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ISBN: 978-3-499-63445-1Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

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Franz Walter, geboren 1956, war bis Herbst 2017Professor für Politikwissenschaft und Direktor desInstituts für Demokratiewissenschaft an der UniversitätGöttingen. Zuletzt hat er Bücher über Bürgerproteste,den politischen Tabubruch und das Gesellschaftsbild vonheutigen Unternehmern publiziert. Der Geschichte dersozialistischen Parteien gehört sein stetes Augenmerk.

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Franz Walter

Die SPDBiographie einer Partei von

Ferdinand Lassalle bis Andrea Nahles

Rowohlt Taschenbuch Verlag

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Überarbeitete und erweiterte TaschenbuchausgabeVeröffentlicht im Rowohlt TaschenbuchVerlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2018

Copyright © 2002 by Alexander Fest Verlag, BerlinRedaktionelle Mitarbeit: SPLENDID Text- und Webdesign

Umschlaggestaltung ZERO Media GmbH, MünchenInnentypographie Daniel Sauthoff

Satz Utopia und Futura PostScript (InDesign)Gesamtherstellung CPI books GmbH, Leck, Germany

ISBN 978 3 499 63445 1

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Inhalt

Inhalt1. Handwerker und Intellektuelle. Die Sattelzeit2. Nicht revolutionär, nicht reformistisch. Unter derMonarchie3. Sozialpatrioten im Burgfrieden. Im Ersten Welt-krieg4. Spaltung und Lähmung. Die Revolutionsperiode5. Rückzug auf sich selbst bei zaghafter Öffnung. Inder Republik von Weimar6. Einsam für die Demokratie. Am Vorabend des Na-tionalsozialismus7. Die Arbeiterschaft ist nicht immun. Die Hitler-Dik-tatur8. Nicht nur, doch auch durch Zwang. In die Einheits-partei der Sowjetisch Besetzten Zone9. Wieder an der Seitenlinie: Während der Adenau-er-Ära10. Abschied vom Gestern. Der «Godesberger» Über-gang11. «Wir sitzen alle in einem Boot.» Angepasste Re-former in den sechziger Jahren12. Frühling und Herbst des Sozialliberalismus. DieDekade von Willy Brandt und Helmut Schmidt13. Enkel werden erwachsen. Während der langenKanzlerschaft von Helmut Kohl14. Regierungspartei der neuen Mitte. Von Schröderzu Steinmeier15. Zwischen Opposition und kleiner GroKo. Abstiegin der Merkel-Republik16. 155 Jahre SPD – Bilanz und PerspektiveZeittafelLiteratur

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DanksagungBildquellennachweisNamenregister

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1.Handwerker und

Intellektuelle. Die SattelzeitWill man Parteien mit einer langen Geschichte verstehen,dann lohnt sich ein genauer Blick auf die Genese, den An-fang, die Satteljahre. Die Primärerfahrungen bleiben imweiteren Verlauf haften, werden durch Kultur und Ritualeauch bewusst erinnert und als Epos an die Nachgeborenenweitergegeben. Eine Partei, die sich in ihrer Entstehungs-zeit in harten Auseinandersetzungen gegen entschlosse-ne Gegner durchsetzen und behaupten muss, produziertLegenden, Mythen, Helden und Märtyrer, auch Konverti-ten und Verräter, also den gesamten Stoff, der nötig istfür «große Erzählungen». Eine solche Partei verschwin-det nicht beim ersten Gegenwind. Sie verfügt schließlichüber in scharfen Konflikten mit anderen sozialen und po-litischen Kräften gewachsene und stabilisierende Loyali-täten, die sich zu einem spezifischen Charakter verdich-ten, zur Tradition verfestigen. Wird eine derartige Orga-nisation im Laufe der Jahre erneut von außen angefein-det, schließt sie sich ganz so, wie zu den Zeiten, als al-les begann, abermals fest zusammen. Parteien dieser ge-sellschaftlichen Substanz und Dauer überleben selbst dannnoch eine ganze Weile, wenn die Bedingungen ihrer For-mierung und Gründung schon verschwunden oder über-wunden sind. Darin liegt ihre Kraft und Beharrlichkeit. Abervieles aus einer langen, stolzen Geschichte erweist sichauch als drückende Last, da politische Überzeugen regel-mäßig zu starr kanonierten Glaubenssätzen verkümmern,da vitale Solidargemeinschaften aktiver Mitglieder wäh-renddessen in konservativ abgekapselte Vereinsmeiereienübergehen. Linear verlaufen diese Prozesse indes nicht,

