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Seminararbeit im Rahmen des Seminars „Wilde Kinder. Enkulturation und Disziplinierung“ (Prof. Dr. phil.I habil. Hans-Ulrich Grunder) Lernen und Bildung aus subjektwissenschaftlicher Perspektive- Auseinandersetzung mit dem subjektwissenschaftlichen Ansatz in den Erziehungswissenschaften und die Umsetzung in der Hochschuldidaktik „ Lernen ist eines der grossen humanen Phänomene und Inbegriff einer eigenen Leidenschaft; [...]. “ 1 Heinz-Joachim Heydorn Seminararbeit eingereicht am 18.1.2012 von: Anna Jossi Fabrikstrasse 3 4500 Solothurn [email protected] Studiengang Educational Sciences PH FHNW/Universität Basel 1 Heydorn, Heinz-Joachim (2004): Zum Bildungsproblem in der gegenwärtigen Situation

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Seminararbeit im Rahmen des Seminars „Wilde Kinder. Enkulturation und Disziplinierung“ (Prof. Dr. phil.I habil. Hans-Ulrich Grunder) Lernen und Bildung aus subjektwissenschaftlicher Perspektive- Auseinandersetzung mit dem subjektwissenschaftlichen Ansatz in den Erziehungswissenschaften und die Umsetzung in der Hochschuldidaktik „ Lernen ist eines der grossen humanen Phänomene und Inbegriff einer eigenen Leidenschaft; [...]. “1

Heinz-Joachim Heydorn Seminararbeit eingereicht am 18.1.2012 von: Anna Jossi Fabrikstrasse 3 4500 Solothurn [email protected] Studiengang Educational Sciences PH FHNW/Universität Basel

1 Heydorn, Heinz-Joachim (2004): Zum Bildungsproblem in der gegenwärtigen Situation

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Erklärung Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende schriftliche Arbeit „Lernen und Bildung aus subjektwissenschaftlicher Perspektive-Auseinandersetzung mit dem subjekt-wissenschaftlichen Ansatz in den Erziehungswissenschaften und die Auswirkungen auf die Hochschuldidaktik“ in allen Teilen selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel (einschliesslich elektronischer Medien und Online-Ressourcen) verwendet habe. Zudem bestätige ich, dass ich vertraut bin mit den von der Philosophisch- Historischen Fakultät der Universität Basel herausgegebenen „Regeln zur Sicherung wissenschaftlicher Redlichkeit“ und diese gewissenhaft befolgt habe. Solothurn, 18. 1. 2012 Anna Jossi

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Einleitung......................................................................................................................................4  Problemstellung................................................................................................................................... 4  Erkenntnisinteresse ........................................................................................................................... 5  Fragestellungen.................................................................................................................................... 5  Methodisches  Vorgehen .................................................................................................................... 5  Thesen ..................................................................................................................................................... 6  

Hauptteil........................................................................................................................................7  Lernen ............................................................................................................................................7  Lerntheorie,  Subjekttheorie  und  Bildungstheorie .........................................................7  Lerntheoretische  Bezüge  und  Stellenwert  des  Subjekts........................................................ 7  

Holzkamps  subjektwissenschaftliche  Lerntheorie...................................................... 10  Holzkamps  Erkenntnisinteresse ................................................................................................. 10  Der  Lernbegriff  nach  Holzkamp .................................................................................................. 11  Lehr-­‐Lernkurzschluss....................................................................................................................................11  Bedingtheits-­‐Begründungsdiskurs ..........................................................................................................11  Intentionales  Lernen ......................................................................................................................................12  Expansives-­‐Defensives  Lernen ..................................................................................................................12  

Holzkamps  Subjektverständnis................................................................................................... 12  Pädagogischer  Lernbegriff ............................................................................................................ 13  

Bildung........................................................................................................................................ 14  Der  Bildungsbegriff  in  der  kritischen  Theorie ....................................................................... 14  Bildungsbegriff  nach  Humboldt ................................................................................................................15  Bildungsbegriff  der  kritisch-­‐konstruktiven  Erziehungswissenschaft  nach  Klafki..............15  Bildungsbegriff  nach  Heydorn ...................................................................................................................16  

Der  Lern-­  und  Bildungsbegriff  und  Subjektwissenschaft.......................................... 18  Lern-­  und  Bildungsbegriff  im  Vergleich.................................................................................... 18  Lehren  und  Lernen  aus  subjektwissenschaftlicher  Perspektive ..................................... 19  Auswirkungen  der  Subjektwissenschaft  auf  die  Lehrerbildung ...................................... 20  

Modelle  subjektorientierter  Didaktik.............................................................................. 21  Konstruktivistische  Erwachsenenbildung    (Rolf  Arnold)................................................... 21  Kritik  an  konstruktivistischen  Lerntheorien  in  der  Erwachsenbildung..................................22  

Subjektwissenschaftliche  Didaktik    (Joachim  Ludwig) ....................................................... 22  Subjektwissenschaftliche  Didaktik  am  Beispiel  Fallarbeit ............................................................22  Vergleich  Holzkamps  Lernverständnis  und  subjektwissenschaftlicher  Ansatz...................23  

Selbstsorgendes  Lernen  (Hermann  Forneck)......................................................................... 24  Vergleich  Holzkamps  Lernverständnis  und  Selbstsorgendes  Lernen ......................................25  

Gemeinsamkeiten  und  Unterschiede  der  subjektwissenschaftlichen  Modelle .......... 25  Diskussion  der  Thesen .......................................................................................................... 27  

Lernen  und  Bildung  in  Zusammenhang  mit  dem  subjektwissenschaftlichen  Ansatz .......27  Potential  und  Begrenzung  der  subjektwissenschaftlichen  Didaktik  in  der  Lehrerbildung..................................................................................................................................................................................28  

Zusammenfassung  der  Thesen ........................................................................................... 30  Lernen  als  Erfahren ................................................................................................................ 32  Fazit.............................................................................................................................................. 35  Schlusswort ............................................................................................................................... 38  Literatur ..................................................................................................................................... 39  

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Einleitung  

Problemstellung   „Lernen“ ist im Kontext des „selbstorganisierten Lernens“ und der „Wissensgesellschaft“

zu einem zentralen Gegenstand des erziehungswissenschaftlichen Diskurses geworden. Die

bildungspolitische Forderung nach dem „Lebenslangen Lernen“ lässt sich in den

Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Transformationen stellen. Als Beispiel für

diesen Wandel kann der Europäische Qualifikationsrahmen2 für Lebenslanges Lernen von

2008 als Referenzrahmen dienen. Denn aufgrund dieses Leitpapiers können die

Qualifikationssysteme der einzelnen Länder miteinander verglichen werden. Die Frage

„Wie lernen zukünftige Lehrerinnen und Lehrer?“ beschäftigt mich aufgrund meiner

beruflichen Tätigkeit an der Pädagogischen Hochschule. Es stellt sich die Frage, ob und

wie sich die Ausbildung von Lehrpersonen verändert. Neue Lernformen können zum einen

mit den veränderten gesellschaftlichen Anforderungen oder zum andern lerntheoretisch

begründet werden. Mich interessiert die Begründungslage, weshalb das subjektorientierte

Lernen in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung propagiert wird. Die Vorschläge, wie das

selbstorganisierte, selbstgesteuerte Lernen in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung

umgesetzt werden soll, sind zahlreich. Ich möchte untersuchen, welche subjektorientierten

didaktischen Ansätze in der Lehrerbildung verbreitet sind. Auf welche theoretischen

Grundannahmen stützen sich die Konzeptionen des selbstgesteuerten, selbstbestimmten

Lernens? Ich werde im Bezug auf eine Kritische Pädagogik die gesellschaftlichen

Vorgänge sozialkritisch analysieren. Ich werde die bildungstheoretische Relevanz der

subjektwissenschaftlichen didaktischen Modelle erörtern. Borst (2011) betont die

Bedeutung der Bildungstheorie: „Voraussetzung einer jeden Theorie von Bildung ist die

Frage nach der Subjektkonstitution und der historisch gesellschaftlichen Existenzweisen

der Subjekte“ (S. 12). Insbesondere scheint mir hinterfragenswert, welches Verständnis von

Lernen und von Bildung in der Lehrerbildung vermittelt wird. Es scheint mir, dass es aus

normativer Sicht auf die Pädagogik auch den Bereich des verwendeten Lern- und

Bildungsbegriffs zu beleuchten gilt. In dieser Seminararbeit will ich ergründen, ob es für

die Erziehungswissenschaft einen Bildungsbegriff braucht und inwiefern sich dieser mit

dem subjektwissenschaftlichen Ansatz verknüpfen lässt. 2 Europäische Kommission (2008). Der Europäische Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen (EQR). Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften.

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Erkenntnisinteresse   Ausgehend von Holzkamps subjektwissenschaftlichem Ansatz soll dessen Rezeption in den

Erziehungswissenschaften dargelegt werden. Ist er als Vertreter der Kritischen Psychologie

in der Erziehungswissenschaft mit seinem Werk „Lernen- subjektwissenschaftliche

Grundlegung“ anschlussfähig? Wie konstituiert sich der Lernbegriff nach Holzkamp? Es

interessiert, wie die Lehrerinnen- und Lehrerbildung den subjektwissenschaftlichen Ansatz

diskutiert, insbesondere welche Konzepte in der Lehrerbildung umgesetzt werden und wie

die Auswahl der didaktischen Methoden begründet wird. Es wird erörtert, welches Potential

der subjektwissenschaftliche Ansatz für die Hochschuldidaktik enthält. Halten die

didaktischen Ansätze, welche in der Lehrerbildung eingesetzt werden, den Forderungen der

kritischen subjektwissenschaftlichen Lerntheorie nach Holzkamp stand?

Fragestellungen     Durch welche Merkmale kennzeichnet sich die subjektwissenschaftliche Lerntheorie nach

Holzkamp?

Weshalb ist aus bildungstheoretischer Sicht eine Klärung des Lern- und Bildungsbegriffs

nötig, um das subjektwissenschaftliche Verständnis von Lernen zu verstehen?

Was kann der subjektwissenschaftliche Ansatz für die Hochschuldidaktik in der

Lehrerinnen- und Lehrerbildung leisten?

Methodisches  Vorgehen  

Ich werde die Fragestellungen anhand folgenden Vorgehens beantworten: Zuerst werde ich

die Begriffsklärung durchführen, indem ich die Begriffe Lernen und Bildung eingrenze und

im pädagogischen Kontext einordne. Die Begrifflichkeiten lassen sich aus

unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, erstens aus einer geisteswissenschaftlichen

Perspektive, zweitens aus einer empirisch-analytischen Perspektive und als drittes aus einer

kritischen Perspektive. Ich beschränke mich auf die kritische Perspektive, weil sie Lernen

jeweils im sozialen und historischen Kontext situiert. Im Gegensatz zur

geisteswissenschaftlichen und empirischen Perspektive gibt die kritische Perspektive

Anhaltspunkte zur Reflexion über Macht- und Herrschaftsgefüge.

