiedergegebene „Credo" enthält erstens „eine kurze Be-schreibung des Entwicklungsgangs der Arbeiterbewegung im Westen"und zweitens „Schlußfolgerungen für Rußland".

Völlig unrichtig sind vor allem die Vorstellungen der Verfasser des

„Credo" von der Vergangenheit der westeuropäischen Arbeiterbewegung.Es ist nicht wahr, daß die Arbeiterklasse im Westen am Kampf für diepolitische Freiheit und an den politischen Revolutionen nicht teilgenommenhat. Die Geschichte des Chartismus, die Revolution von 1848 in Frank-reich, Deutschland und Österreich beweisen das Gegenteil. Es ist völligfalsch, daß „der Marxismus der theoretische Ausdruck der herrschendenPraxis war: des politischen Kampfes, der den ökonomischen überwog".Im Gegenteil, der „Marxismus" trat auf, als der unpolitische Sozialismus(„Owenismus", „Fourierismus", der „wahre Sozialismus") herrschte, und

das „Kommunistische Manifest" wandte sich sofort gegen den unpoliti-schen Sozialismus. Selbst als der Marxismus mit seinem ganzen theore-tischen Rüstzeug auftrat („Das Kapital") und die berühmte InternationaleArbeiterassoziation49 gründete, war der politische Kampf keineswegs dieherrschende Praxis (beschränkter Trade-Unionismus in England, Anar-chismus und Proudhonismus in den romanischen Ländern). In Deutsch-land bestand das große historische Verdienst Lassalles darin, daß er dieArbeiterklasse aus einem Anhängsel der liberalen Bourgeoisie zu einerselbständigen politischen Partei machte. Der Marxismus hat den ökono-

mischen und den politischen Kampf der Arbeiterklasse zu einem unteil-baren G anzen verbunden, und das Bestreben der Verfasser des „C redo",diese Formen des Kampfes voneinander zu trennen , gehört zu den schlech-testen und traurigsten Abweichungen vom Marxismus.

Völlig unrichtig sind ferner die Vorstellungen der Verfasser des „Credo"von der gegenwärtigen Lage der westeuropäischen Arbeiterbewegung undvon der Theorie des Marxismus, unter dessen Banner diese Bewegungmarschiert. Von einer „Krise des Marxismus" zu sprechen bedeutet, die

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Protest russischer Sozialdemokraten 169

sinnlosen Phrasen der bürgerlichen Schreiberlinge zu wiederholen, die

mit aller Kraft bestrebt sind, jeden Streit unter den Sozialisten aufzu-bauschen und ihn in eine Spaltung der sozialistischen Parteien zu ver-wandeln. Die berüchtigte Bernsteiniade50 — in dem Sinne, wie sie ge-wöhnlich vom breiten Publikum im allgemeinen und von den Verfasserndes „Credo" im besonderen aufgefaßt wird — bedeutet den Versuch, dieTheorie des Marxismus .einzuengen, den Versuch, die revolutionäre Ar-beiterpartei in eine Reformpartei zu verwandeln, und dieser Versuch ist,wie auch zu erwarten war, von der Mehrheit der deutschen Sozialdemo-kraten entschieden verurteilt worden. In der deutschen Sozialdemokratie

haben sich mehr als einmal opportunistische Strömungen gezeigt, und siesind von der Partei, die das Vermächtnis der internationalen revolutio-nären Sozialdemokratie treu bewahrt, jedesmal zurückgewiesen worden.Wir sind überzeugt, daß alle Versuche, opportunistische Anschauungennach Rußland zu übertragen, bei der erdrückenden Mehrheit der.rus-sischen Sozialdemokraten auf ebenso entschiedenen Widerstand stoßenwerden. :

Genauso kann auch, entgegen den Behauptungen der Verfasser des„Credo", keine Rede sein von irgendeiner „grundlegenden Änderung der

praktischen Tätigkeit" der westeuropäischen Arbeiterparteien: der Mar-xismus hat die gewaltige Bedeutung des ökonomischen Kampfes des Pro-letariats und die Notwendigkeit eines solchen Kampfes von allem Anfangan erkannt, und schon in den vierziger Jahren polemisierten Marx undEngels gegen die utopischen Sozialisten, die die Bedeutung dieses Kamp-fes leugneten.51

Als sich etwa zwanzig Jahre später die Internationale Arbeiterassozia-tion bildete, wurde gleich auf dem ersten Kongreß im Jah re 1866 in Genfdie Frage nach der Bedeutung der Arbeitergewerkschaften und des öko-

nomischen Kampf es auf geworfen. Die Resolution dieses Kongresses zeigtegenau die Bedeutung des ökonomischen Kampfes auf, wobei sie die Sozia-listen und die Arbeiter einerseits vor einer Übertreibung seiner Bedeutung(die zu jener Zeit bei den englischen Arbeitern zu bemerken war), ander-seits vor einer Unterschätzung seiner Bedeutung warnte (die sich bei denFranzosen und bei den Deutschen, besonders bei den Lassalleanern, be-merkbar machte). Die Resolution erkannte die Arbeitergewerkschaftennicht nur als gesetzmäßige, sondern auch als notwendige Erscheinung im

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170 W.1. Centn

Kapitalismus a n; sie stellte fest, d aß sie für die Organisierung der Arbeiter-

klasse in ihrem täglichen Kampf gegen das Kapital und für die Beseiti-gung der Lohnarbeit äußerst wichtig sind. Die Resolution stellte fest,daß die Arbeitergewerkschaften ihre Aufmerksamkeit nicht ausschließlichauf den „unmittelbaren Kampf gegen das Kapital" lenken sollen, daß siein der allgemeinen politischen und sozialen Bewegung der Arbeiterklassenicht beiseite stehen dürfen; sie dürfen sich keine „eng begrenzten" Zielestecken, sie müssen vielmehr die allgemeine Befreiung der unterdrücktenMillionen des arbeitenden Volkes erstreben. Seit jener Zeit wurde in denArbeiterparteien der verschiedenen Länder wiederholt die Frage aufge-

worfen — und sie wird natürlich noch mehr als einmal aufgeworfen wer-den —, ob im gegebenen Zeitpunkt dem ökonomischen oder dem poli-tischen Kampf des Proletariats etwas mehr oder etwas weniger Aufmerk-samkeit zu schenken sei; die allgemeine oder prinzipielle Frage stehtjedoch auch heute so, wie sie vom Marxismus gestellt wurde. Die Über-zeugung, daß der einheitliche Klassenkampf notwendigerweise den poli-tischen und den ökonomischen Kampf in sich vereinigen muß, ist derinternationalen Sozialdemokratie in Fleisch und Blut übergegangen. Diegeschichtliche Erfahrung zeugt ferner unwiderleglich davon, daß das

Fehlen der Freiheit oder die Unterdrückung der politischen Rechte desProletariats es stets notwendig machen, den politischen Kampf in denVordergrund zu stellen.

Noch weniger kann von einer irgendwie wesentlichen Änderung in derStellung der Arbeiterpartei zu den übrigen oppositionellen Parteien dieRede sein. Auch hier hat der M arxismu s die richtige Position gezeigt, dieebenso weit entfernt ist von einer Übertreibung der Bedeutung der Politikund von Verschwörertum (Blanquismus usw.) wie von einem geringschät-zigen Verhalten zur Politik oder von ihrer Begrenzung auf ein opportu-

nistisches, reformatorisches soziales Flickwerk (Anarchismus, utopischerund kleinbürgerlicher Sozialismus, Staatssozialismus, Kathedersozialismususw.). Das Proletariat m uß die Bildung selbständiger politischer A rbeiter-parteien anstreben, deren Hauptz iel die Ergreifung der politischen M achtdurch das Proletariat zwecks Aufbau der sozialistischen Gesellschaft seinmuß. Die anderen Klassen und Parteien soll das Proletariat keineswegsals „eine reaktionäre Masse"5 2 betrachten: es muß im Gegenteil am ge-samten politischen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen, die fort-

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Tratest russischer Sozialdemokraten 171

schriftlichen Klassen und Parteien gegen die reaktionären unterstützen,

jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehende Ordnung unterstützen,der Verteidiger jeder unterdrückten Völkerschaft oder Rasse, jeder ver-folgten Glaubenslehre, des rechtlosen Geschlechts usw. sein. Die Aus-führungen der Verfasser des „Credo" über dieses Thema zeugen nur vondem Bestreben, den Klassencharakter des Kampfes des Proletariats zuvertuschen, diesen Kampf durch irgendeine sinnlose „Anerkennung derGesellschaft" zu lähmen, den revolutionären Marxismus auf eine ge-wöhnliche Reformströmung zu reduzieren. Wir sind überzeugt, daß diegewaltige Mehrheit der russischen Sozialdemokraten eine derartige Ent-

stellung der Grundprinzipien der Sozialdemokratie unbedingt ablehnenwird. Die unrichtigen Prämissen bezüglich der westeuropäischen Arbei-terbewegung führen die Verfasser des „Credo" zu noch unrichtigeren„Schlußfolgerungen für Rußland".

Die Behauptung, die russische Arbeiterklasse habe „sich noch keinepolitischen Aufgaben gestellt", zeugt nur von Unkenntnis der russischenrevolutionären Bewegung. Schon der im Jahre 1878 gegründete „Nord-russische Arbeiterbund"53 und der im Jahre 1875 gegründete „Südrus-sische Arbeiterbund"51 haben in ihrem Programm die Forderung nach

politischer Freiheit aufgestellt. Nach der Reaktion der achtziger Jahre hatdie Arbeiterklasse in den neunziger Jahren wiederholt dieselbe Forderungerhoben. Die Behauptung, „das Gerede von einer selbständigen politi-schen Arbeiterpartei ist nichts anderes als ein Produkt der Übertragungfremder Aufgaben, fremder Resultate auf unseren Boden", zeugt nur vonvölliger Verkennung der historischen Rolle der russischen Arbeiterklasseund der dringendsten Aufgaben der russischen Sozialdemokratie. Daseigene Programm der Verfasser des „Credo" läuft offenbar darauf hin-aus, die Arbeiterklasse solle sich, die „Linie des geringsten Widerstands"

beschreitend, auf den ökonomischen Kampf beschränken, während die„liberal-oppositionellen Elemente" unter „Beteiligung" der Marxisten für„Rechtsformen" kämpfen würden. Die Verwirklichung eines derartigenProgramms wäre für die russische Sozialdemokratie gleichbedeutend mitpolitischem Selbstmord, gleichbedeutend mit einer ungeheuerlichen Hem-mung und Herabwürdigung der russischen Arbeiterbewegung und derrussischen revolutionären Bewegung (die beiden letzten Begriffe sind füruns gleichbedeutend). Schon allein die Tatsache, daß ein solches Pro-

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172 'WJ. Lenin

gramm auftauchen konnte, zeigt, wie begründet die Befürchtungen eines

der Vorkäm pfer der russischen Sozialdem okratie, P . B. Ax elrod s, w aren ,als er Ende 1897 von der Möglichkeit der folgenden Perspektive schrieb:

„Die Arbeiterbewegung verläßt nicht das enge Flußbett d«r rein wirtschaft-lichen Zusammenstöße der Arbeiter mit den Unternehmern, und an und fürsich, in ihrer Gesamtheit, fehlt ihr der politische Charakter; im Kampf für diepolitische Freiheit aber folgen die fortgeschrittenen Schichten des Proletariatsden revolutionären Zirkeln und Fraktionen der sogenannten Intelligenz." (Axel-rod, „Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und der Taktik der russischen.Sozialdemokraten", Genf 1898, S. 19.)

Die russischen Sozialdemokraten müssen dem ganzen Ideenkreis, derim „Credo" seinen Ausdruck gefunden hat, entschieden den Krieg er-klären, da diese Ideen geradeswegs zur Verwirklichung einer solchenPerspektive führen. Die russischen Sozialdemokraten müssen alle Kräfteanstrengen, damit die andere Perspektive verwirklicht werde, die vonP . B. Ax elrod in den folgenden W ort en dargelegt w ird :

„Die andere Perspektive: Die Sozialdemokratie organisiert das russischeProletariat zu einer selbständigen politischen Partei, die für die Freiheitkämpft, zum 7eil in einer Reihe und im Bunde mit den bürgerlichen revolutio-

nären Fraktionen (insofern solche vorhanden sein werden), zum anderen Teilaber, indem sie die Elemente aus der Intelligenz, die dem Volke am meistenergeben und am revolutionärsten sind, direkt in ihre Reihen zieht oder mitsich reißt." (Ebenda, S. 20.)

Z u derselben Z eit, da P. B. Ax elrod diese Zeilen schrieb, zeigten dieErklärungen der Sozialdemokraten in Rußland deutlich, daß sie in ihrergewaltigen Mehrheit auf demselben Standpunkt stehen. Allerdings neigteeine Zeitung der Petersburger Arbeiter, die „Rabotsdiaja Mysl" 5 5 , wiees schien, den Ideen der Verfasser des „Credo" zu, da sie leider in ihrem

programmatischen Leitartikel (Nr. 1, Oktober 1897) den völlig falschenund dem Sozialdemokratismus widersprechenden Gedanken aussprach,daß „die ökonomische Grundlage der Bewegung" „durch das Bestreben,das politische Ideal niemals zu vergessen, verwischt werden" könne.Gleichzeitig hat sich aber eine andere Zeitung der Petersburger Arbeiter,„St. Peterburgski Rabotschi Li sto k" 5 6 (N r. 2, September 1897), ent-schieden dafür ausgesprochen, daß „nur eine straff organisierte und zah-lenmäßig s tarke Arbeiterpartei . . . die Selbstherrschaft s türzen kann",

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"Protest russisdher Sozialdemokraten 173

daß „die zu einer starken Partei organisierten" Arbeiter „sich und ganzRußland von jeglicher politischen und ökonomischen Unterdrückung be-

freien werden". Die dritte Zeitung, die „Rabotschaja Gaseta" 5 7 , schriebim Leitartikel ihrer N r. 2 (N ove m ber 18 97) : „Der Kampf gegen dieautokratische Regierung, der Kampf für politische Freiheit ist die nächsteAufgabe der russischen Arbeiterbewegung." „Die russische Arbeiter-bewegung wird ihre Kräfte verzehnfachen, wenn sie als einheitliches, ge-schlossenes Ganzes mit einem gemeinsamen Namen und einer geschlos-senen Organisation au ftr i t t . . ." „Die einzelnen Arbeiterzirkel müssenzu einer gemeinsamen Partei werden." „Die russische Arbeiterpartei wirdeine sozialdemokratische Partei sein." Die völlige Übereinstimmung der

überwältigenden Mehrheit der russischen Sozialdemokraten gerade mitdieser Überzeugung der „Rabotschaja Gaseta" ist auch daraus ersichtlich,daß der im Frühjahr 1898 abgehaltene Parteitag der russischen Sozial-d e m o k r a t e n5 8 die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands" grün-dete, ihr Manifest veröffentlichte und die „Rabotschaja Gaseta" als dasoffizielle Parteiorgan anerkannte. Die Verfasser des „Credo" machen alsoeinen gewaltigen Schritt zurück hinter den Stand der Entwicklung, dendie russische Sozialdemokratie bereits erreicht ha t un d dem sie im „M ani-fest der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands" Ausdruck ver-

lieh. Wenn die wütende Verfolgung seitens der russischen Regierungdazu geführt hat, daß die Tätigkeit der Partei jetzt vorübergehendschwächer geworden ist und ihr offizielles Organ zu erscheinen auf-hörte, so besteht die Aufgabe aller russischen Sozialdemokraten darin,alle Kräfte anzustrengen, um die Partei endgültig zu festigen, ein Partei-programm auszuarbeiten und ihr offizielles Organ wieder herauszubrin-gen. Angesichts des ideologischen Schwankens, von dem die Tatsachezeugt, daß solche Programme wie das oben untersuchte „Credo" auftau-chen kö nnen , halten wir es für be sonders notw endig , die folgenden G run d-

prinzipien zu betonen, die im „Manifest" dargelegt sind und für die rus-sische Sozialdemokratie gewaltige Bedeutung haben. Erstens, die russischeSozialdemokratie „will eine Klassenbewegung der organisierten Arbeiter-massen sein und bleiben". Daraus folgt, daß die Devise der Sozialdemo-kratie sein muß: Unterstützung der Arbeiter nicht nur im ökonomischen,sondern auch im politischen Kampf; Agitation nicht nur auf der Grund-lage der nächstliegenden wirtschaftlichen Nöte, sondern auch auf der

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174 T W . 1 . Lenin

Grundlage aller Erscheinungsformen politischer Unterdrückung; Propa-gierung nicht nur der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus, sondern

auch Propagierung der demokratischen Ideen. Das Banner der Klassenbe-wegung der Arbeiter kann n ur die Theorie des revolutionären Marxismussein, und die russische Sozialdemokratie muß für die Weiterentwicklungdieser Theorie und ihre Anwendung in der Praxis sorgen, wobei sie diesezugleich gegen jene Entstellungen und Verflachungen zu schützen hat,denen „zur Mode gewordene Theorien" (und die Erfolge der revolutio-nären Sozialdemokratie in Rußland haben den Marxismus bereits zueiner „Mode"theorie gemacht) so oft unterliegen. Während sie gegen-wärtig alle ihre Kräfte auf die Arbeit unter den Fabrik- und Bergarbeitern

konzentriert, darf die Sozialdemokratie nicht vergessen, daß mit der Aus-dehnung der Bewegung sowohl die Hausarbeiter als auch die Kustare*,sowohl die Landarbeiter als auch die Millionen der ruinierten und Hun-gers sterbenden Bauernschaft in die Reihen der von ihr organisierten Ar-beitermassen einbezogen werden müssen.

Zweitens: „Der russische Arbeiter muß und wird die Sache der Er-oberung politischer Freiheit auf seinen starken Schultern zum Siege tra-gen." Die Sozialdemokratie, die den Sturz des Absolutismus zu ihrernächsten Aufgabe macht, muß Vorkämpferin der Demokratie sein und

schon allein deshalb allen demokratischen Elementen der russischen Be-völkerung jedwede Unterstützung erweisen und sie so als Verbündetefür sich gewinnen. Nur eine selbständige Arbeiterpartei kann im Kampfgegen die Selbstherrschaft ein festes Bollwerk sein, und nur im Bunde miteiner solchen Partei, nur mit ihrer Unterstützung, können alle übrigenKämpfer für die politische Freiheit aktiv hervortreten.

Drittens und letztens: „Als sozialistische Bewegung und Richtung führtdie Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands das Werk und die Tra-ditionen der gesamten vorausgegangenen revolutionären Bewegung Ruß-

lands weiter; die Sozialdemokratie geht, indem sie der Partei in ihrerGesamtheit die Erringung der politischen Freiheit zur wichtigsten dernächstliegenden Aufgaben macht, dem Ziel entgegen, das schon die ruhm-reichen Kämpfer des alten ,Volkswillen'59 klar umrissen haben." DieTraditionen der gesamten vorausgegangenen revolutionären Bewegungverlangen, daß die Sozialdemokratie jetzt alle ihre Kräfte konzentriert

*~Siehe Note auf S. 9 dieses Bandes. Der Tibers.

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Protest russischer Sozialdemokraten 175

auf die Organisierung der Partei, auf die Festigung der Disziplin in derPartei und auf die Entwicklung der konspirativen Technik. Wenn schon

die Mitglieder des alten „Volkswillen" in der russischen Geschichte einegewaltige Rolle zu spielen vermochten, obgleich die wenigen Helden nurvon einer dünnen Gesellschaftsschicht unterstützt wurden und obgleicheine keineswegs revolutionäre Theorie der Bewegung als Banner diente,dann wird die Sozialdemokratie, die sich auf den Klassenkampf desProletariats stützt, fähig sein, unbesiegbar zu werden. „Das russischeProletariat wird das Joch der Selbstherrschaft abwerfen, um mit destogrößerer Energie den Kampf gegen das Kapital und die Bourgeoisie biszum vollen Siege des Sozialismus fortzusetzen."

Wir fordern alle sozialdemokratischen Gruppen und alle Arbeiterzirkelin Rußland auf, das oben wiedergegebene „Credo" sowie unsere Resolu-tion zu erörtern und zu der aufgeworfenen Frage in klarer Form Stellungzu nehmen, um alle Meinungsverschiedenheiten zu beseitigen und dieOrganisierung und Festigung der Sozialdemokratischen ArbeiterparteiRußlands zu beschleunigen.

Die Resolutionen der Grup pen und Zirkel kön nten dem „A uslandsbundrussischer Sozialdemokraten" mitgeteilt werden, der gemäß Punkt 10des vom Parteitag der russischen Sozialdemokraten im Jahre 1898 ge-

faßten Beschlusses ein Teil der Sozialdemokratischen P artei Rußlands undihr Vertreter im Ausland ist.

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REZENSION

S. N. PROKOPOWITSCH, Die Arbeiterbewegung im Westen60

„...sich der Sozialwissenschaft zuzuwenden und ihrem angeblichenSchluß, daß die kapitalistische Gesellschaftsordnung kraft der sich in ihrentwickelnden Widersprüche unaufhaltsam ihrem eigenen Untergang zu-strebt. Die notwendigen Erläuterungen finden wir in Kautskys ,ErfurterProgramm'." (147.) Bevor wir auf den Inhalt der von Herrn Prokopo-witsch angeführten Stelle eingehen, wollen wir die folgende sonderbareEigenheit vermerken, die für Herrn Prokopowitsch und ihm ähnlicheReformatoren der Theorie äußerst charakteristisch ist. Warum eigent-lich sucht unser „kritischer Forscher", der sich der „Sozialwissenschaft"

zuwendet, „Erläuterungen" in einem populären Buch Kautskys und nir-gendwo sonst? Bildet er sich denn wirklich ein, dieses Buch enthalte dieganze „Sozialwissenschaft" ? Er weiß sehr wohl, daß Kautsky ein „treuerHüter der Traditionen von Marx" (I, 187) ist, daß gerade in den ökono-mischen Abhandlungen von Marx die Darstellung und Begründung der„Schlußfolgerungen" einer bestimmten Schule der „Sozialwissenschaft"gesucht werden muß, tut aber so, als ob er selbst das nicht wüßte. Wassollen wir von einem „Forscher" halten, der sich auf Ausfälle gegen die„Hüter" der Theorie beschränkt, in seinem ganzen Buch aber kein ein-

ziges Mal wagt, sich offen und direkt mit dieser Theorie selbst ausein-anderzusetzen?

An der von Herrn Prokopowitsch zitierten Stelle spricht Kautsky da-von, daß die technische Umwälzung und die Anhäufung von Kapitalimmer rascher und rascher voranschreiten, daß die Erweiterung der Pro-duktion wegen der Grundeigenschaften des Kapitalismus notwendig undununterbrochen notwendig ist, daß dabei aber die Ausdehnung des

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Sechste Seite von W . I. Lenins M anusk ript„Rezension über das Buch von S. N. Prokopowitsch"

Ende 1899

Terfeleinert

12 Lenin, Werk e, Bd. 4

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Rezension über das Budh von S. JV. Trokopowitsdb 179

Marktes „seit einiger Zeit viel zu langsam vor sich geht"; „es scheint der

Augenblick nahe zu sein, wo der Markt der europäischen Industrie sichnicht nur nicht mehr erweitern, sondern wo er anfangen wird, sich zu ver-engern. Das hieße aber nichts anderes als der Bankrott der ganzen kapi-talistischen Gesellschaft." Herr Prokopowitsch „kritisiert" „die Schluß-folgerungen der Sozialwissenschaft" {d. b. Kautskys Hinweis auf einesder von Marx entdeckten Entwicklungsgesetze): „In dieser Begründungdes unvermeidlichen Untergangs der kapitalistischen Gesellschaft spieltder Gegensatz zwischen ,dem ständigen Drang zur Erweiterung der Pro-duktion und der immer langsameren Erweiterung des Marktes sowie

schließlich seiner Verengerung' die Hauptrolle. Kautsky zufolge muß die-ser Widerspruch die kapitalistische Gesellschaftsordnung zugrunde rich-ten. Nun setzt aber doch" (man höre!) „Erweiterung der Produktion dieprodu ktive Konsumtion' eines Teils des Meh rwerts voraus — d. h. zunächstseine Realisation, dann seine Verausgabung für Maschinen, Baulichkeitenusw. zwecks neuer Produktion. Mit anderen Worten, die Erweiterung derProduktion steht in engstem Zusammenhang mit dem Vorhandensein einesMarktes für die bereits produzierten W aren ; deshalb ist eine ständige Er-weiterung der Produktion bei relativer Verengerung des Marktes ein Dingder U nmöglichkeit." (148.) H err Prokopowitsch ist mit seinem Exkurs indas Gebiet der „Sozialwissenschaft" nun so zufrieden, daß er gleich in dernächsten Zeile mit herablassender Geringschätzung von einer ^wissen-schaftlichen" (in Anführungszeichen) Begründung des Glaubens usw. rede t.Eine derartige Husarenkritik wäre empörend, wenn sie nicht vor allemund mehr als alles ergötzlich wäre. Der gute Herr Prokopowitsch hatetwas läuten hören, weiß aber nicht, wo die Glocken hängen. Herr Pro-kopowitsch hat von der abstrakten Realisationstheorie gehört, die in derrussischen Literatur in letzter Zeit heftig diskutiert worden ist, wobei dieRolle der „produktiven Konsumtion" wegen der Irrtümer der volkstüm-lerischen Ökonomie besonders unterstrichen wurde. Herr Prokopowitsch,der diese Theorie nicht rech* verstanden hat, bildet sich ein, sie leugne (!)die grundlegenden und elementaren Widersprüche im Kapitalismus, aufdie Kautsky hier hinweist. Hört man Herrn Prokopowitsch, so müßteman glauben, die „produktive Konsumtion" könne sich völlig unabhängigvon der individuellen Konsumtion entwickeln (in der individuellen Kon-sumtion aber spielt die Konsumtion der Massen die vorherrschende Rolle),

12*

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180 19. J.Lenin

d. h. , daß dem Kapitalismus keinerlei Widerspruch zwischen Produktion

und Konsumtion innewohne. Dies ist einfach absurd, und gegen eine der-artige Entstellung haben sich Marx und seine russischen Anhänger klarausgesprochen.* Aus der Tatsache, daß „Erweiterung der Produktionproduktive Konsumtion voraussetzt", folgt keineswegs die bürgerlich-apologetische Theorie, zu der unser „kritischer Forscher" gelangt, sondernim Gegenteil, aus ihr folgt gerade der dem Kapitalismus eigene und not-wendigerweise seinen Untergang herbeiführende Widerspruch zwischendem Drang nach schrankenloser Ausdehnung der Produktion und derBeschränkung der Konsumtion.

Es verlohnt sich ferner, im Zusammenhang mit dem Dargelegten denfolgenden interessanten Umstand zu vermerken. Herr Prokopowitsch istein eifriger Anhänger Bernsteins, dessen Zeitschriftenartikel er seiten-lang zitiert und übersetzt. Bernstein empfiehlt in seinem bekannten Buch„Die Voraussetzungen etc." dem deutschen Publikum Herrn S. Prokopo-witsch sogar als seinen russischen Anhänger, wobei er jedoch einen Vor-behalt macht, dessen Sinn darin besteht, daß Herr Prokopowitsch mehrBernsteinianer ist als Bernstein selbst. N un ist es übe raus kurio s, daß be ide,sowohl Bernstein als auch sein russischer Nachbeter, die Realisations-

theorie entstellen, jedoch in diametral entgegengesetzten Richtungen, sodaß sie sidb gegenseitig widerlegen. Erstens hat Bernstein bei Marx einen„Widerspruch" darin gefunden, daß er sich gegen die Krisentheorie vonRodbertus wendet, gleichzeitig aber für den „letzten Grund aller wirk-lichen Krisen" „die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen"erklärt. In Wirklichkeit jedoch besteht hier gar kein Widerspruch, wieich bereits an anderen Stellen zu zeigen Gelegenheit hatte („Studien",S. 3 0 * * ; „Die Entwicklung des Kapitalismus in Ru ßlan d", S. 19*** ).Zweitens urteilt Bernstein ganz genauso wie bei uns Herr W. W., daßdie riesige Zunahme des Mehrprodukts notwendig eine zahlenmäßigeVermehrung der Besitzenden (oder eine Erhöhung des Wohlstands der

* Siehe meinen Artikel im „Nautschnoje Obosrenije", August 1899, be-sonders S. 1572 (siehe den vorliegenden Band, S. 64—83, besonders S. 75Die Red.) und die „Entwicklung des Kapitalismus in Ru ßlapd ", S. 16 ff. (sieheW erke , 4. Ausgabe, Bd. 3, S- 32ff., russ. Die Red.}.

** Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 2, S. 148/149, russ. Die Red.*** Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 3, S. 36, russ. Die Red.

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Rezension über das Huäi vo n S. !7V. Prokopowitsdb 181

Arbeiter) bedeuten muß, denn die Kapitalisten und ihre Dienerschaft

(sie!) könnten doch nicht das ganze Mehrprodukt selbst „verzehren"(„Die V oraussetzungen e tc." , S. 51/52). Dieser naive Gedankengangignoriert vollständig die Rolle der produktiven Konsumtion, wie Xautskydas audb in seinem Budo gegen Bernstein gezeigt hat (Kautsky, „GegenBernstein", Abschnitt II — Unterkapitel über „Die Verwendung desMehrwerts"). Nun aber kommt der von Bernstein empfohlene russischeBernsteinianer und sagt genau das Gegenteil, liest Kautsky die Levitenbetreffs der Rolle der „produktiven Konsumtion" und übertreibt dabeidie Marxsche Entdeckung bis zu dem Unsinn, daß sich die produktive

Konsumtion ganz unabhängig von der individuellen Konsumtion ent-wickeln könne! daß die Realisation des Mehrwerts durch dessen Ver-wendung zur Produktion von Produktionsmitteln die in letzter Instanzbestehende Abhängigkeit der Produktion von der Konsumtion und folg-lich den Widerspruch zwischen beiden aufhebe! Der Leser kann sich andiesem Beispiel ein Urteil darüber bilden, ob es wirklich „Forschungen"waren, die Herrn Prokopowitsch nötigten, „die gute Hälfte der theore-tischen Voraussetzungen wieder zu vergessen", oder ob diese „Vergeß-lichkeit" unseres „kritischen Forschers" irgendwelchen anderen Ursachenentspringt.

Ein anderes Beispiel. Auf drei Seiten (25—27) ha t unser Autor die Frageder Bauerngenossenschaften in Deutschland „erforscht". Herr Prokopo-witsch bringt eine Aufzählung der verschiedenen Arten von Genossen-schaften u nd statistische Angaben über ihre rasche Entwicklung (besondersder Molkereigenossenschaften) und erklärt: „Während der Handwerkerschon fast gar nicht mehr im modernen Wirtschaftssystem wurzelt, hatder Bauer in ihm nach wie vor einen stabilen (!) Halt." W ie einfach,nicht wahr? Die Un terernährung der deutschen Bauern, ihre Erschöpfung

durch übermäßige Arbeit, die massenhafte Landflucht — all das sindwahrscheinlich Erfindungen. Es genügt, auf die rasche Entwicklung derGenossenschaften hinzuweisen (besonders der Molkereigenossenschaf-ten, die dazu führen, daß den Bauernkindern die Milch weggenommenwird und daß die Abhängigkeit der Bauern von den Kapitalisten immerstärker wird), um die „Stabilität" der Bauernschaft zu beweisen. „DieEntwicklung der kapitalistischen Verhältnisse in der Fertigungsindustrie,die den Handwerker zugrunde richtet, verbessert die Lage des Bauern.

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182 TV.1 Lenin

Sie" (die Lage?) „ist ein Hindernis für das Eindringen des Kapitalismus

in die Landwirtschaft." Das ist neu! Bisher glaubten wir, gerade die Ent-wicklung des Kapitalismus in der Fertigungsindustrie sei der wichtigsteFaktor, der den Kapitalismus in der Landwirtschaft hervorbringt undweiterentwickelt. Doch Herr Prokopowitsch könnte, genau wie seine deut-schen Vorbilder, mit vollem Recht von sich sagen: nous avons changetout ca, wir haben das alles geändert! Aber ob das auch richtig ist, ihrHerren? Habt ihr wirklich, sei es audh nur etwas, geändert, habt ihrwirklich die Unrichtigkeit auch nur einer einzigen Grundthese der voneuch „vernichteten" Theorie bewiesen und sie durch eine richtigere These

ersetzt? Seid ihr nicht vielmehr zu alten Vorurteilen zurückgekehrt?„.. .Anderseits sichert die Entwicklung derFertigungsindustrie dem BauernNe benverd ienste..." Die Doktrin der Herren W .W . und Konsortenüber den Nebenerwerb der Bauernschaft ersteht wieder auf! Herr Pro-kopowitsch hält es für überflüssig zu erwähnen, daß diese „Nebenver-dienste" in den meisten Fällen die Verwandlung des Bauern in einenLohnarbeiter anzeigen. Er zieht es vor, seine „Forschungsarbeit" mitder tönenden Phrase zu schließen: „Die Lebenssäfte haben die Klasseder Bauernschaft noch nicht verlassen." Freilich hat Kautsky gerade in

bezug auf Deutschland gezeigt, daß die landwirtschaftlichen Genossen-schaften ein Ubergangsstadium zu m 'Kapitalismus sind — aber wir habenja bereits gesehen, wie der grimmige Herr Prokopowitsch Kautsky ver-nichtet hat!

Ein Wiedererstehen der volkstümlerischen Ansichten (volkstümlerischeben von der Schattierung des Herrn W. W.) sehen wir nicht nur an dererwähnten Stelle, sondern auch an sehr vielen anderen Stellen von HerrnProkopowitschs „kritischer Forschungsarbeit". Der Leser weiß wahr-scheinlich, welchen Namen (traurigen Namen) Herr W. W. sich durch

die maßlose Einengung und Verflachung der Lehre des sogenannten„ökonomischen" Materialismus erworben hat: in der „Umarbeitung" desHerrn W. W. bestand diese Lehre nicht darin, daß alle Faktoren letztenEndes auf die Entwicklung der Produktivkräfte zurückzuführen sind,sondern darin, daß man viele äußerst wichtige (wenn auch letzten Endessekundäre) Faktoren vernachlässigen kann. Eine ganz ähnliche Entstel-lung tischt uns auch Herr Prokopowitsch auf, wenn er nachzuweisenversucht, daß Kautsky die Bedeutung der „materiellen Kräfte" nicht ver-

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184 TV.7. Centn

Mit dem gleichen Erfolg, wie in dem oben untersuchten Fall, vernichtet

Herr Prokopowitsch Kautsky auf S. 56, 150, 156, 198 und vielen ande-ren Seiten. Überhaupt nicht ernst zu nehmen sind die Behauptungen desHerrn Prokopowitsch, Liebknecht habe in den sechziger Jahren seineIdeale bei verschiedenen Gelegenheiten abgeschworen, sie verraten unddgl. mehr (11 1,112 ). Welche ungeheuerlichen Ausmaße die Unverschämt-heit und Anmaßung unseres „Forschers" erreicht, von dem wir bereitseinigermaßen wissen, wie begründet seine Urteile sind, zeigt uns z. B. derfolgende (wiederum nicht gegen den Begründer der Theorie, sondern ge-gen ihren „Hüter" gerichtete) Satz: „Wir würden ganz unernst handeln,

wollten wir plötzlich diese ganze Konzeption der Arbeiterbewegung vomStandpunkt ihrer Ü bereinstimmung mit dem wirklichen Entwicklungsgangder Arbeiterbewegung — vom Standpunkt ihrer Wissensdbaftiidhkeit (her-vorgehoben von Herrn Prokopowitsch) kritisieren. In ihr gibt es undkann es (sie!) kein Gran Wissenschaft geben." (156.) W elch entschiedeneKritik! Es lohnt nicht einmal, diesen ganzen Marxismus zu kritisieren —

und basta. Offenbar haben wir entweder einen Menschen vor uns, demes beschieden ist, eine gigantische Umwälzung in der Wissenschaft her-beizuführen, „von der es kein Gran" in der in Deutschland herrschen-

den Theorie „geben kann", oder ... oder — wie soll man das möglichstmilde sagen? — oder einen Mann, der aus „Vergeßlichkeit" fremde Wört-chen wiederholt. Herr Prokopowitsch wirft sich vor dem allerneuestenGötzen, der diese Wörtchen zum tausendsten Male verkündet hat, mitsolchem Eifer zu Boden, daß er seine Stirn nicht schont. Bei Bernsteinhätten , man beliebe das zu bemerken, „die theoretischen Ansichten einenMangel" (198), der darin besteht, daß er angeblich — kann man sich dasvorstellen? — an die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Theorieglaubt, die die Ziele der handelnden Persönlichkeiten bestimmt. „Kri-tische Forscher" sind von einem so seltsamen Glauben frei. „Die Wissen-schaft wird erst dann frei sein", läßt Herr Prokopowitsch sich verneh-men, „wenn anerkannt wird, daß sie den Zielen der Partei zu dienen,nicht aber sie zu bestimmen hat. Es muß anerkannt werden, daß dieWissenschaft einer praktischen Partei keine Ziele stecken kann." (197.)Wir wollen feststellen, daß Bernstein eben diese Ansichten seines Gesin-nungsgenossen ablehnt. „Ein prinzipielles Programm ist, da es unvermeid-lich zum Dogmatismus führt, nur ein Hindernis auf dem Wege einer ge-

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186 'W.J.Lenin

verlangt — dann würde die sozialistische Partei sich von der gemeinsamen

Arbeiterpartei abtrennen, und die Masse des Proletariats, das auf demBoden der bestehenden Ordnung nach besseren Verhältnissen strebt undwenig an eine ideale Zukunft denkt, würde eine selbständige Arbeiter-partei bilden." D er Leser wird wahrscheinlich abermals glauben...

Qesdhrieben Ende i899.

Zuerst veröffentlidht 1928 im Tiadt dem Manuskript.Cenin-S amm eiband VII.

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187

REZENSION

KARL KAUTSKY, Bernstein und das sozialdemokratische Programm.

Eine Antikritik

. . . In der Einleitung entwickelt Kautsky einige höchst wertvolle undtreffende Gedanken über die Frage, welche Bedingungen eine ernste undgewissenhafte Kritik erfüllen muß, wenn sich die Kritiker nicht in denengen Grenzen seelenloser Pedanterie und Stubengelehrsamkeit abschlie-ßen wollen, wenn sie die innige und,untrennbare Verbindung der „theo-retischen Vernunft" mit der „praktischen Vernunft", mit der praktischenVernunft nicht einzelner Persönlichkeiten, sondern der in verschiedenenVerhältnissen lebenden Bevölkerungsmassen nicht aus dem Auge ver-

lieren wollen. Natürlich, die Wahrheit geht über alles — sagt Kautsky —,und wenn Bernstein aufrichtig zu der Überzeugung gelangt ist, daßseine früheren Ansichten falsch waren, so ist es seine direkte Pflicht, seineMeinung mit aller Bestimmtheit zum Ausdruck zu bringen. Das Unglückist aber gerade, daß es Bernstein an Geradheit und Bestimmtheit fehlt:seine Broschüre ist erstaunlich „enzyklopädisch" (wie bereits AntonioLabriola in einer französischen Zeitschrift bemerkte), sie berührt eineMenge von Problemen, eine Unmasse von Fragen, aber in keiner ein-

zigen dieser Fragen gibt sie eine geschlossene und präzise Darlegung der

neuen Ansichten des Kritikers. Der Kritiker legt lediglich seine Zweifeldar, er läßt die schwierigen und komplizierten Fragen, kaum von ihmberührt, gleich wieder fallen, ohne sie selbständig zu entwickeln. Daherereignet sich auch das Merkwürdige — bemerkt Kautsky sarkastisch —,daß die Anhänger Bernsteins sein Buch auf die verschiedensten Artenauslegen, während die Gegner Bernsteins ihn alle in gleicher Weise auf-fassen. Der Haupteinwurf aber, den Bernstein gegen seine Widersachererhebt, besteht darin, sie verstünden ihn nicht, sie wollten ihn nicht ver-

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190 W.J.-Cemn

englische politische Ökonomie zu studieren. Er näherte sich Engels, der

damals den tatsächlichen Zu stan d der Volkswirtschaft Englands eingehendstudierte. Das Ergebnis dieser gemeinsamen Arbeit, dieser ersten Unter-suchung waren die bekannten Schlußfolgerungen, die beide Schriftstellermit voller Bestimmtheit Ende der vierziger Jahre darlegten.63 Im Jahre1850 ließ Marx sich in London nieder, und die dortigen, wissenschaft-licher Arbeit günstigen Lebensbedingungen bestimmten ihn, „ganz vonvorn wieder anzufangen und mich durch das neue Material kritisch durch-zuarbe iten". („Kritik einiger Gru ndsä tze", 1. Auflage, Seite XI.6* Her-vorgehoben von uns.) Die Frucht dieser zweiten Untersuchung, die eine

lange Reihe von Jahren in Anspruch nahm, waren die Werke: „ZurKritik" (1859) und „Das Kapital" (1867). Die Schlußfolgerung, zu derdas „Kapital" gelangte, stimmt mit der früheren Schlußfolgerung dervierziger Jahre überein, weil die zweite Untersuchung die Ergebnisse derersten bestätigte. „M eine Ansichten, wie man sie immer beurteilen ma g",sind „das Ergebnis gewissenhafter und langjähriger Forschung", schriebMarx im Jahre 1859 (ebenda, S. XII). 65 Sieht das, fragt Kautsky, nachSchlußfolgerungen aus, die fertig waren, lange bevor die Untersuchungbegann?

Von der Frage der Dialektik geht Kautsky zur Frage des Wertes über.Bernstein behauptet, daß die Marxsche Theorie nicht abgeschlossen sei,daß sie viele, „keineswegs völlig aufgeklärte" Probleme offenlasse.Kautsky denkt nicht daran, das zu bestreiten: die Marxsche Theorie istnicht das letzte Wort der Wissenschaft, sagt er. Die Geschichte bringtsowohl neue Tatsachen als auch neue Forschungsmethoden hervor, dieeine Weiterentwicklung der Theorie erfordern. Wenn Bernstein den Ver-such gemacht hätte, sich neuer Tatsachen und neuer Forschungsmethodenzur Weiterentwicklung der Theorie zu bedienen, so wären ihm alle dank-

bar. Aber daran denkt Bernstein gar nicht, er beschränkt sich vielmehrauf billige Ausfälle gegen die Schüler von Marx und auf völlig unklare,rein eklektische Bemerkungen wie die, daß die Grenznutzentheorie derGossen-Jevons-Böhmschen Schule nicht weniger richtig sei als die Marx-sche Theorie des Arbeitsw ertes. Beide The orien behalten für verschiedeneZwecke ihre Bedeutung—sagt Bernstein—, denn Böhm-Bawerk hat a prioriein ebensolches Recht, von der Eigenschaft der Waren, durch Arbeiterzeugt zu sein, zu abstrahieren, wie Marx von der Eigenschaft der

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Rezension über das Budh von X. Xautsky 191

Waren, Gebrauchswert zu sein. Kautsky erklärt, daß es völliger Unsinnist, zwei gegensätzliche, einander ausschließende Theorien als für ver-schiedene Zwecke geeignet anzusehen (wobei Bernstein nicht sagt, fürwelche Zwecke die eine oder die andere Theorie geeignet ist). Die Frageist überhanpt nicht, von welcher Eigenschaft der Waren wir a priori (vonHa use aus*) abstrahieren dürfen , sondern , wie die Grunderscheinun gen dergegenwärtigen, auf Produktenaustausch beruhenden Gesellschaft, wie derWert der Waren, die Funktion des Geldes usw. zu erklären sind. Magdie Marxsche Theorie noch eine Reihe ungeklärter Probleme offenlassen,die Werttheorie Bernsteins aber ist ganz gewiß ein völlig ungeklärtesProblem. Bernstein zitiert weiterhin Buch, der den Begriff der „Grenz-dichtigkeit" der Arbeit konstruiert hat; Bernstein gibt jedoch weder einevollständige Darstellung der Ansichten Buchs noch eine bestimmte Er-klärung über seine eigene Meinung in dieser Frage. Buch aber verwickeltsich offensichtlich in Widersprüche, wenn er den Wert vom Arbeitslohnund den Arbeitslohn vom Wert abhängig macht. Da Bernstein denEklektizismus seiner Bemerkungen über den Wert empfindet, so versuchter, die Eklektik überhaupt zu verteidigen. Er bezeichnet sie als die „Re-bellion des nüchternen Verstandes gegen die jeder Doktrin innewohnendeNeigung, den Gedanken in spanische Stiefel einzuschnüren". Wenn sich

Bernstein die Geschichte der geistigen Entwicklung vergegenwärtigt — ant-wortet Kautsky —, so wird er finden, daß die großen Rebellen gegen dieEinschnürung des Geistes in spanische Stiefel niemals Eklektiker waren,daß ihnen immer das Streben nach Einheit, nach Geschlossenheit derAnschauungen eigen war. Der Eklektiker dagegen ist viel zu schüchtern,um eine Rebellion zu wagen. Wenn ich eine höfliche Verbeugung vorMarx und zu gleicher Zeit eine höfliche Verbeugung vor Böhm-Bawerkmache, so ist das noch lange keine Rebellion! Möge man mir, sagt Kaut-sky, auch nur einen einzigen Eklektiker in der Republik der Geister

nennen, der den Namen eines Rebellen verdient!

Von der Methode zu den Ergebnissen der Anwendung der Methodekommend, geht Kautsky auf die sogenannte Zusammenbruchstheorie*ein, die Theorie des plötzlichen Krachs des westeuropäischen Kapitalis-mus, eines Krachs, den Marx für unvermeidlich gehalten und mit einergewaltigen Wirtschaftskrise verknüpft haben soll. Kautsky erklärt und

* Diese Worte bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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192 W.3.£enin

beweist, daß Marx und Engels niemals eine besondere Zusammenbruchs-

theorie* aufgestellt, daß sie den Zusammenbruch* nicht unbedingt miteiner Wirtschaftskrise verknüpft haben. Das ist eine Entstellung der Geg-ner, die die Marxsche Theorie einseitig auslegen, die sinnlos einzelneStellen aus einzelnen Werken herausgreifen, um dann die „Einseitigkeit"und „Grobheit" der Theorie siegreich zu widerlegen. In Wirklichkeitmachten Marx und Engels die Umgestaltung der ökonomischen Verhält-nisse Westeuropas abhängig von der Reife und Macht der von der neue-sten Geschichte Europas in den Vordergrund gerückten Klassen. Bernsteinversuchte die Behauptung aufzustellen, dies sei nicht die Theorie vonMarx, sondern ihre Auslegung und Erweiterung durch Kautsky,- Kautskyaber widerlegte durch genaue Zitate aus den Marxschen Werken dervierziger und sechziger Jahre sowie durch eine Analyse der Grundideendes Marxismus völlig diesen wirklich rabulistischen Winkelzug Bernsteins,der die Schüler von Marx mit solcher Dreistigkeit der „Apologetik undRabulistik" beschuldigte. Diese Stelle in Kautskys Buch ist besondersinteressant, um so mehr, als einige russische Schriftsteller (zum BeispielHerr Bulgakow in der Zeitschrift „Natschalo") es sehr eilig hatten, die er-wähnte Entstellung der Marxschen Theorie, die Bernstein als „Kritik"servierte, zu wiederholen (diese Entstellung wiederholt auch Herr Proko-powitsch in seinem Buch „D ie Arbeiterbewegung im W esten", St. Peters-burg 1899).

Besonders eingehend untersucht Kautsky die Grundtendenzen der heu-tigen ökonomischen Entwicklung, um die Meinung Bernsteins zu wider-legen, daß diese Entwicklung nicht in der von Marx charakterisiertenRichtung verlaufe. Es versteht sich von selbst, daß das Kapitel „Groß-betrieb und Kleinbetrieb" sowie die anderen Kapitel des KautskyschenBuches, die der ökonomischen Analyse gewidmet sind und ein ziemlich

umfangreiches Zahlenmaterial enthalten, hier nicht ausführlich dargelegtwerden können, so daß wir uns darauf beschränken müssen, kurz aufihren Inhalt hinzuweisen. Kautsky unterstreicht, daß nur von der Rich-tung der Entwicklung im großen und ganzen die Rede ist, keineswegsaber von Einzelheiten und an der Oberfläche liegenden Erscheinungen, diein ihrer Vielgestaltigkeit von keiner Theorie berücksichtigt werden können .(Diese einfache, aber oft vergessene Wahrheit bringt auch Marx in den

* Diese Worte bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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Rezension über das Buch von 7C. 'Kautsky 193

entsprechenden Kapiteln des „Kapitals" dem Leser in Erinnerung.) Durch

eine ausführliche Analyse der Daten der deutschen Berufs- und Betriebs-zählungen von 1882 und 1895 zeigt Kautsky, daß diese Daten die Marx-sche Theorie glänzend bestätigt und den Prozeß der Konzentration desKapitals und der Verdrängung des Kleinbetriebs außer jeden Zweifel ge-stellt haben. Bernstein selbst erkannte noch 1896 (als er selbst noch —

bemerkt Kautsky ironisch — zu der Zunft der Apologeten und Rabulistengehörte) in voller Entschiedenheit diese Tatsache an, jetzt aber übertreib ter die Stärke und Bedeutung des Kleinbetriebs maßlos. Zum Beispiel gibtBernstein die Zahl der Betriebe, die weniger als 20 Arbeiter beschäftigen,mit mehreren Hunderttausend an, wobei er „offenbar in seinem Eifer umeine pessimistische Null zuviel sieht", denn derartige Betriebe gibt es inDeutschland nur 49000. Und wen rechnet dabei die Statistik nicht alleszu den kleinen Unternehmern: Droschkenkutscher, Boten, Totengräber,Obstfrauen, Näherinnen, auch wenn diese bei sich zu Hause für denKapitalisten arbeiten, usw. usf.! Hervorheben wollen wir die in theoreti-scher Hinsicht besonders wichtige Bemerkung Kautskys, nach der diekleinen Handels- und Gewerbebetriebe (in der Art der obengenannten)in der kapitalistischen Gesellschaft oft nur eine Form der relativen Über-völkerung darstellen: ruinierte Kleinproduzenten sowie Arbeiter, diekeine Beschäftigung finden, werden (manchmal zeitweise) zu Kleinhänd-lern und Hausierern, zu Zimmer- und Schlafstellenvermietern (auch dassind „Unternehmungen", die von der Statistik ebenso wie Unternehmun-gen jeder anderen Art registriert werden!) usw. Die Uberfüllung dieserBerufe beweist keineswegs die Lebenskraft des Kleinbetriebs, sondern dasAnwachsen der Armut in der kapitalistischen Gesellschaft. Bernstein aberbeton t und übertreibt die Bedeutung der Meinen „Gewerbetreibenden",wenn das seiner Meinung nach für ihn spricht (in der Frage des Groß-und Kleinbetriebs), und schweigt von ihnen, wenn das gegen ihn spricht

(in der Frage der zunehmenden Armut).

Bernstein wiederholt das auch dem rassischen Publikum längst bekannteGerede, daß die Aktiengesellschaften es „erlauben", das Kapital zu zer-splittern, daß sie seine Konzentration „überflüssig" machen; er führteinige Angaben (vgl. „Shisn" Nr. 3 von 1899) über die Zahl der Klein-aktien an. Kautsky antwortet, daß diese Zahlen überhaupt nichts be-weisen, denn die Kleinaktien Verschiedener Gesellschaften können das

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194 IV. J.Lenin

Eigentum von Großkapitalisten sein (was auch Bernstein zugeben muß).

Zur Bestätigung der Behauptung, die Aktiengesellschaften vergrößertendie Zahl der Besitzenden, führt Bernstein absolut keinerlei Beweise an,und er kann das auch nicht, denn die Aktiengesellschaften äienen inWirklichkeit dazu, das leichtgläubige und weniger vermögende Publikumzum Nutzen der großen Kapitalisten und Spekulanten zu expropriieren.Die steigende Zahl der Aktien weist lediglich darauf hin, daß der Reich-tum die Tendenz hat, die Form der Aktie anzunehmen, über die Vertei-lung dieses Reichtums aber sagt dieses Ansteigen gar nichts, überhaupthat Bernstein die Frage der Zunahme der Zahl der Besitzenden, der Zahl

der Eigentümer erstaunlich leichtfertig behandelt, was aber seine bürger-lichen Anhänger nicht hinderte, gerade diesen Teil seines Buches heraus-zustreichen und zu verkünden, er beruhe auf einem „kolossalen Zahlen-material". Bernstein erwies sich als so geschickt, bemerkt Kautsky ironisch,daß er dieses kolossale Material auf nicht ganz zwei Druckseiten unter-gebracht hat! Er verwechselt Besitzende und Kapitalisten, obwohl dieZunahm e der Z ahl der letzteren von niemand bestritten wurde. Er nimmtDaten über die Einkommensteuer, ignoriert aber ihren fiskalischen Cha-rakter und die Vermischung von Einkommen aus Besitz mit Einkommenaus Gehalt usw. Er vergleicht statistische Zahlen aus verschiedenen Zei-ten, die auf verschiedene Art zustande gekommen und daher nicht ver-gleichbar sind (z. B. über Preußen). Er geht sogar so weit, Angaben überdie wachsende Zahl der Besitzenden in England dem Feuilleton irgend-eines Boulevardblättchens zu entnehmen, das das Jubiläum der KöniginViktoria besingt und mit der Statistik nee plus ult ra* leichtfertig verfährt(und bringt diese Zahlen sogar in Fettdruck, als seinen Haupttrumpf!).Die Quelle dieser Angaben ist unbekannt, ja, es ist überhaupt unmöglich,derartige Angaben auf Grund von Daten über die englische Einkommen-steuer zu erhalten, denn aus diesen Daten lassen sidi die Anzahl der

Steuerzahler und das Gesamteinkommen jedes Steuerzahlers nicht be-stimmen. Kautsky entnimmt einem Buche Kolbs Angaben über die eng-lische Einkommensteuer für die Jahre 1812—1847 und zeigt, daß sie ganzebenso wie die Feuilletondaten Bernsteins eine (scheinbare) Zunahme derZahl der Besitzenden zeigen — und das in einer Zeit, in der in Englanddas furchtbarste Elend des Volkes ungeheuerlich zunahm. Die eingehende

* in höchstem Maße. Die Red.

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Rezension über das Buch von X.Xautsky 195

Analyse der Angaben Bernsteins bringt Kautsky zu der Schlußfolgerung,

daß Bernstein nicht eine einzige Zahl angeführt hat, die wirklich eine Zu-nahme der Zahl der Besitzenden beweist.Bernstein versucht diese Erscheinung auch theoretisch abzuleiten: Die

Kapitalisten können, so sagt er, doch nicht den gesamten Mehrwert, des-sen Menge so kolossal anwächst, selbst verzehren; also wächst die Zahlder Besitzenden, die ihn konsumieren. Es kostet Kautsky keine großeMühe, diesen komischen Gedankengang zu widerlegen, der die MarxscheRealisationstheorie völlig ignoriert (in der russischen Literatur wurdediese Theorie bereits mehrmals dargelegt). Besonders interessant ist, daß

ihn Kautsky nicht nur durch theoretische Erwägungen widerlegt, sondernauch durch konkrete Angaben, die vom Wachstum des Luxus und derVerschwendung in den westeuropäischen Ländern zeugen, von dem Ein-fluß der schnell wechselnden Mode, die diesen Prozeß so verschärft, vonder Masse der Arbeitslosen, von dem gewaltigen Anwachsen der „produk-tiven K onsumtion" des Mehrwerts, d. h. der Anlage von K apital inneuen U nternehm en, besonders von europäischem Kapital in E isenbahnenund anderen Unternehmungen in Rußland, Asien und Afrika.

Bernstein erklärt die Marxsche „Elendstheorie" oder „Verelendungsr

theorie" für allgemein aufgegeben. Kautsky zeigt, daß es sich hier wiederum eine verfälschende Übertreibung der Gegner handelt und Marx einederartige Theorie überhaupt nicht aufgestellt hat. Marx sprach von derZunahme des Elends, der Erniedrigung usw., wobei er zugleich auch aufdie entgegenwirkende Tendenz und auf die realen gesellschaftlichen Kräftehinwies, die allein imstande sind, diese Tendenz hervorzurufen. DieMarxschen Worte von der Zunahme des Elends werden durch die Tat-sachen voll und ganz bestätigt: erstens sehen wir wirklich, daß der Kapi-talismus die Tendenz hat, Elend zu erzeugen und es zu verstärken, einElend, das gewaltige Ausmaße erreicht, wenn d ie obenerwähnte entgegen-wirkende Tendenz fehlt. Zweitens wächst das Elend nicht im physischen,sondern im sozialen Sinne, d. h. in dem Sinne, daß das steigende Ni-veau der Bedürfnisse der Bourgeoisie und der Bedürfnisse der ganzenGesellschaft im Mißverhältnis steht zum Lebensniveau der werktätigenMassen. Bernstein bemerkte zu einer solchen Auffassung des „Elends"ironisch, daß das sozusagen eine Auffassung im Pickwickschen Sinne sei.Kautsky zeigt als Entgegnung hierauf, daß Männer wie Lassalle, Rod-

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196 "W. 1. Lenin

bertus, Engels mit völliger Bestimmtheit auf die Notwendigkeit hinge-

wiesen haben, den Begriff des Elends nicht nur im physischen, sondernauch im sozialen Sinne aufzufassen. Im „Klub der Pickwickier" — parierter die Ironie Bernsteins — versammelt sich, wie ihr seht, keine so übleGesellschaft! Drittens schließlich behalten die Worte von der Zunahmedes Elends ihre ganze Richtigkeit in bezug auf die „Grenzgebiete" desKapitalismus, wobei man das Wort Grenze sowohl im geographischenSinne (Länder, in die der Kapitalismus eben einzudringen beginnt, wobeier oft nicht nur physisches Elend, sondern auch direkten Hunger für dieMasse der Bevölkerung hervorruft) wie auch im ökonomischen Sinne

(Hausindustrie und überhaupt Volkswirtschaftszweige, in denen nochrückständige Produktionsweisen erhalten sind) auffassen muß.

Äußerst interessant und besonders lehrreich für uns Russen ist auchdas Kapitel „Der neue Mittelstand". Hätte Bernstein nur sagen wollen,daß an Stelle der untergehenden kleinen Produzenten ein neuer Mittel-stand — die Intelligenz — entsteht, so hätte er, sagt K autsky, recht gehabt.Kautsky weist darauf hin, daß er schon vor einigen Jahren die große Be-deutung dieser Erscheinung hervorgehoben hat. Der Kapitalismus erhöhtauf allen Gebieten der Volksarbeit mit besonderer Schnelligkeit die Zahl

der Angestellten, seine Nachfrage nach Angehörigen der Intelligenz w irdimmer größer. Diese letztere nimmt unter den anderen Klassen eine eigen-artige Stellung ein, sie schließt sich teilweise — ihren Verbindungen, ihrenAnschauungen usw. nach — der Bourgeoisie an und teilweise — in demMaße, wie der Kapitalismus den Intellektuellen immer mehr und mehrseiner selbständigen Stellung beraub t, ihn in einen abhängigen besoldetenAngestellten verwandelt und sein Lebensniveau zu senken droht — denLohnarbeitern. Die labile, widerspruchsvolle Übergangsstellung der hierbetrachteten Gesellschaftsschicht kommt darin zum Ausdruck, daß jenezwieschlächtigen, eklektischen Anschauungen unter ihr besonders weitverbreitet sind, jener Mischmasch entgegengesetzter Prinzipien und An-sichten, jenes Bestreben, sich in Worten in die erhabensten Sphären zuerheben und die Konflikte der historischen Bevölkerungsgruppen durchPhrasen zu vertuschen — Anschauungen, die Marx vor einem halbenJahrhundert mit seinen Sarkasmen so schonungslos geißelte.

In dem Kapitel über die Krisentheorie zeigt Kautsky, daß M arx keines-wegs eine „Theorie" vom zehnjährigen Zyklus der Industriekrisen auf-

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Rezension über das Budb von JC.Xauisky 197

gestellt, sondern lediglich eine Tatsache konstatiert hat. Daß dieser Zyklus

sich in letzter Zeit ändert, ist von Engels selbst festgestellt worden. Manbehauptet, die Unternehmerkartelle könnten den Krisen entgegenwirken,indem sie die Produktion einschränken und regulieren. Nun, Amerika istdoch ein Land der Kartelle — aber statt einer Einschränkung finden wirdort ein gewaltiges Ansteigen der Produktion. Ferner, wenn die Kartelledie Produktion für den inneren Markt einschränken, erweitern sie dieProduktion für den äußeren Markt, auf dem sie die Waren zu Schleuder-preisen absetzen, während sie den einheimischen Verbrauchern Monopol-preise abnehmen. Unter dem Schutzzollsystem ist dieses Verfahren un-vermeidlich, auf eine Ablösung des Schutzzollsystems durch das Systemdes Freihandels zu rechnen, besteht aber keinerlei Grund. Indem die Kar-telle die kleinen Fabriken schließen, die Produktion konzentrieren undmonopolisieren, technische Neuerungen einführen, verschlechtern sie be-deutend die Lage der Produzenten. Bernstein glaubt, die Spekulation, diezu Krisen führt, werde in dem Maße schwächer werden, wie die Bedin-gungen des Weltmarkts aus unwißbaren zu wißbaren und bekannten Be-dingungen werden; er vergißt aber, daß gerade die „unwißbaren" Be-dingungen der neuen Länder der Spekulation in den alten Ländern einenmächtigen Auftrieb geben. Kautsky zeigt an Hand von statistischen D atendas Anwachsen der Spekulation besonders in den letzten Jahren sowiedie Zunahme der Anzeichen, die eine Krise in nicht sehr ferner Zeitvoraussagen.

Aus dem restlichen Teil des Kautskyschen Buches erwähnen wir dieAnalyse jener Verwirrung, in die Leute geraten, die (ähnlich wie HerrS. Prokopowitsch in dem angeführten Werk) die ökonomische Macht be-stimmter Gruppen mit ihren ökonomischen Organisationen verwechseln;wir erwähnen den Hinweis Kautskys, daß Bernstein Bedingungen der

gegenwärtigen historischen Situation von nur begrenzter Dauer zu einemallgemeinen Gesetz erhebt — die Widerlegung der falschen AnsichtenBernsteins über das Wesen der Demokratie—; ferner die Klarstellung einesstatistischen Fehlers bei Bernstein, der die Zahl der Industriearbeiter inDeutschland mit der Zahl der Wähler verglich, dabei aber die Kleinigkeitvergessen hat, daß in Deutschland nicht alle Arbeiter (sondern nur Män-ner, die mindestens 25 Jahre alt sind) das Stimmrecht haben und daß sichnicht alle an den Wahlen beteiligen. Wir können dem Leser, der sich für

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die Bedeutung des Bernsteinschen Buches und die Polemik, die es hervor-

gerufen hat, interessiert, nur mit allem Nachdruck empfehlen, zu der deut-schen Literatur zu greifen und keinesfalls jenen voreingenommenen undeinseitigen Urteilen der Anhänger der Eklektik zu vertrauen, die in derrussischen Literatur dominieren. W ir haben gehört, daß beabsichtigt ist,einen Teil des behandelten Kautskyschen Buches ins Russische zu über-tragen. Das wäre sehr wünschenswert, ersetzt jedoch nicht die Bekannt-schaft mit dem Original.

Qesdhrieben Ende 1899.

Zuerst veröffentlicht 1928 im TJadb dem Manuskript.Lenin-Sammelband VII.

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ARTIKEL FÜR DIE „RABOTSCHAJA GASETA"66

Qesdhrkben im zw eiten "Halbjahr 1899.

Zuerst veröflentlidot 1925 im Tiado Abschriften vonLenin-Sammelband III. unbekannter Wand.

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202 IV J.Lenin

Sie finden, wie mir geschrieben wird, daß die „alte Strömung stark ist"

und daß keine besondere N otwendigkeit vorliegt, gegen die Bernsteiniadeund ihre russischen Widerspiegelungen zu polemisieren. Ich halte dieseAnsicht für zu optimistisch. Bernsteins öffentliche Erklärung, die M ehrheitder russischen Sozialdemokraten sei mit ihm einverstanden67 ; die Spal-tung zwischen den „jungen" russischen Sozialdemokraten im Auslandund der Gruppe „Befreiung der Arbeit" cs, die sowohl die Gründerin alsauch die Vertreterin und treueste Hüterin der „alten Strömung" ist; dieAnstrengungen der „Rabotschaja Mysl", nur ja irgendein neues Wort zusagen, gegen die „umfassenden" politischen Aufgaben zu kämpfen, die

kleinen Angelegenheiten und dieHandwerlderei zu verherrlichen, über die„revolutionären Theorien" fad zu ironisieren (Nr. 7, „Im Vorbeigehen");schließlich die völlige Zerfahrenheit der legalen marxistischen Literaturund das eifrige Bestreben des Gros ihrer Vertreter, die modische „Kritik"der Bernsteinianer zu übernehmen — all das zeigt meiner Ansicht nachklar, daß die Wiederherstellung der „alten Strömung" und ihre ener-gische Verteidigung geradezu die Forderung des Tages ist.

Wie ich die Aufgabe der Zeitung und den Plan ihrer Leitung auffasse,werden Sie aus den Artikeln ersehen, und ich möchte sehr gern wissen,

inwieweit wir in dieser Frage solidarisch sind (die Artikel sind leider etwashastig geschrieben: es wäre für midi überhaupt sehr widitig, die äußer-sten Termine für die Ablieferung der Artikel zu kennen).

Gegen die „Rabotschaja Mysl", glaube ich, muß direkt die "Polemik er-öffnet werden, zu diesem Zweck aber würde ich bitten, mir die Num-mern 1/2, 6 und ab 8, außerdem den „Proletarischen Kampf"

69 zu be-sorgen. Die letztere Broschüre brauche ich auch, um sie in der Zeitungzu rezensieren.

Was die Länge betrifft, schreiben Sie, soll ich mir keinen Zwang auf-

erlegen. Ich gedenke, solange eine Zeitung da ist, Zeitungsartikeln denVorzug zu geben und in ihnen sogar Broschürenthemen zu behandeln,wobei idi es mir vorbehalte, diese Artikel dann später zu kleinen Bro-sdiüren umzuarbeiten. Die Themen, mit denen ich mich in nächster Zu-kunft zu befassen gedenke, sind folgende: 1. der Programmentwurf —

ich schicke den Artikel b ald 70; 2 . Fragen der Taktik und der Organisation,die vom kommenden Parteitag der Sozialdemokratisdien ArbeiterparteiRußlands71 zu erörtern sein werden; 3. eine Broschüre über Verhaltungs-

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"Brief an die Redakteurgruppe 203

maßregeln für Arbeiter und Sozialisten in der Freiheit, im Gefängnis und

in der Verbannung. Nach dem Muster der polnischen Broschüre („Ver-haltungsmaßregeln" — ich würde bitten, sie mir, wenn möglich, zu be-sorg en ); 4. übe r Streiks (I — ihre B edeutung, II — die Streikgesetze,III — Übersicht über einige Streiks der letzten Jahre); 5. eine Broschüre„Die Frau und die Arbeitersache" und anderes .

Wünschenswert wäre es, ungefähr zu wissen, über welches Material dieRedaktion verfügt, um Wiederholungen zu vermeiden und keine Fragenin Angriff zu nehmen, die schon „erschöpfend" behandelt wurden.

Ich erwarte die Antwort der Redaktion durch die gleiche übermit-

lungsinstanz. (Außer diesem Weg hatte und habe idn keinen anderen Wegzu Ihrer Qruppe.)

7.TJ-

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U N S E R P R O G R A M M

Die internationale Sozialdemokratie macht gegenwärtig ideologischeSchwankungen durch. Bisher galten die Lehren von Marx und Engels alsdie feste Grundlage der revolutionären Theorie—nunmehr werden überallStimmen laut, diese Lehren seien unzulänglich und veraltet. Wer sicheinen Sozialdemokraten nennt und mit einem sozialdemokratischen Or-gan an die Öffentlichkeit treten will, muß seine Haltung zu dieser Frage,die bei weitem nicht nur die deutschen Sozialdemokraten allein bewegt,

' genau bestimmen.

Wir stehen völlig auf dem Boden der Marxschen Theorie: erst sie hatden Sozialismus aus einer Utopie zur Wissenschaft gemacht, hat dieseWissenschaft auf feste Grundlagen gestellt und den Weg vorgezeichnet,der beschritten werden muß, um diese Wissenschaft weiterzuentwickelnund in allen Einzelheiten auszuarbeiten. Sie hat das Wesen der modernenkapitalistischen Wirtschaft aufgedeckt, indem sie klarstellte, auf welcheWeise die Versklavung von Millionen Besitzloser durch eine HandvollKapitalisten, die den Grund und Boden, die Fabriken, die Bergwerke usw.besitzen, durch die Lohnarbeit, den Kauf der Arbeitskraft, verhüllt wird.

Sie hat gezeigt, daß die ganze Entwicklung des modernen Kapitalis-mus dahin geht, den Kleinbetrieb durch den Großbetrieb zu verdrängen,und Bedingungen schafft, die eine sozialistische Gesellschaftsordnung mög-lich und notwendig machen. Sie hat gelehrt, unter der Hülle eingewurzel-ter Sitten, politischer Intrigen, verzwickter Gesetze, schlau erdachterLehren den 'Klassenkampf zu sehen, den Kampf zwischen den besitzendenKlassen aller Art und der Masse der Besitzlosen, dem Proletariat, das ander Spitze aller Besitzlosen steht. Sie hat die wirkliche Aufgabe der

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206 W.1. Lenin

wegs als etwas Abgeschlossenes und Unan tastba res; wir sind im Gegenteil

davon überzeugt, daß sie nur das Fundament der Wissenschaft gelegt hat,die die Sozialisten nach allen Richtungen weiterentwickeln müssen, wennsie nicht hinter dem Leben zurückbleiben wollen. Wir sind der Meinung,daß es für die russischen Sozialisten besonders notwendig ist, die Theorievon Marx selbständig weiterzuentwickeln, denn diese Theorie liefertlediglich die allgemeinen £eitsätze, die im einzelnen auf England andersangewandt werden als auf Frankreich, auf Frankreich anders als aufDeutschland, auf Deutschland anders als auf R ußland. Darum werden wirin unserer Zeitung gern Artikel über theoretische Fragen bringen und for-

dern alle Genossen zu einer offenen Erörterung der strittigen Punkte auf.Welches sind nun die Hauptfragen, die bei der Anwendung des allenSozialdemokraten gemeinsamen Programms auf Rußland entstehen? Wirhaben schon gesagt, daß das Wesen dieses Programms darin besteht, denKlassenkampf des Proletariats zu organisieren und diesen Kampf zuleiten, dessen Endziel die Eroberung der politischen Macht durch das P ro-letariat und die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft ist. Der Klas-senkampf des Proletariats besteht aus dem ökonomischen Kampf (Kampfgegen einzelne Kapitalisten oder gegen einzelne Kapitalistengruppen fürdie Verbesserung der Lage der Arbeiter) und dem politischen Kampf(Kampf gegen die Regierung für die Erweiterung der Rechte des Volkes,d. h. für Dem okratie, sowie für die Erweiterung der politischen Macht desProletariats). Mandie russisdien Sozialdemokraten (zu ihnen gehörenoffenbar diejenigen, die die Zeitung „Rabotschaja Mysl" leiten) haltenden ökonomischen Kampf für unvergleichlich wütiger, den politischenKampf aber vertagen sie offenbar auf eine mehr oder weniger ferne Zu-kunft. Eine solche Ansicht ist völlig falsch. Alle Sozialdemokraten stim-men darin überein, daß es notwendig ist, den ökonomischen Kampf derArbeiterklasse zu organisieren; daß es notwendig ist, auf diesem Gebietunter den A rbeitern Agitation zu betreiben, d. h. den A rbeitern in ihremtäglichen Kampf gegen die Unternehmer zu helfen, ihr Augenmerk aufalle Arten und Fälle von Unterdrückung zu lenken und ihnen auf dieseWeise die Notwendigkeit des Zusammenschlusses klarzumachen. Aberüber dem ökonomischen Kampf den politischen Kampf vergessen hießeden grundlegenden Leitsatz der internationalen Sozialdemokratie auf-geben, hieße vergessen, was die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung

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"Unsere nädiste Aufgabe 213

keit der Sozialdemokraten in der ganzen nächsten Zeit gerichtet sein

muß. Ohne ein solches Organ bleibt die lokale Arbeit enge „Handwerk-lerei". D ie Gründung der Partei bleibt, w enn nicht eine richtige Vertretungdieser Partei in einer bestimmten Zeitung organisiert wird, zu einem be-deutenden Teil ein leeres W or t. Der ökonomische Kampf, der nicht du rdiein Zentralorgan zusammengefaßt wird, kann nicht zum Klassenkampfdes gesamten russischen Proletariats w erden. Die Führung des politisdienKampfes ist unmöglich, wenn nicht die ganze Partei zu allen Fragen derPolitik Stellung nimmt und den Kampf in seinen einzelnen Erscheinungs-formen lenkt. Die Organisierung der revolutionären Kräfte, ihre Diszipli-

nierung und die Weiterentwicklung der revolutionären Technik sind un-möglidi ohne Erörterung aller dieser Fragen in einem Zentralorgan, ohnekollektive Ausarbeitung bestimmter Arbeitsformen un d -regeln, ohne die— durch Vermittlung des Zentralorgans herzustellende — Verantwortlidb-keit jedes Parteimitglieds vor der ganzen Partei.

Wenn wir von der Notwendigkeit sprechen, alle Kräfte der Partei —

alle literarischen Kräfte, alle organisatorisdien Fähigkeiten, alle materiel-len Mittel usw. — auf die Gründung und richtige Leitung eines Organsder ganzen Partei zu konzentrieren, so denken wir keineswegs daran,

die anderen Arten der Tätigkeit, z. B. lokale Agitation, Kundgebungen,Boykott, Verfolgung von Spionen, Verfolgung einzelner Vertreter derBourgeoisie und der Regierung, demonstrative Streiks usw. und dgl. mehr,in den Hintergrund zu drängen. Im Gegenteil, wir sind davon überzeugt,daß alle diese Arten der Tätigkeit die Qrundlage bilden für die Tätigkeitder Partei, aber ohne ihre Zusammenfassung in einem Organ der ganzenPartei verlieren alle diese Formen des revolutionären Kampf es neunZebn-tel ihrer Bedeutung, führen sie nicht zur Sammlung gemeinsamer Erfah-rungen der Partei, zur Schaffung einer Parteitradition und Parteikon-tinuität. Das Parteiorgan wird nicht nur nicht mit dieser Tätigkeit kon-kurr ieren, es wird vielmehr einen gewaltigen Einfluß auf ihre Ausbreitung,Festigung und Systematisierung ausüben.

Die Notwendigkeit, alle Kräfte auf die Organisierung eines regelmäßigerscheinenden und zuzustellenden Parteiorgans zu konzentrieren, ist be-dingt durch die besondere Lage der russisdien Sozialdemokratie, die sichvon der Lage der Sozialdemokratie anderer europäischer Länder undder alten russischen revolutionären Parteien unterscheidet. Die Arbeiter

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216 W.l. Lenin

wir in dieser Beziehung hinter den alten russischen revolutionären Par-

teien zurückgeblieben sind und alle Kräfte aufbieten müssen, um sie ein-zuholen und zu überholen. O hne V erbesserung der Organisation ist jederFortschritt unserer Arbeiterbewegung überhaupt, ist insbesondere auchdie Bildung einer aktiven Partei mit einem richtig funktionierenden Organunmöglich. Dies einerseits. Anderseits aber müssen die jetzigen Organeder Partei (Organe sowohl im Sinne von Institutionen und Gruppen alsauch im Sinne von Zeitungen) den Fragen der Organisation mehr Auf-merksamkeit widmen und die lokalen Gruppen in dieser Richtung beein-flussen.

Die lokale, handwerklerische Arbeit führt stets zu einer übermäßigenFülle persönlicher Verbindungen, zum Zirkelwesen, wir aber sind bereitsaus dem Zirkelwesen herausgewachsen, das für die jetzige Arbeit zu engwird und zu einer übermäßigen Verausgabung von Kräften führt. Nurdie Verschmelzung zu einer Partei wird es ermöglichen, die Prinzipiender Arbeitsteilung und der Kräfteersparnis systematisch durchzuführen —

dies aber müssen wir erreichen, um die Zahl der Opfer zu vermindernund ein mehr oder minder festes Bollwerk gegen das Joch der autokra-tischen Regierung und ihre wütenden Verfolgungen zu schaffen. Gegenuns, gegen die kleinen Gruppen von Sozialisten, die sich im weiten rus-sischen „Untergrund" befinden, ist der gigantische Mechanismus einesder mächtigsten Staaten der Gegenwart aufgeboten, der alle Kräfte an-spannt, um den Sozialismus und die Demokratie zu erdrosseln. Wir sindüberzeugt, daß wir diesen Polizeistaat zu guter Letzt zerbrechen werden,weil für die Dem okratie und den Sozialismus alle gesunden und sich ent-wickelnden Schichten des ganzen Volkes einstehen; um aber einen syste-matischen Kampf gegen die Regierung führen zu können, müssen wir dierevolutionäre Organisation, Disziplin und Konspirationstechnik auf diehöchste Stufe der Vollkommenheit bringen. Es ist notwendig, daß sichdie einzelnen Parteimitglieder bzw. die einzelnen Mitgliedergruppen aufeinzelne Seiten der Parteiarbeit spezialisieren, die einen auf den Nach-druck von Literatur, die andern auf ihre Heranschaffung aus dem Aus-land, die dritten auf ihren Transport innerhalb Rußlands, die vierten aufihre Verbreitung in den S tädten, die fünften auf Einrichtung konspirativerWohnungen, die sechsten auf Sammlung von Geld, die siebenten aufOrganisierung der Zustellung von Korrespondenzen und aller Mitteilun-

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218 IV.1. Centn

Städte, die Fabrikviertel der großen Städte usw. In diesen Zentren besteht

fast die ganze Bevölkerung aus Arbeitern und ihren Angehörigen; derArbeiter ist hier faktisch Herr der Lage und kennt Hunderte von Metho-den, die Wachsamkeit der Polizei zu täuschen; der Verkehr mit benach-barten Fabrikzentren ist außerordentlich rege. In der Epoche des Aus-nahmegesetzes gegen die Sozialisten (von 1878 bis 1890) 77 arbeitete diedeutsche politische Polizei nicht schlediter, ja wahrscheinlich sogar besserals die russische, und dennoch vermoditen es die deutschen A rbeiter dankihrer Organisiertheit und Diszipliniertheit zu erreichen, daß die wöchent-lidi erscheinende illegale Zeitung regelmäßig aus dem Ausland herein-gebracht und allen Abonnenten ins Haus geliefert wurde, so daß sogarMinister nicht umhinkonnten, die sozialdemokratisdie Post (die „rotePost") zu bewundern. Von einem soldien Erfolg können wir natürlidinidit träumen, aber wir können, wenn wir alle unsere Anstrengungendarauf riditen, durchaus erreichen, daß die Zeitung unserer Partei min-destens zwölfmal jährlich ersdieint und regelmäßig allen für den Sozialis-mus zugänglichen Arbeiterkreisen in allen Hauptzentren der Bewegungzugestellt wird.

