Leseflüssigkeit – Prosodie – Leseverstehen · Fluency combines accuracy, automaticity, and...

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1 Leseflüssigkeit – Prosodie – Leseverstehen Eine Longitudinalstudie zur Entwicklung der Leseflüssigkeit von Jahrgangstufe 3 bis 7 Christopher Sappok, Markus Linnemann, Sabine Stephany 1 Einleitung Lesekompetenz lässt sich als mehrdimensionales Konstrukt fassen, das eine soziale, motivationale und kognitive Perspektive umfasst (Rosebrock & Nix, 2015), die jeweils weiter ausdifferenziert werden kann. Zur kognitiven Perspektive wird gemeinhin die Integration verschiedener Teilfertigkeiten und - fähigkeiten gezählt. Das Beherrschen bestimmter Lesefertigkeiten ist eine wesentliche Voraussetzung für eine entwickelte Lesekompetenz, da so kognitive Kapazitäten für anspruchsvollere Aufgaben wie das Verstehen von Texten zur Verfügung stehen (LaBerge & Samuels, 1974). Eine dieser Fertigkeiten ist die Leseflüssigkeit. In der angloamerikanischen Leseforschung spielt die Leseflüssigkeit von Kindern schon seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle. Seit einigen Jahren wird sie auch in der Deutschdidaktik zunehmend intensiver und differenzierter erforscht (z. B. Holle, 2006; Lauer-Schmaltz, Rosebrock & Gold, 2014; Nix, 2011). Im Mittelpunkt steht meist die Förderung der Leseflüssigkeit im Zusammenhang mit dem Textverstehen, vor allem in der Grundschule. Das proso- dische Lesen als Teilaspekt der Leseflüssigkeit findet dabei allerdings erst in jüngster Zeit Berücksich- tigung (z. B. Sappok & Fay, 2018; Stephany et al., im Druck). So sind viele Fragen in diesem Zusam- menhang noch offen, insbesondere wie sich das prosodische Lesen, auch im Zusammenwirken mit dem Textverstehen, entwickelt. Der vorliegende Beitrag versucht der Frage nach der Entwicklung durch die Untersuchung von längschnittlich erhobenen Lautlese-Aufnahmen nachzukommen. Dabei handelt es sich um ein vom Erstautor (z. T. mit Unterstützung von Johanna Fay) erhobenes Korpus (LAUDIO-Korpus) aus knapp 1000 Audioaufnahmen von 61 laut lesenden Schülerinnen und Schülern, die in regelmäßgigen Abstän- den von Jgst. 3 bis 6 bzw. Jgst. 4 bis 7 aufgenommen wurden. Derartige Daten liegen für den deutsch- sprachigen Raum unseres Wissens bislang nicht vor; im angelsächsischen Raum sind vergleichbare Längsschnittuntersuchungen nur innerhalb des Primarbereichs bekannt (z. B. Miller & Schwanenflu- gel, 2008; Paige et al., 2017). Ein Auschnitt aus diesen Daten wurde für die hier geschilderte Untersu- chung analysiert. Im Mittelpunkt der Analysen stehen mit der Leseflüssigkeit und dem Textverstehen zwei wichtige Teilaspekte von Lesekompetenz. Untersucht werden soll hier besonders die Entwicklung der Leseflüs- sigkeit mit einem Fokus auf Leseprosodie. Das Hauptziel besteht darin, individuelle Erwerbsbiogra- phien zu rekonstruieren und didaktisch zu diskutieren. Hierzu wird im Folgenden zunächst ein kurzer Überblick über das Konstrukt Leseflüssigkeit, mögliche Messmethoden und Zusammenhänge mit dem Textverstehen gegeben. Der empirische Teil umfasst die Beschreibung des LAUDIO-Korpus und des für diese Studie verwendeten Teilkorpus, die Erläuterung der Items zur Messung der Leseflüssigkeit und die Ergebnisse, die schließlich diskutiert werden. 2 Leseflüssigkeit 2.1 Akkuratheit, Automatisierung, prosodisches Lesen Beim Erstlesen (ca. 1. bis 3. Klasse) steht vor allem das Rekodieren (Zuordnung von Graphemen zu Phonemen) und Dekodieren, also die Bedeutungszuschreibung zum erlesenen Wort, im Mittelpunkt. Das weiterführende Lesen (ab ca. 3. Klasse) ist dann durch eine zunehmende Automatisierung dieser Prozesse gekennzeichnet, die sich in zunehmender Schnelligkeit und einer Verringerung der Verlesun- gen zeigt (La Berge & Samuels, 1974). Hinzu kommt schrittweise eine adäquate wortübergreifende Gliederung in sinnvolle Phrasen und damit das Herstellen von lokaler Kohärenz (Rosebrock, Nix, Rieckmann & Gold, 2016). Beides sind wichtige Aspekte der Leseflüssigkeit, die damit eine Brücke

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Leseflüssigkeit – Prosodie – Leseverstehen

Eine Longitudinalstudie zur Entwicklung der Leseflüssigkeit von Jahrgangstufe 3 bis 7

Christopher Sappok, Markus Linnemann, Sabine Stephany

1 Einleitung Lesekompetenz lässt sich als mehrdimensionales Konstrukt fassen, das eine soziale, motivationale und kognitive Perspektive umfasst (Rosebrock & Nix, 2015), die jeweils weiter ausdifferenziert werden kann. Zur kognitiven Perspektive wird gemeinhin die Integration verschiedener Teilfertigkeiten und -fähigkeiten gezählt. Das Beherrschen bestimmter Lesefertigkeiten ist eine wesentliche Voraussetzung für eine entwickelte Lesekompetenz, da so kognitive Kapazitäten für anspruchsvollere Aufgaben wie das Verstehen von Texten zur Verfügung stehen (LaBerge & Samuels, 1974). Eine dieser Fertigkeiten ist die Leseflüssigkeit. In der angloamerikanischen Leseforschung spielt die Leseflüssigkeit von Kindern schon seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle. Seit einigen Jahren wird sie auch in der Deutschdidaktik zunehmend intensiver und differenzierter erforscht (z. B. Holle, 2006; Lauer-Schmaltz, Rosebrock & Gold, 2014; Nix, 2011). Im Mittelpunkt steht meist die Förderung der Leseflüssigkeit im Zusammenhang mit dem Textverstehen, vor allem in der Grundschule. Das proso-dische Lesen als Teilaspekt der Leseflüssigkeit findet dabei allerdings erst in jüngster Zeit Berücksich-tigung (z. B. Sappok & Fay, 2018; Stephany et al., im Druck). So sind viele Fragen in diesem Zusam-menhang noch offen, insbesondere wie sich das prosodische Lesen, auch im Zusammenwirken mit dem Textverstehen, entwickelt. Der vorliegende Beitrag versucht der Frage nach der Entwicklung durch die Untersuchung von längschnittlich erhobenen Lautlese-Aufnahmen nachzukommen. Dabei handelt es sich um ein vom Erstautor (z. T. mit Unterstützung von Johanna Fay) erhobenes Korpus (LAUDIO-Korpus) aus knapp 1000 Audioaufnahmen von 61 laut lesenden Schülerinnen und Schülern, die in regelmäßgigen Abstän-den von Jgst. 3 bis 6 bzw. Jgst. 4 bis 7 aufgenommen wurden. Derartige Daten liegen für den deutsch-sprachigen Raum unseres Wissens bislang nicht vor; im angelsächsischen Raum sind vergleichbare Längsschnittuntersuchungen nur innerhalb des Primarbereichs bekannt (z. B. Miller & Schwanenflu-gel, 2008; Paige et al., 2017). Ein Auschnitt aus diesen Daten wurde für die hier geschilderte Untersu-chung analysiert. Im Mittelpunkt der Analysen stehen mit der Leseflüssigkeit und dem Textverstehen zwei wichtige Teilaspekte von Lesekompetenz. Untersucht werden soll hier besonders die Entwicklung der Leseflüs-sigkeit mit einem Fokus auf Leseprosodie. Das Hauptziel besteht darin, individuelle Erwerbsbiogra-phien zu rekonstruieren und didaktisch zu diskutieren. Hierzu wird im Folgenden zunächst ein kurzer Überblick über das Konstrukt Leseflüssigkeit, mögliche Messmethoden und Zusammenhänge mit dem Textverstehen gegeben. Der empirische Teil umfasst die Beschreibung des LAUDIO-Korpus und des für diese Studie verwendeten Teilkorpus, die Erläuterung der Items zur Messung der Leseflüssigkeit und die Ergebnisse, die schließlich diskutiert werden.

2 Leseflüssigkeit 2.1 Akkuratheit, Automatisierung, prosodisches Lesen

Beim Erstlesen (ca. 1. bis 3. Klasse) steht vor allem das Rekodieren (Zuordnung von Graphemen zu Phonemen) und Dekodieren, also die Bedeutungszuschreibung zum erlesenen Wort, im Mittelpunkt. Das weiterführende Lesen (ab ca. 3. Klasse) ist dann durch eine zunehmende Automatisierung dieser Prozesse gekennzeichnet, die sich in zunehmender Schnelligkeit und einer Verringerung der Verlesun-gen zeigt (La Berge & Samuels, 1974). Hinzu kommt schrittweise eine adäquate wortübergreifende Gliederung in sinnvolle Phrasen und damit das Herstellen von lokaler Kohärenz (Rosebrock, Nix, Rieckmann & Gold, 2016). Beides sind wichtige Aspekte der Leseflüssigkeit, die damit eine Brücke

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bildet zwischen den basalen Prozessen des Dekodierens und den komplexeren Prozessen des Textver-stehens:

Fluency combines accuracy, automaticity, and oral reading prosody, which, taken together, facili-tate the reader’s construction of meaning. It is demonstrated during oral reading through ease of word recognition, appropriate pacing, phrasing, and intonation. It is a factor in both oral and silent reading that can limit or support comprehension. (Kuhn, Schwanenflugel & Meisinger, 2010, S. 240)