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Anschliessend soll eine konzeptionelle Einbettung dadurch erfolgen, dass ich die

Rahmenbedingungen der Subjektwissenschaft miteinbeziehe und Lernen und Bildung aus

subjektwissenschaftlicher Perspektive analysiere. In einem dritten Schritt werde ich ein

Kontextualisierung vornehmen, dabei allfällige Gemeinsamkeiten und Unterschiede vom

subjektwissenschaftlichen Lernverständnis und dem Bildungsbegriff der Kritischen Theorie

aufzeigen. Zum Schluss soll anhand von drei Beispielen dargestellt werden, mit welchen

subjektwissenschaftlichen Modellen in der Lehrerbildung gearbeitet wird und wie die

subjektwissenschaftliche Lerntheorie in der Didaktik der Lehrerbildung umgesetzt wird.

Thesen    

Aus den Fragestellungen leite ich folgende drei Thesen ab, die ich innerhalb dieser

Seminararbeit prüfen werde:

Holzkamps Lerntheorie wird in der subjektwissenschaftlichen Didaktik umgesetzt.

Der Bildungsbegriff der kritischen Theorie entspricht dem subjektwissenschaftlichen

Verständnis von Lernen.

Der subjektwissenschaftliche Ansatz bietet kritisches Reflexionspotential für die

Lehrerinnen- und Lehrerbildung.

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Hauptteil  

Lernen     Lernen kann aus biologischer, psychologischer, philosophischer und pädagogischer

Perspektive betrachtet werden. Ich werde hier vor allem auf die pädagogische Perspektive

eingehen. Für das Verständnis von Lernen ist entscheidend, welche Bezugstheorien zu

Grunde gelegt werden. Je nachdem, ob ich eine behavoristische, kognitivistische,

subjektwissenschaftliche, konstruktivistische, neurowissenschaftliche Theorie beiziehe,

komme ich zu anderen Schlüssen, was Lernen bedeutet. Ich beschränke mich in der

vorliegenden Arbeit auf die subjektwissenschaftliche Lerntheorie. Dennoch scheint es mir

für die Begründung eines subjektwissenschaftlichen Ansatzes sinnvoll, die

Zusammenhänge zwischen Lerntheorie, Subjekttheorie und Bildungstheorie zu erläutern.

Lerntheorie,  Subjekttheorie  und  Bildungstheorie   Im Grunde genommen sind Lerntheorien- und Bildungstheorien auch Subjekttheorien,

auch wenn sie das Subjekt oftmals nicht explizit thematisieren. Lern- und Bildungstheorien

beinhalten unterschiedliche Subjektkonzeptionen. Künkler (2002) verweist auf diesen

Zusammenhang: „Die expliziten oder impliziten subjekttheoretischen Annahmen

bestimmen nicht nur wesentlich, was jeweilig überhaupt unter Lernen verstanden werden

kann, sondern auch ob, und wenn ja auf welche Weise der Vollzug des Lernens von der

eingenommenen theoretischen Perspektive thematisiert werden kann“ (S. 33).

Lerntheoretische  Bezüge  und  Stellenwert  des  Subjekts  

Für das Verständnis von Lernen ist entscheidend, welche Bezugstheorien zu Grunde gelegt

werden. Ich stelle hier nur sehr verkürzt die wichtigsten Bezugstheorien in ihrer

historischen Entwicklung vor. Es scheint mir vor allem für die Subjektkonzeption

wesentlich die unterschiedlichen Verständnisse aufzuzeigen. Ich beschränke mich dann

aber im weiteren Verlauf der Arbeit auf die subjektwissenschaftliche Lerntheorie.

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Behaviorismus Bis in die 1960-er Jahre wurde das Phänomen Lernen anhand eines Reiz-Reaktions-

Modells beschrieben, welches in experimentellen Anordnungen wissenschaftlich

kontrolliert eingefangen werden sollte. Die Umwelt erzeugt das Verhalten des Menschen.

Durch äussere Einwirkung kommt es zu einer Verhaltensveränderung. Die Subjektivität

wird in diesem Verständnis exkludiert (vgl. Künkler, 2002, S. 35).

Kognitivismus Im Paradigma der Kognitionspsychologie wird ab den 1960-er Jahren Lernen als ein

Prozess der Informationsverarbeitung verstanden. Der Computer dient als Metapher und

wird als Hilfsmodell menschlicher Kognition umgedeutet. Holzkamp beschreibt das

Subjekt im Kognitivismus als prinzipielle Unklarheit (vgl. Künkler, 2002, S. 35).

Subjektwissenschaft In den 1980-er Jahren wurde die früher als Kritische Psychologie bezeichnete Strömung

von Holzkamp in „Subjektwissenschaft“ umbenannt. Holzkamp kritisiert, dass „Lernen,

als Problem vom wissenschaftlichen Standpunkt des Lernsubjekts in den traditionellen

Lerntheorien nicht vorkommt“ (Holzkamp, 1993, S. 14). Lernen wird gemäss Holzkamp

vom Subjektstandpunkt aus begründet und durch die bewusste Übernahme einer

Handlungsproblematik in eine Lernproblematik definiert (vgl. Holzkamp, 1993, S. 190).

Konstruktivismus Das konstruktivistische Lernverständnis zeichnet sich dadurch aus, dass „ das Subjekt des

Lernens durch das System und der Vollzug des Lernens durch Selbstreferentialität ersetzt

wird“ (Künkler, 2002, S. 40). Ludwig (1999, S. 671) äussert sich kritisch zum Verlust des

Subjekts: „Diese Subjektlosigkeit [...] ist das Kernproblem des konstruktivistischen

Lernbegriffs“.

Neurowissenschaften Durch die neurowissenschaftliche Forschung konnte dank Bildgebenden Verfahren ein

Einblick ins Gehirn gewährt werden. Die Vorstellung man könnte Lernen bildlich

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darstellen ist eine Erfindung der Neurowissenschaft. Die Subjektivität „löst sich in

neuronalen Vorgängen auf“ (Künkler, 2002, S. 42).

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Holzkamps  subjektwissenschaftliche  Lerntheorie  

Nachdem ich die unterschiedlichen Bezugstheorien und ihre Subjektkonzeptionen

dargelegt habe, werde ich nun Holzkamps subjektwissenschaftliche Lerntheorie vorstellen.

Holzkamps  Erkenntnisinteresse  

Holzkamp wählt als Vertreter der Kritischen Psychologie in seiner Lerntheorie einen

subjektwissenschaftlichen Zugang. Sein Erkenntnisinteresse liegt darin, zu klären, was

Lernen ist, zu begründen wie Lernen funktioniert und unter welchen Bedingungen

erfolgreich gelernt werden kann. Statt das Lernen nur von einer psychologischen,

individualistischen Perspektive zu betrachten, fordert er, dass bei der Erforschung von

Lernprozessen die gesellschaftlichen Bedingungen ebenfalls beachtet werden müssen. Sein

Anliegen liegt darin, Lernen nicht ausschliesslich als psychologisch-biologischen Vorgang

zu verstehen, sondern Lernen in biografisch-historischen Zusammenhang einer Person zu

analysieren und dabei Macht mit zu berücksichtigen. Holzkamp zeigt auf, dass die Schule

widersprüchliche Aufgaben zu leisten hat. Einerseits soll die Schule Lern- und

Entwicklungsmöglichkeiten für das Individuum eröffnen und andererseits muss die Schule

einer gesellschaftliche Funktionalität entsprechen, indem sie durch Selektion Lernprozesse

verwehrt:

Der Widerspruch zwischen dem allgemeinen Lebenswert des Lernens und dem

ambivalenten Zwangscharakter vieler seiner konkreten Erscheinungsformen und

Erfahrungsweisen versteht sich global aus dem Umstand, dass „Lernen“ nicht nur subjektiv

notwendig, sondern auch zur gesellschaftlichen Reproduktion erforderlich ist, d.h. gefordert

wird. (Holzkamp, 1987, 16).

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Der  Lernbegriff  nach  Holzkamp  

Holzkamp beschreibt Lernen in einem Interview wie folgt:

Nach den gängigen Vorstellungen kommt es zum Lernen dann, wenn Lernprozesse [...] von

dritter Seite initiiert werden. Ich bin demgegenüber der Auffassung, dass intentionales

Lernen nur dann zu Stande kommt, wenn das Lernsubjekt selbst entsprechende Gründe

dafür hat. (Holzkamp, 2004, S. 29).

Holzkamp versteht „Lernen als historisch-konkretes soziales Handeln des

gesellschaftlichen Subjekts“ (Ludwig, 2004, S. 43). Holzkamp wendet sich gegen das

subjektlose Lernen, wobei Menschen ohne eigene Betroffenheit und einer fehlenden

Lernproblematik zum Lernen gezwungen werden. Lernen ist gemäss Holzkamp (1993)

„nicht als Resultat fremdgesetzter Lernbedingungen, sondern als Erweiterung eigener

Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten“ (S.1) zu verstehen. Holzkamp kritisiert die

Entöffentlichung der Lernsubjekte.

Lehr-­‐Lernkurzschluss   Holzkamp äussert sich gegen den vermeintlichen Irrtum, wonach Lehren mit Lernen

gleichgesetzt wird. Holzkamp erachtet es als eine zu enge Sichtweise, dass man vom

Lehren auf Lernen schliessen kann. Er ist überzeugt, dass diese Fehlannahme die

Lernprozesse beeinträchtigt. Die Bedingung „Lehren“ hat nicht notwendigerweise die

Wirkung „Lernen“ zur Folge.

Bedingtheits-­‐Begründungsdiskurs   Menschliches Verhalten ist nach Holzkamp nicht von aussen bedingt, sondern subjektiv

begründet. Lernen versteht Holzkamp als eine Sonderform des Handelns und nicht nur als

intrapsychische kognitive Aktivität. Deshalb lässt sich Lernen durch die subjektiven

Begründungen erklären. Holzkamp plädiert für einen Subjektstandpunkt, von dem aus das

Subjekt sein Lernen begründet. Auch wenn die Ausgangslage zum Lernen häufig durch

Zwang und äussere Bedingungen geprägt ist, ist das Lernen als Vorgang dennoch kaum

zugänglich und der Umstand sich einem Lernproblem anzunehmen, vom Subjekt

abhängig.

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Intentionales  Lernen   Holzkamp konzeptualisiert Lernen als Aktivität des Subjekts. Das Individuum gilt als

Intentionalitätszentrum, das sich auf die Welt, auf andere und sich selbst bezieht (vgl.

Holzkamp, 1993, S. 21). Es stellt sich die Frage, ob durch die Anforderungen von der

Lehrerseite auch garantiert ist, dass der Lernende das Geforderte lernt. Holzkamp verneint:

Eine von aussen gesetzte Anforderung und eine subjektive Intention sind offenbar

zweierlei. Die Intentionen stecken nicht schon in den Anforderungen, sondern müssen als

selbständiger Entscheidungsakt des Subjekts hinzukommen, wenn aus den

Lernanforderungen auch Lernaktivitäten werden sollen. Genauer: Das Lernsubjekt muss

Gründe haben, die Lernanforderungen als seine Lernintention oder wie wir uns ausdrücken-

als seine Lernproblematik zu übernehmen. (Holzkamp, 1997, S. 223).