Um zur Frage der Spezialisierung zurückzukehren, müssen wir ferner

darauf hinweisen, daß ihr Mangel sidi teilweise durdi das Vorherrsdiender „handwerklerisdien" Arbeit erklärt, teilweise audi dadurdi, daß un-sere sozialdemokratischen Zeitungen den Fragen der Organisation ge-wöhnlich zuwenig Raum widmen.

Nur die Schaffung eines gemeinsamen Parteiorgans kann jeden „Teil-arbeiter" der revolutionären Sache mit dem Bewußtsein erfüllen, daß er„in Reih und Glied" marschiert, daß seine Arbeit für die Partei unmittel-bar notwendig ist, daß er ein Glied jener Kette bildet, die den sdilimmstenFeind des russischen Proletariats und des ganzen russisdien Volkes — die

russische autokratische Regierung — erdrosseln wird. Nur die strengeDurchführung einer derartigen Spezialisierung wird es ermöglidien, Kräftezu sparen: nidit nur wird jede einzelne Seite der revolutionären Arbeitvon einer geringeren Zahl Personen besorgt werden, sondern es wird sidiaudi die Möglidikeit ergeben, eine Reihe von Zweigen der heutigenTätigkeit zu legalen (= vom Gesetz erlaubten) Angelegenheiten zumachen. Eine solche Legalisierung ihrer Tätigkeit, ihre Einpassung in denRahmen der Gesetzlichkeit, hat der „Vorwärts"78 — das Zentralorgan

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E N T W U R FEINES PROGRAMMS UNSERER PARTEI80

Qesdbrieben Ende 1899.

Zuerst veröflentUäit 1924 'Nadi dem Manuskript.in der ersten Ausgabe derWerke r

W. 7. Cenins, Band I.

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Es muß wohl mit der Frage begonnen werden, ob wirklich ein dringen-des Bedürfnis nach einem Programm der russischen Sozialdemokratenbesteht. Von Genossen, die in Rußland tätig sind, hörten wir gelegentlichdie Ansicht, daß keine dringende Notwendigkeit bestehe, gerade jetzt einProgramm auszuarbeiten, die dringendste Frage sei die Entwicklung undFestigung der lokalen Organisationen, eine straffere Organisierung derAgitation und der Literaturzustellung, es wäre praktischer, die Ausarbei-tung eines Programms bis zu dem Augenblick zu verschieben, wo die Be-wegung eine festere Basis erhält, es könne sich erweisen, daß ein Pro-

gramm jetzt keine Basis hätte.W ir teilen diese Meinung nicht. Selbstverständlich ist, wie K. M arx

gesagt hat, „jeder Schritt wirklicher Bewegung wichtiger als ein DutzendProgramme" 81. Aber weder Marx noch irgendein anderer Theoretikeroder Praktiker der Sozialdemokratie haben bestritten, daß ein Programmfür das einmütige und konsequente Handeln einer politisdien Partei vongewaltiger Bedeutung ist. Die russischen Sozialdemokraten haben ja ge-rade eine Periode hödist erbitterter Polemik gegen Sozialisten andererRiditungen und gegen NichtSozialisten, die die russische Sozialdemokratienicht verstehen wollten, schon durchgemadit; sie haben auch die Anfangs-stadien der Bewegung durdigemadit, als die Arbeit zersplittert in kleinenlokalen Organisationen geleistet wurde. Die Vereinigung, die Schaffungeiner gemeinsamen Literatur, das Erscheinen von russischen Arbeiterzei-tungen haben sich durch das Leben selbst notwendig gemacht, und die imFrühjahr 1898 erfolgte Gründung der „Sozialdemokratischen Arbeiter-partei Rußlands", die ihre Absicht bekanntgegeben ha t, in nächster Zukunft

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Entwurf eines "Programms unserer Partei 225

allseitig erörtert werden wird. Die Polemik zeigt, daß in den Reihen der

russischen Sozialdemokraten das Interesse für die umfassenden Fragennach den Zielen unserer Bewegung, nach ihren nächsten Aufgaben undihrer Taktik lebhafter geworden ist, und gerade eine solche Belebungist für die Erörterung des Programmentwurfs notwendig. Anderseits istes , wenn die Polemik nicht unfruchtbar bleiben soll, wenn sie nicht zupersönlicher Rivalität ausarten, nicht zu einer Verworrenheit der Ansich-ten, zur Verwechslung von Feind und Freund führen soll, unbedingt not-wendig, die Frage des Programms in diese Polemik einzubeziehen. DiePolemik wird nur dann Nutzen bringen, wenn sie klarstellt, worin eigent-lich die Meinungsverschiedenheiten bestehen, wie tief sie geben, ob essich um Meinungsverschiedenheiten über das Wesen der Sadie oder umMeinungsverschiedenheiten in Teilfragen handelt, ob diese Meinungsver-schiedenheiten ein Hindernis für die gemeinsame Arbeit in den Reihenein und derselben Partei sind oder nicht. Nur die Einbeziehung der Pro-grammfrage in die Polemik, nur eine bestimmte Erklärung beider pole-misierender Seiten über ihre programmatischen Anschauungen kann Ant-wort geben auf alle diese Fragen, die dringend Antwort verlangen. DieAusarbeitung eines gemeinsamen Parteiprogramms soll natürlich durch-aus nicht jeder Polemik ein Ende machen, sie wird jedoch diejenigengrundlegenden Ansichten vom Charakter, von den Zielen und Aufgabenunserer Bewegung fest bekunden, die der kämpfenden Partei als Bannerdienen sollen, einer Partei, die einig und geschlossen bleibt trotz derpartiellen Meinungsverschiedenheiten, die unter ihren Mitgliedern überpartielle Fragen bestehen.

Und damit zur Sache.

Wenn von einem Programm der russischen Sozialdemokraten gespro-chen wird, so richten sich alle Blicke ganz natürlich auf die Mitglieder der

Gruppe „Befreiung der Arbeit", die die russische Sozialdemokratie ge-gründet und für ihre theoretische und praktische Weiterentwicklung soviel getan haben. Unsere ältesten Genossen haben nidit gesäumt, sichüber die Erfordernisse der russischen sozialdemokratisdien Bewegung zuäußern. Fast zu derselben Zeit — Früh jahr 1898 —, als der Par teitag derrussischen Sozialdemokraten, der den Grundstein legte für die „Sozial-demokratische Arbeiterp artei R uß lan ds", vorbereitet wu rde, ließ P. B.Axelrod seine Broschüre „Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und

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der Taktik der russischen Sozialdemokraten" erscheinen (Genf 1898; das

Vorwort ist März 1898 datiert) und brachte als Anhang dazu den vonder Gruppe „Befreiung der Arbeit" schon 1885 herausgegebenen „Ent-wurf eines Programms der russischen Sozialdemokraten".

Mit der Erörterung dieses Entwurfs wollen wir auch beginnen. Ob-gleich vor fast 15 Jahre n herausgegeb en, ist er, unse rer M einu ng nach,im großen und ganzen durchaus befriedigend, er erfüllt seinen Zweckund steht durchaus auf dem Niveau der modernen sozialdemokratischenTheorie. In diesem Entwurf wird eindeutig die Klasse bezeichnet, die inRußland (wie auch in den anderen Ländern) allein ein selbständiger

Kämpfer für den Sozialismus sein kann — die Arbeiterklasse, das „Indu-strieproletariat" ; — es wird das Ziel gewiesen, das diese Klasse sich stek-ken muß — „Übergang aller Produktionsmittel und Produktionsgüter ingesellschaftliches Eigentum ", „Abschaffung der W are np rod uk tion " und„ihre Ersetz ung durch ein neue s System gesellschaftlicher Pro du kt ion ",„die komm unistische Re volu tion"; — es wird die „unvermeidliche Vor-bedingung" einer „Umgestaltung der gesellschaftlichen Verh'ältnisse"genannt: „die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiter-kla sse" ; — es wird eingegangen auf die internationale Solidarität des

Proletariats und die Notwendigkeit eines „Elements der Verschieden-artigkeit in den Programmen der Sozialdemokraten verschiedener Staa-ten entsprechend den gesellschaftlichen Verhältnissen jedes einzelnenvon ihn en "; — es wird die Besonderheit Rußlands aufgezeigt, „wo diewerktätigen Massen unter dem doppelten Joch des sich entwickelndenKapitalismus und der überlebten Patriarchalwirtschaft leben"; — es wirdder Zusammenhang der russischen revolutionären Bewegung mit demProzeß der (durch die Kräfte des sich entwickelnden Kapitalismus erfol-genden) Schaffung „einer neuen Klasse des Industrieproletariats — einer

aufnahmefähigeren, beweglicheren und entwickelteren Klasse" gezeigt; —es wird die Notwendigkeit, eine „revolutionäre Arbeiterpartei" zu grün-den, und ihre „erste politische Aufgabe" aufgezeigt: „Sturz des Absolu-t i smus" ; — es werden die „Mittel des politischen Kampfes" genannt undseine Ha uptfo rderu nge n aufgestellt.

Alle diese Elemente des Programms sind unserer Meinung nach ineinem Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei absolut not-wendig — sie alle stellen These n dar, die seither immer u nd im mer wieder

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Teil unseres Programms gerecht werden mu ß, und von den grundlegenden

Thesen, die darin so genau und prägnant wie möglich zum Ausdrude kom-men müssen. Aus dem Programmentwurf der Gruppe „Befreiung derArbeit" müssen unserer Meinung nach wegfallen (aus dem prinzipiellenTeil): 1. die Hinweise auf die Form des bäuerlidien Bodenbesitzes (überdie Bauernfrage werden wir weiter unten sprechen); 2. die Hinweise aufdie Ursachen der „Unbeständigkeit" usw. der Intelligenz; 3. der Punktüber „die Abschaffung des gegenwärtigen Systems der politischen Vertre-tung und seine Ersetzung durch die direkte Volksgesetzgebung"; 4. derPunkt über die „Mittel des politischen Kampfes". Wir sehen freilich in

diesem letztgenannten Pun kt nidits Veraltetes oder Unrichtiges: wir glau-ben im Gegenteil, daß die Mittel gerade die sein müssen, die die Gruppe„Befreiung der Arbeit" aufgezeigt hat (Agitation, revolutionäre Organi-sation, „im geeigneten Augenblick" Übergang zum entschlossenen An-griff, der, im Prinzip, auch auf den Terror nidit verzichtet), aber wirglauben, daß das Programm einer Arbeiterpartei für Hinweise auf dieMittel der Tätigkeit, die im Programm einer Auslandsgruppe von Revo-lutionären im Jahre 1885 notwendig waren, nicht der geeignete Platz ist.Das Programm muß die Frage der Mittel offenlassen und die Wahl der

Mittel den kämpfenden Organisationen und den Parteitagen, die die7aktik der Partei festlegen, überlassen. Fragen der Taktik aber könnenkaum ins Programm aufgenommen werden (mit Ausnahme der wesent-lichsten und prinzipiellsten Fragen, wie die Frage nadi dem Verhältnis zuden anderen Kämpfern gegen den Absolutismus). Die Fragen der Taktikwerden, in dem Maße, wie sie auftaudien, in der Zeitung der Partei er-örtert und auf den Parteitagen endgültig entschieden werden. Hierhergehört unserer Meinung nach auch die Frage des Terrors. Die Erörterungdieser Frage — eine Erörterung natürlich nicht von der prinzipiellen, son-

dern von der taktischen Seite her — muß von den Sozialdemokraten un-bedingt begonnen werden, denn die Entwiddung der Bewegung führt vonselbst, spontan dazu, daß immer häufiger Spione getötet werden und daßdie leidensdiaftlidie Empörung in den Reihen der Arbeiter und der Sozia-listen stärker wird, da diese sehen, daß ein größerer und immer größererTeil ihrer Genossen in Einzelzellen und in den Verbannungsorten zu Todegequält wird. Um keinen Platz für Unklarheiten zu lassen, wollen wirgleidi hier sagen, daß unserer persönlidien Meinung nach der Terror

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Entwurf eines Programms unserer "Partei 233

gegenwärtig ein unzweckmäßiges Kampfmittel ist, daß die Partei {als

Partei) ihn ablehnen muß (bis zu einer Änderung der Verhältnisse, dieauch einen Wechsel der Taktik hervorrufen könnte) und alle ihre "Kräftekonzentrieren muß auf die Festigung der Organisation und die regel-mäßige Zustellung von Literatur. Hier ist nicht der Ort, eingehender da-von zu sprechen.

W as die Frage der direkten Volksgesetzgebung betrifft, so scheint uns,daß man sie gegenwärtig überhaupt nicht ins Programm aufnehmen soll.Man darf nicht prinzipiell den Sieg des Sozialismus mit der Ablösung desParlamentarismus durch die direkte Volksgesetzgebung verbinden. Dies

haben nach unserer Ansicht die Debatten über das Erfurter Programmund Kautskys Buch über Volksgesetzgebung bewiesen. Kautsky erkenntder Volksgesetzgebung (auf Grund einer historischen und politischenAnalyse) unter den folgenden Bedingungen einen gewissen Nutzen zu:1. Fehlen des Gegensatzes zwischen Stadt und Land oder ein überwiegender Städte; 2. Bestehen hochentwickelter politischer Parteien; 3. „Fehleneiner übermäßig zentralisierten, der Volksvertretung selbständig gegen-überstehenden Staatsgewalt". In Rußland sehen wir völlig entgegen-gesetzte Bedingungen, und die Gefahr, daß die „Volksgesetzgebung" zu

einem imperialistischen „Plebiszit" ausartet, wäre bei uns besonders groß.Wenn Kautsky 1893 von Deutschland und Österreich sagte: „Für unsOsteuropäer gehört sie" (die direkte Volksgesetzgebung) „in das Inventardes .Zukunftsstaates'", so braucht man von Rußland gar nicht erst zureden. Wir glauben deshalb, daß wir uns jetzt, wo in Rußland die Selbst-herrschaft besteht, auf die Forderung nach einer „demokratischen Ver-fassung" beschränken und die ersten beiden Punkte des praktischen Teilsim Programm der Gruppe „Befreiung der Arbeit" den ersten beidenPunkten des praktischen Teils im „Erfurter Program m" vorziehen sollten.

Kommen wir zum praktischen Teil des Programms. Dieser Teil zer-fällt unserer Meinung nach, wenn nicht in der Darstellung, so doch demWesen der Sache nach in drei Abschnitte: 1. Forderungen nach gesamt-demokratischen Umbildungen, 2. Forderungen nach Arbeiterschutzmaß-nahmen und 3. Forderungen nach Maßnahmen im Interesse der Bauern.Im ersten Abschnitt ist es wohl kaum erforderlich, wesentliche Ände-rungen am „Programmentwurf" der Gruppe „Befreiung der Arbe it"vorzunehmen, der fordert: 1. allgemeines Wahlrecht; 2. Diäten für Volks-

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234 • W J.Lenin

Vertreter; 3. allgemeine, weltliche, unentgeltliche und obligatorische Schul-

bildung usw.; 4. Unantastbarkeit der Person und der Wohnungen derBürger; 5. unbeschränkte Freiheit des Gewissens, des Worts, der Ver-sammlungen usw. (hier sollte vielleicht speziell hinzugefügt werden:Streikfreiheit); 6. Freizügigkeit und Gewerbefreiheit (hier sollte vielleichthinzugefügt werden: „Freiheit der Umsiedlung" und „völlige Abschaffungder Pässe"); 7. volle Gleichberechtigung aller Bürger usw.; 8. Ersetzungdes stehenden Heeres durch allgemeine Volksbewaffnung; 9. „Revisionunserer gesamten Zivil- und Strafgesetzgebung, Abschaffung der Stände-ordnung und der Strafen, die mit der Menschenwürde unvereinbar sind".

Hier sollte hinzugefügt werden: „völlige rechtliche Gleichstellung derFrau m it dem M an ne ". Ebenfalls in diesen Abschnitt sollte die Forderungnach Finanzreformen aufgenommen werden, die im Programm d er Gruppe„Befreiung der Arbeit" unter den Forderungen formuliert ist, die „dieArbeiterpartei, gestützt auf diese politischen Grundrechte, aufstellenwird" — „Abschaffung des gegenwärtigen Steuersystems und Einführungeiner progressiven Einkommensteuer". Platz finden müßte hier schließ-lich auch die Forderung nach „Wahl der Beamten durch das Volk; Berech-tigung jedes Bürgers, jeden beliebigen Beamten ohne Beschwerde bei der

übergeordneten Behörde gerichtlich zu belangen".Im zweiten Abschnitt der praktischen Forderungen finden wir im Pro-

gramm der Gruppe „Befreiung der Arbeit" die allgemeine Forderungnach „gesetzlicher Regelung der Beziehungen der (städtischen und länd-lichen) Arbeiter zu den LInternehmern und Organisierung einer entspre-chenden Inspektion, in der die Arbeiter vertreten sind". Wir glauben, dieArbeiterpartei muß die Forderungen zu diesem Punkt ausführlidier undeingehender darlegen, sie muß fordern: 1. den Achtstundentag; 2. dasVerbot der Nachtarbeit, das Verbot der Arbeit von Kindern unter 14 Jah-

ren; 3. für jeden Arbeiter in der Woche eine ununterbrochene Ruhepausevon mindestens 36 Stun den; 4 . die Ausdehnung der Fabrikgesetze undder Fabrikinspektion auf alle Zweige der Industrie und Landwirtschaft,auf die staatlichen Fabriken, die Handwerksbetriebe und die zu Hausearbeitenden Kustare. Wahl von Inspektorengehilfen, die die gleichenRechte haben wie die Inspektoren, durch die Arbeiter,- 5. Bildung von In-dustrie- und Landwirtschaftsgerichten in allen Zweigen der Industrie undLandwirtschaft mit Richtern, die von den Unternehmern und den Arbei-

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„Befreiung der Arbeit" finden wir eine solche Forderung, und zwar die

Forderu ng nach „radikaler Revision unserer Agrarv erhältnisse, d. h. derBedingungen für den Loskauf des Bodens und für seine Zuweisung an dieBauerngemeinden. Den Bauern, die das angemessen finden, ist das Rechteinzuräumen, auf den Bodenanteil zu verzichten und aus der Dorfge-meinde auszuscheiden, und dgl. mehr."

Mir scheint, daß der hier zum Ausdruck gebrachte Grundgedanke ab-solut richtig ist und daß die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wirklichin ihrem Programm eine entsprechende Forderung aufstellen muß (ichsage : eine entsprechende, denn einige Änderungen erscheinen mir wün-

schenswert).Meine Auffassung von dieser Frage ist die folgende. Die Bauernfrage

in Ru ßland unterscheidet sich wesentlich von der Bauernfrage im W este n,aber sie-unterscheidet sich nur dadurch, daß es sich im Westen fast aus-schließlich um den Bauern in einer kapitalistischen, bürgerlichen Gesell-schaft handelt, in Rußland dagegen hauptsächlich um den Bauern, derunter vorkapitalistisdien Einrichtungen und Verhältnissen nicht weniger(wenn nicht mehr) zu leiden hat, der unter den Überresten der £eib-

eigensdoaft zu leiden hat. Die Rolle der Bauernschaft als einer Klasse, die

Kämpfer gegen den Absolutismus und gegen die Überreste der Leibeigen-schaft stellt, ist im Westen bereits ausgespielt, in Rußland noch nicht. ImWesten ist das Industrieproletariat seit langem und scharf vom Dorfegetrennt, und diese Trennung ist bereits durch entsprechende Rechtsinsti-tutionen verankert. In Rußland „ist das Industrieproletariat nach seinenBestandselementen und Existenzbedingungen noch in hohem Grade mitdem D orf verb und en" (P . B. Ax elrod, zitierte Broschüre, S. 11). Freilichgeht der Prozeß der Auflösung der Bauernschaft in Kleinbourgeoisie undLohnarbeiter bei uns mit großer Kraft, mit erstaunlicher Geschwindigkeit

vor sich, aber dieser Prozeß ist bei weitem noch nicht abgeschlossen, und— was die Hauptsache ist — dieser Prozeß vollzieht sich bei uns noch imRa hm en der alten, fronherrschaftlichen Institutio nen , die alle Bauerndurch die schwere Kette der solidarischen Haftung und der fiskalischenDorfgemeinschaft fesseln. Der russische Sozialdemokrat, selbst wenn er(wie der Schreiber dieser Zeilen) zu den entschiedenen Gegnern desSchutzes oder der Unterstützung des Kleineigentums oder der kleinenW irtschaft in der kapitalistischen Gesellschaft g ehö rt, d. h., selbst wenn

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Entwurf eines Programms unserer Partei 237

er sich auch in der Agrarfrage (wie der Schreiber dieser Zeilen) auf die

Seite derjenigen Marxisten stellt, die von allen möglichen Bourgeois undOpportunisten heute gern als „Dogmatiker" und „Rechtgläubige" be-schimpft werden, kann und muß somit, ohne im mindesten seinen Über-zeugungen untreu zu werden, ja, im Gegenteil, gerade kraft dieser Über-zeugungen, dafür eintreten, daß die Arbeiterpartei die Unterstützung derBauernschaft auf ihr Banner schreibt (keineswegs als einer Klasse vonKleineigentümern oder kleinen Landwirten), soweit diese Bauernschaftzum revo lutionären K amp f gegen die Übe rreste der Leibeigenscha ft im

allgemeinen und gegen den Absolutismu s im besonderen fähig ist. Er-

klären wir Sozialdemokraten doch alle, daß wir bereit sind, auch dieGroßbourgeois ie zu unters tützen, soweit sie zum revolutionären Kampfgegen die erwähnten Erscheinungen fähig ist — wie also könne n wir derviele Millionen zählenden Klasse der Kleinbourgeoisie, die durch allmäh-liche Übergänge mit dem Proletariat verschmilzt, eine solche Unterstüt-zung versagen? W en n die Unters tützung l iberaler Forderungen der Gro ß-bourgeoisie nicht die Unterstützung der Großbourgeoisie bedeutet, sobedeutet doch auch die Unterstützung der demokratischen Forderungender Kleinbourgeoisie keineswegs eine Un terstü tzu ng der Kleinbourgeoisie:im Gegenteil, gerade die Entwicklung, die Rußland politische Freiheitgeben wird, wird mit besonderer Kraft dazu führen, daß die kleine Wirt-schaft unter den Schlägen des Kapitals zugrunde geht. Mir scheint, daßes in diesem Punkt unter Sozialdemokraten keine Streitigkeiten gebenwird . Die ganze Frage ist also die: 1. W ie g erade solche Forderun gen aus-gearbeitet werden können, die nicht zur Unterstützung der Kleinbesitzerin der kapitalistischen Gesellschaft abgleiten, und 2. ob unsere Bauern-schaft wenigstens teilweise zum revolutionärem Kampf gegen die Über-reste der Leibeigenschaft und gegen den Absolutismus fähig ist.

Beginnen wir mit der zweiten Frage. Wohl niemand wird bestreiten,daß es in der russischen Bauernschaft revolutionäre Elemente gibt. Be-kannt sind die Tatsachen der Bauernaufstände gegen Gutsherren, gegenderen Verwalter, gegen die sie schützenden Beamten auch nach der Re-form, bekannt sind die Tatsachen der Totschläge, Rebellionen usw. aufdem Lande. Bekannt ist die Tatsache der wachsenden Empörung in derBauernschaft (in der sogar die annseligen Ansätze von Bildung bereits dasGefühl menschlicher Würde zu erwecken begonnen haben) gegen die bar-

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240 TV J.Lenin

,abschnitte') durch den Gutsbesitzer die Bauern faktisch in die ausweg-

lose Lage der früheren Fronbauern versetzt.5. Berechtigung der Bauern, im Gerichtswege die Herabsetzung einer

übermäßig hohen Pachtzahlung zu verlangen sowie die Gutsherren undüberhaupt alle Personen, die die Not der Bauern ausnutzen, um sie inSchuldknechtschaft zu verstricken, wegen Wuchers zu belangen."

Auf die Motivierung dieses Vorschlags müssen wir besonders ausführ-lich eingehen — nicht weil dieser Teil des Programms der wichtigste wäre,sondern weil er am meisten umstritten ist und weil er mit den allgemeinfestgestellten, von allen Sozialdemokraten anerkannten Wahrheiten im

entferntesten Zusammenhang steht. Der einleitende Satz über die (be-dingte) „Unterstützung" der Bauernschaft scheint uns deshalb notwendig,weil das Proletariat, allgemein gesprochen, nicht die Verteidigung derInteressen einer Klasse von kleinen U nternehmern übernehmen kann unddarf; es kann sie lediglich insoweit unterstützen, als sie revolutionär ist.Da nun gerade die Selbstherrschaft gegenwärtig die ganze Rückständig-keit Rußlands, alle Überreste der Leibeigenschaft, der Rechtlosigkeit undder „patriarchalischen" Knechtung in sich verkörpert, so muß dargelegtwerden, daß die Arbeiterpartei die Bauernschaft nur insoweit un terstützt,

als sie zum revolutionären Kampf gegen die Selbstherrschaft fähig ist.Eine solche These wird offenbar durch die folgende These im Entwurf derGruppe „Befreiung der Arbeit" ausgeschlossen: „Die Hauptstütze desAbsolutismus besteht gerade in der politischen Gleichgültigkeit und gei-stigen Rückständigkeit der Bauernschaft." Dies aber ist ein Widerspruchnicht der Theorie, sondern des Lebens selbst, denn die Bauernschaft zeich-net sich (wie die Klasse der Kleinbesitzer überhaupt) durch zwiespältigeZüge aus. Ohne die bekannten ökonomischen Argum ente zu wiederholen,die die innerlich widerspruchsvolle Lage der Bauernschaft beweisen, wol-

len wir daran erinnern, daß Marx die französische Bauernschaft zu Be-ginn der fünfziger Jahre wie folgt charakterisiert hat:

. . . „Die Dynastie Bonaparte repräsentiert nicht den revolutionären,sondern den konservativen Bauer, nicht den Bauer, der über seine sozialeExistenzbedingung, die Parzelle, hinausdrängt, sondern der sie vielmehrbefestigen will, nicht das Landvolk, das durch eigne Energie im Anschlußan die Städte die alte Ordnung umstürzen, sondern umgekehrt dumpfverschlossen in dieser alten Ordnung sich mitsamt seiner Parzelle von dem

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durch die Gutsherren waren, daß sie nicht nur für den bäuerlichen Bodengezahlt wurden, sondern auch für die Leibeigenschaft, daß die Regierungden Bauern mehr nahm, als sie den Grundherren bezahlte,- 2. wir habenkeinen Grund, diese Tatsache als ein völlig abgeschlossenes und bereitsins Archiv der Geschichte eingegangenes Ereignis zu betrachten, denndie hochwohlgeborenen Ausbeuter selbst, die jetzt von „Opfern" schreien,die sie damals gebracht hätten , betrachten die bäuerliche Reform nicht indieser Weise; 3. gerade jetzt, wo die Hungersnot für Millionen Bauernzu einer chronischen Erscheinung wird, wo die Regierung, die Millionenfür Geschenke an Gutsherren und Kapitalisten, für ihre abenteuerlicheAußenpolitik verschwendet, bei den Hilfeleistungen für die Hungernden

um jeden Pfennig feilscht, gerade jetzt ist es angebracht und notwendig,daran zu erinnern, wieviel die Mißwirtschaft der autokratischen Regie-rung, die den Interessen der privilegierten Klassen dient, das Volk ge-kostet hat; 4. die Sozialdemokraten können der Hungersnot und demHungersterben der Bauernschaft nicht gleichgültig zuschauen, über dieNotwendigkeit umfassendster Hilfe für die Hungernden gab es unter denrussischen Sozialdemokraten niemals zwei Meinungen. Und schwerlichwird jemand behaupten, daß eine ernstliche Hilfe ohne revolutionäreMaßnahm en möglich ist; 5. die Expropriation der Apanageländereien und

die verstärkte Mobilisierung der Adelsländereien — d. h. das, was dieFolge einer Verwirklichung der vorgeschlagenen Forderung wäre — wür-den der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung Rußlands nur Nutzenbringen. Qegen die vorgeschlagene Forderung würde man wahrscheinlichhauptsächlich ihre „Undurchführbarkeit" ins Feld führen. Wenn einsolcher Einwand nur durch Phrasen gegen „Revolutionarismus" und„Utopismus" gestützt wird, so sagen wir im voraus, daß derartige oppor-

tunistische Phrasen uns nicht im geringsten schrecken und daß wir ihnenkeinerlei Bedeutung beimessen. Wird der erwähnte Einwand dagegen

durch eine Analyse der ökonomischen und der politischen Bedingungenunserer Bewegung gestützt, so geben wir die Notwendigkeit einer ein-gehenderen Erörterung dieser Frage und den Nutzen einer Polemik indieser Frage vollauf zu. Bemerken wollen wir nur, daß diese Forderungnicht selbständig dasteht, sondern einen Teil der Forderung bildet, dieBauernschaft zu unterstützen, soweit sie revolutionär ist. Die Frage, wieund mit welcher Kraft diese Elemente der Bauernschaft in Erscheinung

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treten werden, wird die Geschichte entscheiden. W enn unter „Durchführ-

barkeit" der Forderungen nicht ihre allgemeine Übereinstimmung mit denInteressen der gesellschaftlichen Entwicklung verstanden würde, sondernihre Übereinstimmung mit der jeweiligen Konjunktur der ökonomischenund politischen Verhältnisse, so wäre ein solches Kriterium absolut un-richtig, wie Kautsky in seiner Polemik gegen Rosa Luxemburg überzeu-gend gezeigt hat, die die Forderung der Unabhängigkeit Polens als (fürdie polnische Arbeiterpartei) „undurchführbar" bezeichnet ha tte. Kautskyführte damals (wenn uns das Gedächtnis nicht trügt) als Beispiel die For-derung des Erfurter Programms an, die von der Wahl der Beamten durchdas Volk spricht. Die „Durchführbarkeit" dieser Forderung ist im heuti-gen Deutschland mehr als zweifelhaft, aber kein Sozialdemokrat hat jeden Vorschlag gemacht, die Forderungen der Sozialdemokratie auf denengen Rahmen des im gegebenen Augenblick und unter den gegebenenVerhältnissen Möglichen zu beschränken.

Was weiter Punkt 4 anbelangt, so wird wahrscheinlich niemand imPrinzip etwas dagegen einzuwenden haben, daß die Sozialdemokraten d ieVernichtung aller Überreste fronherrschaftlicher Abhängigkeit fordernmüssen. Zu klären wird wahrscheinlich nur die Formulierung dieser For-derung und dann ihr Umfang sein, d. h. die Frage, ob z. B. die Forde-rung nach Maßnahmen in sie einbezogen werden soll, die die durch dieWegnahme von Bauernland (der Boden„abschnitte") im Jahre 1861geschaffene faktische Fronabhängigkeit der Bauern beseitigen. UnsererMeinung nach muß diese Frage bejaht werden. Die gewaltige Bedeu-tung des faktischen Weiterbestehens der Fron-(Abarbeits-)Wirtschaft istin der Literatur in vollem Umfang festgestellt worden, ebenso aber auchdie gewaltige Hemm ung der gesellschaftlichen Entwicklung (und der Ent-wicklung des Kapitalismus), die aus diesem Weiterbestehen resultiert.Natürlich führt die Entwicklung des Kapitalismus „von selbst, auf natür-lichem Wege" zur Beseitigung dieser Überbleibsel und wird sie zu guterLetzt ganz beseitigen; aber erstens besitzen diese Überbleibsel außer-ordentliche Festigkeit, so daß mit ihrer raschen Beseitigung nicht gerechnetwerden darf, und zweitens bedeu tet — und das ist die Hauptsache — der„natürliche Weg" nichts anderes als das Aussterben der Bauern, die fak-tisch (infolge der Abarbeit usw.) an den Boden gefesselt sind und von denGutsbesitzern geknechtet werden. Selbstverständlich können die Sozial-

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demokraten unter solchen Umständen diese Frage in ihrem Programm

nicht mit Schweigen übergehen. Man wird uns fragen: Wie könnte dieseForderung verwirklicht werden? Wir glauben, daß es nicht notwendig ist,hiervon im Programm zu sprechen. Natürlich wird die Verwirklichungdieser Forderung (die, wie die Verwirklichung fast aller Forderungendieses Abschnitts, von der Stärke der revolutionären Elemente der Bauern-schaft abhängt) eine allseitige Untersuchung der örtlichen Bedingungendurch gewählte örtliche Vertrauensleute, durch Bauernkomitees erfor-dern — als Gegengewicht gegen die Adelskomitees, die ihren „gesetz-lichen" Raub in den sechziger Jahren verübten; die demokratischen

Forderungen des Programms definieren hinreichend die demokratischenInstitutionen, die für diesen Zweck nötig wären. Dies wäre eben die „radi-kale Revision der Agrarverhältnisse", von der das Programm der Gruppe„Befreiung der Arbeit" spricht. Wie bereits oben bemerkt, sind wir mitdiesem Punkt des Entwurfs der Gruppe „Befreiung der Arbeit" im Prinzipeinverstanden und möchten nur 1. die Bedingungen feststellen, unter denendas Proletariat für die Klasseninteressen der Bauernschaft kämpfen kann;2. den Charakter der Revision bestimmen: die Vernichtung der Überrestefronherrschaftlicher Abhängigkeit,- 3 . den Forderungen konkreteren Aus-druck verleihen. — Wir sehen noch einen Einwand voraus: Die Revisionder Frage der Boden„abschnitte" und dgl. muß dazu führen, daß dieseLändereien den Bauern zurückgegeben werden. Das ist klar. W ird dies je-doch nicht das Kleineigentum, die Kleiriparzelle festigen? können denndie Sozialdemokraten wünschen, daß die kapitalistischen Großwirtschaf-ten, die vielleicht auf den den Bauern geraubten Bodenflächen betriebenwerden, durch kleine Wirtschaften ersetzt werden? Das wäre doch einereaktionäre Maßnahme! — Wir antworten: Zweifellos ist eine Ersetzungder großen Wirtschaft durch die kleine reaktionär, und wir dürfen nichtdafür eintreten. Aber die zu untersuchende Forderung ist doch bedingtdurch das Ziel, „die Überreste fronherrschaftlicher Abhängigkeit zu ver-nichten" — folglich kann sie nicht zur Zersplitterung der großen Wirt-schaften führen; sie bezieht sich lediglich auf die alten Wirtschaften, dieihrem W esen nach zum Typus der reinen Fronwirtschaften gehören — undihnen gegenüber ist die von allen mittelalterlichen Einengungen freiebäuerliche Wirtschaft (siehe Punkt 3) nidbt reaktionär, sondern progressiv.Natürlich ist es nicht leicht, hier eine Grenzlinie zu ziehen — aber wir

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Entwurf eines Programm s unserer Partei 245

glauben ja durchaus nicht, daß irgendeine Forderung unseres Programms

„leicht" zu verwirklichen sein wird. Unsere Sache ist es, die Grundprin-zipien und Grundaufgaben festzulegen, für die Einzelheiten aber werdendie zu sorgen wissen, denen es beschieden sein wird, diese Aufgaben prak-tisch zu lösen.

Der letzte Punkt strebt seinem Zweck nach das gleiche an wie der vor-hergehende: den Kampf gegen alle (im russischen Dorf so reichlich vor-handenen) Überreste vorkapitalistischer Produktionsweise. Bekanntlichist die bäuerliche Pacht in Rußland sehr häufig nur eine Tarnung für dasWeiterbestehen der Fronverhältnisse. Die Idee dieses letzten Punktes

nun haben wir Kautsky entlehnt, der mit dem Hinweis darauf, daß schondas liberale Ministerium Gladstone 1881 für Irland ein Gesetz erließ, dasden Gerichten das Recht zur Herabsetzung übermäßig hoher Pachtpreiseverlieh, unter die wünschenswerten Forderungen auch die folgende auf-nahm: „Reduzierung übermäßiger Pachtzinsen durch dazu eingesetzteGerichtshöfe". In Rußland wäre dies besonders nützlich (natürlich beidemokratischer Organisation dieser Gerichte) in bezug auf die Verdrän-gung der Fronverhältnisse. Dazu, so meinen wir, könnte auch die Forde-rung hinzugefügt werden, die Wuchergesetze auf knechtende Abmachun-

gen auszudehnen: im russischen Dorf ist die Schuldknechtschaft so maßlosentwickelt, sie ist für den Bauern ah Arbeiter eine solch schwere Last, siehemmt den sozialen Fortschritt so ungeheuerlich, daß der Kampf gegensie besonders notwendig ist. Den knechtenden, wucherischen Charaktereiner Abmachung aber könnte das Gericht natürlich ebenso leicht fest-stellen wie die übermäßige Höhe einer Pachtzahlung.

Im großen und ganzen laufen die von uns vorgeschlagenen Forderun-gen unserer Meinung nach auf zwei Hauptziele hinaus: 1. alle vorkapi-talistischen, fronherrschaftlichen Institutionen und Verhältnisse auf dem

Lande zu vernichten (eine Ergänzung finden diese Forderungen im erstenAbschnitt des praktischen Pro gram mteils); 2. dem Klassenkampf auf demLande offeneren und bewußteren Charakter zu verleihen. W ir glauben, ge-rade diese Prinzipien müssen für das sozialdemokratische „Agrarpro-gramm" in Rußland richtungweisend sein; — es ist notwendig, sich ent-schieden von den in Rußland so zahlreichen Bestrebungen abzugrenzen,den Klassenkampf im Dorf beizulegen. Die herrschende liberal-volkstüm-lerische Richtung zeichnet sich gerade durch diesen Charakter aus, aber

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4. Darlegung der Endziele der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung—

ihres Strebens, zur Verwirklichung dieser Ziele die politische Macht zuerobern —, des internationalen Charakters der Bewegung; 5. Darlegungder Notwendigkeit des politischen Charakters des Klassenkampfes; 6. dieErklärung, daß der russische Absolutismus, der die Rechtlosigkeit undKnechtung des Volkes bedingt und die Ausbeuter begünstigt, das Haupt-hindernis der Arbeiterbewegung ist und daß deshalb die Erkämpf ung derpolitischen Freiheit, die auch im Interesse der gesamten gesellschaftlichenEntwicklung notwendig ist, die nächste politische Aufgabe der Parteibildet; 7. die Erklärung, daß die Partei alle Parteien und Bevölkerungs-

schichten unterstützen wird, die gegen den Absolutismus kämpfen, daßsie gegen die demagogischen Machenschaften unserer Regierung kämpfenwird; 8. Aufzählung der grundlegenden demokratischen Forderungen —

dann 9. der Forderungen zugunsten der Arbeiterklasse und 10. der For-derungen zugunsten der Bauern, wobei der allgemeine Charakter dieserForderungen zu erklären ist.

In voller Erkenntnis der Schwierigkeit der Aufgabe, das Programmohne e;ne Reihe von Beratungen mit den Genossen völlig befriedigendzu formulieren, halten wir es doch für notwendig, dieses Werk in Angriff

zu nehmen, denn wir glauben, daß es (aus den obenerwähnten Gründen)nicht aufgeschoben werden darf, und hoffen, daß sowohl alle Theoretikerder Partei (an ihrer Spitze die Mitglieder der Gruppe „Befreiung derArbeit") als auch alle praktisch arbeitenden Sozialisten in Rußland (undnicht allein die Sozialdemokraten: es wäre uns sehr erwünscht, die Mei-nung der Sozialisten anderer Fraktionen zu hören, und wir würden esnicht ablehnen, ihre Meinungen zu veröffentlichen) und ebenso alleklassenbewußten Arbeiter überhaupt uns zu Hilfe kommen werden.

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der Führung der russischen Sozialdemokraten bereits entwickelt hat, nicht

sehen will. In der Tat: „Unsere Arbeiterbewegung", so sagt R. 7A . gleichzu Beginn des Artikels, „enthält Ansätze der mannigfaltigsten Organi-sationsformen", angefangen von Streikgemeinschaften und bis hinauf zulegalen (gesetzlich gestatteten) Vereinigungen. — Und weiter nichts? fragtder Leser voll Befremden. Hat denn R. "M. in Rußland wirklich keinehöheren, keine fortgeschritteneren Organisationsformen der Arbeiter-bewegung bemerkt? Er scheint sie nicht bemerken zu wollen, denn gleichauf der nächsten Seite wiederholt er seine These in noch bedeutend ent-schiedenerer Form: „Die Aufgaben der Bewegung im gegebenen Augen-blick, die wahre Arbeitersache der russischen Arbeiter", sagt er, „redu-zieren sich darauf, daß die Arbeiter mit allen mög lichen Mitteln ihreLage verbessern", und bei Aufzählung dieser Mittel werden doch wiedernur Streikorganisationen und legale Vereinigungen genannt! Danach alsowürde sich die russische Arbeiterbewegung auf Streiks und legale Ver-einigungen reduzieren! Aber das ist doch eine direkte "Unwahrheit! Dierussische Arbeiterbewegung hat schon vor 20 Jahren eine umfassendereOrganisation gegründet, umfassendere Aufgaben gestellt (darüber gleicheingehender). Die russische Arbeiterbewegung hat Organisationen ge-schaffen wie den St. PetersburgerST und den Kiewer88 „Kampfbund",den Jüdischen Arbeiterverband89 u. a. R. TA. sagt zwar, die jüdische Ar-beiterbewegung trage einen „besonderen politischen Charakter", sie seieine Ausnahme. Aber das ist wiederum eine Unwahrheit, denn wenn derJüdische Arbeiterverband „vereinzelt" dastünde, so hätte er sich nicht miteiner Reihe von russischen Organisationen vereinigt und nicht mit ihnendie „Sozialdemokratische A rbeiterpartei Rußlands" gegründet. Die Grün-dung dieser Partei ist der größte Schritt der russischen Arbeiterbewegunghei ihrer Verschmelzung mit der russischen revolutionären Bewegung.Dieser Schritt hat klar gezeigt, daß die russische Arbeiterbewegung sich

nicht auf Streiks und legale Vereinigungen reduziert. Wie konnte es ge-schehen, daß die russischen Sozialisten, die in der „Rab. Mysl" schreiben,diesen Schritt nicht sehen wollen, seine Bedeutung nicht begreifen wollen?

Das geschah, weil R. M. weder das Verhältnis der russischen Arbeiter-bewegung zum Sozialismus und zur revolutionären Bewegung in Ruß-land noch die politischen Aufgaben der russischen Arbeiterklasse versteht.„Der charakteristischste Richtungsanzeiger unserer Bewegung", schreibt

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Eine rüddäufige R ichtung in der russischen Sozialdemokratie 251

R. 7A., „sind natürlich die von den Arbeitern erhobenen Forderungen."

Wir fragen, weshalb denn zu den Richtungsanzeigern unserer "Bewegungnicht die Forderungen der Sozialdemokraten und der sozialdemokrati-schen Organisationen gerechnet werden? Mit welchem Recht trennt R. !M.

die Forderungen der Arbeiter von den Forderungen der russischen Sozial-demokraten? R. 7d. aber führt diese Trennung in seinem ganzen Artikeldurch, wie überhaupt die Redaktion der „Rab. Mysl" sie in jeder Num-mer ihrer Zeitung durchführt. Um diesen Fehler der „Rab. M ysl" klar-zustellen, müssen wir die allgemeine Frage des Verhältnisses des Sozialis-mus zur Arbeiterbewegung klarstellen. In allen europäischen Ländern

haben Sozialismus und Arbeiterbewegung anfänglich getrennt voneinan-der bestanden. Die Arbeiter führten den Kampf gegen die Kapitalisten,sie organisierten Streiks und Gewerkschaften, die Sozialisten aber standenabseits von der Arbeiterbewegung, sie schufen Lehren , die die bestehendekapitalistische, bürgerliche Gesellschaftsordnung kritisierten und die Er-setzung dieser Ordnung durch eine andere, höhere, durch die sozialistischeOrdnung verlangten. Das getrennte Bestehen von Arbeiterbewegung undSozialismus hatte zur Folge, daß beide schwach und unentwickelt waren:die nicht mit dem Kampf der Arbeiter verschmolzenen Lehren der Sozia-

listen blieben bloße Utopien, fromme Wünsche, die auf das wirklicheLeben keinen Einfluß hatten; die Arbeiterbewegung blieb im Kleinkrambefangen, zersplittert, sie erlangte keine politische Bedeutung, sie wurdenicht durch die fortschrittliche Wissenschaft ihrer Zeit erleuchtet. Deshalbsehen wir in allen europäischen Ländern, daß sich immer stärker das Be-streben geltend macht, Sozialismus und Arbeiterbewegung zu einer ein-heitlichen sozialdemokratischen Bewegung zu verschmelzen. Der Klassen-kampf der Arbeiter verwandelt sich bei einer solchen Verschmelzung inden bewußten Kam pf des Proletariats für seine Befreiung von der Aus-

beutung durch die besitzenden Klassen, es entwickelt sich die höchsteForm der sozialistischen Arbeiterbewegung: die selbständige sozialdemo-kratische Arbeiterpartei. Auf die Verschmelzung des Sozialismus mit derArbeiterbewegung hingewirkt zu haben ist das Hauptverdienst vonK. Marx und Fr. Engels: sie schufen eine revolutionäre Theorie, die dieNotwendigkeit dieser Verschmelzung erklärte und den Sozialisten dieAufgabe stellte, den Klassenkampf des Proletariats zu organisieren.

Ganz genauso war es auch in Rußland. Auch bei uns stand der Sozialis-

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mus sehr lange, viele Jahrzehnte lang, abseits vom Kampf der Arbei-

ter gegen die Kapitalisten, von Arbeiterstreiks usw. Einerseits verstandendie Sozialisten nicht die Theorie von Marx, von der sie meinten, daß sieauf Rußland nicht anw endba r sei; anderseits steckte die russische Arbeiter-bewegung noch ganz in ihrer Keimform. Als 1875 der „SüdrussischeArbeiterbund" und 1878 der „Nordrussische Arbeiterbund" gegründetwurden, da standen diese Arbeiterorganisationen der Richtung der rus-sischen Sozialisten fern; diese Arbeiterorganisationen forderten für dasVolk politische Rechte, sie wollten für diese Rechte kämpfen, die russi-schen Sozialisten aber hielten damals irrigerweise den politischen Kampf

für eine Abweichung vom Sozialismus. Doch die russischen Sozialistenblieben bei ihrer unentwickelten, falschen Theorie nicht stehen. Sie schrit-ten vorw ärts, sie machten sich die Theor ie von M arx zu eigen, sie entwik-kelten in Anwendung auf Rußland die Theorie des Arbeitersozialismus,die Th eorie de r russischen Sozialdem okraten. Die Gr ün du ng der russischenSozialdemokratie ist das Hauptverdienst der Gruppe „Befreiung der Ar-beit" — Plechanows, Axelrods und ihrer Freund e.* Seit Grü ndu ng derrussischen Sozialdemokratie (1883) hat sich die russische Arbeiterbewe-gung jedesmal, wenn sie auf breiter Front hervortrat, den russischen

Sozialdemokraten unmittelbar genähert und das Bestreben gezeigt, sichmit ihnen zu verschmelzen. Die Gründung der „SozialdemokratischenArbeiterpartei Rußlands" (im Frühjahr 1898) bedeutete einen gewaltigenSchritt vorwärts auf dem Wege zu dieser Verschmelzung. Heute ist esdie [Hauptaufgabe aller russischen Sozialisten und aller klassenbewußtenrussischen Arbeiter, diese Verschmelzung dauerhaft zu machen, die „So-zialdemokratische Arbeiterpartei" zu festigen und zu organisieren. Wervon dieser Verschmelzung nichts wissen will, wer künstlich eine Tren-nung zwischen der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie in Ruß-land herbeizuführen sucht, der bringt der Sache des Arbeitersozialismusund der Arbeiterbewegung in Rußland nicht Nutzen, sondern Schaden.

Gehen wir weiter. „Was die umfassenden Forderungen, die politischenForderungen, anbelangt", schreibt R. TA., „so sehen wir nur in den For-

* Die Verschmelzung des russischen Sozialismus und der russischen Arbei-terbewegung wird in der Broschüre eines unserer Genossen „Das rote Bannei-in Rußland. Abriß der Geschichte der russischen Arbeiterbewegung" histo-risch verfolgt. Diese Broschüre wird bald erscheinen.90

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ten, denen die Arbeitermasse folgte, weil sie ihr bewiesen hatten, daß siebereit und fähig sind, der Arbeitersache zu dienen, weil sie es verstandenhatten, das volle Vertrauen der Arbeitermasse zu gewinnen. Diese fort-geschrittenen Arbeiter aber waren Sozialdemokraten,- viele von ihnenhatten sogar persönlich an jenen Auseinandersetzungen zwischen den An-hängern des Volkswillen und den Sozialdemokraten teilgenommen, dieden Übergang der russischen revolutionären Bewegung vom bäuerlichenund verschwörerischen Sozialismus zum Arbeitersozialismus kennzeich-neten. Es ist deshalb begreiflich, weshalb diese fortschrittlichen Arbeiterjetzt nicht abgesondert von den Sozialisten und Revolutionären in beson-deren Organisationen vereinigt sind. Eine solche Absonderung hatte Sinnund war notwendig, als der Sozialismus sich von der Arbeiterbewegungabgesondert hielt. Eine solche Absonderung wäre unmöglich und sinnlosgewesen, hätten es die fortgeschrittenen Arbeiter mit dem Arbeitersozia-lismus und mit sozialdemokratischen Organisationen zu tun gehabt. DieVereinigung der fortschrittlichen Arbeiter mit den sozialdemokratischenOrganisationen war durchaus natürlich und unvermeidlich. Sie war dasResultat jener großen historischen Tatsache, daß in den neunziger Jahrenzwei tiefe gesellschaftliche Bewegungen in Rußland einander fanden: einespontane, eine Volksbewegung in der Arbeiterklasse, und eine andere: dieEntwicklung des gesellschaftlichen Denkens zur Theorie von Marx undEngels, zur Lehre der Sozialdemokratie.

Wie maßlos eng die „Rab. Mysl" den politischen Kampf auffaßt, siehtman an folgendem. Zu den umfassenden politischen Forderungen schreibtR. M .: „Damit aber ein solcher politischer Kampf von den Arbeitern ganzbewußt und selbständig geführt werden könne, ist es notwendig, daß ervon den Arbeiterorganisationen selbst geführt wird, daß diese politischenForderungen der Arbeiter sich auf ihre, von ihnen erkannten allgemeinenpolitischen Erfordernisse und Interessen des Augenblicks stützen" (diesbemerke man!), „daß diese Forderungen die Forderungen der Arbeiter-organisationen (Berufsorganisationen) selbst sind, daß sie von ihnen wirk-lich gemeinsam ausgearbeitet und von diesen Arbeiterorganisationengleichfalls gemeinsam, aus eigener Initiative, aufgestellt werden..." Undweiter folgt die Erklärung, daß die nächsten allgemeinen politischen For-derungen der Arbeiter vorerst immer noch (•!) der Zehnstundentag unddie Wiedereinführung der durch das Gesetz vom 2. VI. 1897 abgeschaff-

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Sine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie 255

ten Feiertage bleiben. — Und hiernach kann die Redaktion der „Rab.Mysl" sich noch wundern, daß man sie bezichtigt, die Politik abzulehnen!Ja, ist denn diese Reduzierung der Politik auf den Kampf der Berufs-verbände für einzelne Reformen keine Ablehnung der Politik? Ist siekeine Abkehr von dem Grundgebot der internationalen Sozialdemokra-tie, daß die Sozialdemokraten bestrebt sein müssen, den Klassenkampfdes Proletariats in selbständigen politischen Arbeiterparteien zu organi-sieren, die für die Demokratie als TAitiel zur Eroberung der politischenMacht und zur Errichtung der sozialistischen 'Gesellschaft durch dasProletariat kämpfen? Mit geradezu grenzenlosem Leichtsinn werfen un-sere neuesten Verfälscher des Sozialdemokratismus alles über Bord, was

den Sozialdemokraten teuer ist, was dazu berechtigt, in der Arbeiter-bewegung eine weltgeschichtliche Bewegung zu sehen. Sie kümmert esnicht, daß die hundertjährigen Erfahrungen des europäischen Sozialis-mus und der europäischen Demokratie die Notwendigkeit lehren, dieGründung selbständiger politischer Arbeiterparteien anzustreben. Siekümmert es nicht, daß die Geschichte der russischen revolutionären Be-wegung in einem langen und schwierigen Prozeß die Vereinigung desSozialismus mit der Arbeiterbewegung, die Vereinigung der großen sozia-len und politischen Ideale mit dem Klassenkampf des Proletariats herbei-

geführt hat. Sie kümmert es nicht, daß die fortgeschrittenen russischenArbeiter bereits den Grundstein gelegt haben für die „Sozialdemokra-tische Arbeiterpartei Rußlands". Nieder mit alledem! Befreien wir unsvon dem allzu umfangreichen ideellen Gepäck und von den allzu schwerenund anspruchsvollen historischen Erfahrungen — sollen doch „vorerst"nur Berufsverbände „bleiben" (ob solche in Rußland gegründet werdenkönnen, ist, wenn wir von legalen Vereinigungen absehen, bisher nochdurch nichts bewiesen), sollen doch diese Berufsverbände „aus eigenerInitiative" Forderungen ausarbeiten, Forderungen des „Augenblicks",

Forderungen nach kleinen und kleinlichen Reformen!! Was ist das? Dasist doch die Predigt einer rückläufigen Bewegung! Das ist doch eine ArtPropaganda für die Zerstörung des Sozialismus!

Und man beachte, daß die „Rabotschaja Mysl" nicht nur den Gedan-ken entwickelt, die lokalen Organisationen sollten die lokalen Kampf-formen und die besonderen Anlässe zur Agitation selbst finden, die Agita-tionsmethoden usw. selbst ausarbeiten — gegen diesen Gedanken würde

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256 . W.J.Lenin

niemand etwas einzuwenden haben. Niemals haben die russischen Sozial-demokraten auch nur im geringsten darauf prätendiert, die Selbständig-keit der Arbeiter in dieser Beziehung einzuengen. Nein, die „Rab. Mysl"will die großen politischen Aufgaben des russischen Proletariats voll-ständig beiseite schieben und sich „vorerst" „bloß" auf die „Interessendes Augenblicks" beschränken. Bisher wollten die russischen Sozialdemo-kraten, gestützt auf jede Forderung des Augenblicks, durch eine Agitation,die an solche Forderungen anknüpft, das Proletariat zum Kampf für seinnächstes Ziel — zum Kampf gegen die Selbstherrschaft — organisieren.Jetzt will die „Rab. Mysl" den Kampf des Proletariats auf den Klein-kampf für kleine Forderungen beschränken. R. TA . weiß sehr wohl, daßer sich von den Ansichten der ganzen russischen Sozialdemokratie lossagt,wenn er den Anklägern der „Rab. Mysl" die folgende Antwort gibt:Man sagt, der Sturz des Zarismus sei die nächste Aufgabe der russischenArbeiterbewegung. Welcher Arbeiterbewegung denn aber, so fragt R.TA.,„der Streikbewegung? der yHlfsvereinigungen? der Arbeiterzirkel?"(Seite 5 des Artikels). Wir antworten ihm hierauf: Sprechen Sie nur fürsich, für Ihre Gruppe, für die von ihr vertretenen unteren Schichten desProletariats einer bestimmten Gegend, aber wagen Sie es nicht, für diefortgeschrittenen russischen Arbeiter zu sprechen! Die unteren Vertreter

des Proletariats wissen häufig nicht, daß nur eine revolutionäre Parteiden Kampf für den Sturz der Selbstherrschaft zu führen vermag. JL TA.weiß dies ebenfalls nicht. Die fortgeschrittenen russischen Arbeiter aberwissen es. Die unteren Vertreter des Proletariats wissen häufig nicht, da ßsich die russische Arbeiterbewegung nicht auf den Streikkampf, auf Hilfs-vereinigungen und Arbeiterzirkel beschränkt, daß die russische Arbeiter-bewegung schon lange danach strebt, sich als revolutionäre Partei zuorganisieren, und daß sie dieses Streben durdi die Tat bewiesen hat.7L TA . weiß dies ebenfalls nicht. Die fortgeschrittenen russischen Arbeiter

aber wissen es.

JL TA. sucht sein völliges Unverständnis für den Sozialdemokratismusals ein besonderes Verständnis für „unsere Wirklichkeit" auszugeben.Sehen wir uns seine Ansiditen in dieser Frage etwas näher an.

„Vom eigentlichen Begriff der Selbstherrschaft...", schreibt R.TA.,„ ..wollen wir hier nicht weiter reden, da wir bei jedem unserer Ge-sprächspartner die allerdeutlichste und klarste Vorstellung von derartigen

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Eine rüdkläußge Ridhtung in der russisdhen Sozialdemokratie 257

Dingen voraussetzen." Wir werden gleich sehen, daß R. JA . selber einen

im höchsten G rade undeutlichen und unklaren Begriff von derartigen Din-gen hat, zunächst aber wollen wir noch einen Umstand erwähnen. Ge-hören Arbeiter zu den Gesprächspartnern von R. M.? Ja, natürlich. Undwenn das der Fall ist, woher sollen sie dann den allerdeutlichsten Begriffvon der Selbstherrschaft nehm en? Es ist offenkundig, daß hierfür die um-fassendste und systematischste Propaganda der Ideen der politischen Frei-heit überhaupt notwendig ist, eine Agitation notwendig ist, die mit jedereinzelnen Erscheinungsform polizeilicher Gewalttaten und bürokratischerUnterdrückung eine „deutliche Vorstellung" (in den Köpfen der Arbeiter)

von der Selbstherrschaft verbindet. Dies scheint klar zu sein. Und wenndas der Fall ist, kann dann eine rein lokale Propaganda und Agitationgegen die Selbstherrschaft erfolgreich sein? ist es nicht unbedingt not-wendig, sie in ganz Rußland so zu organisieren, daß sie zu einer plan-mäßigen Tätigkeit, das heißt zur Tätigkeit einer Partei wird? Weshalb hatR.3H. denn unter den nächsten Aufgaben der russischen Arbeiterbewegungnicht auch die Aufgabe genannt, eine systematische Propaganda und Agi-tation gegen die Selbstherrschaft zu organisieren? Nur weil er die un-deutlichste und unklarste Vorstellung von den Aufgaben der russischenArbeiterbewegung und der russischen Sozialdemokratie hat.

Dann geht R. JA . zur Erläuterung dessen über, daß die Selbstherr-schaft eine gewaltige „persönliche Macht" (militärisch gedrillte Bürokratie)und eine gewaltige „ökonomische Macht" (finanzielle Mittel) darstellt.Ohne uns bei den „undeutlichen" Seiten seiner Erläuterung aufzuhalten(und es gibt hiersehrv iel „Undeutliches"),gehen wir zur Hauptsache über:

„Nun also", fragt R. TA. die russische Sozialdemokratie, „wird dennnicht den russischen A rbeitern im gegenwärtigen Augenblick geraten, denSturz eben dieser persönlichen Macht und die Besitzergreifung dieser

ökonomischen Macht zur ersten und nächsten Aufgabe ihrer heutigen(erst in Keimform vorhandenen) Organisationen zu machen? (von denRevolutionären, die sagen, die Zirkel fortgeschrittener Arbeiter müßtendiese Aufgabe übernehmen, reden wir gar nicht erst)."

Wir reiben uns erstaunt die Augen und lesen diese ungeheuerlicheStelle zwei- und dreimal. Haben wir uns wirklich nicht geirrt? Nein, wirhaben uns nicht geirrt: R. 74. weiß wirklido nidot, was Sturz der Selbst-herrschaft heißt. Dies ist unglaublich, aber Tatsache. Ja, und kann man

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258 W.3. Lenin

nach der von R. 7A. offenbarten Gedankenverwirrung dies überhaupt für

unglaublich halten?TL. M. wirft die Ergreifung der Macht durch die Revolutionäre und denSturz der Selbstherrschaft durch die Revolutionäre durcheinander.

Die alten russischen Revolutionäre (die Anhänger des Volkswillen)strebten nach Ergreifung der Macht durd i eine revolutionäre Parte i. Nachder Ergreifung der Macht, dachten sie, werde „die Partei die persönlicheMacht" der Selbstherrschaft „stürzen", d. h. an Stelle der Beamten eigeneBeauftragte ernennen, „die ökonomische Macht ergreifen", d. h. alle finan-ziellen Mittel des Staates in ihre Hand bringen und eine soziale Umwäl-

zung vollziehen. Die (alten) Anhänger des Volkswillen strebten wirklichden „Sturz der persönlichen und die Besitzergreifung der ökonomischenMacht" der Selbstherrschaft an, wenn man schon nach dem Beispiel vonTL.7A. diese plumpen Ausdrücke gebrauchen will. Die russischen Sozial-demokraten haben sich entschieden gegen diese revolutionäre Theorie ge-wandt. Plechanow unterzog sie einer schonungslosen Kritik in seinenSchriften „Sozialismus und politischer Kampf" (1883) und „UnsereMeinungsverschiedenheiten" (1885) und zeigte den russischen Revolu-tionären ihre Aufgabe: Gründung einer revolutionären Arbeiterpartei,

deren nächstes Ziel der Sturz des Absolutismus sein muß. Was aber istSturz des Absolutismus? Um dies für TL 7d. TXL erläutern, müssen wirzunächst die Frage beantworten: Was ist Selbstherrschaft? Selbstherr-schaft (Absolutismus, unbeschränkte Monarchie) ist eine Regierungs-form, bei der die oberste Gewalt restlos und ungeteilt (unumschränkt)dem Zaren gehört. Der Zar erläßt die Gesetze, er ernennt die Beamten,er vereinnahmt und verausgabt die Volksgelder ohne jede 'Beteiligung desVolkes an der Qesetzgebung und an der 'Kontrolle derVerwältung. Selbst-herrschaft ist daher unum schränkte Herrschaft der Beamten und der Poli-zei und Rechtlosigkeit des Volkes. Unter dieser Rechtlosigkeit hat dasganze Volk zu leiden, die besitzenden Klassen aber (besonders die reichenGutsherren und Kapitalisten) üben einen sehr starken Einfluß auf die Be-amtenschaft aus. Die Arbeiterklasse dagegen hat doppelt zu leiden: so-wohl unter der Rechtlosigkeit des ganzen russischen Volkes als auch u nte rder Knechtung der Arbeiter durch die Kapitalisten, die die Regierungzwingen, ihren Interessen zu dienen.

Was bedeutet nun Sturz des Absolutismus? Das bedeutet, daß der Zar

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Eine rüdkläufige JZidhlung in der russischen Sozialdemokratie 259

auf die unumschränkte Macht verzichtet, daß das Volk das Recht erhält,

seine Vertreter zum Erlaß von Gesetzen, zur Beaufsichtigung der Tätig-keit der Beamten, zur Beaufsichtigung der Vereinnahmung und Veraus-gabung der Mittel des Staates zu wählen. Eine solche Regierungsform,bei der das Volk an der Gesetzgebung und Verwaltung teilnimmt, heißtkonstitutionelle Regierungsform (Konstitution = Gesetz über die Beteili-gung von Volksvertretern an der Gesetzgebung und Staatsverwaltung).Also Sturz der Selbstherrschaft bedeutet die Ersetzung der autokratischenRegierungsform durch eine konstitutionelle Regierungsform. Somit istzum Sturz der Selbstherrschaft keinerlei „Sturz der persönlichen Machtund Besitzergreifung der ökonomischen Macht" erforderlidi, erforderlidiist vielmehr, daß die Zarenregierung gezwungen wird, auf ihre unum-schränkte Macht zu verzidaten und einen ausVolksvertretern bestehendenSemski Sobor [Nationalversammlung] zur Ausarbeitung einer Verfassungeinzuberufen („eine demokratisdie Verfassung" [Volksverfassung, dieden Interessen des Volkes entspridit] „zu erkämpfen", wie es in dem 1885von der Gruppe „Befreiung der Arbeit" veröffentliditen Programment-wurf der russisdien Sozialdemokraten heißt).

Weshalb muß der Sturz der Selbstherrschaft die erste Aufgabe der rus-

sischen Arbeiterklasse sein? Weil die Arbeiterklasse unter der Selbst-herrsdiaft ihren Kampf nicht an breiter Front zu entwickeln vermag, weilsie sich keine festen Positionen weder auf ökonomischem nodi auf poli-tisdiem Gebiet erkämpfen kann, weil sie nidit festgefügte Massenorgani-sationen gründen und vor allen werktätigen Massen das Banner dersozialen Revolution entfalten kann, und weil sie nidit die Massen lehrenkann, für diese Revolution zu kämpfen. Nur bei politischer Freiheit istein entschlossener Kampf der ganzen Arbeiterklasse gegen die Klasse derBourgeoisie möglich, und das Endziel dieses Kampfes besteht darin, daß

das Proletariat die politische Macht erobert und die sozialistische Gesell-sdiaft erriditet. Eben diese Erkämpfung der politischen Macht durch dasorganisierte Proletariat, das eine lange Sdiule des Kampfes durdigemadithat, wird wirklidi „Sturz der persönlichen und Besitzergreifung der öko-nomischen Macht" der bürgerlichen Regierung sein, diese Machtergreif ungaber haben die russisdien Sozialdemokraten den russischen Arbeiternniemals als nächste Aufgabe gestellt. Die russischen Sozialdemokratenhaben stets gesagt, daß die russisdie Arbeiterklasse nur bei politisdier

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260 W.3. Centn

Freiheit, bei einem an breiter Front geführten Kampf der Massen fähig

sein wird, die Organisationen für diesen endgültigen Sieg des Sozialismuszu schaffen.Auf welchem Wege aber kann die russische Arbeiterklasse die Selbst-

herrschaft stürzen? Die Redakteure der „Rab. Mysl" spötteln ja sogarüber die Gruppe „Befreiung der Arbeit", die die russische Sozialdemo-kratie gegründet und in ihrem Programm gesagt hat: „Der Kampf gegendie Selbstherrschaft ist selbst für die Arbeiterzirkel obligatorisch, dieheute die Keimformen der künftigen russischen Arbeiterpartei darstellen."Der „Rab. Mysl" (siehe Nr. 7 des Blattes und den h ier behandelten

Artikel) erscheint das lächerlich: Sturz der Selbstherrschaft durch Arbei-terzirkel! W ir antworten den Redakteuren der „Rab. M ysl" hierauf: überwen lacht ihr? über euch selbst lacht ihr! Die Redakteure der „Rab. Mysl"beklagen sich, daß die Polemik der russischen Sozialdemokraten gegensie nicht kameradschaftlich sei. Mögen die Leser selbst urteilen, auf wes-sen Seite wir eine unkameradschaftliche Polemik finden: auf Seiten deralten russischen Sozialdemokraten, die ihre Ansichten klar ausgesprochen

, haben und geradeheraus erklären, welche Ansichten der „Jungen" sie fürirrig halten und warum; — oder aber auf Seiten der „Jungen", die, ohne

ihre Gegner zu nennen, heimlich sticheln, bald gegen den „Verfassereines deutschen Buches über Tschernyschewski" (Plechanow, wobei siediesen mit einigen legalen Schriftstellern zusammenwerfen, ohne irgend-welchen Grund dazu zu haben), bald gegen die Gruppe „Befreiung derArbeit", indem sie einzelne Sätze des Programms dieser Gruppe entstelltzitieren, ohne diesem ein auch nur einigermaßen bestimm tes eigenes Pro-gramm entgegenzustellen. Jawohl! Wir erkennen die Pflicht der Kam erad-schaft an, die Pflicht, alle Genossen zu unterstützen, die Pflicht der Duld-samkeit gegenüber den Meinungen von Genossen, aber für uns ergibt sich

die Pflicht der Kameradschaft aus der Pflicht vor der russischen und vorder internationalen Sozialdemokratie und nicht umgekehrt. Wir halten unsder „Rab. Mysl" gegenüber nicht deshalb zur Kameradschaft verpflichtet,weil ihre Redakteure unsere Genossen sind, sondern wir halten die Redak-teure der „Rab. Mysl" nur deshalb und insoweit für unsere Genossen, alssie in den Reihen der russischen (und folglich auch der internationalen)Sozialdemokratie arbeiten. Wenn wir daher überzeugt sind, daß „Ge-nossen" zurückgehen, hinter das sozialdemokratische Programm, daß

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Eine rückläufige RidhtuncJ in der russischen Sozialdemokratie 261

„Genossen" die Aufgaben der Arbeiterbewegung einengen und verstüm-

meln, so halten wir es für unsere Pflicht, unsere Überzeugung mit vollerBestimmtheit auszusprechen, ohne Platz für Unklarheiten zu lassen!

Wir sagten soeben, daß die Redakteure der „Rab. Mysl" die Ansichtender Gruppe „Befreiung der Arbeit" entstellen. Möge der Leser selbst ur-teilen. „Wir sind willens, diejenigen unserer Genossen nicht zu verstehen",schreibt JZ. TA., „die ihr Programm der .Befreiung der Arbeit' für eineeinfache Antwort auf die Frage halten: ,Woher sollen die Kräfte zumKampf gegen die Selbstherrschaft genommen werden?'" (An einer an-deren Stelle: „Unsere Revolutionäre betrachten die Bewegung der Arbei-

ter als das beste Mittel zum Sturz der Selbstherrschaft.") Man schlageden von der Gruppe „Befreiung der Arbeit" 1885 veröffentlichten undvon P. B. Axelrod in seiner Broschüre „Zur Frage der gegenwärtigen Auf-gaben und der Taktik der russischen Sozialdemokratie" (Genf 1898) wie-der abgedruckten Programmentwurf der russischen Sozialdemokratenauf — und man wird sehen, daß dem Programm die völlige Befreiung derArbeit vom Joch des Kapitals, der Übergang aller Produktionsmittel ingesellschaftliches Eigentum, die Ergreifung der politischen M acht durch •die Arbeiterklasse, die Gründung einer revolutionären Arbeiterpartei zu -

grunde gelegt worden ist. Daß JL TA . dieses Programm entstellt, daß eres nicht verstehen will, ist klar. Er klammert sich an P. B. Axelrods Wortezu Anfang der Broschüre, wo dieser sagt, das Programm der G ruppe „Be-freiung der Arbeit" „war die Antwort" auf die Frage: Woher die Kräftenehmen zum Kampf gegen die Selbstherrsdiaft? Aber es ist dodi einehistorische Tatsache, daß das Programm der Gruppe „Befreiung derArbeit" eine Antwort auch auf diese Frage der russischen Revolutionäre,auch auf diese Frage der ganzen russischen revolutionären Bewegung war.Wenn nun das Programm der Gruppe „Befreiung der Arbeit" auf diese

Frage die Antwort gegeben hat, bedeutet das denn etwa, daß die A rbeiter-bewegung für diese Gruppe, die Gruppe „Befreiung der Arbeit", nur einMittel war? Dieses „Unverständnis" von R. TA. bezeugt doch nur, daßihm allgemeinbekannte Tatsadien aus der Tätigkeit der Gruppe „Be-freiung der Arbeit" nidit bekannt sind.

Weiter. Wie kann denn der „Sturz der Selbstherrschaft" die Aufgabevon Arbeiterzirkeln sein? R. TA. begreift das nicht. Man schlage das Pro-gramm der Gruppe „Befreiung der Arbeit" auf: „Für das Hauptmittel

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des politischen Kampfes der Arbeiterzirkel gegen den Absolutismus",heißt es dort, „halten die russischen Sozialdemokraten die Agitationinnerhalb der Arbeiterklasse und die weitere Verbreitung sozialistischerIdeen und revolutionärer Organisationen unter den Arbeitern. Eng mit-einander zu einem einheitlichen Ganzen verbunden, werden diese Orga-nisationen nicht bei einzelnen Zusammenstößen zwischen ihnen und derRegierung stehenbleiben und nicht säumen, im geeigneten Moment zumallgemeinen, entscheidenden Angriff auf die Regierung überzugehen."Eben diese Taktik haben die russischen Organisationen befolgt, die imFrühjahr 1898 die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands" grün-

deten. Und sie haben bewiesen, daß solche Organisationen in Rußlandeine große politische Macht darstellen. Wenn diese Organisationen eineeinzige Partei bilden und gegen die autokratische Regierung eine um-fassende Agitation entfalten, wobei sie alle Elemente der liberalen Oppo-sition ausnutzen, so wird diese Partei die Aufgabe, politische Freiheit zuerkämpfen, zweifellos erfüllen können. Wenn die Redakteure der „Rab.Mysl" „willens sind", das „nicht zu verstehen", so sind wir „willens",ihnen zu raten: Lernt gefälligst, Herrschaften, denn an und für sidi sinddiese Dinge durchaus nicht so schwer zu begreifen.

Kehren wir jedoch zu R. 7A . zurück, den wir bei seinen Betrachtungenüber den Kampf gegen die Selbstherrschaft verlassen haben. Die eigeneAnsicht von R. !M. über diese Frage illustriert noch klarer die neue — rück-läufige — Richtung der „Rab. Mysl".

„Das Ende der Selbstherrschaf t ist k lar", schreibt R. 7A . „ . . . Der Kampf

mit der Selbstherrschaft ist für alle lebensfähigen Gesellschaftselementeeine der Bedingungen ihrer gesunden Entwicklung." Hieraus folgt wohl,wird der Leser denken, daß der Kampf mit der Selbstherrschaft auch fürdie Arbeiterklasse notwendig ist? Nein, wartet nur. R. 7Ä. hat seine

eigene Logik und seine eigene Terminologie. Unter dem Wort „Kampf"versteht er, wenn er das Wor t „gesellschaftlicher" (Kampf) hinzufügt,etwas ganz Besonderes. Nach Schilderung der legalen Opposition gegendie Regierung, in der sich viele Schichten der russischen Bevölkerung be-finden, schließt R. 7A . •. „Sowohl der Kampf für die öffentliche Selbstver-waltung auf dem Lande und in den Städten als auch der Kampf für dieöffentliche Schule und der Kampf für die öffentliche Unterstützung derhungernden Bevölkerung usw .ist doch ein Kampf mit der Selbstherrschaft."

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Eine rüddäufige Ridhtung in der russisdhen Sozialdemokratie 263

„Die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Kampfes mit der Selbstherr-

schaft der Beamten ist für alle bewußten fortschrittlichen Schichten undGruppen der Bevölkerung offensichtlich. Mehr als das. Dieser gesellschaft-liche Kampf, der, wie wir gesehen haben, infolge eines sonderbaren Miß-verständnisses bei vielen russischen revolutionären Schriftstellern keine ge-neigte Aufmerksamkeit findet, wird von der russischen Gesellschaft be-reits geführt, und nicht erst seit gestern." „Die wirkliche Frage ist, wiediese einzelnen Gesellschaftsschichten... diesen" (dies bemerke man!)„Kampf mit der Selbstherrschaft so erfolgreich wie möglich führen kön-nen... Die Hauptfrage aber für uns ist: Wie sollen diesen gesellschaft-

lichen (!) Kampf mit der Selbstherrschaft unsere Arbeiter führen..."In diesen Betrachtungen von R. TA . häufen sich wiederum Verworren-

heit und Fehler in unglaublicher Menge.Erstens verwechselt R. TA . die legale Opposition mit dem Kampf gegen

die Selbstherrschaft, mit dem Kampf für den Sturz der Selbstherrschaft.Diese für einen Sozialisten unverzeihliche Verwechslung wird bei ihmdurch den ohne Erklärung gebrauchten Ausdruck „Kampf mit der Selbst-herrschaft" hervorgerufen: dieser Ausdruck kann (mit einem Vorbehalt)sowohl den Kampf gegen die Selbstherrschaft als auch den Kampf gegen

einzelne Maßnahmen der Selbstherrschaft auf dem Boden dieses selbenautokratischen Systems bedeuten.

Zweitens gleitet R. TA., indem er die legale Opposition zum gesell-schaftlichen Kampf mit der Selbstherrschaft rechnet und sagt, unsere Ar-beiter müßten „diesen gesellschaftlichen Kampf" führen, somit zu derAuffassung ab, unsere Arbeiter sollten keinen revolutionären Kampfgegen die Selbstherrschaft führen, sondern legale Opposition gegen dieSelbstherrschaft treiben, d . h., er gleitet ab zu einer ungeheuerlichen Ver-flachung der Sozialdemokratie und zu ihrer Verwechslung mit dem alier-

gewöhnlichsten und armseligsten russischen Liberalismus.Drittens sagt R. TA. die direkte TAnwahrheit über die russischen sozial-

demokratischen Schriftsteller, wenn er behauptet, daß sie der legalenOpposition keine Beachtung schenken (R . TA. zieht es freilich vor, seineVorwürfe „kameradschaftlich" ohne Nennung des Namens zu machen.Aber wenn er nicht die Sozialdemokraten im Auge hat, so sind seine Wortejedes Sinnes bar). Im Gegenteil, sowohl die Gruppe „Befreiung der Arbeit"als auch P. B. Axelrod gesondert, sowohl das „Manifest der Sozialdemo-

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kratischen Arbeiterpartei Rußlands" als auch die Broschüre „Die Aufgaben

der russischen Sozialdemokraten" (die von der „SozialdemokratischenArbeiterpartei Rußlands" herausgegeben und von Axelrod als 'Kommen-tar zum „Manifest" bezeidinet worden ist) — sie alle haben der legalenOpposition nicht nur Beachtung gesdienkt, sondern auch das Verhältnisdieser Opposition zur Sozialdemokratie auf das genaueste klargestellt.