Leseflüssigkeit lässt sich demzufolge als dreidimensionales Konstrukt verstehen, das Akkuratheit, Au-tomatisierung und Prosodie umfasst (vgl. auch Kuhn & Stahl, 2003; Rasinski, 2004; Rosebrock & Nix, 2006). Diese Reihenfolge entspricht tendenziell der Schwerpunktsetzung im Erwerbsverlauf und ei-nem Anstieg hinsichtlich der Größenordnung der sprachlichen Bezugseinheiten. Akkuratheit bezieht sich auf die Wortebene und bedeutet, dass die Leserin bzw. der Leser in der Lage ist, Wörter zu erkennen und auf Graphem- bzw. Phonemebene weitgehend fehlerfrei wiederzugeben. Automatisierung besagt, dass sich kognitive Prozesse schnell und mühelos ausführen lassen (Schnei-der & Shiffrin, 1977; Shiffrin & Schneider, 1977). Akkuratheit und Automatisierung sind für den Le-seprozess unabdingbar: Ein langsames und mühevolles Dekodieren einzelner Wörter und eine ver-mehrte Fehleranfälligkeit auf der Silben- und Wortebene führen zu einer Überlastung des Arbeitsge-dächtnisses, sodass für komplexere Prozesse des Textverstehens, wie das Ziehen von Inferenzen oder das Herstellen von globalen Zusammenhängen, keine kognitiven Ressourcen zur Verfügung stehen und ein Verstehen des Textes erschwert wird (LaBerge & Samuels 1974; Samuels, 1994). Bei Lesean-fängern lässt sich dies gut beobachten, wenn das Dekodieren einzelner Wörter noch soviel Zeit und Aufmerksamkeit benötigt, dass am Ende eines Satzes wieder vergessen wurde, was am Beginn des Satzes steht. Neben der Akkuratheit und der Automatisierung spielt das prosodische Lesen eine wichtige Rolle als Teilaspekt der Leseflüssigkeit. Prosodie ist aus akustischer Perspektive ein Sammelbegriff für solche Eigenschaften von Sprachschall, die sich über Zeit-, Frequenz- und Amplitudenmaße erfassen lassen – im Gegensatz zu solchen Eigenschaften, die sich über spektrale Maße erfassen lassen (Eckert & Laver, 1994; Mayer, 2014; Pompino-Marschall, 2009). Von diesem Ausgangspunkt aus schlägt Laver (1994) den Bogen zur auditiven Perspektive: „There [are] only four perceptual domains available to the hu-man auditory system for differentiating the elements of speech. These [are] the domains of perceptual quality, duration, pitch and loudness” (ebd., S. 431). „Quality“ in diesem Sinne manifestiert sich pri-mär in den spektralen Eigenschaften von Sprachschall und steht vereinfacht gesprochen für das, was gehört wird. „Duration, pitch and loudness“ oder auch „patterns of timing, melody, and intensity” (Prieto & Esteve-Gibert, 2018, S. 1) – d. h. Dauer-, Tonhöhen- und Lautheitsverhältnisse – stehen für die prosodischen Eigenschaften von gesprochener Sprache und damit vereinfacht gesprochen dafür, wie etwas gehört wird (Sappok & Fay, 2018). Was die Funktionen von Prosodie angeht, so sind diese enorm vielfältig und außerdem auf höchst komplexe Weise mit den einzelnen oben aufgeführten pro-sodischen Eigenschaften verknüpft. Eine knappe und dabei umfassende Darstellung bieten Prieto und Esteve-Gibert (2018, S. 1):

We use it [prosody] to separate our speech into chunks of information […]. Secondly, prosody plays a key pragmatic role in conversation […] from the type of speech act […], information status […], belief status […], politeness, and affective states, to indexical functions such as gender, age, and the socio-lectal and dialectal status of the speaker […]. Finally, in many languages of the world, prosody can also encode phonological contrasts at the lexical level through stress or tonal marking (ebd., S. 1).

Entsprechend vielschichtig ist die Rolle, die die Prosodie beim lauten Lesen spielen kann. Im Erwerb treten prosodische Aspekte in den Vordergrund, wenn sich der Fokus vom Wortlesen hin zum Satz- und Textlesen verschiebt, indem das Erlesen größerer Einheiten wie Phrasen und Sätze in den Blick genommen wird. Die Leserin bzw. der Leser sollte in der Lage sein, einen Text in sinnvolle Ab-schnitte einzuteilen sowie betont und rhythmisch und mit einer sinnvollen Intonationskontur zu lesen

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(Chafe, 1988). Ähnliches gilt auch für das leise Lesen: Nach Fodors (2002) Implicit Prosody Hypothe-sis wird eine „Default“-Standardkontur der Intonation auf den Stimulus projiziert, die z. B. den Um-gang mit syntaktischen Mehrdeutigkeiten beeinflusst. Kentner (2012, S. 42 f.) untersucht z. B. den Umgang mit Sätzen, bei denen die sinngemäße Akzentuierung zwei betonte Silben aufeinanderfolgen lassen würde, was als sehr markiertes Phänomen gelten kann („stress clash“, s. Beispiel a). Beim lei-sen Lesen wird in solchen Fällen tendenziell erst einmal von einer Interpretation ausgegangen, die mit einer unmarkierten iterativen Akzentabfolge einhergeht (s. Beispiel b). Die dergestalt ins Auge ge-fasste Interpretation muss dann im Zuge des Lesens revidiert werden („garden-path-effect“):

a) Der Polizist sagte, dass man nicht MEHR NACHweisen kann, als die Tatzeit. b) Der Polizist sagte, dass man nicht mehr NACHweisen kann, wer der Täter war.

Welche prosodischen Aspekte beim Lesen eine relevante Rolle spielen und einen Einfluss auf das Textverstehen haben oder umgekehrt, ist bisher ungeklärt. Entsprechend vorsichtig definieren Kuhn, Schwanenflugel und Meisinger (2010) das prosodische Lesen als „appropriate expression or intonation coupled with phrasing that allows for the maintenance of meaning” (ebd., S. 233), betonen aber, dass es sich dabei um eine „critical component of reading fluency“ handele (ebd., S. 233). Groen, Ve-enendaal und Verhoeven (2019) gehen sogar weiter, indem sie dem prosodischen Lesen einen wichti-geren Bezug zum Textverstehen zuweisen als dem Dekodieraspekt: „The construction of meaning seems more closely tied to text reading prosody than to decoding efficiency, at least, when children have mastered automaticity in reading“ (ebd., S. 16).

2.2 Messung der Leseflüssigkeit

Normierte und standardisierte Verfahren zur Messung der Leseflüssigkeit liegen zurzeit nicht vor. Le-seflüssigkeit wird in Forschung und Schulpraxis in der Regel mit Hilfe von Lautleseprotokollen beste-hend aus verschiedenen Skalen erfasst. Die Schülerinnen und Schüler lesen dazu einen Text laut vor, anhand dessen die Dimensionen der Leseflüssigkeit entweder „live“ während des Lesens oder später als Audioaufnahme beurteilt werden. Die Erfassung der Akkuratheit und der Automatisierung stellt bei dieser Verfahrensweise kein nen-nenswertes Problem dar, beides lässt sich reliabel mit Hilfe von Beurteilerinnen bzw. Beurteilern mes-sen. Zur Bestimmung der Akkuratheit wird der Anteil der richtig gelesenen Wörter an der Gesamtzahl der gelesenen Wörter in einem Text gemessen, wobei Selbstkorrekturen der Leserin bzw. des Lesers erlaubt sind. Die Automatisierung wird zumeist als richtig gelesene Wörter pro Zeiteinheit gemessen. Die Erhebung der prosodischen Aspekte ist schon alleine wegen ihrer theoretischen Komplexität schwieriger und z. T. unreliabler. Signalphonetische Messmethoden sind kaum erforscht, deshalb er-folgt sie häufig mit Hilfe von Rating-Skalen. Die Leseflüssigkeitsskala des US-amerikanischen Natio-nal Assessment of Educational Progress (NAEP; vgl. Daane, Campbell, Grigg, Goodman, & Oranje, 2005; Pinnell, 1995) ist vierfach abgestuft und fokussiert vor allem das phrasierte Lesen (s. Punkt 6.4.2). Etwas ausdifferenzierter ist die mehrdimensionale Flüssigkeitsskala nach Rasinski (2004). Sie besteht aus vier vierfach abgestuften Subskalen zu den Dimensionen Betonung, Phrasierung, Rhyth-mus und Geschwindigkeit. Das hier geschilderte Verfahren, Leseflüssigkeit anhand von Lautleseprotokollen zu messen, ist vor allem aus Gründen der Validität nicht unproblematisch. Da es sich nicht um ein standardisiertes Mess-instrument handelt, werden zum einen keine Texte vorgegeben. Daraus ergibt sich grundsätzlich die Frage nach der Angemessenheit eines Textes, denn zu einfache oder zu anspruchsvolle Texte führen zu einer Verzerrung der Ergebnisse. Zum anderen liegen keine Normwerte für die Lesegeschwindig-keit vor. Probleme ergeben sich auch bei der Messung mit den genannten Rating-Skalen, da hier immer nur ein globaler Höreindruck wiedergegeben wird. Auch wenn Studien zeigen, dass bei dieser Form der Mes-sung hohe Raterübereinstimmungen erzielt werden und mittlere Korrelationen mit dem Textverstehen

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vorliegen, ist dies für eine detaillierte Diagnostik, aber auch für eine grundlegendere Erforschung bei-spielsweise der Funktionen von prosodischen Merkmalen zu unpräzise. In Sappok und Fay (2018) wird deshalb vorgeschlagen, solche Ratings, die immer holistisch auf ganze Textvorträge bei in vieler-lei Hinsicht beliebigem Textstimulus bezogen sind, durch analytische Ratings zu ergänzen: „Die Hör-instruktion sollte sich auf eine bestimmte, einfach zu benennende prosodische Herausforderung be-schränken, die Hörstimuli sollten kurz sein“ (ebd., S. 79).

2.3 Entwicklung der Leseflüssigkeit

Entscheidend im Prozess des Lesenlernens ist der Schritt vom Wortlesen bzw. Wort-für-Wort-Lesen hin zum flüssigen, akkuraten, sinngestaltenden Lesen. In Modellen zur Leseentwicklung wird das flüs-sige Lesen in den frühen Phasen des Leseerwerbs in der Grundschule verortet (Chall, 1996), allerdings ist diese Entwicklung im Grundschulalter nicht abgeschlossen. Studien legen nahe, dass Kinder, die das flüssige Lesen im Grundschulalter nicht erwerben, im weiteren Verlauf der Schulzeit Schwierig-keiten mit dem Verstehen von Texten haben (vgl. u. a. Rasinski et al., 2005). Erkenntnisse zur Ent-wicklung des flüssigen Lesens sind daher wichtig, um potentielle Risikoschüler frühzeitig erkennen und fördern zu können. Forschungen zur Leseflüssigkeit konzentrierten sich aber bisher selten auf den Erwerb, echte Longitudinalstudien sind rar. Insbesondere wie sich das prosodische Lesen auch im Zu-sammenhang mit anderen Aspekten des Leseprozesses entwickelt, ist ein Desiderat. In einigen Studien wird deutlich, dass mit steigender Automatisierung auch das prosodische Lesen zunimmt (vgl. u.a. Schwanenflugel, Hamilton, Kuhn, Wisenbaker & Stahl, 2004). Dies ist konform mit LaBerge und Sa-muels Theorie der Automatisierung (1974), die davon ausgeht, dass durch eine fortschreitende Auto-matisierung kognitive Ressourcen für andere Prozesse frei werden – in diesem Fall für das Verarbeiten von Prosodie beim Lesen. Diese Theorie kann die Rolle der Prosodie beim Lesen aber nicht ausreichend erklären. Die Forschung zur Entwicklung der Prosodie bei Kindern befasst sich kaum mit dem Lesen, sondern meist mit dem mündlichen Sprachgebrauch. Hier zeigt sich, dass Kinder schon sehr früh sensibel für prosodische Elemente sind und prosodische Muster nutzen. „Before one year of age the child has learned to use prosodic markers to untangle oral speech; markers that will later be applied to reading a text“ (Paige et al., 2017, S. 249). Diese prosodische Sensibilität scheint wichtig für die Entwicklung von phonologi-scher Bewusstheit und letztlich auch für Akkuratheit beim Lesen und Schreiben zu sein (ebd., 2017). Wade-Wooley (2016) konnte beispielsweise zeigen, dass Kinder, die die Wortbetonung korrekt identi-fizieren, besser in der Lage sind, mehrsilbige Wörter zu lesen. Experimentelle Studien zeigen, dass sich Kinder noch im Grundschulalter beim Verarbeiten syntaktischer Strukturen in mündlichen Äuße-rungen stärker als Erwachsene auf prosodische Hinweise verlassen (Schreiber, 1991). Die in der frühen Kindheit im mündlichen Sprachgebrauch erworbenen prosodischen Fertigkeiten sind zwar eine Grundlage für das Lesen, beim Lesenlernen können Kinder aber nicht mehr auf prosodische Hinweise zurückgreifen, die im mündlichen Sprachgebrauch vorliegen. Sie müssen lernen, Sätze in angemessene Phrasen zu segmentieren, indem sie die syntaktische Struktur von geschriebenen Sätzen erkennen und dafür andere Hinweise nutzen, wie z. B. grafische Signale (Interpunktion), silbische Strukturen oder morphologische Marker. Schreiber (1991) nimmt an, dass Kinder, bevor sie lernen, diese Hinweise zu nutzen, langsam, unbetont und eher Wort-für-Wort lesen. Im Regelunterricht ist dies vor allem zu Beginn der ersten Klasse der Fall, bevor sich mit fortschreitender Automatisierung prosodisches Lesen einstellt. Paige et al. (2017) konnten in einer Studie mit Erst-, Zweit- und Dritt-klässlern zeigen, dass prosodisches Lesen im 1. Schuljahr den größten Anstieg verzeichnet und in der 3. Klasse stagniert. Miller und Schwanenflugel (2008) untersuchten ebenfalls von der ersten bis zur dritten Klasse die Entwicklung der Prosodie und ihren Einfluss auf die Automatisierung und das Text-verstehen. Als reliables und valides Maß wurden Pausen bzw. Verzögerungen wärend des lauten Le-sens und der Abfall der Tonhöhe am Ende eines Satzes erhoben. Es zeigte sich, dass beide Variablen einen weitaus geringeren Einfluss sowohl auf die Automatisierung als auch auf das Textverstehen ha-ben als das zügige Wortdekodieren. Dies verwundert nicht, da die Schülerinnen und Schüler bis zur dritten Klasse noch viele kognitive Ressourcen für das Wortdekodieren aufbringen müssen. Unklar