Expansives-­‐Defensives  Lernen   Holzkamp stellt zwei Formen des Lernens einander gegenüber, die sich insbesondere durch

die Begriffe Motivation und Zwang unterschieden. Es gibt zwei verschieden begründete

Lernproblematiken: Zum einen das expansive Lernen, welches eine Erhöhung der

Weltverfügung, eine Erweiterung der momentanen Denk- und Handlungsmöglichkeiten ist

und somit eine Verbesserung der Lebensqualität. Zum anderen das defensive Lernen,

welches sich dadurch kennzeichnet, dass das Subjekt gezwungen ist zu Lernen und die

Motivation nicht gewährleistet ist, da das Subjekt in seiner Weltverfügung beeinträchtigt ist

und durch die gegebene Lernproblematik bedroht wird. Die Lerngründe sind unter diesen

Voraussetzungen defensiver Natur (vgl. Holzkamp, 1997, S. 225).

Holzkamps  Subjektverständnis   Holzkamp versteht das Subjekt nicht als isolierten Begriff. Es gibt nicht ein Subjekt auf der

einen Seite und die Umwelt auf der anderen Seite. Das Individuum steht immer in

gesellschaftlichen Bezügen. Das Handeln ist zentral ins Holzkamps Subjektwissenschaft:

„Die gesellschaftlichen Verhältnisse stellen dem handelnden Subjekt als Bedeutungen in

einem Möglichkeitsraum dar. Möglichkeitsräume sind je mir in meiner je konkreten

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Lebenslage und den darin einbezogenen gesellschaftlichen Verhältnissen gegeben und

zugleich geöffnet“ (Faulstich & Ludwig, 2004, S. 16).

Pädagogischer  Lernbegriff  

Auch wenn sich vor allem die Psychologie mit dem Lernen auseinandergesetzt hat, kann

der Lernbegriff aus pädagogischer Perspektive beleuchtet werden. Holzkamp verstand es

Lernen nicht nur als psychologischen Forschungsgegenstand zu definieren, sondern Lernen

in die gesellschaftlichen-historischen Bedingungen einzubetten und in einem sozial-

kulturellen Kontext zu deuten. Holzkamp kommt somit der Forderung von Borst nach, die

ein breiteres Verständnis von Lernen verlangt, wenn sie wie folgt ausführt: „Aber ein

genuin pädagogischer Lernbegriff müsste weiter gehen und dazu imstande sein, den

Aufbau der Weltzueignung und der Werkzeuge des Erkennens im Zusammenhang mit der

Subjektkonstitution zu erklären“ (Borst, 2011, S. 17). Holzkamp hat ein Verständnis von

Lernen, welches über das pragmatisch-psychologische hinausgeht. Der Lernende bedarf

einer Diskrepanzerfahrung, um über seine Lebensbedingungen besser verfügen zu können

und an der gesellschaftlichen Entwicklung teilzuhaben (vgl. Holzkamp, 1993, S. 188).

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Bildung   Bisher habe ich Lernen in Bezug zur subjektwissenschaftlichen Lerntheorie von Holzkamp

als subjektorientierte Handlungserweiterung dargestellt. Bildung war bis anhin nicht

Gegenstand meiner Ausführungen. Weil Holzkamp Lernen stets in einem historisch-

gesellschaftlichen Zusammenhang versteht, werde ich hier den kritischen Bildungsbegriff,

der sich mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft beschäftigt, beiziehen. Die

Bildung ist unter kritischer Perspektive im Spannungsfeld von Individuum und

Gesellschaft zu betrachten: „Gegenstand einer kritischen Theorie der Bildung ist die

emanzipative Subjektwerdung des Menschen im widerspruchsvollen Beziehungsgeflecht

von Individualgenese und gesellschaftlicher Reproduktion“ (Bernhard, 2008, S. 67).

Der  Bildungsbegriff  in  der  kritischen  Theorie    

Der kritische Bildungsbegriff zeichnet sich dadurch aus, dass Bildung im Kontext eines

widerspruchsvollen Beziehungsgefüges zwischen Individuum und Gesellschaft verstanden

wird. Die kritische Bildungsidee verweist auf die gesellschaftlichen

Reproduktionsmechanismen, denen die Menschen unterworfen sind und von welchen sie

sich durch Bildung freisetzen können. Durch die Analyse und die Reflexion von Wissen

und Erfahrung soll Bildung dem einzelnen Menschen Möglichkeiten eröffnen. Bildung

wird in einem kritisch-reflexiven Verständnis nicht als Produkt individueller Subjektivität

verstanden, sondern als ein „zwischenmenschliches Handeln“ (Benner, 1995, S. 75) und

kulturbildende Aktivität im Rahmen gesellschaftlicher und individueller

Veränderungsprozesse. Bildung ist ein Prozess der „Selbst- und Weltverständigung“

(Benner, 1998, S. 204). In Position der kritischen Bildungstheorie ist Bildung „das

unabgeschlossene Projekt“ (Bernhard, 2008, S. 67) und „Aufklärung als anhebendes

Wissen des Menschen um sich selbst“ (Heydorn, 1995, S. 200).

Bezieht man sich auf den Ansatz einer Kritischen Pädagogik, dann ist eine kritische

Bezugnahme zum Lern- und Bildungsverständnis, wie es in der Theorie und Praxis

vorherrscht, eine brauchbare Grundlage, um die Transformationsprozesse an der

Hochschule, insbesondere in der Didaktik zu analysieren. Damit ich dieses Vorhaben

realisieren kann, werde ich mich mit dem Bildungsbegriff beschäftigen. Mir ist bewusst,

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dass ich dies hier nur sehr verkürzt darstelle. Ich wähle jedoch drei wichtige Vertreter aus,

die mir im Hinblick auf eine kritische Erziehungswissenschaft wichtig erscheinen.

Bildungsbegriff  nach  Humboldt  

Borst (2011) beschreibt Humboldts Bildungsbegriff wie folgt:

Bildung wird als wechselseitiges Verhältnis des Individuums mit der Umwelt verstanden.

„Bildung im Neuhumanismus ist“ gemäss Borst (2011) „daher wesentlich Selbstbildung“

(S. 59) durch die Auseinandersetzung mit der Welt. In Humboldts Bildungstheorie geht es

vor allem um die Bildung eines Menschengeschlechts im Sinne der Humanität. Der

Mensch bildet sich durch „die Verknüpfung des Ichs mit der Welt“ (Humboldt, 2002, S.

236, zit. nach Borst, 2011, S. 62).

Wenn man eine Parallele zu Holzkamp sucht, dann findet man eine Übereinstimmung im

Hinblick auf die Frage, wie ein Mensch lernt bzw. sich bildet. Während Holzkamp Lernen

immer in einem sozialen Kontext definiert, findet Bildung nach Humboldt immer in einem

wechselseitigen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft statt. Eine weitere

Gemeinsamkeit ist die Tatsache, dass sich sowohl Humboldt und Holzkamp in ihrer

Bildungs- beziehungsweise Lerntheorie mit der Emotionalität auseinandergesetzt haben.

Ein dritter Grund, weshalb ich Humboldt beiziehe, ist die Tatsache, dass beide Autoren

gesellschaftskritische Theorien entworfen haben. Humboldt und Holzkamp sprechen sich

gegen ein zweckgerichtetes Menschsein aus, welches den Menschen an seiner Nützlichkeit

und seiner Funktionalität in der Gesellschaft misst. Humboldt weist darauf hin, dass die

Bildung zweckfrei sein müsse, denn sonst sei die Humanität in Gefahr. Der

Bildungsbegriff nach Humboldt eignet sich daher für eine Kritische

Erziehungswissenschaft und ist nach wie vor aktuell.

Bildungsbegriff  der  kritisch-­‐konstruktiven  Erziehungswissenschaft  nach  Klafki  

Klafki (1996) beschreibt „Bildung als Befähigung zur vernünftigen Selbstbestimmung“

(S. 19). Doch für Klafki ist Bildung nicht nur Weg und Ausdruck der Selbstbestimmung,

sondern die Bildung ist immer auch kontextbezogen. Klafki (1996) definiert Bildung „als

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Subjektentwicklung im Medium objektiv-allgemeiner Inhaltlichkeit“ (S. 20). Klafki betont,

dass Bildung niemals nur als reine Subjektentwicklung zu verstehen sei. Wie auch

Humboldt betont Klafki (1996), als Vertreter der kritischen Theorie, dass die Bildung des

Subjekts stets „in Aneignungs- und Auseinandersetzungsprozessen mit einer

Inhaltlichkeit“ (S. 21) geschehe. Der Bildungsprozess wird als nach vorn hin offener

Vermittlungsprozess der Subjekte mit der geschichtlichen und natürlichen Umwelt

verstanden. Die Einbindung der einzelnen Subjekte in grössere historische, kulturelle und

gesellschaftliche Zusammenhänge ist dabei zentral (vgl. Klafki, 1996, S. 24).

Es stellt sich nun die Frage, welcher Bezug zu Holzkamp hergestellt werden kann.

Holzkamp weist darauf hin, dass sich Lernen immer in einem Begründungszusammenhang

vollzieht und vom Subjekt her intentional zu deuten ist. Sowohl Klafki als auch Holzkamp

verstehen Lernen in einem gesellschaftlichen Kontext. Klafki betont stärker als Holzkamp

die Inhaltlichkeit. Für die subjektorientierte Didaktik ist aber Klafkis Bildungstheorie

dennoch wichtig, weil er mit der „didaktischen Analyse“ ein Instrument vorlegt, welches

die Bildungsinhalte auf ihre Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung und ihre Exemplarizität

hin untersucht.

Bildungsbegriff  nach  Heydorn  

Gemäss Heydorn ist die Bildung in einem Spannungsgefüge, denn Heydorn sieht einen

Widerspruch zwischen Bildung und Herrschaft. Das Subjekt bildet sich in

Auseinandersetzung mit der Welt in sozialen Beziehungen. Durch Bildung findet einerseits

ein innerer Prozess statt: „Bildung ist somit Verständigung des Bewusstseins über sich

selbst [...] in Wachsein hoffnungsvoller Freiheit“ (Heydorn, 2004, S. 42). Andererseits

ereignet sich Bildung stets in einem Machtgefüge, welches die Entwicklung des

Individuums beschränken kann. Bildung wird durch Distanz ermöglicht, indem das

Subjekt sich mit der Welt verbindet. Heydorn stellt die Bildung in Zusammenhang mit

Humanität, er betont, dass alle Humanität auf einem erfahrbaren Verhältnis beruht (vgl.

Heydorn, 2004, S.72). „Somit wird Bewusstmachung der Entfremdung und

Widerherstellung menschlicher Handlungsfähigkeit zur Aufgabe, die der Bildung zufällt“

(Heydorn, 2004, S. 97).