Erklären wir das alles. Welchen „Kampf mit der Selbstherrsd iaft" füh-ren unsere Semstwos, unsere liberalen Vereinigungen ü berhaupt, die libe-rale Presse? Führen sie einen Kampf gegen die Selbstherrsdiaft, einenKampf für den Sturz der Selbstherrsdiaft? Wem, einen soldben Kampf

haben sie nie gejährt u nd führen sie nidot. Einen soldien Kampf führenlediglich die Revolutionäre, die nicht selten aus der Mitte der liberalenGesellschaft hervorgehen und sidi auf die Sympathie der Gesellsdiaftstützen. Aber einen revolutionären Kampf führen — das ist durchaus nichtdasselbe wie mit den Revolutionären sympathisieren und ihnen Unter-stützung erweisen; Kampf gegen die Selbstherrschaft ist durchaus niditdasselbe wie legale Opposition gegenüber der Selbstherrsdiaft. Die rus-sisdien Liberalen bringen ihre Unzufriedenheit mit der Selbstherrsdiaftlediglich in einer solchen Form zum Ausdruck, die die Selbstherrschaft

selbst gestattet, d. h., die die Selbstherrschaft als ungefährlidi für dieSelbstherrsdiaft betrachtet. Die stärkste Ersdieinungsform der liberalenOpposition waren lediglich die an die Zarenregierung geriditeten 'Bitt-

schreiben der Liberalen, das Volk zur Verwaltung heranzuziehen. Unddie Liberalen nahmen jedesmal geduldig die groben polizeilichen Ab-lehnungen hin, die auf diese Bittschreiben folgten, sie ertrugen die un-gesetzlidien und barbarischen Verfolgungen, mit denen die Gendarmen-regierung selbst auf gesetzlidie Versudie, die eigene Meinung zu sagen,antwortete. Die liberale Opposition mir nidits dir nidits in einen gesell-

sdiaftlidien Kampf gegen die Selbstherrsdiaft verwandeln heißt die Sachedirekt verfälschen, denn die russischen Liberalen haben niemals eine revo-lutionäre Partei zum Kampf für den Sturz der Selbstherrsdiaft organisiert,obgleidi sie hierfür stets sowohl materielle Mittel als audi ausländisdieVertreter des russisdten Liberalismus finden konnten und finden können.R. 7A . aber verfälscht die Sache nicht nur, sondern er zieht hier auch denNamen des großen russischen Sozialisten N. G. Tschernyschewski herein.„Verbündete der Arbeiter in diesem Kampf", sdireibt TL M ., „sind alle

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Eine rückläufige Wartung in der russisdien Sozialdemokratie 265

fortschrittlichen Schichten der russischen Gesellschaft, die ihre gesell-

schaftlichen Interessen und Einrichtungen verteidigen, die ihre gemein-samen Vorteile klar begreifen, die ,niemals vergessen'" (R . TA . zitiertTschernyschewski), „welchen großen .Unterschied es macht, ob eine Ver-änderung auf einen unabhängigen Beschluß der Regierung hin oder au}

das formelle Verlangen der Qese llsdbaft hin herbeigeführt wird ' ." Wenndieses Urteil auf alle Vertreter des „gesellschaftlichen Kampfes", wieR. TA. ihn versteht, d. h. auf alle russischen Liberalen, bezogen wird, soist das eine direkte Tälsdhuncj. Die russischen Liberalen haben niemalsformelle Forderungen an die Regierung gerichtet, und eben deshalb haben

die russischen Liberalen niemals eine selbständige revolutionäre Rolle ge-spielt und können sie auch jetzt in keiner Weise spielen. Verbündete derArbeiterklasse und der Sozialdemokratie können nicht „alle fortschritt-lichen Schichten der Gesellschaft" sein, sond ern nu r rev olutionäre P arteien,die von Angehörigen dieser Gesellschaft gegründet werden. Die Liberalendagegen können und sollen überhaupt nur eine der Quellen zusätzlicherKräfte und Mittel für die revolutionäre Arbeiterpartei sein (wie das auchP . B. Ax elrod in der obenge nannten Broschüre mit voller K larheit gesagtha t). N . G. Tscherny schew ski h at ja die „fortschrittlichen Schichten de r

russischen Gesellschaft" gerade deshalb schonungslos verspottet, weil siedie Notwendigkeit formeller Forderungen an die Regierung nicht begrif-

fen und teilnahmslos zusahen, wie die aus ihrer Mitte hervorgegangenenRevolutionäre unter den Schlägen der autokratischen Regierung zugrundegingen. JL . TA. zitiert Tschernyschewski in diesem Fall genauso sinnlos,wie die im zweiten Artikel der „Sonderbeilage" aus dem Zusammenhanggerissenen Tschernyschewski-Zitate sinnlos sind, die zeigen sollen, daßTschernyschewski kein Utopist gewesen sei und daß die russischen Sozial-demokraten angeblich nicht die ganze Bedeutung des „großen russischenSozialisten" erfaßt hätten. Plechanow hat in seinem Buch über Tscherny-schewski (die im Sammelband „Sozialdemokrat" 9 1 enthaltenen, in deut-scher Sprache als Buch erschienenen Artikel) die Bedeutung Tscherny-schewskis vollauf gewürdigt und sein Verhältnis zur Theorie von Marxund Engels klargestellt . Die Redaktion der „Rab. Mysl" dagegen hat nurgezeigt, daß sie unfähig ist, eine einigermaßen zusammenhängende undallseitige Einschätzung Tschernyschewskis, seiner starken und schwachenSeiten, zu geben.

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Die „wirkliche Frage" der russischen Sozialdemokratie besteht durch-

aus nicht darin, wie die Liberalen den „gesellschaftlichen Kampf" zu füh-ren haben (unter dem R. 7A., wie wir gesehen haben, die legale Oppo-sition versteht), sondern darin, wie eine revolutionäre, für den Sturz desAbsolutismus kämpfende Arbeiterpartei zu organisieren ist, die sich aufalle oppositionellen Elemente in Rußland stützen könnte, die alle Erschei-nungsformen der Opposition für ihren revolutionären Kampf ausnutzenkönnte. Hierfür ist eben eine revolutionäre Arbeiterpartei notwendig,weil nur die Arbeiterklasse in Rußland ein entschlossener und konsequen-ter Kämpfer für die Demokratie sein kann, weil die liberalen Elemente

ohne energische Beeinflussung durch eine solche Partei „im Zustand einerschlaffen, untätigen, schlummernden Kraft bleiben können" (P. B.Axel-rod, zitierte Broschüre, S. 23). Wenn R. 7d. sagt, unsere „fortschrittlichstenSchichten" führten einen „wirklichen (!!) gesellschaftlichen Kampf mitder Selbstherrschaft" (S. 12 des Artikels von R. 9A.), die Hauptfrage füruns sei, „wie unsere Arbeiter diesen gesellschaftlichen Xampj mit derSelbstherrschaft führen sollen", wenn er solche Dinge sagt, so sagt ersich im Grunde vollständig von der Sozialdemokratie los. Wir könnenden Redakteuren der „Rab. Mysl" nur ernstlich raten, recht gut darüber

nachzudenken, wohin sie wollen und wo ihr wahrer Platz ist: unter denRevolutionären, die das Banner der sozialen Revolution in die werktätigenKlassen tragen und sie in einer politischen revolutionären Partei organi-sieren w ollen, oder unter den L iberalen, die ihren „gesellschaftlichenKampf" führen (d. h. legale Opposition betreiben). Gibt es doch in derTheorie der „gesellschaftlichen Selbsttätigkeit" der Arbeiter, in der Theo-rie der „gesellschaftlichen gegenseitigen Hilfe" und der Berufsverbände,die sich „vorerst" m it dem Zehnstundentag begnügen, in der Theorie vom„gesellschaftlichen Kampf" der Semstwos, der liberalen Vereinigungen

usw. mit der Selbstherrschaft — gibt es dodi in dieser Theorie rein garnichts Sozialistisches, nichts, was die Liberalen nicht anerkennen würden!Geht doch im Grunde das ganze Programm der „Rab. Mysl" (soweit manhier von einem Programm reden kann) dahin, die russischen Arbeiter inihrer Unentwickeltheit und Zersplitterung zu belassen und sie zum An-hängsel der Liberalen zu machen.

Einige Sätze von- R. M. sind besonders seltsam. „Das ganze Malheurist nur" , läßt R. M . sich vernehmen, „daß unsere revolutionäre Intelligenz,

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Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie 167

die von der politischen Polizei schonungslos verfolgt wird, den Kampf

mit dieser politischen Polizei für einen politischen Kampf mit der Selbst-herrschaft hält." Welchen Sinn kann eine solche Erklärung haben? Diepolitische Polizei heißt eben deshalb politisch, weil sie die Feinde derSelbstherrschaft und die Kämpfer gegen die Selbstherrschaft verfolgt.Deshalb kämpft auch die „Rab. Mysl", solange sie ihre Verwandlung ineinen Liberalen noch nicht vollzogen hat, gegen die politische Polizei —

ebenso wie alle russischen Revolutionäre und Sozialisten, wie alle klassen-bewußten Arbeiter gegen sie kämpfen. Aus der Tatsache, daß die politi-sche Polizei Sozialisten und Arbeiter schonungslos verfolgt, daß die Selbst-

herrschaft über eine „straffe Organisation", „über tüchtige und geschickteStaatsmänner" verfügt (S. 7 des Artikels von R. 7A.), aus dieser Tatsachekönnen sich nur zwei Schlußfolgerungen ergeben: Der feige und jämmer-liche Liberale schließt daraus, unser Volk überhaupt und die Arbeiter imbesonderen seien noch wenig zum Kampf vorbereitet und alle Hoflfnungmüsse auf den „Kampf" der Semstwos, der liberalen Presse usw. gesetztwerden, denn dies sei „ein wirklicher Kampf mit der Selbstherrschaft"und nicht nur ein Kampf mit der politischen Polizei. Der Sozialist undjeder klassenbewußte Arbeiter schließt daraus, daß die Arbeiterpartei

mit allen Kräften ebenfalls danach streben m uß, eine „straffe Organisation"zu schaffen, aus den fortgeschrittenen Arbeitern und den Sozialisten „tüch-tige und geschickte Revolutionäre" heranzubilden, die die Arbeiterparteiauf das Niveau des führenden Kämpfers für die Demokratie heben undes verstehen, alle oppositionellen Elemente an sie heranzuziehen.

Die Redakteure der „Rab. Mysl" bemerken nicht, daß sie eine schiefeEbene betreten haben, auf der sie zu der ersten Schlußfolgerung abgleiten!

Oder: „Was uns an diesen Programmen verblüfft" — d. h. an den Pro-grammen der Sozialdemokraten —, schreibt R.M., „ist auch dies, daß sie

ewig die Vorzüge der Tätigkeit von Arbeitern in einem (bei uns nichtexistierenden) Parlament in den Vordergrund stellen, während sie... dieWichtigkeit einer Beteiligung der Arbeiter" an den gesetzgebenden Ver-sammlungen der Fabrikanten, an den Kammern für Fabrikangelegen-heiten, an der öffentlichen Selbstverwaltung in den Städten „vollständigignorieren" (S. 15). Wenn die Vorzüge eines Parlaments nicht in denVordergrund gerückt werden, woher sollen dann die Arbeiter von politi-schen Rechten und politischer Freiheit erfahren? Wenn man von diesen

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Fragen schweigt — wie das die Zeitung „Rab. M ysl" tut —, heißt das

nicht, in den unteren A rbeiterschichten die politische Unwissenheit auf-rechterhalten? Was die Beteiligung der Arbeiter an der öffentlichen Ver-waltung der Städte anbelangt, so ha t kein einziger Sozialdemokrat irgend-wann und irgendwo den Nutzen und die Wichtigkeit der Tätigkeit sozia-listischer Arbeiter in der städtischen Selbstverwaltung bestritten, es istjedoch lächerlich, hiervon in Rußland zu reden, wo keinerlei offenes Her-vortreten des Sozialismus möglich ist, wo Begeisterung der Arbeiter fürstädtische Selbstverwaltung (auch wenn diese möglich wäre) in der Praxisbedeuten würde, daß die fortgeschrittenen Arbeiter von der sozialistischen

Arbeitersache zum Liberalismus abgelenkt würden.„Die Haltung der fortgeschrittenen Arbeiterschichten zu einer solchen

(autokratischen) Regierung...", sagt JL. !M.r „ist ebenso verständlich wiedie Haltung der Arbeiter zu den Fabrikanten." Also sind, wie hierausnach dem gesunden Menschenverstand folgt, die fortgeschrittenen Arbeiter-schichten nicht weniger klassenbewußte Sozialdemokraten als die Sozia-listen aus den Reihen der Intellektuellen, und deshalb ist das Streben der„Rab. Mysl", die einen von den anderen zu trennen, unsinnig und schäd-lich. Also hat die russische Arbeiterklasse bereits die Elemente für die

Bildung einer selbständigen politischen Arbeiterpartei hervorgebracht undselbständig herausgebildet. Die Redakteure der „Rab. Mysl" aber ziehenaus der Tatsache der politischen Bewußtheit der fortgeschrittenen Arbei-terschichten den Schluß..., es sei notwendig, diese Fortgeschrittenen zu-rückzuzerren, um sie auf der Stelle treten zu lassen! „Welchen Kampfsollen die Arbeiter wünschenswerterweise führen?" fragt R. JH., und erantwortet: Wünschenswert ist der Kampf, der möglich ist, und möglichist der, den die Arbeiter „im gegebenen Augenblick" „führen"!!! Es hältschwer, in schärferer Form dem sinnlosen und prinzipienlosen Opportu-

nismus Ausdruck zu geben, von dem die für die modische „Bernsteiniade"begeisterten Redakteure der „Rab. Mysl" infiziert sind! Wünschenswertist, was möglich ist, und möglich ist, was im gegebenen Augenblick vor-handen ist! Das ist doch dasselbe, als ob man einem Menschen, der sichangeschickt hat, einen weiten und schwierigen Weg zurückzulegen, aufdem ihn eine Menge Hindernisse und eine Menge Feinde erwarten, wennman einem solchen Menschen auf die Frage: Wohin soll ich gehen? ant-worten wollte: Es ist wünschenswert, dorthin zu gehen, wohin zu gehen mög-

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Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie 269

lieh ist, und möglich ist es, dorthin zu gehen, wohin du im gegebenen Augen-

blick gehst! Das eben ist Nihilismus, nur kein revolutionärer, sondern einopportunistischer Nihilismus, wie ihn entweder Anarchisten oder bürger-liche Liberale zeigen! Wenn R. TA. die russischen Arbeiter zum „partiel-len" und „politischen" Kampf „auffordert" (wobei er unter politischemKampf nicht den Kampf gegen die Selbstherrschaft, sondern nur den„Kampf um Verbesserung der Lage aller Arbeiter" versteht), so forderter die russische Arbeiterbewegung und die russische Sozialdemokratiedirekt auf, einen Schritt zurück zu tun, fordert er die Arbeiter im Grundegenommen auf, sich von den Sozialdemokraten zu trennen und auf diese

Weise alles über Bord zu werfen, was auf Grund der europäischen undder russischen Erfahrungen errungen wurde! Für den Kampf um Verbes-serung ihrer Lage und nur für diesen Kampf bedürfen die Arbeiter durch-aus nicht der Sozialisten. In allen Ländern wird man Arbeiter finden, dieden Kampf um die Verbesserung ihrer Lage führen, aber nichts vom So-zialismus wissen oder sich sogar feindlich zu ihm verhalten.

„Zum Schluß", schreibt R. TA., „ein paar Worte über unsere Auffas-sung vom A rbeitersozialismus." Nach dem oben D argelegten fällt es demLeser nicht mehr schwer, sich vorzustellen, von welcher Art diese „Auf-

fassung" ist. Es handelt sich einfach um einen Abklatsch des „modischen"Bernsteinschen Buches. Unsere „jungen" Sozialdemokraten setzen an dieStelle des proletarischen Klassenkampfes die „gesellschaftliche und poli-tische Selbsttätigkeit der Arbeiter". Wenn wir uns erinnern, wie R. TA .den gesellschaftlichen „Kampf" und die „Politik" auffaßt, so wird es füruns klar sein, daß dies eine direkte Rückkehr zu der „Formel" gewisserlegaler russischer Schriftsteller ist. Anstatt genau das Ziel (und das We-sen) des Sozialismus zu bezeichnen: Übergang des Bodens, der Fabrikenusw., überhaupt aller Produktionsmittel in das Eigentum der ganzen Ge-

sellschaft und Ersetzung der kapitalistischen Produktion durch eine nacheinem allgemeinen Plan geleitete Produktion im Interesse aller Gesell-schaftsmitglieder, anstatt dessen weist R. TA . zunächst auf die Entwicklungder Berufsverbände und der Konsumvereine hin und erwähnt nur neben-her, daß der Sozialismus zur vollen Vergesellschaftung aller Produktions-mittel führt. Dafür wird in fetter Schrift gedruckt: „Der Sozialismus istlediglich eine weitere, höhere Entwicklung des modernen G emeinwesens" —

eine bei Bernstein entlehnte Phrase, die die Bedeutung und das Wesen

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des Sozialismus nicht nur nicht klarmacht, sondern beides verdunkelt.

Alle Liberalen und alle Bourgeois sind unbedingt für die „Entwicklungdes modernen Gemeinwesens", so daß sie sich alle über die Erklärungvon R. M. freuen werden. Trotzdem aber sind die Bourgeois feinde desSozialismus. Die Sache ist die, daß das „moderne Gemeinwesen" sehrviele verschiedene Seiten hat und daß von denen, die diesen allgemeinenAusdruck benutzen, der eine die eine, der andere die andere Seite imAuge hat. Folglich drischt R. 7d., statt den Arbeitern die Begriffe desKlassenkampfes und des Sozialismus zu erläutern, nur nebelhafte undirreführende Phrasen. Anstatt schließlich das Mittel zu nennen, das der

moderne Sozialismus zur Verwirklichung des Sozialismus gezeigt hat— die Eroberung der politischen Macht durch das organisierte Proleta-riat —, anstatt dessen spricht JL. 7A. nur von der Unterstellung der Pro-duktion unter ihre (der Arbeiter) gesellschaftliche Verwaltung oderunter die Verwaltung einer demokratisierten gesellschaftlichen Macht,demokratisiert „durch ihre (der Arbeiter) tätige Beteiligung an denKammern, die sich mit allen möglichen Fabrik- und Werkangelegen-heiten befassen, an Schiedsgerichten, an allen möglichen Versammlun-gen, Kommissionen und Beratungen zur Ausarbeitung von Arbeits-

gesetzen, durch Beteiligung der Arbeiter an der gesellschaftlichen Selbst-verwaltung und schließlich an einer allgemeinen Vertretungskörper-schaft des Landes" . Die Redakteure der „Rab . Mysl" rechnen also zumArbeitersozialismus nur einen solchen Sozialismus, der auf friedlichemWege erreicht wird, und schließen den revolutionären Weg aus. DieseEinengung des Sozialismus und seine Herabwürdigung zu einem ganzgewöhnlichen bürgerlichen Liberalismus stellt wiederum einen riesigenSchritt rückwärts dar gegenüber den Ansichten aller russischen und derüberwältigenden, erdrückenden Mehrheit der europäischen Sozialdemo-

kraten. Die Arbeiterklasse würde es natürlich vorziehen, die Macht fried-lich zu übernehmen (wir haben bereits früher gesagt, daß diese Macht-ergreifung nur durch die organisierte Arbeiterklasse, die die Schule desKlassenkampfes durchgemacht hat, vollzogen werden kann), wollte dasProletariat aber auf die revolutionäre Machtergreifung verzichten, sowäre das sowohl vom theoretischen als auch vom praktisch-politischenStandpunkt aus eine Torheit und würde lediglich eine schändliche Kon-zession an die Bourgeoisie und alle besitzenden Klassen bedeuten. Es ist

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sehr wahrscheinlich — sogar im höchsten Grade wahrscheinlich —, daß die

Bourgeoisie dem Proletariat keine friedliche Konzession machen, sondernim entscheidenden Augenblick ihre Privilegien mit Gewalt verteidigenwird. Dann wird der Arbeiterklasse kein anderer Weg zur Verwirk-lichung ihres Zieles bleiben als die Revolution. Das ist der Grund, wes-halb das Programm des „Arbeitersozialismus" von der Eroberung derpolitischen Macht schlechthin spricht, ohne das Mittel zu dieser Erobe-rung zu bestimmen, denn die Wahl dieses Mittels hängt von der Zukunftab , die wir nicht genau bestimmen können. Die Tätigkeit des Proletariatsaber in jedem Fall auf friedliche „Demokratisierung" allein beschränken

wollen heißt, wir wiederholen das, den Begriff des Arbeitersozialismusganz willkürlich einengen und verflachen.

Wir werden die anderen Artikel der „Sonderbeilage" nicht ebenso ge-nau untersuchen, üb e r den Artikel zur 10. Wiederkehr des Todestagesvon Tschernyschewski haben wir schon gesprochen. Was nun die Propa-gierung der Bernsteiniade durch die Redakteure der „Rab. M ysl" anbe-langt, die in der ganzen Welt von allen Feinden des Sozialismus über-haupt und den bürgerlichen Liberalen im besonderen so gierig auf gegriffenwurde und gegen die sich die erdrückende Mehrhe it der deutschen Sozial-

demokraten und der deutschen klassenbewußten Arbeiter (auf dem Par-teitag in Hannover) so entschieden ausgesprochen haben — was die Bern-steiniade anbelangt, so ist hier nicht der O rt, ausführlich von ihr zu reden.Uns beschäftigt hier die russische Bernsteiniade, und wir haben bereitsgezeigt, welche grenzenlose Gedankenverwirrung „unsere" Bernsteiniadebedeutet, wie sehr sie jede Spur selbständiger Ansichten vermissen läßt,welchen entschiedenen Rückschritt gegenüber den Anschauungen der rus-sischen Sozialdemokratie sie bedeutet. Von der deutschen Bernsteiniadewollen wir lieber die Deutschen selbst sprechen lassen. Wir bemerken

nur noch, daß die russische Bernsteiniade noch unendlich tiefer steht alsdie deutsche. Bernstein hat trotz all seiner Fehler und trotz seines offen-kundigen Strebens, sowohl in theoretischer als auch in politischer Hinsichtzurückzugehen, noch so viel Verstand und so viel Gewissenhaftigkeit be-halten, daß er, der selbst zu keiner neuen Theorie beziehungsweise kei-nem neuen Programm gelangt ist, es abgelehnt hat, im Programm derdeutschen Sozialdemokratie Abänderungen vorzuschlagen, und im letz-ten, entscheidenden Augenblick erklärt hat, er nehme die Resolution

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272 'W.J.Lenin

Bebeis an, eine Resolution, die der ganzen Welt feierlich verkündet, daß

die deutsche Sozialdemokratie bei ihrem alten Programm und ihrer altenTaktik bleibt. Und unsere russischen Bernsteinianer? Ohne auch nur ein

Hundertstel dessen getan zu haben, was Bernstein getan hat, gehen sie so

weit, einfach nichts von der Tatsache wissen zu wollen, daß alle russischen

sozialdemokratischen Organisationen 1898 das Fundament der „Sozial-

demokratischen Arbeiterpartei Rußlands" gelegt, ihr „Manifest" heraus-

gegeben, die „Rabotschaja Gaseta" zu ihrem offiziellen Organ erklärt

haben und daß alle diese Publikationen ganz und gar auf dem Boden des

„alten" Programms der russischen Sozialdemokraten stehen. Unsere

Bernsteinianer scheinen sich gar nicht bewußt zu sein, daß, wenn sie diesealten Anschauungen verworfen haben und zu neuen gelangt sind, ihre

sittliche Pflicht, ihre Pflicht vor der gesamten russischen Sozialdemokratie

sowie vor den Sozialisten und Arbeitern, die alle ihre Kräfte für die Vor-

bereitung und Gründung der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Ruß-

lands" eingesetzt haben und die jetzt zum großen Teil die russischen

Gefängnisse füllen, daß diese Pflicht von den Vertretern der neuen An-

sichten verlangt, sich1 nicht darauf zu beschränken, versteckt gegen irgend-

welche „unserer Revolutionäre" im allgemeinen zu sticheln, sondern direkt

und offen zu erklären, mit wem sie und womit sie eigentlich nicht einver-

standen sind, welche neuen Anschauungen und welches neue Programm

sie eigentlich an die Stelle der alten setzen.

Wir haben nun noch eine, und zwar vielleicht die wichtigste Frage zu

betrachten: Wie ist das Aufkommen einer solchen rückläufigen Richtung

in der russischen Sozialdemokratie zu erklären? Es geht unserer Meinung

nach nicht an, die Sache allein mit den persönlichen Eigenschaften der

Redakteure der „Rab.Mysl", allein mit dem Einfluß der modischen Bern-

steiniade zu erklären. Die Sache erklärt sich unserer Meinung nach haupt-

sächlich durch eine Besonderheit in der historischen Entwicklung der rus-sischen Sozialdemokratie, die die enge Auffassung vom Arbeitersozialis-

mus hervorgebracht hat — und zeitweilig hervorbringen mußte.

In den achtziger Jahren und zu Beginn der neunziger Jahre, als die

Sozialdemokraten in Rußland praktisch zu arbeiten begannen, hatten sie

es erstens mit den Anhängern des Volkswillen zu tun, die ihnen vorwar-

fen, daß sie sich dem politischen Kampf, diesem Vermächtnis der russi-

schen revolutionären Bewegung, fernhielten, und mit denen die Sozial-

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Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie 273

demokraten hartnäckig polemisierten, und zweitens mit der russischen

liberalen Gesellschaft, die gleichfalls dam it unzufrieden war, daß die revo-lutionäre Bewegung von der Richtung des Volkswillen zur Sozialdemo-kratie umschwenkte. Die Polemik sowohl gegen die einen als auch gegendie anderen drehte sich um die Frage der Politik. In ihrem Kampf gegendie beschränkte Auffassung der A nhänger des Volkswillen, die die Poli-tik auf Verschwörerei reduzierten, konnte es geschehen, daß sich die So-zialdemokraten gegen Politik überhaupt aussprachen, und zuweilen tatensie das auch (da eine bestimm te enge Auffassung von Politik herrschte).Anderseits konnten die Sozialdemokraten in den liberalen und radikalen

Salons der bürgerlichen „Gesellschaft" nicht selten Worte des Bedauernsdarüber hören, daß die Revolutionäre den Terror aufgegeben hatten:Leute, die am meisten um ihre eigene Haut bangten und im entscheiden-den Augenblick den Helden, d ie Schläge gegen die Selbstherrschaft führ-ten, die Unterstützung verweigerten, diese Leute bezichtigten die Sozial-dem okraten heuchlerisch des politischen Indifferentismus und lechzten nachder Wiedergeburt einer Partei, die für sie die Kastanien aus dem Feuerholen würde. Natürlich lernten die Sozialdemokraten derartige Leuteund ihre Phrasen hassen, und sie wandten sich der kleineren, dafür aber

auch ernsteren Arbeit zu, unter dem Industrieproletariat Propaganda zutreiben. Der enge Charakter dieser Arbeit war anfangs unvermeidlichund widerspiegelte sich auch in engen Erklärungen einiger Sozialdemo-kraten. Diese Enge schreckte jedoch auch jene Sozialdemokraten nicht,die die umfassenden historischen Ziele der russisdien Arbeiterbewegungkeineswegs vergaßen. W as ist schon dabei, wenn mitunter die Worte derSozialdemokraten eng gefaßt sind: dafür ist ihr Werk weit. Dafür lassensie sidi nicht auf nutzlose Verschwörungen ein, dafür machen sie sidinicht mit den Balalaikins92 des bürgerlichen Liberalismus gemein, son-dern gehen in die Klasse, die einzig und allein eine wirklich revolutio-näre Klasse ist, und fördern die Entwicklung ihrer Kräfte! Mit jedemSchritt auf dem Wege zur Ausbreitung der sozialdemokratischen Propa-ganda, glaubten sie, werde diese Enge ganz von selbst hinwegfallen. Inbedeutendem Maße ist es auch wirklich so gekommen. Von der Propa-ganda ging man zur umfassenden Agitation über. Die umfassende Agi-tation vergrößerte natürlich immer mehr die Anzahl der klassenbewußtenfortschrittlidien Arbeiter; es begannen sich revolutionäre Organisationen

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274 "W . 7. Centn

zu bilden (der St. Petersburger, der Kiewer und andere „Kampfbünde",

der Jüdische Arbeiterverband). Diese Organisationen begannen natürlichnach Verschmelzung zu streben, was ihnen schließlich auch gelang: sievereinigten sich und legten das Fundament für die „SozialdemokratischeArbeiterpartei Rußlands". Man hätte meinen sollen, jetzt sei kein Bodenmehr vorhanden gewesen für die alte Enge und sie werde endgültig überBord geworfen werden. Es kam aber anders: Die Ausbreitung der Agi-tation brachte die Sozialdemokraten in Fühlung mit den untersten, amwenigsten entwickelten Schichten des Proletariats,- die Heranziehung die-ser Schichten erforderte vom Agitator die Fähigkeit, sich dem niedrigsten

Auffassungsniveau anzupassen, gewöhnte ihn daran, die „Erfordernisseund Interessen des gegebenen Augenblicks" in den Vordergrund zurücken und die umfassenden Ideale des Sozialismus und des politisdienKampfes zurüdczustellen. Der zersplitterte, handwerklerische Charakterder sozialdemokratischen Arbeit, die äußerst schwache Verbindung zwi-schen den Zirkeln Verschiedener Städte, zwischen den russischen Sozial-demokraten und ihren Genossen im Ausland, die sowohl solidere Kennt-nisse und reichere revolutionäre Erfahrungen als auch einen weiterenpolitischen Horizont hatten, führten natürlich dazu, daß diese {absolut

notwendige) Seite der sozialdemokratischen Tätigkeit übermäßig aufge-bauscht wurde, und konnte dazu führen, daß einzelne Personen überdieser Seite der Tätigkeit die übrigen vergessen konnten, um so mehr, alsmit jedem Hochgehen die bewußtesten Arbeiter und Intellektuellen ausden Reihen der kämpfenden Armee ausschieden und sich eine feste revo-lutionäre Tradition und Kontinuität nodi nidit herausbilden konnten.Eben in dieser übermäßigen Aufbauschung einer Seite der sozialdemo-kratischen Arbeit sehen wir auch die Hauptursache des traurigen Abfallsvon den Idealen der russischen Sozialdemokratie. Dazu nehme man noch

das Sdiwärmen für ein modisches Büchlein, die Unkenntnis der Geschichteder russischen revolutionären Bewegung und die kindisdie Originalitäts-sucht — und man hat alle Elemente, aus denen die „rückläufige Richtungin der russischen Sozialdemokratie" besteht.

Somit müssen wir auf die Frage nach dem Verhältnis der fortgeschritte-nen Schichten des Proletariats zu seinen unteren Schichten und nach derBedeutung der sozialdemokratischen Arbeit in den einen wie in den an-deren Schichten ausführlicher eingehen.

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Eine rückläufige JlidhtuncJ in der russisdben Sozialdemokratie 275

Die Geschichte der Arbeiterbewegung aller Länder zeigt, daß die Ideen

des Sozialismus am frühesten und am leichtesten von den am besten ge-stellten Arbeiterschichten aufgenommen werden. Aus ihrer Mitte haupt-sächlich stammen jene führenden Arbeiter, die jede Arbeiterbewegunghervorbringt, Arbeiter, die es verstehen, das volle Vertrauen der Arbeiter-massen zu gewinnen, Arbeiter, die sich ganz und gar der A ufklärung undOrganisierung des Proletariats widmen, Arbeiter, die den Sozialismusganz bewußt aufnehmen und die sogar selbständig sozialistische Theorienausgearbeitet haben. Jede lebensfähige Arbeiterbewegung hat solche Füh-rer aus der Arbeiterklasse hervorgebracht, ihre Proudhon und Vaillant,

ihre Weitling und Bebel. Auch unsere russische Arbeiterbewegung ver-spricht in dieser Beziehung hinter der europäischen nicht zurückzubleiben.Während die gebildete Gesellschaft das Interesse an ehrlicher, illegalerLiteratur verliert, wächst unter den Arbeitern das leidenschaftliche Stre-ben nach Wissen und nach dem Sozialismus, treten unter den Arbeiternwirkliche Helden hervor, die — trotz ihrer abscheulichen Lebensverhält-nisse, trotz abstumpfender Zwangsarbeit in der Fabrik — so viel Cha-rakter und Willensstärke aufbringen, um zu lernen, zu lernen und nochrmals zu lernen und sich zu klassenbewußten Sozialdemokraten, zu einer„Arbeiterintelligenz" heranzubilden. In R ußland gibt es diese „Arbeiter-intelligenz" schon, und wir müssen alle Kräfte aufbieten, damit sich ihreReihen ständig erweitern, damit ihre großen geistigen Ansprüche vollbefriedigt werden, damit aus ihren Reihen Führer der Sozialdemokra-tischen Arbeiterpartei Rußlands hervorgehen. Die Zeitung, die zum Or-gan aller russischen Sozialdemokraten werden will, muß deshalb auf demNiveau der fortgeschrittenen Arbeiter stehen; sie darf ihr Niveau nichtkünstlich senken, sondern muß es, im Gegenteil, ständig heben, sie mußalle taktischen, politischen und theoretischen Fragen der internationalenSozialdemokratie verfolgen. Nur dann werden die Ansprüche der A rbeiter-

intelligenz befriedigt werden, nu r dann wird sie die russische Arbeitersacheund folglich auch die russische revolutionäre Sache in ihre Hände nehmen.

Der zahlenmäßig kleinen Schicht der führenden Arbeiter folgt diebreite Schicht der mittleren Arbeiter. Auch diese Arbeiter streben leiden-schaftlich zum Sozialismus, beteiligen sich an Arbeiterzirkeln, lesensozialistische Zeitungen und Bücher, nehmen an der Agitation teil undunterscheiden sich von der vorhergehenden Schicht nur dadurch, daß sie

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keine völlig selbständigen Führer der sozialdemokratischen Arbeiterbe-

wegung werden können. In der Zeitung, die das Parteiorgan sein würde,wird der mittlere Arbeiter manche Artikel nicht verstehen, er wird sichvon einer komplizierten theoretischen oder praktischen Frage keinen kla-ren Begriff machen. Hieraus folgt durchaus nicht, daß die Zeitung zumNiveau der Masse ihrer Leser hinabsteigen muß. Im Gegenteil, die Zeitungmuß gerade das Niveau ihrer Leser heben und mithelfen, aus der mittlerenArbeiterschicht führende Arbeiter zu entwickeln. Von der lokalen prak-tischen Tätigkeit ganz in Anspruch genommen, vor allem an der Chronikder Arbeiterbewegung und den nächsten Fragen der Agitation interessiert,

muß ein solcher Arbeiter mit jedem seiner Schritte den Gedanken an diegesamte russisdie Arbeiterbewegung, an ihre historische Aufgabe, an dasEndziel des Sozialismus verbinden, und deshalb m uß eine Zeitung, derenLesermasse mittlere Arbeiter sind, notwendigerweise mit jeder lokalen undbegrenzten Frage den Sozialismus und den politischen Kampf verbinden.

Der mittleren Schicht schließlich folgt die Masse der unteren Schichtendes Proletariats. Es ist sehr wohl möglich, daß eine sozialistische Zeitungfür diese ganz oder doch fast ganz unverständlich sein wird (ist doch auchin Westeuropa die Zahl der sozialdemokratischen Wähler viel größer als

die Leserzahl sozialdemokratischer Zeitungen), aber es wäre absurd, dar-aus sdiließen zu wollen, daß eine Zeitung der Sozialdemokraten sich einemmöglichst niedrigen Niveau der Arbeiter anpassen müsse. Daraus folgtnur, daß auf diese Schichten andere Mittel der Agitation und Propagandawirken müssen: möglichst populär geschriebene Broschüren, mündlicheAgitation und — vor allem — Flugblätter aus Anlaß lokaler Ereignisse.Selbst hierauf dürfen sich die Sozialdemokraten nicht beschränken: es istsehr wohl möglich, daß die ersten Schritte zur Erweckung des Klassen-bewußtseins in den unteren Arbeiterschichten von der legalen Aufklärungs-tätigkeit gemacht werden müssen. Für die Partei ist es sehr wichtig, sidadiese Tätigkeit zunutze zu machen, sie eben dorthin zu lenken, wo sieam nötigsten ist, legal tätige Funktionäre auszusenden, damit sie dasNeuland unter den Pflug nehmen, das dann von den sözialdemokratisdienAgitatoren besät werden wird. Die Agitation unter den unteren Arbeiter-schichten muß natürlich den persönlichen Besonderheiten des Agitatorssowie den Besonderheiten der Gegend, des Berufs usw. den größten Spiel-raum lassen.. „Man verwechsle nidit Taktik mit Agitationsweise", sagt

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Eine rückläufige Ttichtung in der russischen Sozialdemokratie 177

Kautsky in seinem Buch gegen Bernstein. „Diese" (die Agitationsweise)

„muß sich individuellen und lokalen Verhältnissen anpassen. In der Agi-tation muß man es jedem Agitator überlassen, durch jene Mittel zu wir-ken, die ihm zu Gebote stehen; der eine wirkt am meisten durch seineBegeisterung, der andere durch schlagenden Witz, der dritte durch dieFülle der Tatsachen usw . Und wie nach dem A gitator muß sich die Agita-tion nach dem Publikum richten; man muß so sprechen, daß man verstan-den wird, muß an das den Zuhörern Bekannte anknüpfen. Das ist ja selbst-verständlich und gilt nicht bloß für die Bauernagitation. Man w ird auch zuDroschkenkutschern anders sprechen als zu Seeleuten, und zu diesen

wieder anders als zu Schriftsetzern. In der Agitation muß individualisiert.werden, aber unsere Taktik, unser politisches "Handeln muß einheitlichsein." (S. 2/3.) Diese Worte eines führenden Vertreters der sozialdemo-kratischen Theorie enthalten eine vortreffliche Bewertung der Agitationin der Gesamttätigkeit der Partei. Diese Worte zeigen, wie unbegründetdie Befürchtungen derjenigen sind, die da glauben, die Gründung einerrevolutionären Partei, die einen politischen Kampf führt, behindere dieAgitation, dränge sie in den Hintergrund oder enge die Freiheit der Agi-tatoren ein. Im Gegenteil, nur eine organisierte Partei kann eine breite

Agitation entfalten, kann den Agitatoren in allen ökonomischen und poli-tischen Fragen die notwendige Anleitung (und das M aterial) geben, kannjeden lokalen Agitationserfolg zur Belehrung aller russischen Arbeiterausnutzen, kann die Agitatoren in die Schicht oder in die Gegenden schik-ken, wo sie mit größtem Erfolg tätig zu sein vermögen. Nur in einerorganisierten Partei werden Menschen, die über agitatorisdie Fähigkeitenverfügen, imstande sein, sich ganz dieser Sache zu widmen — zum Vor-teil sowohl für die Agitation als auch für die übrigen Seiten der sozial-demokratischen Arbeit. Wie hieraus ersichtlich, würde derjenige, der überdem ökonomischen Kampf die politische Agitation und Propaganda ver-gißt, der die Notwendigkeit vergißt, die Arbeiterbewegung so zu organi-sieren, daß sie in den Kampf einer politischen Partei ausmündet, abge-sehen von allem anderen, sich sogar der Möglichkeit begeben, die Ge-wjnnung der untersten Schichten des Proletariats für die Arbeitersachedauerhaft und erfolgreich in die Wege zu leiten..Aber solche Übertreibung einer Seite der Arbeit zum Nachteil der an-

deren, ja sogar mit dem Bestreben, diese anderen Seiten.ganz über Bord;

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Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie 279

tschaja Mysl", die sich offenbar den unteren Schichten des Proletariatsanpaßt, die Frage nach dem Endziel des Sozialismus und dem politischenKampf angelegentlich umging, jedoch nicht ihre besondere Richtung de-klarierte, schüttelten viele Sozialdemokraten nur den Kopf und hofften,die Mitglieder der Gruppe „Rab. Mysl" würden mit der Entwicklung undErweiterung ihrer Arbeit selbst ihre Enge leicht überwinden. Wenn aberMenschen, die bisher die nützliche Arbeit einer Vorbereitungsklasse ge-leistet haben, anfangen, über ganz Europa großen Lärm zu machen, undunter Ausnützung der modischen Theorien des Opportunismus erklären,sie wollten die ganze russische Sozialdemokratie für viele Jahre (wennnicht für immer) in die Vorbereitungsklasse setzen — wenn, mit anderenWorten, Menschen, die bisher durch nützliche Arbeit ein Fäßchen Honigzusammengetragen haben, „in aller Öffentlichkeit" kellenweise Teer inden Honig gießen, dann müssen wir gegen diese rückläufige Richtungentschieden Front machen!

Die russische Sozialdemokratie, sowohl in der Person ihrer Begründer,der Mitglieder der Gruppe „Befreiung der Arbeit", als auch in Gestaltder russischen sozialdemokratischen Organisationen, die die „Sozialdemo-kratische Arbeiterpartei Rußlands" gegründet haben, hat stets die beidenfolgenden Grundsätze anerkannt: 1. Das W esen der Sozialdemokratie istdie Organisierung des proletarischen Klassenkampfes mit dem Ziel, diepolitische Macht zu erobern , alle Produktionsmittel in die Hände der gan-zen Gesellschaft zu übergeben und die kapitalistische Wirtschaft durchdie sozialistische zu ersetzen; 2. die Aufgabe der russischen Sozialdemo-'kratie ist es, eine russische revolutionäre Arbeiterpartei zu organisieren,die den Sturz der Selbstherrschaft, die Erkämpfung politischer Freiheit zuihrem nächsten Ziel macht. Wer sich von diesen Grundsätzen abwendet(die im Programm der Gruppe „Befreiung der Arbeit" genau formuliertund im „Manifest der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands"verkündet worden sind), der wendet sich von der Sozialdemokratie ab.

Qesdhrieben Ende 1899.

Zuerst veröffentlicht 1924 Nach einem von unbekanh-in der Zeitschrift ter Han d abgeschriebe nen,„ProletarskajaReuroluzija" von Cenin durchgesehenen(Die proletarische Revolution) SVr. 8l9. Manuskript.

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AUS ANLASS DER „PROFESSION DE FOI"*

Die vom Kiewer Komitee verfaßte „Profession de foi" gibt, obgleichsie nur ein Rohentwurf ist, für dessen Bearbeitung und Redaktion, wiedas Kiewer Komitee erklärt, einfach keine Zeit vorhanden war, doch dieMöglichkeit, sich eine genügend klare Vorstellung von den Ansichten desKiewer Komitees zu bilden, und diese Ansichten müssen zweifellos denenergischen Protest derjenigen russischen Sozialdemokraten hervorrufen,die auf dem Standpunkt der alten Prinzipien der Sozialdemokratie stehen,wie sie in Rußland von der Gruppe „Befreiung der Arbeit" proklamiert,

wiederholt in Veröffentlichungen der SDAPR dargelegt und in derenManifest bestätigt wurden. Die Ansichten des Kiewer Komitees wider-spiegeln zweifellos einen bedeutenden Einfluß jener neuen Richtung „jun-ger russischer Sozialdemokraten", die sich in ihrer extremen Entwicklungmit dem Bernsteinianertum verschmolzen und solche Erzeugnisse hervor-gebracht hat wie die bekannte Sonderbeilage zur „Rabotschaja Mysl"(September 1899) und das nicht weniger bekannte „Credo"*.

Man kann nicht sagen, daß die „Profession de foi" völlig zu dieseropportunistischen und reaktionären Richtung paßt, aber die „Profession

de foi" tut so ernstliche Schritte nach dieser Seite, sie läßt eine solcheVerwirrung in den Grundideen des Sozialdemokratismus, ein solchesSchwanken des revolutionären Denkens erkennen, daß wir es für unserePflidit halten, die Kiewer Genossen zu warnen und ihre Abweichung vonden seit langem feststehenden Prinzipien sowohl der internationalen alsaudi der russischen Sozialdemokratie eingehend zu untersuchen.

* Glaubensbekenntnis, Programm, Darlegung einer Weltanschauung.

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Aus Anlaß der „Profession de foi" 281

Schon der erste Satz der „Profession de foi" erregt das ernsteste Be-fremden: „Das Kiewer Komitee erkennt den Kampf für die politischenRechte des Proletariats als nächste gemeinsame Aufgabe der Arbeiter-bewegung in Rußland an, hält es jedoch nicht für möglich, die Masse derArbeiter im gegenwärtigen Augenblick zu politischen Aktionen aufzu-rufen, mit anderen Worten, politische Agitation zu treiben, da der rus-sische Arbeiter in seiner Masse noch nicht zum politischen Kampf reifist." Wir berühren nicht die Formulierung dieser Stelle; uns sind nur dieGedanken wichtig, die hier entwickelt und (dies bemerke man) an ande-ren Stellen der „Profession de foi" mehrfach wiederholt werden, die Ge-danken aber sind von einer Art, daß wir uns nur fragen können: „Sinddie, die das geschrieben haben, wirklich Sozialdemokraten?"

„Der russische Arbeiter ist in seiner Masse noch nicht zum politischenKampf reif"! W enn dies wahr wäre, so wäre es soviel wie ein Todesurteilfür die ganze Sozialdemokratie, denn das bedeutet, daß der russischeArbeiter in seiner Masse noch nicht für den Sozialdemokratismus reifist. In der Tat, nirgends in der Welt gab es oder gibt es eine Sozialdemo-kratie, die nicht unteilbar und unauflöslich mit dem politischen Kampfverbunden wäre. Sozialdemokratie ohne politischen Kampf ist ein Flußohne Wasser, ist ein schreiender Widerspruch, ist eine Rückkehr ent-weder zum utopischen Sozialismus unserer Ururgroßväter, die die„Politik" mißachteten, oder zum Anarchismus oder aber zum Trade-Unionismus.

Die erste profession de foi des internationalen Sozialismus, das „Kom-munistische Manifest", hat bereits die seitdem zu einer Binsenwahrheitgewordene Tatsache festgestellt, -daß jeder Klassenkampf ein politischerKampf ist, daß die Arbeiterbewegung nur dann über den Keimzustandund das Kindheitsstadium hinauswächst, wenn sie zur Klassenbewegungwird, wenn sie zum politischen Kampf übergeht. Die erste profession defoi des russischen Sozialismus, die 1883 ersdiienene Broschüre Plecha-nows „Sozialismus und politischer Kampf", bestätigte diese Wahrheit inAnw endung auf Rußland und zeigte, wie eigentlich und warum eigentlichdie russische revolutionäre Bewegung zur Verschmelzung des Sozialismusund des politischen Kampfes, zur Verschmelzung der spontanen Bewe-gung der Arbeitermassen mit der revolutionären Bewegung, zur Ver-schmelzung von Klassenkampf und politischem Kampf führen muß. Das

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Aus Anlaß der „Vrojession de foi" 283

festen Boden der realen Bedürfnisse und Erfordernisse zu bleiben (als

ob der Kampf für politische Freiheit nicht durch das allerrealste Bedürfnisund Erfordernis hervorgerufen w ürde !), kurzu m für die modischen W ört-chen, aus denen so modische Werke gewoben werden wie das „Credo"und die Sonderbeilage zur „Rabotschaja Mysl". Untersuchen wir den In-halt der These, in der sich wie in einem Brennpunkt alle schwachen Sei-ten der uns vorliegenden „Profession de foi" konzentrieren, nämlich derThese, es sei unmöglich, „die Masse der Arbeiter im gegenwärtigenAugenblick zu politischen Aktionen aufzurufen", mit anderen Worten,politische Agitation zu treiben, da der russische Arbeiter in seiner Massenoch nicht zum politischen Kampf reif sei. Diese letztere Behauptung istvöllig unwahr, zum Glück (wir sagen zum Glück, denn wenn sie wahrwäre, müßte sie die russischen Marxisten und Sozialdemokraten unweiger-lich in jenen Sumpf trade-unionistischer und bürgerlich-liberaler Verfla-chung führen, in den sie die Autoren des „C redo", der „RabotschajaM ysl"und ihre zahlreichen Handlanger in unserer legalen Literatur zu stürzensuchen). Der russische Arbeiter ist in seiner Masse nicht nur zum politi-schen Kampf reif, sondern hat auch seine Reife schon viele Male gezeigtund viele Male — und dabei nicht selten spontan — politische Kampfaktevollbracht.

In der Tat, ist denn die Massenverbreitung von Aufrufen, in denendie Regierung getadelt, in denen die Regierung gegeißelt wird, nicht einpolitischer Kampfakt? Ist denn der russische Arbeiter in seiner Massenicht kraft „eigener Mittel" mit allzu übermütig gewordenen Polizistenund Soldaten fertig geworden; hat er nicht oft seine verhafteten Genossenmit Gewalt befreit? Hat er nicht an vielen Orten in direkten Straßen-kämpfen gegen Militär und Polizei gekämpft? Hat denn der russischeArbeiter in seiner Masse nicht mehr als 20 Jahre lang seine besten, ent-wickeltsten, seine ehrlichsten und kühnsten Genossen in die Reihen derrevolutionären Zirkel und Organisationen geschickt? Aber einer Mode-doktrin bürgerlicher Vulgarisierung zuliebe sollen wir, die Vertreter derrevolutionären Sozialdemokratischen Partei, all dies vergessen und es fürunmöglich erklären, die Arbeitermassen zu politischen Aktionen aufzu-fordern! Man wird uns vielleicht entgegenhalten, daß die angeführtenTatsachen häufig eher spontane Explosionen als ein politischer Kampfwaren. Aber waren denn unsere Streiks — antworten wir — nicht lediglich

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bloße spontane Explosionen, solange die revolutionären Zirkel der Sozia-

listen sich nicht der breiten A gitation, der Aufforderung der Arbeiter-massen zum Klassenkampf, zum bewußten Kampf gegen ihre Unter-drücker zugewandt hatten? Kann man denn in der Geschichte auch nureine einzige Volksbewegung, auch nur eine einzige Klassenbewegungnachweisen, die nicht mit spontanen, unorganisierten Explosionen begon-nen hätte, die ohne das bewußte Eingreifen gebildeter Vertreter der be-treffenden Klasse organisierte Form angenommen, politische Parteiengeschaffen hätte? W enn der unaufhaltsame, spontane Drang der A rbeiter-klasse zum politischen Kampf bisher zum großen Teil lediglich in un-

organisierten Explosionen zum Ausdruck kommt, so werden nur die„Moskowskije Wedomosti"93 und der „Grashdanin" 94 daraus denSchluß ziehen, daß der russische Arbeiter in seiner Masse für politischeAgitation noch nicht reif sei. Ein Sozialist dagegen wird daraus den Schlußziehen, daß die Notwendigkeit politischer Agitation, umfassendster Auf-forderung der Arbeitermassen zu politischen Aktionen und zum politi-schen Kampf schon längst herangereift ist; wenn wir auf diese Aufforde-rung verzichten, tun wir nicht unsere Pflicht und, im Grunde genommen,hören wir auf, Sozialdemokraten zu sein, weil wirtschaftliche und ge-werkschaftliche Organisationen ohne politischen Kampf stets und überallvon eifrigen Anhängern der Bourgeoisie gepredigt wurden; daher kannjenes systematische Verschweigen des politischen Kampfes und der poli-tischen Aufgaben der russischen Arbeiterklasse, das wir z. B. in der Zei-tung „Rabotschaja Mysl" gesehen haben, nur als verbrecherisch undschändlich bezeichnet werden. Dieses Verschweigen ist gleidibedeutend.mit Demoralisierung des politischen Bewußtseins der Arbeiter, die daspolitische Joch sehen und fühlen, die sich spontan gegen dieses Joch auf-lehnen, jedoch bei ihren sozialistischen Führern auf Gleichgültigkeit sto-ßen oder aber sie sogar gegen die Ideen des polirischen Kampfes polemi-

sieren hören . Es kann nur als Gleichgültigkeit und äußerste Engstirnigkeitbezeichnet werden, wenn man uns sagt, die Ideen politischer Freiheitmüßten „allmählich" in die Masse getragen werden — also haben wiruns wohl bisher zu sehr beeilt, diese Ideen in die Masse zu tragen, man:müßte uns zügeln und zurückhalten!!! Oder wenn man uns sagt, „die;Lage der Arbeiterklasse" dürfe nur „insoweit politisch beleuchtet werden,als in jedem einzelnen Fall Anlaß dazu vorhanden ist", als ob.die alltäg-

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Aus Anlaß der „Profession de foi" 285

lichsten, in Massen überall anzutreffenden Tatsachen aus dem Arbeiter-

leben nicht „Anlässe" für politische Agitation böten?!Das Bestreben, die politische Agitation in jedem einzelnen Fall auf vor-handene Anlässe zu beschränken, ist entweder sinnlos oder widerspiegeltlediglich das Bestreben, einen Schritt zurück in Richtung auf das „Credo"und die „Rabotschaja Mysl" zu tun, das Bestreben, den ohnehin allzuengen Rahmen unserer propagandistischen und agitatorischen Tätigkeitnoch mehr einzuengen. Man wird uns vielleicht weiter entgegenhalten, dieArbeitenrwssen verstünden noch nicht die Idee des politischen Kampfes,eine Idee, die nur für einzelne entwickeltere Arbeiter faßlich sei. Auf

diesen Einwand, den wir von den „jungen" russischen Sozialdemokratenso häufig zu hören bekommen, antworten wir, erstens, daß die Sozial-demokratie stets und überall die Vertreterin der klassenbewußten undnicht der nicht klassenbewußten Arbeiter war und nidbts anderes seinkann, daß es nichts Gefährlicheres und Verbrecherischeres geben kann alsdas demagogische Liebäugeln mit der mangelnden Entwicklung der Ar-beiter. Wenn wir das zum Kriterium unserer Tätigkeit machen wollen,was für die breiteste Masse sofort, unmittelbar und im höchsten Gradefaßlich ist, so müssen wir den Antisemitismus predigen oder, sagen wir,auf dem Boden einer Adresse an den Pater Johann von Kronstadt 95 Agi-tation treiben.

Es ist die Aufgabe der Sozialdemokratie, das politische Bewußtsein derMassen zu entwickeln und nicht hinter der politisch rechtlosen Masse ein-herzutraben; zweitens — und das ist die Hauptsache — ist es falsch, daßdie Massen die Idee des politischen Kampfes nicht verstehen. Auch dereinfachste Arbeiter wird diese Idee verstehen, unter der Voraussetzungnatürlich, daß der Agitator oder Propagandist es versteht, so an ihn her-anzutreten, daß er ihm diese Idee vermittelt, daß er sie ihm in verständ-licher Sprache und gestützt auf ihm bekannte Tatsachen des täglichenLebens zu erklären weiß. Aber diese Voraussetzung ist ja auch für die Er-klärung der Bedingungen des ökonomischen Kampfes notwendig: auchauf diesem Gebiet ist ein einfacher Arbeiter aus den unteren und mittle-ren Schichten der Masse nicht imstande, sich die allgemeine Idee des öko-nomischen Kampfes zu eigen zu machen,- diese Idee machen sich einigewenige gebildete Arbeiter zu eigen, denen die vom Instinkt und vomunmittelbaren nächsten Interesse geleitete Masse folgt.

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Ebenso auch auf dem Gebiet der Politik: die allgemeine Idee des poli-

tischen Kampfes wird sich natürlich nur ein gebildeter Arbeiter zu eigenmachen, dem die Masse folgt, weil diese sehr gut ihre politische Recht-losigkeit fühlt (wie das Kiewer Komitee an einer Stelle seiner „Professionde foi" zugibt) und weil die unmittelbarsten tagtäglichen Interessen sieständig mit allen möglichen Erscheinungsformen der politischen Unter-jochung zusammenstoßen lassen. In keiner einzigen politischen oder so-zialen Bewegung, in keinem einzigen Land hat es jemals ein anderes V er-hältnis zwischen der Masse der betreffenden Klasse oder des Volkes undden an Zahl geringen gebildeten Vertretern der Klasse oder des Volkes

gegeben und konnte es auch nicht geben als nur dies eine: die Führereiner bestimmten Klasse sind stets und überall ihre fortgeschrittenen, ihregebildetsten Vertreter. Auch in der russischen Arbeiterbewegung kannes nicht anders sein. Und deshalb muß die Ignorierung der Interessen undder Bedürfnisse dieser fortgeschrittenen Arbeiterschicht, das Bestreben,bis zum Fassungsvermögen der unteren Schichten hinabzusteigen (anstattdas Bewußtsein der Arbeiter ständig auf ein höheres Niveau zu heben)notwendigerweise die allerschädlichste Wirkung ausüben und den Bodendafür vorbereiten, daß in die Arbeiterschaft alle möglichen nicht sozia-

listischen und nicht revolutionären Ideen eindringen.Um die Untersuchung der vom Kiewer Komitee vertretenen Ansichten

über den politischen Kampf abzuschließen, [füge ich folgendes hinzu].In einer äußerst seltsamen und gleichzeitig für die ganze „Profession defoi" äußerst charakteristischen Weise betrachtet das Komitee, das es fürunmöglich hält, im gegenwärtigen Augenblick die breiten Arbeitermassenzu politischen Aktionen aufzufordern, es als wünschenswert, Jei/demon-strationen zu rein agitatorischem Zweck (und nicht zum Zweck der Ein-wirkung auf die Regierung) zu veranstalten, wenn die Anlässe hierzu

den breiten Massen verständlich sind. Sozialisten rufen die Arbeiter auf,nidht auf die Regierung einzuwirken!!! Weiter geht's nimmer... Unbe-greiflich ist nur, wie denn Demonstrationen möglich sind, die auf die Re-gierung nidht einwirken. Will man den Arbeitern empfehlen, innerhalbder vier Wände ihrer engen Behausungen zu demonstrieren und vorherdie Türen zuzuschließen? oder will man vielleicht mit der geballten Faustin der Tasche demonstrieren? das allerdings wird bestimmt nicht die soschädliche und verderbliche „Einwirkung auf die Regierung" haben! W as

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Aus Anlaß der „Profession de joi" 287

„Teildemonstration" bedeutet, will uns gleichfalls nicht in den Kopf. Be-

deutet das vielleicht: eine gewerkschaftliche Demonstration wegen aus-schließlich gewerkschaftlicher Fragen (noch einmal: Was hat hiermit dennder Sozialismus zu tun?) oder vielleicht aus partiellen politischen Anläs-sen und nicht gegen das ganze politische System, gegen die Selbstherr-schaft überhaupt? Aber wenn das der Fall ist, sind das dann nicht diereinsten Ideen des „Credo" und des äußersten Opportunismus, der äußer-sten Erniedrigung, der Verdunkelung des politischen Bewußtseins und derpolitischen Aufgaben der Arbeiterklasse? Wenn dem so ist, sollen wirdann nicht lieber das „geflügelte Wort" eines „jungen" hauptstädtischenSozialdemokraten wiederholen: „Es ist verfrüht, die Selbstherrschaftunter den Arbeitern zu diskreditieren"?...

Äußerste Beschränktheit der Ansichten spricht aus der „Profession defoi" nicht nur in der Frage der „Politik". „Agitatorische Einwirkung aufdie Masse", so lesen wir, „kann sich gegenwärtig nur äußern erstens inder Förderung des ökonomischen Kampfes des Proletariats,- deshalb nutztdas Komitee jeden Zusammenstoß der Arbeiter mit den Unternehmernoder jeden größeren Mißbrauch von Seiten der Unternehmer aus, um sichmit einem Aufruf an die Arbeiter zu wenden, den Arbeitern ihre Lage zuerklären, sie zum Protest aufzufordern, bei Streiks die Führerrolle zuübernehmen, ihre Forderungen zu formulieren, die besten Wege zu ihrerDurchsetzung zu weisen und mit all dem in der Arbeiterklasse dasSelbstbewußtsein zu entwickeln" und — weiter nichts; mehr wird unsüber den ökonomischen Kampf nicht gesagt. Und das ist eine professionde foi! Man lese diese Stellen noch einmal aufmerksam durch: es istwiederum die Sprache des „Credo" und sind die Gedanken des „Credo"(wodurch ein übriges Mal der schwere Irrtum der Redaktion des „Rabo-tscheje Delo" illustriert wird, die beharrlich versucht, die Ansichten der„jungen Ökonomisten" zu verschleiern, und in ihnen nur eine Abwei-chung einzelner Personen sehen möchte).

Einem Sozialisten dient der ökonomische Kampf als Basis für die Or-ganisierung der Arbeiter zu einer revolutionären Partei, für die Zusam-menfassung und Weiterentwicklung ihres Klassenkampfes gegen die ganzekapitalistische Ordnung. Nimmt man jedoch den ökonomischen Kampfals etwas sich selbst Genügendes, so gibt es in ihm nichts Sozialistisches,und die Erfahrungen aller europäischen Länder zeigen uns eine Masse

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von Beispielen nicht nur sozialistischer, sondern auch antisozialistischer

Gewerkschaftsverbände.Die Aufgabe eines bürgerlichen Politikers ist es, „den ökonomischen

Kampf des Proletariats zu fördern", die Aufgabe eines Sozialisten ist es,dafür zu sorgen, daß der ökonomische Kampf die sozialistische Bewegungfördert und die Erfolge der revolutionären Arbeiterpartei m ehrt. D ie Auf-gabe eines Sozialisten ist es, die unauflösbare Verschmelzung des ökono-mischen und des politischen Kampfes zum einheitlichen Klassenkampf dersozialistischen Arbeitermassen zu fördern. Somit öffnen die verschwom-menen Ausdrücke der „Profession de foi" des Kiewer Komitees den Bern-

steinschen Ideen Tür und Tor und legalisieren eine unzulässig engstirnigeEinstellung zum ökonomischen Kampf.

Die agitatorische Einwirkung auf die Masse muß in breitester, sowohlökonomischer als auch politischer Agitation bei allen Anlässen und zuallen Erscheinungsformen jeder A rt von Unterdrückung bestehen, in einerAgitation, die wir benützen müssen, um eine immer größere Anzahl vonArbeitern in die Reihen der revolutionären Sozialdemokratischen Parteihineinzuziehen, um den politischen Kampf in allen erdenklichen Erschei-nungsformen zu begünstigen, um diesen Kampf aus seinen spontanen

Formen hinüberzuleiten in die Form des Kampfes einer einheitlichen poli-tischen Partei. Die Agitation muß somit als Mittel zur weiten Verbrei-tung des politischen Protestes und höher organisierter Formen des politi-schen Kampfes dienen. Gegenwärtig ist der Rahmen unserer Agitation zueng, der Kreis der von ihr berührten Fragen zu begrenzt, und unserePflicht ist es, nicht diese Enge zum Gesetz zu erheben, sondern danachzu streben, uns von ihr frei zu machen, danach zu streben, unsere agita-torische Tätigkeit zu vertiefen und zu erweitern.

In der von uns untersuchten „Profession de foi" führt diese Enge nicht

nur zu den oben festgestellten theoretischen Verirrungen, sondern auch zurEinengung der praktischen Aufgaben. Eine solche Einengung ist in demWunsch zu erkennen, „eine Untersuchung der Lage der Arbeiter in den ört-lichen Fabriken und Werken mittels Fragebogen und anderer Methodenzur nächsten dringenden Aufgabe zu machen". Gegen Fragebogen über-haupt, die ein notwendiges Z ubehör der Agitation sind, können wir natür-lich nichts einwenden, aber sich mit einer Untersuchung befassen heißt dieohnehin spärlichen revolutionären Kräfte unproduktiv verausgaben.

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Aus Anlaß der „Profession de foi" 289

Vieles könnte ja auch aus unseren legalen Untersuchungen geschöpft.werden. Zur nächsten dringenden Aufgabe sollte die Erweiterung derAgitation und der Propaganda (besonders der politischen) gemacht wer-den, um so mehr, als der schöne Brauch, selbständige Korrespondenzenan die sozialistischen Zeitungen einzusenden, der jetzt unter unserenArbeitern Verbreitung findet, für Material in ausreichender Menge sorgt.

Eine noch größere Einengung ist darin zu erkennen, daß in der Frageder Kassen nur „gewerkschaftliche Streikkassen als wünschenswert be-zeichnet werden und kein Wort darüber gesagt wird, daß diese Kassenin die Sozialdemokratische Partei eingegliedert werden müssen, daß siedem politischen Kampf dienen müssen.

Unsere konspirativen Kassen allein auf ökonomischer Tätigkeit be-schränken ist ein für die Autoren des „Credo" natürliches Bestreben, un-verständlich aber ist es in der „Profession de foi" eines Komitees derSozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands.

In der Frage der legalen Vereinigungen sind die Thesen der „Profes-sion de foi" nicht weniger eng, sie bringen genauso das Bestreben zumAusdruck, Konzessionen an die berüchtigte Bernsteiniade zu machen;wenn ein Komitee der Sozialdemokratischen Partei die Gründung vonKassen fördert, so heißt das wiederum, Kräfte verzetteln und die Grenzezwischen der reinen Kulturarbeit und der revolutionären Arbeit ver-wischen; eine revolutionäre Partei kann und muß sich die legalen Ver-einigungen zur Stärkung und Konsolidierung ihrer Arbeit, als Stätten fürdie Agitation, als praktischen Deckmantel für Verbindungen usw. unddgl. mehr zunutze machen — weiter aber auch nidits. Die Kräfte derSozialisten dazu zu verwenden, die Entstehung von Vereinigungen zufördern, ist in höchstem Maße unrationell; diesen Vereinigungen eineselbständige Bedeutung beizumessen, ist unrichtig; zu glauben, in legalenVereinigungen sei „völlige Unabhängigkeit von der Beteiligung und demDruck der Unternehmer" möglich, ist einfach lächerlich.

Schließlich hat sich auch auf die organisatorischen Pläne des KiewerKomitees die Enge seiner Ansichten und ihre spezifische Besonderheit aus-gewirkt. Darin allerdings sind wir mit dem Kiewer Komitee durchaus ein-verstanden, daß es nicht an der Zeit ist, sofort die Wiederherstellung derPartei zu proklamieren und ein neues ZK zu wählen, aber die Meinungvom „unmittelbar ökonomischen Charakter der Bewegung"; die Meinung,

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das russische Proletariat sei „für politische Agitation noch nicht geschult",

halten wir für absolut irrig. Falsch wäre es auch, abzuwarten, bis „dielokalen Gruppen erstarken, zahlenmäßig wachsen, ihre Verbindungenmit der Arbeiterschaft festigen" — eine solche Erstarkung führt häufig zueinem sofortigen Hochgehen.

Nein, wir müssen unverzüglich das Vereinigungswerk in Angriff neh-men und es mit dem literarischen Zusammenschluß beginnen, mit derSchaffung eines gemeinsamen russischen Organs, das versuchen muß, dieWiederherstellung der Partei vorzubereiten, indem es als Organ für ganzRußland dient, allerorts Korrespondenzen und Materialien von den Zir-

keln einholt, Platz für die Erörterung von Streitfragen einräumt, denRahmen unserer Propaganda und Agitation erweitert, den organisatori-schen Fragen, den taktischen und technischen Methoden der Arbeit be-sondere Aufmerksamkeit widmet, allen Bedürfnissen der entwickeltstenArbeiter gerecht wird und die Entwicklung der unteren Schichten des Pro-letariats (die durch Arbeiterkorrespondenzen und dgl. mehr heranzuzie-hen sind) ständig fördert, damit sie an der sozialistischen Bewegung undam politischen Kampf immer bewußter teilnehmen.

Nur auf diese Weise können unserer Überzeugung nach die realen

Bedingungen für den Zusammenschluß und die Wiedererrichtung derPartei vorbereitet werden, und nur die direkte und offene Polemik gegenden engen „Ökonomismus" und die immer mehr Verbreitung findendenBernsteinschen Ideen kann eine richtige Entwicklung der russisdien Ar-beiterbewegung und der russischen Sozialdemokratie sichern.

Qesdhrieben Ende 1899.

Zuerst veröftmtlidbt 1928 im 9Jadb einer AbsdhriftLenin-Sam melband VII. von unbekannter Hand.

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Ü B E R G E W E R B E G E R I C H T E

Gewerbegerichte heißen Gerichte, die sich aus gewählten Vertreternder Arbeiter und der Unternehmer (in der Industrie Fabrikanten) zu-sammensetzen und über die Angelegenheiten und Streitfälle verhandeln,die sich so häufig aus den Einstellungsbedingungen, aus der Festsetzungdes Lohns für gewöhnliche Arbeit und für Überstundenarbeit, aus be-stimmungswidrigen Arbeiterentlassungen, aus Entschädigungsansprüchenfür Materialfehler, aus unrichtiger Auferlegung von Geldstrafen usw.usw. ergeben. In den meisten westeuropäischen Staaten bestehen solcheGerichte, in Rußland nidit, und wir wollen untersuchen, welche Vorteilesie den Arbeitern bringen und weshalb es wünschenswert ist, Gewerbe-gerichte zu schaffen neben den gewöhnlichen Gerichten, in denen ein ein-ziger, von der Regierung ernannter oder von den besitzenden Klassengewählter Richter ohne irgendwelche von Unternehmern und Arbeiterngewählte Vertreter Recht spricht.

Der erste Vorteil eines Gewerbegerichts besteht darin, daß Arbeiterviel leichter zu ihm Zutritt haben. Um vor einem gewöhnlichen Gerichteine Klage anzustrengen, muß man ein Gesuch schreiben (zu diesemZweck hat man häufig einen Advokaten in Anspruch zu nehmen), mußman Gebühren erlegen, muß man lange auf die Termine warten, mußman für die Zeit der Gerichtsverhandlung die Arbeit versäumen, müssendie Zeugen von der Arbeit weggeholt werden, muß man nachher wiederwarten, bis die Sache auf Grund einer Beschwerde der unzufriedenen Pro -zeßpartei an einen höheren Gerichtshof gelangt, wo sie noch einmal neuentschieden wird. Kein Wunder, daß sich die Arbeiter so ungern an dieordentlichen Gerichte wenden! Die Gewerbegerichte dagegen bestehen

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aus Unternehmern und Arbeitern, die zu Richtern gewählt worden sind.

Seinem gewählten Kollegen die Beschwerde mündlich auseinanderzuset-zen ist für einen Arbeiter durchaus nicht schwer. Die Gewerbegerichtetagen gewöhnlich an Feiertagen oder überhaupt zu einer Zeit, wo dieArbeiter frei sind, also ihre Arbeit nicht zu unterbrechen braudien. Auchwerden die Streitfälle vor den Gewerbegerichten bedeutend schnellerverhandelt.

Der zweite Vorteil der Gewerbegerichte für die Arbeiter besteht darin,daß die hier tätigen Richter von Fabrik- und Werkangelegenheiten be-deutend mehr verstehen, daß die Richter außerdem nicht fremde Beamte,

sondern Leute aus dem Ort sind, die die Lebensbedingungen der Arbeiterund die Bedingungen der lokalen Produktion kennen, wobei die Hälfteder Richter Arbeiter sind, die zu einem Arbeiter stets gerecht sein wer-den und ihn nicht als Trunkenbold, Frechling oder Dummkopf ansehen(wie das zum größten Teil von beamteten Richtern getan wird, die vonder Klasse der Bourgeoisie, der Klasse der Besitzenden gestellt werdenund fast stets ihre Verbindungen mit der bürgerlichen Gesellschaft, mitFabrikanten, Direktoren, Ingenieuren, aufrechterhalten, von den Arbei-tern jedoch wie durch eine chinesische Mauer getrennt sind). D ie beamte-

ten Richter sind am meisten darauf bedacht, daß die Angelegenheit auf demPapier glatt geht: daß nur ja in den Papieren alles in Ordnung ist, allesandere kümmert den Beamten nicht, der lediglich bestrebt ist, sein Gehaltzu bekommen und sich bei seinen Vorgesetzten beliebt zu machen. Das istder Grund, weshalb es in den Beamtengerichten stets eine so unerhörtlangwierige Papierwirtschaft, so viel Prozessiererei und spitzfindige Rechts-verdrehung gibt: ist irgend etwas nicht richtig zu Papier gebracht, istetwas nicht zum richtigen Zeitpunkt zu Protokoll genommen worden —

so ist es aus mit der Sache, wie gerecht sie auch gewesen sein mochte. Diegewählten Vertreter der Fabrikanten und der Arbeiter haben, wenn sieRichter sind, gar keine Veranlassung, die Entscheidungen durch langwie-rige Schreibereien zu verschleppen: sie dienen nidit des Gehalts wegen,sie hängen nicht von beamteten Schmarotzern ab. Sie sind nicht daraufversessen, einen noch besseren Posten zu ergattern, sondern bemüht, dieStreitigkeiten zu schlichten, die die Fabrikanten hindern, ihre Produktionohne Stockung zu betreiben, die die Arbeiter hindern, ruhig ihre Arbeitfortzusetzen und die Schikanen und ungerechten Kränkungen von Seiten

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Tiber Qewerbegeridryte 293

der Unternehmer weniger fürchten zu müssen. Außerdem aber muß man,

um den Streitigkeiten zwischen Unternehmern und Arbeitern auf denGrund gehen zu können, das Fabrikleben aus eigener Erfahrung gutkennen. Der beamtete Richter wirft einen Blick in die Arbeitsordnung,liest eine Bestimmung vor — und weiter will er nichts hören: die Bestim-mung ist verletzt, sagt er einfach, also trage die Folgen, alles andereinteressiert mich nicht. Die von Unternehmern und Arbeitern gewähltenRichter aber schauen nicht nur auf die Papiere, sondern auch darauf,wie es im Leben zugeht. Manchmal steht doch so eine Bestimmung fried-lich auf dem Papier, während es in der Praxis ganz anders zugeht. Ein

beamteter Richter kann, selbst wenn er möchte, selbst wenn er die Fällemit aller Aufmerksamkeit untersucht, häufig nicht begreifen, worum eseigentlich geht, weil er nicht weiß, was Braudi ist, die Methoden derLohnberechnung nicht kennt, weil er nicht weiß, mit welchen Methodendie Meister häufig den Arbeiter unter Druck setzen, auch ohne die Be-stimmungen und den Tarif zu verletzen (beispielsweise Zuweisung eineranderen Arbeit, Lieferung anderen Materials usw. usf.). Gewählte Rich-ter, die selber arbeiten oder selber mit Fabrikangelegenheiten zu tunhaben, finden sich in allen diesen Fragen sofort zurecht, sie begreifen

leicht, was der Arbeiter eigentlich will, sie sind nicht nur auf die Einhal-tung der Bestimmungen bedacht, sondern auch darauf, alles so zu regeln,daß der Arbeiter nicht unter Umgehung der Bestimmungen benachteiligtwerden kann, daß es auch keine Anlässe für Betrug und Willkür gibt. Dabrachten die Zeitungen vor kurzem eine Meldung, wonadi Mützenmacherauf eine Klage des Untern ehm ers hin beinahe wegen Diebstahls verurteiltworden wären — sie hat ten Mützenstoffabfälle für sich verb rauch t; eswar gut, daß sich ehrliche Anwälte fanden, die Erkundigungen einzogenund den Beweis führten, daß das in diesem Gewerbe so Brauch ist unddaß die Arbeiter nicht nur keine Diebe sind, sondern daß sie überhauptkeinerlei Vorschrift verletzt haben. Nun ist es aber doch so, daß ein ge-wöhnlicher, einfacher Arbeiter, der einen ganz niedrigen Lohn erhält, fastniemals an einen guten Anwalt herankommt, und deshalb fällen die be-amteten Richter, wie jeder Arbeiter weiß, in Arbeiterangelegenheiten sohäufig äußerst harte, ja sinnlos harte Urteile. Von beamteten Richtern istniemals volle Gerechtigkeit zu erw arten : wir haben bereits gesagt, daß dieseRichter zur Bourgeoisidasse gehören un d in ihrer Voreingenomm enheit von

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vornherein alles glauben, was der Fabrikant sagt, während sie den W orten

des Arbeiters keinen Glauben schenken. Der Richter schlägt im Gesetz nach:persönlicher Anstellungsvertrag (eine bestimmte Person wird gegen Lohneingestellt, um für einen anderen etwas herzustellen oder ihm Dienste zuleisten). Ihm ist es ganz einerlei, ob ein Ingenieur, ein Arzt, ein Fabrik-direktor von einem Fabrikanten engagiert wird oder ob ein ungelernterArbeiter eingestellt wird; der Richter denkt (infolge seiner papierenenSeele und seiner bürgerlichen Stumpfsinnigkeit), der ungelernte Arbeitermüsse seine Rechte ebensogut kennen und es verstehen, alles Erforder-liche vertraglich auszubedingen, wie ein D irektor, ein A rzt, ein Ingenieur.