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bleibt in beiden Studien die Rolle der Prosodie und ihr Einfluss auf das Textverstehen jenseits der ers-ten Schuljahre.

2.4 Leseflüssigkeit und Leseverstehen

Lesen ist ein komplexer kognitiver Prozess, bei dem zahlreiche Teilprozesse, wie das Dekodieren von Wörtern und das Erschließen von lokaler und globaler Kohärenz, integriert werden müssen (vgl. Gro-eben & Christmann, 1996; Kintsch, 1998; Müller & Richter, 2014; Schnotz & Dutke, 2004). Studien zeigen, dass in diesem komplexen kognitiven Prozess die Leseflüssigkeit als Brücke zwischen dem Dekodieren einzelner Wörter und dem Verstehen von ganzen Texten eine wichtige Rolle spielt. Insbe-sondere zum Zusammenhang der einzelnen Dimensionen von Leseflüssigkeit und dem Leseverstehen liegen eine Reihe von Erkläransätzen und Untersuchungen vor. Perfettis Verbal Efficiency Theory (Perfetti, 1985; Perfetti & Hart, 2002) zeigt die Relevanz einer ak-kuraten und schnellen Worterfassung für das Leseverstehen. Eine schnelle, automatische, dabei aber akkurate Worterkennung benötigt geringe kognitive Ressourcen, wodurch kognitive Kapazitäten für Verstehensprozesse zur Verfügung stehen (vgl. auch Wolf & Katzir-Cohen, 2001). Auch LaBerge und Samuels Automaticity Theory (1974) geht von der Annahme einer begrenzten kognitiven Kapazität des Gedächtnisses aus, die es bei der komplexen Tätigkeit des Lesens zunächst erschwert oder verhin-dert, dass gleichzeitig Wörter erkannt werden und der Text verstanden wird. Im Gegensatz zu Verste-hensprozessen, die Aufmerksamkeit fordern, können Prozesse auf Wortebene wie z. B. das Dekodie-ren automatisiert werden (vgl. Fuchs, Fuchs, Hosp & Jenkins, 2001), was zur Entlastung der kogniti-ven Kapazität führt. Carver (1990) konnte innerhalb seiner Reading Rate Theory den Einfluss ver-schiedener Lesegeschwindigkeiten auf das Leseverstehen zeigen. Er nimmt an, dass die individuelle „Höchst-“geschwindigkeit, bei der ein Text noch verstanden wird, von der eigenen kognitiven Verar-beitungsgeschwindigkeit abhängt. Eine höhere Lesegeschwindigkeit kann bewusst jedoch z. B. ge-nutzt werden, um Schlüsselwörter im Text zu suchen (überfliegendes Lesen). Ein positiver Einfluss des schnellen und automatisierten Lesens insbesondere von Wörtern, z. T. aber auch auf der Ebene von Sätzen, Textpassagen und Ganztexten auf das Textverstehen ist insgesamt gut belegt (vgl. z. B. Adams, 1990; Cutting, Materek, Cole, Levine & Mahone, 2009; Jenkins, Fuchs, van den Broek, Espin & Deno, 2003; Schwanenflugel et al., 2006) und führte nicht zuletzt zum Ansatz des Simple View Of Reading (Gough & Tunmer, 1986; Hoover & Gough, 1990), der Leseverstehen al-leine durch Dekodieren und Sprachverstehen zu erklären versucht. Dass die Sichtweise des Simple View of Reading möglicherweise nicht ausreicht, zeigen u. a. Studien, die die dritte Dimension der Leseflüssigkeit, die Prosodie, zur Aufklärung des Textverstehens einbeziehen. Klauda und Guthrie (2008) fanden zusätzlich zur Lesegeschwindigkeit und Akkuratheit einen signifi-kanten Effekt prosodischer Aspekte auf das Leseverstehen. Weitere angloamerikanische Studien konn-ten zeigen, dass prosodisches Lesen eine wichtige Rolle als Prädiktor für zukünftige Leseleistungen spielt. So erwies sich das sinngestaltende Lesen als ein Prädiktor des Textverstehens: Prosodisches Le-sen von einfachen Texten im ersten Schuljahr sagt das Verstehen von anspruchsvolleren Texten im zweiten Schuljahr voraus (Kuhn et al., 2010). In einer Studie von Veenendaal, Groen und Verhoeven (2015) wurde an 101 Viertklässlerinnen und Viertklässlern untersucht, ob Lesegeschwindigkeit und prosodisches Lesen das Leseverstehen über die durch den Simple View of Reading proklamierten Prä-diktoren Dekodieren und Sprachverstehen hinaus voraussagen können. Dies traf für das prosodische Lesen, jedoch nicht für die Lesegeschwindigkeit zu. Weiter zeigten dieselben Autoren in einer Studie mit 84 Dritt-, Viert- und Fünftklässlerinnen und -klässlern, dass Schülerinnen und Schüler, deren Le-severstehen gering, aber deren Dekodierleistung altersangemessen war (‚poor comprehenders‘), schlechtere Werte im prosodischen Lesen hatten als jüngere Schülerinnen und Schüler mit gleicher Leseverstehens- und Dekodierkompetenz (Groen, Veenendaal & Verhoefen, 2018). Dies zeigt, dass ein Zusammenhang zwischen Prosodie und Textverstehen auch dann bestehen bleibt, wenn die Deko-dierleistung konstant gehalten wird. In einer Studie zum Zusammenhang zwischen Leseflüssigkeit und Leseverstehen haben Linnemann et al. (in Vorb.) alle drei Dimensionen der Leseflüssigkeit sowie das

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Leseverstehen erhoben. Sie zeigten einen seriellen Effekt der Lesegeschwindigkeit auf das prosodi-sche Lesen und einen gleichartigen Effekt der Prosodie auf das Leseverstehen. Eine adäquate Lesege-schwindigkeit zeigte sich hier als Voraussetzung für prosodisches Lesen, das wiederum einen starken Einfluss auf das Leseverstehen hatte. Paige et al. (2017) fanden Zusammenhänge zwischen dem Lese-verstehen auf der einen und Akkuratheit und prosodischen Aspekten auf der anderen Seite, nicht je-doch mit der Lesegeschwindigkeit. Neben Zusammenhängen zwischen Akkuratheit und Automatisierung mit dem Textverstehen zeigt sich in der Gesamtschau der Studien, dass sich auch wiederholt Zusammenhänge der prosodischen As-pekte mit dem Textverstehen nachweisen lassen, teilweise sogar stärkere als mit den ersten beiden Di-mensionen der Leseflüssigkeit. Insgesamt ist es jedoch ein Desiderat, wie stark diese Zusammenhänge sind und wie ihre Wirkmechanismen aussehen. Eine verstärkte Berücksichtigung des prosodischen Le-sens in der Forschung ist daher unbedingt notwendig.

2.5 Fragestellungen

Leseflüssigkeit wurde als dreidimensionales Konstrukt modelliert: Akkuratheit, Automatisierung und prosodisches Lesen. Alle drei Aspekte sind Bestandteile einer auf das Verstehen altersgemäßer Texte ausgerichteten Lesekompetenz, und somit von diagnostischer und didaktischer Relevanz. Sowohl in didaktischen als auch in diagnostischen Kontexten sind Kenntnisse zur Entwicklung be-deutsam, um in Unterricht und Förderung angemessen reagieren zu können. Insbesondere die Ent-wicklung des prosodischen Lesens ist, auch im Hinblick auf eine individuell zunehmende Fähigkeit, komplexere Texte zu verstehen, bislang ein Desiderat. Es stellt sich somit die übergeordnete Frage:

(1) Wie entwickelt sich die Leseflüssigkeit, insbesondere das prosodische Lesen, im Längsschnitt?

Einige Studien zeigen den Zusammenhang der Leseflüssigkeit mit dem Leseverstehen bzw. die prog-nostische Kraft der Leseflüssigkeit für das Leseverstehen in späteren Schuljahren auf. Weitgehend un-klar ist jedoch nach wie vor, wie sich dieser Zusammenhang im Längsschnitt darstellt. Die Fragestel-lung wird daher um die folgende erweitert:

(2) Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Leseflüssigkeit, insbesondere dem prosodischen Le-sen, und dem Textverstehen? Wie entwickeln sich die beiden Fähigkeiten in Bezug zueinander?

Für didaktische und diagnostische Zwecke reicht es nicht aus, die Entwicklung der Leseflüssigkeit al-lein auf Klassen- bzw. Gruppenebene darzustellen, also „mittlere“ Entwicklungsverläufe aufzuzeigen. Wichtiger zur individuellen Förderung ist es, individuelle Verläufe zu betrachten. Aber auch aus wis-senschaftlichen Gründen sind individuelle Verläufe relevant. So geben sie Auskunft über Untergrup-pen und Lernprofile, die wiederum Hypothesen zu Zusammenhängen der betrachteten Variablen zu-lassen. Komplettiert wird die Studie daher durch die Untersuchung von Lernbiografien:

(3) Gibt es verschiedene Lernbiografien hinsichtlich des prosodischen Lesens?