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Sowohl Holzkamp als auch Heydorn verstehen Bildung im Verhältnis von Individuum

und Welt. Heydorn kann subjektwissenschaftlich gedeutet werden, wenn er sich dagegen

ausspricht, dass kein Raum mehr für die „Erfahrung gesellschaftlich relevanter ICH-

Haftigkeit“ (Heydorn, 2004, S. 91) vorhanden sei. Die Subjektorientierung und die darin

enthaltene Gesellschaftlichkeit ist eine weitere Gemeinsamkeit von Holzkamp und

Heydorn. Während Holzkamp sich für ein intentionales Lernen, bei welchem sich das

Individuum auf sich selbst, die Welt und andere bezieht, ausspricht; betont Heydorn das

gesellschaftliche Subjekt, das sich in Auseinandersetzung mit der Welt bildet:

„Gemeinschaft als gemeinsames Ringen um Gewinnung humaner Perspektiven, wird erst

in erfahrener Umklammerung möglich“ (Heydorn, 2004, S. 93). Heydorn und Holzkamp

unterscheiden sich darin, dass Holzkamp stärker die Subjektorientierung betont und damit

verbunden, die Verantwortung für das Lernen dem Subjekt zuschreibt, das die sozialen-

ökonomischen Zwänge überwinden soll, während Heydorn Freiheit und Herrschaft als

zwei konstituierende Momente von Bildung annimmt.

Nun werde ich das subjektwissenschaftliche Lernen mit der Bildung in Zusammenhang

stellen und die Relevanz für die Didaktik der Lehrerbildung aufzeigen. Die Dialektik, die

in der institutionellen Bildung enthalten ist, bedeutet einerseits, dass sich das Subjekt den

gesellschaftlichen Bedingungen anpassen muss und andererseits ein kritisches Bewusstsein

entwickeln muss, damit es die Anforderungen, die an es gestellt werden, hinterfragen kann.

Heydorn spricht der Bildung sowohl eine herrschaftsstabilisierende als auch eine

machtkritische Funktion zu, indem er sagt: „Gesellschaft, die sich über Bildung fortsetzen

möchte, muss sich sogleich über sie in Frage stellen“ (Heydorn, 2004, S. 89). Im Hinblick

auf die Bedeutung der Subjektwissenschaft für die Didaktik, scheint mir Heydorn einen

wichtigen Hinweis zu geben: „Vermittlung des Stoffes ist aber nur über die Person human

denkbar“ (Heydorn, 2004, S. 75). Die Bildung kann nur über persönliche Vermittlung

erfahren werden und es besteht die Gefahr, dass die Humanität an Bedeutung verliert,

sofern das Subjekt radikal verstanden und als gesellschaftsloses Subjekt interpretiert wird

(vgl. Heydorn, 2004, S. 76).

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Der  Lern-­‐  und  Bildungsbegriff  und  Subjektwissenschaft  

Die subjektwissenschaftliche Lerntheorie steht in einem Zusammenhang mit der kritisch-

reflexiven Bildungstheorie, die „danach fragt, wie Bildung unter gegeben

gesellschaftlichen Bedingungen möglich wird“ (Ludwig, 2005, S. 329). Holzkamps

Anliegen war, dass Lernen subjektorientiert gedacht werden soll, aber immer in einem

gesellschaftlich-historischen Gefüge, welches es zu berücksichtigen gilt, stattfindet. Daher

scheint es meines Erachtens sinnvoll den Lern- und Bildungsbegriff zu vergleichen und in

einen Kontext mit der Subjektwissenschaft zu stellen.

Lern-­‐  und  Bildungsbegriff  im  Vergleich  

Es interessiert mich in welchem Verhältnis Lernen und Bildung zueinander stehen. In

welchem Zusammenhang sind der Lern- und Bildungsbegriff mit dem

subjektwissenschaftlichen Ansatz zu verstehen? Es geht mir darum, die Differenzen und

Gemeinsamkeiten eines Lern- und Bildungsbegriffs herauszuschälen und die beiden

Begriffe in Bezug zu einer subjektorientierten Didaktik und Holzkamps Lerntheorie zu

stellen. Um die didaktischen Möglichkeiten in der Lehrerbildung zu beleuchten, scheint

mir vorerst eine Gegenüberstellung von Lernen und Bildung nötig.

Lernen wird als psychologischer Begriff als eine individuell-kognitive Aktivität definiert.

Lernen ist die Bedingung für Bildung (vgl. Ludwig, 2005, S. 328). Der Lernbegriff kann

nicht mit dem Bildungsbegriff gleichgesetzt werden, weil Lernen eine Voraussetzung für

die Bildung ist. Im Unterschied zur Bildung geschieht beim Vollzug des Lernens nicht

unbedingt eine Reflexion. Die Bildung ist im Gegensatz zum Lernen ein bewusster

Prozess. Der Lernbegriff kann nicht durch den Bildungsbegriff ersetzt werden. Die beiden

Begriffe Lernen und Bildung sind nicht austauschbar, denn beide beziehen sich auf einen

anderen Aspekt. Während Lernen auf den inneren Prozess zielt, welcher im Individuum

abläuft; meint Bildung den Prozess, in welchem sich das Individuum in einer Selbst- und

Weltaneignung befindet. Wenn man den Lernbegriff als Steuerung von Verhalten definiert,

dann fehlt der selbstreflexive Erfahrungsprozess. Ersetzt man den Bildungsbegriff durch

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den Lernbegriff, dann fehlt das selbstreflexive und kritische Moment. Es scheint mir

zental, dass ein psychologischer, reduktionistischer Lernbegriff das Subjekt und die

Persönlichkeitsentwicklung zu wenig berücksichtig. Deshalb ist es aus

subjektwissenschaftlicher Perspektive nötig den Bildungsbegriff beizuziehen: „Denn der

Bildungsbegriff kann nicht isoliert von anthropologischen Fragestellungen betrachtet

werden, bleibt er stets bezogen auf ein menschliches Subjekt“ (Borst, 2011, S. 12).

Bezieht man sich auf Klafki, dann sollte bei der Kategorialen Bildung (1963) sowohl der

materiale Aspekt als auch der formale Aspekt berücksichtigt werden. Klafki schlägt eine

Vermittlung zwischen Objekt und Subjekt vor, indem er zum einen die formalen Theorien,

die Inhaltssseite des Bildungsprozesses berücksichtig und zum anderen auch die

Bedeutung des Subjekts im Bildungsprozess hervorhebt: „In seinen bildungstheoretischen

Überlegungen behalten beide Momente- die Objektivität und die Widerständigkeit der

Wirklichkeit wie auch die Welt erschliessende Kraft des subjektiven Geistes- ihr relatives

Recht“ (Pongratz, 2010, S.112).

Mir scheint, dass es für die Lehrerbildung entscheidend ist, dass die Objektivität und

Subjektivität in einem ausgeglichenen Verhältnis stehen. Welches Lehr-Lernverständnis

unter subjektwissenschaftlicher Perspektive vorherrscht, soll Thema des nächsten Kapitels

sein.

Lehren  und  Lernen  aus  subjektwissenschaftlicher  Perspektive   Wird Lernen aus subjektwissenschaftlicher Perspektive betrachtet, dann verändert sich das

Verständnis von Lernen und Lehren. Gemäss Faulstich und Ludwig (2004) ist die

subjektwissenschaftliche Perspektive in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung auf drei

verschiedenen Ebenen anzusiedeln. Zum einen ändert sich erkenntnistheoretisch der

Zugang von einer Aussen- zu einer Innenperspektive und zum andern wandelt sich

handlungstheoretisch die Auffassung vom aussengesteuerten Verhalten zu sinnhaftem

Handeln in verstehbaren Bedeutungs- und Begründungszusammenhängen. Lerntheoretisch

wird mit der subjektwissenschaftlichen Perspektive Lernen als spezifische Form sozialen

Handelns definiert. Methodologisch führt der subjektwissenschaftliche Zugang von einem

kausalanalytischen Bedingtheitskonzept zu einem hermeneutischen Begründungsdiskurs

(vgl. Faulstich & Ludwig, 2004, S. 12).

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Auswirkungen  der  Subjektwissenschaft  auf  die  Lehrerbildung     Die Veränderungen, die sich durch den subjektwissenschaftlichen Ansatz ergeben, sollen

nun aufgezeigt werden. Die subjektwissenschaftliche Perspektive verändert die

Lehrerbildung nach der Meinung von Faulstich und Ludwig (2004) wie folgt:

-Bildungstheoretisch als Wechsel von der Konzeptionierung normativer Bildungsbegriffe

hin zu kritisch-empirischen Untersuchungen, wie Bildungsprozesse als

Selbstverständigungsversuche der Lernenden behindert werden,

-didaktiktheoretisch als Wechsel von aussen-verursachten Reizen und Steuerungsimpulsen

zu verstehbaren Bedeutungshorizonten der Lernenden,

-bildungspolitisch als Abschied von der Fiktion administrativer Planbarkeit demokratische

Stätten expansiven Lernens. (Faulstich & Ludwig, 2004, S. 12).

Unter subjektwissenschaftlicher Perspektive wird „Lernen nicht als regelmässig gearteter

Mechanismus eines selbstreferentiellen Systems verstanden, sondern als eine begründete

spezifische Form menschlichen Handelns, bei der sich das Individuum neue

gesellschaftliche Bedeutungskonstellationen erschliesst“ (Faulstich & Ludwig, 2004, S.

23). Aus kritischer Perspektive ist anzumerken, dass die Unverfügbarkeit der Personen,

ihre Freiheit zu widerständigem Handeln, ein zentrales Merkmal von Lernen ist. Für die

vorliegende Arbeit interessiert insbesondere der didaktische Bereich. Wie wirkt sich die

subjektwissenschaftliche Perspektive auf die Lehre an der Pädagogischen Hochschule aus?

Wie das holzkampsche Lernverständnis in einer subjektwissenschaftlichen Didaktik zur

Geltung kommt, soll Gegenstand des nächsten Kapitels sein.

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Modelle  subjektorientierter  Didaktik  

Die subjektorientierte Didaktik befindet sich im Spannungsfeld zwischen Autonomie und

Fremdbestimmung. Den verschiedenen Ansätzen des „Selbstlernens“ ist gemeinsam, dass

sich der Fokus vom Lehrenden zum Lernenden verschiebt und dass die sozialen

Bedingungen des Lernens in den Hintergrund treten, während die Eigentätigkeit und die

Eigenverantwortung des Lerners hervorgehoben wird. Mit der subjektorientierten Didaktik

kommt zu einem Perspektivenwechsel von der Lehr- zur Lernaktivität, die im Zentrum

stehen soll. Der Fokus des Interesses auf die „Selbst-Konzepte“ ist ein typisches Merkmal

der Erwachsenenbildung. Es gibt jedoch unterschiedlich Konzeptionen, welche ein zum

Teil sehr widersprüchliches Verständnis vom Lern –und Bildungsbegriff haben. Die

Unterschiede zwischen den Modellen, welche selbstgesteuertes, selbstbestimmtes Lernen

propagieren sind markant, dies zeigt sich insbesondere auch in den Subjektkonstruktionen,

welche in den Konzepten enthalten sind. Ich werde drei Modelle vorstellen: die

konstruktivistische Erwachsenenbildung, die subjektwissenschaftliche Didaktik und das

Selbstsorgende Lernen.

Konstruktivistische  Erwachsenenbildung    (Rolf  Arnold)  

Ausgehend von einer konstruktivistischen Perspektive wird der Lernende als

selbstreferentielles System verstanden, dass über eine relative Autonomie verfügt. Die

Fremdbestimmung wird in der konstruktivistischen Erwachsenenbildung

zurückgenommen, indem dem Lernenden die Verantwortung für den Lernprozess

übergeben wird. Erst durch die Zurückhaltung der Lehrenden ist Lernen möglich (vgl.