Das Gewerbegericht aber besteht (zur Hälfte) aus Richtern, die von denArbeitern gewählt worden sind und sehr gut verstehen, daß sich ein neueingestellter oder junger Arbeiter in der Fabrik oder im Kontor häufigwie in einem finsteren Walde vorkommt und sich gar nicht bewußt ist,einen „freien Vertrag" zu schließen, worin er alle für ihn wünschenswer-ten Bedingungen „vorsehen" kann . Nehm en wir als Beispiel nur folgendenFall: Ein Arbeiter will sich über ungerechte Anrechnung von Ausschuß-arbeit oder über Geldstrafen beschweren. Es ist gar nicht daran zu denken,eine solche Beschwerde bei einem beamteten Richter oder bei einem be-

amteten Fabrikinspektor anbringen zu können. Der Beamte wird stets das-selbe erklären, das Qesetz räume dem Fabrikanten das Recht ein, denArbeitern Geldstrafen aufzuerlegen und schlechte Arbeit als Ausschuß-arbeit zu bezeichnen, und es sei nun schon Sache des Fabrikanten, zu be-stimmen, wann die Arbeit schlecht ist und wann die Schuld den Arbeitertrifft. Deshalb gehen auch die Arbeiter mit derartigen Klagen so seltenvor Gericht: sie dulden die Übergriffe, dulden und treten schließlich,wenn der Kelch ihrer Leiden voll ist, in Streik. Gäbe es unter den Rich-tern aber gewählte Vertreter der Arbeiter, so wäre es für die Arbeiter

unvergleichlich leichter, in solchen Angelegenheiten ebenso wie in allen,auch den kleinsten betrieblichen Streitigkeiten und UngerechtigkeitenRecht und Schutz zu finden. Einem reichen beamteten Richter scheint esja, als ob solche Kleinigkeiten keiner Beachtung wert wären (eine Kleinig-keit wie heißes Wasser zum Teeaufbrühen oder die Anordnung, eineMaschine noch einmal zu reinigen, oder etwas Ähnliches), für den Arbeiteraber sind dies durchaus keine Kleinigkeiten; nur die Arbeiter selbst könnenbeurteilen, welche Menge von Schikanen, Kränkungen und Erniedrigun-

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Tiber Qewerbegeridrte 295

gen manchmal durch kleinste, auf den ersten Blick unbedeutende, harm-

lose Bestimmungen und Vorschriften in den Fabriken verursacht werden.Der dritte Vorteil der Gewerbegerichte für die Arbeiter ist der, daß dieArbeiter in ihnen und durch sie lernen, sich mit den Gesetzen vertraut zumachen. Gewöhnlich kennen die Arbeiter (in ihrer Masse) die Gesetzenicht und können sie nicht kennen, obgleich Beamte und beamtete Rich-ter sie nichtsdestoweniger wegen Unkenntnis der Gesetze mit Strafenbelegen. Wenn der Arbeiter, den ein Beamter auf das Gesetz hinweist,zur Antwort gibt, er habe das Gesetz nicht gekannt, so wird der Beamte(oder Richter) entweder lachen oder schimpfen: „Niemand hat das Recht,

sich mit U nkenntnis des Gesetzes zu entschuldigen" — so heißt es imrussischen Grundgesetz. Jeder Beamte und Richter setzt deshalb voraus,daß jeder Arbeiter die Gesetze kennt. Diese Voraussetzung aber ist docheine bürgerliche Lüge, eine von den Besitzenden und Kapitalisten gegendie Niditbesitzenden fabrizierte Lüge, genauso eine Lüge wie die An-nahme, der Arbeiter schließe mit dem Unternehmer einen „freien Ver-trag". In Wirklichkeit hat ein Arbeiter, der von Kindheit an in die Fabrikgeht, nachdem er kaum lesen und schreiben gelernt hat (und sehr, sehrviele haben gar nicht die Möglichkeit, lesen und schreiben zu lernen!),keine Zeit, die Gesetze kennenzulernen, er hat niemand, der sie ihm er-klärt, und die Sache wäre für ihn wohl auch zwecklos — denn die Gesetzebringen dem Arbeiter wenig Nutzen, wenn sie von Beamten, die der Bour-geoisie entstammen, angewendet werden, ohne daß der Arbeiter gefragtwird! Die bürgerlichen Klassen, die die Arbeiter beschuldigen, die Ge-setze nicht zu kennen, haben selber rein gar nichts getan, um den Arbei-tern den Erwerb solcher Kenntnisse zu erleichtern, und deshalb sind inWirklichkeit nicht so sehr die Arbeiter als vielmehr ihre Ausbeuter, diealles Eigentum besitzen, von fremder Arbeit leben und Bildung und Wis-senschaft ganz für sich allein haben wollen, an der Gesetzesunkenntnis

der Arbeiter schuld. Keine Schule und keine Bücher werden und könnenden Arbeitern Gesetzeskenntnisse vermitteln, weil nur sehr, sehr wenigeArbeiter aus der Masse der vom Kapital niedergehaltenen Millionendes werktätigen Volkes Bücher lesen können, weil die Schule aus demgleichen Grunde ebenfalls nur von wenigen besucht wird, und auch die,die Schulunterricht erhalten haben, größtenteils nur lesen, schreiben undrechnen können; das aber reicht nicht aus, wenn es gilt, sich auf einem so

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von den Kaufleuten gewählte Mitglieder der Fabrikkammern, Mitglieder

von Börsen- und Messekomitees usw.)-Die Arbeiterklasse in Rußland aberbleibt völlig rechtlos: man betrachtet sie als ein Lasttier, das für andere zuarbeiten und sonst zu schweigen hat, das nicht wagen darf, seine Nö te undseine Wünsche vorzubringen. Könnten die Arbeiter ständig Kollegen ausihrer Mitte in dieGewerbegerichte wählen, so erhielten sie wenigstens einegewisse Möglichkeit, an den öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmenund nicht nur die Meinungen einzelner Arbeiter—einzelner Pjotrs, Sidorsoder Iwans —, sondern die Meinungen und die Forderungen aller A rbeiterüberhaupt vorzutragen. Dann würden die Arbeiter den Gerichten nicht

mit dem M ißtrauen gegenüberstehen wie jetzt den Beamtengerichten: siewürden sehen, daß es dort Kollegen von ihnen gibt, die für sie eintreten.Ferner (fünftens) besteht ein Vorteil der G ewerbegerichte für die Ar-

beiter darin, daß die Öffentlichkeit durch diese Gerichte mehr über dieFabrikangelegenheiten und alle sonstigen Vorfälle in den Fabriken er-fährt. Heute sehen wir, daß sowohl die Fabrikanten als auch die Regie-rung mit allen Kräften bemüht sind, das, was in den Fabriken vorgeht,vor der Öffentlichkeit geheimzuhalten: über Streiks darf nichts gedrucktwerden, die Berichte der Fabrikinspektoren über die Lage der Arbeiter

werden gleichfalls nicht mehr veröffentlicht, man bemüht sich, alle Miß-bräuche zu verschweigen und die Sadie so rasch wie möglich „hinterverschlossenen Türen", auf dem Amtswege, abzumachen, alle Arbeiter-versammlungen werden verboten. Kein Wunder, daß die Masse der Ar-beiter häufig sehr schlecht darüber Bescheid weiß, was in anderen Fa-briken, ja sogar in anderen Abteilungen der gleichen Fabrik geschieht.Gewerbegerichte, an die sich die Arbeiter häufig wenden könnten, vordenen außerhalb der Arbeitszeit und öffentlich, d. h. in Anw esenheitvon Arbeiterpublikum, verhandelt werden würde, brächten den Arbeiternauch dadurch großen Nutzen, daß sie dazu beitragen würden, jeden Miß-brauch an die Öffentlichkeit zu bringen, und so den Arbeitern den Kampfgegen die verschiedenen Mißstände in den Fabriken erleichtern, daß siedie Arbeiter daran gewöhnen würden, nicht nur an die Zustände ihrereigenen Fabrik allein, sondern auch an die Zustände in allen anderenFabriken, an die Lage aller Arbeiter überhaupt zu denken.*

* Natürlich darf hierbei nicht vergessen werden, daß Gewerbegerichte nureines der Mittel, nur einer der Wege, und bei weitem nicht der Hauptweg sind,

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Über Qewerbegeridbte 299

Schließlich darf noch ein weiterer Vorteil der Gewerbegerichte nicht

mit Schweigen übergangen werden: Sie gewöhnen die Fabrikanten, Direk-toren und Meister daran, die Arbeiter anständig, als gleichberechtigteStaatsbürger und nicht als Knechte, zu behandeln. Jeder Arbeiter weiß,wie häufig sich Fabrikanten und Meister eine empörend grobe Behand-lung der Arbeiter, Beschimpfungen usw. erlauben. Sich hierüber zu be-schweren ist für den Arbeiter schwer, und wehren kann er sich nur dortmit Erfolg, wo alle Arbeiter bereits ziemlich entwickelt sind und für einenKollegen einzustehen wissen. Die Fabrikanten und Meister sagen, unsereArbeiter seien unwissend und grob, deshalb müßten sie auch grob be-

handelt werden. In unserer Arbeiterklasse gibt es wirklich noch vieleSpuren der Leibeigenschaft, wenig Bildung und viel Grobheit — das läßtsich nicht bestreiten. Aber wer ist hieran am meisten schuld? Schuld sindeben die Fabrikanten, die Meister, die Beamten, die sich den Arbeiterngegenüber benehmen wie Fronherren gegenüber Leibeigenen, die denArbeiter nicht als einen ebenbürtigen Menschen anerkennen wollen. DieArbeiter kommen mit einer höflichen Bitte oder Anfrage — aber überallwerden sie mit Grobheiten, Beschimpfungen und Drohungen empfangen.Ist es da nicht klar, daß die Fabrikanten, wenn sie die Arbeiter der Grob-

heit zeihen , die Schuld von sich auf Unschuldige a bw älzen ? D ie Gew erbe-gerichte würden unseren Ausbeutern rasch die Grobheit abgewöhnen: imGericht säßen Arbeiter neben Fabrikanten als Richter, beide würden ge-meinsam über die Fälle verhandeln und abstimmen. Die von den Fabri-kanten bestellten Riditer wären genötigt, die von den Arbeitern bestelltenRichter als ihnen Gleichgestellte und nicht als Lohnsklaven anzusehen.

um an die Öffentlichkeit zu treten. Richtig und vollständig können das Fabrik-leben, die Lage der Arbeiter und ihr Kampf nur durch freie Arbeiterzeitungen

und freie Volksversammlungen, die alle Staatsangelegenheiten erörtern, derÖffentlichkeit zur Kenntnis gebracht werden. Genauso ist auch die Vertretungder Arbeiter in den Gewerbegerichten nur eines der M ittel de r Vertretung, undbei weitem nicht das Hauptmittel: eine wirkliche Vertretung der Interessen undBedürfnisse der Arbeiter ist nur in einer vom ganzen Volke gewählten Vertre-tungskörperschaft (einem Parlament) möglich/ die Gesetze erlassen und ihrenVollzug beaufsichtigen würde. Wir werden weiter unten noch davon sprechen,ob unter den gegenwärtigen Verhältnissen in Rußland Gewerbegerichte mög-lich sind.

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300 W.J.Lenin

Vor Gericht würden als streitende Parteien und Zeugen sowohl Fabri-

kanten als auch Arbeiter stehen; die Fabrikanten würden sich darangewöhnen, ordentliche Verhandlungen mit den Arbeitern zu führen.Dies ist für die Arbeiter sehr wichtig, weil solche Verhandlungen heuteäußerst selten zustande kommen: der Fabrikant will einfach nichts davonwissen, daß die Arbeiter ihre Deputierten wählen, so bleibt den Arbeiternnur ein einziger Verhandlungsweg: der Streik, und dies ist ein schwie-riger, ja häufig sehr schwerer Weg. Ferner, wenn unter den Richtern auchArbeiter wären, dann könnten die Arbeiter ungehindert mit Klagen übergrobe Behandlung vor Gericht gehen. Die von den Arbeitern bestellten

Richter würden stets für sie Partei ergreifen, und die gerichtliche Vor-ladung eines Fabrikanten oder Meisters wegen Grobheit würde diesenschon die Lust austreiben, sich frech oder anmaßend zu benehmen.

Somit sind die Gewerbegerichte, die zu gleichen Teilen aus gewähltenVertretern der Unternehmer und der Arbeiter bestehen, für die Arbeitervon sehr großer Bedeutung und bringen ihnen viel Nutzen: die Arbeiterkommen an sie viel leichter heran als an die gewöhnlichen Gerichte, hiergibt es weniger Bürokratismus und Papierwirtschaft, hier kennen dieRichter die Bedingungen des Fabriklebens und urteilen gerechter. Sie

machen die Arbeiter mit den Gesetzen bekannt, sie gewöhnen die Arbeiterdaran, eigene Vertreter zu wählen und an den Staatsgeschäften teilzu-nehmen, sie sorgen dafür, daß die Öffentlichkeit mehr von den Verhält-nissen in den Fabriken und von der Arbeiterbewegung erfährt, sie ge-wöhnen die Fabrikanten daran, die Arbeiter anständig zu behandeln undordentliche Verhandlungen mit den Arbeitern wie mit Gleichgestelltenzu führen. Kein Wunder daher, daß die Arbeiter in allen europäischenLändern die Einführung von Gewerbegerichten fordern, daß sie verlan-gen, solche Gerichte solle es nicht nur für die Arbeiter in den Fabriken

und Werken geben (die Deutschen und Franzosen haben derartige Ge-richte bereits), sondern auch für die Arbeiter, die zu Hause für Kapita-listen arbeiten (Kustare), und für die Landarbeiter. Von der Regierungernann te Beamte (sowohl JUdhter als audb fabrikinspektoreri) können nie-mals Institutionen ersetzen, an denen die Arbeiter selbst teilnehmen-. Diesbraucht nach allem, was wir oben gesagt haben, nicht mehr erläutert zuwerden. Jeder Arbeiter weiß überdies auch selbst aus eigener Erfahrung,was er von Beamten zu erwarten hat; jeder Arbeiter wird ausgezeichnet

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Tiber Qewerbegeridhte 301

verstehen, da ß es Lug und T rug ist, we nn m an ihm sagt, die Beamten ver-

stünden es nicht schlechter, für die Arbeiter zu sorgen, als von den Arbei-tern selbst gewäh lte Vertrete r. Ein solcher Betrug ist sehr vorteilhaft füreine Regierung, deren Willen es ist, daß die Arbeiter auch weiter un-wissende, rechtlose und stumme Sklaven der Kapitalisten bleiben, unddeshalb bekommt man auch so oft diese verlogenen Versicherungen vonBeamten oder von Schriftstellern zu hören, die die Fabrikanten und dieRegierung in Schutz nehmen.

Die Notwendigkeit von Gewerbegerichten und ihr Nutzen für dieArbeiter liegen so klar auf der Hand, daß dies selbst russische Beamte

längst zugegeben haben. Freilich ist das so lange her, daß es viele ver-gessen ha be n! D as wa r dama ls, als unse re Bauern von der Leibeigenschaftbefreit wurd en (im Jahre 186 1, vor me hr als 38 Jahren). Etwa um dieseZeit beschloß die russische Regierung, auch die Gesetze über die Hand-werker und Fabrikarbeiter durch neue zu ersetzen: schon damals war esallzu klargeworden, daß nach der Freilassung der Bauern die alten Ar-beitergesetze nicht in Kraft bleiben konnten; als diese alten Gesetze aus-gearbeitet wurden, waren viele Arbeiter Leibeigene. So setzte die Regie-rung denn eine aus mehreren Beamten bestehende Kommission ein, dieden Auftrag erhielt, die in Deutschland und Frankreich (sowie in anderenLändern) geltenden Fabrikarbeitergesetze zu studieren und einen Ent-wurf für die Änderung der russischen Handwerker- und Fabrikarbeiter-gesetze auszuarbeiten. Der Kommission gehörten sehr gewichtige Per-sönlichkeiten an. Trotzdem aber machten sie sich an die Arbeit und ließenganze fünf Bände drucken, in denen sie die ausländischen Gesetze dar-legten und ein neues Gesetz für Rußland vorschlugen. Diesem von derKommission vorgeschlagenen Gesetz zufolge sollten Qewerbegeridbte mit

von Tabrikan ten und Arbeitern zu gleichen Teilen gewä hlten Richterneingeführt werden. Veröffentlicht wurde dieser Entwurf im Jahre 1865,

d. h. vor 34 Jahren. N un , und w as ist mit diesem Gese tzentwurf ge-schehen? wird der Arbeiter fragen. Weshalb hat denn nun die Regie-rung, die selber diesen Beamten den Auftrag gab, die notwendigen Ab-änderungen zu entwerfen, in Rußland keine Gewerbegerichte eingeführt?

Unsere Regierung ist mit dem Entwurf dieser Kommission ebenso ver-fahren, wie sie stets mit allen für das Volk und für die Arbeiter auch nureinigermaßen vorteilhaften Entwürfen verfährt. Die Regierung zahlte den

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Vber Qewerbegeridyte 303

was sie mit der einen Hand vor aller Augen feierlich gibt, um sich Wohl-

täter nennen zu können, mit der anderen Hand heimlich und allmählichwieder wegnimmt! Die Arbeiter haben diesen Trick schon am Beispiel desFabrikgesetzes vom 2. Juni 1897 kennengelernt!), sie ist bereit, Almosenzu reichen, um nur ja die unbeschränkte Macht der Beamten unangetastetzu lassen und zu verhindern, daß das Bewußtsein der Arbeiter erwacht,daß ihre Selbständigkeit sich entwickelt. Dieser für sie furchtbaren Ge-fahr entgeht die Regierung leicht durch die Ernennung neuer Beamter:die Beamten sind ihre gefügigen Diener. Den Beamten (beispielsweiseden Fabrikinspektoren) macht es nichts aus, wenn man ihnen die Ver-öffentlichung ihrer Berichte verbietet, ihnen macht es nichts aus, wennman ihnen verbietet, mit dem Arbeiter von seinen Rechten und von denMißbräuchen der Unternehmer zu sprechen, es bereitet keinerlei Mühe,sie zu Fabrikspitzeln zu machen, von denen man verlangt, daß sie überjede Unzufriedenheit und Unruhe der Arbeiter an die Polizei berichten.

Deshalb können die Arbeiter, solange' die jetzigen politischen Zuständein Rußland — das heißt die Rechtlosigkeit des Volkes, die Willkür derBeamten und Polizisten, die dem Volk nicht verantwortlich sind — be-stehen bleiben, nicht auf Einführung der für sie nützlichen Gewerbe-

gerichte hoffen. Die Regierung begreift sehr wohl, daß Gewerbegerichtedie Arbeiter sehr rasch veranlassen würden, zu radikaleren Forderungenüberzugehen. Wenn die Arbeiter eigene Vertreter in die Gewerbegerichtewählen könnten, so würden sie bald sehen, daß dies nicht genügt, dadie die Arbeiter ausbeutenden Fabrikanten und Gutsherren ihre Vertreterin sehr viele, bedeutend höhere staatliche Institutionen entsenden; dieArbeiter würden unbedingt eine allgemeine Volksvertretung verlangen.Wenn die Arbeiter es erreichen könnten, daß die Fabrikangelegenheitenund die Nöte der Arbeiter in Gerichten öffentlich verhandelt werden, sowürden sie bald sehen, daß dies nicht genügt, denn in unserer Zeit könneneine richtige Publizität nur Zeitungen und Volksversammlungen gewähr-leisten, und die Arbeiter würden Versammlungsfreiheit, Redefreiheit undPressefreiheit fordern. Das ist auch der Qrund, weshalb die Regierungden Plan zu r Einführung von Qewerbegeriditen in Rußland begraben bat!

Nehmen wir anderseits für einen Augenblick an, die Regierung würdeabsichtlich, um die Arbeiter zu betrügen, gleich jetzt Gewerbegerichte ein-führen, die jetzigen politischen Zustände aber unverändert lassen. Hätten

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304 WJ. Lenin

die Arbeiter hiervon einen Nutzen? Sie hätten keinerlei Nu tzen : die Ar-

beiter selbst würden sogar davon absehen, ihre bewußtesten, ehrlichstenund der Arbeiterklasse ergebensten Kollegen in diese Gerichte zu wählen,weil sie wissen, daß man in Rußland wegen jedes offenen und ehrlichenWortes auf Grund eines einfachen Polizeibefehls festgenommen, ohneUntersuchung und Gerichtsverfahren ins Gefängnis geworfen oder nachSibirien verbannt werden kann!

Also ist die Forderung nach Gewerbegerichten mit wählbaren Vertre-tern der Arbeiter nur ein kleiner Teil einer umfassenderen und radika-leren Forderung: der Forderung nach politischen Rechten des Volkes, d. h.

nach dem Recht, an der Verwaltung des Staates teilzunehmen und dieNöte des Volkes nicht nur in Zeitungen, sondern auch in Volksversamm-lungen offen zu erörtern.

Qesdbrieben Ende i899.

Zuerst veröftentlidht i924 ' TJadi einer Abschriftin der Zeitschrift von unbekannter Wand.

„Vroletarskaja Rewoluzija" SVr. 8l9.

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Ü B E R S T R E I K S 8 6

Arbeiterstreiks sind in Rußland in den letzten Jahren außerordentlichhäufig geworden. Es gibt kein einziges industrielles Gouvernement mehr,wo nicht mehrere Streiks stattgefunden hätten. Und in den Großstädtenhören die Streiks überhaupt nicht mehr auf. Es ist deshalb begreiflich,daß sich sowohl die klassenbewußten Arbeiter als auch die Sozialistenimmer häufiger mit der Frage beschäftigen, welche Bedeutung haben dieStreiks, welches sind die Methoden zur Führung von Streiks, und welcheAufgaben haben die Sozialisten bei der Teilnahme an Streiks.

Wir wollen versuchen, einige unserer Erwägungen zu diesen Fragendarzulegen. Im ersten Artikel wollen wir über die Bedeutung der Streiksin der Arbeiterbewegung überhaupt sprechen; im zweiten Artikel überdie russischen Antistreikgesetze, im dritten über die Frage, wie die Streiksin Rußland geführt wurden und geführt werden und welche Stellung dieklassenbewußten Arbeiter zu ihnen einnehmen müssen.

Vor allem ist die Frage aufzuwerfen, wodurch sich der Ausbruch unddie Ausbreitung der Streiks erklärt. Jeder, der sich all die Streiks, die ihmaus persönlicher Erfahrung, aus Berichten anderer oder aus Zeitungen be-kannt sind, in die Erinnerung zurückruft, wird sofort erkennen, daßStreiks dort ausbrechen und sich ausbreiten, wo große Fabriken entstehenund sich ausbreiten. Unter den größeren Fabriken, die mehrere Hunderte(zuweilen auch Tausende) von Arbeitern beschäftigen, wird sich kaum

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eine finden, in der es noch keine Arbeiterstreiks gegeben hätte. Als es inRußland wenig große Fabriken und Werke gab, gab es auch wenig Streiks,seitdem aber die großen Fabriken sowohl in den alten Fabrikorten alsauch in den neuen Fabrikstädten und Ortschaften rasch wachsen — seit-dem werden die Streiks immer häufiger.

Wie kommt es, daß fabrikmäßige Großproduktion stets zu Streiksführt? Dies kommt daher, daß der Kapitalismus notwendigerweise zumKampf der Arbeiter gegen die Unternehm er führt, und wenn die Produk-tion zur Großproduktion wird, so wird dieser Kampf notwendigerweisezum Streikkampf.

Wir wollen das erläutern.Kapitalismus heißt eine Gesellschaftsordnung, in der der Grund und

Boden, die Fabriken, die Maschinen und Werkzeuge usw. einer kleinenAnz ahl von Grundbesitzern und Kapitalisten gehören, während die Massedes Volkes kein oder doch fast kein Eigentum besitzt und sich deshalb alsLohnarbeiter verdingen muß. Die Grundbesitzer und Fabrikanten stellenArbeiter ein und lassen von ihnen diese oder jene Erzeugnisse herstellen,die sie dann auf dem M ark t verkaufen. D abei zahlen die Fabrikanten denArbeitern so wenig Lohn, daß die Arbeiter mit ihren Familien kaum ihrLeben fristen können, w ährend der Fabrikant alles, was der Arbeiter überdiese Produktenmenge hinaus erzeugt, in seine Tasche steckt; dies bildetseinen Profit. In der kapitalistischen Wirtschaft arbeitet somit die Massedes Volkes für Lohn bei anderen Leuten , sie arbeitet nicht für sich selbst,sondern gegen Bezahlung für die Unternehmer. Es ist klar, daß die Un-ternehmer stets bestrebt sind, den Lohn zu senken: je weniger sie denArbeitern geben, desto mehr Profit verbleibt ihnen. Die Arbeiter dagegensind bestrebt, einen möglichst hohen Lohn zu erhalten, um die ganzeFamilie mit ausreichender und gesunder Nahrung versorgen, in einerguten Wohnung leben, sich nicht wie Bettler, sondern so wie alle anderenMenschen kleiden zu können. Somit wird zwischen Unternehmern undArbeitern ein ständiger Kampf um den Arbeitslohn geführt: Der Unter-nehmer hat die Freiheit, sich den Arbeiter, den er einstellen will, nach Be-lieben zu wählen, und deshalb sucht er stets den billigsten. Der Arbeiterhat die Freiheit, sich den Unternehmer, von dem er sich einstellen lassenwill,,nach Belieben zu wählen, und er sucht sich den aus, der am meistenbietet, der ihn möglichst hoch bezahlt. Ob der Arbeiter auf dem Lande

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Tiber Streiks 307

oder in der Stadt arbeitet, ob er sich an einen Gutsbesitzer oder an einenreichen Bauern, an einen Bauunternehmer oder an einen Fabrikanten ver-dingt — er handelt stets mit dem Lohnherrn, führt mit ihm stets einenKampf um den Lohn.

Kann jedoch ein Arbeiter als einzelner diesen Kampf führen? Die Ar-beiterbevölkerung wird immer zahlreicher: die Bauern werden ruiniertund fliehen aus den Dörfern in die Städte und Fabriken. Die Gutsbesitzerund Fabrikanten führen Maschinen ein, die den Arbeitern die Arbeit weg-nehmen. In den Städten gibt es immer mehr Arbeitslose, in den Dörfernimmer mehr Bettler; die hungernde Bevölkerung drückt den Lohn immerniedriger und niedriger. Es wird für den A rbeiter unmöglich, allein gegenden Unternehmer zu kämpfen. Wenn ein Arbeiter guten Lohn verlangtoder sich mit einer Lohnkürzung nicht einverstanden erklärt, so antwortetder Unternehmer ihm: Scher dich weg, es stehen viele Hungernde vordem Tor, sie sind froh, auch für niedrigen Lohn arbeiten zu können.

Wenn die Verelendung des Volkes so weit geht, daß es sowohl in denStädten als auch auf dem Lande ständig Massen von Arbeitslosen gibt,wenn die Fabrikanten riesige Reichtümer anhäufen und die kleinen U nter-nehmer von Millionären verdrängt werden, dann wird der einzelne Arbei-ter dem Kapitalisten gegenüber völlig machtlos. Der Kapitalist erhält dieMöglichkeit, den Arbeiter völlig zugrunde zu richten, ihn durch Zucht-hausarbeit in den Tod zu treiben, und nicht nur ihn allein, sondern auchseine Frau und seine Kinder. In der Tat, man sehe sidi die Gewerbezweigean, in denen sich die Arbeiter noch keinen gesetzlichen Schutz erkämpfthaben und in denen die Arbeiter den Kapitalisten keinen Widerstandleisten können, und man wird einen maßlos langen Arbeitstag—der 17 bis19 Stunden erreicht — finden, man wird Kinder im Alter von 5 bis 6 Jah-ren finden, die durch schwere Arbeit zugrunde gerichtet werden, man wirdeine Generation ständig Hunger leidender und an Hunger allmählich hin-sterbender Arbeiter finden. Ein Beispiel bieten die Arbeiter, die bei sich zuHause für Kapitalisten arbeiten; ja jeder Arbeiter wird sich noch vieler,sehr vieler anderer Beispiele erinnern! Selbst unter der Sklaverei und unterder Leibeigenschaft gab es niemals eine so furchtbare Knechtung desarbeitenden Volkes wie die, bis zu der die Kapitalisten gehen, wenn dieArbeiter ihnen keinen W iderstand leisten können, wenn sie sich keine Ge-setze erkämpfen können, die die Willkür der Unternehmer beschränken.

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308 W. J.Lenin

Um sich nun nicht in diese äußerste Lage treiben zu lassen, beginnen

die Arbeiter einen verzweifelten Kampf. Da sie sehen, daß jeder vonihnen für sich allein ganz machtlos ist und daß ihm unter dem Joch desKapitals der Untergang droht, beginnen die Arbeiter, sich gemeinsamgegen ihre Unternehmer zu erheben. Es beginnen die Arbeiterstreiks. An-fänglich begreifen die Arbeiter häufig nicht einmal, was sie erreichen wol-len, sie sind sich nicht bewußt, weshalb sie das tun: sie zertrümmern ein-fach die Maschinen, zerstören die Fabriken. Sie wollen die Fabrikantennur ihre Empörung fühlen lassen, sie erproben ihre gemeinsamen Kräfte,um aus der unerträglichen Lage herauszukommen, ohne noch zu wissen,

weshalb eigentlich ihre Lage so hoffnungslos ist und was sie anstrebenmüssen.

In allen Ländern hat die Empörung der Arbeiter mit einzelnen Auf-ständen begonnen — mit Rebellionen, wie die Polizei und die Fabrikantensie bei uns nennen. In allen Ländern haben diese einzelnen Aufständeeinerseits mehr oder weniger friedliche Streiks und anderseits einen all-seitigen Kampf der Arbeiterklasse für ihre Befreiung hervorgerufen.

Welche Bedeutung haben nun Streiks (oder Ausstände) im Kampf derArbeiterklasse? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir hier zu-

nächst auf die Streiks etwas ausführlicher eingehen. Wenn der Lohn einesArbeiters, wie wir gesehen haben, durch einen Vertrag zwischen Unter-nehmer und Arbeiter festgesetzt wird und der einzelne Arbeiter sich da-bei als ganz machtlos erweist, so ist es klar, daß die Arbeiter ihre Forde-rungen unbedingt gemeinsam vertreten müssen, daß sie unbedingt Streiksorganisieren müssen, um die Unternehmer an einer Lohnkürzung zu hin-dern oder einen höheren Lohn für sich zu erkämpfen. Und wirklich, esgibt kein einziges Land mit kapitalistischem System, wo es keine Arbeiter-streiks gäbe. In allen europäischen Staaten und in Amerika, überall fühlen

sich die Arbeiter einzeln machtlos und können den Unternehmern nurgemeinsam Widerstand leisten, indem sie entweder in den Streik tretenoder mit Streik drohen. Je weiter sich nun der Kapitalismus entwickelt,je rascher die großen Fabriken und Werke wachsen, je mehr die kleinenKapitalisten von den großen verdrängt werden — desto dringender wirddas Bedürfnis nach gemeinsamem Widerstand der Arbeiter, denn destoschlimmer wird die Arbeitslosigkeit, desto stärker wird die Konkurrenzzwischen den Kapitalisten, die ihre Waren möglichst billig produzieren

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Über Streiks 309

wollen (und dazu ist es notwendig, die Arbeiter möglichst niedrig zu ent-

lohnen), desto stärker werden die Schwankungen in der Industrie und dieKrisen.* Wenn die Industrie prosperiert, so erhalten die Fabrikantengroße Profite, ohne daß es ihnen einfällt, sie mit den Arbeitern zu teilen;während der Krise dagegen versuchen die Fabrikanten die Verluste aufdie Arbeiter abzuwälzen. Die Notwendigkeit von Streiks in der kapitali-stischen Gesellschaft ist in den europäischen Ländern von allen so weitanerkannt, daß das Gesetz dort die Durchführung von Streiks nicht ver-bietet, nur in Rußland gelten noch die barbarischen Antistreikgesetze (vondiesen Gesetzen und von ihrer Anwendung werden wir ein andermalsprechen).

Aber die Streiks, die sich aus dem ganzen Wesen der kapitalistischenGesellschaft ergeben, bedeuten den Anfang des Kampfes der Arbeiter-klasse gegen diese Gesellschaftsordnung. Wenn den reichen Kapitalistendie besitzlosen Arbeiter einzeln gegenüberstehen, so bedeutet das dievöllige Versklavung der Arbeiter. Wenn diese besitzlosen Arbeiter sichaber zusamm ensdiließen, so ändert sich die Sache. Die Kapitalisten habenvon ihren Reichtümern keinerlei Nutzen, wenn sie nicht Arbeiter finden,die bereit sind, ihre Arbeit zu den Maschinen und Werkzeugen und Ma-

terialien der Kapitalisten hinzuzufügen und neue Reichtümer zu erzeugen.W enn die Arbeiter einzeln m it den Unternehmern zu tun haben, so blei-ben sie richtige Sklaven, die ewig um eines Stückchens Brot willen füreinen fremden Menschen arbeiten, bleiben ewig gefügige und keinenWiderspruch wagende Lohnsklaven. Wenn die Arbeiter aber gemein-sam ihre Forderungen stellen und es ablehnen, sich dem zu fügen, dereinen dicken Geldsack hat, dann hören die Arbeiter auf, Sklaven zu sein,sie werden Menschen, sie beginnen zu fordern, daß ihre Arbeit nicht nurzur Bereicherung eines Häufleins von Schmarotzern verwendet werde,

* über die Krisen in der Industrie und über ihre Bedeutung für die Arbeiterwerden wir ein andermal eingehender sprechen. Heute bemerken wir nur, daßin Rußland in den letzten Jahren die Geschäfte der Industrie vortrefflich gin-gen, daß die Industrie „prosperierte", jetzt aber (Ende 1899) treten bereitsklare Anzeichen dafür hervor, daß diese „Prosperität" mit einer Krise endenwird: mit einer Stockung im Warenabsatz, mit Bankrotten der Fabrikanten,mit dem Ruin der kleinen Unternehmer und mit furchtbaren Leiden für dieArbeiter (Arbeitslosigkeit, Lohnsenkung usw.).

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310 "W. J.Lenin

sondern den Arbeitenden die Möglichkeit gebe, menschlich zu leben. Die

Sklaven beginnen zu fordern, daß sie selbst die Herren werden — daß sienicht so arbeiten und leben, wie die Gutsbesitzer und Kapitalisten es wol-len, sondern so, wie die Werktätigen selbst es wollen. Streiks flößen denKapitalisten eben deshalb stets solchen Schrecken ein, weil sie ihre Herr-schaft zu erschüttern beginnen. „Alle Räder stehen still, wenn dein star-ker Arm es will", heißt es von der Arbeiterklasse in einem deutschenArbeiterlied. Und in der Tat: D ie Fabriken, die W erke , die großen Güter,die Maschinen, die Eisenbahnen usw. usf., alles das sind gleichsam Rädereines einzigen riesigen Mechanismus — dieser Mechanismus erzeugt die

verschiedenen Produkte, bearbeitet sie, transportiert sie an den notwen-digen Ort. Diesen ganzen Mechanismus bewegt der Arbeiter, der denBoden bebaut, das Erz fördert, in den Fabriken Waren anfertigt, Häu-ser, Werkstätten, Eisenbahnen baut. Wenn die Arbeiter die Arbeit ver-weigern, droht dieser ganze Mechanismus zum Stillstand zu kommen.Jeder Streik erinnert die Kapitalisten daran, daß die wahren Herrennicht sie sind, sondern die Arbeiter, die ihre Rechte immer lauter undlauter anmelden. Jeder Streik erinnert die Arbeiter daran, daß ihre Lagenicht hoffnungslos ist, daß sie nicht allein stehen. Man sehe sich an, wel-chen gewaltigen Einfluß ein Streik sowohl auf die Streikenden als auchauf die Arbeiter der benachbarten oder naheliegenden Fabriken oderauf die Fabriken des gleichen Produktionszweiges ausübt. In gewöhn-lichen, friedlichen Zeiten trägt der Arbeiter schweigend sein Joch, streitetnicht mit dem Unternehmer, äußert nicht Unzufriedenheit mit seinerLage. Während eines Streiks meldet er laut seine Forderungen an, er-innert er die Unternehmer an alle ihre Tyranneien, fordert er seineRechte, denkt nicht mehr nur an sich allein und an seinen Lohn — erdenkt auch an seine Kollegen, die gemeinsam mit ihm die Arbeit nieder-gelegt haben und ohne Furcht vor Entbehrungen für die Arbeitersacheeinstehen. Jeder Streik bringt dem Arbeiter eine Masse von Entbehrun-gen, und zwar so furchtbare Entbehrungen, daß man sie nur mit denHeimsuchungen des Krieges vergleichen kann: Hunger der Familie, Ver-lust des Verdienstes, häufig Verhaftung, Ausweisung aus der Stadt, woer sich eingelebt und Arbeit gefunden hat. Und trotz aller dieser Leidenverachten die Arbeiter diejenigen, die ihre Kollegen im Stich lassen undsich auf einen Kuhhandel mit dem Unternehmer einlassen. Trotz der

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Tiber Streiks 311

Not, die ein Streik mit sich bringt, gewinnen die Arbeiter der benach-

barten Fabriken stets neuen Mut, wenn sie sehen, daß ihre Kollegen denKampf aufgenommen haben. „Leute, die so viel erdulden, um einen ein-zigen Bourgeois zu beugen, werden auch imstande sein, die Macht derganzen Bourgeoisie zu brechen"97 , sagte ein großer Lehrer des Sozialis-mus, Engels, von den Streiks der englischen Arbeiter. Oft braucht nureine Fabrik in den Streik zu treten — und sofort beginnt eine Reihe vonStreiks in einer ganzen Menge von Fabriken. So groß ist der moralischeEinfluß der Streiks, so ansteckend wirkt auf die Arbeiter der Anblickihrer Kollegen, die, sei es auch nur für kurze Zeit, aus Sklaven zu

Menschen werden, die den Reichen gleichberechtigt sind! Jeder Streikerweckt in den Arbeitern mit großer Kraft den Gedanken an den Sozia-lismus — den Gedanken an den Kampf der ganzen Arbeiterklasse fürihre Befreiung vom Joch des Kapitals. Sehr häufig ist es vorgekommen,daß die Arbeiter einer bestimmten Fabrik oder eines bestimmten Pro-duktionszweiges, einer bestimmten Stadt bis zu einem großen Streikfast nichts vom Sozialismus gewußt und nicht an ihn gedacht haben —

nach dem Streik aber finden unter ihnen Zirkel und Verbände immermehr Verbreitung, und immer mehr und mehr Arbeiter werden zu So-zialisten.

Ein Streik lehrt die Arbeiter verstehen, worin die Kraft der Unter-nehmer und worin die Kraft der Arbeiter liegt, er lehrt sie, nicht alleinan ihren eigenen Unternehmer und nicht allein an ihre nächsten Kol-legen zu denken, sondern an alle Unternehmer, an die ganze Klasse derKapitalisten und an die ganze Klasse der Arbeiter. Wenn ein Fabrikant,der sich durch die Arbeit mehrerer Generationen von Arbeitern Millio-nen zusammengerafft hat, auch zu der bescheidensten Lohnzulage nichtbereit ist oder sogar versucht, den Lohn noch mehr herabzusetzen und,

im Falle des Widerstands der Arbeiter, Tausende hungernder Familienauf die Straße wirft, dann sehen die Arbeiter klar, daß die ganze Klasseder Kapitalisten ein Feind der ganzen Klasse der Arbeiter ist, daß dieArbeiter sich nur auf sich selbst und auf ihren Zusammenschluß verlassenkönnen. Sehr häufig kommt es vor, daß ein Fabrikant mit allen Kräftenbestrebt ist, die Arbeiter zu betrügen, sich als ihr Wohltäter hinzustellen,seine Arbeiterausbeutung mittels eines lumpigen Almosens, mittels irgend-welcher verlogener Versprechungen zu verschleiern. Jeder Streik macht

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stets mit einem Schlage diesen ganzen Betrug zunichte, weil er den Ar-

beitern zeigt, daß ihr „Wohltäter" ein Wolf im Schafspelz ist.Ein Streik öffnet aber den A rbeitern die Augen nicht nur über die Kapi-talisten, sondern auch über die Regierung und über die Gesetze. Genauso,wie die Fabrikanten sich als Wohltäter der Arbeiter hinzustellen suchen,möchten die Beamten und ihre Handlanger den Arbeitern weismachen, derZar und die Zarenregierung sorgten für Fabrikanten und für Arbeiter ingleicher Weise, nach Recht und Gerechtigkeit. Die Gesetze kennt der Ar-beiter nicht, mit den Beamten, besonders den höheren, hat er nichts zutun, und deshalb schenkt er alledem häufig Glauben. Dann aber bricht

ein Streik aus. In der Fabrik erscheinen der Staatsanwalt, der Fabrik-inspektor, die Polizei, häufig auch Militär. Die Arbeiter erfahren, daß siedas Gesetz verletzt haben: das Gesetz erlaubt den Fabrikanten, sowohlsich zu versammeln als auch offen darüber zu sprechen, wie sie die Löhneherabsetzen können, die Arbeiter aber werden, wenn sie unter sich Ver-einbarungen treffen, für Verbrecher erklärt! Die Arbeiter werden ausihren Wohnungen gejagt; die Polizei schließt die Läden, in denen dieArbeiter auf Kredit Lebensmittel erhalten könnten, man versucht, Sol-daten auf die Arbeiter zu hetzen, selbst dann, wenn die Arbeiter sich

ganz ruhig und friedlich verhalten. Den Soldaten wird sogar Befehl ge-geben, auf die Arbeiter zu schießen, und wenn sie Flüchtenden in denRücken schießen und wehrlose Arbeiter töten, läßt der Zar dem Militärseinen Dank übermitteln (so bedankte sich der Zar bei den Soldaten, die1895 in Jaroslawl streikende Arbeiter getötet hatten). Es wird jedemArbeiter klar, daß die Zarenregierung sein schlimmster Feind ist, daß siedie Kapitalisten schützt und die Arbeiter an Händen und Füßen fesselt.Der Arbeiter beginnt zu begreifen, daß die Gesetze nur im Interesse derReichen erlassen werden, daß auch die Beamten deren Interessen vertei-

digen, daß man dem arbeitenden Volk den M und verstopft und ihm nichtdie Möglichkeit gibt, von seiner Not zu sprechen, daß die Arbeiterklassesich notwendigerweise das Streikrecht, das Redit auf die Herausgabe vonArbeiterzeitungen, das Recht auf Teilnahme an einer Volksvertretung,die Gesetze erlassen und ihren Vollzug beaufsichtigen soll, erkämpfenmuß. Auch die Regierung selbst begreift sehr wohl, daß Streiks den Ar-beitern die Augen öffnen, und deshalb hat sie solche Angst vor Streiks,ist sie bemüht, sie um jeden Preis so schnell wie möglich abzuwürgen.

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Nicht umsonst erklärte einmal ein deutscher Innenminister, der besonders

dafür berüchtigt ist, Sozialisten und klassenbewußte Arbeiter mit allenKräften verfolgt zu haben, vor den Volksvertretern: „Hinter jedemStreik lauert die Hydra" (das Ungeheuer) „der Revolution"; mit jedemStreik erstarkt und entwickelt sich in den Arbeitern die Erkenntnis, daßdie Regierung ihr Feind ist, daß sich die Arbeiterklasse zum Kampf gegendie Regierung, zum Kampf für die Rechte des Volkes rüsten muß.

Un d so gewöhnen die Streiks die Arbeiter an den Zusamm enschluß, dieStreiks zeigen ihnen, daß sie den Kampf gegen die Kapitalisten nur ge-meinsam führen können, die Streiks lehren die Arbeiter, an den Kampf

der ganzen Arbeiterklasse gegen die ganze Klasse der Fabrikanten undgegen die autokratische Polizeiregierung zu denken. Das ist der Grund,weshalb die Sozialisten die Streiks eine „Schule des Krieges" nennen, eineSchule, in der die Arbeiter es lernen, Krieg zu führen gegen ihre Feindeund für die Befreiung des ganzen Volkes, für die Befreiung aller Werk-tätigen vom Joch der Beamten und vom Joch des Kapitals.

Aber eine „Schule des Krieges" ist noch nicht der Krieg selbst. Wennunter den Arbeitern Streiks weite Verbreitung finden, so beginnen man-che Arbeiter (und manche Sozialisten) zu glauben, die Arbeiterklasse

könne sich auf Streiks und Streikkassen oder -Vereinigungen allein be-sehränken, die Arbeiterklasse könne durch Streiks allein eine ernstlicheVerbesserung ihrer Lage oder sogar ihre Befreiung erreichen. Wenn siesehen, welche Kraft den A rbeitern ihr Zusamm enschluß un d selbst kleineStreiks geben, so glauben manche, die Arbeiter brauchten nur einen Ge-neralstreik im ganzen Lande auszurufen, und sie könnten bei den Kapi-talisten und der Regierung alles erreichen, was sie wollen. Eine solcheMeinung wurde auch von Arbeitern anderer Länder ausgesprochen, alsdie Arbeiterbewegung erst begann und die Arbeiter noch sehr unerfahren

waren. Aber diese Meinung ist irrig. Streiks sind eines der Mittel desKampfes der Arbeiterklasse für ihre Befreiung, aber nicht das einzigeMittel, und wenn die Arbeiter den anderen Kampfmitteln keine Auf-merksamkeit schenken, so verlangsamen sie dadurch die Entwicklung unddie Erfolge der Arbeiterklasse. Es ist wahr, für erfolgreiche Streiksbraucht man Kassen, aus denen die Arbeiter während der Streiks unter-halten werden. Solche Kassen gründen die Arbeiter auch (gewöhnlich dieArbeiter einzelner Gewerbe, einzelner Handwerke oder Berufe) in allen

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Ländern, bei uns in Rußland aber ist das besonders schwierig, weil die

Polizei sie aufspürt, das Geld beschlagnahmt und die Arbeiter verhaftet.Natürlich verstehen die Arbeiter es auch, sich vor der Polizei zu ver-stecken; natürlich ist die Einrichtung solcher Kassen nützlich, und wirwollen nicht den Arbeitern von ihnen abraten. Man darf aber nicht hof-fen, daß die Arbeiterkassen, solange sie gesetzlich verboten sind, zahl-reiche Mitglieder gewinnen können,- und bei einer kleinen Mitgliederzahlbringen Arbeiterkassen nicht allzuviel Nutzen. Weiter, selbst in den Län-dern, in denen Gewerkschaften der Arbeiter frei existieren und sehrgroße Mittel besitzen — selbst hier kann sich die Arbeiterklasse in ihrem

Kampf keineswegs auf Streiks allein beschränken. Es braucht nur eine Ab-satzstockung in der Industrie einzutreten (eine Krise, wie sie jetzt beispiels-weise auch in Rußland nah t) — und die Fabrikanten rufen sogar absichtlichStreiks hervor, weil es für sie vorteilhaft ist, ab und zu die Arbeit füreinige Zeit einzustellen, weil es für sie vorteilhaft ist, die Arbeiterkassenzu ruinieren. Auf Streiks und Streikvereinigungen allein dürfen sich dieArbeiter daher keinesfalls beschränken. Zweitens führen die Streiks nurdort zum Erfolg, wo die Arbeiter bereits ziemlich klassenbewußt sind,wo sie es verstehen, den Zeitpunkt für Streiks zu wählen, es verstehen,

ihre Forderungen zu stellen, wo sie Verbindungen mit den Sozialistenhaben, um Flugblätter und Broschüren zu erhalten. Solche Arbeiter a b *gibt es in Rußland noch wenige, und es müssen alle Kräfte aufgebotenwerden, um ihre Zahl zu erhöhen, um die Arbeitermassen bekannt zumachen mit der Arbeitersache, um sie m it dem Sozialismus und dem Kampfder Arbeiterklasse bekannt zu machen. Diese Aufgabe müssen die Sozia-listen und die klassenbewußten Arbeiter gemeinsam übernehmen, indemsie zu diesem Zweck eine sozialistische Arbeiterpartei gründen. Drittenszeigen die Streiks den Arbeitern, wie wir gesehen haben, daß die Re-gierung ihr Feind ist, daß gegen die Regierung gekämpft werden muß.Und die Streiks haben wirklich in allen Ländern die Arbeiterklasse all-mählich gelehrt, den Kampf gegen die Regierungen, für die Rechte derArbeiter und für die Rechte des ganzen Volkes überhaupt zu führen.Einen solchen Kampf kann, wie wir eben sagten, nur eine sozialistischeArbeiterpartei führen, die unter den Arbeitern richtige Auffassungenvon der Regierung und von der Arbeitersache verbreitet. Wir werdenein andermal besonders davon sprechen, wie bei uns in Rußland Streiks

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Tiber Streiks 315

geführt werden und wie die klassenbewußten Arbeiter sie nützen müs-

sen. Heute aber müssen wir darauf hinweisen, daß Streiks, wie bereitsoben bemerkt, eine „Schule des Krieges", aber nicht der Krieg selbstsind, daß Streiks nur ein Mittel des Kampfes, nur eine Form der Ar-beiterbewegung sind. Die Arbeiter können und müssen von einzelnenStreiks zum Kampf der ganzen Arbeiterklasse für die Befreiung allerWerktätigen übergehen, und sie tun das auch wirklich in allen Ländern.Wenn alle klassenbewußten Arbeiter Sozialisten werden, d. h. Menschen,die eine solche Befreiung anstreben, wenn sie sich im ganzen Lande zu-sammenschließen, um unter den Arbeitern den Sozialismus zu verbreiten,

um die Arbeiter mit allen Mitteln des Kampfes gegen ihre Feinde ver-traut zu machen, wenn sie eine sozialistische Arbeiterpartei bilden, diefür die Befreiung des ganzen Volkes vom Joch der Regierung und für dieBefreiung aller Werktätigen vom Joch des Kapitals kämpft — erst dannwird sich die Arbeiterklasse völlig jener großen Bewegung der Arbeiteraller Länder angeschlossen haben, die alle Arbeiter vereinigt und die roteFahne entrollt hat mit der Aufschrift „Proletarier aller Länder, vereinigteuch!"

Qesdbrieben Ende i899.Zuerst veröffentlidht 1924 "Naän einer Absdbriftin der Zeitschrift von unbekann ter Hand.

„Troietarskaja Rew oluzija" Tir. 8l9.

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ENTWURF EINER ANKÜNDIGUNG DER REDAKTIONDER „ISKRA"98 UND DER „SARJA"99

Im Begriff, zwei sozialdemokratische Organe, eine wissenschaftlich-poli-tische Zeitschrift und eine gesamtrussische Arbeiterzeitung, herauszugeben,halten wir es für notwendig, einige W orte über unser Programm zu sagen,über das, was wir anstreben und wie wir unsere Aufgaben auffassen.

W ir leben in einem äußerst bedeutungsvollen Zeitpunkt der Geschichteder russischen Arbeiterbewegung und der russischen Sozialdemokratie;alles scheint darauf hinzuweisen, daß sich unsere Bewegung in einemkritischen Stadium befindet: sie hat sich so weit ausgebreitet und in den

verschiedensten Ecken Rußlands so viele gesunde Triebe hervorgebracht,daß sich jetzt mit unaufhaltsamer Kraft ihr Bestreben geltend macht,sich zu festigen, eine höhere Form anzunehmen, ein bestimmtes Gesichtund eine bestimmte Organisation herauszuarbeiten. In der Tat, die letz-ten Jahre sind durch eine erstaunlich rasche Verbreitung der Ideen desSozialdemokratismus in unserer Intelligenz gekennzeichnet, und dieserStrömung des gesellschaftlichen Denkens kommt die völlig selbständige,spontane Bewegung des Industrieproletariats entgegen, das sich zu ver-einigen und gegen seine Unterdrücker zu kämpfen beginnt und dabei

ein leidenschaftliches Streben zum Sozialismus offenbart, überall ent-stehen Zirkel von Arbeitern und sozialdemokratischen Intellektuellen, eserscheinen lokale, der Agitation dienende Flugblätter, die Nachfrage nachsozialdemokratischen Schriften wächst, das Angebot bei weitem über-holend — und auch die verstärkten Repressalien der Regierung sind nichtimstande, diese Bewegung aufzuhalten.

Die Gefängnisse sind brechend voll, die Verbannungsorte überfüllt,fast jeden Monat hört man von „hochgegangenen" Sozialisten an allen

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Entwurf einer Ankündigung der Redaktion 317

Ecken und Enden Rußlands, von abgefangenen Transporten, von verhaf-

teten Agitatoren, von beschlagnahmten Druckschriften und Druckereien— aber die Bewegung kommt nicht zum Stillstand, sondern wächst immermehr an, sie erfaßt ein immer größeres Gebiet, dringt immer tiefer in dieArbeiterklasse ein und lenkt mehr und mehr die öffentliche Aufmerk-samkeit auf sich. Und die gesamte wirtschaftliche Entwicklung Rußlands,die ganze Geschichte des gesellschaftlichen Denkens und der revolutio-nären Bewegung in Rußland bürgen dafür, daß die sozialdemokratischeArbeiterbewegung, allen Hindernissen zum Trotz, wachsen und die Hin-dernisse überwinden wird.

Das Hauptmerkmal unserer Bewegung, das in letzter Zeit besondersin die Augen springt, ist ihre Zersplitterung, ihr, wenn man so sagen kann,handwerklerischer Charakter: lokale Zirkel entstehen und wirken fastvöllig unabhängig von den Zirkeln anderer Orte und sogar (was beson-ders wichtig ist) von Zirkeln, die gleichzeitig in denselben Zentren tätigwaren und tätig sind; es wird keine Tradition und keine Kontinuität ge-schaffen, und die örtlichen Publikationen widerspiegeln voll und ganzdiese Zersplitterung, diese mangelnde Verbindung mit dem, was die rus-sische Sozialdemokratie bereits geschaffen ha t. Uns scheint die jetzige Pe-

riode gerade deshalb kritisch, weil die Bewegung über diese Handwerk-lerei und diese Zersplitterung hinauswächst und den Übergang zu einerhöheren, geschlosseneren, besser und stärker organisierten Form, die zuschaffen wir für unsere Pflicht halten, dringend verlangt. Selbstverständ-lich ist in einer gewissen Periode der Bewegung, zu ihrem Beginn, einesolche Zersplitterung ganz unvermeidlich, und die mangelnde Kontinuitätist bei einem so erstaunlich schnellen und allgemeinen Wachstum der Be-wegung nach der langen Periode revolutionärer Flaute eine durchaus na-türliche Erscheinung. Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß die Man-nigfaltigkeit der lokalen Bedingungen, die Verschiedenartigkeit der Lageder Arbeiterklasse in den einzelnen Gebieten und schließlich auch die Be-sonderheiten in den Anschauungen der an den einzelnen Orten tätigenGenossen immer bestehen werden und daß gerade diese Mannigfaltig-keit von der Lebenskraft der Bewegung und ihrem gesunden Wachstumzeugt. Das alles ist richtig, aber die Zersplitterung und die Unorgani-siertheit sind durchaus keine notwendige Folge dieser Mannigfaltigkeit.Die Wahrung der Kontinuität der Bewegung, ihre Zusammenfassung

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318 IV.T.Lenin

schließen durchaus nicht die Mannigfaltigkeit aus, im Gegenteil, sie schaf-

fen ihr sogar weiteren Spielraum und ein freies Betätigungsfeld. Im gegen-wärtigen Stadium der Bewegung aber beginnt diese Zersplitterung sichdirekt schädlich auszuwirken und droht, die Bewegung auf eine falscheBahn zu lenken: ein enger Praktizismus, losgerissen von der theoretischenBeleuchtung der Bewegung in ihrer Gesamtheit kann die Verbindungzwischen dem Sozialismus und der revolutionären Bewegung in Ruß-land einerseits und der spontanen Arbeiterbewegung anderseits zerstören.Daß diese Gefahr keine eingebildete ist, das beweisen solche literarischenErzeugnisse wie das „Credo" *, das bereits durchaus berechtigten Protest

und Ablehnung hervorgerufen hat, und die „Sonderbeilage zur ,Rabo-tschaja Mysl'" (September 1899). In dieser Beilage kommt die Tendenz,von der die ganze Zeitung „Rabotschaja Mysl" durchdrungen ist, be-sonders plastisch zum Ausdruck, in ihr beginnt eine besondere Richtunginnerhalb der russischen Sozialdemokratie in Erscheinung zu treten, undzwar eine Richtung, die direkten Schaden anrichten kann und die be-kämpft werden muß. Die russische legale Literatur aber, mit jener Paro-die auf den Marxismus, die das gesellschaftliche Bewußtsein nur zu kor-rumpieren vermag, steigert noch diese Zerfahrenheit und diese Anarchie,die dem berühmten (durch seinen Bankrott berühmten) Bernstein dieMöglichkeit gaben, in seinem Buch vor aller W elt die Lüge zu verkünden,daß die Mehrheit der in Rußland wirkenden Sozialdemokraten hinterihm stehe.

Es wäre noch verfrüht, ein U rteil darüber zu fällen, wie tief diese Mei-nungsverschiedenheiten gehen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daßsich eine besondere Richtung herausbildet (wir sind durdiaus nicht ge-neigt, diese Frage jetzt schon im bejahenden Sinne zu beantworten undgeben die Hoffnung auf die Möglichkeit einer Zusammenarbeit noch

keineswegs auf); aber den Ernst der Lage nicht sehen wollen wäre nochviel schädlicher als eine Übertreibung dieser Meinungsverschiedenheiten,und wir begrüßen daher von ganzem Herzen die Wiederaufnahme derliterarischen Tätigkeit durch die Gruppe „Befreiung der Arbeit" und denvon ihr begonnenen Kampf gegen die Versuche, den Sozialdemokratismuszu entstellen und zu verflachen.100

* Glaubensbekenntnis, Programm, Darlegung einer Weltanschauung. Die•Red .

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Entwurf einer Ankündigung der Redaktion 319

Die praktische Schlußfolgerung aus alledem ist folgende: Wir russi-schen Sozialdemokraten müssen uns vereinigen und alle Anstrengungenauf die Bildung einer einheitlichen und starken Partei richten, die unterdem Banner des revolutionären sozialdemokratischen Programms kämpft,die Kontinuität der Bewegung wahrt u nd ihre Organisiertheit systematisdifördert. Dies ist keine neue Schlußfolgerung. Zu ihr gelangten die russi-schen Sozialdemokraten , schon vor zwei Jahren, als die Vertrete r dergrößten sozialdemokratischen Organisationen Rußlands im Frühjahr 1898zu ihrem Parteitag zusammentraten, die Sozialdemokratische Arbeiter-partei Rußlands gründeten, ihr „Manifest" veröffentlichten und die „Ra-botschaja Gaseta" als das offizielle Organ der Partei anerkannten. Wirbekennen uns als Mitglieder der Sozialdemokratischen A rbeiterpartei Ruß-lands und teilen voll und ganz die Grundideen des „Manifestes", demwir als der offenen und öffentlichen Deklaration der Ziele, die unserePartei anstreben muß, sehr große Bedeutung beimessen. Darum lautetfür uns, als Mitglieder der Partei, die Frage nach unseren nächsten undunmittelbaren Aufgaben folgendermaßen: Welchen Aktionsplan müssenwir haben, um eine Wiederherstellung der Partei zu erreichen, die vonBestand ist? Einige Genossen (ja sogar einige Gruppen und Organisatio-nen) sind der Ansicht, daß man zu diesem Zweck die Wahl der zentralen

Parteiinstitution erneut vornehmen und diese beauftragen müsse, dasParteiorgan wieder herauszubringen.10 1 Wir halten einen solchen Planfür falsch oder zumindest für gewagt. Die Partei schaffen und festigenheißt die Vereinigung aller russischen Sozialdemokraten schaffen und fe-stigen, eine solche Vereinigung aber läßt sich nicht einfach dekretieren,sie kann nicht durch den bloßen Beschluß irgendeiner, sagen wir, Ver-sammlung von Delegierten herbeigeführt, sondern muß entwickelt wer-den. Entwickelt werden muß erstens eine gemeinsame Parteiliteratur, ge-meinsam nicht nur in dem Sinne, daß sie im Dienste der gesamten russi-

schen Bewegung und nicht der einzelnen Gebiete steht, daß sie die Fra-gen der gesamten Bewegung — und nicht nur lokale Fragen — behandeltund den Kampf der klassenbewußten Proletarier unterstützt, sonderngemeinsam auch in dem Sinne, daß sie alle vorhandenen literarischenKräfte zusammenfaßt, alle Schattierungen der unter den russischen So-zialdemokraten vertretenen Meinungen und Ansichten zum Ausdruckbringt, und zwar nicht als Meinungen und Ansichten isolierter Partei-

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320 IV.3. Centn

arbeiter, sondern als die von Genossen, die durch gemeinsames Programm

und gemeinsamen Kampf in den Reihen einer Organisation miteinanderverbunden sind. Entwickelt werden muß zweitens eine Organisation, diespeziell der Verbindung zwischen allen Zentren der Bewegung, der Be-schaffung vollständiger und rechtzeitiger Informationen über die Be-wegung und der regelmäßigen Versorgung aller Teile Rußlands mit derperiodischen Presse dient. Erst wenn eine solche Organisation geschaffenist, wenn eine russische sozialistische Post besteht, wird die Partei festenBestand haben, erst dann wird die Partei zu einer realen Tatsache undfolglich auch zu einer mächtigen politischen Kraft werden. Der ersten

Hälfte dieser Aufgabe, d. h. der Schaffung einer gemeinsamen Literatur,beabsichtigen wir unsere Kräfte zu widmen, da wir hierin ein dringendesBedürfnis der gegenwärtigen Bewegung und einen notwendigen vorbe-reitenden Schritt zur Wiederaufnahme der Tätigkeit der Partei erblicken.

Aus diesem Charakter unserer Aufgabe ergibt sich natürlicherweiseauch das Programm , das den von uns herausgegebenen O rganen als Richt-linie dienen muß. In ihnen muß den theoretischen Fragen, d. h. sowohlder allgemeinen Theorie des Sozialdemokratismus als auch ihrer Anwen-dung auf die russische Wirklichkeit, viel Platz eingeräumt werden. Daßeine umfassende Behandlung dieser Fragen gerade in der jetzigen Zeitkeinen Aufschub duldet, steht außerhalb jedes Zweifels und bedarf nachdem oben Gesagten keiner weiteren Erläuterung. Es versteht sich vonselbst, daß in untrennbarer Verbindung mit den Fragen der allgemeinenTheorie der Leser mit der Arbeiterbewegung im Westen, ihrer Geschichteund ihrem gegenwärtigen Stand bekannt gemacht werden muß. Fernermachen wir uns die systematische Erörterung aller politischen Fragen zurAufgabe: die sozialdemokratische Arbeiterpartei muß auf alle Fragenreagieren, die das Leben auf allen Gebieten aufwirft, auf Fragen sowohlder inneren als auch der internationalen Politik, und wir müssen bestrebtsein, zu erreichen, daß sich jeder Sozialdemokrat und jeder klassenbe-wußte Arbeiter in allen grundlegenden Fragen eine bestimmte Meinungbildet — ohne diese Bedingung ist eine breitangelegte und planmäßigePropaganda und Agitation unmöglich. Die Erörterung der theoretischenund politischen Fragen wird mit der Ausarbeitung des Parteiprogrammsverbunden sein, dessen Notwendigkeit bereits der Parteitag von 1898anerkannt hat, und in nächster Zeit beabsichtigen wir einen Programm-

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Entwurf einet- Ankündigung der Redaktion 321

entwurf zu veröffentlichen; seine allseitige Erörterung soll genügend Ma-terial für den künftigen Parteitag liefern, dessen Aufgabe, es sein wird,ein Programm anzunehmen.1 0 2 Für eine besonders dringende Aufgabehalten wir ferner die Erörterung der Organisationsfragen und der prak-tischen Arbeitsmethoden. Die fehlende Kontinuität und die Zersplitte-rung, von denen oben die Rede war, wirken sich besonders schädlich aufden gegenwärtigen Stand der Parteidisziplin, der Organisation und derkonspirativen Technik aus. Es muß rückhaltlos und offen zugegeben wer-den, daß wir Sozialdemokraten in dieser Hinsicht hinter den alten Kämp-fern der russischen revolutionären Bewegung und hinter anderen in Ruß-land tätigen Organisationen zurückgeblieben sind und daß wir alle Kräfte

anspannen müssen, um diese Mängel zu beseitigen. Die Einbeziehungbreiter Massen der Arbeiterjugend und der jungen Intelligenz in die Be-wegung, das häufiger werdende Auffliegen von Organisationen und diezunehmende Raffinesse der Verfolgungen von Seiten der Regierung ma-chen es dringend erforderlich, die Prinzipien und Methoden der Partei-organisation, der Disziplin und der konspirativen Technik zu propa-gieren.

Eine solche Propaganda kann und muß, wenn sie von allen einzelnenGruppen und allen erfahreneren Genossen unterstützt wird, dazu führen,daß aus jungen Sozialisten und Arbeitern tüchtige Führer der revolutio-nären Bewegung herangebildet werden, die imstande sind, alle Hinder-nisse, die das Joch des autokratischen Polizeistaates unserer Arbeit ent-gegenstellt , zu überwinden und allen Anforderungen der spontan zumSozialismus und zum politischen Kampf drängenden Arbeitermasse zugenügen. Schließlich muß es im Zusammenhang mit den obengenanntenTh em en eine unse rer wichtigsten Au fgaben sein, diese sponta ne Be-wegung (sowohl in den Arbeitermassen als auch in unserer Intelligenz)zu analysieren: wir müssen uns klarwerden über die gesellschaftliche Be-

wegung der Intelligenz, die in Rußland die zweite Hälfte der neunzigerJahre kennzeichnet und die verschiedene und mitunter verschiedenartigeStrömungen in sich vereinigt; wir müssen die Lage der Arbeiterklasse aufallen Ge bieten d er Volksw irtschaft sorgfältig studieren , müssen die Form enund Bedingungen ihres Erwachens, ihres beginnenden Kampfes studieren,um den marxistischen Sozialismus, der auf russischem Boden bereitsWurzel faßt, und die russische Arbeiterbewegung zu einem unlösbaren

21 Lenin, W erk e, Bd. 4

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322 TV.3. Lenin

Ganzen zu verbinden, um die russische revolutionäre Bewegung mit dem

spontanen Aufschwung der Volksmassen zu verbinden. Erst wenn einesolche Verbindung geschaffen ist, kann in Rußland eine sozialdemokra-tische Arbeiterpartei entstehen, denn Sozialdemokratie — das heißt nicht,sich nur in den Dienst der spontanen Arbeiterbewegung stellen (wie einigezeitgenössische „Praktiker" bei uns zuweilen zu glauben geneigt sind),Sozialdemokratie bedeutet die Vereinigung des Sozialismus mit der Ar-beiterbewegung. Nur eine solche Vereinigung ermöglicht dem russischenProletariat die Erfüllung seiner ersten politischen Aufgabe: die BefreiungRußlands vom Joch der Selbstherrschaft.

W as die Verteilung der von uns ins Auge gefaßten Themen und Fragenzwischen Zeitschrift und Zeitung betrifft, so wird diese Verteilung aus-schließlich durch den unterschiedlichen U mfang dieser O rgane sowie durchdie Verschiedenheit ihres Charakters bestimmt werden: die Zeitschriftsoll vorwiegend der Propaganda, die Zeitung vorwiegend der Agitationdienen. Aber sowohl in der Zeitschrift als auch in der Zeitung müssensich alle Seiten der Bewegung widerspiegeln, und besonders betonenmöchten wir, daß wir den Plan ablehnen, wonach die Arbeiterzeitungausschließlich das veröffentlichen soll, was die spontane Arbeiterbewegung

unmittelbar und am nächsten berührt, während dem Organ für die Intel-lektuellen alles überlassen bliebe, was ins Gebiet der Theorie des Sozia-lismus, ins Gebiet der Wissenschaft, der Politik, der mit der Parteiorga-nisation zusammenhängenden Fragen usw. fällt. Im Gegenteil, notwendigist gerade die Verbindung aller konkreten Tatsachen und Erscheinungs-formen der Arbeiterbewegung mit den erwähnten Fragen, notwendig istdie Beleuchtung jeder einzelnen Tatsache durdi die Theorie, notwendigist die Propagierung der politischen und parteiorganisatorischen Fragenin den breitesten Massen der Arbeiterklasse, notwendig ist die Einbezie-hung dieser Fragen in die Agitation. Die bisher bei uns fast ausschließlichherrschende Agitationsform, nämlich die Agitation durch lokale Flug-blätter, genügt nicht mehr: sie ist zu eng, denn sie berührt nur lokaleund in erster Linie wirtschaftliche Fragen. Es muß der Versuch gemachtwerden, eine höhere Form der Agitation zu schaffen — durch die Zeitung,die die Beschwerden der A rbeiter, die Arbeiterstreiks, die anderen Formendes proletarischen Kampfes und alle Erscheinungsformen der politischenUnterdrückung in ganz Rußland periodisch registriert und aus jeder

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Entwurf einer Ankündigung der Redaktion 323

dieser Tatsachen vom Standpunkt der Endziele des Sozialismus und

der politischen Aufgaben des russischen Proletariats bestimmte Schlüssezieht. „Den Rahmen ausdehnen und den Inhalt unserer propagandistisch-agitatorischen, und organisatorischen Tä tigkeit erweitern" — diese WorteP. B. Axelrods müssen zu der Losung werden, die die Tätigkeit der rus-sischen Sozialdemokraten in der nächsten Zeit bestimmt, und diese Losungnehmen wir in das Programm unserer Organe auf.

Hier taucht naturgemäß folgende Frage auf: Wenn die von uns ge-planten Organe dem Zwecke dienen sollen, alle russischen Sozialdemo-kraten zu vereinigen und sie zu einer Partei zusammenzuschließen, so

müssen sie alle Schattierungen der Meinungen, alle lokalen Besonder-heiten, die ganze Mannigfaltigkeit der praktischen Methoden widerspie-geln. Wie aber diese Vereinigung verschiedenartiger Standpunkte mit derredaktionellen Einheitlichkeit der Organe in Einklang bringen? Sollendiese Organe eine einfache Zusammenstellung der verschiedenartigenAnschauungen sein, oder sollen sie eine selbständige, ganz bestimmteRichtung ha ben?

Wir entscheiden diese Fragen in dem letztgenannten Sinn und hoffen,daß sich ein Organ mit einer klar bestimmten Richtung (wie wir weiter

unten ausführen werden) sowohl für die Darlegung der verschiedenenGesichtspunkte als auch für eine kameradschaftliche Polemik unter denMitarbeitern durchaus eignen kann. Wir stehen unseren Anschauungennach völlig auf dem Boden der grundlegenden Ideen des Marxismus (wiesie im „Kommunistischen Manifest" und in den Programmen der west-europäischen Sozialdemokraten zum Ausdruck kommen); wir treten fürdie konsequente Entwicklung dieser Ideen im Geiste von Marx und En-gels ein und lehnen entschieden jene halbschlächtigen und opportunisti-schen Korrekturen ab, die jetzt nach dem Beispiel Bernsteins so sehr zur

Mode geworden sind. Wir sehen die Aufgabe der Sozialdemokratie inder Organisierung des proletarischen Klassenkampfes, in der Förderungdieses Kampfes, in der Aufzeigung seines notwendigen Endziels, in derAnalyse der Bedingungen, die die Methoden der Führung dieses Kamp-fes bestimmen. „Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Ar-beiter selbst sein."10 3 Wenn wir aber die Sozialdemokratie nicht von derArbeiterbewegung trennen, so dürfen wir doch nicht vergessen, daß siedie Aufgabe hat, die Interessen dieser Bewegung in allen Ländern, in

21*

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324 W.ü. Cenin

ihrer Gesamtheit zu vertreten, daß sie keineswegs in eine blinde An-

betung dieser oder jener einzelnen Phase, in der sich die Bewegung zudieser oder jener Zeit, an diesem oder jenem Ort befindet, verfallen darf.

Wir halten es für die Pflicht der Sozialdemokratie, jede revolutionäre Be-wegung gegen die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung zu unter-stützen, und sehen ihr Ziel in der Eroberung der politischen Macht durchdie Arbeiterklasse, in der Expropriation der Expropriateure und in derErrichtung der sozialistischen Gesellschaft. Wir lehnen entschieden jedenVersuch ab, den revolutionären Charakter der Sozialdemokratie, die diePartei der sozialen Revolution ist und allen auf dem Boden der heutigen

Gesellschaftsordnung stehenden Klassen schonungslos feindlich gegen-übersteht, abzuschwächen oder zu vertuschen. Insbesondere halten wirden Sturz der Selbstherrschaft für eine geschichtliche Aufgabe der russi-schen Sozialdemokratie: die russische Sozialdemokratie ist berufen, dieVorkämpferin der russischen Demokratie zu sein, sie ist berufen, dasZiel zu verwirklichen, das ihr durch die ganze gesellschaftliche Entwick-lung in Rußland gestellt ist und das ihr die ruhmreichen Kämpfer der rus-sischen revolutionären Bewegung als Vermächtnis hinterlassen haben. Nurwenn sie den wirtschaftlichen Kampf mit dem politischen untrennbar ver-

bindet, wenn sie die politische Propaganda und Agitation in immer brei-tere Schichten der Arbeiterklasse trägt, kann die Sozialdemokratie ihreBestimmung erfüllen.

Von diesem Gesichtspunkt aus (der hier nur in ganz allgemeinen Li-nien dargelegt ist, da er bereits mehrfach von der Gruppe „Befreiung derArbeit" wie auch im „Manifest" der Sozialdemokratischen A rbeiterparteiRußlands und in seinem „Kommentar", in der Broschüre „Die Aufgabender russischen Sozialdemokraten"*, ferner in der Broschüre „Die Sacheder Arbeiter in Rußland" (Begründung des Programms der russischen

Sozialdemokratie) ausführlich dargestellt und begründet worden ist)werden wir alle theoretischen und praktischen Fragen beleuchten und be-müht sein, alle Erscheinungsformen der Arbeiterbewegung und des de-mokratischen Protestes in Rußland mit den erwähnten Ideen zu ver-knüpfen.

Obw ohl wir unsere literarische Arbeit vom Standpunk t einer bestimm-ten Richtung durchführen werden, beabsichtigen wir durchaus nicht, alle

^ T Werke, 4. Ausgabe, Bd. 2, S. 299, russ. T>ie Red.

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Entwurf einer Ankündigung der Redaktion 325

Einzelheiten unserer Auffassungen für die Auffassungen aller russischen

Sozialdemokraten auszugeben, haben wir durchaus nicht die Absicht, diebestehenden Meinungsverschiedenheiten zu leugnen, zu vertuschen oderzu unterdrücken. Im Gegenteil, wir wollen unsere Organe zu Organender Diskussion aller Fragen machen, an der alle russischen Sozialdemo-kraten mit Anschauungen verschiedenster Schattierung teilnehmen. EinePolemik zwischen Genossen lehnen wir in unseren Or gan en nicht nur nichtab, sonde rn wir sind im G egenteil bereit, ihr sehr viel Platz einzuräu me n.Eine offene Polemik vor allen russischen Sozialdemokraten und klassen-bewußten Arbeitern ist notwendig und wünschenswert, damit die Tiefe

der bestehenden M einungsverschiedenheiten klargelegt, die strittigen Fra-gen allseitig erörtert und die Extreme bekämpft werden können, in dieVertreter verschiedener Auffassungen, Vertreter verschiedener Gegendenoder verschiedener „Professionen" der revolutionären Bewegung unwei-gerlich verfallen. Wir betrachten es sogar als einen Mangel der gegenwär-tigen Bewegung, daß die offene Polemik zwischen offenkundig ausein-andergehenden Anschauungen fehlt , daß man bestrebt ist , Meinungsver-schiedenheiten in sehr wesentlichen Fragen verborgen zu halten.

Mehr noch: Da wir in der russischen Arbeiterklasse und in der russi-

schen Sozialdemokratie die Vorkämpferin für die Demokratie, für diepolitische Freiheit sehen, halten wir es für notwendig, danach zu streben,unsere Presseorgane zu allgemein-demokratischen Organen zu machen,nicht in dem Sinne, daß wir bereit wären, auch nur einen Augenblick denKlassenantagonismus zwischen dem Proletariat und den anderen Klassenzu vergessen, nicht in dem Sinne, daß wir auch nur die geringste Ver-wischung des Klassenkampfes zulassen wollten — nein, sondern in demSinne, daß wir alle demokratischen Fragen aufrollen und erörtern, ohneuns allein auf eng proletarische Fragen zu beschränken, daß wir alle Fälle

und Äußerungen der politischen Unterdrückung aufgreifen und erörtern,den Zusammenhang zwischen der Arbeiterbewegung und dem politischenKampf in allen seinen Formen aufzeigen, alle ehrlichen Kämpfer gegendie Selbstherrschaft heranziehen, welcher Ansicht sie auch seien und wel-chen Klassen sie auch angehören mögen, daß wir sie heranziehen für dieUnterstützung der Arbeiterklasse, als der einzigen revolutionären unddem Absolutismus unwiderruflich feindlichen Kraft. Wenn wir uns inerster Linie an die russischen Sozialisten und klassenbewußten Arbeiter

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326 W.J.£enin

wenden, so wollen wir uns darum doch nicht ausschließlich auf sie be-

schränken. Wir appellieren auch an alle, die durch die gegenwärtige poli-tische Ordnung Rußlands unterdrückt und geknechtet werden, die die Be1-

freiung des russischen Volkes aus seiner politischen Sklaverei anstreben,

wir fordern sie auf, die Presseorgane zu unterstützen, die ihre Kräfte

einsetzen, um die Arbeiterbewegung als revolutionäre politische Partei

zu organisieren, wir öffnen ihnen die Spalten unserer Organe zur Ent-

hüllung aller Niederträchtigkeiten und Verbrechen der russischen Selbst-

herrschaft. Wir appellieren an sie in der Überzeugung, daß das von der

russischen Sozialdemokratie erhobene Banner des politischen Kampfes

zum Banner des gesamten Volkes werden kann und muß.Die Aufgaben, die wir uns stellen, sind im höchsten Grade weitgefaßt

und allumfassend, und wir würden es nicht wagen, diese Aufgaben anzu-

packen, wenn wir nicht aus all unseren Erfahrungen die unerschütterliche

Oberzeugung gewonnen hätten, daß es sich um die dringendsten Auf-

gaben der gesamten Bewegung handelt, wenn wir uns nicht der Sympathie

und des Versprechens allseitiger und dauernder Unterstützung versichert

hätten: erstens seitens mehrerer Organisationen der Sozialdemokratischen

Arbeiterpartei Rußlands und einzelner in verschiedenen Städten tätigen

Gruppen russischer Sozialdemokraten; zweitens seitens der Gruppe „Be-freiung der Arbeit", die die russische Sozialdemokratie gegründetundimmer

an der Spitze ihrer Theoretiker und literarischen Repräsentanten gestanden

hat; drittens seitens einer ganzen Anzahl Personen, die keinen Organi-

sationen angehören, die aber mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewe-

gung sympathisieren und ihr nicht wenige Dienste erwiesen haben. Wir

werden alle unsere Kräfte daransetzen, um den von uns gewählten Teil

der gemeinsamen revolutionären Arbeit in der erforderlichen Weise durch-

zuführen, und wir streben danach, daß alle russischen Genossen unsere

Publikationen als ihre Organe betrachten, denen jede Gruppe alle Infor-mationen über die Bewegung zukommen läßt, denen sie Mitteilung macht

über ihre Ansichten, über ihre Anforderungen an die Literatur, über ihre

Erfahrungen, ihre Beurteilung der sozialdemokratischen Publikationen,

mit einem Wort, denen sie alles mitteilt, was sie in die Bewegung hin-

einträgt und was sie aus ihr gewinnt. Nur unter dieser Bedingung wird es

möglich sein, ein wirklich gesamtrussisches sozialdemokratisches Organ

zu schaffen. Die russische Sozialdemokratie fühlt sich bereits beengt in

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Entwurf einer Ankündigung der Redaktion 327

der Untergrundarbeit , die die einzelnen Gruppen und zersplit terten Zir-

kel leisten; es ist an der Zeit , daß sie den Weg offener Propaganda desSozialismus, den Weg des offenen polit isdien Kampfes besdireitet — unddie Gründung e ines gesamtrussisdien sozia ldemokrat isdien Organs mußder erste Sdhritt auf diesem Wege sein.

Qesdhrieben im frühjabr 1900.

Zuerst veröffentlidrt 1925 im TJadb einer Abschrift£enin-Sammelband IV. von unbekannter Hand.

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WIE DER „FUNKE" BEINAHE ERLOSCHEN WÄRE

Ich fuhr zuerst nach Zürich, fuhr allein und ohne Arsenjew (Potres-sow) vorher gesehen zu ha ben. In Zürich empfing m ich P. B. Ax elrod mitoffenen Armen, und ich verbrachte zwei Tage in sehr herzlichem Gesprächmit ihm. Die Unterhaltung war wie zwischen Freunden, die sich langenicht gesehen haben: wir sprachen von allem möglichen, wie es geradekam, gar nicht wie bei einer Arbeitsbesprechung. Es zeigte sich, daßP . B. in Fragen der Arbeit überhaupt wenig mitsprechen kann*,- es warzu merken, daß er G. W . Plechanow das W or t redet , daran zu merken,

wie er darauf bestand, daß die Druckerei für die Zeitschrift in Genf ein-gerichtet werde. Im allgemeinen aber „schmeichelte" (man entschuldigediesen Ausdruck) P .B . sehr, er sagte, da ß für sie alles mit unserem Unter-nehmen verknüpft sei, daß das für sie die Wiedergeburt bedeute, daß„wir" jetzt die Möglichkeit haben würden, auch gegen die extremen An-sichten von G. W. zu polemisieren — die letztere Äußerung habe ich mirbesonders gemerkt, und die ganze weitere „Historia" hat ja auch be-wiesen, daß es besonders bemerkenswerte Worte waren.

Ich komme nach Genf. Arsenjew macht mich darauf aufmerksam, daß

man mit G. W ., der über die Spa ltung 1 0 4 furchtbar erregt und miß-trauisch sei, sehr vorsichtig sein müsse. Tatsächlich haben die Besprechun-gen mit dem letzteren sofort gezeigt, daß er mißtrauisch, argwöhnisch u ndrechthaberisch** nee plus ultra*** ist. Ich war bemüht, vorsichtig zuseh}, vermied die „wunden" Punkte, aber dieses ständige Auf-der-Hut-

* „mitsprechen kann" bei Lenin deutsch. Der Tibers.** „rechthaberisch" bei Lenin deutsch. Der Tibers.

*** in höchstem Maße. Die Red.

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Erste Seite von W . I. Lenins M anusk ript„Wie der .Funke' beinahe erloschen wäre"

1900

Verkleinert

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W ie der „Junke" beinahe erlosären wäre . 331

Sein m ußte sich natürlich äußerst ungünstig auf die Stimmung auswirken.