3 Studie 3.1 Design und Methode

Zur Beantwortung der Fragestellungen müssen Lesedaten von Schülerinnen und Schülern herangezo-gen werden. Hierzu zählen zum einen (Vor-)Lesedaten in Form von Audio-Daten, zum anderen Lese-kompetenzdaten als Testdaten. Da die Fragestellungen auch Entwicklungsaspekte miteinbeziehen, müssen verschiedene Zeitpunkte bzw. Entwicklungsstände berücksichtigt werden. Dies kann im Quer-schnitt geschehen, ein aufschlussreicheres Vorgehen ist allerdings ein echter Längsschnitt, der in die-ser Studie zur Anwendung kommt. Hierzu liegt mit dem LAUDIO-Korpus ein umfangreiches Längs-schnitt-Audiokorpus vor, von dem hier ein Teilkorpus untersucht wird. Um die ausgewerteten Daten in einen größeren Rahmen zu setzen, wird zunächst das gesamte Korpus beschrieben. Die Analyse der Leseflüssigkeitsdaten erfolgt u. a. mit Hilfe von Rating-Prozeduren. Re-levant ist hier, dass nicht nur Globalskalen (wie die NAEP-Skala) eingesetzt wurden, sondern auch

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analytisch Einzelstellen beurteilt wurden. Die Auswertungen der Leseflüssigkeitsverläufe umfassen sowohl Mittelwerte als auch einzelfallorientierte Exploration.

3.2 Das LAUDIO-Korpus

Die Bezeichnung LAUDIO steht für „Longitudinal AUDIO“. Gemeint sind damit insgesamt knapp 1000 Audioaufnahmen laut lesender Schülerinnen und Schüler, die in regelmäßigen Abständen von Ende 2014 bis Anfang 2018 entstanden sind. Ausgangspunkt war die Kooperation einer vierzügigen inklusiven Grundschule im ländlichen Raum von Rheinland-Pfalz. Begonnen wurde mit zwei dritten und zwei vierten Klassenverbänden gegen Ende des ersten Schulhalbjahrs 2014/2015. Die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler lasen in ca. 15-minütigen Einzelsitzungen meist drei verschiedene Texte i. d. R. zweimal hintereinander („prima vista“ und „secunda vista“). Außerdem absolvierten sie die Paper-and-Pencil-Lesekompetenztests „Ein Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler“ ELFE (Lenhard & Schneider, 2006) und „Salzburger Lesescreening“ SLS (Wimmer & Mayringer, 2014) und es wurden Einschätzungen der Lehrkräfte zu sprachlichen Kompetenzen abgefragt (s. Punkt 3.2.2). Zudem wurden Hintergrundvariablen wie Alter, Geschlecht, Sozialkompetenz, Erst- bzw. Zweitsprache und sozioökonomischer Status erhoben. In den darauffolgenden drei Jahren wurden die Schülerinnen und Schüler einmal pro Jahr erneut auf-genommen und den schriftlichen Tests unterzogen. Dabei kamen teils dieselben Ankertexte, teils neue, hinsichtlich Genre, Länge und Komplexität variierende Texte zum Einsatz. Zum letzten Erhebungs-zeitpunkt 2018 befanden sich die betreffenden Schülerinnen und Schüler in den Jahrgangsstufen 6 und 7 dreier weiterführender Schulen (zweimal Realschule Plus, einmal Gymnasium). Auf diesem Weg sind in insgesamt 162 Einzelsitzungen 960 Audioaufnahmen hoher bis höchster Sig-nalqualität zusammengekommen (s. Abbildung 1). Sie können nun dazu herangezogen werden, über Mittelwertreihen allgemeine Tendenzen in der Entwicklung der Leseflüssigkeit sichtbar zu machen, aber auch dazu, individuelle Lernbiographien von Jgst. 3 bis 6 bzw. Jgst. 4 bis 7 abzubilden.

3.2.1 Textauswahl

Die Textauswahl war darauf ausgerichtet, eine möglichst große Bandbreite von Textmerkmalen zu re-präsentieren. Außerdem sollten die Texte bestimmte, u.a. auch ästhetisch relevante prosodische Her-ausforderungen enthalten. Tabelle 1 zeigt einen Überblick über diejenigen Texte, die am regelmäßigs-ten und häufigsten aufgenommen wurden. Die Texte mit den Bezeichnungen SCHNEE und DOL sind als Ankertexte bei fast allen Sitzungen zum Einsatz gekommen. Aufgrund des langen zeitlichen Ab-stands zwischen den Erhebungszeitpunkten konnten sich die Schülerinnen und Schüler auf Nachfrage meist nicht oder kaum mehr daran erinnern, vorher gelesene Texte schon einmal gelesen zu haben.

Tabelle 1: Zentrale Texte des LAUDIO-Korpus und Basisangaben

Kürzel ganzer Titel Genre Wörter Aufnahmen

SCHNEE Der Hase und der Schneemann Fabel (Dialog) 205 296

DOL Dolmetscher Lexikoneintrag 49 275

BRILL Die Brillenschlange Gedicht 126 134

KEA Ein Klettergerüst für den Kea Zeitungsartikel 352 72

NORA Noras Abenteuer Kurzgeschichte 690 68

BUCH Buchstabenfest Erstlesegeschichte 41 36

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3.2.2 Gesamtstichprobe

Bei den anfänglich herangezogenen vier Klassenverbänden handelt es sich um eine Klumpenstich-probe (Bortz, 2010) mit vier Klumpen bezogen auf die Population der deutschen Dritt- und Viertkläss-lerinnen und -klässler. Ausgangspunkt waren zwei dritte und zwei vierte Klassenverbände mit insge-samt 73 Schülerinnen und Schülern, die als zwei Kohorten begleitet wurden: Schülerinnen und Schü-ler der Eingangsklasse 3 wurden bis zur 6. Klasse begleitet (Kohorte 3-6), Schülerinnen und Schüler der Eingangsklasse 4 bis zur 7. Klasse (Kohorte 4-7).

Abbildung 1: Stichprobe des gesamten LAUDIO-Korpus und die hier untersuchte DOL-Teilstichprobe

Anmerkungen: Die Spalten repräsentieren Jahrgangsstufen, die Zeilen repräsentieren die 61 SuS, die zum ersten Messzeitpunkt 2014/2015 aufgenommen wurden. Die versetzten Blöcke im Idealplan (a) repräsentieren die bei-den Kohorten, die aus je zwei Klassenverbänden bestehen, und zeigen, wie die Erhebung ohne Ausfälle abgelau-fen wäre. Abbildung (b) zeigt, welche Sitzungen ausgefallen sind. Die DOL-Stichprobe (c) umfasst solche SuS, die den Text „Dolmetscher“ (mindestens) zum Startzeitpunkt 2014/15 und zum Endzeitpunkt 2018 gelesen ha-ben.

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Insgesamt wurden vier Erhebungswellen, 2014/15, 2016, 2017 und 2018 durchgeführt. Zum ersten Er-hebungszeitpunkt waren nicht alle Schülerinnen und Schüler anwesend, so dass insgesamt 61 Schüle-rinnen und Schüler in das LAUDIO-Korpus aufgenommen werden konnten. In den nachfolgenden Jahren waren zusätzliche Ausfälle zu verzeichnen (Neuverteilungen von Klassenverbänden wegen Ausfall der Klassenlehrerin und Übergang zu unzugänglichen weiterführenden Schulen). Letzteres führte z. B. zum vorläufigen Ausfall der gesamten Kohorte 4-7 in 2016 (s. Abbildung 1b). Insgesamt kamen 33% der 244 Sitzungen des Idealverlaufs (s. Abbildung 1a) nicht zustande. Von den 61 Schüle-rinnen und Schülern wurden 11 nur zum ersten Zeitpunkt aufgenommen, 8 wurden zu zwei Zeitpunk-ten aufgenommen, 33 zu drei Zeitpunkten und nur 9 zu allen vier Zeitpunkten. Somit liegen Längs-schnitt-Audiodaten von 50 Probandinnen und Probanden vor. Der Mittelwert beim Alter der Dritt-klässlerinnen und Drittklässler zur Beginn der Erhebung beträgt M = 9,0 (SD = 0,6); der Mittelwert der Viertklässerinnen und Viertklässler beträgt M = 10,0 (SD = 0,43). Zur ersten Erhebung im November 2014 wurden acht Teilkompetenzen des Deutschunterrichts durch Lehrkräfte auf einer Skala von sehr gut bis ungenügend eingeschätzt: Leseflüssigkeit, Leseverstehen, Schreibkompetenz Texte, Rechtschreibung, Gesprächskompetenz, Zuhörkompetenz, Sprachreflexions-kompetenz, Wortschatz (vgl. KMK, 2004).

3.2.3 Audiodaten

Zu jedem der jährlichen Erhebungszeitpunkte fanden – meist von Januar bis März – ca. vier Aufnah-metage in einem zum Studio umgebauten Raum in den Schulen statt. Eine Sitzung verlief nach folgen-dem Muster: Nach der Begrüßung wurde dem Kind ein Headset-Mikrophon aufgesetzt, es wurde ein kurzes Einstiegsgespräch geführt, bevor der erste Text, meist der Dolmetscher-Text, zum sofortigen lauten Lesen aufgedeckt wurde. Bei dem eingesetzten Mikrophon handelte es sich um ein umgebautes Freisprechanlagen-Kondensa-tormikrophon mit Nierencharakteristik vom Typ Sennheiser ME 3-ew, das mit einem digitalen Auf-nahmegerät vom Typ Olympus LS-11 verbunden war. Außerdem nahm zur Sicherheit noch ein zweites LS-11-Aufnahmegerät mit eingebauten Mikrofonen auf. Das Format der Audiodateien ist überall Mono, 44.1-kHz, WAV 16-bit. Die Qualität der Aufnahmen ist jedoch unterschiedlich hoch. Proble-matisch bei den Aufnahmen mit eingebautem Mikrophon ist oft die Lärmbelastung, problematisch bei manchen Headset-Aufnahmen ist Übersteuerung, vor allem bei Frikativen. Der größere Teil der Headset-Aufnahmen ist jedoch so hochwertig, dass von Studioqualität gesprochen werden kann. Dies wird dann besonders wichtig, wenn Ratingprozeduren oder automatisierte phonetische Analysen durchgeführt werden sollen. Aus diesem Grund sind für das LAUDIO-Korpus fast durchgängig die Headset-Aufnahmen ausgewählt worden.

3.3 Teilstichprobe der vorliegenden Untersuchung

Zur hier vorgestellten Untersuchung der Fragestellungen wurden nur Aufnahmen des Dolmetscher-Textes herangezogen. Die für diese Studie genutzte Teilstichprobe berücksichtigt nur solche Kinder, von denen Aufnahmen zu genügend vielen Zeitpunkten vorliegen, um Entwicklungstendenzen und Zusammenhängen mit dem Textverstehen aufzeigen zu können. Die Teilstichprobe kommt durch eine doppelte Reduktion zustande. Zum einen wurden nur Aufnah-men von denjenigen Kindern herangezogen, die den Dolmetscher-Text mindestens zum Startzeitpunkt 2014/15 und zum Endzeitpunkt 2018 gelesen haben. Zum anderen wurden von diesen Kindern nur die vorliegenden Prima-vista-Aufnahmen untersucht, da in manchen Sitzungen keine Secunda-vista-Auf-nahmen gemacht wurden. Die Teilmenge zur Ermittlung von Entwicklungsverläufen und Zusammen-hängen mit dem Textverstehen umfasst 99 Aufnahmen von 31 Kindern. Diese Kinder werden im Fol-genden als DOL-Stichprobe bezeichnet (s. Abbildung 1c). Idealerweise sollten von der DOL-Stichprobe bei vier Messzeitpunkten 124 Aufnahmen vorliegen. Die Differenz entspricht einem Ausfall von 20%. Fehlende Messwerte wurden in bestimmten Fällen durch den Mittelwert der flankierenden Werte geschätzt.