Ludwig, 2005, S. 75). Rolf Arnold bezeichnet diesen konstruktivistischen Ansatz als

„Ermöglichungsdidaktik“. Lernprozesse und Lernergebnisse sind aus konstruktivistischer

Perspektive „letztlich nicht mitteilbar“ (Arnold, 2004, S. 242).

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Kritik  an  konstruktivistischen  Lerntheorien  in  der  Erwachsenbildung  

Aus einer konstruktivistischen Perspektive werden die Subjekte ohne Gesellschaft

verstanden. Die konstruktivistischen Überlegungen verlassen sich in ihrem Lernverständnis

völlig auf die Selbstbildung. Es lässt sich kritisieren, dass Bildung als völlig selbsttätiger,

selbstverantwortlicher Prozess, der keines Lehrers mehr bedarf, aufgefasst wird. Die

konstruktivistische Didaktik gibt keine Hinweise wie der autodidaktische Prozess zu

gestalten sei. Die gesellschaftliche Dimension des lernenden Selbst wird ausgeklammert

und nicht reflektiert. Der konstruktivistische Blick orientiert sich zwar am Subjekt, doch er

kann für die Vermittlung des Subjekts mit der gesellschaftlichen Umwelt keine

Handlungsoptionen bieten (vgl. Ludwig, 2005, S. 76). Ein weiterer Kritikpunkt an den

konstruktivistischen Ansätzen ist die Tatsache, dass sie die Motivation zum Lernen

voraussetzen. Das lässt auf eine idealisierte Vorstellung von Lernsubjekten schliessen (vgl.

Langemeyer 2005, S. 108).

 

Subjektwissenschaftliche  Didaktik    (Joachim  Ludwig)  

Subjektorientierte Perspektiven begreifen didaktisches Handeln als Selbstverständigung

der Lernenden gegenüber gesellschaftlichen und biografischen Lernbehinderungen und

deren Überwindung. Die subjektwissenschaftliche Didaktik beabsichtigt erweiterte

gesellschaftliche Teilhabe (vgl. Ludwig, 2005, S. 77). Lernen wird in der

subjektwissenschaftlichen Didaktik als spezifische Form sozialen Handelns verstanden und

zielt darauf ab, die alltägliche eingeschränkte Handlungsfähigkeit zu erweitern.

Theoretisch stützt sich die subjektwissenschaftliche Didaktik von Ludwig auf die Arbeiten

von Holzkamp.

Subjektwissenschaftliche  Didaktik  am  Beispiel  Fallarbeit     Die Grundzüge der subjektwissenschaftlichen Didaktik werden entlang des

Bildungskonzepts „Fallarbeit“ verdeutlicht. Ausgangspunkt des didaktischen Handelns soll

in der subjektwissenschaftlichen Didaktik in den Lebens- und Lerninteressen des

lernenden Subjekts liegen und nicht vom Lehrenden ausgewählten

Inhalten/Wissensbeständen:

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Die Leitidee einer subjektwissenschaftlichen Didaktik ist es, den auf die alltäglichen

Handlungsproblematik bezogenen Selbstverständigungsversuch der Lernenden so zu

verstehen, zu unterstützen und zu begleiten, dass-bezogen auf das subjektive Lerninteresse-

neue Handlungsoptionen entstehen und die subjektive Handlungsfähigkeit der am

Bildungsprozess beteiligten erweitert wird (Ludwig, 2003, S. 119).

Für die Umsetzung des Bildungskonzepts „Fallarbeit“ wird ein zehnschrittiges

Arbeitsmodell verwendet. Die Handlungsproblematiken werden in einer Fallerzählung

geschildert. Die Lernenden skizzieren ihren Fall selber und stellen ihn im Kurs zur

gemeinsamen Bearbeitung zur Verfügung. Durch Nachfragen der Mitlernenden wird ein

Verstehensprozess initiiert. Durch das Hineinversetzen in die Fallperson wird ein

empathischer Zugang angestrebt. Durch mögliche verschiedene Zugänge und

Erklärungsmuster ergibt sich eine Perspektiven- und Bedeutungsvielfalt. Ludwig (2003)

betont das wechselseitige Verhältnis von Subjekt und Umwelt: „Das Subjekt gilt über

Bedeutungen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen vermittelt“ (S. 120). Verschiedene

Lesarten ergeben sich durch eigene Sinnperspektiven, was dank des kooperativen

Austausches möglich ist. Der Fallerzähler wählt zwei bis drei Kernthemen aus, die im

weitern Verlauf bearbeitet werden. Der Fallberater bietet Erklärungsfolien an. Zum

Schluss der Fallbearbeitung werden Handlungsoptionen formuliert. Die

Situationsinterpretationen ermöglichen neue Einsichten und zeigen andere Wege auf wie

mit der Handlungsproblematik umgegangen werden kann. Dadurch kommt es zu einer

Erweiterung der Handlungsfähigkeit (vgl. Ludwig, 2003, S. 121).

Vergleich  Holzkamps  Lernverständnis  und  subjektwissenschaftlicher  Ansatz  

Holzkamps Forderung nach Subjektorientierung wird durch die subjektwissenschaftliche

Didaktik erfüllt, indem das Lebens- und Lerninteresse des Subjekts ins Zentrum gestellt

wird und bei der Fallarbeit eine alltägliche Handlungsproblematik bearbeitet wird. Die

Methode des verstehenden Zugangs bietet den Lernenden die Möglichkeit verschiedene

Perspektiven einzunehmen. Dadurch ergibt sich eine Bedeutungsvielfalt und gemäss

Holzkamp sind Bedeutungen des Subjekts gesellschaftlich produzierte verallgemeinerte

Handlungsmöglichkeiten (und -beschränkungen) (vgl. Holzkamp 1995, S. 838). Somit

stimmt die subjektwissenschaftliche Didaktik mit Holzkamps Lernverständnis überein. Bei

der Bearbeitung von Kernthemen werden Handlungsoptionen besprochen, was einer

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Erweiterung der Handlungsfähigkeit entspricht und somit expansives Lernen ermöglicht.

Wie jedoch die Umsetzung einer Handlungsproblematik geschieht, ist nicht Gegenstand

der subjektwissenschaftlichen Didaktik. Dies kann mit dem Holzkampschem Lehr-Lern-

Kurzschluss kritisiert werden, denn es bedeutet nicht, dass der Lernende die Einsichten,

welche er bei der Fallarbeit hatte, auch praktisch anwenden kann.

Selbstsorgendes  Lernen  (Hermann  Forneck)  

Das Konzept „Didaktik der Selbstsorge“ (2005) bietet einen andern Zugang zum

Selbstgesteuerten Lernen. Das „Selbstsorgende Lernen“ wurde von Hermann Forneck

entwickelt. Ziel des Selbstsorgenden Lernens ist eine reflektierende Relationierung

selbstgesteuerter und fremdgesteuerter Aktivitäten im Lehr-Lern-Verhältnis. Für die

Didaktik der Selbstsorge stehen Lernarchitekturen. Die Selbstlernarchitekturen verstehen

sich als (hochschul-) didaktische Innovation, die ein Selbstsorgendes Lernen zum Ziel hat.

Das Konzept der Selbstlernarchitektur soll eine Antwort auf die Forderung nach

selbstgesteuertem Lernen in der Erwachsenbildung und Hochschuldidaktik sein. Der

theoretische Hintergrund basiert auf Arbeiten von Foucault. In der Selbstlernarchitektur

wird Lernen neu definiert und die Selbstlernarchitektur beinhaltet folgende Komponenten:

• die Gestaltung der Lerninhalte und des Lernprozesses in apersonalen Medien

(Online-Lernumgebung) • den Aufbau von Lernpraktiken in systematischer Verknüpfung mit dem Lerninhalt

• die Vernetzung von Wissen • die Förderung von Reflexivität

• die Lernberatung als Lernentwicklungsbegleitung

• eine neue professionelle Rolle der Dozierenden • die Verfügung der Lernenden über ihr Lernen als Ergebnis eines Lernprozesses

Forneck versteht Lernen als „Prozesse, in denen Lernende aufgrund einer eigenen

Motivation, etwas wissen zu wollen, sich mit Phänomenen, Ergebnissen und Problemen

auseinandersetzen und dabei ihre eigenen Denkstrukturen verändern, erweitern, vielleicht

auch grundsätzlich in Frage stellen“ (Forneck, 2006, S. 162). Lernen dient also dem

Aufbau von neuen Wissensstrukturen und dabei findet eine Subjektivierung durch

Auseinandersetzung von gesellschaftlich verteiltem Wissen statt. Subjektivierung bedeutet

in diesem Zusammenhang, dass sich das lernende Subjekt aufgrund von einer tätigen

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Auseinandersetzung mit der Welt und der Reflexion verändert. Das Konzept des

Selbstsorgenden Lernens thematisiert im Gegensatz zu den anderen subjektorientierten

Modellen der Didaktik den Umstand, dass die lernenden Subjekte sich in

gesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnissen befinden. Durch die Arbeit mit

Lernpraktiken und der Reflexivität, sollen den Lernenden die Strukturen bewusst und

somit verfügbar werden.

Vergleich  Holzkamps  Lernverständnis  und  Selbstsorgendes  Lernen  

Holzkamps Anliegen, die Perspektive des Subjektes beim Lernen zu berücksichtigen, wird

durch das Selbstsorgende Lernen, realisiert. Das holzkampsche Lernverständnis, wonach

die Begründungen fürs Lernen im Subjekt zu suchen sind und nicht durch äusseren Zwang

ein Lernprozess provoziert werden kann, entspricht dem Selbstsorgenden Lernen dadurch,

dass die Motivation fürs Lernen beim Subjekt zu suchen ist. Das Verhältnis von

Individuum und Gesellschaft wird sowohl durch das Selbstsorgende Lernen, als auch

durch Holzkamps Lerntheorie thematisiert. Holzkamp wie Forneck üben Kritik an der

konstruktivistischen Didaktik, welche die Subjekte als selbstreferenzielle Systeme

betrachtet.

Holzkamp äussert sich für die radikale Subjektorientierung und spricht sich gegen die

Planbarkeit von Lernprozessen aus. Im Gegensatz dazu enthält das selbstsorgende Lernen

eine Steuerungsfunktion, indem die Lehrenden Lernberatungsgespräche durchführen und

den Lernstand diagnostizieren. Während beim Selbstsorgenden Lernen der Lehrende für

die Auswahl der Lerninhalte und die Gestaltung der Selbstlernarchitektur zuständig ist, soll

gemäss Holzkamp das Lernen gänzlich vom Subjekt bestimmt sein.

Gemeinsamkeiten  und  Unterschiede  der  subjektwissenschaftlichen  Modelle  

 Der Ansatz der Didaktik der Selbstsorge und die subjektwissenschaftliche Didaktik der

Fallarbeit zeigen folgende Gemeinsamkeiten (vgl. Ludwig, 2010, S. 210):

a) Beide Ansätze erachten die Vermittlungsaufgabe im Gegensatz zum

konstruktivistischen Verständnis als Merkmal professionellen pädagogischen

Handelns.