Von Zeit zu Zeit gab es auch kleine „Reibungen" in Form hitziger Re-pliken G. W.s auf jede kleine Bemerkung, die geeignet war, die (durchdie Spaltung) erhitzten Leidenschaften wenigstens etwas abzukühlen oderzu dämpfen. „Reibungen" gab es auch in den Fragen der Tak tik der Zeit-schrift: G. W. bekundete fortwährend absolute Intoleranz, Unfähigkeit undmangelnden W illen, auf fremde Argumente einzugehen, und dabei Unauf-richtigkeit, jawohl Unaufrichtigkeit. Wir erklärten, daß wir Struve ge-genüber soweit wie viöglid} nachsichtig sein müßten, weil wir selbstan seiner Entwicklung nicht ohne Schuld seien, weil wir, darunter auäo

Q. W ., nicht W iderstand geleistet haben, als das notwendig gewesen wäre(1895, 1897). G .W . wollte eine Schuld seinerseits, auch die geringste,absolut nicht anerkennen und tat alles mit sichtlich untauglichen Argu-menten ab, die die Frage beiseite schoben, aber nicht klärten. In einerkameradschaftlichen Unterredung zwischen künftigen Redaktionskollegenwirkte diese... Diplomatie äußerst unangenehm: wozu sich selbst betrü-gen und erklären, ihm, G . W ., sei 1895 „befohlen" (?? ) worden, „nichtzu schießen" (auf Struve), er aber sei gewohnt zu tun, was man ihm be-fehle (so sieht er aus!).103 Wozu sich selbst betrügen und versichern, daß

er, G. W., 1897 (als Struve im „Nowoje Slowo" schrieb, es sei sein Ziel,eine der grundlegenden Thesen des Marxismus zu widerlegen) sich nichtdagegen gewandt habe, weil er eine Polemik zwischen Mitarbeitern einund derselben Zeitschrift absolut nidit verstehen könne (und auch nieverstehen werde).10 6 Diese Unaufrichtigkeit ärgerte uns furditbar, umso mehr, als G. W. bemüht war, in der Diskussion die Sache so darzu-stellen, als wollten wir keinen schonungslosen Kampf gegen Struve, alswollten wir „dauernd versöhnen" usw. Hitzige Auseinandersetzungengab es auch um die Frage der Polemik in der Zeitschrift üb erhaupt: G . W .war dagegen und wollte unsere Argumente nicht hören. Er zeigte einen H aßgegen die „Auslandsbündler", der ans Unanständige grenzte (er verdäch-tigte sie der Spitzelei, warf ihnen Geschäftemacherei, Gaunerei vor, er-klärte, er würde solche „Verräter", ohne zu zögern, „erschießen" usw.).Die entferntesten Andeutungen, daß auch er in Extreme verfallen sei(z . B. mein Hinweis auf die Veröffentlichung von Privatbriefen10 7 unddie Unvorsichtigkeit dieses Verfahrens), versetzten G. W . geradezu inheftige Erregung und sichtliche Gereiztheit. Offensichtlich wuchs sowohl

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332 IV.I.Lenin

bei ihm als auch bei uns die Unzufriedenheit. Bei ihm kam das unter

anderem in folgendem zum Ausdruck: Wir hatten eine redaktionelle An-kündigung („Im Namen der Redaktion")* entworfen, in der von denAufgaben und dem Programm unserer Publikationen die Rede war; diesewar (vom Standpunkt G. W.s) in „opportunistischem" Geiste geschrieben:eine Polemik zwischen Mitarbeitern wurde für zulässig erklärt, der Tonwar bescheiden, es wurde der Vorbehalt einer möglichen friedlichen Bei-legung des Streites mit den „Ökonomisten" gemacht usw. Betont wurdenin der Ankündigung auch unsere Zugehörigkeit zur Partei und unserWunsch, an ihrer Vereinigung zu arbeiten. G. W. hatte diese Ankündi-

gung zusammen mit Arsenjew und W. I. Sassulitsch gelesen, schon vormeiner Ankunft, hatte sie gelesen und keinen Einwand gegen den Inhaltgemacht. Er hatte nur den W unsdi geäußert, den Stil zu verbessern, ihn zuheben, den ganzen Gedankengang aber zu lassen. Zu diesem Zweck hatteihm A. N. Potressow die Ankündigung auch dagelassen. Als idi ankam,sagte mir G. W . kein W ort davon, wenige Tage später aber, als ich bei ihmwar, gab er mir die Ankündigung zurück — hier, bitte, vor Zeugen gebeich sie unversehrt wieder, ich habe sie nicht verloren. Ich frage, warumer nicht die beabsichtigten Änderungen an ihr vorgenommen habe. Er

madit Ausflüdite: Das könne man auch später tun, das gehe rasch, jetztlohne es nicht. Ich nahm die Ankündigung, verbesserte sie selbst (es wareine noch in Rußland entworfene Rohfassung) und las sie G. W . zumzweitenmal vor (in Anwesenheit von W. I.), wobei idb ihn diesmal direktbat, sie an sich zu nehmen und zu verbessern. Er machte wieder Aus-flüchte und wollte diese Arbeit der neben ihm sitzenden W . I. übertragen(was nun ganz seltsam war, denn wir hatten W. I. nicht darum gebeten,auch hätte sie die Ankündigung gar nicht so verbessern können, daß derTon „gehoben" worden wäre und sie den Charakter eines Manifestes

erhalten hätte).So ging die Sache bis zur Konferenz (an der die ganze Gruppe „Be-

freiung der Arbe it": G. W ., P. B., W . I. und wir beide, da unser D rit te r lo s

fehlte, teilnahmen). Endlich traf P. B. ein, und die Konferenz begann. Inder Frage unserer Stellung zum Jüdischen Verband („Bund") legte G.W.eine phänomenale Intoleranz an den Tag: er erklärte ihn direkt für einenicht-sozialdemokratische, vielmehr einfach ausbeuterische Organisation,

* Siehe den vorliegenden Band, S. 316. Die Red.

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Wie der „7unke" beinahe erlosdyen wäre 333

die die Russen ausbeute, und sagte, unser Ziel sei, diesen „Bund" aus der

Partei hinauszuwerfen, die Juden seien durchweg Chauvinisten und Na-tionalisten, und die russische Partei müsse russisch sein, sie dürfe sichnicht „in die Gefangenschaft" derer vom „Stamme Gads" begeben usw.Alle unsere Einwände gegen diese unanständigen Reden führten zu nichts,und G. W . beha rrte voll und ganz auf seinem Standpun kt, wobei er sagte,wir kennten das Judentum einfach nicht genügend und besäßen keinerleiLebenserfahrungen im Umgang mit Juden. Es wurde keine Resolution zudieser Frage angenommen. Auf der Konferenz lasen wir die „Ankündi-gun g" gemeinsam: G. W . benahm sich sonderbar, er schwieg, schlug

keinerlei Abänderungen vor, wandte sich nicht dagegen, daß hier einePolemik für zulässig erklärt wurde, überhaupt sah es so aus, als wollteer sich selbst ausschalten, jawohl ausschalten, als wollte er sich nicht be-teiligen, und nur so nebenbei, im Vorübergehen ließ er die giftige undboshafte Bemerkung fallen, er allerdings hätte (sie hätten , d. h. die Gruppe„Befreiung der Arbeit", in der er der Diktator ist) natürlich die Ankün-digung nicht so geschrieben. Diese von G. W. flüchtig hingeworfene Be-merkung, die er übrigens einem Satz anderen Inhalts anhängte, berührtemich besonders unangeneh m; d a findet nun eine Beratung der Redaktions-kollegen statt, und einer der Redakteure (den man zweimal gebetenhatte, seinen eigenen Entwurf der Ankündigung oder einen Entwurf fürVerbesserungen zu unserer Ankündigung zu geben) schlägt keinerlei Ab-änderungen vor, sondern bemerkt nur sarkastisch, er allerdings hätte na-türlich nicht so geschrieben (nicht so schüchtern, bescheiden, opportuni-stisch — wollte er sagen). Das zeigte bereits klar, daß die Beziehungenzwischen ihm und uns nicht normal sind. Weiter — auf die weniger wich-tigen Fragen der Konferenz gehe ich nicht ein — wird die Frage des Ver-hältnisses zu Bobo10 9 und M ich. Iw. Tugan-Baranowski aufgeworfen.Wirsind für bedingte Aufforderung zur Mitarbeit (hierzu trieb uns unweiger-

lich G. W.s Schroffheit: wir wollten damit zeigen, daß wir ein anderesVerhältnis w ünschten. G. W .s unglaubliche Schroffheit zwingt einfachirgendwie instinktiv zum Protest, zur Verteidigung seiner Gegner. WeraIwanowna bemerkte sehr treffend, G. W. polemisiere immer so, daß erbeim Leser Sympathien für seinen Gegner wecke). G. W. erklärt sehr kühlund trocken, er sei damit absolut nicht einverstanden, und schweigt demon-strativ während all unserer ziemlich langen Gespräche mit P. B. und W. I.,

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334 'W.I.Lenin

die nidit abgeneigt sind, sich mit uns einverstanden zu erklären. Während

dieses ganzen Vormittags war die Atmosphäre äußerst drückend: dieSache sah unzweifelhaft so aus, d aß G. W . ein Ultimatum stellt: ent-weder er oder Einladung dieser „Schurken". Als wir das sahen, entschlos-sen Arsenjew und ich uns zum Nachgeben und erklärten gleich zu Beginnder Abendsitzung, daß wir „auf Verlangen von G. W. hin" unseren Vor-schlag zurückziehen. Diese Erklärun g wurde mit Schweigen aufgenommen(als ob es sich von selbst verstünde, daß wir nachgeben müssen!). Unsversetzte diese „ultimative Atmosphäre" (wie Arsenjew sich später aus-drückte) in ziemliche Gereiztheit,- G.W.s Wunsch, unumschränkt zu herr-

schen, tarn offen zum Ausdruck. Vorher, als wir in einer Privatunterhal-tung über Bobo sprachen (G .W ., Arsenjew, W .I . und ich bei einem Abend-spaziergang im Wald ), legte mir G. W . nach einem h itzigen Streit dieHan d auf die Schulter und sagte : „Aber ich stelle ja gar keine Bedingungen,Herrschaften, wir werden über alles das in der Konferenz gemeinsamberaten und gemeinsam beschließen." Damals rührte mich das sehr. In derKonferenz aber kam es gerade umgekeh rt: in der Konferenz wich G.W . einerkameradschaftlichen Diskussion aus, hüllte sich zornig in Schweigen, undes war offenkundig, daß er mit seinem Schweigen eine „'Bedingung stellte".Für mich trat hier seine Unaufrichtigkeit schroff zutage (wenn ich auchnicht gleich meine Eindrücke so klar formulierte), Arsenjew aber erklärteoffen: „Ich werde ihm dieses Zugeständnis nicht vergessen!" Dann kamder Sonnabend. Ich erinnere mich nicht mehr genau, worüber man an die-sem Tage sprach, aber abends, als wir alle zusammen gingen, kam es zueinem neuen Konflikt. G. W. sagte, man sollte eine Person (die in derLiteratur noch nicht hervorgetreten ist, in der G. W. aber ein philosophi-sches Talent sehen will, ich kenne diese Person nicht, bekannt ist ihreblinde Verehrung für G. W.) mit einem philosophischen Aufsatz beauf-tragen, und nun sagt G. W.: Ich werde ihm raten, seinen Aufsatz miteiner Bemerkung gegen Kautsky einzuleiten — ein sauberer Patron das,ist bereits zum „Kritiker" geworden, läßt in der „Neuen Zeit" 1 1 0 philo-sophische Aufsätze von „Kritikern" erscheinen, und den „Marxisten"(nämlich Plechanow) gibt er nicht volle Bewegungsfreiheit. Als Arsenjewvon der Absicht eines so scharfen Ausfalls gegen Kautsky (der bereits auf-gefordert worden war, an der Zeitschrift m itzuarbeiten) hörte, war er em-pört und wandte sich leidenschaftlich dagegen, weil er das unangebracht

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W ie der „Tunke" beinahe erlosdhen wäre 335

fand. G. W . war beleidigt und erbost, ich schloß mich der M einung

Arsenjews an. P. B. und W . I. schwiegen. Eine halbe Stunde später reisteG. W . ab (wir hatten ihn auf den Dampfer gebracht), zuletzt hatte erschweigend dagesessen, düster wie eine Gewitterwolke. Als er fort war,fühlten wir uns alle erleichtert und ein „gütliches" Gespräch kam in Gang.Für den nächsten Tag, Sonntag (heute ist Sonntag, der 2. September. Esist also erst eine Woche her!!!, mir aber scheint es, als sei seitdem einJahr vergangen! So weit ist das schon in die Ferne gerückt!), wurde fest-gelegt, die Sitzung nicht bei uns, außerhalb der Stadt, sondern bei G. W .abzuhalten. Wir kommen dorthin — erst Arsenjew, später ich. G. W.schickt P. B. und W . I., um Arsenjew auszurichten, er, G. W., lehne es ab,Mitredakteur zu sein, er wolle nur einfacher Mitarbeiter sein. P. B. geht fort.W. I., völlig fassungslos, ganz außer sich, sagt stammelnd zu Arsenjew:„George ist unzufrieden, er will nicht..." Ich komme. G. W. öffnet mir,reicht mir mit einem etwas sonderbaren Lächeln die Hand und geht dannwieder. Ich trete in das Zimm er, in dem W . I. und Arsenjew mit seltsamenGesichtern dasitzen. „Nun, was ist los, Herrschaften?" frage ich. G. W.tritt ein und bittet uns in sein Zimmer. Dort erklärt er, es wäre besser,wenn er nur Mitarbeiter sei, einfacher Mitarbeiter, da es sonst nur Rei-bungen geben würde, daß er die Dinge offenbar anders betrachte als wir,

daß er unseren Standpunkt, den Parteistandpunkt, verstehe und achte, ihnaber nicht teilen könne. Wir sollen also die Redakteure, er aber Mitarbei-ter werden. Als wir das hörten, waren w ir völlig verblüfft, direkt wie vorden Kopf geschlagen und erhoben Einwände. Daraufhin sagte G. W .:„Nun gut, wenn wir gemeinsam arbeiten sollen, wie werden wir dannabstimmen; wieviel Stimmen haben wir?" — „Sechs." — „Sechs sind un-praktisch." — „Nun, mag dann G. W . zwei Stimmen haben", wirft W . I.ein, „sonst wird er immer allein sein — zwei Stimmen in Fragen der Tak-tik." Wir sind einverstanden. Darauf reißt G. W. die Zügel der Leitung

an sich und beginnt im Tone eines Chefredakteurs die Arbeitsgebiete unddie Artikel für die Zeitschrift zu verteilen, wobei er dem einen und demanderen der Anwesenden verschiedene Arbeitsgebiete überträgt — ineinem Tone , der keinen Widerspruch zuläßt. W ir alle sitzen wie begossenePudel da, stimmen teilnahmslos allem zu und sind immer noch nicht im-stande, das Vorgefallene zu verdauen. Wir fühlen, daß wir die Dummensind, daß unsere Bemerkungen immer schüchterner werden, daß G. W.

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336 . TV.1. Centn

sie „beiseite schiebt" (nicht widerlegt, sondern beiseite schiebt), und

zwar mit immer größerer Leichtigkeit und Geringschätzung, daß das„neue System" de facto * ganz und gar auf die uneingeschränkte Herr-schaft G. W.s hinausläuft und daß G. W., der das ausgezeichnet begreift,sich nicht geniert, seine Herrschaft rücksichtslos auszuüben, daß er mituns nicht gerade viel Umstände macht. Wir erkannten, daß wir gründlichhereingelegt und aufs Haupt geschlagen worden waren , waren jedoch nochnicht imstande, unsere Lage ganz zu erfassen. Kaum aber waren wirbeide allein, kaum hatten wir den Dampfer verlassen und w aren auf demWeg zu dem Landhaus, in dem wir wohnten, da brach es plötzlich aus

uns heraus, und wir entluden uns in den wütendsten und erbittertstenTiraden gegen G. W.

Ehe ich jedoch den Inhalt dieser Tiraden wiedergebe und berichte, wozusie geführt haben, will ich ein wenig abschweifen und noch einmal zu-rückgreifen. Warum hat uns der Gedanke einer absoluten HerrschaftPlechanows (unabhängig von der Torm seiner Herrschaft) so empört?Früher hatten wir immer so gedacht: Wir werden die Redakteure sein,sie aber — die nächsten Mitarbeiter. Ich hatte vorgeschlagen, von vorn-herein die Frage auch formell so zu stellen (noch in Rußland), Arsenjew

aber riet, die Frage nicht formell zu stellen, sondern lieber „im Guten"vorzugehen (was zu demselben Resultat führen würde) — und ich willigteein. Beide waren wir aber darin einig, daß wir die Redakteure sein müß-ten, einmal, weil die „Alten" äußerst intolerant sind, und dann auch, weilsie nicht imstande sein würden, die mühselige redaktionelle Kleinarbeitpünktlich zu' verrichten: nur diese Erwägungen waren für uns ausschlag-gebend, ihre ideologische Leitung aber wurde von uns durchaus gern an-erkannt. Die Gespräche, die ich. in Genf mit Plechanows nächsten Freun-den und Anhängern aus Kreisen der Jungen hatte (Mitglieder der G ruppe„Sozialdemokrat"11 1, alte Anhänger Plechanows, Parteiarbeiter, keineArbeiter, sondern Parteiarbeiter, einfache sachliche Menschen, die Plecha-now voll und ganz ergeben sind), diese Gespräche bestärkten mich (undArsenjew) durchaus in der Auffassung, daß w ir unbedingt so an die Sacheherangehen müssen,- diese seine Anhänger selbst erklärten uns ohne Um-schweife, es wäre wünschenswert, wenn sich die Redaktion in Deutsch-land befände, denn dadurch würden wir unabhängiger von Q. IV. sein-,

faktisch, in der Tat. Die Red.

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Wie der „9unke" beinahe erlosdhen wäre 337

wenn die Alten die faktische Redaktionsarbeit in ihren Händen hielten,

wäre das gleichbedeutend mit schrecklichen Verzögerungen und viel-leicht sogar mit dem Scheitern der Sache. Aus den gleichen Erwägungentrat auch Arsenjew bedingungslos für Deutschland ein.

Ich bin in meiner Schilderung, die zeigen soll, wie der „Funke" beinaheerloschen wäre, bei unserer Heimkehr am Sonntag abend, dem 26. Augustneuen Stils, stehengeblieben. Kaum waren wir nach Verlassen des Damp-fers allein, da entluden wir uns geradezu in einer Flut von Worten derEmpörung. Es brach förmlich aus uns heraus, die schwüle Atmosphäreentlud sidi in einem Gewitter. Bis in den späten Abend gingen wir von

einem Ende unseres Dörfchens zum anderen, die Nacht war ziemlichdunkel, r ingsum grollten Ge witter un d zuckten Blitze. W ir gingen auf undab und machten unserer Empörung Luft. Wie ich mich erinnere, begannArsenjew mit der Erklärung, seine persönlichen Beziehungen zu Plecha-now seien ein für allemal gelöst, er werde sie nie wieder aufnehmen; sach-liche Beziehungen würden bleiben — persönlich bin ich mit ihm fertig *.Die Art, wie er uns behandelt, sei in solchem Maße beleidigend, daß wirzu dem Verdacht gezwungen seien, er hege sehr „unsaubere" Gedankenin bezug auf uns (d. h., er stelle uns innerlich auf die gleiche Stufe mitStrebern**). Er malträtiere uns usw. Ich pflichtete diesen Beschuldigun-gen voll und ganz bei. Meine „Vernarrtheit" in Plechanow war ebenfallswie weggeblasen, und ich war unglaublich verletzt und verbittert. Nie,niemals in meinem Leben hatte ich für einen Menschen so viel aufrichtigeHoch achtung un d Verehrung, veneration ***, empfunden, keinem M en-schen wa r ich so „eh rfürchtig" geg enü berg etreten — un d nie ist mir einso brutaler „Fußtr i t t" versetzt worden. Und wirkl ich war es so , daß wireinen Fußtritt erhalten hatten: man hatte uns gedroht wie Kindern, ge-droht, die Erwachsenen würden fortgehen und uns allein lassen, und alswir es mit der Angst bekamen (welche Schande!), da wurden wir mit un-

glaublicher Unverfrorenheit beiseite geschoben. Es wurde uns jetzt völligklar, daß Plechanows Erklärung am Morgen, er lehne es ab, Mitredakteurzu sein, nichts als eine einfache Falle gewesen w ar, ein berech neter Schach-zug, ein Hi nterh alt für naive „G im pel" : das kon nte keinem Zweifel unter-

* „fertig" bei Lenin deutsch. Der Tibers.** „Streber" hier und auch weiter bei Lenin deutsch. Der Tibers.

*** hohe Achtung, Verehrung. D/e Red.

22 Lenin, W erke , Bd. 4

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338 "W.3. Lenin

liegen, denn wenn Plechanow wirklich die Mitredaktion gefürchtet hätte,

wen n er gefürchtet h ätte, die Sache zu hemm en, gefürchtet hät te, unnötigeReibungen un ter uns hervorzurufen, so hätte er auf ke inen Fall eine M inutespäter zeigen (und auf grobe Weise zeigen) können, daß seine Mitredak-

tion völlig gleichbedeutend ist mit seiner JHemredaktion. Wenn aber einMensch, mit dem wir in nahe Beziehungen treten, um ein gemeinsames,uns am Herzen liegendes Werk zu vollbringen, wenn ein solcher Menschseinen Genossen mit Schachzügen kommt, so kann es keinen Zweifelmehr geben, daß dieser Mensch schlecht, jawohl schlecht ist, daß er sichvon Motiven persönlicher, kleinlicher Eigenliebe und Eitelkeit leiten läßt,

daß er ein unaufrichtiger Mensch ist. Nach dieser Entdeckung — es warfür uns eine richtige Entdeckung! — waren wir wie vom Donner gerührt ,denn beide waren wir bis dahin in Plechanow vernarrt gewesen undhatten ihm, wie einem geliebten Menschen, alles verziehen, hatten vorallen seinen Mängeln die Augen geschlossen und uns mit aller Kraft ein-zureden versucht, daß es diese Mängel nicht gäbe, das seien Kleinigkeiten,um die sich nur Leute kümmern, die das Prinzipielle nicht genügendschätzen. Und nun mußten wir uns selbst durch Augenschein davon über-zeugen, daß diese „kleinen" Mängel imstande waren, die ergebensten

Freunde abzustoßen, daß keinerlei Überzeugung von der Richtigkeit sei-ner theoretischen Auffassungen seine abstoßenden Eigenschaften vergessenlassen konnte. Unsere Empörung war grenzenlos: das Ideal war zerschla-gen, und wir traten es voller Genugtuung mit Füßen, wie einen gestürztenGötzen; die härtesten Anklagen nahmen kein Ende. So geht es nicht! ent-schieden wir. Unter solchen Umständen wollen, werden und können wirnicht zusammenarbeiten. Ade, Zeitschrift! Wir geben alles auf und fah-ren nach Rußland, dort werden wir die Sache von neuem organisieren unduns auf die Zeitung beschränken. Wir wollen keine Schachfiguren in denHä nde n dieses M anne s sein; er läßt kameradschaftliche Beziehungenweder zu, noch versteht er sie. Wir können uns nicht dazu entschließen,die Redaktion selbst zu übernehmen, außerdem wäre das jetzt einfachwiderwärtig, es würde geradezu den Anschein erwecken, als jagten wirnu r nach Redak teurposten, als wären wir Strebe r, Karrieristen, als sprächeauch aus uns die gleiche Eitelkeit, nur von geringerem Kaliber.. . Es istschwer, unseren Zustand an jenem Abend hinreichend genau zu schildern:in einer so komplizierten, schweren und trüben Geistesverfassung befan-

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Wie der „7unke" beinahe erloschen wäre 339

den wir uns! Es war ein wirkliches Drama, ein völliger Bruch mit dem,

was ich lange Jahre hindurch wie ein geliebtes Kind gehegt und gepflegthatte, womit ich meine ganze Lebensarbeit untren nbar verband. U nd allesdas, weil wir früher in Plechanow vernarrt waren: wäre diese Vernarrt-heit nicht gewesen, hätten wir uns mit kälterem Blut, mit mehr Gleichmutzu ihm verhalten, hätten wir ihn mit etwas mehr Abstand betrachtet — sohätten wir uns zu ihm anders benommen und keinen solchen Zusammen-bruch, im wahren Sinne dieses Wortes, erlebt, keine solche „moralischekalte Dusche" bekommen, wie Arsenjew es völlig richtig ausdrückte. Eswar die härteste Leh re, die das Leben erteilen kan n, eine verletzend-harte,

eine verletzend-grobe Lehre. Jüngere Genossen „umwerben" den älterenGenossen aus großer Liebe zu ihm, dieser aber bringt plötzlich in dieseLiebe eine Atmosphäre der Intrige hinein und zwingt sie, sich nicht alsjüngere Brüder zu fühlen, sondern als dumme Jungen, die man an derNase herumführt, als Schachfiguren, die man willkürlich hin- und her-schieben kann, oder sogar als ungeschickte Streber, die man gehörig ein-schüchtern und unter Druck halten muß. Und die verliebte Jugend erhältvom Gegenstand ihrer Liebe die bittere Zurechtweisung: Es ist notwendig,allen Menschen „ohne Sentimentalität" gegenüberzutreten, es ist not-wend ig, stets einen Stein wurf bereit in der Tasche zu halten. Unzähligviele solch bitterer W or te sprachen wir an jenem Abend. D ie Plötzlichkeitdes Zusammenbruchs rief natürlicherweise auch viele Übertreibungen her-vor, aber dem Wesen der Sache nach waren diese bitteren Worte richtig.Blind geworden durch unsere Vernarrtheit, hatten wir uns im Grunde wieSklaven benommen; Sklave zu sein ist aber eine unwürdige Sache, unddieses Bewußtsein wurde noch hundertfach kränkender durch den Um-stand, daß „er" selbst uns darüber die Augen geöffnet hatte, indem er esuns am eigenen Leibe spüren ließ...

W ir begaben uns schließlich zu r Nachtruhe in unsere Z immer, fest ent-schlossen, gleich morgen Plechanow unsere Empörung auszudrücken, aufdie Zeitschrift zu verzichten, abzureisen und es bei der Zeitung bewendenzu lassen, das Zeitschriftenmaterial aber in Broschüren herauszugeben:die Sache wird darunter nicht leiden, und wir werden der nahen Beziehun-gen zu „diesem Mann" enthoben sein.

Am nächsten Tage wache ich früher als gewöhnlich auf: Schritte aufder Treppe und die Stimme P. B.s, der an Arsenjews Zimmertür klopft,

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340 W.J.Cenin

wecken mich. Ich höre, wie Arsenjew antwortet, die Tür öffnet — ich höre

das und denke dabei: Wird Arsenjew den Mut aufbringen, alles sofortzu sagen? es wäre doch besser, sofort zu reden, unbed ingt sofort, un d dieSache nicht in die Länge zu ziehen. Nachdem ich mich gewaschen und an-gekleidet habe, gehe ich zu Arsenjew, der sich wäscht. Axelrod sitzt mitetwas gezwungener Miene in einem Sessel. „Also, N. KL", wendet sichArsenjew an mich, „ich habe P. B. von unserem Entschluß, nach Rußlandzu reisen, erzählt und ihm gesagt, daß sich unserer Ü berzeug ung nach dieSache so nicht machen läßt." — Ich schließe mich natürlich voll und ganzArsenjew an und unterstütze ihn. Wir erzählen Axelrod alles, ohne uns

zu genieren — wir genieren uns so wenig, daß Arsenjew sogar sagt, wirhätten den Verdacht, Plechanow halte uns für Streber. Axelrod, der unsim allgemeinen halb und halb zustimmt, bitter den Kopf schüttelt undsich in höchstem Grad niedergeschlagen, verwirrt und verlegen zeigt, pro-testiert jedoch bei dieser Bemerkung energisch und schreit, das sei denndoch nicht wahr, Plechanow hab e verschiedene Mängel, abe r nicht diesen,hier sei nicht mehr er gegen uns ungerecht, sondern wir gegen ihn, bishersei er bereit gewesen, Plechanow zu sagen: „Siehst du, was du angerich-tet hast, nun löffle die Suppe selber aus, ich wasche meine H änd e in Un -

schuld", jetzt aber könne er sich dazu nicht entschließen, denn er sehe,daß auch wir ungerecht seien. Seine Versicherungen machten natürlichwenig Eindruck auf uns, und der arme P. B. bot ein ganz klägliches Bild,als er sich überzeugen m ußte, d aß unser Entschluß feststand.

Wir gingen zusammen fort und begaben uns zu W. I., um sie vorherzu unterrichten. Es war zu erwarten, daß die Nachricht von dem „Bruch"(die Geschichte sah tatsächlich nach einem Bruch aus) sie besondersschwer treffen würde. Ich fürchte sogar — hatte Arsenjew am Vorabendgesagt —, ich fürchte in vollem Ernst, daß sie sich das Leben nehmen

w i r d . . .Ich werde nie die Stimmung vergessen, in der wir drei das Haus ver-

ließen. „Als gingen wir in einem Leichenbegängnis", sagte ich zu mir.Und wirklich, wir gingen wie in einem Leichenbegängnis, schweigend,gesenkten Blickes, in höchstem Grade niedergeschlagen durch die Absur-dität, Ungereimtheit, Sinnlosigkeit dieses Verlustes. Es war wie ein Fluch!Alles war auf dem W ege, aufs beste geregelt zu werden, geregelt zu wer-den nach so langem Ungemach und Mißerfolg — plötzlich aber bricht ein

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Wie der „7unke" beinahe erlosdben wäre 343

klärung, als sie mir später wieder einfiel und ich sie mir gründlich durch

den Kopf gehen ließ. Es war eine so plumpe Drohung, ein so schlechtberechneter Einschüchterungsversuch, daß sie Plechanow nur „den Restgeben" konnte, denn sie deckte seine „Politik" uns gegenüber auf: esgenügt, ihnen einen tüchtigen Schreck einzujagen.. .

Wir schenkten jedoch der Drohung nidbt die geringste Heacbiung. Ichpreßte nur schweigend die Lippen zusammen: schön, wenn du uns sokommst, nun ä la guerre comme ä la guerre *, aber du bist ja ein Dumm-kopf, wenn du nicht siehst, daß wir jetzt nicht mehr die gleichen sind, daßwir uns in einer Nacht völlig gewandelt haben.

Als Plechanow nun sah, daß die Drohung nicht wirkte, versuchte er esmit einem anderen Manöver. Wahrhaftig, wie soll man es nicht ein Ma-növer nennen, wenn er wenige Augenblicke später, gleich darauf, davonzu reden beginnt, daß der Bruch mit uns für ihn gleichbedeutend sei mitdem vollständigen Verzicht auf politische Tätigkeit, daß er auf sie ver-zichten und sich der wissenschaftlichen, der rein wissenschaftlichen Lite-ratur widmen werde, denn wenn er schon mit uns nicht arbeiten könne,so werde er es mit n iemandem können. . . Wirkt Einschüchterung nicht ,vielleicht hilft dann Schmeichelei!.. Aber nach dem Einschüchterungsver-

such konnte das nur einen abstoßenden Eindruck he rvo rru fen . . . Das Ge-spräch war kurz, es kam nichts Rechtes heraus; als Plechanow das sah,lenkte er das Gespräch auf die Grausamkeiten der Russen in China, aberer sprach fast ganz allein, und bald trennten wir uns.

Nachdem Plechanow gegangen war, brachte die Unterhaltung mit P. B.und W. I . nichts Interessantes oder Wesentliches mehr: P. B. drehte undwendete sich in dem Bemühen, uns zu beweisen, daß auch Plechanowganz niedergeschmettert sei, daß wir jetzt, wenn wir so abreisen, eineSünde auf unsere Seele laden usw. usf. W. I . gab in einem vertrauten

Gespräch mit Arsenjew zu, daß „George" stets so gewesen sei, sie gabihren „Heldenmut des Sklaven" zu, gab zu, daß es „für ihn eine Lehresein wird", w enn wir abreisen.

Der Rest des Abends war öde und bedrückend.

A m nächsten T ag, D ienstag, den 28 . Au gust n. St. , wollten wir nachGenf und von dort nach Deutschland fahren. Am frühen Morgen wecktmich (der gewöhnlich spät aufstehende) Arsenjew. Ich wundere mich: er

* im Kriege nach Kriegsbrauch. Die Red.

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344 W.I.Lenin

sagt, er habe schlecht geschlafen und noch eine letzte mögliche Kombina-

tion gefunden, um die Sache wenigstens einigermaßen in Ordnung zubringen und nicht zuzulassen, daß ein ernstes Parteiunternehm en scheitert,weil die persönlichen Beziehungen verdorben sind. Wir werden einenSammelband herausgeben — um so mehr, als ja das M aterial schon ausge-wählt und die Verbindung mit einer Druckerei hergestellt ist. W ir werdendiesen Sammelband vorläufig unter den augenblicklichen ungeklärtenRedaktionsverhältnissen herausgeben, und dann werden wir ja sehen:vom Sammelband sei es ebenso leicht, zu einer Zeitschrift überzugehenwie zu Broschüren. Ist jedoch Plechanow halsstarrig — dann hole ihn der

Teufel, wir würden dann wissen, daß wir alles getan haben, was wirkonnten... So wurde auch beschlossen.

Wir gehen, um Pawel Borissowitsch und Wera Iwanowna Mitteilungzu machen und treffen sie; sie sind auf dem Wege zu uns. Sie stimmennatürlich gern zu, und P. B. übernimmt den Auftrag, mit Plechanow zuverhandeln und ihn zu bewegen, seine Zustimmung zu geben.

W ir kommen nach Genf und haben die letzte linterredun g mit Plecha-now. Er tut so, als habe es nur ein durch Nervosität hervorgerufenes be-dauerliches Mißverständnis gegeben: er fragt Arsenjew teilnahmsvoll

nach seiner Gesundheit und umarmt ihn fast — dieser wäre beinahe zu-rückgeprallt. Plechanow ist mit dem Sammelband einverstanden; wirsagen, daß in der Redaktionsfrage drei Kombinationen möglich seien(1 . wir sind die Redakteure, er Mitarbeiter; 2. wir alle sind Redaktions-kollegen; 3. er ist Redakteur, wir Mitarbeiter), daß wir in Rußland diesedrei Kombinationen erörtern, einen Entwurf ausarbeiten und ihn her-bringen werden. Plechanow erklärt, er lehne die dritte Kombination ent-schieden ab, er bestehe entschieden darauf, daß man diese Kombinationvollständig ausschließe, mit den beiden ersten Kombinationen dagegen

sei er einverstanden. So beschlossen wir denn auch: Vorläufig, bis zurVorlage unseres Entwurfs für ein neues Redaktionsstatut, bleibt es beimalten (alle sechs sind wir Redakteure, wobei Plechanow zwei Stimmenhat).

Plechanow spricht dann den Wunsch aus, genauer zu erfahren, worumes sich eigentlich gehandelt habe, womit wir unzufrieden seien. Ich machedie Bemerkung, es sei vielleicht besser, wenn wir unsere Aufmerksamkeitmehr auf das lenkten, was sein wird, und nicht auf das, was war. Aber

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"Wie der „Junke" beinahe erlosdhen wäre 345

Plechanow besteht darauf, die Sache müsse geklärt, müsse bereinigt wer-

den. Es beginnt eine Unterhaltung, an der sich fast nur Plechanow undich beteiligen — Arsenjew und P. B. schweigen. Die U nterh altun g wirdziemlich ruhig, sogar völlig ruhig geführt. Plechanow sagt, er habe be-merkt, seine Weigerung in bezug auf Struve hätte Arsenjew gereizt — ichbemerke, daß vielmehr er uns Bedingungen gestellt habe — entgegen sei-ner früheren Erklärung im Walde, daß er keine Bedingungen stelle. Ple-chanow verteidigt sich: „Ich habe nicht deswegen geschwiegen, weil ichBedingun gen stellte, son dern weil die Frag e für mich klar w ar." Ich sprechevon der Notwendigkeit, eine Polemik zuzulassen, von der Notwendigkeit,

unter uns abzust immen — Plechanow läßt das letztere gelten, sagt aber:In untergeordneten Fragen natürlich, in grundlegenden Fragen aber seieine Abstimmung unmöglich. Ich entgegne, daß gerade die Abgrenzungder grundlegenden von den untergeordneten Fragen nicht immer leichtsein werde, daß die Redaktionskollegen gerade über diese Abgrenzungwerden abstimmen müssen. Plechanow sperrt sich, er sagt, das sei schonGewissenssache, der Unterschied zwischen grundlegenden und unter-geordneten Fragen sei klar, Abstimmungen seien hier überflüssig. In die-sem Streit — ob eine Abstimmung unter den Redaktionskollegen über die

Frage der Abgrenzung zwischen untergeordneten und grundlegendenFragen zulässig sei — blieben wir stecken, ohne einen Schritt weiterzu-kommen. Plechanow bot seine ganze Gewandtheit auf, den ganzen Glanzseiner Beispiele, Vergleiche, W itze und Zita te, über die man unwillkürlichlachen muß, aber diese Frage umging er doch, ohne direkt nein zu sagen.Ich kam zu der Überzeugung, daß er gerade hier, in diesem Punkt, nichtnachgeben, auf seinen „Individualismus" und seine „Ultimaten" nicht ver-zichten konnte, denn in derartigen Fragen würde er nicht abstimmen,sondern eben Ultimaten stellen.

Am Abend des gleichen Tages reiste ich ab, ohne noch einmal jemandvon der Gruppe „Befreiung der Arbeit" gesehen zu haben. Wir beschlos-sen, von dem Vorgefallenen niemandem, außer den Personen, die uns amnächsten stehen, etwas zu sagen — wir beschlossen, app aren ces 1 1 2 zuwah r en — die Gegner nicht triumphieren zu lassen. Äußerlich sollte es soaussehen, als wäre nichts passiert, die Maschine sollte weiterlaufen, wiesie bisher lief — nur innen war irgendeine Saite gesprungen, und an dieStelle eines ausgezeichneten persönlichen war ein sachliches, kühles Ver-

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346 W. 3. Lenin

hältnis getreten, bei dem jeder Schritt genau berechnet wurde: ein Ver-

hältnis nach der Formel si vis pacem, para bellum*.Nicht uninteressant ist es, noch ein Gespräch zu erwähnen, das ich amAbend desselben Tages mit einem der nächsten Freunde und AnhängerPlechanows, einem Mitglied der Gruppe „Sozialdemokrat", führte. Ichsagte ihm kein Wort von dem, was vorgefallen war, ich sagte, die Zeit-schrift sei beschlossen, die Artikel seien festgelegt — es sei Zeit, an dieArbeit zu gehen. Ich unterhielt mich mit ihm darüber, wie die Sachepraktisch in die Wege zu leiten sei: er war ganz der Meinung, daß dieAlten zur Redaktionsarbeit entschieden unfähig seien. Ich sprach mit ihm

über die „drei Kombinationen" und fragte ihn offen, welche seiner Mei-nung nach die beste sei. Er antwortete ohne zu zögern: Die erste (wir —

Redakteure, sie — Mitarbeiter), aber wahrscheinlich wird die ZeitschriftPlechanow zufallen, die Zeitung — euch.

In dem M aße, wie wir von dem Vorgefallenen Abstand gewannen, be-trachteten wir die Dinge ruhiger und gelangten zu der Überzeugung, daßes durchaus unvernünftig wäre, die Sache aufzugeben, daß wir vorläufigkeinen Grund haben, uns vor der Übernahme der Redaktion (des Sam-melbands) zu fürchten, und daß gerade wir sie übernehmen müssen, da

es sonst absolut keine Möglichkeit gibt, die Maschine richtig arbeiten zulassen und zu verhindern, daß die Sache infolge der desorganisatorischen„Eigenschaften" Plechanows zugrunde geht.

Nach der Ankunft in N .113 , am 4. oder 5. September, hatten wir be-reits den Entwurf einer Vereinbarung über die formellen Beziehungenzwischen uns ausgearbeitet (ich hatte bereits unterwegs, im Eisenbahn-wagen, begonnen, diesen Entwurf niederzuschreiben), und dieser Entwurfmachte uns zu Redakteuren und sie zu Mitarbeitern mit Stimmrecht inallen Redaktionsfragen. Es wurde auch beschlossen, diesen Entwurf gemein-

sam mit Jegor (Martow) zu besprechen und ihnen dann vorzulegen.Der Funke erweckte Hoffnung, aufs neue zur Flamme aufzulodern.

Qesöbrieben Anfang September 1900.

Zuerst veröffentlicht i924 im Tiaäi dem Ma nuskript.Cenin-Sammelband I.

* Wenn du den Frieden willst, rüste zum Kriege. Die Red.

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ENTWURF EINER VEREINBARUNG 1"

1. Da die Auslandsgruppe „Sozialdemokrat" und die russische Gruppe,die den Sammelband „Sarja" und die Zeitung „Iskra" herausgibt, in den

grundlegenden Ansichten solidarisch und ihre praktischen Aufgaben iden-tisch sind, schließen die genannten Organisationen m iteinander ein Bündnis.

2. Beide Gruppen erweisen einander allseitige Unterstützung:erstens in literarischer Hinsicht. Die Gruppe „Befreiung der Ar-

beit" beteiligt sich aufs engste an der Redaktion des Sammelbandes„Sarja" und der Zeitung „Iskra"*;

zweitens bei der Zustellung und der Verbreitung von Literatur,der Erweiterung und Festigung der revolutionären Verbindungensowie bei der Beschaffung materieller Mittel.

3. Auslandsvertreter der Gruppe „Iskra" sind die Gruppe „Sozialdemo-krat" und die speziellen Beauftragten der „Iskra".

4. Briefe und Sendungen aus dem Ausland, die an die Gruppe der„Iskra" gerichtet sind, werden an die Adresse der Gruppe „Sozialdemo-krat" gesandt. Falls eines der Mitglieder der Gruppe „Iskra" im Auslandweilt, wird ihm die gesamte Korrespondenz übersandt. Befindet sich aberzu der betreffenden Zeit kein Mitglied der Gruppe „Iskra" im Ausland,so übernehmen deren Geschäfte die Gruppe „Sozialdemokrat" und diespeziellen Beauftragten der „Iskra".

Qesdbrieben Anfang September 1900.

Zuerst veröffentlidbt 1940 TJadh dem Manuskript.in der Zeitschrift„Proietarskaja Rewoluzija" Ttfr. 3.

* Die Bedingungen dieser Mitarbeit werden durch eine besondere Verein-barung festgelegt.11 5

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A N K Ü N D I G U N G D ER R E D A K T I O N D ER „ IS K R A " 1 1 6

I M N A M E N D E R R E D A K T I O N

Im Begriff, eine politische Zeitung, die „Iskra", herauszugeben, haltenwir es für notwendig, einige Worte darüber zu sagen, was wir anstrebenund wie wir unsere Aufgaben auffassen.

W ir leben in einem äußerst bedeutungsvollen Z eitpunkt der Geschichteder russischen Arbeiterbewegung und der russischen Sozialdemokratie.Charakteristisch für die letzten Jahre ist die erstaunlich rasche Verbrei-

tung sozialdemokratischer Ideen unter unserer Intelligenz, und dieserStrömung des gesellschaftlichen Denkens kommt die selbständig entstan-dene Bewegung des Industrieproletariats entgegen, das sich zu vereinigenund gegen seine Unterdrücker zu kämpfen beginnt, das beginnt, mit Lei-denschaft dem Sozialismus zuzustreben, überall entstehen Zirkel vonArbeitern und sozialdemokratischen Intellektuellen, lokale Flugblätterwerden verbreitet, die Nachfrage nach sozialdemokratischen Schriftenwächst, das Angebot weit überholend — und auch die verstärkten Repres-salien der Regierung sind nicht imstande, diese Bewegung aufzuhalten.

Die Gefängnisse sind brechend voll, die Verbannungsorte überfüllt, fastjeden M onat h ört man von „hochgegangenen" Sozialisten an allen Eckenund Enden Rußlands, von abgefangenen Transporten, vonbeschlagnahmtenDruckschriften und Druckereien; aber die Bewegung wächst immer mehran, sie erfaßt ein immer größeres Gebiet, dringt immer tiefer in die Arbei-terklasse ein und lenkt immer mehr die öffentliche Aufmerksamkeit aufsich. Und die gesamte wirtschaftliche Entwicklung Rußlands, d ie ganze Ge-schichte des gesellschaftlichen Denkens und der revolutionären Bewegung

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Ankündigung der Redaktion der „Iskra" 349

in Rußland bürgen dafür, daß die sozialdemokratische Arbeiterbewegungallen Hindernissen zum Trotz wachsen und diese zu guter Letzt über-winden wird.

Anderseits aber ist das Hauptm erkmal unserer Bewegung, das in letzterZeit besonders in die Augen springt, ihre Zersplitterung, ihr sozusagenhandwerklerischer Charakter: lokale Zirkel entstehen und wirken unab-hängig voneinander und sogar (was besonders wichtig ist) unabhängigvon Zirkeln, die in denselben Zentren tätig waren und tätig sind; es wirdkeine Tradition geschaffen, es besteht keine Kontinuität, und die örtlichenPublikationen widerspiegeln voll und ganz die Zersplitterung und diemangelnde Verbindung mit dem, was die russische Sozialdemokratie be-reits geschaffen hat.

Das Mißverhältnis zwischen dieser Zersplitterung und den durch dieKraft und Breite der Bewegung entstandenen Erfordernissen schafft un-seres Erachtens ein kritisches Moment in ihrer Entwicklung. In der Be-wegung selbst macht sich mit unaufhaltsamer Kraft das Bedürfnis geltend,sich zu festigen, ein bestimmtes Gesicht und eine bestimmte Organisationherauszuarbeiten; indessen wird in den Kreisen der praktisch tätigenSozialdemokraten die Notwendigkeit eines solchen Übergangs zu einer

höheren Form der Bewegung keineswegs überall erkannt. In ziemlichweiten Kreisen bemerkt man im Gegenteil ein ideologisches Schwanken,Begeisterung für die zur Mode gewordene „Kritik am Marxismus" undfür die „Bernsteiniade", Verbreitung der Ansichten der sogenannten „öko-nomischen" Richtung und, untrennbar damit verbunden, das Bestreben,die Bewegung in ihrem niederen Stadium festzuhalten, das Bestreben, dieBildung einer revolutionären, an der Spitze des gesamten Volkes kämp-fenden Partei als zweitrangige Aufgabe abzutun. Daß unter den russi-schen Sozialdemokraten ein derartiges ideologisches Schwanken zu be-obachten ist, daß ein enger Praktizismus, losgerissen von der theoretischenBeleuchtung der Bewegung in ihrer Gesamtheit, die Bewegung in einefalsche Bahn zu lenken droht — das ist eine 7atsadhe ; daran kann niemandzweifeln, der die Sachlage in den meisten unserer Organisationen un-mittelbar kennt. Es gibt übrigens auch literarische Erzeugnisse, die dasbestätigen: es genügt zum Beispiel, das „Credo"* zu nennen, das bereitsdurchaus berechtigten Protest hervorgerufen hat, ferner die „Sonderbei-

* Glaubensbekenntnis, Programm, Darlegung einer Weltanschauung. Die Red.

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350 "W.3. Centn

läge zur ,Rabotschaja Mysl'" (September 1899), die die Tendenz, von

der die ganze Zeitung „Rabotschaja Mysl" durchdrungen ist, so plastischzum Ausdruck gebracht hat, oder schließlich den Aufruf der Petersburger„Gruppe der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse"11 7, der im selben Geistedes „Ökonomismus" abgefaßt ist. Und völlig falsch ist die Behauptungdes „Rabotscheje Delo"11S, das „Credo" stelle nicht mehr dar als dieMeinung einzelner Personen, die Richtung der „Rabotschaja Mysl" bringenur die Konfusion und Taktlosigkeit ihrer Redaktion zum Ausdruck, nichtaber eine besondere Richtung in der Entwicklung der russischen Arbeiter-bewegung.

Daneben aber zeigt sich, daß in den Arbeiten von Schriftstellern, diedie Leserschaft bisher, mit mehr oder weniger Recht, für hervorragendeRepräsentanten des „legalen" Marxismus gehalten hat, immer mehr eineWendung zu Anschauungen hervortritt, die der bürgerlichen Apologetiknahekommen. Das Ergebnis all dessen ist eben die Zerfahrenheit und dieAnarchie, die es dem Ex-Marxisten oder richtiger Ex-Sozialisten Bern-stein erlaubten, bei der Aufzählung seiner Erfolge in seinem Buch un-widersprochen zu erklären, daß die Mehrheit der in Rußland wirkendenSozialdemokraten seine Anhänger seien.

W ir wollen die Gefährlichkeit der Lage nicht übertreiben, aber es wäresehr viel schädlicher, sie nicht sehen zu wollen; aus diesem Grunde be-grüßen wir von ganzem Herzen den Entschluß der Gruppe „Befreiungder Arbeit", ihre literarische Tätigkeit wieder aufzunehmen und einensystematischen Kampf zu beginnen gegen die Versuche, den Sozialdemo-kratismus zu entstellen und zu verflachen.

Die praktisdie Schlußfolgerung aus alledem ist folgende: Wir russi-schen Sozialdemokraten müssen uns vereinigen und alle Anstrengungenauf die Bildung einer starken, unter dem Banner der einheitlichen revolu-

tionären Sozialdemokratie kämpfenden Partei richten. Eben diese Auf-gabe wurde auch schon auf dem Parteitag von 1898 festgelegt, der dieSozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands gründete und deren „Mani-fest" veröffentlichte.

W ir bekennen uns als Mitglieder dieser Partei, teilen voll und ganz dieGrundideen des „Manifestes" und messen ihm, als der offenen Dekla-ration der Parteiziele, große Bedeutung bei. Darum lautet für uns, alsMitglieder der Partei, die Frage nach unserer nädisten und unmittelbaren

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Ankündigung der Redaktion der „Jskra" 351

Aufgabe folgendermaßen: Welchen Aktionsplan müssen wir haben, um

eine Wiederherstellung der Partei zu erreichen, die von Bestand ist?Gewöhnlich wird diese Frage dahin beantwortet, daß es notwendig sei,die zentrale Parteiinstitution von neuem zu wählen und sie zu beauf-tragen, das Organ der Partei wieder herauszugeben. Doch wäre ein soeinfacher Weg in der Periode der Zerfahrenheit, in der wir uns jetzt be-finden, kaum zweckmäßig.

Die Partei schaffen und festigen heißt die Vereinigung aller russischenSozialdemokraten schaffen und festigen, aus den oben aufgezeigten Grün-den aber läßt sich eine solche Vereinigung nicht dekretieren; sie kann

nicht durch den bloßen Beschluß irgendeiner, sagen wir, Versammlungvon Delegierten herbeigeführt, sondern muß allmählich entwickelt wer-den. Entwickelt werden muß erstens eine feste ideologische Vereinigung,die das Durcheinander und die Verwirrung beseitigt, die — seien wiroffen — gegenwärtig bei den russischen Sozialdemokraten herrschen; unddiese ideologische Vereinigung muß verankert werden durch ein Partei-programm. Zweitens muß eine Organisation entwickelt werden, die spe-ziell der Verbindung zwischen allen Zentren der Bewegung, der Beschaf-fung vollständiger und rechtzeitiger Informationen über die Bewegungund der regelmäßigen Versorgung aller Teile Rußlands mit der periodi-schen Presse dient. Erst wenn eine solche Organisation geschaffen ist,wenn eine russische sozialistische Post besteht, wird die Partei festen Be-stand haben und zu einer realen Tatsache, also auch zu einer mächtigenpolitischen Kraft werden. Der ersten H älfte dieser Aufgabe, d. h. derSchaffung einer gemeinsamen, prinzipienfesten Literatur, die imstandewäre, die revolutionäre Sozialdemokratie ideologisch zu vereinigen, be-absichtigen wir unsere Kräfte zu widmen, da wir hierin ein dringen-des Bedürfnis der gegenwärtigen Bewegung und einen notwendigen vor-bereitenden Schritt zur Wiederaufnahme der Tätigkeit der Partei er-blicken.

Wie wir bereits sagten, muß die ideologische Vereinigung der russi-schen Sozialdemokraten erst geschaffen werden, wozu, unseres Erachtens,eine offene und allseitige Erörterung der wichtigsten prinzipiellen undtaktischen Fragen notwendig ist, die von den heutigen „Ökonomisten",Bernsteinianern und „Kritikern" aufgeworfen worden sind. Bevor wiruns vereinigen und um uns zu vereinigen, müssen wir uns zuerst ent-

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352 WJ. Centn

schieden und bestimmt voneinander abgrenzen. Sonst wäre unsere Eini-

gung lediglich eine Fiktion, die die vorhandene Zerfahrenheit verhülltund ihre radikale Beseitigung verhindert. Es ist also begreiflich, daß wirnicht die Absicht haben, unser Organ zu einem einfachen Sammelplatzder verschiedenartigen Anschauungen zu machen. Wir werden es im Ge-genteil im Geiste einer streng festgelegten Richtung führen. Diese Rich-tung kann durch ein Wort gekennzeichnet werden: Marxismus, und esbraucht wohl kaum hinzugefügt zu werden, daß wir für die konsequenteEntwicklung der Ideen von Marx und Engels eintreten und jene halb-schlächtigen, verschwommenen und opportunistischen Korrekturen ent-schieden ablehnen, die jetzt nach dem Beispiel Ed. Bernsteins, P. Struvesund vieler anderer so sehr in Mode gekommen sind. Wenn wir auch alleFragen yon unserem eigenen bestimmten Standpunkt aus erörtern, solehnen wir doch eine Polemik zwischen Genossen in unserem Organkeineswegs ab. Eine offene Polemik v or allen russischen Sozialdemokratenund klassenbewußten Arbeitern ist notwendig und wünschenswert, da-mit die Tiefe der bestehenden Meinungsverschiedenheiten klargelegt, diestrittigen Fragen allseitig erörtert und die Extreme bekämpft werden kön-nen , in die nicht nur V ertreter" verschiedener Auffassungen unweigerlichverfallen, sondern sogar Vertreter verschiedener Gegenden oder verschie-dener „Professionen" der revolutionären Bewegung. Wir betrachten essogar, wie bereits oben erwäh nt, als einen Mangel der gegenwärtigen Be-wegung, daß die offene Polemik zwischen offenkundig auseinandergehen-den Anschauungen fehlt, daß man b estrebt ist, Meinungsverschiedenheitenin sehr ernsten Fragen verborgen zu halten.

Wir wollen nicht alle Fragen und Themen einzeln aufzählen, die zumProgramm unseres Blattes gehören, denn dieses Programm ergibt sichganz von selbst aus der allgemeinen Auffassung von dem, was eine

unter den gegebenen Verhältnissen erscheinende politische Zeitung zusein hat.Wir werden nach Maßgabe unserer Kräfte danach streben, daß alle

russischen Genossen unsere Publikation als ihr Organ betrachten, demjede Gruppe alle Informationen über die Bewegung zukommen- läßt, demsie Mitteilung macht über ihre Erfahrungen, über ihre Ansichten, überihre Anforderungen an die Literatur, ihre Beurteilung der sozialdemokra-tischen Publikationen, mit einem Wort, dem sie alles mitteilt, was sie in

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Ankündigung der Redaktion der „Jshra" 353

die Bewegung hineinträgt und was sie aus ihr gewinnt. Nur unter dieser

Bedingung wird es möglich sein, ein wirklich gesamtrussisches sozial-demokratisches Organ zu schaffen. Nur ein solches Organ ist imstande,die Bewegung auf den breiten Weg des politischen Kampfes hinauszufüh-ren. „Den Rahmen ausdehnen und den Inhalt unserer propagandistisch-agitatorischen und organisatorischen Tätigkeit erweitern" — diese WorteP. B. Axelrods m üssen zu der Losung werden, d ie die Tätigkeit der russirsehen Sozialdemokraten in nächster Zeit bestimmt, und diese Losungnehmen wir in das Programm unseres Organs auf.

Wir richten unseren Ruf nidit nur an die Sozialisten und klassenbe-

wußten Arbeiter. Wir appellieren an alle, die durch die gegenwärtigepolitische Ordnung unterdrückt und gekneditet werden, wir öffnen ihnendie Spalten unserer Publikationen zur Enthüllung aller Niederträchtig-keiten der russischen Selbstherrschaft.

Wer in der Sozialdemokratie eine Organisation sieht, die ausschließ-lich dem spontanen Kampf des Proletariats zu dienen hat, der kann sichmit einer nur lokalen Agitation und einer „reinen Arbeiterliteratur" zu-friedengeben. Wir fassen die Sozialdemokratie nidit so auf: wir fassensie auf als eine gegen den Absolutismus gerichtete, untrennbar mit der

Arbeiterbewegung verbundene revolutionäre Partei. Nur das in einersolchen Partei organisierte Proletariat, diese revolutionärste Klasse desmodernen Rußlands, wird imstande sein, die ihm bestimmte historischeAufgabe zu erfüllen: unter seinem Banner alle demokratischen Elementedes Landes zu vereinigen und den zähen Kampf, in dem eine ganze Reihevon Generationen gefallen ist, durdi den schließlichen Triumph über dasverhaßte Regime zu Ende zu führen.

Die Zeitung wird in einem Umfang von ein bis zwei Druckbogen proNummer erscheinen.

Der Zeitpunkt ihres Erscheinens wird, in Anbetracht der Arbeits-bedingungen der russischen illegalen Presse, nidit im voraus festgelegt.

Uns ist die Mitarbeit mehrerer hervorragender Vertreter der inter-nationalen Sozialdemokratie, die engste Teilnahme der Gruppe „Be-freiung der Arbeit" (G. W. Plechanow, P. B. Axelrod, W. I. Sassulitsda)

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versprochen worden, ferner die Unterstützung mehrerer Organisationen,

der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands sowie einzelner Grup-pen russisdier Sozialdemokraten.

Qesdirieben September 1900 .

Veröffentiidot 1900 als TJadh dem 7ext des Sonderdrucks.Sonderdruck der „Jskra".

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CoUlAJiaEMOKPATHMECKAfl P A B O H A J I T I A F T I / I .

M A H C K I E £ H H B % X Ä P B K O f i ^

H31ABIB „HCKPH".

TtfnorPAwn „ncKPl l" . AHSATS 1 9 0 1 .

Umschlag der Broschüre „Die Maitage in Charkow"

1901

23»

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V O R W O R T Z U D E R B R O S C H Ü R E

„ D I E M A I T A G E I N C H A R K O W "

Vorliegende Broschüre ist eine Schilderung der berühmten CharkowerMaikundgebung im Jahre 1900; sie wurde vom Komitee der Sozialdemo-kratischen Arbeiterpartei Rußlands in Charkow nach Schilderungen derArbeiter verfaßt. Sie ist uns als Korrespondenz zugegangen, wir haben esaber für notwendig gehalten, sie als Broschüre herauszugeben, und zwarsowohl ihres beträchtlichen Umfangs wegen als audi, um sie leichter inmöglichst großer Zah l und möglichst weit verbreiten zu können. In einem

halben Jahr w erden die russischen Arbeiter den 1. Mai im ersten Jahrdes neuen Jahrhunderts feiern — und es ist an der Zeit, dafür zu sorgen,daß diese Feier möglichst viele Zentren erfaßt, daß sie möglichst ein-drucksvoll wird, nicht nur durch ihre Teilnehmerzahl, sondern auch durchdie Organisiertheit und Bewußtheit der Teilnehmer, durdi ihre Entschlos-senheit, den konsequenten Kampf für die politische Befreiung des russi-schen Volkes aufzunehmen und damit auch für freie Bedingungen derEntwicklung des Proletariats als Klasse und seines offenen Kampfes umden Sozialismus. Es ist Zeit, mit der Vorbereitung der neuen Maikund-

gebung zu beginnen, und eine der wichtigsten vorbereitenden M aßnahm enmuß darin bestehen, sich mit dem vertraut zu machen, was die sozial-demokratische Bewegung in Rußland bereits erreicht hat, zu untersuchen,was unserer Bewegung im allgemeinen und der Maifeier im besonderennoch mangelt, wie wir diese Mängel beseitigen und zu besseren Ergeb-nissen gelangen können.

Die Maikundgebung in Charkow zeigt, welche große politische Demon-stration die Feier dieses Festtages der Arbeiterklasse zu sein vermag und

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Vorwort zu der Brosdiüre „Die !Maitage in Charkow' 359

sie muß aus Menschen bestehen, die die Aufgaben der sozialdemokrati-schen Arbeiterbewegung ganz klar erkennen und zum beharrlichen Kampf

gegen das gegenwärtige politische Regime entschlossen sind, sie muß diesozialistischen Kenntnisse und die revolutionären Erfahrungen, die sichdie russische revolutionäre Intelligenz aus den Lehren vieler Jahrzehnteerarbeitet hat, vereinigen mit der Kenntnis des Arbeitermilieus und mitder den fortgeschrittenen Arbeitern eigenen Fähigkeit, unter den "Massen

zu agitieren und sie zu führen. Was wir vor allem und in erster Linieanstreben müssen, ist nicht, eine künstliche Scheidewand zwischen Intel-lektuellen und Arbeitern zu errichten, nicht, eine „reine Arbeiterorgani-sation zu schaffen, sondern eben die erwähnte Vereinigung. Wir erlauben

uns, hier an folgende Worte G. Plechanows zu erinnern:„Eine notwendige Voraussetzung dieser (agitatorischen) Tätigkeit ist

die Zusammenfassung der bereits vorhandenen revolutionären Kräfte.Mit Propagandaarbeit in Zirkeln können sich Leute befassen, die keineVerbindung miteinander haben, die nicht einmal eine Ahnung davonhaben, daß der andere ex istiert. Das Fehlen einer Organisation wirkt sichnatürlich stets auch auf die Propaganda aus, aber es macht diese nichtunmöglich. In einer Epoche starker gesellschaftlicher Gärung aber, wenndie politische Atmosphäre mit Elektrizität geladen ist und es bald hier,

bald dort aus den verschiedensten, überraschendsten Anlässen zu immerhäufigeren Ausbrüchen komm t, die das N ahen des revolutionären Sturmesverkünden — kurzum, in einer Zeit, in der man agitieren muß oder manhat das Nachsehen, können nur organisierte revolutionäre Kräfte einenwesentlichen Einfluß auf den Gang der Ereignisse ausüben. Der einzelnewird dann machtlos, dem revolutionären Werk gewachsen sind nur Ein-heiten höherer Ordnung: revolutionäre Organisationen." (G. Plechanow,„Die Aufgaben der Sozialisten im Kampf gegen die Hungersnot", S. 83.)

In der Geschichte der russischen Arbeiterbewegung beginnt gerade eine

solche Epoche der Gärung und der Ausbrüche aus den verschiedenstenAnlässen, und wenn wir nicht „das Nachsehen haben" w ollen, so müssenwir alle Anstrengungen auf die Schaffung einer gesamtrussischen Organi-sation richten, die fähig ist, bei all den einzelnen Ausbrüdien die Führungzu übernehmen und dadurdi zu erreidien, daß der herannahende Sturm(von dem auch ein Charkower Arbeiter am Sdiluß der Brosdiüre spridit)nicht ein spontaner Sturm wird, sondern eine bewußte Bewegung des

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Proletariats, das sidi an der Spitze des gesamten Volkes gegen die auto-kratische Regierung erhebt.

Außer dem ansdiaulichen Hinweis darauf, daß unsere revolutionärenOrganisationen nicht genügend gesdilossen und vorbereitet sind, gibt dieCharkower Maikundgebung nodi einen anderen, nidit weniger wichtigenpraktisdien Hinweis. „Mit der Maifeier und der Manifestation", heißtes in der Brosdiüre, „wurden unerwarteterweise verschiedene praktischeForderungen verfloditen, die ohne entsprediende Vorbereitung erhobenwurden und daher natürlidi im allgemeinen zum Scheitern verurteiltwaren." Nehmen wir z. B. die Forderungen der Arbeiter der Eisenbahn-werkstätten : Von 14 Forderungen betreffen 11 kleine Verbesserungen,die auch unter dem gegenwärtigen politisdien Regime durchaus zu ver-wirklichen sind: Lohnerhöhung, Verkürzung der Arbeitszeit, Abstellungvon Mißbräuchen. Neben diesen Forderungen stehen, als wären sie ganzvon derselben Art, die drei folgenden Forderungen: 4. Einführung desAditstundentags; 7. Gewährleistung der persönlidien Unverletzlichkeitder Arbeiter nach den Maiereignissen; 10. Einsetzung einer aus Vertre-tern der Arbeiter und der Betriebsleitung bestehenden Kommission zurKlärung aller Mißverständnisse zwisdien beiden Parteien. Die erste die-ser Forderungen (Punkt 4) ist die gemeinsame Forderung des Weltprole-

tariats; die Aufstellung dieser Forderung zeigt offenbar, daß die fort-gesdirittenen Arbeiter Charkows sidi ihrer Solidarität mit der inter-nationalen sozialistisdien Arbeiterbewegung bewußt sind. Aber geradedeshalb sollte eine soldie Forderung nidit unter die Teilforderungen ein-gereiht werden, unter Forderungen, die auf bessere Behandlung durdidie Meister oder auf eine zehnprozentige Lohnerhöhung abzielen. DieForderungen nadi Lohnerhöhung und besserer Behandlung können (undmüssen) die Arbeiter der einzelnen Berufe ihren Unternehmern stellen;.das sind Forderungen von Gewerken, Forderungen einzelner Arbeiter-

kategorien. Die Forderung des Aditstundentags aber ist eine Forderungdes gesamten Proletariats, die sich nicht an einzelne U nternehmer rid itet,sondern an die Staatsmacht als die Vertreterin des gesamten gegenwärti-gen sozialen und politischen Regimes, an die gesamte Klasse der Kapita-listen, die im Besitze aller Produktionsmittel sind. Die Forderung desAditstundentags hat besondere Bedeutung erlangt: sie bekundet dieSolidarität mit der internationalen sozialistischen Bewegung. Wir müssen

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Vorwort zu der Broschüre „ Die 9/laitage in Charkow" 361

dafür sorgen, daß die Arbeiter diesen Unterschied erkennen, daß sie die

Forderung des Achtstundentags nicht auf eine Stufe stellen mit der For-derung nach Freifahrkarten oder der Entlassung eines Wächters. Im Laufedes ganzen Jahres stellen die Arbeiter ständig, bald hier, bald dort, ver-schiedene Teilforderungen an die Unternehmer und kämpfen für dieseForderungen: bei der Unterstützung dieses Kampfes müssen die Sozia-listen stets auf seinen Zusammenhang mit dem Befreiungskampf desProletariats in allen Ländern hinweisen. Und der l.Mai muß der Tagsein, an dem die Arbeiter die feierliche Erklärung abgeben, daß sie sichdieses Zusammenhangs bewußt sind und sich diesem Kampf mit aller Ent-schlossenheit anschließen.

Nehmen wir die zehnte Forderung, die Forderung nach Einsetzungeiner Kommission zur Klärung von Mißverständnissen. Eine solche, ausgewählten Vertretern der Arbeiter und der Betriebsleitung bestehendeKommission könnte natürlich großen Nutzen bringen, aber nur unter derBedingung völliger Wahlfreiheit und völliger Unabhängigkeit der Dele-gierten. Von welchem Nutzen wird eine Kommission sein, wenn man dieArbeiter entläßt, die dagegen kämpfen, daß Kreaturen der Leitung ge-wählt werden, oder die die Betriebsleitung scharf angreifen und alle ihreSchikanen aufdecken? Und solche Arbeiter wird man nidit nur entlassen,

sondern auch verhaften. Soll also eine solche Kommission den ArbeiternNutzen bringen, so ist es erstens notwendig, daß die Delegierten niditvon der Fabrikleitung abhängig sind; das ist nur zu erreichen, wenn einefreie Gewerkschaft der Arbeiter besteht, ein Verband, der viele Fabrikenerfaßt, über eine eigene Kasse verfügt und bereit ist, für seine Delegierteneinzutreten. Die Kommission kann nur nützlich sein, wenn viele Betriebe,möglichst alle Betriebe des betreffenden Gew erbes, zusammengefaßt wer-den. Zweitens ist dazu ferner die Unverletzlichkeit der Person der Arbei-ter notwendig, d. h., daß die Arbeiter von der Polizei und Gendarmerie

nicht willkürlich verhaftet werden dürfen. Diese Forderung — Gewähr-leistung der persönlichen Unverletzlichkeit der Arbeiter — ist denn aucherhoben worden (Punkt 7). Es fragt sich jedoch, von wem denn die Arbei-ter die Gewährleistung der Unverletzlichkeit der Person und die Koali-tionsfreiheit fordern können (die, wie wir gesehen haben, notwendig ist,wenn die Kommissionen Erfolg haben sollen). Nur vom Staat, denn wennes bei uns keine Unverletzlichkeit der Person und keine Koalitionsfreiheit

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362 W.J.Lenin

gibt, so ist das durch die Grundgesetze des russischen Staates bedingt, ja

mehr als das: es ist bedingt durch die Regierungsform des Staates in Ruß-land. Seiner Regierungsform nach ist Rußland eine unumschränkte Mon-

archie. Der Zar ist Selbstherrscher, er allein erläßt Gesetze und ernennt

alle höheren Beamten ohne jegliche Beteiligung des Volkes, ohne Beteili-

gung von Volksvertretern. Bei einem solchen Staatssystem kann die Per-

son nicht unverletzlich, können die Vereinigungen der Staatsbürger über-

haupt und der Arbeiter im besonderen nicht frei sein. Es ist darum völlig

sinnlos, von der autokratischen Regierung zu verlangen, sie solle die Un-

verletzlichkeit der Person (und die Koalitionsfreiheit) garantieren: eine

solche Forderung ist gleichbedeutend mit der Forderung nach politischen

Rechten für das Volk, die autokratische Regierung aber heißt ja eben

darum autokratisch, weil sie die politische Rechtlosigkeit des Volkes be-

deutet. Die Unverletzlichkeit der Person (und die Koalitionsfreiheit) zu

garantieren, wird erst dann möglidi sein, wenn Vertreter des Volkes an

der Ausarbeitung der Gesetze und an der gesamten Verwaltung des Staa-

tes teilnehmen. Solange es keine Volksvertretung gibt, wird die autokra-

tische Regierung selbst die kleinen Zugeständnisse, die sie den Arbeitern

mit einer Hand gibt, stets mit der anderen wieder fortnehmen. Die Mai-

kundgebung in Charkow hat das wieder einmal anschaulich gezeigt: auf

die Forderung der Arbeitermassen hin hat der Gouverneur die Verhafte-ten freigelassen, dann aber, nadi einigen Tagen, wurden auf Befehl aus

Petersburg Dutzende Arbeiter wieder festgenommen! Die Gouverne-

mentsbehörde und die Fabrikleitungen „garantieren" die Unverletzlidi-

keit der Delegierten, aber die Gendarmerie nimmt sie fest und steckt sie

in Einzelhaft oder weist sie aus der Stadt aus! Weldien Nutzen kann eine

soldie Garantie dem Volk bringen?

Aus diesen Gründen also müssen die Arbeiter vom Zaren die Ein-

berufung von Volksvertretern, die Einberufung eines Semski Sobor for-

dern. In der Proklamation, die vor dem 1. Mai dieses Jahres in Charkow

verbreitet wurde, ist diese Forderung erhoben worden, und wir haben

gesehen, daß ein Teil der fortgeschrittenen Arbeiter ihre Bedeutung durch-

aus erkannt hat. Wir müssen dafür sorgen, daß alle fortgesdirittenen

Arbeiter die Notwendigkeit dieser Forderung klar erkennen, daß sie sie

nidit nur in den Arbeitermassen verbreiten, sondern auda in allen Schidi-

ten der Bevölkerung, die mit den Arbeitern in Berührung kommen und

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Vorwort zu der Brosdiüre „ Die Maitage in Charkow" 363

interessiert danach fragen, wofür die Sozialisten und die „städtischen"Arbeiter kämpfen. In diesem Jahr hat auf die Frage eines Fabrikinspek-tors, was denn die Arbeiter eigentlich wollen, nur eine Stimme gerufen:„Eine Verfassung"; und diese Stimme war so vereinzelt, daß ein Korre-spondent mit einigem Spott sagt: „Ein Proletarier platzte damit heraus."Ein anderer Korrespondent sagt geradezu, „in diesem Fall" sei diese A nt-wort „beinahe komisch" gewesen (siehe „Die Arbeiterbewegung in Char-ko w" , Bericht des „Charkower Komitees der Sozialdemokratischen Arbei-terpartei Rußlands", herausgegeben vom „Rabotscheje Delo", Genf,September 1900, S. 14). Im Grunde genommen war die Antwort durch-aus nicht lächerlich: lächerlich erscheinen konnte nur das Mißverhältniszwischen dieser vereinzelt vorgebraditen Forderung nach Änderung dergesamten Staatsordnung und der Forderung, die Arbeitszeit um eine halbeStunde zu verkürzen, sowie der Forderung, die Auszahlung der Löhnewährend der Arbeitszeit vorzunehmen. Doch ein Zusammenhang zwi-schen diesen letztgenannten Forderungen und der Forderung nach einerVerfassung besteht ohne Zweifel, und wenn wir es erreichen (und wirwerden es bestimmt erreichen), daß die Massen diesen Zusammenhangerkennen, so wird der Ruf „Eine Verfassung!" nicht mehr vereinzeltbleiben, sondern aus dem Munde von Tausenden und Hunderttausendenerschallen, und dann wird dieser Ruf nidit mehr lädierlidi, sonderndrohend klingen. Man erzählt, jemand hätte, als er während der Maitagedurdi Charkow fuhr, den Droschkenkutsdier gefragt, was denn eigent-lidi die Arbeiter wollten, und dieser habe geantwortet: „Nun, sie fordernadrt Stunden Arbeit und eine eigene Zeitung." Dieser Droschken-kutsdie r hatte sd ion begriffen, daß die Arbeiter s idi nidit mehr mit irgend-weldien Almosen begnügen, daß sie sidi als freie Mensdien fühlen wol-len, daß sie frei und offen von ihren Forderungen spredien und für siekämpfen wollen. Freilich spridit aus seiner Antwort nodi nicht die Er-

kenntnis, daß die Arbeiter für die Freiheit des gesamten Volkes, für seinRedit, an der Leitung des Staates teilzunehmen, kämpfen. Wenn dieForderung, der Zar solle Volksvertreter einberufen, von den Arbeiter-inassen in allen Industriestädten und Fabrikorten Rußlands mit vollemBewußtsein und unersdiütterlidier Festigkeit wiederholt wird, wenn dieArbeiter es erreidien, daß die gesamte Bevölkerung der Städte und dasgesamte Landvolk, das in die Städte kommt, erkennen, was die Sozia-

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364 19.3. Lenin

listen wollen und wofür die Arbeiter kämpfen, dann wird der große Tag

der Befreiung des Volkes von der polizeilichen Willkürherrschaft nichtmehr fern sein!

geschrieben Anfang November i900.

Zuerst veröffentlid:t im Januar i9Oi "Nach dem 7ext der Brosdhüre.in einer von der „Jskra"herausgegebenen Broschüre.

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365

D I E D R I N G E N D S T E N A U F G A B EN U N S E R E R

B E W E G U N G 1 1 0

Die russische Sozialdemokratie hat bereits wiederholt erklärt, daß esdie nächste politische Aufgabe der russischen Arbeiterpartei sein muß,die Selbstherrschaft zu s türzen, politische Freiheit zu erobern. Das habenvor mehr als 15 Jahren die Vertreter der russischen Sozialdemokratie, dieMitglieder der Gruppe „Befreiung der Arbeit" erklärt, das erklärten vorzweieinhalb Jahren auch die Vertreter der russisdien sozialdemokratischenOrganisationen, als sie im Frühjahr 1898 die Sozialdemokratische A rbei-terpartei Rußlands gründeten. Aber trotz dieser wiederholten Erklärungensteht die Frage der pölitisdien Aufgaben der Sozialdemokratie in Rußlandgegenwärtig wieder auf der Tagesordnung. Viele Vertreter unserer Be-wegung äußern Zweifel, ob die aufgezeigte Lösung der Frage riditig sei.Man behauptet, von überwiegender Bedeutung sei der ökonom isdie Kampf,man rückt die politischen Aufgaben des Proletariats in den Hintergrund,man engt diese Aufgaben ein und besdiränkt sie, ja erklärt sogar, dasReden über die Bildung einer selbständigen Arbeiterpartei in Rußlandsei einfadi ein Wiederholen fremder Worte, die Arbeiter hätten nur denökonomisdien Kampf zu führen, die Politik dagegen den Intellektuellenim Bunde mit den Liberalen zu überlassen. Diese letztgenannte Behaup-

tung des neuen Glaubensbekenntnisses (das berüchtigte „Credo") läuftsdion geradezu darauf hinaus, das russisdie Proletariat für unmündig zuerklären und das sozialdemokratische Programm völlig abzulehnen. Unddie „Rabotschaja Mysl" hat sidi (besonders in der „Sonderbeilage") demWesen nach im gleidien Sinne geäußert. Die russisdie Sozialdemokratiemadit eine Periode der Schwankungen durch, eine Periode der Zweifel,die bis zur Selbstverneinung gehen. Einerseits wird die Arbeiterbewegung

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366 W.I.Lenin

vom Sozialismus losgerissen: man hilft den Arbeitern, den ökonomischen

Kampf führen, erklärt ihnen dabei aber überhaupt nicht oder erklärtihnen ungenügend die sozialistischen Ziele und die politischen Aufgabender Gesamtbewegung als Ganzes. Anderseits wird der Sozialismus vonder Arbeiterbewegung losgerissen: abermals beginnen russische Soziali-sten immer mehr davon zu sprechen, daß der Kampf gegen die Regierungallein von der Intelligenz mit eigenen Kräften geführt werden müsse, dasidi die Arbeiter nur auf den ökonomischen Kampf beschränkten.

Unseres Erachtens haben Umstände von dreierlei Art den Boden fürdiese traurigen Ersdieinungen vorbereitet. Erstens haben sich die russi-

schen Sozialdemokraten zu Beginn ihrer Tätigkeit allein auf die Propa-gandaarbeit in Zirkeln beschränkt. Als wir zur Agitation unter den Mas-sen übergingen, konnten wir uns nidit immer davor bew ahren, ins ande reExtrem zu fallen. Zweitens mußten wir zu Beginn unserer Tätigkeit sehroft unsere Existenzberedatigung im Kampf gegen die Anhänger des Volks-willen verteidigen, die unter „Politik" eine von der Arbeiterbewegunglosgelöste Tätigkeit verstanden und die Politik einzig und allein auf Ver-schwöreraktionen beschränkten. Die Sozialdemokraten lehnten eine soldiePolitik ab, verfielen dabei aber in das andere Extrem und sdioben diePolitik überhaupt in den Hintergrund. Drittens haben die Sozialdemo-kraten, die voneinander isoliert in kleinen lokalen Arbeiterzirkeln wirk-ten, zuwenig beachtet, daß es notwendig ist, eine revolutionäre Partei zuorganisieren, die die gesamte Tätigkeit der lokalen Gruppen zusammen-faßt und die Möglichkeit schafft, die revolutionäre Arbeit richtig in Gangzu bringen. Das Überwiegen der zersplitterten Arbeit ist aber naturge-mäß mit dem überwiegen des ökonomischen Kampfes verbunden.