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Die DOL-Stichprobe umfasst 52% Jungen und unterscheidet sich damit nicht substanziell vom bun-desweiten Mittel von 51% (Statistisches Bundesamt, 2018). Vier Kinder der DOL-Stichprobe hatten einen mehrsprachigen Hintergrund, unterschieden sich in Ihrer Ausprache aber nicht von ihren ein-sprachigen Peers. Da sich diese Stichprobe unter nicht vollständig kontrollierten Umständen ergeben hat, wurden die ELFE-Testdaten mit der Normierungsstichprobe des ELFE verglichen, um Aussagen darüber zu tref-fen, ob die Stichprobe hinsichtlich der Lesekompetenz vergleichbar mit der Verteilung der bundeswei-ten Testwerte ist. Der Vergleich zeigte, dass die DOL-Stichprobe keine nennenswerten Abweichungen aufweist, außer dass die Streuung bei den Drittklässlern beim Wort-, Satz- und Textverstehen überall leicht höher, bei den Viertklässlern hingegen leicht niedriger ausfällt als bei den Normierungen. Insge-samt spricht nichts gegen die Annahme, dass die Ausprägungen der verschiedenen Aspekte von Lese-kompetenz innerhalb der DOL-Stichprobe ähnlich verteilt sind wie in der Normierungsstichprobe.

3.4 Material

Zunächst wird der in dieser Studie genutzte Text vorgestellt, bevor die zur Messung der Leseflüssig-keit eingesetzten holistischen und analytischen Rating-Items zu diesem Text sowie das Instrument zur Erhebung des Leseverstehens näher beschrieben werden.

3.4.1 Dolmetscher-Text

Der als Lesestimulus eingesetzte Text stammt aus einem Schülerlexikon. Es handelt sich um den Ein-trag zum Begriff „Dolmetscher“:

Dolmetscher sind Übersetzer von einer Sprache in die andere. Während aber ein Übersetzer Texte nur schriftlich übersetzt, muss der Dolmetscher auch in mündlichen Verhandlungen übersetzen kön-nen. Ein Simultan-Dolmetscher übersetzt sogar laufend, während weitergesprochen wird. Das selt-same Wort ist aus der osmanisch-türkischen Sprache abgeleitet. Der tilmac war dort ein Vermittler. (aus „Schülerlexikon von A - Z“, Beuschel-Menze et al. 2009, S. 64, Herv. i. Orig.)

Der Text weist eine hohe Informationsdichte auf. Im ersten Satz wird der Übersetzer-Begriff als genus proximum vorgestellt; im zweiten Satz wird der Gegensatz Schriftlichkeit-Mündlichkeit als differentia specifica eingeführt; im dritten Satz wird mit dem komplexen und seltenen Begriff „Simultan-Dolmet-scher“ noch weiter ausdifferenziert. Im vierten und fünften Satz wird eine etymologische Einordnung vorgenommen, wobei die Lautung des Ursprungsbegriffs „tilmac“ nicht eindeutig geklärt ist. Vor die-sem Hintergrund kann der Text womöglich sogar als zu anspruchsvoll im Vergleich zur Altersangabe „ab 9 Jahren“ (ebd.) gelten. Gerade deshalb jedoch kann der Text als gut geeignet für die Diagnostik von Lesekompetenzen über einen längeren Zeitraum gelten. Im Grundschulalter ermöglicht er eine Feindifferenzierung von Leistungsaspekten auch im oberen Leistungssegment und auch in der Sekun-darstufe I kann er als altersgemäß angesehen werden. Ein weiterer Vorteil des Dolmetscher-Textes ist, dass er mit seinen mehrfachen Differentia-specifica-Erläuterungen einige bemerkenswerte prosodische Herausforderungen enthält. Drei davon gehören zu den Gegenständen der nachfolgend beschriebenen Ratingprozedur. Sie beziehen sich auf eine beson-dere Fokussierung bestimmter Elemente, wodurch ein Abweichen von einer unmarkierten Leseproso-die angeregt wird. Die prosodische Berücksichtigung solcher Elemente ist als besonders anspruchsvol-ler Aspekt von prosodischem Lesen bzw. als Indikator für komplexe Aspekte von Textverstehen anzu-sehen: „By highlighting key information, good prosody in the reading of linguistic focus features can signal the ongoing construction of a discourse structure during fluent reading“ (Schwanenflugel, West-moreland & Benjamin, 2013, S. 7). So wird im ersten Satz mit der Formulierung „von einer Sprache in die andere“ eine Gegenüberstel-lung vorgenommen, die prosodisch markiert werden kann, indem der unbestimmte Artikel hervorge-hoben wird. Dies geschieht durch Akzentuierung der ersten Silbe, ggf. im Zusammenspiel mit einer

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postfokalen Deakzentuierung der ersten Silbe des zugehörigen Nomens (vgl. Wagner, 1999). Im zwei-ten Satz werden schriftliches und mündliches Übersetzen einander gegenübergestellt. Wieder kann dem prosodisch Rechnung getragen werden, indem „schriftlich“ auf der ersten Silbe akzentuiert wird, ggf. im Zusammenspiel mit einer Deakzentuierung der letzten Silbe von „übersetzt“. Im dritten Satz wird die besondere Anstrengung des Übersetzens in Echtzeit hervorgehoben. Berücksichtigt werden kann dies, indem das Wort „weitergesprochen“ auf der ersten statt auf der vorletzten Silbe akzentuiert wird.

3.4.2 Items und Skalen

Zur Erhebung des Leseverstehens und der drei Dimensionen von Leseflüssigkeit wurden verschiedene Instrumente und Items eingesetzt, die z. T. aus dem Text „Dolmetscher“ abgeleitet wurden. Sie wer-den im Folgenden zusammen mit Angaben zur Reliabilität vorgestellt.

Akkuratheit und Automatisierung. Akkuratheit und Automatisierung wurden analog zu der unter Punkt 2.3 genannten Methode erhoben. Die Akkuratheit wurde mit Hilfe zweier studentischer Assistenzen analysiert. Die Übereinstimmung betrug ICC=.95 (hier und im Folgenden: Parameter: twoway, consis-tency, single unit) und war damit überaus hoch. Damit ist auch die Reliabilität der Automatisierung sehr hoch, da sie sich aus dem Akkuratheitswert ergibt. Zusammengefasst liegen also zu jeder Aufnahme folgende Daten bzgl. der Akkuratheit und Automati-sierung vor: Anzahl der korrekt gelesenen Wörter, korrekt gelesene Wörter pro Minute (WCPM) und zusätzlich die Gesamtlesedauer.

Prosodisches Lesen. Das prosodische Lesen wurde mit drei Items im Rahmen einer Ratingprozedur gemessen, zum einen mit einer „klassischen“ Globalskala, zum anderen mit zwei neu erstellten Items: einer analytischen Ratingskala und einer weiteren vierfach abgestuften Skala. Die Prosodie wurde zunächst holistisch erhoben. Die Leseaufnahmen wurden dazu auf der vierstufi-gen NAEP-Skala eingeordnet, die Rosebrock et al. (2016, S. 86) für das Deutsche übersetzt haben. Die Antwortmöglichkeiten entsprechen folgenden Levelbeschreibungen in Abbildung 2:

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Abbildung 2: deutsche Übersetzung der NAEP-Skala

Dieses und auch die folgenden beiden Ratings wurde von 51 Raterinnen und Ratern durchgeführt. Hierbei handelte es sich um Lehramtsstudierende aus Seminaren mit Bezug zum Lesekompetenzer-werb. Jede Raterin bzw. jeder Rater bewertete jeweils 14 oder 15 Leseaufnahmen1, jede Leseaufnahme wurde so dreifach geratet. Daraus wurde der Mittelwert gebildet. Die Inter-Rater-Reliabilität der NAEP-Skala betrug ICC=.80 und ist damit sehr hoch. Da mit dieser Skala prosodisches Lesen nur sehr global gemessen werden kann, wurden für eine de-tailliertere Analyse einzelner prosodischer Aspekte weitere Items entwickelt. Um Aufschluss zum Umgang mit den prosodischen Herausforderungen im Zusammenhang mit den drei Kontexten zu erhalten, die unter Punkt 6.4.1 beschriebenen sind, wurde analog dem von Sappok und Fay (2018) vorgeschlagenen Vorgehen ein spezielles Verfahren erprobt: Zu jedem der Kontexte wurden die Rater instruiert, Angaben zur Betontheit von zwei bestimmten Silben zu machen. Hieraus wurden in einem anschließenden Auswertungsschritt die Akzentuierungs- bzw. Deakzentuierungsver-hältnisse innerhalb des betreffenden Kontextes zusammenfassend ermittelt. Diese Herangehensweise soll hier durch einen Ausschnitt aus der Kodierungsanleitung, die den Raterinnen und Ratern vorlag, illustriert werden (s. Abbildung 3).

Abbildung 3: Ratingfrage zur Ermittlung von Akzentuierungsverhältnissen.

1 Hierzu wurden alle „Prima-“ und „Secunda-vista“-DOL-Aufnahmen des LAUDIO-Korpus einbezogen (247 Aufnahmen von 55 Kindern), nicht nur die der beschriebenen Stichprobe. Die Reliabilitätsprüfung konnte so auf einer breiteren Datenbasis erfolgen (weitere Einzelheiten zur Ratingprozedur s. Sappok in Vorb.).