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b) Beide Ansätze kritisieren ein gesellschaftsloses Subjekt. Obwohl beiden Ansätzen

unterschiedliche Subjektmodelle (Focault und Holzkamp) zugrunde liegen, scheint

ihnen das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft zentral.

c) Beide Ansätze kritisieren traditionelle Didaktiken, welche die Teilnehmergruppe

als Lernsubjekt annehmen. Stattdessen befürworten sie, die einzelnen Lernenden

als Subjekte anzuerkennen.

d) Beide Ansätze heben die Bedeutung der Inhalte beziehungsweise des Wissens im

Vermittlungsprozess hervor. Die Auswahl der Lerninhalte ist eine wichtige

didaktische Entscheidung.

e) Beide Ansätze kritisieren den idealistischen Begriff der Selbstbestimmung: „Beide

Ansätze verstehen Lernen als einen machtbesetzten Prozess, dessen

Machtstrukturen sich nicht abstreifen, aber reflektieren lassen“ (Ludwig, 2010, S.

211).

Beim Vergleich der Modelle „Fallarbeit“ und „Selbstsorgendes Lernen“ fällt auf, dass die

„Fallarbeit“ ihren Schwerpunkt mehr auf den Verstehensprozess legt, während beim

„Selbstsorgenden Lernen“ die Prozesssteuerung wichtiger ist. Die Aufgabe der Lehrenden

besteht bei der Fallarbeit darin, die Bedeutungshorizonte und Interessen der Anderen zu

verstehen. Beim „ Selbstsorgenden Lernen“ hat die Lehrende Einfluss auf den

Lernprozess, indem sie Lernberatungen durchführt und Lernstandsdiagnosen erstellt.

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Diskussion  der  Thesen  

Ob und wie weit der Lern –und Bildungsbegriff sich in der subjektwissenschaftlichen

Didaktik wiederfinden und welche Chancen und Grenzen die subjektwissenschaftliche

Didaktik für die Lehrerbildung hat, soll Gegenstand dieses Kapitels sein.

Lernen  und  Bildung  in  Zusammenhang  mit  dem  subjektwissenschaftlichen  Ansatz  

Holzkamps Lerntheorie wird normativ rezipiert. Die Lehrerbildung ist insofern davon

betroffen, dass die Subjektorientierung thematisiert wird und propagiert wird.

Das Paradigma „Bildung durch Instruktion“ scheint durch das selbstgesteuerten Lernen

ersetzt zu werden. Aus subjektwissenschaftlicher Sicht ist zentral, dass Lernen ein Problem

darstellt, welches es zu lösen gilt. Erst wenn es gelingt, Lernintention, -thematiken,

-methoden und -organisation mit den Lebensinteressen der Individuen zu vermitteln und

ihre Bedeutsamkeit aufzuspüren, findet auch expansives Lernen statt. Versucht man

Bildung und expansives Lernen miteinander in Verbindung zu setzen, dann kann dies

gemäss Holzkamp durchaus geschehen. Durch das expansive Lernen von einem

Subjektstandpunkt aus ergibt sich eine Perspektive, welche die Weltverständigung „vom

Standpunkt des Lernsubjekts [...] im Kontext gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten“

(Holzkamp, 1993, S. 15) beschreibt.

Es scheint aus kritisch-emanzipatorischer Perspektive, dass der Bildungsbegriff nicht

durch ein biologisch-psychologisches Verständnis von Lernen ersetzt werden darf. Denn

sonst wird der Lernprozess reduziert und beinhaltet nicht mehr alle (moralische, kognitive,

ästhetische und praktische) Dimensionen des Bildungsbegriffs: „... so hätten wir mit dem

Verlust des Bildungsbegriffs als kritische Kategorie keinen Möglichkeit mehr, die Grenze

zwischen Humanität und Inhumanität aus einer dezidiert pädagogischen Perspektive

sichtbar zu machen“ (Borst, 2011, S. 12).

Beim Vergleich des Lern- und Bildungsbegriffs in Bezug zum subjektwissenschaftlichen

Ansatz fällt in Bezugnahme zu Borst auf: „In der philosophischen Tradition begegnet der

Begriff der Erfahrung in unmittelbarem Zusammenhang mit Lernen und Erkenntnis“

(Borst, 2011, S. 18). Daher möchte ich im Schlusskapitel „Lernen als Erfahren“

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begründen, wie Lernen und Bildung aus subjektwissenschaftlicher Perspektive in einem

Verhältnis stehen. Die Didaktik kann als diskursiver Theorie-Praxis-Raum verstanden

werden, worin sich das jeweilige Verständnis von Lernen und Bildung zeigt. Daher scheint

es mir zentral im Kontext der Subjektwissenschaft auf das Lern- und Bildungsverständnis

einzugehen und darzulegen, wie sich dies in der Lehrer- und Lehrerinnenbildung im

Vermittlungsverhältnis zeigt.

Potential  und  Begrenzung  der  subjektwissenschaftlichen  Didaktik  in  der  Lehrerbildung   Holzkamps subjektwissenschaftliche Lerntheorie bietet eine Folie die Lehr-Lernprozesse

kritisch zu betrachten und es ist meines Erachtens als Gewinn zu werten, dass er Lernen

nicht nur als psychologischen kognitiven Vorgang beschreibt, sondern ebenfalls den

sozialen Aspekt miteinbezieht, wenn es darum geht die Weltverfügung zu erweitern.

Holzkamp stellt Lernen somit in einen gesellschaftlichen Kontext. Die radikale

Gegenüberstellung von einem negativ dargestellten Instruktionsparadigma und einem

positiv konnotierten Lernen vom Subjekt, scheint jedoch für die Didaktik wenig hilfreich.

Denn ohne Anregung von Aussen wird sich das Subjekt kaum entwickeln. Die

Subjektwissenschaft bietet ein Angebot der Reflexion und ist der kritischen

Betrachtungsweise im holzkampschen Sinne gewidmet. Es darf auch hinterfragt werden,

warum Konzepte des selbstbestimmten, selbstgesteuerten Lernens aktuell so populär und

weit verbreitet sind. Können sie die Widersprüche des Lernens aufheben? Nein, aber die

Subjektwissenschaft ermöglichen eine mehrperspektivische Herangehensweise und eine

kritische Haltung vom Subjektstandpunkt. Der subjektwissenschaftliche Zugang ermöglicht

neue Perspektiven: Die subjektiven Begründungen der Lernenden stehen im Vordergrund

und nicht die Ökonomisierung von Lernprozessen. Durch diesen Perspektivenwechsel wird

die Verkürzung der Studienzeit und die Abwertung der Bildung in Frage gestellt.

Holzkamp äussert sich nur sehr allgemein zu seinem Subjektverständnis. Die personale

Interaktion und die Anerkennung sind nicht Gegenstand seiner Ausführungen. Für einen

gelingenden Lern- und Bildungsprozess ist aber das Lehr-/Lernverhältnis zu beleuchten.

Holzkamp schliesst „jegliche impliziten und unbewussten Lernvorgänge aus seinem

Lernverständnis“ aus (Künkler, 2002, S. 39). Dies scheint mir eine zu stark eingeschränkte

Sicht, denn die Bildungsvorgänge sind nicht immer verfügbar! Die subjektorientierten

Konzepte beinhalten ein Risiko, wenn sie nicht in einem gesellschaftlichen Kontext

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eingebettet sind. Sobald die Handlungsbegründungen der Lernenden aus den

gesellschaftlichen Zusammenhängen herausgelöst werden und Individualisierungstendenzen

so stark werden, dass sich Lernstrategien an Kosten-Nutzen-Berechungen orientieren, dann

wird Lernen instrumentalisiert (vgl. Faulstich, 2002, S. 3). Das selbstorganisierte,

selbstgesteuerte Lernen kann zum inhaltslosen Programm werden, welches die Lehrenden

von der Vermittlungsaufgabe entbindet. Die beiden Modelle der subjektorientierten

Didaktik (Fallarbeit und Didaktik der Selbstsorge) sprechen sich für ein gesellschaftliches

Subjekt aus. Die Gefahr eines radikal subjektorientierten, gesellschaftslosen Lernen besteht

darin, dass das Subjekt in einem Prozess des Lebenslangen Lernen eingebunden ist und

somit eine „Kapitalisierung des Lebens“ (Forneck, 2004, S. 249) stattfindet. Diese

ökonomische Sichtweise ist problematisch, denn dann wird der Lernende zum Unternehmer

seines Selbst und die Verantwortung für Lernerfolg liegt ausschliesslich beim Subjekt. Der

historische, gesellschaftliche, soziale und politische Kontext, welcher das Lernen ermöglicht

oder behindert, wird nicht berücksichtigt.

Die Rede vom „Selbstorganisierten und Selbstgesteuerten Lernen“ kann als Ausdruck einer

momentanen Orientierungslosigkeit verstanden werden. Die Metapher des „Selbstlernens“

spricht dem Subjekt eine enorme Kraft zu, die vielleicht nicht so allumfassend ist, wie

gewünscht. Es scheint eher als Täuschung. Die Aufdeckung des Mythos des „Selbstlernens“

im aktuellen gesellschaftlichen Kontext ist hilfreich für ein kritisch-reflexives

Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft. Die Begriffe Selbstbestimmung,

Selbststeuerung und Selbstorganisation heben das „Selbst“ hervor, sie weisen auf ein

autonomes, lernendes Subjekt hin, doch dass sie, trotz ihrer positiven Konnotationen, gerade

gegensätzlich gebraucht werden, nämlich in einer funktionalistischen Weise, erlaubt es

diese Konzeptionen zu hinterfragen. Die Illusion, durch selbstbestimmtes Lernen Freiheit zu

erlangen, kann aufgebrochen werden. Das Lernen findet immer in Macht-Wissens-

Komplexen statt, die es zu reflektieren gilt. In den Konzeptionen sind die

Selbstorientierung, Selbstbestimmung und Selbststeuerung beschrieben, es wäre nun

interessant zu untersuchen, ob Begrifflichkeiten auch so gebraucht werden und die Ziele der

Subjektorientierung effektiv umgesetzt werden. Denn im Gebrauch der Begriffe und in den

sozialen Praxen zeigt sich, ob ein performativer Diskurs stattgefunden hat.

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Zusammenfassung  der  Thesen  

These 1:

Holzkamps Lerntheorie wird in der subjektwissenschaftlichen Didaktik umgesetzt.

Die These kann teilweise gestützt werden, denn die holzkampsche Lerntheorie wird nicht in

allen Modellen der subjektwissenschaftlichen Didaktik umgesetzt. Die konstruktivistische

Didaktik orientiert sich zwar am Subjekt, doch sie lässt den Einfluss der Umwelt völlig

weg. Daher wird in diesem Ansatz Holzkamps Verständnis von Lernen als Erweiterung der

Weltverfügung nicht realisiert. Die subjektwissenschaftliche Didaktik betont die

Verstehensebene und die Lerngründe, die im Subjekt liegen müssen. Damit ist Holzkamps

Forderung nach Subjektorientierung erfüllt. Die Didaktik der Selbstsorge entspricht dem

holzkampschen Lernverständnis in dem Sinne, dass sie sich am Subjekt orientiert und

dessen Lernmotivation in den Vordergrund stellt. Die Umsetzung der Selbstlernarchitektur

entspricht jedoch nicht der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie, da das Subjekt dem

Zwang der Selbstregulation unterworfen ist und durch die äusseren Strukturen gesteuert

wird.