Alle die genannten Umstände haben dazu geführt, daß die eine Seiteder Bewegung überschätzt wurde. Die „ökonomische" Richtung (soweit

man hier von einer „Richtung" sprechen kann) machte Versuche, dieseEnge zu einer besonderen Theorie zu erheben, Versudie, sidi zu diesemZweck der in Mode gekommenen Bernsteiniade, der in Mode gekom-menen „Kritik am Marxismus" zu bedienen, die alte bürgerlidie Ideenunter einer neuen Flagge einzusdimuggeln bestrebt ist. Diese Versucheallein riefen die Gefahr hervor, daß die Verbindung zwischen derrussisdien Arbeiterbewegung und der russischen Sozialdemokratie alsder Vorkämpferin für politische Freiheit gesdiwächt wird. Und die drin-

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Die dringendsten Aufgaben unserer "Bewegung - 367

gendste Aufgabe unserer Bewegung besteht darin, diese Verbindung

zu stärken.Die Sozialdemokratie ist die Vereinigung von Arbeiterbewegung undSozialismus, ihre Aufgabe besteht nicht darin, der Arbeiterbewegung injedem einzelnen Stadium passiv zu dienen, sondern darin, die Interessender Gesamtbewegung als Ganzes zu vertreten, dieser Bewegung ihr End-ziel, ihre politischen Aufgaben zu weisen, ihre politische und ihre ideolo-gische Selbständigkeit zu wahren. Von der Sozialdemokratie losgerissen,verflacht die Arbeiterbewegung und verfällt unweigerlich in Bürgerlich-keit: führt die Arbeiterklasse nur den ökonomischen Kampf, so verliert

sie ihre politische Selbständigkeit, wird sie zum Anhängsel anderer Par-teien und übt Verrat an dem großen Vermäditnis: „Die Befreiung derArbeiter muß das Werk der Arbeiter selbst sein." 12 0 In allen Ländernhat es eine Periode gegeben, in der Arbeiterbewegung und Sozialismusgetrennt voneinander bestanden und getrennte Wege gingen — und inallen Ländern hat diese Trennung Schwäche des Sozialismus und derArbeiterbewegung zur Folge gehabt; in allen Ländern hat erst die Ver-einigung des Sozialismus mit der Arbeiterbewegung eine feste Grundlagefür beide geschaffen. Aber in jedem Lande hat sich diese Vereinigung desSozialismus mit der Arbeiterbewegung historisch herausgebildet, in jedemLand ist sie, je nadi den örtlidien und zeitlidien Bedingungen, auf be-sonderem Wege zustande gekommen. In Rußland ist die Notwendigkeit,den Sozialismus mit der Arbeiterbewegung zu vereinigen, theoretischschon längst verkündet worden, praktisch aber kommt diese Vereinigungerst jetzt zustande. Der Prozeß dieser Herausbildung ist ein sehr schwie-riger Prozeß, kein Wunder daher, daß er von verschiedenen Schwankun-gen und Zweifeln begleitet wird.

Welche Lehre ergibt sich nun für uns aus der Vergangenheit?

Die Geschidite des gesamten russischen Sozialismus hat dahin geführt,daß der Kampf gegen die autokratische Regierung, die Eroberung poli-tischer Freiheit seine dringendste Aufgabe geworden ist; unsere sozia-listische Bewegung hat sidi sozusagen auf den Kampf gegen die Selbst-herrsdiaft konzentriert. Anderseits hat die Gesdiichte gezeigt, daß inRußland das sozialistische Denken viel stärker von den fortgeschrittenenVertretern der werktätigen Klassen getrennt ist als in anderen Ländernund daß bei einer solchen Trennung die russische revolutionäre Bewegung

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368 IV J.Lenin

zur Ohnmacht verurteilt ist. Hieraus ergibt sidi ganz von selbst die Auf-

gabe, die die russisdie Sozialdemokratie zu verwirklidien berufen ist:sozialistisdie Ideen und politisdies Bewußtsein in die Massen des Prole-tariats zu tragen und eine revolutionäre Partei zu organisieren, die mitder spontanen Arbeiterbewegung unauflöslich verbunden ist. Viel ist indieser Hinsicht von der russischen Sozialdemokratie sdion getan worden;aber nodi mehr bleibt zu tun übrig. Mit dem Anwadisen der Bewegungwird das Tätigkeitsfeld der Sozialdemokratie immer breiter, die Arbeitimmer vielseitiger, eine immer größere Zahl von Funktionären der Be-wegung konzentriert ihre Kräfte auf die Lösung der versdiiedenen Teil-aufgaberi, die sich aus den täglidien Erfordernissen der Propaganda undAgitation ergeben. Diese Erscheinung ist ganz gesetzmäßig und unver-meidlich, sie zwingt uns jedodi , besonders darauf zu achten, daß die Teil-aufgaben unserer Tätigkeit und die einzelnen Methoden des Kampfesnidit zu etwas gemadit werden, was sidi selbst genügt, daß die Vorarbeitnidit zur Hauptarbeit, nidit zur einzigen Arbeit erhoben wird.

Die politische Entwicklung und die politisdie Organisation der Arbeiter-klasse zu fördern — das ist unsere widitigste und grundlegende Au fgabe.Jeder, der diese Aufgabe in den Hintergrund schiebt, der ihr nidit alle

Teilaufgaben und einzelnen Kampfmethoden unterordnet, besdireiteteinen falsdien Weg und fügt der Bewegung ernsten Sdiaden zu. In denHintergrund gesdioben aber wird diese Aufgabe erstens von denjenigen,die die Revolutionäre auffordern, mit den Kräften einzelner, von derArbeiterbewegung losgelöster Versdiwörerzirkel gegen die Regierung zukämpfen. In den Hin tergrund geschoben wird sie zweitens von denjenigen,die den Inhalt und das Ausmaß der politisdien Propaganda, Agitation undOrganisation einengen, die es für möglich und angebracht halten, denArbeitern nur in besonderen Momenten ihres Lebens, nur bei feierlichenAnlässen „Politik" v orzusetzen , die allzuviel Sorge darauf verwenden, denpolitisdien Kampf gegen die Selbstherrschaft einzutauschen gegen Forde-rungen nach einzelnen Zugeständnissen seitens der Selbstherrschaft, undnidit genügend dafür Sorge tragen, daß diese Forderungen nach einzelnenZugeständnissen zu einem systematisdien und konsequenten Kampf derrevolutionären A rbeiterpartei gegen die Selbstherrsdiaf t entwickelt werden.

„Organisiert euch!" ruft die Zeitung „Rabotschaja Mysl" den Arbei-tern immer wieder in verschiedenen Tonarten zu, wiederholen alle An-

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Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung 369

hänger der „ökonomischen" Richtung. Auch wir schließen uns natürlichdiesem Rufe voll und ganz an, fügen aber unbedingt hinzu: Organisierteuch nicht nur in Unterstützungsvereinen, Streikkassen und Arbeiter-zirkeln, organisiert euch auch zur politischen Partei, organisiert euch zumentschlossenen Kampf gegen die autokratische Regierung und gegen diegesamte kapitalistische Gesellschaft. Ohne eine solche Organisation istdas Proletariat nicht fähig, sich zum bewußten Klassenkampf zu erheben,ohne eine solche Organisation ist die Arbeiterbewegung zur Ohnmachtverurteilt, und nur mit Kassen, Zirkeln und Unterstützungsvereinen wirdes der Arbeiterklasse nie gelingen, die ihr obliegende große geschichtlicheAufgabe zu erfüllen: sich und das ganze russische Volk von der politischen

und ökonomischen Sklaverei zu befreien. Keine einzige Klasse in derGeschichte ist zur Herrschaft gelangt, ohne ihre eigenen politischen Füh-rer, ihre fortschrittlichen Vertreter hervorgebracht zu haben, die fähigwaren, die Bewegung zu organisieren und zu leiten. Auch die russischeArbeiterklasse ha t bereits gezeigt, daß sie fähig ist, solche Menschen her-vorzubringen: der weit ausgebreitete Kampf der russischen Arbeiter inden letzten 5—6 Jahren hat gezeigt, welche Fülle an revolutionären Kräf-ten in der Arbeiterklasse steckt, er hat gezeigt, wie selbst die wütendstenRepressalien der Regierung die Zahl der Arbeiter, die darauf brennen,

zum Sozialismus, zum politischen Bewußtsein und zum politischenKampf zu gelangen, nicht verringern, sondern vergrößern. Der Kongreßunserer Genossen im Jahre 1898 hat die Aufgabe richtig gestellt undnicht fremde W orte w iederholt, nicht bloßen Enthusiasmus von „Intellek-tuellen" zum Ausdruck gebracht... Nun müssen wir entschlossen an dieErfüllung dieser Aufgaben gehen, müssen die Frage des Programms, derOrganisation und der Taktik der Partei auf die Tagesordnung setzen.Wie wir über die Grundthesen unseres Programms denken, haben wirbereits gesagt, und diese Thesen ausführlich zu entwickeln ist hier natür-

lich nicht der Ort. Den Organisationsfragen beabsichtigen wir in dennächsten Nummern eine Reihe von Artikeln zu widmen. Das ist einerunserer wundesten Punkte. Wir sind in dieser Beziehung hinter den altenVertretern der russischen revolutionären Bewegung sehr zurückgeblieben;diesen Mangel müssen wir offen zugeben und unsere Kräfte darauf rich-ten, eine mehr konspirative Organisation der Arbeit zustande zu bringen,die Regeln für die Arbeit und die Methoden zur Täuschung der Gendar-

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370 ' TV. J. Lenin

men und zur Umgehung der Fallstricke der Polizei systematisch zu pro-pagieren. Es müssen Leute ausgebildet werden, die der Revolution nichtnur ihre freien Abende, sondern ihr ganzes Leben widmen; es muß eineOrganisation vorbereitet werden, die genügend groß ist, um in ihr einestrenge Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Arten unserer Tätig-keit vornehmen zu können. Was schließlich die Fragen der Taktik be-trifft, so wollen wir uns hier auf das Folgende beschränken: Die Sozial-demokratie b indet sich nicht die Hände, sie engt ihre Tätigkeit nicht durchirgendeinen vorher ersonnenen Plan oder Modus des politischen Kampfesein — sie erkennt alle Mittel des Kampfes an, wenn sie nur den vorhan-denen Kräften der Partei entsprechen und es ermöglichen, die größtenResultate zu erzielen, die unter den gegebenen Verhältnissen erzielt wer-den können. Besteht eine straff organisierte Partei, so kann sich ein ein-zelner Streik in eine politische Demonstration, in einen politischen Siegüber die Regierung verwandeln. Besteht eine straff organisierte Partei,so kann aus einem örtlich begrenzten Aufstand eine siegreiche Revolutionhervorgehen. Wir dürfen nicht vergessen, daß der Kampf gegen dieRegierung um einzelne Forderungen, die Erkämpfung einzelner Zu-geständnisse, nur kleine Scharmützel mit dem Feinde, kleine Vorposten-gefechte sind und daß der entscheidende Kampf noch bevorsteht. Vor

uns liegt in ihrer ganzen Stärke eine feindliche Festung, aus der man unsmit einem Hagel von Kugeln und Kartätschen überschüttet, die uns diebesten Kämpfer entreißen. Wir müssen diese Festung nehmen, und wirwerden sie nehmen, wenn wir alle Kräfte des erwachenden Proletariats mitallen Kräften der russischen Revolutionäre zu einer Partei vereinigen, zu deralles hinstreben wird, was es in Rußland an Lebendigem und Ehrlichemgibt. Und erst dann wird die große Prophezeiung des russischen Arbeiter-revolutionärs Pjotr Alexejew121 in Erfüllung gehen: „Die Millionenmassedes Arbeitervolks wird ihren muskulösen Arm erheben, und das von Sol-

datenbajonetten gestützte Joch der Despotie wird in Staub zerfallen!"

Qesdbrieben in der erstenNovemberhälfte 1900.

Veröffentlicht im Dezem ber i900 TJadi dem Jext der Jskra".in der Jskra" 3Vr. i.

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371

DER CHINA-KRIEG

Rußland beendet den Krieg mit China: eine ganze Reihe von Militär-bezirken ist mobilisiert, H underte Millionen Rubel sind verausgabt, Zehn-tausende Soldaten wurden nach China geschickt, eine Reihe Schlachtenwurde geschlagen, eine Reihe Siege wurde erfochten — Siege aller-dings nicht so sehr über die regulären Truppen des Gegners wie überdie chinesischen Aufständischen und noch mehr über unbewaffnete Chi-nesen, die man ertränkte oder totschlug, ohne haltzumachen vor derErmordung von Kindern und Frauen, ganz zu schweigen von der Plünde-

rung von Palästen, Häusern und Läden. Und die russische Regierung,im Verein mit den vor ihr liebedienernden Zeitungen, feiert den Sieg,jubelt über die neuen Heldentaten des ruhmvollen Heeres, feiert denSieg der europäischen Kultur über das chinesische Barbarentum und dieneuen Erfolge der russischen „zivilisatorischen Mission" im Fernen Osten.

In diesem Jubelchor fehlt nur die Stimme der k lassenbewußten Arbeiter,dieser fortgeschrittenen Vertreter des viele Millionen zählenden arbeiten-den Volkes. Gerade das arbeitende Volk aber hat die ganze Last der neuensiegreichen Feldzüge zu tragen : man entreißt ihm die arbeitsfähigen Män-

ner, um sie in ferne Länder zu schicken, von ihm werden besonders er-höhte Steuern zur Deckung der Millionenausgaben eingetrieben. Versuchenwir, uns über die Frage klarzuwerden: Wie müssen sich die Sozialistenzu diesem Krieg verhalten? in wessen Interesse wird er geführt? welchesist der wirkliche Sinn der Politik, die die russische Regierung verfolgt?

Unsere Regierung versichert vor allem, sie führe überhaupt keinenKrieg mit China: sie unterdrücke nur den Aufstand, bändige die Auf-rüh rer, helfe der gesetzlichen chinesischen Regierung, die gesetzliche Ord-

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372 "W.3. Lenin

nung wiederherzustellen. Der Krieg ist nicht erklärt, aber das ändert

nicht das geringste am Wesen der Sache, denn es wird trotzdem Krieggeführt. Wodurch nun wurde der Überfall der Chinesen auf die Euro-päer veranlaßt, dieser Aufruhr, der von den Engländern, Franzosen,Deutschen, Russen, Japanern usw. mit so viel Eifer unterdrückt wird?„Durch die Feindschaft der gelben Rasse gegen die weiße Rasse", „durchden Haß der Chinesen gegen die europäische Kultur und Zivilisation" —

versichern die Fürsprecher des Krieges. Ja, die Chinesen hassen tatsäch-lich die Europäer, aber welche Europäer hassen sie und weshalb? DieChinesen hassen nicht die Völker Europas — mit ihnen haben sie keine

Zusammenstöße gehabt —, sondern die europäischen Kapitalisten und dieden Kapitalisten hörigen europäischen Regierungen. Wie sollten auch dieChinesen nicht Menschen hassen, die nur des Profits wegen nach Chinagekommen sind, die ihre vielgerühmte Zivilisation nur zu Betrug, Raubund Vergewaltigung ausgenutzt haben, die gegen China Kriege führten,um das Recht zu erhalten, mit dem das Volk betäubenden Opium Han-del zu treiben (der Krieg Englands und Frankreichs gegen China im Jahre1856), die ihre Raubpolitik heuchlerisch mit der V erbreitung des Christen-tums verschleierten? Diese Raubpolitik betreiben die bürgerlichen Regie-

rungen Europas schon lange gegen China, und jetzt hat sich ihr auch dieautokratische russische Regierung angeschlossen. Man pflegt diese Raub-politik Kolonialpolitik zu nennen. Jedes Land mit rasch anwachsenderkapitalistischer Industrie geht sehr bald auf die Suche nach Kolonien, d. h.nach Ländern, in denen die Industrie schwach entwickelt ist, die sichdurch eine mehr oder weniger patriarchalische Lebensweise auszeichnen,in denen man Absatz für Industrieprodukte finden und daran schönesGeld verdienen kann. Und um der Bereicherung einer Handvoll Kapita-listen willen führten die bürgerlichen Regierungen endlose Kriege, ließen

ganze Regimenter in ungesunden tropischen Ländern zugrunde gehen,verschleuderten Millionensummen, die dem Volk abgenommen wurden,trieben die Bevölkerung zu verzweifelten Aufständen und in den H unger-tod. Man denke nur an den Aufstand der indischen Eingeborenen gegenEngland122 und an die Hungersnot in Indien oder an den jetzigen Kriegder Engländer gegen die Buren123.

Un d nun haben die europäischen Kapitalisten ihre gierigen Tatzen nachChina ausgestreckt. So ziemlich an der Spitze steht dabei die russische

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Der Qjina-Xrieg 373

Regierung, die sich jetzt nicht genug tun kann, ihre „Uneigennützigkeit"

zu beteuern. „Uneigennützig" hat sie China Port Arthur abgenommenund jetzt begonnen, unter dem Schütze russischer Truppen eine Eisen-bahn in der Mandschurei zu bauen. Eine nach der anderen gingen dieeuropäischen Regierungen so eifrig daran, chinesisches Land zu rauben,zu „pachten", wie man es nennt, daß nicht ohne Grund von einer Auf-teilung Chinas gesprochen wird. Will man die Dinge bei ihrem richtigenNamen nennen, so muß man sagen, daß die europäischen Regierungen(und die russische ist dabei so ziemlich eine der ersten) mit der Auftei-lung Chinas bereits begonnen haben. Aber sie haben mit der Aufteilung

nicht offen begonnen, sondern heimlich, wie Diebe. Sie sind darange-gangen, China auszurauben, wie man einen Leichnam ausraubt, und alsdieser vermeintliche Tote Widerstand zu leisten versuchte, fielen sie wiewilde Tiere über ihn her, indem sie ganze Dörfer niederbrannten, wehr-lose Einwohner, Frauen und Kinder im Amur ertränkten, niederschössenund auf die Bajonette spießten. Und alle diese christlichen Heldentatenwerden begleitet von Geschrei gegen die chinesischen Barbaren, die eswagen, ihre Hand gegen zivilisierte Europäer zu erheben. Die Besetzungvon Niutschuang und der Einmarsch russischer Truppen in mandschu-risches Gebiet — das seien zeitweilige Maßnahmen, erklärt die autokra-tische russische Regierung in ihrer Zirkulamote an die Mächte vom12. August 1900; diese Maßnahmen seien „ausschließlich durch die Not-wendigkeit hervorgerufen, die aggressiven Handlungen der chinesischenAufrührer abzuwehren"; sie „können keineswegs von irgendwelcheneigennützigen Plänen zeugen, die der Politik der kaiserlichen Regierunggänzlich fernliegen".

Arme kaiserliche Regierung! Sie ist so christlich uneigennützig undwird so ungerecht gekränkt! Uneigennützig hat sie vor mehreren Jahren

Port Arthur an sich gerissen und uneigennützig reißt sie jetzt die Man-dschurei an sich, uneigennützig hat sie die an Rußland grenzenden Ge-biete Chinas mit einer Meute von Kommissionären, Ingenieuren und Of-fizieren überschwemmt, die durch ihr Verhalten selbst die für ihre Füg-samkeit bekannten Chinesen zur Empörung getrieben haben. Den beimBau der chinesischen Eisenbahn beschäftigten chinesischen Arbeitern wur-den für ihren Unterhalt 10 Kopeken pro Tag gezahlt — ist das vielleichtkeine U neigennützigkeit von Seiten R ußlands?

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,374 W.J.£enin

Wie aber erklärt es sich, daß unsere Regierung diese wahnwitzige

Politik in China betreibt? Wem nützt diese Politik? Sie nützt einemHäuflein von Großkapitalisten, die Handelsgeschäfte mit China treiben,einem Häuflein von Fabrikanten, die für den asiatischen Markt Warenproduzieren, einem Häuflein von Kommissionären, die jetzt an eiligenKriegsaufträgen tolles Geld verdienen (verschiedene Werke, die Waffenund Ausrüstung für die Truppen usw. herstellen, arbeiten jetzt mit Hoch-druck und stellen Hunderte neuer Tagelöhner ein). Eine solche Politiknü tzt einem Häuflein Adliger, die im Zivil- und M ilitärdienst hohe Äm terbekleiden. Sie brauchen eine Abenteurerpolitik, denn hier kann man sich

auszeichnen, Karriere machen und durch „Heldentaten" zu Ruhm ge-langen. Den Interessen dieses Häufleins von Kapitalisten und beamtetenGaunern bringt unsere Regierung ohne Zaudern die Interessen des gan-zen Volkes zum Opfer. Die autokratische Zarenregierung erweist sichauch in diesem Falle, wie stets, als die Regierung verantwortungsloserBürokraten, die vor den Großkapitalisten und Adligen auf den Knienrutschen.

Welchen Nutzen hat die russische Arbeiterklasse und das ganze ar-beitende Volk von den Eroberungen in China? Tausende ruinierter Fa-

milien, denen durch den Krieg die Ernährer entrissen wurden, ein unge-heures Anwachsen der staatlichen Schulden und Ausgaben, Erhöhung derSteuern, Stärkung der Macht der Kapitalisten, dieser Ausbeuter der Ar-beiter, Verschlechterung der Lage der Arbeiter, noch größeres Massen-sterben der Bauernschaft, Hungersnot in Sibirien — all das verspricht derchinesische Krieg zu bringen und bringt er schon jetzt. Die gesamte rus-sische Presse, alle Zeitungen und Zeitschriften sind versklavt, sie wagennicht, etwas ohne Erlaubnis der Regierungsbeamten zu veröffentlichen —

daher besitzen wir keine genauen Angaben darüber, was der chinesische

Krieg dem Volke kostet, aber zweifellos erfordert er Geldausgaben vonvielen Hundert Millionen Rubel. Es liegen Mitteilungen vor, daß dieRegierung auf Grund eines nicht veröffentlichten Erlasses unverzüglich150 Millionen Rubel für den Krieg gegeben hat, außerdem verschlingendie laufenden Ausgaben für den Krieg alle drei bis vier Tage je eine Mil-lion Rubel. Und diese wahnsinnigen Summen verschleudert eine Regie-rung, die die Unterstützungen für die hungernden Bauern endlos kürzteund dabei um jede Kopeke feilschte, die kein Geld für die Volksbildung

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Der Cbina-Krieg 375

findet, die, wie irgendein Kulak, die Arbeiter in den Staatsbetrieben, die

kleinen Angestellten in den Postämtern usw. aussaugt!Der Finanzminister Witte hatte erklärt, daß am 1. Januar 1900 in derStaatskasse eine frei verfügbare Barsumme von 250 Millionen Rubel vor-handen war — jetzt ist dieses Geld bereits nicht mehr da, es ist fürden Krieg draufgegangen, die Regierung sucht Anleihen, erhöh t dieSteuern, lehnt aus Mangel an Geld notwendige Ausgaben ab, stellt denBau von Eisenbahnen ein. Der Zarenregierung droht der Bankrott, sieaber stürzt sidi in eine Eroberungspolitik — in eine Politik, die nicht nurungeheure Geldmittel erfordert/sondern auch droht, sie in noch gefähr-

lichere Kriege zu verstricken. Die europäischen Mächte, die über Chinahergefallen sind, beginnen schon, sich um die Aufteilung der Beute zustreiten, und niemand vermag zu sagen, .wie dieser Streit ausgehen wird.

Aber die Politik der Zarenregierung in China stellt nicht nur eine Ver-höhnung der Interessen des Volkes dar — sie ist auch bestrebt, das poli-tische Bewußtsein der Volksmassen zu korrumpieren. Die Regierungen,die sich nur durch die Macht der Bajonette halten, die stets genötigt sind,die Volksempörung einzudämmen oder zu unterdrücken, haben seit, lan-gem die Wahrheit erkannt, daß die Unzufriedenheit des Volkes durch

nichts zu beseitigen ist; man muß versuchen, diese Unzufriedenheit vonder Regierung auf jemand anders abzulenken. M an schürt z. B. die Feind-schaft gegen die Juden: die Boulevardpresse hetzt gegen die Juden, alsob der jüdische Arbeiter nicht genauso unter dem Joch des Kapitals unddes Polizeiregimes zu leiden hätte wie der russische Arbeiter. Augenblick-lich führt die Presse einen Feldzug gegen die Chinesen, man schreit überdie barbarische gelbe Rasse, ihre Feindschaft gegen die Z ivilisation, sprichtvon kulturellen Aufgaben Rußlands, von der Begeisterung, mit der dierussischen Soldaten in die Schlacht ziehen usw. usw. Die vor der Regie-

rung und dem Geldsack auf dem Bauche liegenden Journalisten schreibensich die Finger wund, um Haß gegen China im Volk zu entfachen. Aberdas chinesische Volk hat das russische Volk nie und in keiner Weise be-drängt: das chinesische Volk leidet unter denselben Übeln, unter denenauch das russische Volk schmachtet — unter einer asiatischen Regierung,die aus den hungernden Bauern Steuern herauspreßt und jedes Strebennach Freiheit mit Waffengewalt unterdrückt —, unter dem Joch des Kapi-tals, das seinen Weg auch ins Reich der Mitte gefunden hat.

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376 TP. 3. Lenin

Die russische Arbeiterklasse beginnt sich von jener politischen Ver-

schüchterung und Unwissenheit frei zu m achen, in der die Masse des Vol-kes lebt. Alle klassenbewußten Arbeiter haben daher die Pflicht, sidi mitallen Kräften gegen diejenigen zu wenden, die den nationalen Haß schü-ren und die Aufmerksamkeit des arbeitenden Volkes von seinen wahrenFeinden ablenken. Die Politik der Zarenregierung in China ist eine ver-brecherische Politik, die das Volk noch mehr ruiniert, die es noch mehrdemoralisiert und unterdrückt. Die Zarenregierung hält nicht nur unserVolk in Sklaverei — sie schickt es aus zur Niederwerfung anderer Völker,die sich gegen ihre Sklaverei erheben (wie das 1849 der Fall war, als

russische Truppen die Revolution in Ungarn unterdrückten). Sie hilftnicht nur den russischen Kapitalisten, ihre Arbeiter auszubeuten, und bin-det den Arbeitern die Hände, damit sie es nicht wagen, sich zusammen-zuschließen und zu verteidigen, sondern sendet auch Soldaten aus, umim Interesse eines Häufleins von Reichen und Adligen andere Völker zuplündern. Es gibt nur ein Mittel zur Befreiung von dem neuen Joch, dasder Krieg dem arbeitenden Volk aufbürdet: die Einberufung von Volks-vertretern , die der Willkürherrschaft der Regierung ein Ende machen undsie zwingen würden, nicht einzig und allein auf die Interessen der Hof-

clique Rücksicht zu nehmen.

Jskra" 7ir. i, Tiaäo .dem lexX der „lskra\Dezember 1900.

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378 TV.I.Lenin

Aus diesem Grunde lehnen wir es ab — obgleich wir die Verdienste des

„Rabotscheje Delo", das für die Herausgabe von Literatur und die Orga-nisierung ihrer Zustellung viel getan hat, keineswegs leugnen —, einen T eilder gespaltenen Organisation als Auslandsvertretung unserer Partei an-zuerkennen. Bis zur Entscheidung des nächsten Parteitages muß dieseFrage offenbleiben. Offizielle Auslandsvertreter der russischen Sozial-demokratie sind gegenwärtig die russischen Mitglieder des ständigen in-ternationalen Komitees, das im Herbst dieses Jahres vom Pariser Inter-nationalen Sozialistenkongreß gebildet worden ist.124 Für Rußland sindzwei Mitglieder in das Komitee gewählt worden: G. W. Plechanow und

B. Kritschewski (einer der Redakteure des „Rabotscheje Delo"). Solangezwischen den beiden Fraktionen der russischen Sozialdemokraten keineVersöhnung oder Verständigung zustande kommt, beabsichtigen wir,mit G . W . Plechanow den ganzen, die Vertretung Rußlands betreffendenVerkehr zu unterhalten. Schließlich müssen w ir uns zu der Frage äußern,wen wir im ständigen internationalen Komitee als Sekretär für Rußlandhaben möchten. Gegenwärtig, da man bemüht ist, unter der Flagge einer„Kritik am Marxismus" die Sozialdemokratie durch bürgerliche Ideolo-gie und eine Politik der Zahmheit und Fügsamkeit gegenüber den bis andie Zähne bewaffneten Feinden (den bürgerlichen Regierungen) zu kor-

rumpieren, ist es besonders notwendig, auf diesen wichtigen Posten einenMann zu stellen, der fähig ist, der Strömung zu widerstehen und eingewichtiges Wort gegen das ideologische Schwanken zu sagen. Aus die-sem Grunde sowie aus den obenerwähnten Erwägungen stimmen wir fürG. W. Plechanow.

Qesdhrieben nidit später alsam 8. Dezember i900.

Veröfientlidit im Dezemb er 190 0 Nadi dem Text der Jskra".

in der „Ishra" SVr. t.

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A U F Z E I C H N U N G V O M 2 9 .D E Z E M B E R 1 900

29. XII. 1900, Sonnabend, 2 Uhr nachts.Ich möchte meine Eindrücke von der heutigen Unterredung mit dem

„Zwilling" niederschreiben. Es war eine denkwürdige und in ihrer Art„historische" Zusammenkunft (Arsenjew, Welika, der Zwilling+Frau12 5

+ ich), historisch zumindest in meinem Leben, da sie die Bilanz, wennauch nicht einer Epoche, so doch eines Lebensabschnittes gezogen hat undauf lange Zeit für mein Verhalten und meinen Lebensweg bestimmendsein wird.

Auf Grund der von Arsenjew ursprünglich gegebenen Darstellung derDinge glaubte ich, der Zwilling komme zu uns und wolle von sich ausSchritte unternehmen — aber gerade das Gegenteil war der Fall. Wahr-scheinlich kam dieser seltsame Irrtum daher, daß Arsenjew gar zu gerndas gehabt hätte, womit der Zwilling „lockte", nämlich politisches Mate-rial, Korrespondenzen etc., denn „der Wunsch ist der Vater des Gedan-kens", und Arsenjew glaubte an die Möglichkeit dessen, womit der Zwil-ling lockte, er wollte an die Aufrichtigkeit des Zwillings glauben, an dieMöglichkeit eines anständigen modus vivendi* mit ihm.

Und gerade diese Zusammenkunft hat einen solchen Glauben endgül-tig und unwiderruflich zunichte gemacht. Der Zwilling zeigte sich voneiner ganz neuen Seite, er zeigte sich als „Politiker" von reinstem Wasser,als Politiker im schlimmsten Sinne des Wortes, als Politikaster, durch-triebener Kerl, Krämer und Frechling. Er kam, völlig überzeugt von un-serer Ohnmadbt — so formulierte Arsenjew selber das Ergebnis der Ver-handlungen, und diese Formulierung war durchaus richtig. Der Zwilling

* Auskommens. Die Red.

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380 TV.J.Lenin

kam im Glauben an unsere Ohnmacht, er erschien, um uns Kapitulations-

bedingungen vorzuschlagen, und tat dies in einer ausnehmend geschicktenForm, ohne auch nur ein scharfes Wort fallen zu lassen, verriet abernichtsdestoweniger, welche grobe Krämernatur eines Dutzendliberalensich unter dieser eleganten, zivilisierten Hülle des allerneuesten „Kriti-kers" verbirgt.

Auf meine Fragen (mit denen der sachliche Teil des Abends begann),weshalb er, der Zwilling, nicht einfach Mitarbeiter sein wolle, erwiderteer mit aller Entschiedenheit, es sei für ihn psychologisch unmöglich, aneiner Zeitschrift mitzuarbeiten, in der man „kein gutes Haar an ihm

lasse" (wörtlich sein Ausdruck), wir sollten doch nicht glauben, daß wirihn beschimpfen könnten und er werde uns „politische Artikel schreiben"(wörtlich!), von Mitarbeit könne nur unter der Bedingung voller Gleich-berechtigung die Rede sein (d. h. anscheinend der Gleichberechtigungvon Kritikern und Orthodoxen), nach der Ankündigung* wollte seinGefährte und Freund12 6 nicht einmal mehr zu einer Zusammenkunft mitArsenjew fahren, seine, des Zwillings, Stellung sei nicht so sehr durchdie Ankündigung oder sogar überhaupt nicht durch die Ankündigungbestimmt, sondern vielmehr dadurch, daß er sich früher auf die Rolle

einer „wohlwollenden Helferschaft" beschränken wollte, jetzt aber habeer nicht mehr die Absicht, sich damit zu begnügen, sondern wolle auchRedakteur sein (so sagte der Zwilling fast wörtlich!!). Mit all dem rückteder Zwilling nicht auf einmal heraus, die Verhandlungen übe r seine Mit-arbeit zogen sich ziemlich in die Länge (viel zu sehr, nach Arsenjewsund Welikas Meinung), aber für mich zeichnete sich in ihnen mit allerKlarheit ab, daß mit diesem Gentleman eine Zusammenarbeit nidit mög-lich ist.

Dann versteifte er sich auf seinen Vorschlag: Weshalb kein drittes

politisches Organ mit gleichen Rechten schaffen, das werde für ihn wiefür uns von Vorteil sein (Material für die Zeitung, wir würden einigesvon den dafür hergegebenen Mitteln „profitieren"), er sei der Meinung,daß auf dem Umschlag nichts Sozialdemokratisches stehen solle, nichts,was auf unsere Firma hinwiese, wir seien verpflichtet (nicht formell, son-dern moralisch verpflichtet), in diesem Organ auch unser ganzes allge-meinpolitisches Material drucken zu lassen.

*~STehe den vorliegenden Band, S. 348. Die Reä.

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Aufzeichnung vom 29. Dezember 1900 381

Die Sache wurde klar, und ich sagte offen, von der Gründung einesdritten Organs könne gar keine Rede sein, die Sache laufe hier auf dieFrage hinaus, ob es die Sozialdemokratie sei, die den politischen Kampfzu führen hat, oder ob es die Liberalen selbständig, sich selbst genügend,tun sollten (ich drückte mich klarer und bestimmter, präziser aus). DerZwilling begriff, wurde wütend und erklärte, nachdem ich mich mit an-erkennenswerter Klarheit* (wörtlich!) ausgesprochen hätte, lohne esnicht, davon noch zu sprechen, man solle nur noch von den Bestellungenreden — von den B estellungen auf die Sam me lbände : das ist dieselbedritte Zeitschrift (warf ich ein). „Nun, dann nur von der Bestellung dervorhandenen Broschüre", erklärte der Zwilling. Welcher? fragte ich.W oz u wollen Sie das wissen? antwortete die Frau in frechem To n. W en nSie sich im Prinzip dafür entscheiden, dann werden wir beschließen,wenn nicht, wozu brauchen Sie es dann zu wissen? Ich fragte nach denBedingungen der Drucklegung: Verlag von N. Nf. und weiter nichts, IhreFirma darf n icht erwähnt werden, außer dem Verlag** darf kein Zu-sammenhang mit Ihrer Firma bestehen—erklärte der Zwilling. Ich wandtemich auch dagegen und verlangte, daß unsere Firma genannt werde,Arsenjew widersprach mir, und das Gespräch brach ab.

Zum Schluß kam man überein, die Entscheidung aufzuschieben — A r-senjew und Welika setzten dem Zwilling noch zu, verlangten von ihmErklärungen, stritten, ich schwieg meist, lachte (so, daß der Zwilling esdeutlich sah), und die Unterhaltung ging bald zu Ende.

Zuerst veröffentlicht i924 im 'Nach dem Manuskript.£enin-Sammelband I.

* „anerkennenswerter Klarheit" bei Lenin deutsch. Der Tibers.** „Verlag" bei Lenin deutsch. Der T ibers.

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Z U F Ä L L I G E N O T I Z E N

Qesdbrieben im Januar 1901.

Veröftentliäit im April 1901 Tdadb dem 7ext der Zeitschrift.in der Zeitschrift „Sarja" JVr. 1."Unterschrift: 7. Cb.

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1901-ro r.

Hettl

April 1901

3APH

npniH r. B. ÜJiexaHOBa, B. H.

H II. B. AKcejibpoÄa.-s&

2 pyö.

StattgartI . U.V . Bietz Nacht. CG.m.1>.H.)

Umschlag der ersten Nummer der Zeitschrift „Sarja"

April 1901

25 Lenin, We rke, Bd. 4

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387

I .PRÜGLE, ABER NICHT ZU TODE

Am 23. Januar verhandelte in Nishni-Nowgorod das Moskauer Ober-ste Gericht in einer Sondersession unter Teilnahme von Ständevertreternden Fall der Ermordung des Bauern Timof ej Wassiljewitsch Wosduchow,der „zur Ernüchterung" auf die Polizeiwache gebracht und dort von denvier Polizisten Schelemetjew, Schulpin, Schibajew, Olchowin und demzeitweilig beauftragten Reviervorsteher Panow derart verprügelt wurde,daß er am nächsten Tag im Krankenhaus verstarb.

Das ist der unkomplizierte Tatbestand dieses einfachen Falls, der ein

grelles Licht auf das wirft, was stets und ständig in unseren Polizeidienst-stellen vor sich geht.Soweit man sich auf Grund der außerordentlich knappen Zeitungs-

berichte ein Urteil bilden kann, stellt sich der ganze Vorgang folgender-maßen dar. Am 20 . April fuhr Wosduchow in einer Droschke zum H ausedes Gouverneurs. Heraus trat der Aufseher des Gouverneurhauses, dervor Gericht aussagte, Wosduchow sei ohne Mütze und angeheitert, abernicht betrunken gewesen und habe sich über irgendeine Dampferstationbeschwert, die keine Fahrkarte ausgegeben habe (?). Der Aufseher gab

dem auf Posten befindlichen Polizisten Schelemetjew den Befehl, Wos-duchow zur Wache zu bringen. Wosduchow war so wenig angeheitert,daß er mit Schelemetjew ruhig sprach und nach seiner Ankunft dem Re-viervorsteher Panow klar und deutlich Namen und Stand nannte. Trotz-dem „stößt" ihn Schelemetjew — offenbar mit Wissen Panows, der soebenWosduchow verhört hat — nicht in die Arrestantenzelle, in der sich meh-rere Betrunkene befinden, sondern in die neben der Arrestantenzelle be-findliche „IVadustube" . Dabei stößt er mit dem Säbel an die Türklinke,

25 *

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388 'W.J.Lenin

schneidet sich ein wenig in die Han d, b ildet sich ein, Wosduchow halte denSäbel fest und stürzt sich auf ihn, schlägt ihn und schreit dabei, man habeihm die Hand zerschnitten. Er schlägt aus voller Kraft, ins Gesicht, aufdie Brust, in die Seiten, schlägt so, daß Wosduchow immer auf den Rülcken fällt, immer wieder mit dem Kopf auf den Fußboden aufschlägt undum Erbarmen bittet. „Warum schlagen Sie mich?" sagte er nach Aussageeines Zeugen (Semachin), der in der Arrestantenzelle sa ß. — „Ich bin nichtschuld daran. Verzeihen Sie, um Christi willen!" Nach Aussage desselbenZeugen war Wosduchow nicht betrunken, betrunken war eher Schele-merjew. Daß Schelemetjew Wosduchow „belehrt" (Formulierung der An-klageschrift!), erfahren seine Kollegen Schulpin und Schibajew, die seitdem ersten Ostertage auf dem Polizeirevier fortgesetzt tranken (der20. April, ein Dienstag, war der dritte Ostertag). Sie kommen zusammenmit dem aus einem anderen Revier eingetroffenen Olchowin in die Wach-stube, schlagen auf Wosduchow mit den Fäusten ein und treten ihn mitFüßen. Auch der Reviervorsteher Panow kommt hinzu, schlägt Wosdu-chow mit einem Buch auf den Kopf, schlägt mit den Fäusten. „Sie habenso geprügelt, so geprügelt", sagte eine verhaftete Frau, „daß mir vorAngst der ganze Leib weh tat." Als die „Belehrung" beendet war, befahlder Reviervorsteher mit größtem Gleichmut Schibajew, dem Mißhandel-

ten das Blut vom Gesicht abzuwaschen — es sei so immerhin anständiger,sonst sieht es noch die Obrigkeit! — und ihn in die Arrestantenzelle zustoßen. „Brüder!" sagt Wosduchow zu den übrigen Verhafteten, „sehtihr, wie die Polizei prügelt? Seid meine Zeugen, ich werde mich beschwe-ren!" Aber er kommt nicht dazu, sich zu beschweren, am nächsten Mor-gen findet man ihn in völlig bewußtlosem Zustand, man bringt ihn insKrankenhaus, wo er acht Stunden später stirbt, ohne wieder zu sich ge-kommen zu sein. Die Obduktion ergibt zehn gebrochene Rippen, Blut-striemen am ganzen Körper und einen Bluterguß im Gehirn.

Das Gericht verurteilte Schelemetjew, Schulpin und Schibajew zu vierJahren Zwangsarbeit; Olchowin und Panow aber, die nur der „Beleidi-gung" für schuldig befunden wurden — zu einem Tdonat Haft...

M it diesem Urteilsspruch nun wollen wir unsere Analyse beginnen. DieAnklage gegen die zu Zwangsarbeit Verurteilten stützte sich auf die Para-graphen 346 und 1490, Teil 2, des Strafgesetzbuches. Der erste dieser Para-graphen besagt, daß ein Beamter, der in Ausübung seines Amtes jeman-

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Zufällige Notizen 389

dem Verletzungen oder Verstümmelungen zufügt, zu der „für selbiges

Verbrechen festgesetzten" Höchststrafe verurteilt werden muß. Paragraph1490, Teil 2, aber setzt für Mißhandlung mit tödlichem Ausgang Zwangs-arbeit von 8 bis 10 Jah ren fest. Ans tatt das höchste Strafmaß zu ver-hängen, setzt das Gericht der Ständevertreter und Kronrichter die Strafeum zwei Stufen herab (6. Stufe : Zw angsarbeit von 8 bis 10 Jah ren ;7, Stufe: von 4 bis 6 Jahren), d. h. , es beschließt die maximale Herab-setzung der Strafe, die das Gesetz im Falle mildernder Umstände zuläßt,und außerdem wird das niedrigste Strafmaß dieser niedrigsten Stufe inAn we ndun g gebracht. M it einem W or t, das Gericht hat alles getan, was es

nur konnte, um das Los der Verurteilten zu mildern, ja sogar mehr, als eskonnte, da die Gesetzesbestimmung über das „höchste Strafmaß" umgan-gen w urd e. W ir wollen natürlich keineswegs sagen, daß die „höchste Gerech-tigkeit" gerade zehn u nd nicht vier Jah re Zw angs arbeit erforde rte; w ichtigist, daß die Mörder als Mörder erkannt und zu Zwangsarbeit verurteiltworden sind. Man kann jedoch nicht umhin, eine Tendenz festzustellen,die für das Gericht der Kronrichter und S tändeve rtreter überaus charakte-ristisch ist: wenn sie über Polizeibeamte zu Gericht sitzen, so sind sie zujeder Nachsicht bereit; w enn sie aber üb er Vergehen gegen die Polizei ihrUrteil sprechen, dann legen siebekanntlich unbeugsam e Strenge an de nTa g.*

Da ist der Herr Reviervorsteher. . . , nun, wie sollte man ihm gegen-

* Bei dieser Gelegenheit wollen wir zur Beurteilung des Strafmaßes, dasunsere Gerichte für verschiedene Verbrechen verhängen, noch eine Tatsacheanführen. Einige Tage nach der Verhandlung gegen die Mörder Wosduchowsverhandelte das Moskauer Militärbezirksgericht gegen einen Soldaten, der inder dortigen Artilleriebrigade diente und 50 Paar Hosen sowie mehrere PaarStiefel aus dem Depot gestohlen hatte, als er dort Posten stand. Das Urteillautete auf vier Jahre Zwangsarbeit. Das Leben eines Menschen, der der Poli-zei anvertrau t ist, ist also ebensoviel wert wie 50 Paar Hosen und einige Stiefel,die dem Wachtposten anvertraut sind. In dieser originellen „Gleichung" spie-gelt sich, wie die Sonne in einem Tröpfchen Wasser, das ganze System unse-res Polizeistaates. Die Persönlichkeit ist der Staatsmacht gegenüber nichts.Die Disziplin innerhalb der Staatsmacht ist alles...; übrigens, Verzeihung:„alles" nur für die kleinen Leute. Der kleine Dieb wird zu Zwangsarbeit ver-urteilt, die großen Diebe dagegen, alle diese großen Herren, Minister, Bank-direktoren, Erbauer von Eisenbahnen, Ingenieure, Kommissionäre usw., dieZehntausende und Hunderttausende Rubel Staatsgelder in ihren Taschen

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390 WJ.Cenin

über nicht nachsichtig sein! Er nahm Wosduchow, als dieser zur Wache

gebracht wurde, in Empfang, er gab offenbar den Befehl, ihn nicht in dieArrestantenzelle zu bringen, sondern zunächst — zur Belehrung — in dieWachstube, er nahm an der Mißhandlung teil , sowohl mit seinen Fäustenals auch mit einem Buche (wohl mit dem Gesetzbuch), er gab die Anwei-sung , die Spu ren des Verbrechen s zu b eseitigen (das Blut abz uw asch en), erberichtete am 20. April nachts dem zurückgekehrten Polizeioffizier diesesReviers, Muchanow, in dem „ihm anvertrauten Revier" sei „alles in Ord-nung" (wörtlich!) — aber mit den Mördern hat er nichts gemein, er hatsich nur einer tätlichen Beleidigung, einer einfachen tätlichen Beleidigung

schuldig gemacht, die mit Haft bestraft wird. Kein Wunder, daß dieseran der Mordtat unschuldige Gentleman, Herr Panow, auch heute nochin der Polizei dient und den Posten eines Wachtmeisters der Landpolizeibekleidet. Herr Panow hat seine nützliche und umsichtige Tätigkeit zur„Belehrung" des einfachen Volkes nur von der Stadt aufs Land verlegt.Sag aufrichtig, lieber Leser, kann der Wachtmeister Panow das Urteil desGerichts anders auffassen, denn als Rat: in Zukunft die Spuren einesVerbrechens besser zu verwischen, so zu „belehren", daß keine Spurenzurückbleiben? Du hast befohlen, dem Sterbenden das Blut vom Gesicht

abzuwaschen — sehr gut, aber du hast Wosduchow sterben lassen —, das,mein Lieber, war nicht umsichtig; sei in Zukunft vorsichtiger und schreibedir das erste und letzte Gebot des russischen Dershimorda* hinter dieOhren: „Prügle, aber nicht zu Tode!"

Vom allgemein menschlichen Standpunkt ist das Urteil, das das Gerichtüber Panow fällte, ein direkter Hohn auf die Rechtsprechung; es zeigtdas echt knechtselige Bestreben, die ganze Schuld auf die unteren Polizei-beamten abzuwälzen und ihren unmittelbaren Vorgesetzten, mit dessenWissen, Billigung und Beteiligung die bestialische Mißhandlung erfolgte,

reinzuwaschen. Vom juristischen Standpunkt aus aber ist dieses Urteilein Muster jener Kasuistik, zu der beamtete Richter fähig sind, Richter,

verschwinden lassen, büßen das nur sehr selten und schlimmstenfalls mitVerbannung und Aufenthaltszwang in fernen Gouvernements, wo sie für daszusammengestohlene Geld herrlich und in Freuden leben (die Bankdiebe inW estsibirien) und sehr leicht ins Ausland flüchten können (GendarmerieoberstMeranville de St. Ciaire).

* Polizist in Gogols „Revisor". Zu deutsch: Halt-die-Schnauze. Der Tibers.

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Zufällige Notizen 391

die selber nicht viel besser sind als d er Revier Vorsteher. D ie Sprache ist

dem Menschen gegeben, damit er seine Gedanken verberge — sagen dieDiplomaten. Gesetze werden gegeben, damit der Begriff der Schuld undVerantwortung verdreht werde — können unsere Juris ten sagen. Weldiehöchst raffinierte riditerliche Kunst ist in der Tat notwendig, um aus derTeilnahme an einer Mißhandlung eine einfädle tätliche Beleidigung zumac hen! De r Arbeiter, der vielleidit am 20. April morgen s W osduc howdie Mütze vom Kopf gerissen hat, wäre demnach desselben Vergehens —

ja sogar nodi schwächer ausgedrückt: nidit desselben Vergehens, sondernderselben „Übertretung" — schuldig wie Panow. Selbst auf einfädle Teil-

nahme an einer Schlägerei (nicht aber an der Mißhandlung eines hilflosenMenschen) steht, wenn dabei jemand getötet wird, eine strengere Strafeals die, zu der der Reviervorsteher verurteilt worden ist. Die richterlichenRechtsverdreher machten sidi erstens den Umstand zunutze, daß das Ge-setz für Mißhandlungen in Ausübung der Dienstpflicht mehrere Strafenvorsieht und es dem Riditer überläßt, je nadi Umständen zwischen Ge-fängnis von 2 M ona ten an un d V erban nung mit Aufenthalts zwang inSibirien zu wählen. Den Richter nidit durdi übermäßig formale Bestim-mungen beengen, ihm einen gewissen Spielraum lassen, ist gewiß einesehr vernünftige Regel, und unsere Professoren des Strafrechts haben dierussische Ge setzg ebu ng dafür schon des öfteren gelobt und ihren Libe ra-lismus hervorgehoben. Sie haben dabei nur die Kleinigkeit vergessen, daßman zur Anwendung vernünftiger Verordnungen Riditer braucht, dienicht zu bloßen Beamten herabgewürdigt sind, daß die Teilnahme vonVertre tern d er Öffentlichkeit am Geriditsverf ahren sowie die Mitw irkungder öffentlichen Meinung bei der Erörterung eines Falls notwendig ist.Zweitens aber kam hier der stellvertretende Staatsanwalt dem Gerichtzu Hilfe, der die Anklage gegen Panow (und Olchowin) wegen Mißhand-lung und Verübung von Grausamkeiten fallen ließ und beantragte, sienur wegen Beleidigung zu bestrafen. Der stellvertretende Staatsanwaltberief sidi seinerseits auf das Gutachten der Sadiverständigen, die inAbrede stellten, daß die von Panow ausgeteilten Schläge besonders qual-voll und anhaltend gewesen seien. Der juristische Sophismus zeichnet sich,wie man sieht, nicht durch besonderen Scharfsinn aus: da Panow wenigerals die anderen geschlagen hat, so kann man sagen, daß seine Schläge niditbesonders qualvoll waren; wenn sie aber nidit besonders qualvoll waren,

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392 TV.JXenin

so kann man daraus schließen, daß sie keine „Mißhandlungen und Grau-

samkeiten" waren; wenn sie aber keine Mißhandlungen und keine Grau-samkeiten waren, so waren sie also eine einfache tätliche Beleidigung. Alles

wird zu allgemeiner Zufriedenheit beigelegt, und Herr Panow bleibt in

den Reihen der Hüter von Recht und Ordnung... *

Wir haben soeben die Frage der Teilnahme von Vertretern der Öffent-

lichkeit an der Rechtsprechung und der Rolle der öffentlichen Meinung

* Anstatt vor dem Gericht und vor der Öffentlichkeit die Niederträchtig-keiten in ihrem ganzen Umfang aufzudecken, zieht man es bei uns vor, die

Dinge vor Gericht zu vertuschen und alles mit Rundschreiben und Verordnun-gen voll schwülstiger, aber hohler Phrasen abzutun. So zum Beispiel hat der

Polizeipräsident von Orjol dieser Tage einen Befehl erlassen, der unter Be-

stätigung früherer Verordnungen es den Polizeioffizieren zur Pflicht macht,persönlich wie auch durch ihre Stellvertreter den unteren Polizeibeamten nach-drüddich einzuschärfen, sich keinesfalls grobe Behandlung oder irgendein ge-

waltsames Vorgehen zu erlauben, wenn Betrunkene auf der Straße festge-nommen und in die Polizeiwachen zwecks Ernüchterung eingeliefert werden,und den unteren Beamten zu erklären, es sei Pflicht der Polizei, unter anderemauch Betrunkene zu schützen, die ohne offenbare Gefahr für ihr Leben nicht

sich selbst überlassen werden dürfen, weshalb die unteren Polizeibeamten,die vom Gesetz selber als nächste V erteidiger und Besdwtzer der Bürger be-

stellt seien, bei der Festnahme und Einlieferung eines Betrunkenen in die

Polizeiwache die Bürger keinesfalls grob oder unmenschlich behandeln dürften,sie müßten vielmehr alles tun, was in ihren Kräften steht, um Personen, die

sie bis zur erfolgten Ernüchterung einsperren, zu schützen. Der Befehl machtdie unteren Polizeibeamten darauf aufmerksam, daß nur eine pflichtbewußteund den Gesetzen entsprechende Erfüllung ihrer Dienstpflichten ihnen das Rechtgibt, Vertrauen und Achtung von der Bevölkerung zu erwarten, während um-

gekehrt jede von Polizeibeamten verübte Willkür und grausame Behandlung

Betrunkener wie auch die Anwendung irgendwelcher Gewaltmethoden gegendiese, die unvereinbar sind mit der Pflicht von Polizeibeamten, da diese durchanständiges Benehmen und gute Sitten vorbildlich zu sein hätten, unweigerlichstrenge gesetzliche Bestrafung nach sich ziehen wü rden, und daß untere Polizei-beamte, die sidi solcher Handlungen schuldig machen, ohne jede Nachsicht vor

Gericht gestellt würden. — Vorschlag für eine Zeichnung in einer satirischenZeitschrift: Der von der Anklage des Mordes freigesprochene Reviervorsteherliest den Befehl, demzufolge er als Vorbild anständigen Benehmens und guterSitten zu dienen hat!

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Zufällige Notizen 393

berührt. Diese Frage wird überhaupt durch diesen Prozeß glänzend illu-

striert. Vor allen D ing en: Wa ru m ka m der Fall nicht vor ein Geschworenen-gericht, sond ern vor ein Gericht von K ronrichtern u nd Ständ e Vertretern?W eil die Regierung Ale xan ders III., die einen schonungslosen Kam pfgegen alles und jedes Streben der Gesellschaft nach Freiheit und Selb-ständigkeit aufgenommen hat, das Geschworenengericht sehr bald alsgefährlich erkannte. Die reaktionäre Presse erklärte das Geschworenen-gericht für das „Gericht der Straße" und begann gegen dieses Gerichteine H etz e, die übrigens bis auf den heutigen Tag anda uert. Di e Regierungnahm ein reaktionäres Programm an: nach dem Sieg über die revolutio-näre Bewegung der siebziger Jahre erklärte sie den Vertretern der Öffent-lichkeit unverfroren, daß sie sie als „Straße" betrachte, als Mob, der sichweder in die Gesetzgebung noch in die Staatsverwaltung einzumisdienhabe , der aus dem H eiligtum, in dem nach der M ethod e der H erre n P anowübe r die russisdien Bürger zu Gericht gesessen und d as Urteil gesprochenwird, vertrieben werden müsse. Im Jahre 1887 wurde ein Gesetz erlassen,laut dem von Amtspersonen oder gegen Amtspersonen verübte Ver-brechen der Kompetenz der Geschworenengerichte entzogen werden unddiese Fälle dem Gericht der Kronrichter und Ständevertreter überwiesenwurden. Bekanntlich sind diese Ständevertreter, die mit den Berufsrichtern

zu einem Kollegium verschmolzen wurden, stumme Statisten, sie spielendie klägliche Rolle von Beisitzern, die alles unterschreiben, was die Büro-kraten der Gerichtsbehörde zu beschließen belieben. Das ist eines von denGesetzen, die sich wie eine lange Kette durch die ganze jüngste reaktio-näre Epoche der russischen Geschichte ziehen und denen das gemeinsameBestreben eigen ist, eine „starke Staatsgewalt" wiederherzustellen. Unterdem Druck der Verhältnisse war die Regierung in der zweiten Hälfte des19. Jahrhund erts gezwungen, mit der „S traße" in Berührung zu kom men,die Zusammensetzung dieser Straße aber änderte sich mit überraschender

Geschwindigkeit, und an die Stelle unwissender Spießer traten Bürger,die begannen, sich ihrer Rechte bewußt zu werden, die sogar fähig sind,Käm pfer für diese Re dite zu stellen. Als die Regierung das me rkte , prallte sieentsetzt zurück, un d jetzt macht sie krampfhafte Anstreng ungen, sich durcheine chinesische Mauer abzuschließen, sich in einer Festung einzumauern,die allen Äußerungen selbständigen Handelns der Gesellschaft unzugäng-lich ist. . . Aber ich bin etwas von meinem Thema abgekommen.

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394 W.lCenin

Auf Grund des reaktionären Gesetzes wurde also die Straße aus 'Ge-

richtsverfahren gegen Vertreter der Staatsgewalt ausgeschaltet. Ober Be-amte saßen Beamte zu Gericht. Das wirkte sich nicht nur auf das Urteil

aus, sondern audi auf den ganzen Charakter der Voruntersuchung und der

Gerichtsverhandlung. Das Geridit der Straße ist gerade darum wertvoll,

weil es in den Geist des Kanzleiformalismus, von dem unsere Regierungs-

institutionen völlig durchtränkt sind, einen lebendigen Haudi hineinbringt.

Die Straße interessiert sich nidit nur dafür, ja sogar nicht so sehr dafür,

ob die betreffende Handlung als Beleidigung, Mißhandlung oder schwere

Mißhandlung anzusehen ist und welche Art und Form der Strafe man für

sie festsetzt, als vielmehr dafür, daß alle sozialen und politischen Fäden

des Verbrechens und seine Bedeutung bis zur Wurzel aufgededct und

öffentlich beleuditet werden, daß aus dem Geriditsverfahren Lehren für

die öffentlidie Moral und die praktische Politik gezogen werden. Die

Straße will im Gericht nicht eine „Dienststelle" sehen, wo Sdireibersee-

len die entsprechenden Paragraphen des Strafgesetzbuches auf diese oder

jene einzelnen Fälle anwenden, sondern eine öffentliche Einrichtung, die

die Eiterbeulen der heutigen Ordnung bloßlegt und Material liefert, um

diese Ordnung kritisieren und also auch verbessern zu können. Geleitet

von ihrem Instinkt und unter dem Druck der Praxis des öffentlichen

Lebens sowie ihres wachsenden politischen Bewußtseins, gelangt die

Straße zu jener Wahrheit, an die sich unsere offiziell-professorale Juris-

prudenz so mühsam und zaghaft, durch ihre sdiolastischen Sdiranken

hindurch, heranarbeitet, zu der Wahrheit nämlich, daß im Kampf gegen

das Verbredien die Änderung der gesellsdiaftlidien und politisdien Insti-

tutionen von unermeßlich größerer Bedeutung ist als der Vollzug einzelner

Strafen. Aus eben diesem Grunde wird ja das Geridit der Straße von den

reaktionären Publizisten und der reaktionären Regierung gehaßt — und

muß von ihnen gehaßt werden. Aus diesem Grunde zieht sidi die Ein-

engung der Kompetenz des Gesdiworenengerichts und die Einschränkungder Öffentlichkeit des Verfahrens wie ein roter Faden durch die ganze

Geschidite Rußlands nach der Reform, wobei der reaktionäre Charakter

der „Nachreform"epoche unmittelbar nadx Inkrafttreten des Gesetzes

von 1864, das unser „Geridatswesen" reformierte, zutage trat.* Und

* Die liberalen Anhänger des Geschworenengerichts sprechen, wenn sie in

der legalen Presse gegen Reaktionäre polemisieren, oft in kategorischer Weise

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Zufällige Notizen 395

gerade bei dem hier in Rede stehenden Prozeß machte sich das Fehlen

eines „Gerichtes der Straße" besonders bemerkbar. Wer in diesem Ge-richt konnte sich für die soziale Seite der Sache interessieren und sich be-mühen, sie mit aller Anschaulichkeit sichtbar zu machen? Der Staatsan-walt? Ein Beamter, der in engsten Beziehungen zur Polizei steht, die Ver-antwortung für die Sicherheit und Behandlung der Inhaftierten teilt — un ddem in einigen Fällen die Polizei sogar unterstellt ist? Wir haben gesehen,daß der stellvertretende Staatsanwalt sogar die Anklage gegen Panowwegen Mißhandlung fallen ließ. Der Zivilkläger, wenn die Frau des Er-mordeten, die vor Gericht als Zeugin aufgetretene Wosduchowa, Zivil-klage gegen die Mörder angestrengt hätte? Woher aber sollte sie, eineeinfache Bauersfrau, wissen, da ß es vor dem Strafgericht so etwas wie eineZivilklage gibt? Ja, auch wenn sie das gewußt hätte, wäre sie denn im-stande gewesen, einen Reditsanwalt zu nehmen? Und wenn sie dazu auchimstande gewesen wäre, würde sich ein Rechtsanwalt gefunden haben, derimstande und bereit gewesen wäre, die öffentliche Aufmerksamkeit aufdie durch diesen Mord enthüllten Zustände zu lenken? Und wenn sidiauch ein solcher Rechtsanwalt gefunden hätte, würden dann „Delegierte"der Gesellschaft wie die Ständevertreter imstande gewesen sein, seinen„Bürgereifer" zu unterstützen? Da ist zum Beispiel der Bauernobmann

eines Amtsbezirks — ich habe ein provinzielles Gericht im Auge —, denseine bäuerliche Kleidung in Verlegenheit bringt, der nicht weiß, wohiner seine geschmierten Stiefel und seine Bauernhände tun soll und ängst-lich zu Seiner Exzellenz, dem mit ihm am selben Tisch sitzenden Vorsit-zenden des Gerichts, emporschaut. Da ist der Bürgermeister, ein dickerKaufm ann, der in der ihm ungew ohnten Uniform sdiwe r atmet, eine Ketteum den Hals trägt und bemüht ist, seinen Nachbar, den Adelsmarschall,einen vornehmen Herrn in Adelsuniform, mit gepflegtem Äußeren und

dem Geschworenengericht die politische Bedeutung ab und bemühen sich zubeweisen, daß sie keineswegs aus politischen Erwägungen heraus für die Be-teiligung von Vertretern der Öffentlichkeit an der Rechtsprechung eintreten.Zum Teil kann das zweifellos von jener politischen Beschränktheit herrühren,an der oft gerade Juristen kranken, obwohl sie sich speziell mit „Staats"-wissenschaften beschäftigen. Hauptsächlich erklärt sich das jedoch aus der Not-wendigkeit, eine äsopische Sprache zu sprechen, und aus der Unmöglichkeit,offen ihre Sympathien für eine Verfassung zum Ausdruck zu bringen.

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396 1/V.1. Lenin

aristokratischen Manieren, nachzuahmen. Daneben aber sitzen die Rich-

ter, die die ganze lange Schule der Beamtenlaufbahn durchgemacht hab en,echte Kanzleischreiber, die in den Amtsstuben grau geworden und ganzerfüllt sind vom Bewußtsein der Wichtigkeit der ihne n zugefallenen Auf-gabe: Vertreter der Staatsgewalt zu richten, die zu richten ein Gericht derStraße nicht würdig ist . Müssen solche Umstände nicht dem redegewand-testen Advokaten die Lust zum Reden nehmen, müssen sie ihm nicht dasa l te Wort in Er innerung br ingen: „Werfe t ke ine Per len vor d ie . . . "?

So kam es denn, daß man den Prozeß im Eilzugstempo durchpeitschte,als wollte man sich der Sache möglichst rasch entledigen*, als hätte man

Angst, diese ganze abscheuliche Angelegenheit gründlich zu untersuchen:man kann neben einem Abtrit t wohnen, sich an ihn gewöhnen, nichtsmerken, sich einleben, kaum aber versucht man, ihn zu reinigen — sofortwerden nicht nur die Bewohner der betreffenden Wohnung, sondern auchdie der Nachbarwohnungen den Gestank zu spüren bekommen.

M an se he nu r, was für eine Fülle von Frage n sich gan z von selbst auf-drängt, die zu klären sich niemand die Mühe gemadit hat. Weshalb fuhrW osduchow zum Go uvern eur? Die Anklageschrif t — dieses D okum ent ,in dem das Streben der Anklagebehörde, das ganze Verbrechen aufzu-

decken, seine Verkörperung finden soll — gibt nicht nur keine Antwortauf diese Frage, sondern vertuscht sie direkt, wenn sie sagt, daß Wos-duchow angeblich „in betrunkenem Zustand im Hof des Gouverneur-hauses von dem Polizisten Schelemetjew festgenommen wurde". Das gibtsogar An laß zu glauben, W osduchow habe skandal iert — und w o? imHofe des Gouverneurhauses! In Wirkl ichkei t aber fuhr Wosduchow ineiner Droschke zum Qouverneur, um sich zu beschweren — das ist einefestgestellte Tatsache. Worüber beschwerte er sich? Der Aufseher desGouverneurhauses, Pt izyn, sagt , Wosduchow habe sich über i rgendeineDampferstation beschwert, auf der man ihm eine Fahrkarte verweigerthabe (?). Der Zeuge Muchanow, der Polizeioffizier des Reviers war, indem W osduchow geprügel t w urde ( jetz t is t er Lei ter des G ouvernem ents-gefängnisses in der Stadt Wladimir), erklärt , er habe von der Frau Wos-

* Niemand aber kümmerte sich darum, die Sache möglichst rasch vor Ge-richt zu bringen. Trotz der außerordentlichen Einfachheit und Klarheit desFalls wurden die Vorgänge des 20. April 1899 erst am 23. Januar 1901 vorGericht behandelt. Ein schnelles, gerechtes und gnädiges Gericht!

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Zufällige Notizen 397

duchows gehört, sie und ihr Mann hätten zusammen gezecht und wären

in 'Nishni-'Nowgorod sowohl von der 7lußpolizei als audb im PolizeirevierRosbdestwenski geschlagen worden, worüber Wosduchow sido beim Qou-verneur habe beschweren wollen. Trotz des offenbaren Widerspruchs inden Aussagen dieser Zeugen trifft das Gericht absolut keine Maßnahmenzur Klärung der Frage. Im Gegenteil: Jeder hätte das volle Redit, dieSchlußfolgerung zu ziehen, daß das Gericht nicht gewillt ist, diese Fragezu klären. Die Frau Wosduchows war Zeugin vor Gericht, aber niemandmachte Anstalten, sie zu fragen, o b sie und ihr Mann wirklich in mehre-ren Polizeirevieren von Nishni-Nowgorod geprügelt worden seien, unter

welchen Umständen sie verhaftet wurden, in welchen Räumen sie ge-schlagen wurden, wer sie geschlagen habe, ob ihr Mann sich wirklichbeim Gouverneur beschweren wollte, ob ihr Mann noch mit anderen vondieser Absicht gesprochen habe? Der Zeuge Ptizyn, der als Beamter derGouverneurskanzlei sehr wahrscheinlich nicht geneigt war, von dem nichtbetrunkenen Wosduchow — der aber doch zur Ernüchterung in Haft ge-nommen werden mußte! — eine Beschwerde über die Polizei entgegen-zunehmen, und dem betrunkenen Polizisten Schelemetjew den Auftraggab, den Beschwerdeführer zur Ernüchterung auf die Polizeiwache zu

führen, dieser interessante Zeuge wurde nicht ins Kreuzverhör genom-men. Der Droschkenkutscher Krainow, der Wosduchow zum Gouver-neur gefahren hatte und ihn dann auf die Wache fuhr, wurde ebenfallsnicht befragt, ob Wosduchow ihm nicht gesagt habe, warum er zum Gou-verneur fahre, was er eigentlich Ptizyn gesagt und ob nicht sonst irgendjemand das Gespräch mit angehört habe? Das Gericht begnügt sich mitder Verlesung der kurzen Aussage des nidit erschienenen Zeugen Krai-now (der bestätigte, daß Wosduchow nicht betrunken, sondern nur einwehig angeheitert wa r), und der stellvertretende S taatsanwalt denk t nichtim geringsten daran, dafür zu sorgen, daß dieser wichtige Zeuge vor Ge-richt erscheint. Wenn man in Betracht zieht, daß Wosduchow Unteroffi-zier der Reserve war, also ein Mensch, der schon etwas vom Leben ge-sehen hat und G esetze und Verordnungen ein wenig kannte, da ß er sogarnach den letzten tödlichen Schlägen den anderen Inhaftierten sagte: „Ichwerde mich beschweren" — so wird es mehr als wahrscheinlich, daß ertatsächlich zum Gouverneur gekommen war, um sich über die Polizei zu

" beschweren, daß der Zeuge Ptizyn log, um die Polizei zu schützen, daß

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398 rW.1 Lenin

die Lakaien von Richtern und der Lakai von Staatsanwalt diese peinliche

Geschichte nicht aufklären wollten.Weiter. Warum und wofür ist Wosduchow geprügelt worden? Die

Anklageschrift stellt das wiederum so dar, wie es am günstigsten i s t. .. fürdie Angeklagten. Der „Anlaß zu der Mißhandlung" bestand angeblichdarin, daß Schelemetjew sich die Hand verletzt hatte, als er Wosduchowin die Wachstube stieß. Die Frage ist nun, warum man Wosduchow, dermit Schelemetjew und Panow ruhig gesprochen hatte (nehmen wir an,daß man ihn unbedingt hineinstoßen mußte!), nicht in die Arrestantenzelle,sondern zuerst in die Wachstube hineinstieß? Er wird zur Ernüchterung

eingeliefert — in der Arrestantenzelle befinden sich bereits einige Betrun-kene —, später wird auch Wosduchow dorthin gebracht, warum also stößtSchelemetjew den Wosduchow, nachdem er ihn Panow „vorgestellt" hat,in die Wachstube'! Es ist offensichtlich, daß dies eben m it der Absicht ge-schieht, ihn zu verprügeln. In der Arrestantenzelle sind noch andere da,in der Wachstube wird Wosduchow allein sein, Schelemetjew aber werdenseine Kollegen und Herr Panow, dem zu dieser Stunde das erste Polizei-revier „anvertraut" ist, zu Hilfe kommen. Die Mißhandlung war alsonicht durch einen Zufall veranlaßt, sondern erfolgte in vorbedachter Ab-

sicht. Es läßt sich von zwei Dingen nur eins annehmen: Entweder bringtman alle, die zur Ernüchterung nach der Polizeiwache gebracht werden(auch wenn sie sich durchaus anständig und ruhig verhalten) zunächstzur „Belehrung" in die Wachstube, oder aber man brachte Wosduchowdorthin und verprügelte ihn, eben weil er zum Qouverneur gefahren war,um sido über die Polizei zu beschweren. Die Zeitungsberichte über denProzeß sind so kurz, daß es schwer ist, sich kategorisch für die letztereAnnahme (die durchaus nicht unwahrscheinlich ist) auszusprechen, aberdie Voruntersuchung und das Gerichtsverfahren hätten diese Frage natür-

lich gründlich klären können. Das Gericht hat dieser Frage selbstverständ-lich keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet. Ich sage „selbstverständlich",denn die Gleichgültigkeit der Richter spiegelt hier nicht nur den bürokra-tischen Formalismus wider, sondern auch einfach den spießbürgerlichenStandpunkt des russischen Menschen. „Was ist das schon Besonderes! Einbetrunkener Bauer wurde auf der Polizeiwache totgeschlagen! Bei unspassieren noch ganz andere Dinge!" Und der Durchschnittsbürger weisteuch auf Dutzende Fälle hin, die noch viel empörender sind und bei denen

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Zufällige Notizen 399

die Schuldigen dazu noch straflos davonkamen. Die Hinweise des Durch-

schnittsbürgers sind ganz richtig, trotzdem aber ist er völlig im Unrecht,und durch seine Betrachtungsweise offenbart er nur seine grenzenlosespießbürgerliche Kurzsichtigkeit. Sind nicht gerade deshalb unvergleichlichempörendere Fälle polizeilicher Brutalität bei uns möglich, weil diese Bru-talität die tagtägliche und ganz gewöhnliche Praxis in jedem beliebigenPolizeirevier ist? Und ist unsere Entrüstung über Ausnahmefälle nichtgerade darum ohnmächtig, weil wir die „normalen" Fälle mit gewohnterGleichgültigkeit betrachten?—weil wir auch dann nicht aus unserer Gleich-gültigkeit gerissen werden, wenn eine so gewohnte und gewöhnliche Er-

scheinung wie die Mißhandlung eines betrunkenen (angeblich betrunke-nen) „Mushiks" im Polizeirevier bei diesem Mushik (der solche Dingedoch wohl gewohnt sein müßte) Protest hervorruft, bei diesem Mushik,der den unverschämten Versuch, dem Gouverneur eine untertänigste Be-schwerde zu überreichen, mit seinem Leben bezahlen mußte?

Es gibt noch einen anderen Grund, der es nicht gestattet, an diesem,ganz gewöhnlichen Fall vorbeizugehen. Es ist bereits seit langem ausge-sprochen worden, daß der vorbeugende Sinn der Strafe keineswegs inihrer Härte, sondern in ihrer Unabwendbarkeit liegt. Es ist nicht wichtig,

daß ein Verbrechen eine schwere Strafe nach sich zieht, wichtig ist aber,daß kein einziges Verb rechen una uf gedeckt ble ibt. Von dieser Seite betrac h-tet, ist dieser Prozeß gleichfalls nicht ohne Interesse. Gesetzwidrige undbarbarische Miß hand lung en auf der Polizei kom men im Russischen Reiche— man kann das ohne Übertreibung sagen — täglich und stündlich v or. *

* Diese Zeilen waren bereits geschrieben, als die Zeitungen eine weitereBestätigung für die Richtigkeit dieser Behauptung brachten. Am anderen EndeRußlands, in Odessa, einer Stadt, die den Rang einer Hauptstadt hat, sprachder Friedensrichter einen gewissen M. Klinkow frei, der auf Grund eines Pro-

tokolls des Reviervorstehers Sadukow angeklagt worden war, während seinerHaft im Revier randaliert zu haben. Vor Gericht erklärten der Angeklagte undseine vier Zeugen folgendes: Sadukow hatte M. Klinkow in betrunkenem Zu-stand festgenommen und zur Wache gebracht. Als Klinkow wieder nüchterngeworden war, verlangte er seine Freilassung. In Erwiderung hierauf packte ihnein Polizist am Kragen und begann ihn zu schlagen, dann kamen noch dreiPolizisten, und alle vier mißhandelten ihn, schlugen ihn ins Gesicht, auf denKopf, auf die Brust und in die Seiten. Unter diesem Hagel von Schlägen stürzteKlinkow blutüberströmt zu Boden, und darauf begann man den am Boden

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400 TV.J.Cenin

Aber nur ganz ausnahmsweise und in den seltensten Fällen kommt es zu

Gerichtsverhandlungen. Das ist gar kein Wunder, denn der Verbrecherist ja dieselbe Polizei, die in Rußland mit der Aufdeckung von Verbrechenbe trau t ist. Da s aber verpflichtet u ns, mit um so größere r, wen n auch nichtüblicher Aufmerksamkeit die Fälle zu betrachten, in denen das Gerichtgezwungen ist, den Vorhang zu lüften, der diese übliche Sache verhüllt.

Man beachte zum Beispiel, wie die Polizisten prügeln. Sie sind ihrerfünf oder sechs, sie arbeiten mit bestialischer Grausamkeit, viele sind be-trunken, alle haben Säbel. Aber kein einziger versetzt jemals seinemOpfer einen Schlag mit dem Säbel. Sie sind erfahrene Leute und wissen

sehr gut, wie man prügeln muß. Ein Schlag mit dem Säbel ist ein Schuld-bewe is, schlägt man aber m it den Fäusten — dan n gehe einer hin undbeweise, daß man ihn auf der Polizei verprügelt hat. „Ist bei einer Schlä-gerei verprügelt un d als Verprüg elter in Ge wah rsam genomm en w ord en" —

und keiner kann einem was am Zeuge flicken. Sogar in diesem Prozeß,wo zufällig der Betreffende zu Tode geprügelt worden ist („Was zumTeufel mußte er denn sterben; der Kerl sah so gesund aus, wer konntedas erwarten?") , mußte die Anklage durch Zeugenaussagen den Nach-weis führen, daß „Wosduchow bis zu seiner Einlieferung ins Polizeirevier

völlig gesund gewesen ist". Offenbar haben die Mörder, die dauernd be-haupteten, sie hätten ja überhaupt nicht geschlagen, erklärt, daß er bereitsverprügelt war, als sie ihn aufs Polizeirevier brachten. In einer solchenSache aber Z eug en zu finden — ist eine unglaublich schwierige Angelegen-Liegenden mit noch größerer Wut zu schlagen. Wie Klinkow und seine Zeu-gen aussagten, war es Sadukow, der bei der Mißhandlung führend vorangingund die Polizisten anfeuerte. Der mißhandelte Klinkow verlor das Bewußtsein,und als er wieder zu sich kam, wurde er freigelassen. Klinkow ging sofort zueinem Arzt, der ihm ein Attest ausstellte. Der Friedensrichter erteilte Klinkowden Rat, sich beim Staatsanwalt über Sadukow und die Polizisten zu be-schweren, worauf Klinkow antwortete, er habe bereits beim Staatsanwalt

Beschwerde eingereicht, und zwanzig Personen würden seine Mißhandlungbezeugen.

Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, daß es M. Klinkownicht gelingen wird, ein Gerichtsverfahren gegen die Polizisten und ihre Ver-urteilung wegen Mißhandlung durchzusetzen. Man hatte ihn ja nicht zu Todegeprügelt — und wenn sie wider Erwarten doch verurteilt werden, so zu lächer-lichen Strafen.

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Zufällige 'Notizen 401

heit. Nur einem glücklichen Zufall ist es zu danken, daß das kleine Fen-

ster zwischen Arrestantenzelle und Wachstube nicht ganz verschlossenwar: zwar ist die Glasscheibe durch ein Blech mit eingebohrten Löchernersetzt, und die Löcher sind von der Wachstube aus mit Leder verhängt,steckt man aber einen Finger durch, so hebt sich das Leder, und man kannvon der Arrestantenzelle aus sehen, was in der Wachstube vorgeht. Nurdeshalb gelang es, vor Gericht den Verlauf der „Belehrung" völlig zureproduzieren. Eine solche Liederlichkeit aber wie ein nicht dicht ver-schlossenes Fenster konnte natürlich nur im vorigen Jahrhundert vor-kommen; im 20. Jahrhundert ist im ersten Kremlrevier von Nishni-Now-gorod das Fensterchen zwischen der Arrestantenzelle und der Wachstubenun bestimmt fest verschlossen... Sind aber keine Zeugen vorhanden,dann Gnade dem, der in die Wachstube gerät!