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Hinter der aufgeführten Doppelfrage steht die Annahme, dass die angemessenste Variante in einer Ak-zentuierung der Silbe „ei“ und ggf. einer Deakzentuierung der Silbe „Spra“ besteht. Dazu wurden als Schulungsmaßnahme zwei Referenzaufnahmen vorgespielt. In einem eigenen Auswertungsschritt sollte bei den Antwortkombinationen 1 0 und 1 1 ein Punkt vergeben werden, bei den anderen Kom-binationen sollte kein Punkt vergeben werden. Analog wurde im Kontext „Während aber ein Überset-zer Texte nur schriftlich übersetzt…“ die Betontheit der Silben „schriftlich“ und „übersetzt“ abge-fragt. Weiterhin wurde im Kontext „Ein Simultan-Dolmetscher übersetzt sogar laufend, während wei-tergesprochen wird.“ abgefragt, ob im Wort „weitergesprochen“ die Silben „wei“ und „sproch“ betont werden. Die in den drei Kontexten erzielten Punkte wurden zu einem analytischen Prosodiescore ad-diert. Somit ergab sich ein Prosodiescore auf einer Skala von 0 bis 3, zu dem ein Zähler von 1 hinzu-addiert wurde, um dieselbe Skalierung von 1 bis 4 zu erhalten, die der NAEP-Skala zugrunde liegt. Auch die analytischen Items wurden hinsichtlich ihrer Reliabilität überprüft. Es stellte sich, trotz vor-heriger Raterschulung, eine nicht zufriedenstellende Raterübereinstimmung heraus. Um dennoch Er-gebnisse zu erhalten, wurde ein eigenes Expertenrating durchgeführt. Es bestand darin, dass die drei Autorinnen und Autoren des vorliegenden Beitrags die Aufnahmen angehört und ihre Höreindrücke bzgl. der drei analytischen Prosodie-Items bei Abweichung diskutiert haben, bis Einigkeit erzielt wurde. Zur Messung der Prosodie wurde im Rahmen der Ratingprozedur zusätzlich ein weiterer prosodischer Aspekt durch eine vierfach abgestufte Likert-Skala erhoben, mit der Fragestellung „Spaß: Wie gut hat dem Kind die‚Vorlesearbeit‘ gefallen?“ (im Folgenden „Spaß“-Item genannt). In einer Vorstudie im Rahmen eines Seminars hat sich mit Audioaufnahmen anderer Texte gezeigt, dass auf diese Weise eine Art „Motivationsprosodie“ reliabel erfasst werden kann, denn ausgehend von den in Prieto und Esteve-Gibert (2018) genannten Funktionen werden auch Affekte, zumindest in der mündlichen Kom-munikation, durch Prosodie dargestellt und müssten somit prinzipiell von Hörerinnen und Hörern (Ra-terinnen und Ratern) wahrgenommen werden. Die Inter-Rater-Reliabilität des Items „Spaß“ betrug ICC=.60 und wurde für weitere Analysen als ausreichend hoch eingestuft. Für das prosodische Lesen liegen somit für jede Aufnahme je ein globaler Prosodiewert aus der NAEP-Skala und der „Spaß“-Skala sowie ein Prosodiescore aus dem analytischen Expertenrating vor. Leseverstehen. Das Textverstehen wurde mit Hilfe des entsprechenden Untertests des Lesetests ELFE (Lenhard & Schneider, 2006) erhoben. Der Test ist als Speed-Test angelegt, für die 1 bis 4. Klasse ist eine längere Bearbeitungszeit vorgesehen als für die 5. und 6. Klasse. Die Rohwerte sind daher zu-nächst nicht vergleichbar. Die Möglichkeit, für die Durchführung in der 5. und 6. Klasse die gleiche Bearbeitungszeit zu nutzen, wurde wegen möglicher Deckeneffekte ausgeschlossen. Die Werte für die 5. und 6. Klasse wurden korrigiert, indem sie auf die gleiche (längere) Bearbeitungszeit für die 1. bis 4. Klasse umgerechnet wurden. Für die Jahrgangsstufe 7 wurde keine ELFE-Erhebung mehr durchge-führt, da der Test nur bis Jahrgangstufe 6 ausgelegt ist. Die Ergebnisse des SLS (Wimmer & Mayrin-ger 2014) wurden in dieser Studie nicht genutzt. Cronbach’s alpha des Untertests Textverstehen des ELFE liegt laut Handbuch bei α = .92 (Lenhard & Schneider, 2006).

4 Ergebnisse In dieser Untersuchung wurden drei Fragestellungen formuliert: (1) Wie entwickelt sich die Leseflüs-sigkeit, insbesondere das prosodische Lesen, im Längsschnitt? (2) Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Leseflüssigkeit, insbesondere dem prosodischen Lesen, und dem Textverstehen? Wie entwickeln sich die beiden Fähigkeiten in Bezug zueinander? (3) Gibt es verschiedene Lernbiografien hinsichtlich des prosodischen Lesens? Die Fragen werden in den folgenden Unterkapiteln aufgegrif-fen.

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4.1 Entwicklung

Das LAUDIO-Korpus, und hier insbesondere der Ausschnitt der DOL-Aufnahmen, bietet die Mög-lichkeit, Entwicklungsverläufe vom 3. bis zum 7. Schuljahr mittels zweier Kohorten darzustellen. Es werden Entwicklungen der Akkuratheit und Automatisierung sowie des prosodischen Lesens berich-tet.

4.1.1 Akkuratheit und Automatisierung

Tabelle 2 zeigt die deskriptiven Ergebnisse der Skalen Akkuratheit und Automatisierung. Alle Kohor-ten liegen bezüglich der Akkuratheit ab der 4. Klasse auf hohem Niveau. Für die Automatsierung zeigt sich in beiden Kohorten ein stetiger Anstieg von ca. 43 bis hin zu fast 104 Wörtern pro Minute. Der Verlauf zeigt deutlich, dass auch bis (mindestens) zur 7. Klasse noch ein Geschwindigkeitszuwachs erfolgt, der anscheinend nicht auf Kosten der akkuraten Dekodierung geht, da bei der Automatisierung nur die richtig gelesenen Wörter gezählt werden. Abbildung 4 zeigt den Verlauf für die Skalen Akku-ratheit und Automatisierung. Tabelle 2: Akkuratheit und Automatisierung (WCPM)

Jgst. 3 Jgst. 4 Jgst. 5 Jgst. 6 Jgst. 7

n M (SD) n M (SD) n M (SD) n M (SD) n M (SD)

Akkuratheit

(Prozent korrekt gele-

sener Wörter)

Kohorte 3-6 12 84,7 (11,7) 10 92,3 (6,7) 10 93,8

(6,8)

13 94,6

(6,0)

Kohorte 4-7 18 91,2 (5,1) 17 94,5

(4,0)

18 96,9 (2,8)

gesamt - - 28 91,6 (5,6) 30 94,5

(4,9)

Automatisierung

(WCPM)

Kohorte 3-6 12 42,5 (19,7) 10 64,4

(26,8)

10 75,5

(27,7)

13 87,2

(28,7)

- -

Kohorte 4-7 - - 18 59,2

(12,9)

- - 17 84,8

(16,3)

18 103,7

(16,4)

gesamt - - 28 61,1

(18,8)

- - 30 85,8

(22,1)

- -

Abbildung 4: Entwicklung der Akkuratheit und Automatisierung im Längsschnitt

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4.1.2 Prosodisches Lesen

Die deskriptiven Werte für beide holistische Ratings und für das analytische Rating zum prosodischen Lesen werden in Tabelle 3 dargestellt. Insgesamt kann über die beiden Kohorten hinweg bzgl. der NAEP-Skala ein Anstieg von 1,9 auf 3,7 (Differenz Δ 2,8) verzeichnet werden. Bei den analytischen Ratings liegt der Wert etwas niedriger, der Anstieg beläuft sich auf Δ 0,9 von der Jgst. 3 bis 7. Keine Veränderung über die Jahre zeigt sich beim Item „Spaß“ (s. Tabelle 3). Dies gilt auch für die individu-elle Entwicklung. Der Median der 31 intraindividuellen Standardabweichungen liegt bei lediglich 0,32. Dies deutet auf ein stabiles Merkmal hin, für das bei jeder Schülerin bzw. jedem Schüler der Mittelwert als Ausprägung angesehen werden kann. Die Standardabweichung der 31 Mittelwerte von 0,62 weist auf ein inter-individuell merklich größeres Spektrum hin. Dieser Befund soll später noch einmal aufgegriffen werden. Tabelle 3: Prosodisches Lesen in Abhängigkeit von der Jahrgangsstufe

Jgst. 3 Jgst. 4 Jgst. 5 Jgst. 6 Jgst. 7

n M (SD) n M (SD) n M (SD) n M (SD) n M (SD)

holistisches Rating

auf vierstufiger NAEP-Skala

Kohorte 3-6 13 1,9 (1,0) 10 2,7 (1,1) 10 3,0 (1,1) 13 2,9 (1,0) - -

Kohorte 4-7 - - 18 2,9 (0,8) - - 17 3,6 (0,4) 18 3,7 (0,3)

gesamt - - 28 2,8 (0,9) - - 30 3,3 (0,8) - -

analytisches Expertenrating

aufaddiert zu vierstufiger Skala

Kohorte 3-6 13 1,5 (0,8) 10 2,4 (1,0) 10 2,3 (0,8) 13 2,7 (0,8) - -

Kohorte 4-7 - - 18 1,4 (0,6) - - 17 2,5 (0,9) 18 2,4 (0,9)

gesamt - - 28 1,8 (0,9) - - 30 2,6 (0,9) - -

Spaß beim Vorlesen –

holistisches Rating

auf vierstufiger Skala

Kohorte 3-6 13 2,2 (0,8) 10 2,5 (0,8) 10 2,4 (0,9) 13 2,3 (0,7) - -

Kohorte 4-7 - - 18 2,8 (0,6) - - 17 2,8 (0,7) 18 2,8 (0,7)

gesamt - - 28 2,7 (0,7) - - 30 2,6 (0,7) - -

Abbildung 5a zeigt insgesamt einen zumeist stetigen Anstieg des prosodischen Lesens gemessen mit der NAEP-Skala von der 3 bis zur 5. Klasse, der in der Kohorte 3-6 ab der 5. Klasse zum Erliegen kommt. In der Kohorte 4-7 zeigt sich jedoch ein Anstieg noch bis zur 7. Schulklasse. Hinsichtlich des analytischen Ratings durch Experten (s. Abbildung 5b) zeigt sich eine nur leichte Steigerung, in der Kohorte 3-6 sogar mit einem Abwärtsknick in der 5. Klasse. Die nur leichte Steigerung kann möglich-erweise einer fehlenden Reliabilität geschuldet sein. Schlecht ins Gesamtbild passt auch die bedeutend geringere Ausprägung bei Kohorte 4-7 in Jgst. 4, da diese Kohorte zu diesem Zeitpunkt in jeder ande-ren Hinsicht tendenziell stärker dasteht. Abbildung 5c zeigt, dass die Kohorte 4-7 bei dem Item „Spaß“ marginal über der Kohorte 3-6 liegt.

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Abbildung 5: Entwicklung des prosodischen Lesens im Längsschnitt. Links oben a) holistisches Rating, rechts oben b) analytisches Rating, unten links c) Spaß beim Vorlesen. 

4.2 Leseflüssigkeit und Textverstehen

Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Leseflüssigkeit, insbesondere dem prosodischen Lesen, und dem Textverstehen? Wie entwickeln sich die beiden Fähigkeiten in Bezug zueinander? Die theoretischen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass prosodische Anteile nicht unerheblich zum Textverstehen beitragen. Tabelle 4 zeigt die deskriptiven Ergebnisse für das Textverstehen in die-ser Studie. In beiden Kohorten zeigt sich ein mittlerer Anstieg.

Tabelle 4: Untertest Textverstehen (ELFE) Jgst. 3 Jgst. 4 Jgst. 5 Jgst. 6 Jgst. 7

n M (SD) n M (SD) n M (SD) n M (SD) n M (SD)

Kohorte 3-6 13 10,2 (4,7) 10 12,5 (5,1) 10 16,6 (4,2) 13 18,5 (4,4) - -

Kohorte 4-7 - - 17 13,2 (3,2) - - 17 18,6 (3,29) - -

gesamt - - 27 13,0 (3,9) - - 30 18,6 (3,7) - - Anmerkungen: Die Rohwerte wurden bzgl. altersbedingt unterschiedlicher Bearbeitungszeiten angepasst.