These 2: Der Bildungsbegriff der kritischen Theorie entspricht dem subjektwissenschaftlichen

Verständnis von Lernen.

Diese These kann aufgrund der Tatsache, dass der Bildungsbegriff der kritischen Theorie

Bildung als Selbst- und Weltverständigung versteht, bestätigt werden. Der

subjektwissenschaftliche Ansatz beschreibt Lernen als Aneignungsprozess, der subjektiv

begründet ist. Wobei der Vollzug des Lernens stets eine Wechselwirkung zwischen dem

Individuum und der Welt ist.

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These 3:

Der subjektwissenschaftliche Ansatz bietet kritisches Reflexionspotential für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung.

Diese These kann ich annehmen. Durch den subjektwissenschaftlichen Ansatz können die

Lern- und Bildungsprozesse aus Subjektperspektive betrachtet werden. Durch die

Subjektorientierung entsteht eine Bedeutungsvielfalt. Das Verhältnis von Individuum und

Gesellschaft wird durch die Subjektwissenschaft aufgegriffen und dabei werden sowohl

machtkritische wie auch herrschaftsstabilisierende Aspekte von Bildung thematisiert.

Durch die Subjektwissenschaft können Lehr- und Lernprozesse kritisch analysiert werden.

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Lernen  als  Erfahren  

Zum Schluss schlage ich ein alternatives Verständnis von Lernen vor. „Lernen ist in

pädagogischer Perspektive im strengen Sinne eine Erfahrung“ (Meyer-Drawe, 2008, S.

15). Lernen als Erfahren zu definieren, scheint mir hinsichtlich der holzkampschen

Forderung das Lernen subjektorientiert zu betrachten sinnvoll, da die Erfahrung nur vom

Subjekt „gemacht“ werden kann. Ich möchte den Begriff der Erfahrung klären, damit ich

ihn in Beziehung zum Lernen setzen kann. Bollnow (1970) erörtert das deutschsprachige

Verständnis der Erfahrung: Erfahren ist eine Tätigkeit die vom Wort fahren kommt. Dies

bedeutet nicht ein statisches Verständnis von Lernen, sondern dass dieser Vorgang als

Prozess aufgefasst wird. Lernen als Erfahren bedeutet, dass der Mensch beim Vollzug des

Lernens eine Bewegung vollzieht, die Metapher des Fahrens bedeutet unterwegs sein, in

Bewegung sein, im übertragenen Sinne ist der Lern- und Bildungsprozess nicht

abgeschlossen, sondern offen für neue Erfahrungen. Im Wort Erfahren steckt auch die

Gefahr, etwas zu ertragen, dass einem widerfährt. Das Lernen birgt also auch das Risiko

sich auf Unsicherheiten einzulassen und zwingt einen dazu mit Widerständen umgehen zu

lernen (vgl. Bollnow, 1970 S. 129 ff). Bollnow (1970) beschreibt die Bedeutung der

Erfahrung bezüglich der Negativität: „Erfahrung entsteht erst in der menschlichen Antwort

auf eine erlittene Enttäuschung, in der sich die sinnhafte Ordnung wiederherstellt“ (1970,

S. 3). Bollnow weist auf die zweite Seite der Erfahrung hin, denn Erfahrung enthält eine

Doppelstruktur: Lernen ist sowohl eine Erfahrung, also ein Einwirken auf die Welt, als

auch ein Erleiden, also ein Ertragen der äusseren Umstände. Lernen enthält einerseits eine

aktive Komponente: Das Erleben, Entdecken und Erforschen. Andererseits ist Lernen eine

passive Angelegenheit, nämlich Auseinandersetzung mit der Welt, indem das Bestehende

angeeignet wird (vgl. Dewy, 1993, Kapitel 11, S. 186 ff.). Dewy erläutert die beiden Seiten

der Erfahrung:

Das Wesen der Erfahrung kann nur verstanden werden, dass dieser Begriff ein passives

und aktives Element umschliesst, die in besonderer Weise miteinander verbunden sind.

Die aktive Seite der Erfahrung ist Ausprobieren, Versuch- man macht Erfahrungen. Die

passive Seite ist ein Erleiden, ein Hinnehmen. Wenn wir etwas erfahren, so wirken wir auf

etwas zugleich ein, so tun wir etwas damit, um dann die Folgen unseres Tuns zu erleiden.

Wir wirken auf den Gegenstand ein, und der Gegenstand wirkt auf uns zurück; darin liegt

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die besondere Verbindung der beiden Elemente. Je enger diese beiden Seiten der

Erfahrung miteinander verflochten sind, ums grösser ist ihr Wert. (Dewy, 1993, S. 186).

Lernen als Erfahren zu bezeichnen scheint aus subjektwissenschaftlicher Perspektive

plausibel. Insbesondere aus didaktischen Gesichtspunkten ist es wesentlich, sowohl den

aktiven, wie auch den passiven Teil dieses Vorgangs zu beleuchten und zu hinterfragen.

Reichenbach (2010) betont, dass „Erfahrungen aber nur begrenzt Ausdruck menschlicher

Souveränität und Aktivität sein können, weil sie immer auch einen passiven Anteil und

manchmal sogar die Dimension des Erleidens aufweisen“ (Reichenbach, 2010, S. 126).

Dieser Umstand scheint jedoch dem Mainstream des zeitgenössischen Bildungsdiskurses

völlig zu entgehen (vgl. Reichenbach, 2010, S.126).

Meyer-Drawe (2008) stellt sich gegen ein reduktionistisches Verständnis von Lernen:

„Lernen ist nicht nur Erkennen. Es hat viele Facetten, welche den Mensch als leibliches

Wesen betreffen. Etwas in Zweifel zu ziehen, um den Grad an Gewissheit der Erkenntnis zu

steigern, ist etwas anderes, als in Ausweglosigkeit zu geraten, weil alles Gewohnte versagt.

Lernen beginnt in dieser Hinsicht dort und dann, wo und wenn das Vertraute seinen Dienst

versagt und das Neue noch nicht zur Verfügung steht“ (Meyer-Drawe, 2008, S. 15). Hier

wird im Vergleich mit Holzkamp deutlich, dass Lernen dann stattfindet, wenn das Subjekt

vor einem Problem steht, welches es zu lösen gilt. Im Widerspruch der aktuellen

Weltverfügung muss das Subjekt lernen neue Denk- und Handlungsmuster zu entwickeln,

damit es an der Welt partizipieren kann. Lernen als Erfahren heisst meines Erachtens, den

Bildungsvorgang als Wechselwirkung zwischen dem Individuum und der Welt zu

verstehen. Lernen als Erfahren zu definieren, bedeutet sowohl die Ebene des Subjektes als

auch die Welt zu berücksichtigen: „Lernen bezeichnet eine Verwicklung mit der Welt, in

der wir stets riskieren, uns, die Sache sowie unsere Beziehungen zum anderen

umstrukturieren zu müssen“ (Meyer-Drawe, 2008, S.112). Wichtig scheint die Annahme,

das diese Subjektivität immer erst im Austausch mit der Welt möglich ist. Die Umwelt gibt

vor, was der Lerngegenstand ist, das ist eine Voraussetzung, die es zu konstatieren gilt:

Bildung ermöglicht Personen, auf bewusste und wenn immer möglich auf selbstbestimmte

Weise an der Kultur zu partizipieren - doch die kulturellen Güter selbst hat sie sich

ungefragt anzueignen. Die subjektive Aneignung des Objektivierten transformiert Kultur

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hingegen nicht im Geringsten zu etwas Subjektivem. Denn Kultur ist nicht nur das

Anzueignende, sondern auch das Hinzunehmende. (Reichenbach, 2010, S.126).

Die Verknüpfung von Objekt und Subjekt vollzieht sich im Erfahren: „Im Erfahren

unterliege nicht nur ich dem Wandel, sondern auch das, worüber ich eine Erfahrung

mache, ändert sich: Es erhält den Index vormals geltendes Wissen“ (Meyer-Drawe, 2008,

S. 213). Aus einem nichtwissenden Nichtwissender soll durch den Bildungsprozess ein

wissender Nichtwissender werden. Überträgt man diese Annahme der Wissendwerdung

auf Holzkamp bedeutet Lernen zu einer Verfügungserweiterung zu gelangen, indem von

einer negativen Erfahrung aus ein expansives Lernen initiiert wird. Meyer-Drawe (2008)

beschreibt das Wechselspiel, das zwischen Lehrenden und Lernenden stattfindet und ihnen

aber nicht unmittelbar verfügbar ist: „Die Lernenden können daher von den Lehrenden

lernen, was sie noch nicht wissen und können, die Lehrenden von den Lernenden, was sie

nicht mehr wissen und können“ (S. 197). Lernen als Erfahren zu deuten, weist auf ein

Bildungsverständnis hin: Durch die Erfahrung findet eine Persönlichkeitsentwicklung statt,

welche das Individuum verändert. Meyer-Drawe (2008, S. 213) beschreibt dieses Erfahren

treffend: „Lernen in einem strengen Sinne beginnt dort, wo das Vertraute brüchig und das

Neue noch nicht zur Hand ist, mit einer Benommenheit im Zwischenreich...“. Die

Unverfügbarkeit ist ein zentrales Moment der Bildung, denn „im Lernen fungieren

Bestimmungen des Daseins, die sich nicht ohne Weiteres zu erkennen geben. Sie können

das Lernen unbemerkt ebenso befördern, wie behindern. Lernen meint also nicht nur,

vielleicht nicht einmal zentral Zukunft, sondern Herkunft, welche sich uns stets nur

verstellt zeigt, weil sie als Herkunft nicht zu bezeugen ist“ (Meyer-Drawe, 2008, S.197).

Lernen ist ein Vollzug, eine Aktivität, die schwer beschreibbar und kaum messbar ist, da

der Lernprozess im Verborgenen geschieht. Meyer-Drawe beschreibt dieses bestimmende

Merkmal des Lernens: „Es gehört vielmehr als Struktureigentümlichkeit zum Lernen selbst

dazu, dass sich der Vollzug ins Dunkle zurückzieht“ (Meyer-Drawe, 2008, S. 193). In

holzkampschem Sinne könnte man von der Subjektbezogenheit sprechen, da das Subjekt

nur dann lernt, wenn es involviert ist und subjektive Lerngründe entwickelt. Doch

Holzkamp beschreibt damit nur den bewussten Aspekt des Lernens, er schliesst bei seinem

subjektwissenschaftlichen Verständnis die unbewussten Vorgänge bzw. Erfahrungen aus.