In keinem einzigen Lande gibt es eine solche Fülle von Gesetzen wiein Rußland. Wir haben Gesetze für alles. Es gibt auch besondere Vor-schriften über die Behandlung von Häftlingen, in denen ausführlich dar-gelegt wird, da ß als Haftlokal nur beson dere R äume, die einer besonderenAufsicht unterstehen, gesetzlich zulässig sind. Das Gesetz wird, wie mansieht, eingehalten: auf der Polizei besteh t eine besondere „Arrestanten-zelle". Bevor aber der Verhaftete in die Arrestantenzelle kommt, ist es„üblich", ihn in die „Wachstube" zu „stoßen". Und obwohl aus demMaterial des gesamten Prozesses klar h ervorgeht, d aß die Wachstube einewahre Folterkammer ist, dachte die Gerichtsbehörde gar nicht daran, die-ser Erscheinung ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Es sind wahrlidi niditdie Staatsanwälte, von denen wir erwarten dürfen, daß sie die Exzesseunserer Polizeiwillkür entlarven und sie bekämpfen!

Wir haben die Frage der Zeugen in solchen Prozessen berührt. Imgünstigsten Falle können nur Leute als Zeugen auftreten, die sich in denHänden der Polizei befinden; einem Außenstehenden wird es nur unterganz außergewöhnlichen Umständen gelingen, eine polizeiliche „Beleh-rung" im Revier zu beobachten. Die Zeugen aber, die sich in den Händender Polizei befinden, können von dieser beeinflußt werden. So war esauch in diesem Fall. Der Zeuge F rolow, der sich währen d der M ordta t inder Arrestantenzelle befand, sagte bei der Voruntersuchung zunächst aus,Wosduchow sei sowohl von den Polizisten als audi vom Reviervorstehergeprügelt worden; dann nahm er die Beschuldigung gegen den Revier-

% Lenin, W erke , Bd. 4

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402 W.J. Lettin

Vorsteher Panow zurück; vor Gericht aber erklärte er, niemand von der

Polizei habe Wosduchow geschlagen, Semachin und Barinow (andereHäftlinge, die als Hauptbelastungszeugen auftraten) hätten ihn aufge-hetzt, gegen die Polizei auszusagen, die Polizei habe ihn nicht beeinflußtund nicht instruiert. Die Zeugen Fadejew und Antonowa sagten aus, nie-mand in der Wachstube habe Wosduchow auch nur mit einem Fingerbe rüh rt: do rt hätten alle ruhig und still gesessen, und S treit habe es über-haupt nicht gegeben.

Wie man sieht, wieder eine ganz übliche Erscheinung. Und die Ge-richtsbehörde behandelt sie wieder mit gewohntem Gleichmut. Es gibt ein

Gesetz, das falsche Aussagen vor Gericht ziemlich streng bestraft; dieEröffnung eines Verfahrens gegen die beiden falschen Zeugen würdenoch mehr Licht auf die brutale Willkür der Polizei werfen, gegen diejedermann fast völlig wehrlos ist, der das Unglück hat, in die Klauen derPolizei zu geraten (dieses Unglück aber trifft regelmäßig und ständigHunderttausende aus dem „einfachen" Volk) — das Gericht aber denktnur an die Anwendung dieses oder jenes Paragraphen, keineswegs aberan diese Wehrlosigkeit. Diese Einzelheit des Prozesses beweist ebensoklar wie alle übrigen, was das für ein allumspannendes und starkes N etz,was für ein verschlepptes Erbübel es ist, von dem man sich nur befreienkann, wenn man sich von dem ganzen System der unumschränkten poli-zeilichen Willkürherrschaft und der völligen Rechtlosigkeit des Volkesbefreit.

Vor fünfunddreißig Jahren passierte einem bekannten russischen Schrift-steller, F. M. Reschetnikow, eine unangenehme Geschichte. Er ging inPetersburg ins Adelshaus, weil er irrigerweise glaubte, daß dort ein Kon-zert stattfinde. Die Polizisten ließen ihn nicht hinein und schrien ihn an:„Wohin willst du? wer bist du?" „Ein Arbeiter!" antwortete der wütendgewordene F. M. Reschetnikow grob. Die Folge dieser Antwort — erzähltGl. Uspenski—war, daß Reschetnikow auf dem Revier übernachten mußteund von dort verprügelt sowie ohne Geld und Ring wieder herauskam.„Ich bringe das Euer Exzellenz zur Kenntnis", schrieb Reschetnikow inseiner Eingabe an den Petersburger Polizeipräsidenten. „Ich verlangenichts. Nur mit einer Angelegenheit wage ich, Sie zu belästigen, daß diePolizeioffiziere, die Wachtmeister, ihre Helfer und die Polizisten dasVolk nicht schlagen... Dieses Volk muß ohnehin viel einstecken."127

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Zufällige Notizen 403

Der bescheidene Wunsch, mit dem vor bereits so langer Zeit ein russi-

scher Schriftsteller den Chef der hauptstädtischen Polizei zu belästigensich erdreistete, ist bis auf den heutigen Tag unerfüllt geblieben und bleibtunerfüllbar unter unseren politischen Verhältnissen. Aber die Blicke jedesehrlichen Menschen, dem es unerträglich ist, die Bestialitäten und Gewalt-taten noch länger anzusehen, lenkt jetzt eine neue machtvolle Bewegungim Volke auf sich, die ihre Kräfte sammelt, um jede Bestialität vom russi-schen Boden fortzufegen und die besten Ideale der Menschheit zu ver-wirklichen. In den letzten Jahrzehnten ist der Haß gegen die Polizei inden Massen des einfachen Volkes um ein Vielfaches gewachsen und er-

starkt. Die Entwicklung des städtischen Lebens, das Anwachsen der Indu-strie, die Verbreitung elementarer Bildung, all das hat auch in den un-wissenden Massen den Drang nach einem besseren Leben und das Be-wußtsein ihrer Menschenwürde geweckt, die Willkür und Brutalität derPolizei aber ist dieselbe geblieben. Zu ihrer Brutalität hinzugekommenist nur eine noch größere Raffiniertheit in der Bespitzelung und Verfol-gung des neuen, des gefährlichsten Feindes: all dessen, was das Licht derErkenntnis der eigenen Rechte und den Glauben an die eigene Kraft insVolk trägt. Durch dieses Bewußtsein un d diesen Glauben befruchtet, wirdder H aß des Volkes seinen Ausweg finden nicht in wilder Rache, sondernim Kampf für die Freiheit.

II . W A R U M D E N W A N D E L D E R Z E I T E N

B E S C H L E U N I G E N ?

Die Adelsversammlung des Gouvernements Orjol hat ein interessantesProjekt beschlossen, und noch interessanter waren die Debatten über die-

ses Projekt.Es hande lt sich um folgendes. De r Adelsmarschall des G ouvernem ents,

M . A. Stachowitsch, erstattete einen Bericht, in dem er den Antrag stellte,mit der Finanzbehörde einen Vertrag zu schließen, wonach den Adligendes Gouvernements Orjol die Einnehmerposten überlassen werden sollen.Mit der Einführung des Branntweinmonopols werden im Gouvernement40 Posten für Einnehm er geschaffen, die die Gelder der staatlichen B rannt-weinläden einzuziehen haben. Die Geldeinnehmer erhalten 2180 Rubel

2 6 *

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4 0 4 IV.J. Centn

Entschädigung im Jahr (900 Rubel Gehalt, 600 Rubel Spesen und 680 Ru-

bel für einen bewaffneten Begleiter). Es wäre doch schön, wenn Adligediese Posten bekämen, zu diesem Zweck aber müßten sie ein Artelgründen und mit dem Fiskus einen Vertrag schließen. An Stelle der ge-forderten Kaution (3000 bis 500 0 Rubel) sollte m an in der ersten Z eitvon jedem Einnehmer 300 Rubel jährlich einbehalten und aus diesenGeldern einen Adelsfonds schaffen, der der Branntweinverwaltung Sicher-heit bietet.

Wie man sieht, ist das Projekt zweifellos praktisch und ein Beweisdafür, da ß unser höchster Stand eine außerordentlich feine Na se dafür hat,

wo man vom Staatskuchen etwas ergattern kann. Doch gerade dieser aufsPraktische gerichtete Sinn erschien vielen hochwohlgeborenen Gutsherrenübertriebe n, unanständ ig, eines Adligen unw ürdig . Es entbra nnten De batt enüber die Frage, in denen drei Standpunkte besonders klar hervortraten.

Der erste ist der Standpunkt des Praktizismus. Ernähren müsse mansich, der Adel leide Not. . . immerhin sei es eine Verdienstmöglichkeit . . .man könne den armen Adligen doch nicht die Hilfe versagen? Ja, undaußerdem könnten doch die Einnehmer die Enthaltsamkeit des Volkesfördern! Der zweite ist der Standpunkt der Romantiker. Im Branntwein-

ressort arbeiten, nur ein klein wenig höher stehen als ein Schnapsver-käufer, einfachen Lagerverw altern — „oft Pe rsonen aus den niederenStän den " — unterstellt sein!? — und es hagelte leidenschaftliche Redenüber die hohe Berufung des Adels. Gerade auf diese Reden wollen wireingehen, zunächst aber möchten wir noch auf den dritten Standpunkthinweisen — auf den der S taatsmän ner. Einerseits kön ne man nichtleugnen, daß die Sache gewissermaßen anstößig sei, anderseits müsseman aber zugeben, daß sie einträglich sei. Es sei jedoch möglich, sowohlKapital zu erwerben als auch die Unschuld zu wahren: der Leiter der

Akzisenverwaltung könne die Posten auch ohne Kaution besetzen, unddie betreffenden 40 Adligen kön nten auf Ersuchen des A delsmarschallsdes Gouvernements die Posten erhalten — ganz ohne Artel und Vertrag,sonst würde womöglich „der Innenminister den Beschluß suspendieren,um die Regeln der allgemeinen Staatsordnung aufrechtzuerhalten". Dieseweise Ansicht würde wahrscheinlich triumphiert haben, wenn der Adels-marschall nicht zwei außerordentlich wichtige Erklärungen abgegebenhätte: erstens sei der Vertrag bereits dem Rat des Finanzministers vor-

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Zufällige Notizen 405

gelegt worden, der ihn als durchführbar bezeichnet und sich im Prinzip

mit ihm einverstanden erklärt habe. Zweitens aber könne man „diesePosten durch ein Gesuch des Adelsmarschalls des Gouvernements alleinnicht erlangen". Und der Bericht wurde gebilligt.

Arme Romantiker! Sie haben eine Niederlage erlitten. Und sie hattenso schön geredet.

„Bisher hatte der Adel nur führende Positionen inne. Im Bericht aberwird vorgeschlagen, ein Artel zu gründen. Entspricht das der Vergangen-heit, der Gegenwart und der Zukunft des Adels? Falls dem Verkaufs-leiter eine Unterschlagung nachgewiesen wird, muß der Adlige laut Ein-

nehmergesetz den Platz h inter dem Ladentisch einnehmen. Lieber sterben,als einen solchen Posten bekleiden!"

Ach, du lieber Himmel, wieviel Edelmut doch im Menschen steckt!Lieber sterben, als mit Branntwein handeln! Mit Getreide handeln — ja ,das ist eine edle Beschäftigung, besonders in Jahren der Mißernte, woman sich auf Kosten der Hungernden bereichern kann. Eine noch edlereBeschäftigung aber ist es, mit Getreide Wucher zu treiben, es im Winterden hungernden Bauern auf die Sommerarbeit vorzuschießen und dieseArbeit dann weit unter den freien Preisen zu entlohnen. Gerade im zen-

tralen Schwarzerdegebiet, zu dem das Gouvernement Orjol gehört, trie-ben und treiben unsere Gutsbesitzer stets mit besonderem Eifer dieseüberaus edle Art von Wucher. Um aber den edlen und den unedlenWucher hübsch voneinander zu scheiden, muß man natürlidi möglichstlaut über die eines Adligen unwürdige Beschäftigung als Branntweinver-käufer schreien.

„Wir müssen streng unsere Berufung wahren, auf die in dem bekann-ten allerhöchsten Manifest hingewiesen wird — uneigennützig dem Volkezu dienen. Ein eigennütziger Dienst steht im Widerspruch dazu..." „Ein

Stand, der in der Vergangenheit solche Verdienste aufzuweisen hat wiedie Kriegsdienste seiner Ahnen, ein Stand, der die Last der großen Re-formen Kaiser Alexanders II. getragen hat, bietet die Gewähr dafür, daßer auch in Zukunft seine Pflichten dem Staate gegenüber erfüllen wird."

Jawohl, uneigennütziger Dienst! Verteilung von Grundherrensitzen,Belehnung mit besiedelten Kronländereien, d. h. die Verschenkung vonTausenden Desjatinen Land und von Tausenden Leibeigenen, die Bildungeiner Klasse von Großgrundbesitzern, die Hunderte, Tausende und Zehn-

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406 IV.1. Lenin

tausende Desjatinen Land besitzen und Millionen von Bauern durch ihre

Ausbeutung in völliges Elend bringen — das sind die Erscheinungsformendieser Uneigennützigkeit. Besonders hübsch aber ist die Berufung auf die„großen" Reformen Alexanders II. Nehmen wir beispielsweise die Bauern-befreiung — mit welcher Uneigennützigkeit haben unsere wohlgeborenenAdligen den Bauern das Fell über die Ohren gezogen: sie zwangen sie,ihr eigenes Land loszukaufen und dafür weit mehr zu zahlen, als derwirkliche Preis betrug, sie stahlen sich Bauernland in Form aller mög-lichen Boden„abschnitte", sie vertauschten ihre Sandböden, Schluchtenund ödländereien gegen guten Boden der Bauern, und jetzt haben sie

noch die Frechheit, sich dieser Heldentaten zu rühmen!„Etwas Patriotisches hat die Sphäre des Branntweingeschäfts nicht an

sich..." „Unsere Traditionen gründen sich nicht auf Rubel, sondern aufden Staatsdienst. Der Adel darf nicht zur Börse werden."

Die Trauben sind zu sauer! Der Adel „darf nicht" zur Börse werden,denn auf der Börse werden solide Kapitalien verlangt, die Herren Sklaven-halter von gestern haben aber alles bis auf den letzten Heller verjubelt.Für die breite Masse dieser Herren ist nicht die Verwandlung in eine Börse,sondern die Unterordnung unter die Börse, die Unterordnung unter den

Rubel längst zu einer vollzogenen Tatsache geworden. Und auf der Jagdnach dem Rubel beschäftigt sich der „höchste Stand" bereits seit langemmit so hochpatriotischen Geschäften wie die Erzeugung von Fusel, dieGründung von Zuckerfabriken und anderen Betrieben, die Teilnahme anallen möglichen Schwindelunternehmen in Handel und Industrie, dasAntichambrieren bei Vertretern der höchsten Hofsphären, bei Großfür-sten, Ministern usw. usf., um von ihnen Konzessionen und Regierungs-garantien für solche Unternehmen zu bekommen, um ihnen Almosen inForm von Begünstigungen für die Adelsbank, Prämien für die Zucker-

ausfuhr, Stückchen (in der Größe von Tausenden Desjatinen!) irgend-welchen baschkirischen Bodens, fette und warme „einträgliche Pöstchen"und dergleichen mehr abzubetteln.

„Die Ethik des Adels trägt die Spuren der Geschichte, der sozialenStellung..." — und die Spuren des Pferdestalls, wo sich der Adel in Ge-walttaten und Schändlichkeiten gegenüber dem Bauern übte, übrigens hatdie jahrhundertelange Gewohnheit des Herrschens in den Adligen auchetwas Feineres entwickelt: die Fähigkeit, ihre Ausbeuterinteressen in hoch-

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Zufällige Notizen 407

trabende Phrasen zu hüllen, die darauf berechnet sind, das unwissende

„gemeine Volk" hinters Licht zu führen. Man höre weiter:„Warum den W andel der Zeiten beschleunigen? M ag es auch ein Vor-urteil sein, aber die alten Traditionen erlauben es nicht, bei diesem Wan-del mitzuhelfen..."

In diesen Worten des Herrn Naryschkin (eines der Ratsmänner, dieden staatsmännischen Standpunkt vertraten) kommt ein richtiger Klassen-instinkt zum Ausdruck. Gewiß, die Angst vor dem Posten eines Ein-nehmers (oder sogar eines Branntweinverkäufers) ist heutzutage ein Vor-urteil, aber sind es denn nicht die Vorurteile der unwissenden Bauern-

massen, kraft deren sich die unerhört schamlose Ausbeutung der Bauerndurch die Grundbesitzer in unseren Dörfern hält? Die Vorurteile sterbenohnehin aus: warum also ihr Aussterben dadurch beschleunigen, daßman vor aller Welt den Adligen neben den Branntweinverkäufer stellt,daß man den Bauern durch diese Nebeneinanderstellung den (ohnehinbereits begonnenen) Prozeß der Erkenntnis jener einfachen Wahrheit er-leichtert, daß der adlige Gutsherr ein ebensolcher Wucherer, Räuberund Dieb ist wie irgendein Blutsauger des Dorfes, nur unvergleichlichviel stärker, stärker durch seinen Bodenbesitz, seine in Jahrhundertenentstandenen Privilegien, seine nahen Beziehungen zum zaristischenMachtapparat, seine Gewohnheit zu herrschen und seine Fähigkeit, seineJuduschka-Natur* in eine ganze Doktrin von Romantik und Großmutzu hüllen?

Jawohl, HeiT Naryschkin ist zweifellos ein Ratsmann, und aus seinemMund spricht staatsmännische Weisheit. Ich wundere mich nicht, daß der„Marschall" des Orjoler Adels ihm — mit einer Gewähltheit des Aus-drucks, die einem englischen Lord zur Ehre gereicht hätte — folgende Ant-wort erteilte:

„Den Autoritäten, die wir hier gehört haben, widersprechen zu wollen,wäre meinerseits eine Kühnheit, wenn ich nicht die Gewißheit hätte, daßich nicht gegen ihre Überzeugungen spreche, wenn ich mich gegen ihreMeinungen wende."

Jawohl, das ist richtig, und zwar in einem viel weiteren Sinne, als essich Herr Stachowitsch, der wirklich ungewollt die Wahrheit gesagt hat,

* Juduschka — Hauptfigur des Romans „Die Herren Golowljow" von Salty-kow-Schtschedrin. Der Tibers. .

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408 W.J.Lenin

vorstellen konnte. Die Herren Adligen haben alle die gleichen Ober-

zeugungen, von den Praktikern bis zu den Romantikern. Alle glaubenfest an ihr „heiliges Recht" auf Hunderte oder Tausende Desjatinen Land,das von ihren Vorfahren zusammengeraubt wurde oder mit dem sie vonRäubern belehnt worden sind, an das Recht, die Bauern auszubeuten unddie herrschende Rolle im Staate zu spielen, an das Recht auf die fettesten(wenn es nicht anders geht, aber auch weniger fetten) Stücke des Staats-kuchens, d. h. auf die Gelder des Volkes. Verschieden sind nur ihre Mei-nungen über die Zweckmäßigkeit einzelner Maßnahmen, und ihre Strei-tigkeiten bei der Erörterung dieser Meinungen sind ebenso lehrreich für

das Proletariat wie jeder andere häusliche Streit im Lager der Ausbeuter.Bei diesen Streitigkeiten tritt der Unterschied zwischen den gemeinsamenInteressen der ganzen Klasse der Kapitalisten oder der Grundbesitzer undden Interessen einzelner Personen oder einzelner Gruppen anschaulichzutage,- bei solchen Streitigkeiten wird nicht selten ausgeplaudert, was mansonst sorgfältig zu verbergen pflegt.

Außerdem aber wirft diese Orjoler Episode ein gewisses Licht auch aufden Cha rakter des berüchtigten Branntweinm onopols . Welche Segnungenhat nicht unsere offizielle und offiziöse Presse von ihm erhofft: Erhöhung

der Staatseinna hm en, Verbesserung des Erzeugnisses, Rückgang der Trun k-sucht! In Wirklichkeit aber ist bisher anstatt einer Erhöhung der Einnah-men nur eine Verteuerung des Branntweins eingetreten, ein Wirrwarr imStaatshaushalt, die Unmöglichkeit, die finanziellen Ergebnisse der ganzenOperation genau zu ermitteln; das Erzeugnis hat sich nicht verbessert,sonde rn verschlechtert, un d es wird der Regierung wo hl kaum gelingen, demPublikum mit der vor kurzem durch alle Zeitungen gegangenen Mitteilungübe r erfolgreiche Resultate der „Degusta tion" des neuen „Staatsschnapses"besonders zu imponieren. An Stelle eines Rückgangs der Trunksucht

hab en wir noch m ehr geheime Branntweinverkauf sstellen, erhöh te Einnah-m en de r Polizei aus diesen Verka ufsstellen, Eröffnung von Bran ntwein lädengegen den Willen der Bevölkerung, die gerade das Gegenteil verlangt*,

* Vor kurzem zum Beispiel teilten die Zeitungen mit, daß im Gouverne-ment Archangelsk einige Ortschaften schon im Jahre 1899 in Entschließungenforderten, bei ihnen keine Branntweinläden zu eröffnen. Die Regierung, diedort gerade jetzt das Branntweinmonopol einführt, antwortete natürlich ab-schlägig; offenbar, um für Mäßigkeit des Volkes beim Alkoholgenuß zu sorgen!

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Zufällige Notizen 409

und wachsende Trunkenheit auf den Straßen*. Die Hauptsache aber ist,

•welch neues gewaltiges Betätigungsfeld dem bürokratischen Despotis-mus und Willkürregiment, Kriechertum und Diebstahl durch die Schaffungeines neuen, in die Millionen gehenden Zweiges der fiskalischen Wirt-schaft, die Schaffung einer ganze n A rm ee von ne ue n Beam ten eröffnetwird! Es ist eine regelrechte Invasion ganzer Heuschreckenschwärmevon Beamten, die katzbuckeln, die intrigieren, stehlen, die Meere überM eere von Tinte und Berge von Pap ier verschreiben. Da s Orjoler Projektist nichts anderes als ein Versuch, das Bestreben, mehr oder wenigerfette Stückchen des Staatskuchens zu ergattern, in gesetzliche Formenzu kleiden, ein Bestreben, von dem unsere Provinz erfaßt wird unddas — angesichts der Se lbstherrlichkeit de r Beam ten und e iner zumSchweigen verurteilte n Öffentlichkeit — das La nd unw eigerlich miteiner Zunahme der Willkür und Korruption bedroht. Ein kleines Beispiel:Bereits im Herbst ging eine Notiz durch die Zeitungen über eine „Anek-dote aus der Bautätigkeit im Bereich des Branntweinmonopols". In Mos-kau werden drei Branntweinlager errichtet, die das ganze Gouvernementversorgen sollen. Für den Bau dieser Lager wurden vom Ministerium1 637 00 0 Rubel bewilligt. N un stellt sich aber hera us, da ß „ein Zu satz -kredit von zweieinhalb Millionen Kübel erforderlich ist"**. Die Amts-

personen, denen das Staatseigentum anvertraut war, haben hier offen-ba r etwas m ehr in ihre Taschen gesteckt als 50 Paar H osen un d einigePaar Stiefel!

* Wir wollen schon gar nicht davon reden, welche Menge Geld die Bauern-gemeinden durch das Staatsmonopol verloren haben. Früher erhoben sie vonden Besitzern der Branntweinläden Gebühren. Der Fiskus hat ihnen diese Ein-nahmequelle genommen, ohne sie auch nur mit einer einzigen Kopeke dafürzu entschädigen! In seinem interessanten Buch „Das hungernde Rußland"

(Reiseeindrücke, Beobachtungen und Untersuchungen. Von C.Lehmann undParvus, Stuttgart. Dietz Verlag. 1900) bezeichnet Parvus das mit Recht als eine'Beraubung der Qemeindekassen. Er berichtet, daß nach den Schätzungen desGouvernement-Semstwos von Samara die Bauerngemeinden dieses Gouverne-ments in drei Jahren (1895—1897) durch die Einführung des Branntweinmono-pols 3150 000 Rubel verloren!

** Hervorgehoben vom Verfasser. Siehe „St. Peterburgskije W edom osti"[Petersburger Nachrichten] Nr. 239 vom 1. September 1900.

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410 W J.Lenin

III. EINE OBJEKTIVE STATISTIK

Unsere Regierung pflegt ihren Gegnern — und zwar nicht nur denRevolutionären, sondern auch den Liberalen — tendenziöse Einstellungvorzuwerfen. Haben Sie zum Beispiel schon einmal Äußerungen der offi-ziellen Presse über die liberalen (natürlich legalen) Presseorgane gelesen?Das Organ des Finanzministeriums, der „Westnik Finansow" [Finanz-bote], brachte mitunter Presseübersichten, und jedesmal, wenn der Be-amte, der diese Presseübersichten redigierte, von der Stellungnahme einer

unserer liberalen (literarisch-publizistischen) Zeitschriften zum Staatshaus-halt oder zur Hungersnot oder zu einer Regierungsmaßnahme sprach,vermerkte er mit Entrüstung ihre „tendenziöse Haltung" und stellte ihreinen „objektiven Hinweis" nicht nur auf die „dunklen Seiten", sondernauch auf die „erfreulichen Erscheinungen" entgegen. Das ist selbstver-ständlich nur ein kleines Beispiel, aber es illustriert die übliche Haltungder Regierung, ihr übliches Streben, sich mit ihrer „Objektivität" zu brüsten.

Versuchen wir, diesen strengen und unparteiischen Richtern ein Ver-gnügen zu bereiten. Versuchen w ir es mit der S tatistik. Natürlich werden

wir nicht die Statistik dieser oder jener Tatsachen des öffentlichen Lebensnehmen: es ist bekannt, daß die Tatsachen sowohl von parteiischen Leutenregistriert als auch von mitunter entschieden „tendenziösen" Institutionen— wie die Semstwos — verallgemeinert werden. Nein, wir nehmen dieStatistik d e r .. . Gesetze. W ir erkühnen uns zu glauben, daß selbst von deneifrigsten Anhängern der Regierung kein einziger wagen wird zu behaup-ten, es könne etwas Objektiveres und Unparteiischeres geben als d ie Sta-tistik der Gesetze — als die einfache Zählung dessen, was die Regierungselbst verordnet, ganz unabhängig von allen Erwägungen über den Wider-

spruch zwischen Worten und Taten, zwischen Verordnung und Durch-führung usw.?

Kommen wir zu r Sache.Beim regierenden Senat wird bekanntlich eine „Sammlung der Verord-

nungen und Verfügungen der Regierung" herausgegeben, die periodischüber jede Maßnahme der Regierung berichtet. Eben dieses Material wol-len wir vornehmen und uns ansehen, worüber die Regierung Verordnun-gen und Verfügungen erläßt. Jawohl: Worüber. Wir erlauben uns keine

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Zufällige Notizen 411

Kritik an den obrigkeitlichen Geboten, wir wollen nur die Zahl „der-

selbigen" für das eine oder andere Gebiet errechnen. In den Januarzeitun-gen ist aus der genannten Regierungspublikation der Inhalt der Nr. 2905bis 2929 vergangenen Jahres und der Nr. 1 bis 66 des laufenden Jahresveröffentlicht worden. Insgesamt sind in der Zeit vom 29. Dezember 1900bis zum 12. Januar 1901 — gerade an der Grenzscheide zweier Jahr-hunderte — 91 Verordnungen und Verfügungen erlassen worden. IhremCharakter nach eignen sich diese 91 Gesetzesakte besonders gut für eine„statistische" Bearbeitung: wir finden unter ihnen keinerlei besonders her-vorragende Gesetze, nichts, was alles übrige völlig in den Hintergrund

drängte und der betreffenden Periode der inneren Verwaltung einen be-sonderen Stempel aufdrückte. Alle sind G esetzesakte von verhältnismäßiggeringer Bedeutung, die den laufenden, ständig und regelmäßig auftau-chenden Erfordernissen Genüge tun. Wir erblicken somit die Regierungin ihrem Alltagsgewand, das aber ist für uns eine weitere Garantie für dieObjektivität der „Statistik".

Von den 91 Gesetzesakten behandeln 34, d. h. über ein D rittel, einund denselben Gegenstand: die Verlängerung des Termins für die Ein-zahlung des Aktienkapitals oder der fälligen Beträge für die Aktien ver-

schiedener Handels- und Industriegesellschaften. Die Lektüre dieser Ver-fügungen ist den Zeitungslesern zu empfehlen, damit sie sich die Listeder Produktionszweige unserer Industrie und die Namen der verschiede-nen Firmen ins Gedächtnis rufen. Ganz analog ist der Inhalt der zweitenGruppe von Verfügungen: die Änderung der Statuten von Handels- undIndustriegesellschaften. Dazu gehören 15 Verfügungen, die die Statutender Teehandelsgesellschaft Gebrüder K. und S. Popow, der Gesellschaftzur Herstellung von Karton und Dachpappe A. Naumann & Co., der Ge-sellschaft zur H erstellung von Lederwaren sowie zum Vertrieb von Leder-,

Hanf- und Leinenwaren I. A. Ossipow & Co. usw. usf. reformieren. End-lich kommen zu den Verfügungen dieser Art noch 11 hinzu, von denensechs diese oder jene Bedürfnisse von Handel und Industrie befriedigen(Gründung einer 'Gesellschaftsbank und einer Vereinigung für gegen-seitige Kredite, Festsetzung der Preise für verzinsliche Wertpapiere, diebei Staatsaufträgen als Pfand hinterlegt werden, Bestimmungen für denVerkehr von Eisenbahnwagen, die Privatpersonen gehören, eine Instruk-tion für Makler der Getreidebörse in Borissoglebsk), während fünf Ver-

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412 W .l Lenin

Ordnungen sich damit beschäftigen, in vier Fabriken und einem Bergwerk

sechs neue Polizistenposten und zwei Posten für Wachtmeister der be-rittenen Landpolizei zu sdiaffen.Von den 91 Gesetzesakten also gelten 60, d. h. zwei Drittel, der un-

mittelbarsten Befriedigung der verschiedenen praktischen Bedürfnisse un-serer Kapitalisten und (zum Teil) deren Schutz gegen die Empörung derArbeiter. Die leidenschaftslose Sprache der Zahlen bezeugt, daß unsereRegierung, nach dem überwiegenden Charakter ihrer alltäglichen Verord-nungen und Verfügungen zu urteilen, ein treuer Diener der Kapitalistenist, der gegenüber der gesamten Kapitalistenklasse ganz die gleiche Rolle

spielt wie, sagen wir, irgendein ständiges Büro des Kongresses der Eisen-industriellen oder die Kanzlei des Syndikats der Zuckerfabrikanten gegen-über den Kapitalisten einzelner Produktionszweige. Gewiß, der Umstand,daß eine geringfügige Änderung im Statut irgendeiner Gesellsdiaft oderdie Verlängerung der Frist für die Bezahlung ihrer Aktien den Gegen-stand besonderer Gesetzesakte bildet, ist einfadi durch die Schwerfällig-keit unserer Staatsmaschinerie bedingt; eine kleine „Vervollkommnungdes Medianismus "*vürde genügen, um alles das von lokalen Institutionenerledigen zu lassen. Anderseits aber sind die Schwerfälligkeit des Mecha-

nismus, die übermäßige Zentralisierung, die Tatsadie, daß die Regierungin alles selber ihre Nase hineinstecken muß — sind all das allgemeine Er-scheinungen, die sich auf unser ganzes gesellschaftliches Leben erstrecken,also keineswegs nur auf die Handels- und Industriesphäre. Darum kanneine zahlenmäßige Nebeneinanderstellung der Gesetzesakte dieser oderjener Art durchaus ein annäherndes Bild von dem geben, woran unsereRegierung denkt, wofür sie sorgt und was sie interessiert.

Wenn zum Beispiel Privatgesellschaften nicht das moralisdi so ehren-volle und politisch so harmlose Ziel der Bereidierung verfolgen, so inter-

essiert sich unsere Regierung schon sehr viel weniger für sie (wenn mannicht das Bestreben, zu hemmen, zu verbieten, aufzulösen usw. für eineErsdieinungsform von Interesse halten will). In der „Beridits"periode —

der Schreiber dieser Zeilen ist Angestellter und hofft daher, daß der Leserihm den Gebrauch bürokratischer Ausdrücke verzeihen wird — wurdendie Statuten zweier Gesellschaften bestätigt (der Gesellschaft zur Unter-stützung notleidender Schüler des Knabengymnasiums in Wladikawkasund der Wladikawkaser Gesellsdiaft zur Veranstaltung von Ausflügen

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414 V.3. Lenin

Und das sind alle Gesetzesakte, in denen die „Fürsorge der Regierung

für das Volk" zum Ausdruck kommt. Ich habe sie, wie man sieht, nachden vorteilhaftesten Prinzipien gruppiert. Warum zum Beispiel ist dieGesellschaft für Hopfenbau keine kommerzielle Gesellschaft? Etwa nurdarum, weil man dort vielleicht manchmal nicht nur vom Kommerzredet? Oder die Schule für Viehwärter — wer kann eigentlich wissen,ob das wirklich eine Schule oder ob es nur ein vervollkommneter Vieh-stall ist?

Bleibt die letzte Gruppe von Gesetzesakten, in der die Fürsorge derRegierung für sich selbst zum Ausdruck kommt. Deren Zahl ist dreimal

so groß (22) wie die in den zwei vorhergehenden Rubriken. Hier habenwir eine Reihe administrativer Reformen, eine noch radikaler als die an-dere: die Umbenennung des Dorfes Platonowskoje in Nikolajewskoje;Änderung von Statuten, Personaletats, Bestimmungen, Listen, Tagungs-terminen (verschiedener Kreiskonferenzen) usw.; Gehaltserhöhung fürHebammen, die bei den Truppenteilen des kaukasischen Militärbezirkstätig sind,- Festsetzung der Mittel für das Beschlagen und die tierärztlicheBehandlung der Pferde der Kosakeneinheiten; Änderung des Statuts einerprivaten Handelsschule in Moskau, Bestimmungen über die Verteilung

des „Hofrat-Daniel-Samuilowitsch-Poljakow-Stipendiums" in der Koslo-wer Handelsschule. Ich weiß übrigens nicht, ob ich diese letzten Gesetzes-akte richtig klassifiziert habe : kommt in ihnen tatsächlich die Fürsorge derRegierung für sich selbst zum Ausdruck und nicht die Sorge für kommer-ziell-industrielle Interessen? Ich bitte den Leser um Nachsicht — dies istja,der erste Versuch einer Statistik der Gesetzesakte; bisher hat nochniemand versucht, dieses Wissensgebiet auf die Stufe einer strengen Wis-senschaft zu heben — niemand, nicht einmal die Professoren des russi-schen Staatsrechts.

Schließlich muß noch ein Gesetzesakt — sowohl seines Inhalts wegenals auch, weil er die erste Maßnahme der Regierung im neuen Jahrhundertist — als eine besondere, selbständige Gruppe behandelt werden.- die Ver-ordnung „über die Erweiterung der für die Entwicklung und Verbesse-rung der kaiserlichen Jagd bestimmten Waldungen". Ein großartiger,einer Großmacht würdiger Anfang!

Jetzt muß zur Kontrolle addiert werden. Ohne das kommt eine Stati-stik nicht aus.

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Zufällige Notizen 415

Ein halbes Hundert Verordnungen und Verfügungen, die einzelnen

komm erziellen und industriellen Gesellschaften und Unternehm ungen ge-widmet sind; etwa zwanzig administrative Umbenennungen und Um-gestaltungen; zwei neugegründete und drei reformierte Privatgesellschaf-ten; drei Schulen, die Gutsangestellte ausbilden; sechs Polizisten undzwei berittene Wachtmeister bei Betrieben. Kann man daran zweifeln,daß eine so reiche und vielseitige legislativ-administrative Tätigkeit un-serem Vaterland im 20. Jahrhundert einen raschen und unaufhaltsamenFortschritt sichert?

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ZWANGSREKRUTIERUNG VON 183 STUDENTEN*

A m 11. Januar veröffentlichten die Zeitungen ein Regierungskommu-nique des Ministeriums für Volksaufklärung über die Zwangsrekrutie-rung von 183 Studen ten der Kiewer Unive rsität wegen „gemeinsamer U n-ruhe stiftung ". Die provisorischen B estimm ungen vom 29 . Juli 1899 —diese D rohu ng gegen die Studentenschaft u nd die Gesellschaft — gelangennicht ganz anderthalb Jahre, nachdem sie er lassen wurden, zur Anwen-dung, und als hätte die Regierung Eile, sidi wegen der Verhängung dieserunerhörten Strafmaßnahme zu rechtfertigen, tr itt sie mit einem ganzen

Anklageakt hervor, worin bei der Darstellung der studentischen Misse-taten nicht mit Farben gespart wird.

Eine Missetat ist schrecklicher als die andere. Im Sommer der allge-meine Studentenkongreß in Odessa mit dem Programm, die gesamte rus-sische Studentenschaft zu organisieren, um ih rem Prote st gegen verschie-dene Erscheinungen des akademischen, öffentlichen und politischen LebensAusdruck zu verleihen. Wegen dieser verbrecherischen politischen Zielewurden sämtliche Studentendelegierten verhaftet und ihnen die Papiereabgenommen. Aber die Gärung legt sich nicht, sondern wächst an und

tritt an vielen Hochschulen beharrlich zutage. Die Studenten wollen ihregemeinsamen Angelegenheiten frei und selbständig erörtern und verwal-ten. Ihre vorgesetzte Behörde — von jenem seelenlosen Formalismus er-füllt, der die russische Beamtenschaft von alters her auszeichnet — ant-wo rtet mit kleinlichen Schikanen, steigert die Un zufrieden heit aufsäußerste und bringt, ohne es zu wollen, die Jugend, die noch nicht im

* Die Nummer war bereits umbrochen, als das Kommunique der Regierungerschien.

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Zwangsrekrutierung von 183 Studenten 417

Schlamm des bürgerlichen Dahinvegetierens versunken ist, auf den Ge-danken, gegen das gesamte System der Polizei- und Beamtenwillkür zuprotestieren.

Die Kiewer Studenten fordern die Entfernung eines Professors, der andie Stelle eines abgereisten Kollegen getreten ist. Die vorgesetzte Behördewidersetzt sich, treibt die Jugend zu „Zusam men rottungen un d Dem on-strationen" und. . . gibt nach. Die Studenten veranstalten eine Versamm-lung, um zu erörtern, warum solche Niederträchtigkeiten möglich sindwie die Vergewaltigung eines Mädchens durch zwei Studenten aus vor-nehmen Familien (so lautet das Gerücht). Die vorgesetzte Behörde verur-teilt die H au pt „schuldigen" zu Ka rzer . Diese lehnen es ab , sich zu fügen.Sie we rden ausgeschlossen. Eine M ensch enm enge begleitet die Ausgeschlos-senen demonstrativ zum Bahnhof. Eine neue Versammlung tr i t t zusam-men, die Studenten bleiben bis zum Abend und weigern sich fortzugehen,solange der Rektor nicht erscheint. Es erscheinen der Vizegouverneur undder Gendarmeriechef mit einem Trupp Soldaten, die die Universität um-stellen und in das Auditorium eindringen, und — der Rektor wird herbei-zitiert. Die Studenten fordern — man glaubt vielleicht eine Verfassung? —

nein, sie fordern, daß die Karzerstrafe nicht angewendet wird und dieAusgeschlossenen wieder aufgenommen werden. Die Teilnehmer der Ver-

sammlung werden aufgeschrieben und nach Hause entlassen.

Man überlege nur, welches erstaunliche Mißverhältnis besteht zwischender Bescheidenheit und Harmlosigkeit der Forderungen der Studenten unddem panischen Schrecken der Regierung, die vorgeht, als sei bereits dieAxt an die Wurzeln ihrer Herrschaft gelegt. Durch nichts verrät sich un-sere „allmächtige" Regierung so sehr wie durch diesen panischen Schrek-ke n. Besser als alle „verbrecherischen Au frufe" das kö nne n, zeigt siedam it — zeigt sie jedem, de r Augen h at, zu sehen , und O hre n, zuhören —, daß sie sich ganz unsicher fühlt und nur an die Kraft des Bajo-netts und der Knute glaubt, die sie vor der Volksempörung schützen.Durch jahrzehntelange Erfahrung gewitzigt, hat die Regierung sich festdavon überzeugt, daß sie von Zündstoff umgeben ist, daß das kleinsteFünkchen genügt, daß ein Protest gegen den Karzer hinreicht, um denBrand zu entfachen. Wenn dem aber so ist, so ist es auch klar, daß einExempel s tatuier t werden mußte: Hunderte von Studenten zwangsweiserekrutieren! „Statt Voltaire den Feldw ebel!" 1 2 8

— diese Formel ist keines-

27 Lenin, W erke, Bd. 4

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418 W. J.Lenin

wegs veraltet. Im Gegenteil, dem 20. Jahrhundert ist es beschieden, ihre

tatsächliche Verwirklichung zu erleben.Diese neue Straf maßnahm e, neu durch ihren Versuch, eine längst über-wundene Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, bringt einen auf vieleGedanken und Vergleiche. Vor etwa drei Generationen, zu den ZeitenNikolaus L , war die Zw angsrekrutierung eine natürliche S trafe, die durch-aus der ganzen Struktur der auf der Leibeigenschaft beruhenden russi-schen Gesellschaft entsprach. Die Adligen steckte man unter die Soldaten,um sie zum Militärdienst zu zwingen und damit sie sich als Ersatz fürdie Adelsfreiheit zum Offizier hinaufdienen. Den Bauern schickte man

zum Militär wie zu langjähriger Zwangsarbeit, wo die unmenschlicheFolter der „grünen Gasse"12 9 und dgl. mehr seiner harrten. Nun aberbesteht bei uns schon mehr als ein Vierteljahrhundert die „allgemeine"Wehrpflicht, deren Einführung seinerzeit als große demokratische Re-form gepriesen wurde. Eine allgemeine Wehrpflicht, die nicht bloß aufdem Papier steht, sondern wirklidi durchgeführt wird, ist zweifellos einedemokratische Reform: sie bricht mit dem Ständeprinzip und führt dieGleichberechtigung der Bürger ein. Wenn dem aber in der Tat so wäre,wie könnte dann die Einberufung zum Militär eine Strafe sein? Und be-weist die Regierung, wenn sie die Wehrpflicht in eine Strafe verwandelt,damit nicht, daß wir dem Rekrutenpressen viel näher stehen als der allge-meinen Wehrpflicht? Die provisorischen Bestimmungen von 1899 reißensogar denjenigen unserer Einrichtungen, die den europäischen am nächstenstehen, die Pharisäermaske ab und enthüllen ihr asiatisches Wesen. ImGrunde hat es bei uns nie eine allgemeine Wehrpflicht gegeben und gibtes sie auch jetzt nicht, denn die Privilegien der vornehmen Herkunft unddes Reichtums schaffen eine Menge Ausnahmen. Im Grunde gab und gibtes bei uns nichts, was einer Gleichberechtigung der Bürger beim Militär-dienst ähnlich sähe. Im Gegenteil, die Kaserne ist ganz und gar durch-drungen vom Geiste der empörendsten Rechtlosigkeit. Der Soldat ausder Bauernschaft oder der Arbeiterschaft ist völlig schutzlos, die Men-schenwürde wird mit Füßen getreten, Erpressungen sind an der Tages-ordnung, es hagelt Prügel, Prügel und noch einmal Prügel. Für diejenigenaber, die einflußreiche Beziehungen und Geld besitzen, gibt es Vergün-stigungen und Ausnahmen. Kein Wunder, daß die Auslieferung an dieseSchule der Willkür und Gewalttätigkeit eine Strafe sein kann, und sogar

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Zwangsrekrutierunc) von 183 Shtdenien 419

eine sehr schwere Strafe, die der Aberkennung der Bürgerrechte nahe-

kommt. Die Regierung rechnet darauf, in dieser Schule den „Rebellen"Disziplin beibringen zu können. Hat sie sich nicht verrechnet? Wirdnicht die Schule des russischen Militärdienstes zu einer Kriegsschule fürdie Revolution werden? Natürlich bringen nicht alle Studenten die Kraftauf, eine solche Schule bis zu Ende durchzumachen. Die einen zerbrichtdas schwere Joch des Drills, richtet der Zusammenstoß mit den militäri-schen Vorgesetzten zugrunde, einen anderen Teil — die Schwachen undSchlappen — schüchtert die Kaserne ein, die übrigen aber stählt sie, er-weitert ihren Horizont, bringt sie dazu, ihr Freiheitsstreben mit Hirn undHerz zu erfassen. Jetzt, wo ihre ganze Menschenwürde von dem Gut-dünken eines Feldwebels abhängt, der nicht selten mit Vorbedacht seinMütchen am „Gebildeten" kühlen mag, bekommen sie die Willkür undUnterjochung mit ganzer Kraft am eigenen Leibe zu spüren. Sie sehen,wie die Lage des einfachen Volkes in Wirklichkeit ist, alle Beschimpfun-gen und Gewalttätigkeiten, zu deren Zeugen man sie jeden Tag macht,nagen ihnen am Herzen, und sie begreifen, daß die Ungerechtigkeitenund Schikanen, unter denen die Studenten zu leiden haben, nur ein Trop-fen sind im Meer der Unterdrückung des Volkes. Wer das begreift, derverläßt den Militärdienst mit dem Hannibalschwur130, gemeinsam m it derfortgeschrittensten Klasse des Volkes für die Befreiung des Volkes vomDespotismus zu kämpfen.

Aber nicht minder empörend als die Grausamkeit der neuen Strafe istihr erniedrigender Charakter. Die Regierung erlaubt sich eine Heraus-forderung an alle, die noch ein Gefühl für Anstand besitzen, wenn sie diegegen Willkür protestierenden Studenten für einfache Radaumacher er-klärt — geradeso wie sie verbannte streikende Arbeiter für Leute mitlasterhaftem Lebenswandel erklärt hat. Man sehe sich das Kommunique

der Regierung an: es strotzt von Worten wie Ruhestörung, Krawall, Aus-schreitungen, Unverfrorenheit, Zügellosigkeit. Einerseits werden verbre-cherische politische Ziele und politische Protestbestrebungen konstatiert,anderseits werden die Studenten als gewöhnliche Radaumacher, denenDisziplin beigebracht werden muß, behandelt. Das ist eine Ohrfeige fürdie öffentliche Meinung Rußlands, deren Sympathien für die Studenten-schaft der Regierung sehr wohl bekannt sind. Und die einzig würdigeAntwort der Studentenschaft darauf wäre, die Drohung der Kiewer wahr

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zu machen: die Organisierung eines konsequenten und standhaften

Streiks aller Studierenden an allen Hochschulen mit der Forderung nachAufhebung der provisorischen Bestimmungen vom 29. Juli 1899.Aber nicht nur die Studentenschaft ist verpflichtet, der Regierung eine

Antwort zu erteilen. Die Regierung selbst hat dafür gesorgt, daß aus demerwähnten Ereignis'viel mehr als eine reine Studentenangelegenheit ge-worden ist. Die Regierung wendet sich an die öffentliche Meinung, alswollte sie sich ihres energischen Durchgreifens rühmen, als wollte siealles Freiheitsstreben verhöhnen. Und alle bewußten Elemente in allenSchichten des Volkes sind zu einer Antwort auf diese Herausforderung

verpflichtet, wenn sie nicht zu stummen Sklaven hinabsinken wollen, diejede Beleidigung schweigend hinnehmen. An der Spitze dieser bewußtenElemente aber stehen die fortgeschrittenen Arbeiter und die mit ihnen un-trennbar verbundenen sozialdemokratischen Organisationen. Die Arbei-terklasse erduldet ständig unermeßlich größere Unterdrückung und Be-schimpfungen durch dieselbe polizeiliche Willkürherrschaft, ljiit der dieStudenten jetzt so hart zusammengestoßen sind. Die Arbeiterklasse hatden Kampf um ihre Befreiung bereits aufgenommen. Und sie muß desseneingedenk sein, daß dieser gewaltige Kampf ihr gewaltige Verpflichtungen

auferlegt, daß sie sich nicht befreien kann, ohne das ganze Volk vom Des-potismus zu befreien, daß sie in erster Linie und vor allem verpflichtet ist,auf jeden politischen Protest zu reagieren und ihn auf jede Weise zuunterstützen. Die besten Vertreter unserer gebildeten Klassen haben be-wiesen und mit dem Blut Tausender von der Regierung zu Tode gequälterRevolutionäre besiegelt, daß sie fähig und bereit sind, den Staub der bür-gerlichen Gesellschaft von ihren Füßen zu schütteln und in die Reihender Sozialisten einzutreten. Und der Arbeiter, der gleichgültig zusehenkönnte, wie die Regierung ihre Truppen gegen die studierende Jugendschickt, wäre nicht würdig, sich Sozialist zu nennen. Der Student ist demArbeiter zu Hilfe gekommen — der Arbeiter muß dem Studenten zu Hilfekommen. Die Regierung will das Volk verdummen, wenn sie den Drangnach politischem Protest als einfache Ausschreitung hinstellt. Die Arbeitermüssen öffentlich erklären und den breitesten Massen auseinandersetzen,daß das eine Lüge ist, daß die wirkliche Brutstätte der Gewalttätigkeit,der Ausschreitungen und der Zügellosigkeit die russische autokratischeRegierung, die Willkürherrschaft der Polizei und der Beamten ist.

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Zwangsrekrutierung von i83 Studenten 421

Wie dieser Protest zu organisieren ist, das müssen die örtlichen sozial-

demokratischen Organisationen und Arbeitergruppen entscheiden. Ver-teilung, Au sstreuung un d Kleben von F lugblättern, Veran staltung von Ver-sammlungen, zu denen möglichst alle Gesellschaftsklassen eingeladenwerden sollten — das sind die am ehesten möglichen Formen des Prote-stes. Wo aber starke und festgefügte Organisationen bestehen, da wärees wünschenswert, es mit einem breiteren und offenen Protest vermittelseiner öffentlichen Demonstration zu versuchen. Als gutes Beispiel hierfürkann die Demonstration in Charkow am 1. Dezem ber des vergangenenJahres vor der Redaktion des „Jushny Krai" [Südregion] dienen. Man

feierte das Jubiläum dieses Schmutzblattes, das gegen jedes Streben nachLicht und Freiheit hetzt und alle Bestialitäten unserer Regierung verherr-licht. Vor der Redaktion versammelte sich eine Volksmenge, -die Exem-plare des „Jushny Krai" feierlich zerriß, sie Pferden an die Schwänzeband, Hunde darin einwickelte, Steine und Fläschchen mit Schwefel-wasserstoff in die Fenster warf und dabei rief: „Nieder mit der käuflichenPresse!" Wahrlich, solche Ehrungen verdienen nicht nur die Redaktionenkäuflicher Zeitungen, sondern auch alle unsere Regierungsinstitutionen.Ein Jubiläum obrigkeitlicher Huld feiern sie nur selten — das Jubiläumdes Volksstrafgerichts verdienen sie jederzeit. Jede Äußerung von Re-gierungswillkür und Gewalttätigkeit ist ein berechtigter Anlaß für einesolche Demonstration. Und so möge die offene Deklaration der Regie-rung, mit der sie ihr Strafgericht gegen die Studenten bekanntgegebenhat, nicht ohne eine offene Antwort von seiten des Volkes bleiben!

Qesdhrieben im Januar 1901.

Veröftentlidbt im lebruar 1901 "Nadb dem 7ext der „Iskra".in der „Jskra" Nr. 2.

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A R B E I T E R P A R T E I U N D B A U E R N S C H A F T 1 3 1

Vierzig Jahre sind seit der Bauernbefreiung verstrichen. Es ist ganznatürlich, daß unsere Öffentlichkeit mit besonderer Begeisterung den19. Februar feiert — den Tag, an dem das alte Rußland der Leibeigen-schaft zusammenbrach, an dem eine Epoche begann, die dem Volke Frei-heit und Wohlstand verhieß. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daßdie Lobeserhebungen der Festredner neben aufriditigem Haß gegen dieLeibeigenschaft und alle ihre Erscheinungsformen auch eine Menge Heu-chelei enthalten. Durch und durch heuchlerisch und verlogen ist die bei

uns landläufig gewordene Einschätzung der „großen" Reform als „Be-freiung der Bauern samt Grund und Boden mit "Hü je staatlichen Loskaufs".In Wirklichkeit handelte es sich um eine Befreiung der Bauern vom Grundund Boden, denn von den Bodenanteilen, die die Bauern jahrhundertelangbesessen hatten, wurden gewaltige Stücke abgeschnitten, und Hundert-tausende von Bauern verloren ihren Boden völlig oder wurden auf denViertelanteil oder Bettelanteil132 gesetzt. In Wirklichkeit wurden dieBauern doppelt ausgeplündert: nicht genug damit, daß man ihr Landbeschnitt, wurden sie audi noch gezwungen, für das Land, das seit jeher

in ihrem Besitz gewesen war und ihnen belassen wurde, „Ablösegelder"zu zahlen, wobei man den Ablösungspreis weit über dem wirklichenBodenpreis festsetzte. Die Gutsherren selbst gestanden zehn Jahre nachder Befreiung den Regierungsbeamten, die die Lage der Landwirtschaftuntersuchten, daß man die Bauern gezwungen hatte, nicht nur ihren Bo-den, sondern auch ihre Freiheit zu bezahlen. Aber auch nachdem manden Bauern für ihre persönliche Freiheit die Loskaufzahlung abgenom-men hatte, wurden sie doch nicht zu freien Menschen gemacht: sie blie-

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Arbeiterpartei und üauernsdiaft 423

ben noch für zwanzig Jahre hindurch zeitweilig verpflichtet133, sie blie-ben — und bleiben bis auf den heutigen Tag — der niedere Stand, der mitRuten gepeitscht wird, der besondere Abgaben zahlt, der nicht das Rechthat, frank und frei die halb auf Leibeigenschaft beruhende Dorfgemeindezu verlassen, frei über sein Land zu verfügen, sich frei an einem beliebi-gen Ort des Staates anzusiedeln. Nicht von Großmut der Regierung zeugtunsere Bauernreform; im Gegenteil, sie ist eines der größten geschicht-lichen Beispiele dafür, wie besudelt jede Sadie aus den Händen der auto-kratischen Regierung hervorgeht. Unter dem Druck der militärischenNiederlage, furchtbarer finanzieller Schwierigkeiten und bedrohlicherBauernempörungen war die Regierung geradezu gezwungen, die Bauernzu befreien. Der Zar selbst gestand, daß man von oben befreien mußte,ehe von unten mit der Befreiung begonnen wurde. Aber als die Regierungan die Befreiung ging, tat sie alles mögliche und unmögliche, um dieGier der „benachteiligten" Fronherren zu befriedigen; die Regierungmachte nidit einmal vor der Niedertracht halt, die Männer beiseite zusdiieben, die berufen waren, die Reform zu verwirklichen, obwohl auchsie aus dem Adel genommen waren! Die zuerst bestellten Friedensrichterwurden entlassen und durdi Leute ersetzt, die auch dann nicht imstandewaren, den Fronherren nein zu sagen, wenn diese die Bauern bei derBodenvermessung betrogen. Und die große Reform konnte nicht verwirk-licht werden ohne militärisdie Exekutionen und ohne Ersdiießung vonBauern, die sich weigerten, die Urbarialurkunden1S 4 in Empfang zu neh-men. Kein Wunder, daß die besten Leute jener Zeit, die der Maulkorbder Zensur knebelte, diese große Reform mit dem Fluche des Schweigensaufnahmen...

Der vom Frondienst „befreite" Bauer ging aus den Händen des Refor-mators so eingeschüchtert, ausgeplündert, gedemütigt, so an seinen

Bodenanteil gefesselt hervor, daß ihm nidits übrigblieb, als „freiwillig"Frondienst zu leisten. So begann der Bauer das Land seines früherenHerrn zu bestellen, indem er seine eigenen, ihm geraubten, „abgesdinitte-nen" Landstücke „pachtete", sich schon im W inter auf Somm erarbeit ver-dingte, um so für seine hungernde Familie Getreide geliehen zu bekom-men. Abarbeit und Schuldkneditschaft — das war in Wirklichkeit die„freie A rbeit", für die der Bauer laut dem von einem jesuitischen Pfaffenverfaßten Manifest „Gottes Segen" erbitten sollte.

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424 W .l Centn

Und zu diesem Joch der Gutsherren, das erhalten blieb dank der Groß-

mut der Beamten, die die Reform gemacht und verwirklicht haben, istnoch das Joch des Kapitals hinzugekommen. Die Macht des Geldes, diez. B. sogar den französischen Bauern, der nicht durch eine klägliche, halb-schlächtige Reform, sondern durch eine mächtige Volksrevolution von derGewalt der Grundbesitzer befreit wurde, zu Boden gedrückt hat, dieseMacht des Geldes stürzte mit ihrer ganzen Schwere auf unseren nochhalbleibeigenen Bauern. Geld mußte um jeden Preis aufgetrieben wer-den: sowohl für die durch die wohltätige Reform noch vermehrtenAbgaben und für die Bodenpacht als auch für den Kauf der armseligen

Erzeugnisse der Fabrikindustrie, die die im bäuerlichen Haushalt selbsthergestellten Erzeugnisse zu verdrängen begannen, für den Kauf von Ge-treide usw. Die M ad it des Geldes hat die Bauernschaft nicht nur zu Bodengedrückt, sondern auch gespalten: die große Masse verarmte unaufhalt-sam und wurde zu Proletariern, während aus der Minderheit eine Hand-voll wenig zahlreicher, aber zäher Kulaken und wirtschaftlich starkerBauern hervorging, die sich der bäuerlichen Wirtschaft und der bäuer-lichen Ländereien bemächtigten und so die Kader der im" Entstehen be-griffenen Dorfbourgeoisie bildeten. Die ganzen seit der Reform vergan-genen vierzig Jahre stellen einen einzigen ununterbrochenen Prozeß dieserEntbauerung dar, einen Prozeß langsamen, qualvollen Hinsterbens. DerBauer wurde auf das Lebensniveau eines Bettlers herabgedrückt; er haustezusammen mit dem Vieh, kleidete sich in Lumpen, nährte sich vonMelde; der Bauer floh von seiner Scholle, sobald er nur einen Zufluchts-ort fand, er kaufte sich sogar von seinem Bodenanteil los, zahlte dem-jenigen Geld, der bereit war, seinen Boden, der mehr Abgaben erforderte,als er Einnahmen erbrachte, zu übernehmen. Die Bauern litten unter chro-nischem Hunger, und während der immer häufiger wiederkehrendenMißernten fielen sie zu Zehntausenden dem H unger und den Epidemienzum Opfer.

So stehen die Dinge bei uns auf dem Lande auch jetzt noch. Es fragtsich, wo der Ausweg zu suchen und mit welchen Mitteln eine Besserungder Lage des Bauern zu erreichen ist. Vom Joch des Kapitals kann sichdie Kleinbauernschaft nur befreien, wenn sie sich der Arbeiterbewegunganschließt und sie unterstützt in ihrem Kampf für die sozialistische Ge-sellschaftsordnung, für die Umwandlung des Grund und Bodens ebenso

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Arbeiterpartei und TSauernsdbaft 425

wie der übrigen Produktionsmittel (der Fabriken, Werke, Maschinen

usw.) in gesellschaftliches Eigentum. Ein Versuch, die Bauernschaft durchdie Verteidigung des Kleinbetriebs und Kleinbesitzes vor dem Ansturmdes Kapitalismus zu retten, würde bedeuten, die gesellschaftliche Ent-wicklung hutzlos aufzuhalten, den Bauern durch die Illusion eines auchunter der Herrschaft des Kapitalismus möglichen Wohlstands zu betrü-gen und die werktätigen Klassen dadurch zu entzweien, daß man derMinderheit auf Kosten der Mehrheit eine privilegierte Stellung einräumt.Das ist der Grund, weshalbdie Sozialdemokraten stets gegen so sinnloseund schädliche Einrichtungen kämpfen werden wie die Unveräußerlich-

keit der bäuerlichen Bodenanteile, die solidarische Haftung, das Verbotdes freien Ausscheidens aus der Dorfgemeinde und der freien Aufnahmevon Angehörigen beliebiger Stände in die Dorfgemeinde! Unser Bauerleidet jedoch, wie wir gesehen haben, nicht nur und nicht einmal so sehrunter dem Joch des Kapitals als unter dem Joch der Gutsherren undunter den Überresten der Leibeigenschaft. Ein rücksichtsloser Kampfgegen diese Fesseln, die die Lage der Bauernschaft maßlos verschlechternund sie an Händen und Füßen binden, ist nicht nur möglich, sondernauch notwendig im Interesse der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung

des Landes, denn die grenzenlose Armut, Unwissenheit, Rechtlosigkeitund Erniedrigung des Bauern drückt allen Verhältnissen in unseremVaterland den Stempel des Asiatentums auf. Und die Sozialdemokratiewürde ihre Pflicht nicht erfüllen, wenn sie diesem Kampf nicht alle undjede Unterstützung angedeihen ließe. Diese Unterstützung muß, kurzgesagt, darin zum Ausdruck kommen, daß der Klassenkampf ins Dorfgetragen wird.

Wir haben gesehen, daß im heutigen russischen Dorf Klassengegen-sätze von zweierlei Art nebeneinander bestehen: erstens zwischen den

Landarbeitern und den landwirtschaftlichen Unternehmern, zweitenszwischen der gesamten Bauernschaft und der gesamten Gutsbesitzer-klasse. Der erste Gegensatz entwickelt sich und wächst, der zweite wirdallmählich schwächer. Der erste gehört noch ganz der Zukunft an, wäh-rend der zweite in bedeutendem Maße bereits der Vergangenheit ange-hört. Und trotzdem ist für die russischen Sozialdemokraten in der Gegen-wart gerade der zweite Gegensatz von wesentlichster und praktisch größ-ter Bedeutung. Daß wir jeden sich bietenden Anlaß ausnutzen müssen,

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426 IV.T.Lenin

um in den landwirtschaftlichen Lohnarbeitern das Klassenbewußtsein zu

entwickeln, daß wir daher unsere Aufmerksamkeit auf die Übersiedlungvon städtischen Arbeitern ins Dorf (z. B. von M echanikern, die anDampfdreschmaschinen arbeiten usw.) und auf den landwirtschaftlichenArbeitsmarkt lenken müssen — das ist selbstverständlich, das ist für jedenSozialdemokraten ejn Axiom.

Aber unsere Landarbeiter sind noch zu fest mit der Bauernschaft ver-bunden, auf ihnen lastet noch zu sehr das Elend der gesamten Bauern-schaft, und daher kann die Bewegung der Landarbeiter weder jetzt nochin nächster Zukunft eine gesamtnationale Bedeutung erlangen. Aber die

Überreste der Leibeigenschaft hinwegzufegen, den Geist der ständischenRechtsungleichheit und der Erniedrigung von Dutzenden Millionen des„gemeinen Volkes" aus der gesamten russischen Staatsordnung auszu-rotten , das ist jetzt schon eine Frage von gesamtnationaler Bedeutung, undeine Partei, die Anspruch darauf erhebt, Vorkäm pfer der Freiheit zu sein,darf dieser Frage nicht ausweidien.

Das Elend des Bauern wird jetzt (in mehr oder minder allgemeinerForm) fast von allen zugegeben, die Redensart von den „Mängeln" derReform des Jahres 1861 und von der Notwendigkeit staatlicher Hilfe ist

zu einer Binsenwahrheit geworden. Unsere Pflicht ist es, darauf hinzu-weisen, daß dieses Elend eben die Folge der Unterdrückung der Bauern-schaft als Klasse ist, daß die Regierung die treue Beschützerin der Unter-drückerklassen ist, daß nicht die Hilfe der Regierung, sondern die Be-freiung von ihrem Joch, die Erkämpfung politischer Freiheit von den-jenigen angestrebt werden muß, die aufrichtig und ernstlich eine grund-legende Besserung der Lage der Bauern wünschen. Man spricht von derübermäßigen Höhe der Loskaufzahlungen, von der wohltätigen Maß-nahme der Regierung, durch die diese Zahlungen herabgesetzt und ge-

stundet wurden. Wir antworten darauf, daß diese Loskaufzahlungennichts anderes sind als eine durch gesetzliche Formen und bürokratischePhrasen bemäntelte Ausplünderung der Bauern durch die Gutsbesitzerund die Regierung, nichts anderes als ein Tribut an die Fronherren alsGegenleistung für die Freilassung ihrer Sklaven. Wir stellen die Forde-rung nach sofortiger und vollständiger Aufhebung der Loskaufzahlungenund des Fronzinses, wir fordern, daß dem Volk jene H underte von Millio-nen wiedergegeben werden, die die Zarenregierung jahrelang aus ihm

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Arbeiterpartei und Bauernsdhaft 427

herausgepreßt hat, um den Appetit der Sklavenhalter zu befriedigen. Man

spricht von der Landarmut der Bauern, von der Notwendigkeit staatlicherHilfe zwecks Erweiterung des bäuerlichen Bodenbesitzes. Wir antwortendarauf, daß gerade infolge der staatlichen Hilfe — Hilfe für die Gutsbe-sitzer natürlich — die Bauern in solcher Masse des für sie notwendigstenBodens beraubt wurden. Wir stellen die Forderung, den Bauern dieBoden„abschnitte" zurückzugeben, mittels deren die Zwangsarbeit, dieZinsarbeit, die Fronarbeit, d. h. in Wirklichkeit die alte Leibeigenenarbeitaufrechterhalten wird. W ir stellen die Forderung, Bauernkomitees zur Be-seitigung der empörenden Ungerechtigkeiten zu gründen, die die von der

Zarenregierung eingesetzten Adelskomitees an den zu befreienden Skla-ven begangen haben. Wir verlangen die Einsetzung von Gerichten, diedas Recht haben sollen, den maßlos hohen Bodenpreis herabzusetzen, dervon den die ausweglose Lage der Bauern ausnutzenden Gutsherren er-hoben wird — von Gerichten, vor denen der Bauer das Recht haben soll,diejenigen wegen Wuchers zu belangen, die sich die äußerste Not desanderen zunutze machen, um knechtende Abmachungen zu treffen. Wirwerden uns bemühen, stets und bei jedem Anlaß den Bauern klarzu-machen, daß Leute, die ihnen von Schutz oder Hilfe durch den heutigen

Staat sprechen, entweder Narren oder aber Scharlatane und ihre schlimm-sten Feinde sind, daß die Bauernschaft vor allem die Willkür und denDruck der Beamtendespotie loswerden muß, daß sie vor allem in jederHinsicht ihre völlige und unbedingte Gleichberechtigung mit allen anderenStänden , völlige Freizügigkeit, das Recht freier Verfügung über das Land,das Recht freier Verfügung in allen Angelegenheiten und über alle Ein-nahmen der Dorfgemeinde haben muß. Die alltäglichsten Tatsachen ausdem Leben eines beliebigen russischen Dorfes können stets tausendfachenAnlaß geben, im Sinne dieser Forderungen zu agitieren. Diese Agitationmuß von den örtlichen, konkreten, den dringendsten Nöten der Bauernausgehen, darf aber nicht bei diesen Nöten stehenbleiben, sondern mußständig den Gesichtskreis der Bauern erweitern, ständig ihr politischesBewußtsein entwickeln, ihnen den besonderen Platz aufzeigen, den dieGutsherren und die Bauern im Staate einnehmen, ihnen das einzige Mit-tel zur Erlösung des Dorfes von dem auf ihm lastenden Joch der Willkürund Unterdrückung zeigen — die Einberufung von Volksvertretern undden Sturz der Willkürherrschaft der Beamten. Albern und unsinnig ist

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428 TW. 1 . Centn

die Behauptung, die Forderung nach politischer Freiheit übersteige die

Fassungskraft der Arbeiter: nicht nur die Arbeiter, die Jahre des direktenKampfes gegen Fabrikbesitzer und Polizei durchgemacht haben, die stän-dig sehen, wie die Besten aus ihren Reihen willkürlich verhaftet und ver-folgt werden, nicht nur diese, vom Sozialismus bereits angesteckten Ar-beiter, sondern jeder aufgeweckte Bauer, der auch nur etwas über dasnachdenkt, was um ihn herum vorgeht, wird imstande sein, zu begreifenund zu erfassen, wofür die Arbeiter kämpfen, die Idee eines Semski Soborzu erfassen, der das ganze Land von der Allmacht der verhaßten Beamtenbefreien würde. Und die Agitation, die von den unmittelbaren und drin-

gendsten Nöten der Bauernschaft ausgeht, wird erst dann ihre Aufgabe— den Klassenkampf ins Dorf zu tragen — erfüllen können, wenn sie esversteht, mit der Aufdeckung dieses oder jenes „ökonomischen" Übelsstets bestimmte politische Forderungen zu verbinden.

Es fragt sich aber: Kann die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Forde-rungen wie die obengenannten in ihr Programm aufnehmen? Kann sie esübernehmen, unter den Bauern Agitation zu treiben? Wird das nicht da-zu führen, daß wir uns zersplittern und unsere ohnehin so wenig zahl-reichen revolutionären Kräfte von der wichtigsten und einzig sicheren

Route der Bewegung ablenken?Solche Einwände beruhen auf einem Mißverständnis. Jawohl, wir müs-

sen unbedingt in unser Programm Forderungen aufnehmen, die die Be-freiung unseres Dorfes von allen Überresten der Sklaverei zum Ziel ha-ben, Forderungen, die geeignet sind, den besten Teil der Bauernschaft,wenn nicht zu selbständigem politischem Kampf, so doch zu bewußterUnterstützung des Befreiungskampfes der Arbeiterklasse zu veranlassen.Wir würden einen Fehler begehen, wollten wir Maßnahmen verteidigen,die dazu angetan sind, die gesellschaftliche Entwicklung zu hemmen oder

die Kleinbauernschaft vor dem W achstum des Kapitalismus, vor der Ent-wicklung der Großproduktion künstlich zu schützen; aber ein noch ver-hängnisvollerer Fehler wäre es, wenn wir es nicht verstünden, die Ar-beiterbewegung zur Verbreitung derjenigen demokratischen Forderungenunter der Bauernschaft zu benutzen, die die Reform vom 19. Februar1861 nicht erfüllt hat, weil die Gutsbesitzer und Beamten diese Reformverzerrten. Solche Forderungen muß unsere Partei in ihr Programm auf-nehmen, wenn sie an der Spitze des ganzen Volkes den Kampf gegen die

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Arbeiterpartei und dauernsdiaft 429

Selbstherrschaft führen will.* Die Aufnahme solcher Forderungen setzt

jedoch keineswegs voraus, daß wir die aktiven revolutionären Kräfte ausder Stadt aufs Land rufen. Davon kann gar keine Rede sein. Es unter-liegt keinem Zweifel, daß alle kämpferischen Elemente der Partei nachden Städten und Industriezentren streben müssen, daß nur das Industrie-proletariat zu einem konsequenten und die Massen erfassenden Kampfgegen die Selbstherrschaft fähig ist, daß nur dieses Proletariat imstandeist, mit Erfolg solche Kampfmittel anzuwenden wie die Organisierungeiner öffentlichen Demonstration oder die Herausgabe einer regelmäßigerscheinenden und weitverbreiteten mit dem Volk verbundenen politi-

schen Zeitung. Nicht um überzeugte Sozialdemokraten aus der Stadt ab-zuziehen und aufs Land zu schicken, nicht um sie an das Dorf zu ketten,müssen wir die Bauernforderungen in unser Programm aufnehmen, nein,sondern um jenen Kräften, die nidot anders als auf dem Lande Verwen-dung finden können, Anleitung für ihre Tätigkeit zu geben, um für dieSache der Demokratie und des politischen Freiheitskampfes die Verbin-dungen mit dem Dorfe auszunutzen, die auf Grund der bestehenden Ver-hältnisse nicht wenige der Sozialdemokratie ergebene Intellektuelle undArbeiter haben und die mit dem Wachstum der Bewegung notwendiger-weise sich erweitern un d wachsen müssen. W ir sind schon längst über dasStadium hinaus, da wir ein kleiner Trupp von Freiwilligen waren, da sichdie ganze Reserve an sozialdemokratischen Kräften in Jugendzirkeln er-schöpfte, die Mann für Mann „zu den Arbeitern gingen". Unsere Be-wegung verfügt heute über eine ganze Armee, eine Armee von Arbeitern,die vom Kampf für den Sozialismus und für Freiheit erfaßt sind,- übereine Armee von Intellektuellen, die an der Bewegung teilgenommenhaben und weiter teilnehmen und gegenwärtig bereits über ganz Rußlandverstreut sind; über eine Armee von Sympathisierenden, die voller Glau-ben und Hoffnung auf die Arbeiterbewegung blicken und bereit sind, ihr

tausend Dienste zu erweisen. Und wir stehen vor einer großen Aufgabe:alle diese Armeen zu organisieren, sie so zu organisieren, daß wir im-

* Der Entwurf eines sozialdemokratischen Programms, der die obengenann-ten Forderungen in sich einschließt, ist von uns schon verfaßt worden. Wirhoffen, nach Erörterung und Umarbeitung dieses Entwurfs mit Unterstützungder Gruppe „Befreiung der Arbeit" den Entwurf eines Programms unsererParte i in einer der nächsten Nu mm ern veröffentlichen zu kön nen.

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430 TV.7. Lenin

Stande sind, nicht nur schnell vorübergehende Ausbrüche hervorzurufen,

dem Feinde nicht nur zufällige, vereinzelte (und daher nicht gefährliche)Schläge zu versetzen, sondern den Feind im unentwegten, zähen und kon-sequenten Kampf auf der ganzen Linie zu verfolgen, die autokratischeRegierung überall anzugreifen, wo sie Unterdrückung sät und Haß ern-tet. Läßt sich dieses Ziel aber erreichen, ohne in die Millionenmasse derBauernschaft den Samen des Klassenkampfes und des politischen Be-wußtseins zu tragen? Man sage nicht, es sei unmöglich, dies zu tun: es istnidit nur möglich, es geschieht bereits, es vollzieht sich auf tausend We-gen, die sich unserer Aufmerksamkeit und unserer Einwirkung entziehen.

Es wird unermeßlich schneller und umfassender vor sich gehen, wenn wireine Losung für diese Einwirkung zu geben vermögen und das Banner derBefreiung der russischen Bauernschaft von allen Überresten der schmach-vollen Leibeigenschaft entrollen. Das Landvolk, das in die Städte kommt,betrachtet schon heute mit Neugier und Interesse den ihm unverständ-lichen Kampf der Arbeiter und trägt die Kunde von diesem Kampf in dieentlegensten Gegenden. Wir können und müssen es erreichen, daß dieseNeugier unbeteiligter Zuschauer, wenn schon nicht einem vollen Ver-ständnis, so doch wenigstens der dämmernden Erkenntnis Platz macht,daß die Arbeiter für die Interessen des gesamten Volkes kämpfen unddaß diese Neugier von stets größer werdender Sympathie für ihren Kampfabgelöst wird. Dann aber wird der Tag des Sieges der revolutionären Ar-beiterpartei über die Polizeiregierung mit einer für uns selbst unerwar-teten und ungeahnten Geschwindigkeit herannahen.

Qesdhrieben im Februar 1901.

VeröftentUärt im April i90l SVad? dem 7ext der „Iskra".in der „Jskra" 2Mr. 3.

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ANMERKUNGEN

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1 Der Artikel „Zur 7rage unserer Jabrik- und W erkstatistik (Neue stati-stisdhe Jäten Professor Xary säiews)" wurde in dem Sammelband vonW . I. Lenin „ökonom ische Studien u nd A ufsätze" veröffentlicht, der imOktober 1898 erschien (auf Umschlag und Titelblatt des Sammelbands istdas Jahr 1899 angegeben), i

2 „Mir Boshi" (Die W elt Gottes) — literarische und populärwissenschaftlicheMonatsschrift liberaler Richtung, die von 1892 bis 1906 in Petersburg er-schien. Im Jahre 1898. veröffentlichte die Zeitschrift Lenins Rezension überA. Bogdanows „Kurzen Lehrgang der ökonomischen Wissenschaft". (Sieheden vorliegenden Band, S. 36.) Von 1906 bis 1918 erschien die Zeitschriftunter dem Titel „Sowremenny Mir" (Die Welt der Gegenwart). i7

3 SV.-on oder Nikolai-on (Pseudonyme für N. F. Danielson) — einer der Ideo-logen der liberalen Volkstümlerrichtung in den achtziger und neunzigerJahren des 19. Jahrhunderts. 17

4 Lenin meint sein Buch „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland".(Siehe W erke, Bd. 3.) ii

5 Die Ergebnisse der ersten allgemeinen Volkszählung des Russischen Reichsvom 28 . Jan uar (9. Februar) 1897 wurden in den Jahren 1897 bis 1905veröffentlicht. Lenin verarbeitete sie für die Neuauflage des Buches „DieEntwicklung des Kapitalismus in Rußland" im Jahre 1908. (Siehe Werke,Bd. 3.) 30

6 Siehe Karl Marx, „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1953, S. 774/775. 43

7 Xolonen — Pächter kleiner Bodenparzellen bei den Großg rundbesitzerndes alten Römischen Reichs. Für die Nutzung der Parzellen zahlten dieKolonen eine Abgabe in Naturalien oder Geld. Später wurden sie unter

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434 Anmerkungen

Ausnutzung ihrer Verschuldung von den Grundherren zu Leibeigenen ge-

macht. 438 Siehe Karl Marx, „Das Kapital" , Bd. III , Berlin 1953, S. 832-866. 43

9 W. W. (Pseudony m für W . P. Wo ronz ow ) — ein Ideologe der liberalenVolkstüm lerrichtung in den achtziger und neun zige r Jahre n des 19. Jah r-hunderts. 45

1 0 F ür „Mehrwert" gebraucht Lenin in den Arbeiten der neunziger Jahrenebeneinander die Ausdrücke „swerchstoimost" und „pribawotschnaja stoi-most". Später verwendet er nur noch den Ausdruck „pribawotschnaja stoi-most" .

In der Zeitschrift „Nautschnoje Obosrenije", in der die „Notiz zurFrage der Theorie der Märkte" zum erstenmal veröffentlicht wurde, er-setzte die Redaktion ohne Lenins Zustimmung den Ausdruck „stoimost"durch den Ausdruck „zennost". In einer Anmerkung zu dem Artikel „Nocheinmal zur Frage der Realisationstheorie" unterstrich Lenin schon damals,daß er mit der Redaktion in dieser Frage nicht einverstanden war. (Sieheden vorliegenden Band, S. 65.) 45

1 1 Siehe Karl Marx, „Das Kapital", Bd. II, Berlin 1953, S. 474/475. 47

12 Siehe Karl M ar x, „D as Ka pit al", Bd. III, Berlin 1953, S. 335/336 und

S . 886-907 . 47

w Siehe Karl Marx, „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1953, S. 272/273. 48

14 Siehe Kar l Ma rx , „ Das K apit al", Bd. III, Berlin 1953, S. 336. 49

15 Siehe Karl Marx, „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1953, S. 277-279. 49

16 Siehe Karl Ma rx , „ Da s Ka pit al", Bd. III, Berlin 1953, S. 528. 49

« Siehe Kar l Ma rx , „D as Ka pita l", Bd. II, Berlin 1953, S. 316. 50

1 8

Siehe Karl M arx , „Das K apita l" , Bd. II , Berlin 1953, S. 36 4- 39 2. 5119 Siehe Karl M ar x, „Da s Ka pita l", Bd. II, Berlin 1953, S. 18. 54

20 „TJautsdmoje Obosrenije" (Wissenschaftliche Revue).— Monatsschrift, diein Petersburg von 1894 bis 1903 erschien.