Abbildung 6 stellt die Steigerung des Textverstehens graphisch dar. Der Anstieg ist weitgehend stetig. Ein Vergleich mit der Steigerung der Automatisierung zeigt eine weitgehende Übereinstimmung: Beide Fertigkeiten entwickeln sich analog. Betrachtet man Tabelle 5, zeigen sich mittlere (und signifi-kante) Korrelationen mit dem Textverstehen. Substanzielle Unterschiede zwischen den Klassenstufen

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lassen sich hier nicht erkennen, Automatisierung ist also sowohl in der 4. als auch in der 6. Klasse ein wichtiger Bestandteil des Textverstehens. Eine nur akkurate Dekodierleistung reicht nicht aus: Die Zu-sammenhänge mit dem Textverstehen fallen allesamt gering aus. Vergleicht man die Verläufe des Textverstehens mit den Skalen des prosodischen Lesens, fällt auf, dass die Skalen des prosodischen Lesens, anders als die des Textverstehens, in den oberen Jahrgängen etwas abflachen (s. Abbildung 5a und 5b). Das zeigt, dass ab der 5./6. Klasse die Zusammenhänge ab-nehmen. Dies zeigen auch die Korrelationen zwischen den Items und den Testdaten des ELFE für die 4. und 6. Klasse2. Sie liegen sowohl in der 4. als auch in der 6. Jahrgangstufe im mittleren Bereich (s. Tabelle 5). Auch hier erkennt man, dass die Zusammenhänge zur 6. Klasse hin leicht abnehmen. Auch beim Einbezug aller Variablen der Leseflüssigkeit zeigt sich eine Abnahme des Zusammenhangs zwischen Textverstehen und der Leseflüssigkeit. In der 4. Klasse beträgt die multiple Korrelation zwi-schen den Variablen der Leseflüssigkeit und dem Textverstehen R = .66, d.h. etwa 43% der Varianz des Textverstehens werden durch die Varianz in den Variablen der Leseflüssigkeit erklärt. In der 6. Klasse sind dies nur noch 30% (R = .55). Das Item „Spaß“ korreliert kaum mit dem Textverstehen, es scheint in dieser Hinsicht eine eigenständige Komponente von Prosodie zu sein.

Abbildung 6: Entwicklung des Textverstehens im Längsschnitt

Tabelle 5: Korrelationen zwischen Skalen der Leseflüssigkeit und des Textverstehens in der 4. und 6. Klasse

Jahrgang (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11)

ELFE Textverstehen (1)

4

-

Akkuratheit (2) .16

Automatisierung WCPM (3) .46 .52

NAEP-Skala (4) .61 .45 .73

analytisches Item Prosodie (5) .29 .47 .40 .36

Spaß-Item (6) .23 .35 .57 .61 .19

ELFE Textverstehen (7)

6

.56 .42 .34 .46 .26 .10

Akkuratheit (8) .27 .54 .56 .54 .37 .54 .31

Automatisierung WCPM (9) .43 .45 .75 .72 .55 .40 .47 .63

NAEP-Skala (10) .57 .39 .66 .75 .12 .67 .35 .58 .59

analytisches Item Prosodie (11) .19 .10 .11 -.04 .37 .02 .36 .27 .30 -.05

Spaß-Item (12) .30 .19 .34 .41 -.18 .49 .10 .41 .37 .56 -.07

Anmerkung: fett = signifikant auf dem .05-Niveau

2 Hier wurden nur die 4. und 6. Klasse einbezogen, weil sich nur hier eine ausreichend große Stichprobe gewin-nen ließ, vgl. Tabelle 5.

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Betrachtet man die Zusammenhänge zwischen Skalen der 4. Klasse und dem Textverstehen der 6. Klasse prädiktiv, zeigen sich mittlere und signifikante Korrelationen mit der Akkuratheit und der NAEP-Skala. Der Zusammenhang mit der Automatisierung ist etwas geringer, wie auch der Zusam-menhang mit dem analytischen Prosodie-Rating und dem Spaß-Item. Bester Prädiktor für die spätere Leistung im Textverstehen ist das Textverstehen der 4. Klasse.

4.3 Lernbiographien

Als innovativster Aspekt der vorliegenden Untersuchung darf gelten, dass mit dem LAUDIO-Korpus erstmals Längsschnitt-Audiodaten vorliegen, die den Übergang in die weiterführende Schule überbrü-cken. Ein wesentlicher Anteil der bisherigen Forschungsarbeit wurde darauf verwendet, 31 individu-elle Lernbiographien visuell zu modellieren und diese induktiv auf Regel- und Unregelmäßigkeiten hin zu untersuchen. Dieser Prozess ist, nicht zuletzt aufgrund der großen Anzahl von Aufnahmen, die für jede Schülerin und jeden Schüler insgesamt vorliegen, noch nicht abgeschlossen. Deshalb können hier nur einige ausgewählte Ergebnisse präsentiert werden.

4.3.1 Biographiegruppen

Eine visuelle, induktive Clusterung der Lernbiografien hinsichtlich aller Leseflüssigkeitsvariablen (Akkuratheit, Automatisierung, NAEP-Skala und das analytische Item zur Prosodie) durch Autorinnen und Autoren des vorliegenden Beitrags führte zu einer Einteilung in drei Gruppen, deren Biographien sich zwischen den Gruppen auffällig klar unterscheiden, innerhalb der Gruppen aber einheitlich sind. Maximal vereinfacht können diese Gruppen als sehr schwaches Quartil, zwei Mittelfeldquartile und ein sehr starkes Quartil hinsichtlich der Variablen der Leseflüssigkeit beschrieben werden. Für alle drei Gruppen gilt, dass die Automatisierung mit den Jahrgangsstufen zunimmt, allerdings zeigt sich ein unterschiedlicher Anstieg dieser Gruppen. Die Gruppe des unteren Quartils beginnt in der dritten Klasse bereits schwach, der Anstieg ist dann geringer als bei den anderen Lernbiographie-gruppen. Das geiche Bild zeigt sich noch extremer bei den Items der NAEP-Skala (s. Abbildung 7) und, weniger extrem bei dem analytischen Prosodieitem. Beim Spaß-Item sind kaum Veränderungen zwischen den Erhebungszeitpunkten zu erkennen, aber das Niveau ist ein anderes. Während die Gruppe des unteren Quartils dauerhaft zwischen 1 und 2 liegt, liegen die Werte der anderen Gruppen um 3.

Gruppe „sehr schwach“

(n = 7)

Gruppe „Mittelfeld“

(n = 17)

Gruppe „sehr stark“

(n = 7)

Abbildung 7: Drei Typen von Biographien im Spiegel von NAEP-Leseflüssigkeit. Anmerkung: Die Gruppe „sehr schwach“ bestand aus sechs Kindern der Kohorte 3-6 und einem Kind der Ko-horte 4-7.

Die gruppenspezifischen Entwicklungsverläufe der NAEP-Leseflüssigkeit lassen sich so interpretie-ren, dass das Mittelfeld in Jgst. 5 dort ankommt, wo die Gruppe „sehr stark“ schon in Jgst. 4 ist, näm-lich ganz oben. Die Gruppe „sehr schwach“ hingegen erreicht NAEP-Level 3 zu keinem Zeitpunkt. Da es sich bei den Gruppen um vergleichsweise kleine Stichproben handelt (jeweils sieben Kinder im un-teren und oberen Quartil), können diese am besten anhand von Prototypen dargestellt werden.

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4.3.2 Prototypische Lernbiographien

Im Folgenden wird für jede der gebildeten Gruppen ein prototypischer Vertreter mit Entwicklungsver-läufen zu den Parametern Automatisierung, NAEP-Skala, analytisches Prosodie-Item, Spaß-Item und Textverstehen vorgestellt3. Schülerin AIG-13. Schülerin AIG-13 (s. Abbildung 8) gehört dem unteren Quartil an, d. h. was man bei AIG-13 sieht, kann vielfach als die Abwesenheit von Entwicklung bezeichnet werden. Dies gilt vor allem für die prosodischen Parameter, die allesamt nahezu unter dem Wert 2 bleiben. Hinsichtlich der Automatisierung zeigt sich zwar eine Steigerung, diese bewegt sich jedoch auf schwachem Ni-veau. Selbst in der 6. Klasse kommt die Schülerin nicht auf 70 richtig gelesene Wörter pro Minute bei einem Mittelwert der Jahrgangsstufe von 87,2. Beim Textverstehen startet die Schülerin zunächst un-auffällig, stagniert aber von der 3. zur 4. Klasse, wird dann zur 5. besser, um zur 6. Klasse erneut auf einem nicht allzu hohen Niveau zu stagnieren. Ihre durch die Lehrkraft in Jgst. 3 eingeschätzte Kom-petenz im Fach Deutsch (Teilkompetenzen des Deutschunterrichts) ist mit 2,6 insgesamt unauffällig, liegt aber weit unter den folgenden Beispielen.

Abbildung 8: Entwicklungsverläufe für Schülerin AIG-13

Die beschriebenen Verhältnisse gelten ganz ähnlich auch für die anderen Vertreter der Gruppe „sehr schwach“. Das alarmierende an dieser Gruppe ist ihre Größenordnung von 20 bis 25 %. Die weiterfüh-rende Forschung sollte ermitteln, ob sich dies an größeren Stichproben bestätigen lässt.

Schüler AIG-19. Der Schüler AIG-19 gehört der mittleren Gruppe an, die sich dadurch auszeichnet, dass das prosodische Lesen nicht allzu stark beginnt, jedoch während der ersten Jahre der Schulzeit kontinuierlich steigt. Abbildung 9 zeigt die Prosodieparameter. In den Werten der NAEP-Skala zeigt sich dieser Verlauf deutlich. Die anderen Prosodiewerte sinken ab der 4. Klasse. Dieser „wackelige“ Verlauf ist zwar zum Teil der nicht ganz reliablen Messung geschuldet, zum anderen ist dieser Verlauf aber prototypisch für dieses Profil. Auch in der Automatisierung und im Textverstehen zeigen sich mitunter keine streng stetigen Verläufe. Aus didaktischer Perspektive zu denken geben sollte der Befund, dass die Werte für das Spaß-Item auch bei wachsender Leistung, spätestens ab Jgst. 4, abfallen. Dies betrifft zwar nicht alle Schülerin-nen und Schüler dieser Gruppe, ist aber dennoch ein sie kennzeichnendes Merkmal.

3 Die Akkuratheit wird bei den Profilen nicht berichtet, da die Stichprobe nur Schülerinnen und Schüler umfasst, deren Dekodierfähgkeit ausreichend hoch und unauffällig ist.

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Die Kompetenz des Schülers AIG-19 im Fach Deutsch in Klasse 3 ist mit 1,5 sehr gut bewertet.

Abbildung 9: Entwicklungsverläufe für Schüler AIG-19

Schülerin AIG-03. Markant ist das Bild, das Schülerin AIG-03 (s. Abbildung 10) als typische Vertrete-rin der Gruppe „sehr stark“ vermittelt. Hier zeigt sich, dass Leseflüssigkeit in allen Skalen bereits in Jgst. 4 nahezu voll ausgeprägt ist. Das Textverstehen steigt zur 6. Klasse hin auf den Höchstwert, auch die richtig gelesenen Wörter liegen mit knapp über 140 Wörtern (d.h. 1,8 Standardabweichungen) weit über dem Mittelwert der Kohorte. Die Kompetenz der Schülerin im Fach Deutsch in Klasse 3 ist mit 1,4 sehr gut bewertet.

Abbildung 10: Entwicklungsverläufe für Schülerin AIG-03 Insgesamt ergibt sich der Eindruck einer extrem weit auseinanderklaffenden „Leistungsschere“ zu den anderen Gruppen, wobei durch Vergleiche mit anderen Kompetenzbereichen zu klären ist, ob dieses Extrem eine spezielle Eigenschaft des Leseflüssigkeitkontexts ist.