In diesem Punkt scheint mir das holzkampsche Verständnis zu eingeschränkt. Lern- und

Bildungsprozesse finden nicht immer als kontrollierbare, steuerbare und messbare

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Vorgänge ab, die dem Subjekt bewusst zugänglich sind, sondern werden oftmals erst

reflexiv begründet. Erfahrungen werden dabei zur Sprache gebracht. Bollnow begründet,

diesen unbewussten Vorgang: „Der Mensch ist in der Erfahrung wesentlich reaktiv, und

erst in der Reaktion produktiv“ (Bollnow, 1970, S.3). Die Reflexion scheint mir das

sinnvolle Instrument zu sein, um sich der Lern- und Bildungsprozessen bewusst zu

werden: „Die Reflexion kommt niemals an den Ort ihres Entspringens zurück. Sie ist stets

verspätet im Hinblick auf sich selbst“ (Meyer-Drawe, 2008, S. 211).

Fazit  

Die Analyse bestand darin, den Lernbegriff dem Bildungsbegriff gegenüber zu stellen und

diese beiden Begriffe in ein Verhältnis zur subjektwissenschaftlichen Didaktik zu setzen.

Es war nicht meine Absicht, den Lernbegriff durch den Bildungsbegriff zu ersetzen.

Dennoch scheint mir nach der vorangegangenen Argumentation der Bildungsbegriff

unverzichtbar, da die Subjektwerdung erst im Kontext der gesellschaftlichen und

politischen Verhältnisse verstehbar wird, insofern ist ein historischer Bezug notwendig.

Von der Subjektkonstitution her argumentiert, bedarf es sicherlich der Bildung der Person,

nebst dem Sach- und Verfügungswissen. Daher ist das Holzkampsche Lernverständnis

eher ein Bildungsverständnis. Mit Humboldt lässt sich diese Auffassung begründen: Die

Aufgabe des Daseins des Menschen ist es, „Spuren des lebendigen Wirkens

zurückzulassen“ und dies lässt sich durch „die Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu

der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ (Humboldt, 1903, S. 203)

realisieren. Es scheint mir, dass der Lern- und Bildungsbegriff in der Subjektwissenschaft

in einem dialektischen Verhältnis stehen. Es geht meines Erachtens in der Lehrerbildung

nicht darum sich entweder für das instruktionsparadigmatische Lernverständnis oder für

das konstruktivistische Lernen auszusprechen. Vielmehr ist für die Bewährung einer

Lerntheorie entscheidend, ob sie im praktischen Sinne den Lernprozess anregen kann. Für

die theoretische Ebene ist relevant, ob die Theorie den Diskurs vorantreibt und hilfreiche

Analysemöglichkeiten bietet. Das Konzept des subjektwissenschaftlichen Ansatzes beim

Lernen ermöglicht uns den Lernprozess auch der Perspektive des Lernenden zu betrachten

und daraus Schlüsse für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen zu ziehen. In

Bezug zur Hochschulbildung bietet die Theorie des expansiven Lernens eine Erweiterung

im Sinne der Hinterfragung der Erfahrung und der persönlichen Sinngebung. In der

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Didaktik sind sowohl die Instruktion als auch die Konstruktion beizuziehen, sonst herrscht

ein einseitiges Lern- und Bildungsverständnis. Deshalb hat „institutionalisierter Unterricht

idealerweise einem Lernen zu dienen, welches etwas anderes darstellen müsste als die

„blose“ Aneignung von „trägem“ Wissen, nämlich bildendes Lernen“ (Reichenbach, 2010,

S. 122). Bildung hat viel mit der Übernahme von Fremderfahrung zu tun. „Dieses

Übernehmen“ so Reichenbach (2010) „kann man zwar immer noch konstruktivistisch

interpretieren bzw. verklären, wenn es denn unbedingt sein muss, denn Pädagoginnen und

Pädagogen [...] reden gerne und lieber von ‚eigenständigem’ Lernen, ‚selbsttätigem’

Lernen, ‚offenem’ und ‚eigenaktiven’ Lernen“ (S. 124). Gemäss Reichenbach sind diese

Begrifflichkeiten bedeutungslos, eher Überredungsvokabeln, die den Lernenden täuschen.

Lernen bestünde, so Reichenbach, nur zu einem Teil aus eigenen Erfahrungen: „Vielmehr

geht es wesentlich darum, Fremderfahrungen, insbesondere natürlich die Erfahrungen der

früheren Generationen in Form von Kulturgütern- (implizites und explizites) Wissen- zu

übernehmen“ (Reichenbach, 2010, S. 124).

Die pädagogische Relevanz einer subjektwissenschaftlichen Didaktik zeigt sich darin, dass

sie sich am Subjekt orientiert und dadurch neue Perspektiven eröffnet. Als mögliche

Erweiterung der Subjektwissenschaft scheint mir die rhetorische Didaktik (vgl.

Dörpinghaus, 2007, S. 161 ff.) sinnvoll, da sie einem Lernverständnis entspricht, welches

sich an der Erfahrung orientiert. Bildungstheoretisch ist die Konzeption der rhetorischen

Didaktik deshalb interessant, weil sie die menschliche Erfahrung als Phänomen aufgreift

und einem kritischen Bildungsverständnis entspricht. Die pädagogisch-didaktische

Vorstellung von Lernen in der rhetorischen Didaktik stimmt mit der

subjektwissenschaftlichen Lerntheorie insofern überein, dass beide Theorien den Mensch

als leiblich-affektives und kognitives Wesen begreifen. Die Lernkonzeption der

rhetorischen Didaktik bezieht sowohl die Struktur- als auch die Prozesslogik von

Unterricht ein. Die rhetorische Didaktik eignet sich für die Umsetzung des Lernens als

Erfahrung. Es geht um Aufmerksamwerden durch Widerfahrnis und Bewegtwerden:

„Sowohl Bildung als auch Lernen sind an Erfahrungen eines leiblich-vernünftigen Wesens

gebunden und haben einen pathisch negativen Ausgang in der Widerfahrnis; sie haben

didaktisch betrachtet, ihren Anfang in einem Aufmerken, das eine Antwort auf eine

sachliche oder soziale Widerständigkeit ist“ (Dörpinghaus, 2007, S.171). Die rhetorische

Didaktik als Praktik der Aufmerksamkeit und Verzögerung schein mit für eine

Lehrerbildung sinnvoll. Die Verzögerung soll Erfahrungen ermöglichen, indem durch die

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Befragung des Selbstverständlichen neue Ebenen eröffnet werden und es durch das

fragende Denken zu Lern- und Bildungsprozessen kommt. Die rhetorische Didaktik als

Theorie des Unterrichts ist „mit der kritischen Frage nach Einsicht in den Zweck der

unterrichtlichen Vermittlung und damit nach den sozialen Machtpraktiken konstitutiv

verwoben“ (Dörpinghaus, 2007, S. 173). In Bezug zu Holzkamps Schulkritik, ist es meines

Erachtens auch für die Lehrerbildung entscheidend, wie sie sich legitimiert. Die Didaktik

hat sich ethisch-kritischen Fragen zu stellen: „In dieser Reflexion auf die soziale Praxis

und die Mündigkeit ist Rhetorische Didaktik die Sorge um die Bildung des Menschen, [...]

ein kritisches und darin ethisches Moment von Bildung in sozialen Praxen, sie ist ein

Nachdenken über seine mit anderen zu vermittelnden Verhältnisse“ (Dörpinghaus, 2007, S.

173). Die Fokussierung auf Selbstorganisation –und Selbststeuerung ist unter dem Aspekt

der Beschleunigung von Lernprozessen entstanden, doch dies widerspricht einer kritisch-

widerständigen Struktur des Bildungsbegriffs, der in der Praktik der Aufmerksamkeit und

durch die Verzögerung eine Ermöglichung von Erfahrungen sieht. Die Bedeutung der

rhetorischen Didaktik ist für das professionelle pädagogische Handeln insofern wichtig, als

dass dadurch nicht nur methodisches Wissen vermittelt wird, sondern auch die Frage der

Begründung der Auswahl thematisiert wird. Für die Lehrerprofessionalisierung ist es daher

bedeutsam, die Urteilsfähigkeit zu üben und sich der Unsicherheiten bewusst zu sein und

sie als bestimmende Momente des Unterrichts zu akzeptieren (vgl. Dörpinhaus, 2007, S.

174). Mit einer kritischen Herangehensweise an den Gegenstand ist ein Bildungsprozess

überhaupt möglich, denn dadurch findet eine Selbstreflexion statt, die wiederum Einfluss

auf den Lernprozess hat. Dadurch, dass sich das Subjekt im Lernprozess seiner

Erfahrungen bewusst wird und diese reflektiert, ergeben sich für das Subjekt neue

Perspektiven. Im subjektwissenschaftlichen Verständnis sind die Begründungen für eine

Verfügungserweiterung an das Subjekt gebunden. Indem das Subjekt den Erfahrungen

Sinn zuspricht, werden neue Handlungsalternativen erarbeitet, die den Fortgang des

Lernens ermöglichen. Der phänomenologische Zugang zum Lernen entspricht mir , weil er

eine breitere Sichtweise ermöglicht und das Phänomen Lernen als eine Selbst- und

Weltverständigung im Sinne der Bildung begreift. Gemäss Bollnow (1970) erwächst „ die

Erfahrung in der Auseinandersetzung des in einer verständlichen Welt befindlichen

Menschen mit dem hereinbrechenden Zufall“ (Bollnow, S. 3). Der Zufall der Erfahrung

ereignet sich unvorhersehbar und entzieht sich der menschlichen Planung.

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In Bezug zu Holzkamp kann festgehalten werden, dass durch die Subjektorientierung die

Vielfalt und die Mehrdeutigkeit von Erfahrungen gewürdigt werden. Lernen als Erfahren

zu begreifen, bedeutet eine subjektwissenschaftliche Didaktik zu vertreten, die den Lern-

und Bildungsbegriff beinhaltet. Daher bietet sich dieses Verständnis für eine

subjektwissenschaftlich orientierte Lehrerbildung an.

 Schlusswort    

Ausgehend von Holzkamps subjektwissenschaftlicher Lerntheorie habe ich den Lern –und

Bildungsbegriff erörtert und Modelle subjektwissenschaftlicher Didaktik miteinander

verglichen und auf ihre Brauchbarkeit für die Lehrerbildung untersucht. Während der

Arbeit bin ich immer stärker von einer psychologischen Perspektive zu einem

philosophischen Zugang gelangt. Diese Entwicklung hat sicherlich mit der persönlichen

Neigung zu tun und ich bin mir bewusst geworden, dass mein Interesse insbesondere im

bildungsphilosophischen Bereich liegt. Die Didaktik ist für mich etwas in den Hintergrund

getreten. Ich denke, dass eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Lernen aus

philosophischer Perspektive die Logik des Lernens3 noch stärker aufschlüsseln würde. Den

Erfahrungsbegriff weiter zu verfolgen, beziehungsweise die Grenzen der Erfahrung beim

Lernen auszuloten, könnte eine weitere Untersuchung wert sein. Weiter scheint mir

untersuchenswert, wie sich das Lernen, aus kulturhistorischer Sicht entwickelt hat. Es wäre

spannend zu erörtern, ob die Tätigkeitstheorie zur Begründung einer kritischen

Erziehungswissenschaft beigezogen werden kann.

3 Koch L. (1991). Logik der Lernens. Weinheim: Deutscher Studien Verlag

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