Lenin veröffentlichte in dieser Zeitschrift die Artikel „Notiz zur Frageder Theorie der Märkte", „Noch einmal zur Frage der Realisationstheorie"sowie „Eine unkritisch e Kri tik ". (S iehe den vorliege nden Band, S. 45—54und 64—83 sowie Werke, 4. Ausgabe, Bd. 3, S. 537—559, russ.) 54

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436 Anmerkungen

marxistische Philosophie und die ökonomische Lehre von Marx sowie seineLehre vom Klassenkampf und von der Diktatur des Proletariats einerRevision zu unterziehen. In Rußland waren die „legalen Marxisten", dieSozialrevolutionäre und die Menschewiki Anhänger des Neukantianertums.In seinem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus" unterzieht Lenindie reaktionäre Philosophie des Neukantianertums einer umfassendenKritik. 72

33 Lenin meint das 1895 in Petersburg legal erschienene Buch von G. W.Plechanow (N. Beltow) „Zur Frage der Entwicklung der monistischen Ge-schichtsauffassung" sowie ein weiteres Buch von ihm, „Beiträge zurGeschichte des Materialismus", das 1896 in Stuttgart in deutscher Sprache

herauskam. 723 4 Siehe Karl M ar x, „Das Kap ital", Bd. II, Berlin 1953, S. 474. 763 5 Siehe Karl M ar x, „D as Ka pital" , Bd. III, Berlin 1953, S. 885 . 773 6 Lenin meint seine Arbeit „Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung

und seine Kritik in dem Buch des Herrn Struve (Die Widerspiegelung desMarxismu s in der bürgerlichen Liter atur )". (Siehe We rke , 4. Ausgabe,Bd. 1,S. 315—484, russ.) SO

37 ^Majorat — Erbfolgeordnung für große Rittergüter, die sich in einigen kapi-

talistischen Ländern aus der Feudalzeit erhalten hat; beim Majorat gehtdas Gut ungeteilt an den ältesten Sohn des Erblassers bzw. den Ältestender Familie über. 87

s s „Sbisn" (D as Lebe n) — Monatsschrift, die von 1897 bis 1901 in Peters -burg, 1902 im Ausland erschien. Ab 1899 befand sich die Zeitschrift in denHänden der „legalen Marxisten". 95

3 9 Siehe Karl Marx, „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1953, S. 665/666. 1074 0 „TJidbtsalsfreihändler" (Free trad er) — An hän ger des Freihandels. In Eng-

land und Frankreich vertraten die Freihändler vorwiegend die Interessen

der industriellen Bourgeoisie. In den dreißiger und vierziger Jahren des19. Jahrhunderts waren die Industriellen von Manchester die Hauptstützedes Freihäridlertums in England, deshalb wurden die Freihändler auch„Manchesterleute" genannt. Theoretisch begründet wurde das Freihänd-lertum in den Schriften von A. Smith und D. Ricardo. 122

4 1 Es handelt sich um einen kritischen Artikel von Karl Marx über dieSchrift von E. de Gir ard in „L e socialisme et l'impot " („ De r Sozialismusund die Steuer"). (Siehe Gesammelte Schriften von Karl Marx und Fried-

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Anmerkungen 4 3 7

rieh Engels, 1841 bis 1850. Herausgegeben von Franz Mehring. Dri t te r

Band, Stuttgart 1913, S. 434—442.)Der Artikel wurde in Heft 4 der Zeitschrift „Neue Rheinische Zeitung.Politisch-ökonomische Revue", d as Ma i 1 8 5 0 erschien, veröffentlicht. D ieZeitschrift wurde 1850 von M a r x in London herausgegeben u n d wa r d i eFortse tzung d e r „Neuen Rheinischen Zeitung". 127

4 2 Es handelt sich um da s von einer Autorengruppe liberal-bürgerlicher u n dvolkstümlerischer Richtung unter d e r Redaktion von Prof. A . I. Tschuprowund A. S. Posnikow (1897) verfaßte zweibändige Werk „Der Einfluß derErnten und Qetreidepreise auf einige Qebiete de r russischen Volkswirt-schaft". Lenin las dieses Werk in der Verbannung u n d kritisierte es inseinem Buch „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland". i30

4 3 Siehe Karl Marx, „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1953, S. 6 6 2 - 8 6 6 . I3 i

4 4 7ideikommiß — ein System d e r Erbfolge im Großgrundbesi tz . D i e N u t -zung des Grundbesitzes geht beim Fideikommiß auf den ersten Sohn desErblassers über, ohne d aß d e r Besitz ganz oder teilweise verpfändet, g e -teilt oder veräußert (verkauft) werden darf.

Anerbenrecht — eine A r t bäuerliches Fideikommiß, das dem Grundbe-sitzer in der Verfügung über den zu vererbenden Grundbesitz etwas mehr

Freiheit läßt, aber gleichfalls d ie Teilung des Erbes verbietet. 1374 5 Siehe Karl Marx, „Das Kapital", Bd. III, Berlin 195 3, S.6 87. 1434 6 Siehe Karl M ar x, „Das K apital", Bd. III, Berlin 1953, S. 273. 1544 7 Siehe Karl Marx, „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1953, S. 336. 155

4 8 D e r „Vrotest russischer Sozialdemokraten" wurde von Lenin 1899 in de rVerbannung geschrieben. Er war gegen d as „Credo" gerichtet, das Ma n i -fest einer Gr up pe v o n „Ökonomis ten" (S . N . Prokopowitsch, J . D . Kus-kowa u n d andere, d ie später Kadetten wurden). Lenin erhielt d a s „Credo"

durch seine Schwester A . I. Jelisarowa u n d verfaßte daraufhin einen schar-fen u n d anprangernden Protest .

Der „Protest" wurde in einer Beratung von siebzehn politisch verbann-ten Marxisten, die Lenin in das Dorf Jermakowskoje, Minussinsker Bezirk,einberief, erörtert u n d einstimmig angenommen. D ie Kolonien der Ver -bannten in Turuchansk u n d Orlow (Gouvernement Wjatka) schlössen sichdem „Protest" a n .

Der „P rotest russischer Sozialdem okraten" wur de von Lenin an dieGruppe„Befreiung d e r Arbei t" in s Ausland geschickt. Anfang 1900 wurde d e r

28 Lenin, W erk e, Bd. 4

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438 Anmerkungen

„Pr ote st" in dem gegen den Ökon omi smu s gerich teten, von G . W . Plecha-

now herausgegebenen Sammelband „Vademecum (Wegweiser. Die Red.)für die Redaktion des ,Rabotscheje Delo'" veröffentlicht. 159

i9 Internationale Arbeiterassoziation — die von Marx im Herbst 1864 inLondon gegründete I. Internationale,- sie war die erste internationale Mas-senorganisation des Proletariats . Unter Überwindung der bürgerlichen Ein-flüsse und der sektiererischen Tendenzen, die damals in der Arbeiterbe-wegung vorherrschten (Trade-Unionismus in England, Proudhonismus undAnarchismus in den romanischen Ländern), vereinigte Marx in den Reihender I. Int erna tion ale die fortschrittlichen Arbei ter der Lä nd er Europ as u nd

Amerikas und erreichte, daß auf einer Reihe von Kongressen der Inter-nationale die Notwendigkeit des polit ischen Kampfes der Arbeiterklassefür den Sozialismus anerkannt wurde. Die historische Bedeutung derI. Inte rnat iona le besteht darin, daß sie, wie Lenin sagt e, „den Gr un dst einder internationalen Organisation der Arbeiter zur Vorbereitung ihres revo-lutionären Ansturms gegen das Kapital legte". Nach der Pariser Kommunestand die Arbeiterklasse vor der Aufgabe, nationale Massenparteien derArb eite r auf dem Boden der von de r I. Inte rnat iona le ang eno mme nenGrundsätze zu schaffen. Die Organisationsform der I. Internationale jedochentsprach schon nicht mehr den neuen Aufgaben, und 1872 wurde sie auf

Initiative von Marx aufgelöst. 16850 Hernsteiniade (Bemste inianert um) — eine dem Marx ismu s feindliche

Ström ung in der internationalen Sozialdemokratie, die Ende des 19. Jah r-hunderts in Deutschland entstand und nach dem deutschen Sozialdemo-kraten Eduard Bernstein benannt wurde. Bernstein forderte eine Revisionder revolutionären Lehre von Marx im Geiste des bürgerlichen Libera-lismus.

Anhänger Bernsteins in Rußland waren die „legalen Marxisten", die„Ökonomisten", die Bundisten und die Menschewiki. 169

51 Siehe Karl Ma rx , „ Das Elend der Philosophie", Zweites Kapitel , § 5,„Streiks und Arbeiterkoalitionen", Berlin 1952, S. 185—194. 169

52 Lenin kritisiert hier die bekannte These der Lassalleaner, wonach derArbeiterklasse gegenüber alle anderen Klassen nur eine reakt ionäre Massesind. Diese These fand Aufnahme ins Programm der deutschen Sozial-demokraten, das 1875 auf dem Parteitag in Gotha bei der Vereinigung derbeiden bis dahin getrennt bestehenden deutschen sozialistischen Parteien,der Eisenacher und der Lassalleaner, beschlossen wurde.

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Anmerkungen 439

Karl Marx entlarvte den antirevolutionären Charakter dieser These in

der „Kritik des Gothaer Programms". (Siehe Karl Marx und FriedrichEngels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. II, Berlin 1953, S. 18 bis19.) 170

53 Der „'Nordbund russischer Arbeiter", der 1878 in Petersburg gegründetwurde, war eine der ersten revolutionären politischen Organisationen derArbeiterklasse in Rußland. An der Spitze des Bundes standen der TischlerStepan Chalturin und der Schlosser Wiktor Obnorski. Der Bund leiteteArbeiterstreiks und gab eine Reihe Proklamationen an die Streikenden her-aus. Er zählte etwa 200 Mitglieder. Im Jahre 1879 wurde der Bund durch

die Zarenregierung zerschlagen. Die in Freiheit verbliebenen Mitgliederdes Bundes gaben im Februar 1880 eine Nummer der ersten russischenArbeiterzeitung, der „Rabotschaja Sarja" (Morgenröte des Arbeiters) her-aus. 171

54 D er „Südrussisdhe Arbeiterbund", gegründet 1875 in Odessa von J. O.Saslawski, wa r die erste revolutionäre politische Arbeitero rganisation Ruß -lands. Nach acht- bis neunmonatigem Bestehen wurde der Bund von derZarenregierung zerschlagen. 171

55 „Rabotsdbaja JAysX" (Arbeitergedanke) — Zeit ung der „Ökonom isten", die

von Oktober 1897 bis Dezember 1902 erschien. Insgesamt kamen sechzehnNummern heraus. Redigiert wurde sie von K. M. Tachtarew u. a.

Eine Kritik der Ansichten der „Rabotschaja Mysl" als einer russischenAbart des internationalen Opportunismus gab Lenin in Artikeln, die in der„Iskra" veröffentlicht wurden, und in seinem Werk „Was tun?". 172

56 .St. Peterburgski Rabotsdhi üstok" (St. Pete rsburg er Arbei terbl att) - ille-gale Zei tung , Or ga n des Pet ers burg er „Kam pfbundes zur Befreiung derArbeiterklasse". Es erschienen zwei Nummern: Nr. 1 im Februar (datiertJanuar) 1897, von der in Rußland auf einem Mimeographen 300 bis 400

Exemplare hergestellt wurden, und Nr. 2 im September 1897 in Genf. 172

57 „JLabotsdhaja Qaseta" (Arbeiterzeitung) — illegales Or ga n de r KiewerGru ppe der Sozialdem okraten. Es erschienen zwei N um m er n: N r. 1 imAug ust 1897 und N r. 2 im De zem ber (dati ert Nove mbe r) desselben Ja h-res. Auf dem I. Par tei tag der SD AP R wurde die „Rabotschaja G ase ta" alsoffizielles Organ der Partei anerkannt. Nach dem Parteitag erschien dieZeitung nicht mehr, da die Druckerei von der Polizei ausgehoben und dieMitglieder des Zentralkomitees verhaftet worden waren, über die im Jahre

28*

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440 Anmerkungen

1899 unternommenen Versuche, s ie wieder n e u herauszugeben, siehe d e n

vorliegenden Band, S. 201—203. 1735 8 D e r /. Parteitag der ST>A?R fand im März 1898 in Minsk s tat t . A m P a r -

teitag nahmen 9 Delegierte teil, die 6 Organisat ionen ver traten: d e n P e -tersburger, d e n Moskauer, den Jekaterinoslawer u n d den Kiewer „Kampf-bund z u r Befreiung d e r Arbeiterklasse", d ie Gruppe d e r Kiewer „Rabo-tschaja Gaseta" u n d d e n „Bund" .

Der Par tei tag wählte ein Zentralkomitee, bestätigte d ie „RabotschajaGase ta" als offizielles Parteiorgan, veröffentlichte d a s „Manifes t" und e r -klär te den „Auslandsbund russischer Sozialdemokraten" zum Vertreter d e r

Par tei im Ausland. Bald nach d e m Par tei tag wurde d a s Zentralkomiteeverhaftet.

Die Bedeutung des I . Parteitages d e r SDAPR bestand dar in , da ß er inseinen Beschlüssen un d in seinem .„Manifest" d i e Gründung d e r Sozial-demokratischen Arbeiterpartei Rußlands proklamierte. 173

69 „Volksurille" (Narodnaja Wolja) — Geheimbund d e r Volkstümler, wurde1879 zum revolutionären Kampf gegen d ie zaristische Selbstherrschaft or-ganisiert.

Bald nach d e r Ermordung d es Za ren Alexander II. (1 . (13-) M ä r z1881) durch Mitglieder d es „Volkswillen" wurde d ie Organisat ion v o nder Zarenregierung zerschlagen. Die meisten Volkstümler sagten sich hier-nach vo m revolutionären Kampf gegen d e n Zar ismus los und predig tenVersöhnung und Verständigung mit der zaristischen Selbstherrschaft. DieseEpigonen d e r Volkstümlerrichtung, d ie liberalen Volkstümler d e r achtzigerund neunziger Jahre de s 19. Jahr hund erts , wurden z u Wortfüh rern d e rKulakeninteressen.

Eine Einschätzung d e r Tätigkeit des „Volkswillen" findet sich im erstenKapitel d e r „Geschichte d e r KPdSU(B) , Kurzer Lehrgang" . 174

6 0 W . I . Lenins Rezension über d a s Buch von S . N . Prokopowitsch „Die A r-beiterbewegung im Westen" wird nach einem unvollständigen Manuskriptveröffentlicht. Im Archiv d es Marx-Engels-Lenin-Stalin-Instituts (Moskau)sind nu r d ie Seiten 4—15 des Manuskr ip ts vorhanden. D e r Anfang desManuskr ip ts is t bisher nicht aufgefunden worden. 176

6 1 „TJowoje Wremja" (N eu e Zeit) — Zei tung , die von 1868 bis Ok tob er 1917in Petersburg erschien. Z u Beginn gemäßigt liberal, wurde sie a b 1876 zumOrgan reaktionärer Kreise d es Adels u n d d e r beamteten Bürokratie. D i eZeitung bekämpfte nicht nu r d ie revolutionäre, sondern auch d ie bürger-

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Anmerkungen 441

lich-liberale Bewegung. Ab 1905 wurde sie ein Organ der Schwarzhunder-

ter. 18562 „Zur Xritik" — Anf ang des Titels „Zu r Kritik der politischen Ök on om ie"

von Karl Marx. (Siehe Neuausgabe, Berlin 1951.) Lenin bezieht sich hierauf die russische Ausgabe des Buches von 1896. 189

63 Lenin meint das von Karl Marx und Friedrich Engels verfaßte, im Jahre1848 erschienene „Manifest der Kommunistischen Partei". (Siehe Neuaus-gabe, Berlin 1954.) 190

64 Siehe Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei

Bänden, Bd. I, Berlin 1953, S. 340. 190

65 Siehe Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zweiBänden, Bd. I, Berlin 1953, S. 340. i90

66 Die Artikel „Unser Trogramm", /Unsere nädbste Aufgabe" und „Einedringende Trage" wurden von Lenin in der Verbannung geschrieben. Sieware n für die „Rabotschaja G ase ta" bestim mt, die auf dem I. Par teit agder SDAPR als das offizielle Parteiorgan anerkannt worden war. Im Jahre1899 wurde der Versuch gemacht, die Zeitung neu herauszugeben,- dieRedakteurgruppe wandte sich an Lenin mit dem Vorschlag, die Redaktionder Zeitung zu übernehmen, und später mit der Aufforderung, an der Zei-tung mitzuarbeiten. Die Artikel wurden von Lenin zusammen mit demBrief an die Redakteurgruppe abgeschickt. Es gelang nicht, die Zeitung neuherauszubringen, und die Artikel blieben unveröffentlicht. 199

67 Die russischen O ppo rtu nist en — die „Ökon omis ten" und die Bundisten —erklärten sich mit den revisionistischen Ansichten Bernsteins solidarisch. Inseinem Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus" gab Bernstein derenZustimmung zu seinen Ansichten als Zustimmung der Mehrheit der rus-sischen Sozialdemokraten aus. 202

68 Es handelt sich um die Spaltung, die in der ersten Konferenz des „Aus-landsbundes russischer Sozialdemokraten" im November 1898 in Züricherfolgte. Der Grund für die Spaltung war, daß sich die Mehrheit der Mit-glieder des Auslandsbundes (die sogenannten „Jungen") dem „Ökonomis-mus" anschloß. Aus diesem Grunde lehnte es die Gruppe „Befreiung derArbeit" zuerst ab, die Veröffentlichungen des Auslandsbundes zu redi-gieren, und trennte sich später ganz von ihm. 202

69 Der Sammelband „Der proletarische Kampf" Nr. 1, herausgegeben von

der „Uraler sozialdemokratischen Gruppe", wurde 1899 in der Druckerei

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442 Anmerkungen

der Gruppe gedruckt. Die auf dem Boden des „Ökonomismus" stehenden

Verfasser des Sammelbands bestri t ten die Notwendigkeit , eine selbständigepolitische Partei der Arbeiterklasse zu schaffen, und waren der Ansicht,daß die politische Revolution mittels des Generalstreiks gemacht werdenkönne. Eine Charakteristik und Einschätzung der von den Autoren desSammelbands vertretenen Ansichten findet man in Kapitel IV von LeninsWerk „Was ton?" . 202

70 Es handelt sich um den „Entwurf eines Programms unserer Partei". (Siehe

de n vorliegend en Ba nd, S. 221—248.) 202

71 Geme int is t der II. Par tei tag de r SDA PR, d er für das Frü hja hr 1900 ein-berufen werden sollte. Wie Lenin über die Einberufung des Parteitages zudiesem Zeitpunkt dachte, dazu siehe den vorliegenden Band, S. 319/320u n d 350/351. 20 2

72 7. P. — eines der Pseudonyme Lenins. 203

73 Gemeint is t der Artikel von G. W. Plechanow, „Bernstein und der Materia-lismu s", der Juli 1898 in N r . 44 der deutschen sozialdemok ratischen Zei t-schrift „Die Neue Zeit" veröffentlicht wurde. Siehe auch G. W. Plechanow,Werke, Bd. XI, 1928, S. 13-26, russ. 205

74 D e r Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Hannover fand vom 9.bis zum 14. Ok tob er 1899 statt . In der Hau ptf rag e de r Tag eso rdn ung „DieAngriffe auf die Grundanschauungen und die taktische Stellungnahme derPartei" nahm der Parteitag gegen die revisionistischen Ansichten Bern-steins Stellung, unterzog jedoch das Bernsteinianertum keiner gründlichenKritik. 205

75 Gemeint ist das Qesetz vom 2. (14.) Juni 1897, das den Arbeitstag in Indu-striebetrieben und Eisenbahnwerkstätten auf 11 Y i Stunden festsetzte. Vordiesem Gesetz war der Arbeitstag in Rußland nicht beschränkt und dauertebis zu 14 und 15 Stunden. Unter dem Druck der vom Leninschen „Kampf-bund zur Befreiung der Arbeiterklasse" geführten Arbeiterbewegung sahsich die Za ren re gi eru ng genötig t, das Ge set z vom 2. Jun i 1897 zu erlassen .Lenin hat das Gesetz in der Broschüre „Das neue Fabrikgesetz" (sieheWe rk e, 4. Ausga be, Bd. 2, S. 243—291, russ.) ausführlich analysiert undkritisiert. 208

76 Siehe Karl Marx und Friedrich Engels, „Manifest der KommunistischenPartei", Berlin 1954, S. 18. 210

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Anmerkungen 4 4 3

7 7 D a s Ausnahm egesetz gegen die Sozialisten -wurde 1878 in Deutsch-

l a n d e r l a s s e n . D u r c h d i e s e s G e s e t z w o r d e n a l l e O r g a n i s a t i o n e n d e r

S o z i a l d e m o k r a t i s c h e n P a r t e i , a l l e M a s s e n o r g a n i s a t i o n e n d e r A r b e i t e r

und d ie Arbe i te rp resse ve rbo ten . Soz ia l i s t i sche Schr i f t en wurden besch lag-

n a h m t , d i e A u s w e i s u n g vo n S o z i a l d e m o k r a t e n b e g a n n . U n t e r d e m D r u c k

d e r M a s s e n b e w e g u n g d e r A r b e i t e r w u r d e d a s S o z i a l i s t e n g e s e t z 1 8 9 0 a u f -

g e h o b e n . 218

7 8 „Vorwärts" — d a s Z e n t r a l o r g a n d e r d e u t s c h e n S o z i a l d e m o k r a t i e . D i e Z e i -

tung e r sch ien e r s tmal ig 1876 un te r de r Redak t ion von Wi lhe lm Liebknech t

u. a . In der Ze i t un g fü hrt e Fr iedr ic h Engels e inen Kamp f ge gen al le Er-

s c h e i n u n g s f o r m e n d e s O p p o r t u n i s m u s . A n g e f a n g e n v o n d e r z w e i t e n H ä l f t e

der neunz iger Jahre , nach dem Tode von Fr iedr ich Enge ls , b rach te de r„ V o r w ä r t s " s y s t e m a t i s c h A r t i k e l v o n O p p o r t u n i s t e n , d i e d i e d e u t s c h e

S o z i a l d e m o k r a t i e u n d d i e I I . I n t e r n a t i o n a l e b e h e r r s c h t e n . 218

7 9 Hier feh l t e in Te i l des Manuskr ip t s . 220

8 0 D e r „Entwurf eines Programm s unserer 'Partei" wurde von Len in in de r

V e r b a n n u n g g e s c h ri e b e n . D a v o n z e u g e n d i e v o n L e n i n a u f d e m M a n u -

skr ip t e inge t ragene Jahreszah l „ [1899]" sowie de r Br ie f an d ie Redak teur -

g ru pp e der „Rabotscha ja G as e ta " . (S iehe den vor l i egenden Band , S . 202 . )

2218 1 S i e h e K a r l M a r x , „ K r i t i k d e s G o t h a e r P r o g r a m m s " , i n K a r l M a r x u n d

Frie dr ich En gels , Au sg ew ähl te Schrif ten in zwei Bän den , Bd. I I , Berl in 195 3,

S. 9. 223

8 2 S i e h e K a r l M a r x , „ D a s K a p i t a l " , B d! I , H a m b u r g 1 8 7 2 , S . 7 9 3 o d e r B e r -

l in 1953 , S . 803 . 228

8 3 D a s „Erfurter Programm" d e r d e u t s c h e n S o z i a l d e m o k r a t i e w u r d e a u f d e m

E r f u r t e r P a r t e i t a g i m O k t o b e r 1 8 9 1 a n S t e l l e d e s G o t h a e r P r o g r a m m s v o n

1875 angenommen, dessen Feh le r Kar l Marx in se ine r „Kr i t ik des GothaerP r o g r a m m s " a u f g e d e c k t h a t t e . 2 2 S

8 4 Lenin mein t d ie „Prov isor i schen Bes t immungen über d ie Able i s tung der

Mi l i t ä rp f l i ch t durch d ie S tud ie renden der Hochschu len , d ie aus se lb igen

I n s t i t u t i o n e n w e g e n g e m e i n s a m e r U n r u h e s t i f t u n g r e l e g i e r t w e r d e n " . A u f

G ru nd d iese r am 29 . Ju l i (10 . Au gus t ) 1899 e r lassenen Bes t imm ungen wur -

den S tude n ten , d ie an Ku ndg ebu nge n g egen das in - den Ho chschu len e in -

geführ te Po l ize i reg ime te i lgenommen ha t ten , von den Univers i t ä ten re le -

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4 4 4 Anmerkungen

gier t und für einen Zei t raum von einem bis zu drei Jahren als gemeine

Soldaten in die zar is t ische Armee eingezogen. Die Studenten al ler Hoch-schulen Ru ßlan ds forder ten die Au fhebu ng de r provisor ischen Best imm un-

gen. (Siehe Lenins Ar t ike l „Zw ang srekru t ie rung vo n 183 Stud enten " , vor -

l iegender Band, S. 416—421.) 23 1

8 5 Servitut — eine Form des Nutzu ngs rechts an f remdem Eigentum. Im vor -

l i egenden Fa l l mein t Lenin d ie Über res te der Le ibe igenschaf t sverhä l tn i sse

in den Westgebie ten Rußlands . Für das Recht auf Benutzung der gemein-

sam en Wege , Wi esen , We i den , Vi eh t r änken usw. m uß t en d i e Baue r n nach

der Reform von 1861 zusä tz l i che Dien s te zuguns ten d er Gu tsher re n l e i sten .

239

8 6 Siehe Karl Marx u n d Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zweiBänden, Bd. I, Berlin 1953, S . 309/310. 241

8 7 D e r Petersburger „Xampfbund zu r Befreiung der Arbeiterklasse" wurdevon Lenin im Herbst 1895 organisiert. D e r Kampfbund vereinigte allemarxistischen Arbeiterzirkel in Petersburg. An der Spitze des Kampfbundesstand die von Lenin geleitete Zentrale Gruppe. D e r Kampfbund verwirk-lichte erstmalig in Rußland die Vereinigung d es Sozialismus m it der Arbei-terbewegung, d e n Übergang von der Propaganda des Marxismus in einem

Ideinen Kreise fortgeschrittener Arbeiter z u r politischen Agitation in denbreiten Massen d e r Arbeiterklasse.

„DieB edeutun g des Petersb urger .Kampfbundes zurBefreiung der Arbei-terklasse' bestand darin, da ß e r, nach einem Ausspruch Lenins, d e r erstebedeutsame Keim einer revolutionären Partei war, die sidb auf die Arbeiter-bewegung stützt." („Geschichte d e r KPdSU(B) , Kurzer Lehrgang" , Ber l in1954, S. 26.) 250

8 8 D e r Kiewer „Xampfbund zu r Befreiung der Arbeiterklasse" wurde imMärz 1897 unter dem Einfluß des Petersburger Kampfbundes organisiert.Der Kiewer Kampfbund nahm aktiv a n der Vorbereitung des ersten Partei-tages d e r SDAPR teil . 250

8 9 D e r „Bund" („Allgemeiner Jüdischer Arbeiterverband in Litauen, Polenund Rußland") wurde 1897 gegründet und vereinigte hauptsächlich jüdischeHandwerker in den Westgebieten Rußlands. Auf dem I . Par tei tag d e rS D A P R im März 1898 schloß sich d e r „Bund" d e r S D A P R an . Auf demII . Parteitag der SDAPR erhoben die Bundisten die Forderung, d e r „Bund"solle als einziger Vertreter des jüdischen Proletariats anerkannt werden.Nachdem der Parteitag den organisatorischen Nationalismus der Bundisten

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Anmerkungen 445

abgelehnt hatte, trat der „Bund" aus der Partei aus. Im Jahre 1906, nachdem IV. („Vereinigungs"-) Parteitag kehrte der „Bund" in die SDAPRzurück.

Di e Bundisten un ters tütz ten ste ts die Menschewiki un d führten einen un-unterbrochenen Kampf gegen die Bolschewiki. Formal zur SDAPR ge-hörend, wa r der „Bund" eine Orga nisa tion bürgerlich-nationalistischenCh ara kte rs. Der Progra mm forde rung der Bolschewiki — Recht der N at io -nen auf Selbs tbestim mung — stellte der „B und" die Forderu ng nach kul tu-reller nationaler Autonomie entgegen. Während des ersten Weltkriegs von1914 bis 1918 standen die Bundisten auf dem Boden des Sozialchauvinis-mus,- im Jahre 1917 unterstützte der „Bund" die konterrevolutionäre Pro-visorische Regierung und kämpfte auf Seiten der Feinde der SozialistischenOktoberrevolution. In den Jahren des Bürgerkriegs schlössen sich namhafteBundisten den Kräften der Konterrevolution an. Zur gleichen Zeit begannin den Reihen der einfachen Mitglieder des „Bund" ein Umschwung zu-gunsten einer Zusammenarbeit mit der Sowjetmacht. Als der Sieg derDiktatur des Proletariats über die innere Konterrevolution und die aus-ländischen Interventen klar entschieden war, erklärte der „Bund", daß ersich vom Kampf gegen die Sowjetmacht lossage. Im März 1921 löste sichder „Bund" selbst auf, ein Teil seiner Mitglieder trat nach den allgemeingeltenden Bestimmungen individuell in die KPR(B) ein. Unter den in die

Partei eingetretenen Bundisten befanden sich Doppelzüngler, die in diePartei gegangen waren, um sie von innen zu unterminieren; sie wurdenspäter als Volksfeinde entlarvt. 250

90 Es handelt sich um L. Martows Broschüre „Das rote Banner in Rußland",die Oktober 1900 im Ausland erschien. 252

9 1 „Sozialdemokrat" — Sam mel band (literarisch-politische Rund schau ), dervon der Gruppe „Befreiung der Arbeit" in den Jahren 1890 bis 1892 imAusland herausgegeben wurde; es erschienen 4 Bände.

Die von Lenin erwähnten Artikel Plechanows erschienen unter dem ge-

meinsam en Titel „ N. G. Tscherny schewski " 1890 in den Num me rn 1 bis 3und 1892 in Nr. 4. 265

92 Bahhikin — Ges talt aus M . J. Saltykow-Schtschedrins W e rk „Eine zeit-genössische Idylle"; liberaler Phrasendrescher, Abenteurer und Lügner. 273

93 „Moskowskije Wedomosii" (M os ka ue r Nachric hten) — im Jah re 1756 ge-gründe te Zei tun g; seit den sechziger Jahren des 19. Jahrh undert s vertr atdie Zeitung die Ansichten der reaktionärsten monarchistischen Kreise derGutsbesitzer und der Geistlichkeit; ab 1905 war sie eins der wichtigsten

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446 Anmerkungen

Presseorgane der Schwarzhunderter. Erschien bis zur Oktoberrevolution

1917. 284 . • .9 4 „Qrasbdanin" (D er S t aa t sbü rge r ) — reak t ion ä re Ze i tung , d i e von 1872

bis 1914 in Pe ters bu rg erschien . Se i t den achtz iger Jah ren des 19 . Jah r -

hunde r t s wa r s i e da s Organ de r ex t r emen Monarch i s t en . D ie Ex i s t enz -

mi t te l der Zei tung waren in der Hauptsache Subs id ien , d ie s ie von der

Za ren reg i e rung e rh i e l t . 284

9 5 Johann von Kronstadt ( I . I . Serge jew) — Geis t l icher am Kr on s täd ter D om ;

ein Dunkelmann, der s ich durch se ine Pogromhetze gegen d ie n icht russ i -

s chen Na t iona l i t ä t en t r au r igen Ruhm e rwarb . 285

9 6 Den Ar t ike l „Tiber Streiks" schr ieb Lenin in der Verbannung für d ie„Rabotschaja Ga se t a" . (S iehe den vor l iegenden Band, S . 20 1, „Brief an d ie

Reda k teu rg ruppe" . ) Im Arch iv des Marx -E nge l s -Len in -S t a l i n - Ins t i tu t s

(Moskau) bef indet s ich led ig l ich der e rs te Tei l des Ar t ike ls . Ob d ie be iden

and eren Tei le gesdi r ieb en w orden s ind , ko nn te n icht fes tges te ll t we rden. 30 5

9 7 Lenin z i t ie r t das Buch von Fr iedr ich Engels „Die Lage der a rbe i tenden

Klasse in En glan d" . (S iehe Neu aus gab e , Berl in 1952, S . 277/278 . ) 311

9 S „Jskra" (D er Fu nke ) — die e rs te gesam truss ische i llega le marxis t i sche Z ei -

tung, d ie 1900 von Lenin gegründet wurde . Die Schaf fung d ieses Kam pf -organs de r r evo lu t i onä ren Marx i s t en war „das Haup tg l i ed i n de r Ke t t e de r

Gl ieder und d ie Hauptaufgabe in der Ket te der Aufgaben, vor denen d ie

Pa r t e i dama l s s t and" (Stalin).

D a es wegen der pol ize i lid ien Verfo lgungen unmögl ich war , in R ußl and

eine revolu t ionäre Zei tung herauszugeben, ha t te Lenin bere i t s in der s ib i r i -

schen Verbannung in a l len Einze lhe i ten den Plan durchdacht , s ie im Aus-

l and e r sche inen zu l a s sen . Nach Beend igung se ine r Ve rbannung im Janua r

1900 g ing Lenin unverzügl ich daran , se inen Plan zu verwirk l ichen.

Die e rs te N um m er der Leninschen „Iskr a" e rschien am 1 1. (24 . ) D ezem -

ber 1900 in Leipz ig , d ie fo lgenden Nummern erschienen in München, abApr i l 1902 in London und ab Frühjahr 1903 in Genf.

De r Redak t ion de r „ I sk ra " gehör t en an : W . I . Len in , G . W . P l echanow,

J . O . M ar tow , P . B. Axe l rod , A. N . Pot re ssow und W . I . Sassul i tsch . A b

Früh jah r 1901 war N . K . Krupska j a Redak t ionssek re t ä r in . Fak t i s ch war

Lenin d er Che freda kteu r u nd Lei te r d(X „Is kra " . Er veröf fent l ich te in de r

„ I sk ra " Ar t i ke l übe r a l l e g rund legenden F rage n des Pa r t e i au fbaus und des

prole tar i schen Klassenkampfes und nahm zu den wicht igs ten in terna t iona-

len Ere ignissen Ste l lung.

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Anmerkungen 447

In einer Reihe von Städten Rußlands (Petersburg, M oskau u. a.) wurden

Gruppen und Komitees der SDAPR geschaffen, die sich zur Leninschen„Iskra"-Richtung bekann ten.InTranskauk asien wurden die Ideen der „Iskra"von der Zeitung „Brdsola" (Der Kampf) vertreten, der ersten illegalengeorgischen Zeitung der Tifliser sozialdemokratischen Organisation, ihrerLeninschen „Iskra"-Gruppe. Der Begründer und Leiter der Leninschen„Iskra"-Organisationen in Transkaukasien war J. W. Stalin in Zusammen-arbeit mit W. S. Kezchoweli, A. G. Zulukidse und W. K. Kurnatowski.

Die „Iskra"-Organisationen entstanden und arbeiteten unter der unm ittel-baren Leitung der von Lenin und Stalin herangebildeten Berufsrevolutio-nä re (N . E. Bauman, I. W . Babuschkin, S. I. Gussew, M . I. Kalinin u. a.).

Auf Initiative Lenins und unter seiner unmittelbaren Teilnahme arbeitetedie Redaktion der „Iskra" den Entwurf eines Parteiprogramms aus (ver-öffentlicht in Nr. 21 der „Iskra") und bereitete den II. Parteitag derSDAPR vor, der im Juli-August 1903 stattfand. Als der Parteitag zusam-mentrat, hatten sich die meisten lokalen sozialdemokratischen Organisa-tionen Rußlands der „Iskra" angeschlossen; sie billigten ihre Taktik, ihrProgramm und ihren Organisationsplan und erkannten sie als ihr leiten-des Organ an. In einem besonderen Beschluß unterstrich der Parteitag dieaußerordentliche Bedeutung der „Iskra" im Kampf für die Partei und er-klärte sie zum Zentralorgan der SDAPR.

Auf dem II. Parteitag wurden Lenin, Plechanow und Ma rtow zu R edak-teuren gewählt. Trotz des Parteitagsbeschlusses lehnte Martow es jedochab , in die Redaktion einzutreten, so daß die Nummern 46—51 der „Iskra"unter der Redaktion Lenins und Plechanows erschienen. Später ging Plecha-now zum Menschewismus über und forderte die Aufnahme aller alten,vom Parteitag abgelehnten menschewistischen Redakteure in die Redaktionder „Iskra". Hiermit konnte sich Lenin nicht einverstanden erklären. Ertra t am 19. Oktober (1. November) 1903 aus der Redaktion der „Iskra"aus, um sich im Zentralkomitee der Partei eine feste Position zu sichernund von dieser Position aus die opportunistischen Menschewiki zu bekämp-

fen. Nr. 52 erschien unter der alleinigen Redaktion Plechanows. Am 13.(26.) November 1903 kooptierte Plechanow eigenmächtig unter Verlet-zung des Willens des Parteitages die früheren menschewistischen Redakteurein die Redaktion d er „Iskra". Von N r. 52 der „Iskra" angefangen, ver-wandelten die Menschewiki die „Iskra" in ihr Organ.

„Seit dieser Zeit spricht man in der Partei von der alten ,Iskra' als derLeninschen, bolschewistischen ,Iskra' und von der neuen ,Iskra' als dermenschewistischen, opportunistischen ,Iskra'." („Geschichte der KPdSU(B),Kurzer Lehrgang", Berlin 1954, S, 58.) 3i6

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448 Anmerkungen

9 9 „Sarja" ( Di e Mor genr ö t e ) — von der Redakt ion der „ I skra" in den Jahren

1901 und 1902 in Stut tgar t herausgegebene marxist ische wissenschaft l ich-pol i t ische Zei tschri f t . In der „Sarja" wurden folgende Arbei ten Lenins ver-

öf fent l i ch t : „Zufä l l ige Not izen" , „Die Hetze gegen das Semstwo und d ie

Hanniba le des Libera l i smus" , d ie e r s ten v ie r Kapi te l des Werkes „Die

Agr a r f r age und d i e , M ar x kr i t i k e r ' " ( un t e r dem Ti t e l „D i e He r r en ,K r i t i ke r '

in der Agrar f rage") , „ Innerpol i t i sche Rundschau" und „Das Agrarpro-

gramm der russ i schen Sozia ldemokra t ie" . Insgesamt e r schienen 4 Nummern

(3 Hefte) d er „ Sa rja" : N r. 1 im Ap ri l 1901 (tatsächl ich erschien N r. 1 am

2 3 . M ä r z n . S t . ), N r . 2 / 3 i m D e z e m b e r 1901 und N r . 4 i m Aug us t 1902 .316

1 0 0 Lenin meint die Anfang 1900 in Genf veröffent l ichte „Mitteilung der

Qruppe Befreiung der Arbeit' über die'Wiederaufnähme ihrerTublikations-

tätigkeit". Die Mit tei lung erfolgte nach dem Erscheinen des von Lenin

ver faßten Ar t ike l s „Protes t russ i scher Sozia ldemokra ten" . Die Gruppe

„Bef re iung der Arbe i t " e rk lä r te s i ch in dem erwähnten Dokument mi t dem

in Len ins Pro test ergangene n Aufruf zum entschiedenen K ampf gegen den

Oppor tunismus in der russ i schen und in te rna t iona len Sozia ldemokra t ie

solidarisch. 3IS

1 0 1 Lenin meint d ie Sozia ldemokra ten , d ie s ich um die Zei tung „Jushny Ra-

botschi" (Arbe i te r des Südens) gruppier ten , den „Bund" und den „Aus-

landsbund russ i scher Sozia ldemokra ten" , dessen Lei tung inzwischen vonder Gru ppe „Bef re iung der Arb e i t " auf d ie „Jun gen " , d ie An hän ger des

„Ökonomismus" , übergegangen war . Diese Organisa t ionen wol l t en den

II. Par te i t ag am 6 .(19 .) Mai 1900 in Smolensk zusamment re ten l assen .

Der Par te i t ag so l l t e das Zent ra lkomi tee und d ie Redakt ion der „Rabo-

tschaja Gaseta" wählen, damit diese Zei tung wieder als off iziel les Par tei -

organ ersche inen könne . Der Ver t re te r der Gruppe des „Jushny Rabotschi" ,

I . Ch . La la janz , führ te im Febru ar 1900 in Mo skau üb er d iese Frage mi t

Lenin Verhandlungen. Namens der In i t i a toren der Einberufung des Par -

tei tags schlug Lalajanz Lenin und seiner Gruppe vor , kol lekt iv die Redak-

t ion der „Rabotscha ja Gase ta" zu übernehmen. Lenin wies Lala janz daraufhin , daß e in Par te i t ag ver f rüht und n icht genügend vorbere i t e t se i . Da

Lenin aber dennoch mit der Möglichkei t einer Einberufung des Partei tages

rechnete , schr ieb e r im Namen der Gruppe der künf t igen „I skra" e inen

Bericht an den Partei tag. Ferner erhiel t er von der Gruppe „Befreiung der

Arbei t " das Mandat , d iese Gruppe auf dem Par te i t ag zu ver t re ten . Info lge

e iner Reihe von Verhaf tungen fand der Par te i t ag n icht s t a t t , über d ie Um-

s tände , unter denen der Par te i t ag vorbere i t e t wurde , schre ib t Lenin in

Kapi te l V, se ines W erke s „ W as tu n? " . 319

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Anmerkungen 449

1 0 2 An dem Entwurf eines Programms d er Sozialdemokratischen Partei b e -

gann Lenin im Gefängnis in den Jahren 1895 u nd 1896 z u arbeiten. (Siehe„Entwurf u n d Erläuterung des Programms de r Sozialdemokratischen P a r -tei", Werke, 4. Ausgabe, Bd. 2 , S. 7 7 -1 0 4 , russ.) Ende 1899, in der Ver-bannung, schrieb Lenin den zweiten „Entwurf eines Programms unsererPartei". (Siehe den vorliegenden Band, S. 221—248.) D e r Entwurf einesParteiprogramms wurde auf Lenins Vorschlag von den Redaktionen der„Iskra" u n d d e r „Sarja" für den II. Parteitag d er SDAPR ausgearbeitet ,in N r . 21 der „Iskra" vom l . J u n i 1902 veröffentlicht u n d später vomII . Partei tag der S D A P R im August 1903 angenommen. 32 i

1 0 3 Lenin führt die Haupt these der von Karl Marx verfaßten „Allgemeinen

Statuten der Internationalen Arbeiterassoziation" ( I . Internationale) a n .(Siehe Karl Marx u n d Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zweiBänden, Bd. I, Berlin 1953, S. 360.) 323

1 0 4 Gemeint ist die Spaltung im „Auslandsbund russischer Sozialdemokraten"in de r II. Konferen z des Auslandsbundes im April 1900. De r Auslands-bund, de r vom I . Partei tag der SDAPR als Auslandsvertreter der Parteianerkannt worden war, stand in seiner Mehrheit auf dem Boden des „Öko-nomismus". Deshalb verließen die Gruppe „Befreiung der Arbei t" u n dihre Anhänger die Konferenz, brachen die organisatorischen Beziehungen

zum Auslandsbund ab und konstituierten sich als selbständige Auslands-organisation unter der Bezeichnung „Russische revolutionäre OrganisationSoz ia ldemokra t ' " . 328

1 0 5 G . W . Plechanow wollte durch d ie Erklärung, ihm sei 1895 „befohlen"worden, auf P . B. Struve „nicht z u schießen" (hier handelt es sich u m eineAnspielung auf A. N . Potressow), seine versöhnlerische Haltung gegenüberdem revisionistischen Auftreten der „legalen Marxisten" rechtfertigen.Lenin erachtete das Verhalten Plechanows, der d ie bürgerlich-liberalenAnsichten Struves nicht n u r nicht kritisierte, sondern sogar noch vertei-digte, für falsch. 331

1 0 6 Lenin meint den Artikel P . B. Struves „Noc h einmal über Freiheit u n dNotwendigkei t" , der 1897 in N r . 8 de r Zeitschrift „Nowoje Slowo" ver-öffentlicht worden war. In diesem Artikel trat Struve offen gegen die marxi-stische Lehre von der proletarischen Revolution auf. W . I. Lenin schriebam 27. Juni (9. Juli) 1899 an A. N . Potressow: „Ich begreife n u r einsnicht, wie konnte Kamenski (Plechanow. "Die Red.) d ie Artikel Struves u n dBulgakows gegen Engels im ,Nowoje Slowo' unbeantwortet lassen! Kön-nen Sie mir das nicht erklären?"

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450 Anmerkungen

„TJowoje Slowo" (Neues Wort)— wissenschaftlich-literarische und politi-

sche Monatsschrift, die ab 1894 in Petersburg von den liberalen Volkstüm-lern und ab Frühjahr 1897 von d en „legalen Marxisten" herausgegebenwurde. Im „Nowoje Slowo" wurden zwei Artikel Lenins veröffentlicht:„Zur Charakterist ik des ökonomischen Romantizismus" u n d „Anläßlicheiner Zeitungsnotiz". (Siehe Werke, 4 . Ausgabe, Bd. 2, S. 111—242 u nd292—298, russ.) Auch G. W . Plechanow und A . M . Gork i waren Mit arbe iterder Zeitschrift. Im Dezember 1897 wurde die Zeitschrift von der Regie-rung verboten. 331

1 0 7 Es handelt sich um den Sammelband von Materialien u n d Dokumenten„Vademecum (Wegweiser. D ie Red.) für die Redaktion des ,RabotschejeDelo'" (1900), worin G . W . Plechanow neben anderen Dokumenten dreiPrivatbriefe veröffentlichte, d ie von Z . M . Kopelson, einem Bundisten, u n dJ. D . Kuskowa, einer d e r führenden Persönlichkeiten der „Ökonomisten",geschrieben waren. 331

1 0 8 „Unser Dritter" — J . O . Martow, d e r sich während d er VerhandlungenW . I. Lenins u n d A . N . Potressows mit der Gruppe „Befreiung d er Arbeit"in Südrußland befand un d im M ä r z 1901 ins Ausland kam. 332

1 0 9 „Bobo" — P . B. Struve . 3331 1 0 „Die 'Neue Zeit" — Zeitschrift d e r deutschen Sozialdemokratie, die von

1883 bis 1923 in Stuttgart erschien. In den Jahren 1885—1895 veröffent-lichte „Die Neue Zeit" einige Artikel von Friedrich Engels. Dieser gab derRedaktion d e r Zeitschrift oft Ratschläge u n d kritisierte sie scharf wegenihrer Abweichungen vom Marxismus. Angefangen von der zweiten Hälfteder neunziger Jahre, nach dem Tode von Friedrich Engels, vertrat die Zeit-schrift Kautskysche Auffassungen u n d veröffentlichte systematisch Artikelvon Revisionisten. Während des ersten Weltkriegs (1914—1918) bezog sieeinen zentristischen Standpunkt, wodurch sie faktisch die Sozialchauvini-sten unterstützte. 334

1 1 1

Gemeint sind frühere Mitglieder des „Auslandsbundes russischer Sozial-demokraten", d ie nach d e r Spaltung in der II. Konferenz des Auslands-bundes im April 1900 mit seiner opportunistischen Mehrheit brachen u n dder von der Gruppe „Befreiung d e r Arbeit" neugeschaffenen Organisation„Sozialdemokrat" beitraten. 336

1 1 2 „Apparences wahren" — den Schein des Anstands wahren. 3451 1 3 Ttf. — Nürnberg , w o sich Lenin nach d e r Beratung d e r „Iskra"-Gruppe m it

der Gruppe „Befreiung d er Arbei t" auf der Reise von Genf nach Münchenaufhielt. 346

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Anmerkungen 451

1 1 4 Der „ Entwurf einer Vereinbarung" zwischen der Leninschen „Iskra"-Grupp e

und d er Plechanowschen Grup pe „Sozialdemokrat" wurde von W . I. LeninAnfang September 1900 geschrieben. (Siehe den vorliegenden Band,S. 346.) Das M anusk ript tr ägt keine Überschrift. Diese stamm t vom M arx-Engels-Lenin-Stalin-Institut (Moskau). 347

1 1 5 Die „besondere V ereinbarung" wurde offenbar später geschrieben. DasArchiv des Marx-Engels-Lenin-Stalin-Ihstituts (Moskau) besitzt folgen-des Dokument, eingelegt in einen Umschlag mit der von N. K. Krupskajaherrüh renden Aufschrift „Dokumente, die sich auf die allererste Periodebeziehen. Vertrag über die Herausgabe der ,Sarja' und der ,Iskra'":

„1 . Der Sammelband ,Sarja' und die Zeitung ,Iskra' werden von einerGruppe russischer Sozialdemokraten unter redaktioneller Mitarbeit derGruppe .Befreiung der Arbeit' herausgegeben und redigiert.

2. Alle prinzipiellen Artikel sowie alle Artikel von besonders großer Be-deutung stellt die Redaktion, falls redaktionstechnische Umstände diesnicht unmöglich machen, allen Mitgliedern der Gruppe .Befreiung derArbeit' zu.

3. Die Mitglieder der Gruppe .Befreiung der Arbeit' stimmen über alleredaktionellen Fragen ab, persönlich, wenn sie sich am Ort der Redaktionbefinden, schriftlich, wenn ihnen die Artikel zugesandt werden.

4. Die Redaktion verpflichtet sich im Falle von Meinungsverschieden-heiten mit der Gruppe .Befreiung der Arbeit' die besondere Meinung derGruppe oder jedes einzelnen ihrer Mitglieder ungekürzt zum Abdruck zubringen.

5. Zu veröffentlichen ist lediglich der erste Punkt dieser Vereinba rung.

Den 6. Oktober 1900".

Das Dokument ist mit Schreibmaschine geschrieben und hat weder Titelnoch Unterschrift. 347

1 1 6

Zum Unterschied vom ursprünglichen Entwurf der Ankündigung (sieheden vorliegenden Band, S. 316—327), in dem gleichzeitig das Programmbeider Organe, der Zeitung und der Zeitschrift, dargelegt wurde, ist inder von der Redaktion der „Iskra" herausgegebenen Ankündigung nurvon der Zeitung „Iskra" die Rede, über die Aufgaben der Zeitschrift„Sarja" sollte in der ersten Nummer der Zeitschrift besonders geschriebenwerden. 348

1 1 7 „Qruppe der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse" — kleine Gruppe von„Ökonomisten", die im Herbst 1898 in Petersburg entstand und einige

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452 Anmerkungen

M on ate existierte. Die Gr up pe legte ihre Ziele in einem Aufruf da r (ver-

öffentlicht in der in London herausgegebenen Zeitschrift „Nakanune"(Am Vorabend), außerdem gab sie ihr Statut und einige Proklamationen andie Arbeiter heraus.

Lenin kritisierte die Auffassungen dieser Gruppe in Kapitel II seinesWerkes „Was tun?" . 350

118 „Habotsdbeje Delo" (Arbeitersache) — Zeitschrift der „Ök onom isten", u n-regelmäßig erscheinendes Organ des „Auslandsbundes russischer Sozial-demokraten". Die Zeitschrift erschien in Genf von April 1899 bis Februar1902 unter der Redaktion von B. N . Kritschewski, A. S. Ma rty now undW. P. Iwanschin. Insgesamt erschienen 12 Nummern in 9 Heften.

Eine Kritik der Ansichten der Gruppe „Rabotscheje Delo" findet man inLenins Werk „Was tun?" . 350

1 1 8 Der Artikel „Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung" wurde alsLeitartikel in Nr. 1 der „Iskra" veröffentlicht. 365

1 20 Lenin führt die Hauptthese der von Karl Marx verfaßten „AllgemeinenStatu ten der Internationalen Arbeiterassoziation" (I . Internationale) an.(Siehe Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zweiBänden, Bd. I, Berlin 1953, S. 360.) 367

12 1 D ie Rede Tjotr Alexejews, eines Arbeiterrevolutionärs der siebziger Jahredes 19. Jah rhu nde rts, die dieser am 10. (22.) M är z 1877 vor dem zaristi-schen Gericht in Petersburg hielt, wurde zuerst 1877 in London in demSammelband „Wperjod!" (Vorwärts!) (einer unregelmäßig erscheinendenRundschau) veröffentlicht. Danach wurde diese Rede, die bei den russischenArbeitern sehr populär war, wiederholt illegal nachgedruckt. 370

1 2 2 Es han del t sich um den Aufsta nd in Indien, der 1857 be ga nn . D er Auf-stand trug den Charakter eines nationalen Befreiungskampfes; er wurde1859 niedergeschlagen. 372

123 Der Burenkrieg (Oktober 1899 bis Mai 1902), durch den zwei südafrika-nische Republiken, Transvaal und der Oranje-Freistaat, Kolonien Groß-britanniens wurden. 372

12* £> er Jünfte Internationale Sozialistenkongreß der II. Internationale tagtevom 23 . bis zum 2 7. Septe mber 1900 in Pari s. D ie russische Delegationbestan d aus 23 Mitglied ern. D er K ongreß beschloß unter ander em, einständiges Internationales Sozialistisches Büro aus Vertretern der soziali-stischen Parteien aller Länder mit einem Sekretariat in Brüssel zu bilden.378

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Anmerkungen 4 5 3

1 2 5 Arsenjew — A . N. Potressow; Welika — W . I . Sassulitsch; d e r Zwilling —

P . B. Stn ive ; „Trau" — d ie Gattin P. B. Struves, N . A. Strtrve. 3 7 912 6 D e r „Qefährte und Jreund" P. B. Struves — M . I . Tugan-Baranowski. 380

1 27 Lenin zitiert d e n Artikel v o n Gleb Uspenski „Fjodor Michailowitsch R e -schefnikow". (Siehe G . I. Uspenski, Sämtliche Werke, Bd. VI, 1919, S. 682,ross.) 402

12S Lenin zitiert d ie W o r t e d es Obersten Skalosub, einer Gestalt au s A . S .Gribojedows Komödie „Verstand schafft Leiden". (Siehe A. S. Gribojedow,Werke, 1945, S.94, russ.) 4 1 7

1 2 9 Wolter der „grünen Qasse" — Spießrutenlaufen, körperliche Züchtigungder Soldaten, die in der russischen Armee z u r Zeit d e r Leibeigenschaftangewandt wurde. M a n tr ieb d e n Verurteilten, an ein Gewehr gebunden,durch eine Doppelreihe Soldaten, die ihn mi t Knüppeln oder grünen Wei-denruten (Spießruten) schlugen. Besonders häufig wurde diese Strafe unterNikolaus I. (1825—1855) angewandt. 4i8

1 3 0 Wannibalsdbunir — Ausdruck, d e r d i e unerschütterliche Entschlossenheit,für etwas b i s zu m letzten z u kämpfen, bezeichnet. D e r Ausdruck gehtzurück auf den karthagischen Heerführer Hannibal. 4i9

1 3 1 D e r Artikel „Arbeiterpartei un d Bauernschaft" is t eine Skizze d es Agrar-programms d e r SDAPR, da s im N a m e n d e r Redaktionen d e r „Iskra" u n dder „Sarja" im Sommer 1902 veröffentlicht und vom I I . Par tei tag d e rSDAPR angenommen wurde. 422

1 3 2 Viertelanteil oder 'Bettelanteil — d e r vierte Teil d e s sogenannten „maxi-malen" oder „verordneten", d. h . b ei Durchführung d e r Reform von 1861fü r die betreffende Gegend gesetzlich festgelegten bäuerlichen Bodenanteils.Ein Teil d e r ehemaligen leibeigenen Bauern erhielt von den Gutsherrendiese Bettelanteile umsonst (ohne Loskauf) . Darum wurden d ie Viertel-

anteile auch „geschenkte" Bodenanteile genannt, u n d m a n sprach v o nBauern m it „geschenktem" Bodenanteil. 422

1 3 3 Als zeitweilig verpflidbtet wurden diejenigen ehemaligen leibeigenen Bauernbezeichnet, d ie auch nach Aufhebung d e r Leibeigenschaft im Jah re 1861noch Lasten (Fronzins oder Frondienst) z u tragen hatten, u n d zwar solange, bis s ie m i t dem Loskauf ihres Bodenanteils beim Gutsbesitzer b e -gonnen hatten.

Nach Abschließung des Loskaufvertrags hörte d e r Bauer auf, „zeitweilig

29 Lenin, W erke, Bd. 4

6

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454 Anmerkungen

verpflichtet" zu sein und gehörte von nun an zur Gruppe der „bäuerlichen

Eigentümer". 4231 3 4 lirbarialurkunden — so hießen die von den Gutsbesitzern bei der „Be-

freiung" der Bauern durch die Reform von 1861 verfaßten Urkunden. Inder Urbarialurkunde wurden der Umfang der Bodenfläche angegeben, diedie Bauern bis zur Reform in Nutzung hatten, sowie die Äcker und Wei-den bezeichnet, die den bei der „Befreiung" bestohlenen Bauern verblieben.In der Urkunde wurden ferner die Lasten aufgezählt, die die leibeigenenBauern früher zugunsten des Gutsherrn getragen hatten. Auf Grund dieserUrbarialurkunden wurde die Höhe der von den Bauern zu leistenden Los-kaufzahlungen bestimmt. 423

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DATEN AUS DEM LEBEN UND WIRKENW. I. LENINS

(1898 bis April 1901)

29*

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457

Vor dem24. Januar(5.7ebruar)

Zwisdoen dem7. und 14.(l9.und26.)Jebruar

Von Ende Fe-

bruar (AnfangMärz) bis August

Ende Mai (An-fang Juni)

10. C22.) Juli

9.(21.) August

Vor dem

26. August(7. September)

ii.—25. Septem-ber (23. Septem-ber—7. Oktober)

9.—l5.(2i. bis27 J Oktober

1898

Lenin schreibt dem O rganisator u nd Leiter der ersten m arxi-stischen Zirkel in Kasan, N. J. Fedossejew, zwei Briefe nachWercholensk (Sibirien).

Lenin rezensiert das Buch „Kurzer Lehrgang der ökonomi-schen Wissenschaft" von A. Bogdanow.

Lenin übe rsetzt Band I des Buches von S. und B. W eb b

„Theorie und Praxis der englischen Gewerkvereine".

Reise Lenins und N. K. Krupskajas von Schuschenskoje nach

Minussinsk. Teilnahme an einer Versammlung Verbannter.

Eheschließung W. I. Lenins mit N. K. Krupskaja.

Lenin beendet das Buch „Die Entwicklung des Kapitalismusin Rußland" in erster unreiner Niederschrift.

Lenin schreibt den Artikel „Zur Frage unserer Fabrik- und

Werkstatistik (Neue statistische Taten Professor Kary-schews)".

Reise Lenins nach Krasnojarsk, Arbeit in der Bibliothek undZusammenkünfte mit den am Ort lebenden politischen Ver-bannten.

In Rußland erscheint der erste Sammelband von ArbeitenLenins, die „ökonomischen Studien und Aufsätze" unter demNamen Wladimir Iljih.

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458 Daten aus dem Leben und Wirken TV. 7. Lenins

Herbst In Genf erscheint die Broschüre Lenins „Die Aufgaben der

russischen Sozialdemokraten".24. "Dezember Reise Lenins und N . K. Krupskajas nach M inussinsk. Lenin1898 bis 2. Ja- nimmt teil an einer Versammlung verbannter Marxisten, dienuar 1899 (5. bis aus verschiedenen Orten des Minussinsker Kreises zusam-14. Januar 1899) mengekommen sind.

30. Januar(ll.Jebruar)

Januar

Jcbruar

ErsteMärzbälfte

Vor dem21. März(2 . April)

24.—31. März

(5-12. April)

4.(16.) Aprilbis 9. C21.) M ai

2. (14.) Mai

1899

Lenin schließt die Vorbereitungsarbeiten zur Drucklegungdes Buches „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland"ab.

In der Zeitschrift „Nautschnoje Obosrenije" Nr. 1 wird derArtikel Lenins „Notiz zur Frage der Theorie der Märkte(Aus Anlaß der Polemik zwischen Herrn Tugan-Baranowskiund Herrn Bulgakow)" veröffentlicht.

Lenin rezensiert die Bücher „Das wuchertreibende Kulaken-tum, seine sozialökonomische Bedeutung" von R. Gwosdew,„Der Weltmarkt und die Agrarkrisis" von Parvus und dasHandbuch „Handel und Industrie in Rußland".

Lenin schreibt den gegen Struve gerichteten Artikel „Nocheinmal zur Frage der Realisationstheorie".

Lenin rezensiert das Buch K. Kautskys „Die Agrarfrage".

Lenins Buch „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland.

Der Prozeß der Bildung des inneren Marktes für die Groß-industrie" erscheint unter dem Namen Wladimir Iljin.

Lenin schreibt zwei Artikel mit dem gemeinsamen Titel „DerKapitalismus in der Landwirtschaft, (über das Buch Kaut-skys und einen Artikel des Herrn Bulgakow)".

Haussuchung bei Lenin im Dorf Schuschenskoje. Lenin wirdvon der Polizei verhört, die festgestellt hat, daß er mit ver-bannten Sozialdemokraten in Briefwechsel steht.

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Daten aus dem Leben und Wirken W.J. Lenins 45 9

M ai In N r. 5 der Zeitschrift „Na tschalo" w ird die RezensionLenins über das Buch Hobsons „Die Entwicklung des mo-dernen Kapitalismus" veröffentlicht.

Vor dem 29. TAai Lenin schreibt den gegen den Revisionismus gerichteten Ar-C10. Juni) tikel „Antwort an Herrn P. Neshdanow".

Vordem Lenin verfaßt den „Protest russischer Sozialdemokraten"22 . August gegen das „Credo", das Manifest der „Ökonomisten".(3 . September)

Lenin organisiert in dem Dorf Jermakowskoje eine Beratungvon 17 politisch verbannten Marxisten, in der der von Lenin

verfaßte „Protest russischer Sozialdemokraten" angenommenwird.

9.—i5. (2i. bis Von Lenin (Wladimir Iljin) ins Russische übersetzt, erscheint27.) September Band I des Buches von S. und B. Webb „Theorie und Praxis

der englischen Gewerkvereine".

10. (22.) Sep- Lenin nimmt im Dorfe Jermakowskoje an dem Begräbnistember A. A. W anejews, eines in der Verbannung verstorbenen M it-

glieds des Petersburger „Kampfbundes zur Befreiung derArbeiterklasse", teil und hält die Grabrede.

Anfang Septem- Lenin redigiert zusammen mit N. K. Krupskaja die ihm ausber 1899 bis 19. Petersburg übersandte russische Übersetzung von Band II(31.) Januar des Buches von S. und B. Webb „Theorie und Praxis der1900 englischen Gewerkvereine".

3Vtd>f vo r Lenin akzeptiert den Vorschlag, die „Rabotschaja Gaseta",Oktober die vom I. Par teitag der SDA PR als offizielles Organ der

Partei anerkannt wurde, zu redigieren, und etwas später denanderen Vorschlag, an dieser Zeitung mitzuarbeiten. Leninschreibt drei Artikel für die „Rabotschaja Gaseta" und den

„Brief an die Redakteurgruppe".

Ende des Lenin rezensiert das Buch „Die Arbeiterbewegung im We-Jabres sten" von S. N . Prokopowitsch.

Lenin rezen siert das Buch K. Kau tskys „Bernstein un d dassozialdemokratische Programm. Eine Antikritik".Lenin üb erse tzt gemeinsam mit N . K. Krupskaja das BuchK. Kautskys „Bernstein und das sozialdemokratische Pro-gramm. Eine Antikritik",

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460 Daten aus dem Leben und W irken W. 1. Lenins

In Genf erscheint als Sonderdruck au s N r. 4/5 des „Rabo-

tscheje Delo" der von Lenin verfaßte „Protest russischer So-zialdemokraten".Lenin schreibt die Artikel „Entwurf eines Programms unse-rer Partei", „Eine rückläufige Richtung in der russischen So-zialdemokratie", „Aus Anlaß der ,Profession de foi'", „ÜberGewerbegerichte", „über Streiks".

i89Sli899 Lenin korrespondiert mit dem in der Verbannung lebendenF. W . Lengnik (Ha uptth em a des Briefwechsels ist die Er-örterung philosophischer Fragen).

1900

29.Januar Ende der Verbannungszeit Lenins.(lO.Jebruar) Lenin und N . K. Krupskaja verlassen das Dorf Schuschen-

skoje und fahren nach dem europäischen Rußland. Da Leninverboten ist, in Hauptstädten, Universitätsstädten und grö-ßeren Arbeiterzentren zu leben, wählt er Pskow als seinen

Wohnsitz, das für den Verkehr mit Petersburg die meistenVorteile bietet.

Erste Auf der Fahrt aus Sibirien macht Lenin in Ufa Station, wo7ebruarbä\fte N . K. Krupskaja bleibt, bis ihre V erbannungszeit abgelau-

fen ist. Lenin trifft mit nach Ufa verbannten Sozialdemokra-ten (A. D. Zjurupa und anderen) zusammen.

Mitte Jebruar Lenin fährt illegal nach Moskau und hält sich bei seinenAngehörigen auf.

Lenin erfahrt durch den Vertreter des JekaterinoslawerKomitees I. Ch. Lalajanz von den Vorbereitungen zur Ein-berufung eines II. Parteitages der SDA PR; ihm wird vor-geschlagen, am Parteitag teilzunehmen sowie die Redaktionder „Rabotschaja Gaseta" zu übernehmen.

Vordem Lenin hält sich illegal in Petersburg auf, trifft sich mit W. I.26. 7ebruar Sassulitsch, die nach Rußland gekommen ist, und führt mit(10. März) ihr Verhandlungen über die Teilnahme der Gruppe „Be-

freiung der Arbeit" an der Herausgabe einer gesamtrussi-

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Daten aus dem Leben und "Wirken TV3. Lenins 461

sehen marxistischen Z eitun g sowie einer Zeitschrift, die beide

im Ausland erscheinen sollen.26. Jebruar Lenin trifft in Pskow ein, wo er unter geheime Polizeiaufsicht(10. März) gestellt wird.

7rübjahr Lenin nimmt mit sozialdemokratischen Gruppen und einzel-nen Sozialdemokraten in verschiedenen Städten RußlandsVerbindung auf und führt mit ihnen Verhandlungen über ihreMitwirkung bei der Herausgabe der künftigen „Iskra".Lenin fährt illegal nach Riga, um mit den dortigen Sozial-demokraten Verbindung aufzunehmen. In Pskow beteiligtsich Lenin an einer Versammlung der dortigen revolutionä-

ren und oppositionellen Intellektuellen; er unterzieht denRevisionismus einer Kritik.

Ende März bis Lenin verfaßt den Entwurf einer Ankündigung der Redak-Anjang April, tion über Programm und Aufgaben einer gesamtrussischenbis zum politischen Zeitung („Iskra") und einer wissenschaftlich-poli-4.(17.) April tischen Zeitschrift („Sarja").

Lenin veranstaltet eine Beratung von revolutionären Marxi-sten m it „legalen M arxisten " (P. B. Struve, M . I. Tug an-Baranowski) über ihre Mitwirkung bei der Herausgabe der

„Iskra" und der „Sarja" („Pskower Beratung").April—Mai Lenin schreibt einen Bericht der „Iskra"-Gruppe, der dem

geplanten II. Pa rteita g der SDA PR vorgelegt werden soll,und erhält von der Gruppe „Befreiung der Arbeit" ein Man-dat für den Parteitag.

5. (18.) Ma i Lenin erhält einen Auslandspaß zur Reise nach D eutschland.

20. M ai (2 . Juni) Lenin kommt illegal nach Petersburg, um mit den dortigenSozialdemokraten Verbindung aufzunehmen.

21.Mai (3 . Juni) Verhaftung und Verhör Lenins in Petersburg.

31 . Mai(l3.Juni)

1.-7.(14. bis20.) Juni

Lenin wird aus der Haft entlassen.

Lenin wohnt bei seinen Angehörigen in Podolsk (in der NäheMoskaus).Auf Einladung Lenins kommen einige Sozialdemokraten(P. N . Lepeschinski, S. P . und S. P . Schesternin u. a.) nachPodolsk, mit denen Lenin Vereinbarungen über ihre Mitwir-

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462 Baten aus dem Leben und W irken IV. J. Lenins

kung bei der Herausgabe der zu gründenden Zeitung „Iskra"

trifft.7. (20.) "Juni Lenin fährt über Nishnl-Nowgorod (heute Gorki) nach Ufa

zu N. K. Krupskaja.

8. oder 9 . (2i. Lenin trifft mit den Nishni-Nbwgoroder Sozialdemokratenoder 22.) Juni Vereinbarungen über deren Unterstützung der „Iskra".

Zweite Lenin trifft in Ufa mit den dorthin verbannten Sozialdemo-Junihalf e kraten Vereinbarungen über deren Un terstütz ung d er „ Iskra".

Lenin fährt von Ufa nach Podolsk.

2. (J

Zwischen dem 2. Lenin macht in Samara (heute Kuibyschew) Station, wo erund 10.(15.und mit den dortigen Sozialdemokraten Vereinbarungen über23 J Juli deren Mitwirkung bei der Herausgabe der „Iskra" trifft.

10. (23.) Juli Lenin kehrt nach Podolsk zurück.

16. (29.) Juli Lenin fährt ins Ausland.

Anfang August Zweitägiger Aufenthalt Lenins in Zürich. Unterredungen mitP. B. Axelrod über die H erausgabe der „Iskra" und der„Sana".Verhandlungen Lenins mit G . W . Plechanow in Genf überdie Herausgabe der „Iskra" und der „Sarja"; bei der Er-örterung des Leninschen Entwurfs einer Ankündigung „ImNamen der Redaktion" treten Meinungsverschiedenheitenmit Plechanow zutage.In Bellerive (bei Genf) führt Lenin Verhandlungen mitN . E. Bauman und anderen Sozialdemokraten über ihre Mit-arbeit an der „Iskra".

11.—15. (24. bis Lenin nimmt an einer Beratung mit der Gruppe „Befreiung28.) August der Arbeit" in Corsier (bei Genf) teil; in der Beratung wird

die Herausgabe und gemeinsame Redaktion der „Iskra" undder „Sarja" erörtert.

20. August Lenin schreibt einen Bericht, in dem er schildert, unter wel-(2 . September) chen Verhältnissen die Verhandlungen mit Plechanow ge-und später führt wurden. (,,Wie der ,Funke' beinahe erloschen wäre.")

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"Daten aus dem Ceben und "Wirken W.J.Lenins 463

22. oder

23 . August(4. oder 5. Sep-tember)

Zwischen dem23 . August unddem 2. Septem-ber (5. und15. September]

24. August(6. September)

Zwischen dem27. Septemberund dem 5. Ok-tober (to. u nd18. Oktober)

13.(26.) Oktober In einem Brief a n A . A. Jakubo wa lehnt L enin im Nam ender „Iskra"-Gruppe entschieden die Aufforderung ab, amOrgan der „Ökonomisten", der „Rabotschaja Mysl", mitzu-arbeiten.

Lenin verfaßt den Entwurf einer Vereinbarung zwischen der

„Iskra"-Gruppe und der Gruppe „Befreiung der Arbeit"über die Herausgabe der „Iskra" und der „Sarja" sowie überdie gegenseitigen Beziehungen dieser Gruppen in der Re-daktion dieser Organe.

In einem Briefwechsel mit einem unbekannten russischen So-zialdemokraten verwirft Lenin kategorisch jedes Überein-kommen mit dem „Auslandsbund russischer Sozialdemo-kraten", einer Organisation der „Ökonomisten".

Lenin fährt von Nürnberg nach München.

Die von Lenin verfaßte „Ankündigung der Redaktion der,Iskra'" erscheint als Sonderdruck. Die Ankündigung wirdzur Verbreitung unter den sozialdemokratischen Organisa-tionen und Arbeitern nach Rußland geschickt.

AnfangNovember

November

Ende November(erste Dezember-

hälfte)

Zwischen dem1. und dem 10.(l4.und23.)Dezember

11.(24.) De-zember

Lenin schreibt das Vorwort zu der Broschüre „Die Maitagein Charkow".

Lenin redigiert die erste Nummer der „Iskra" und bereitetsie zum Druck vor.

Lenin trifft Vorbereitungen zur Herausgabe von Nr. 1 derZeitschrift „Sana" in Stuttgart.

Lenin reist von München nach Leipzig, um der ersten Num-mer der „Iskra" vor ihrer Herausgabe die endgültige Fas-sung zu geben.

Es erscheint die erste Nummer der „Iskra" mit den ArtikelnLenins: „Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung"(Leitartikel), „Der China-Krieg" und „Die Spaltung im Aus-landsbund russischer Sozialdemokraten",

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464 Baten aus dem Leben und "Wirken IV. 3. Lenins

Zwischen dem Lenin nimmt an den Verhandlungen der Redaktion der

16. (29.) T>ezem- „Iskra" und der „Sarja" mit dem nach München gekomme-ner 1900 und nen P. B. Struve teil, in denen die Bedingungen für dessenMitte Tebruar Mitarbeit an diesen Organen erörtert werden.i90i Lenin spricht sich kategorisch gegen ein Übereinkommen mit

Struve aus.

1901

'Januar—März Unter der Leitung Lenins entfaltet sich die Arbeit der „Grup-

pen zur Unterstützung der ,Iskra'" und ihrer Vertrauens-leute in Rußland (Petersburg, Moskau, Pskow, Poltawa,Samara, Südrußland u. a.).

Erste Es erscheint die zweite Nummer der „Iskra", in der der Ar-Jebruarhälfte tikel Lenins „ Zwa ngsrekrutierung von 183 Studenten" ver-

öffentlicht wird.

Mitte Jebruar Lenin reist nach Prag und Wien, um die Reise N. K. Krap-skajas ins Ausland zu organisieren.

£nde7ebruarbis Lenin führt Verhandlungen über die Einrichtung einer

erste Märzhälfte illegalen Druckerei der „Iskra" in Rußland (in Kischi-(März) njow).

10. (23.) März Es erscheint die erste Nummer der „Sarja" mit drei ArtikelnLenins unter dem zusammenfassenden Titel „Zufällige No-tizen".

12. (25.) April Lenin entwickelt vor der Gruppe „Befreiung der Arbeit"einen Plan zur Vereinigung der russischen revolutionärensozialdemokratischen Auslandsorganisationen, die sich umdie „Iskra" gruppieren, zu einer „Liga der russischen revo-

lutionären Sozialdemokratie".

19. April Es erscheint die dritte Nummer der „Iskra", in der der Ar-(2.Mai) tikel Lenins „Arbeiterpartei und Bauernschaft" veröffentlicht

wird.

Zwischen dem In einer Beratung der Redaktion der „Iskra" und der „Sarja"24. April und in München werden der von Lenin entwickelte Plan zurdem I.Mai Organisierung der „Auslandsliga der russischen revolutionä-(7. und 14.Mai) ren Sozialdemokratie" und ihr vorläufiges Statut erörtert.

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465

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort VII

1898

Zur Frage unserer Fabrik- und Werkstatistik (Neue statistischeTaten Professor Karyschews) 1—35

Rezension. A. Bogdanow, Kurzer Lehrgang der ökonomischen Wis-senschaft. Moskau 1897. Verlag des Bücherlagers A. Murinowa.290 S. Preis 2 Rubel 3 6- 44

Notiz zur Frage der Theorie der Märkte (Aus Anlaß der Polemikzwischen Herrn Tugan-Baranowski und Herrn Bulgakow) . . . . 45—54

1899

Rezension. Parvus, Der Weltmarkt und die Agrarkrisis. ökono-mische Skizzen. Aus dem Deutschen übertragen von L. J., St.Petersbu rg 1898. Verlag O . N . Popowa (Bildende Bibliothek,

2. Serie, N r. 2). 142 S. Preis 40 Kop 5 5 -5 6Rezension. R. Gwosdew, Das wuchertreibende Kulakentum, seine

sozialökonomische Bedeutung. St. Pet ersb urg 1899.Verlag N .G ar in 57—59

Rezension. Handel und Industrie in Rußland. Handbuch für Kauf-leute und Fabrikanten. Zusammengestellt unter Redaktion vonA. A. Blau, Leiter der statistischen Abteilung im Departementfür Handel und Man ufakturen. St. Petersburg 1899. Preis10 Rubel • 6 0 - 6 3

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466 Inhaltsverzeichnis

Noch einmal zur Frage der Realisationstheorie 64—83

Rezension. Karl Kautsky, Die Agrarfrage. Eine Übersicht über dieTendenzen der modernen Landwirtschaft und die Agrarpolitikusw. Stu ttga rt, Die tz, 1899 84—89

Rezension. Hobson, Die Entwicklung des modernen Kapitalismus.Aus dem Englischen. St. Petersburg 1898. Verlag O . N. Popowa.Preis 1,50 Rubel 9 0 -9 3

Der Kapitalismus in der Landwirtschaft (über das Buch Kautskys

und einen Artikel des Herr n Bulgakow) 95—150

Erster Artikel 99I 100

II 103

III 109

IV 122

V • 128

Zweiter Artikel 137

I 137

II 148

Antwort an He rrn P. Neshdanow 151—157

Protest russischer Sozialdemokraten 159—175

Rezension. S. N . Prokopowitsch, Die Arbeiterbewegung im Westen 176—186

Rezension. Karl Kautsky, Bernstein und das sozialdemokratischeProgram m. Eine An tikritik 187—198

Artikel für die „Rabotschaja Ga seta" 199—220Brief an die Red akteu rgruppe 201

Unse r Programm 204Unsere nächste Aufgabe 209Eine dringende Frage 215

Entwurf eines Programm s unserer Par tei 221—248

Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie . . 249—279

Aus Anlaß der „Profession de foi" 28 0- 29 0

Üb er Gewerbegerichte . . 291—304

üb er Streiks . . . . • 305-315

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Inhaltsverzeichnis 46 7

1900Entwurf einer Ankündigung der Redaktion der „Iskra" und der

„Sarja" 316-327

W ie der „Funk e" beinahe erbschen wäre 328—346

Entwurf einer Vereinb arung 347

Ank ündigung der Redaktion der „Iskra " 348—354

Vorwort zu der Broschüre „Die M aitag e in Ch arkow " 357—364

Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung 365—370

Der China-Krieg 371 -376Die Spaltung im Auslan dsbund russischer Sozialdemokraten .. . . 377—378

Aufzeichnung vom 29. Dezem ber 1900 379—381

1901

Zufä llige Notizen 383—415I. Prügle, abe r nicht zu Tod e 387

II . "Warum den W andel der Zeiten beschleunigen? . . . . : . 403