5 Diskussion Die Erforschung der Leseflüssigkeit spielt für das Verständnis von Lesekompetenz eine wichtige Rolle und rückt in Deutschland zunehmend mehr in den Blickpunkt. Leseflüssigkeit wurde hier definiert als dreidimensionales Konstrukt mit den Aspekten Akkuratheit, Automatisierung und prosodisches Lesen.

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Das Ziel dieser Längsschnittstudie war es, Entwicklungsverläufe aller Aspekte der Leseflüssigkeit von der 3. bis zur 7. Klasse nachzuzeichnen und diese Entwicklung mit dem Textverstehen in Verbindung zu bringen. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf die Leseprosodie gelegt werden, da diese bis-lang in der empirischen Forschung und in der deutschdidaktischen Diskussion nur geringe Beachtung findet. Zur Beantwortung der Forschungsfragen lasen Schülerinnen und Schüler einen kurzen Sachtext vor. Die so entstandenen Audio-Aufnahmen wurden anhand verschiedener Items und Skalen analysiert und klassifizert. In der 4. und 6. Klasse wurden die Leseflüssigkeitsdaten zusätzlich mit Daten des Le-setests ELFE in Verbindung gebracht. Die erste Fragestellung der Studie beschäftigte sich mit der Entwicklung der Leseflüssigkeit, insbeson-dere des prosodischen Lesens. Neuere Untersuchungen betrachten die Prosodie beim Lesen i. d. R. nur in der Grundschule, nicht darüber hinaus. Die Ergebnisse von Paige et al. (2017) z.B. deuten darauf hin, dass die Prosodie beim Lesen ab der dritten Klasse stagniert. Dieser Befund ließ sich durch die vorliegende Studie nicht replizieren. Im Gegenteil: Als Hauptbefund hinsichtlich der Entwicklung von Leseflüssigkeit ist festzuhalten, dass auch in der Sekundarstufe I noch Steigerungen stattfinden. Al-leine die Anzahl richtig gelesener Wörter pro Minute steigt von der dritten bis zur siebten Klasse um über 60 Wörter. Auf der Grundlage der Automatisierungstheorie von LaBerge und Samuels (1974) und Perfettis Verbal Efficiency Theory (Perfetti, 1985; Perfetti & Hart, 2002) bedeutet dies, dass hier noch einmal viel zusätzliche kognitive Kapazität für prosodische und für weitere Textverstehenspro-zesse frei wird. Die große Spanne von 60 Wörtern mag von der erhöhten Schwierigkeit des Textes herrühren, sodass gerade die jüngeren Kinder einen besonders geringen WCPM-Wert aufweisen. Lei-der liegt für den deutschsprachigen Raum kein standardisiertes Maß vor, anhand dessen man die Werte kalibrieren könnte. Auch die Leseprosodie der Schülerinnen und Schüler der Stichprobe steigt von der 3. bis zur 7. Klasse weiter an, wenn auch nicht so geradlinig wie die Automatisierung. Dass das prosodische Lesen nicht immer stetig ansteigt und möglicherweie ab der 3. Klasse zeitweilig stagniert, wie in der Studie von Paige et al. (2017), liegt eventuell daran, dass ab diesem Zeitpunkt das Lesen, um zu Lernen, immer wichtiger wird. Der Fokus liegt nicht mehr auf dem Lesenlernen, das Textverstehen wird anspruchs-voller, sodass für Verstehensprozesse deutlich mehr Ressourcen aufgewendet werden müssen, die zeit-weilig zulasten der Prosodie gehen. Erst wenn das Textverstehen leichter fällt, nimmt auch das proso-dische Lesen wieder zu, vergleichbar etwa dem Model of skill systems integration für die Schreibent-wicklung nach Bereiter (1980). Das Spaß-Item wurde als Teil des prosodischen Lesens entwickelt, es korreliert aber, anders als die anderen Prosodie-Items, nicht mit dem Textverstehen. Der Verlauf bleibt zunächst stabil auf gleicher Höhe, fällt jedoch zu den höheren untersuchten Jahrgängen etwas ab. Dies ist ein interessanter Befund, der in weiteren Studien gerade vor dem Hintergrund untersucht werden sollte, dass das Item möglich-erweise affektive bzw. motivationale prosodische Aspekte im Gegensatz zu kognitiven modelliert. Diese Art der (Vor-)Leseprosodie ist möglicherweise im Zusammenspiel der verschiedenen Fertigkei-ten der Lesekompetenz eine Verbindung zwischen den motivationalen und kognitiven Aspekten des Lesens. Die auffällige intraindividuelle Stabilität dieses Merkmals kann womöglich auch im Rahmen eines prosodischen Habitusbegriffs (Miosga, 2006) näher erklärt werden. Eventuell steht es in Zusam-menhang mit der Vorlesekompetenz im Sinne eines prosodischen Vorlesens im Unterricht als „ein Mittel zum Interpretieren von Texten“ bzw. „als eigenständige kulturelle Praxis, die ihre Relevanz nicht davon borgen muss, dass sie Leseverstehen fördert“ (Funke, 2018, S. 93). Die zweite Fragestellung der Studie beschäftigte sich mit dem Zusammenhang der Leseflüssigkeit, insbesondere des prosodischen Lesens, mit dem Textverstehen. Hier zeigte sich, wie in anderen Stu-dien auch, durchweg ein Zusammenhang: Je unflüssiger Schülerinnen und Schüler lesen, desto schlechter verstehen sie Texte. Der Zusammenhang zwischen Leseprosodie und Textverstehen nimmt zwischen der 4. und 6. Klasse leicht ab. Da das Textverstehen in diesem Zeitraum stärker ansteigt als das prosodische Lesen, kann diese Abnahme möglicherweise dadurch erklärt werden, dass mehr Schü-lerinnen und Schüler ein stabiles Niveau des prosodischen Lesens im Sinne einer bereits gut bewältig-ten Erwerbsaufgabe erreicht haben und nun andere Aspekte des Textvestehens, wie das Strategiewis-sen oder das Vorwissen wichtiger werden. Ein ähnliches Phänomen beschreibt beispielsweise Oakhill

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(1996) für den Einfluss des Dekodierens auf das Textverstehen. Für die Lesedidaktik könnte dies be-deuten, dass eine Förderung der Prosodie, die durch die NAEP-Skala und das analytische Item gemes-sen wurde, zu Beginn der Sekundarstufe I, anders als noch in der Grundschule, nicht mehr für alle Kinder adäquat ist, sondern nur für diejenigen, die hier noch Schwierigkeiten haben. Die Modellierung von prototypischen Lernverläufen, um die es in der dritten Fragestellung ging, ist wichtig, um potentielle Risikoschülerinnen und -schüler bereits frühzeitig erkennen zu können. In die-ser Studie wurden drei prototypische Lernverläufe betrachtet. Insbesondere die Schülerinnen und Schüler, bei denen keine Steigerung der Leseflüssigkeit zu verzeichnen ist, die also als Risikoschüle-rinnen und -schüler zu bezeichnen sind, sollen hier noch einmal in den Blick genommen werden. Im Gegensatz zu ihren Peers verlieren sie, insbesondere in der Sekundarstufe I, sogar noch einmal an Bo-den. Dies bedeutet, dass auch in der Sekundarstufe I auf die individuelle Lernlage abgestimmte Le-seflüssigkeitstrainings stattfinden müssen. Denn eine wesentliche Voraussetzung für eine entwickelte Lesefähigkeit ist das mühelose Beherrschen basaler Fertigkeiten. Die Größenordnung dieser Gruppe liegt in dieser Studie bei 20-25%. Es handelt sich dabei meist um Schülerinnen und Schüler, die in den Einschätzungen der Lehrkräfte die niedrigsten Werte aufweisen. Ob die Größenordnung sowie die vorgenommene Charakterisierung der erstellten Gruppen verallgemeinert werden kann, müssen wei-tere Längsschnittstudien mit größeren Probandenstichproben zeigen. Eine Limitation der vorliegenden Studie stellen die Items dar. Für die Studie wurden neue Items ent-wickelt, um die globale Skala zum prosodischen Lesen zu ergänzen. Hier gilt es weiterhin, die Reliabi-lität und Validität der Items zu klären. Dies gilt insbesondere für das analytische Rating, das in einer Ratingprozedur mit Laien nicht funktioniert hat. Die stattdessen genutzten Experten-Ratings als „Er-satz“ haben aber Tendenzen der Prosodieentwicklung sichtbar machen können. Auf Seiten der Instru-mente zur (wissenschaftlichen und diagnostischen) Erfassung von prosodischem Lesen muss also wei-ter an tragfähigeren Lösungen gearbeitet werden. Hierzu sind auch phonetische Analysen mittels geig-neter Algorithmen nötig. Als ein Ansatz soll das von Wehrle et al. (2019) vorgestellte Verfahren zur Messung von „robotic intonation“ erprobt werden, um das auch bei fortgeschrittenen Schülerinnen und Schülern verbreitete monotone laute Lesen genauer zu untersuchen. Die vorliegende Studie beschäftigte sich mit der allgemeinen Entwicklung der Leseflüssigkeit von der 3. bis zur 7. Klasse, indem Gruppenmittelwerte der verschiedenen Leseflüssigkeitsaspekte aufgezeigt wurden. Die Studie ist aber zugleich ein Plädoyer für das Betrachten von Einzelfällen, denn die wich-tigste Rolle spielt – bei aller Gruppenzugehörigkeit – das individuelle Profil. Dies ausschnitthaft sicht-bar gemacht zu haben, ist das Ergebnis einer innovativen Herangehensweise, die die geplante Weiter-arbeit mit hohen Stichprobenanzahlen und lückenlosen Datenreihen diagnostisch und didaktisch weiter ausdifferenzieren soll. In dieser Studie wurden ausschließlich Prima-vista-Lesungen berücksichtigt, die besondere Herausfor-derungen für den Leser bzw. die Leserin beinhalten. Zu Teilen der hier untersuchten Stichprobe liegen auch Secunda-vista-Aufnahmen vor. Diese werden zurzeit im Hinblick auf Unterschiede zu den ersten Lesungen analysieren. Als eines der vielleicht wichtigstes Ergebnis kann festgehalten werden, dass im hier untersuchten Be-reich von Jgst. 3 bis Jgst. 7 keine Hinweise darauf gefunden werden konnten, dass die Entwicklung der betreffenden Kompetenzen abgeschlossen sei. Risikoschüler lassen sich über die vorgestellten au-diodiagnostischen Verfahren präzise identifizieren und profilieren. Bei den Fortgeschrittenen aber weist z. B. die NAEP-Skala einen klaren Deckeneffekt ab Jahrgangsstufe 5 (s. Abbildung 7) auf. Sie kann also in erster Linie als eine für die Primarstufe geeignete Skala angesehen werden. Das heißt, dass für fortgeschrittenes prosodisches Lesen weiter an der Entwicklung von geeigneten diagnosti-schen Instrumenten gearbeitet werden muss.

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Angaben zur Publikation:

Sappok, Christopher / Linnemann, Markus und Stephany, Sabine (im Druck): Leseflüssigkeit – Prosodie – Leseverstehen: Eine Longitudinalstudie zur Entwicklung der Leseflüssigkeit von Jahrgangstufe 3 bis 7. Erscheint in: Rautenberg, Iris (Hg.): Evidenzbasierte Forschung zum Schriftspracherwerb. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.