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da Parteien sich durch gesellschaftlichen Außendruck undneue Mitgliederzuflüsse fortbewegen können – sie lernen,sich zu korrigieren und zu wandeln.

Dies alles werden wir auch in der Geschichte der SPDfinden. Lange Zeit war die Sozialdemokratie nicht nur ein-fach eine Partei, sondern auch – und zunächst sogar vielmehr – eine soziale Bewegung. Und bei sozialen Bewegun-gen lässt sich immer schwer sagen, wann genau sie sich ge-bildet haben. Exakte Entstehungsdaten gibt es keine, undso hat die SPD seit jeher einige Schwierigkeiten, ihr Grün-dungsjahr parteihistorisch verbindlich festzulegen. Meistlässt man die Geschichte der Sozialdemokratie mit Ferdi-nand Lassalle und seinem Allgemeinen Deutschen Arbeiter-verein (ADAV) im Jahr 1863 beginnen; mitunter wird aberauch die Bildung der Arbeiterverbrüderung des StephanBorn im Zuge der Revolution von 1848 als Startschuss ge-feiert. Das Jahr 1875, in dem sich die bis dahin verfeinde-ten Flügel der frühen Arbeiterbewegung in Gotha zur Sozia-listischen Arbeiterpartei Deutschlands organisatorisch zu-sammenrauften, gilt zuweilen ebenfalls als das eigentlicheKonstituierungsdatum. Und für eher sozialhistorisch argu-mentierende Interpreten sind es schon die 1830er Jahreund die frühsozialistischen, im europäischen Ausland agie-renden Handwerkervereine, mit denen all das begann, wasspäter August Bebel, Otto Wels, Kurt Schumacher, WillyBrandt, Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder und nach ihmetliche weitere fortsetzten.

Den Sozialdemokraten selbst ist es im Grunde ganzrecht, dass es mehrere geschichtliche Ausgangspunkte ih-rer Partei gibt – haben sie so doch genügend Anlässe, sichzu feiern und stolz auf ihre großen und langen Traditionenzu verweisen. Da die Diskussion über ein präzises histori-sches Gründungsdatum der Sozialdemokratie letztlich tat-sächlich unergiebig ist, sollte man einfach offen formulie-ren: Irgendwann zwischen den 1830er und 1870er Jahren

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entstand in Deutschland – als Reaktion der neuen, industri-ellen Arbeiterklasse auf die Abhängigkeitsverhältnisse, Un-sicherheiten und Krisen des neuen, industriellen Kapitalis-mus – die moderne Arbeiterbewegung.

Doch selbst das ist sogleich wieder zu relativieren – dennmodern war die Arbeiterbewegung in ihren Anfängen nurbis zu einem gewissen Grad. Und auch die Arbeiterklasse,die sich sozialdemokratisch organisierte, war so neu nicht.Soziale Bewegungen fangen eben nicht bei null an, sie ha-ben immer, gerade die erfolgreichen und dauerhaften unterihnen, Wurzeln und Kraftquellen in der Vergangenheit. DieFabrikarbeiter im Frühkapitalismus waren wirklich wur-zel- und traditionslos; sie kamen aus der agrarischen Pro-vinz, hatten keine Organisationserfahrung und keine grup-penbildenden Leitideen. Über all das verfügten jedoch diestädtischen Handwerksgesellen jener Jahre: die Schriftset-zer, Scherenschleifer, Drechsler, Sattler oder Zimmerer.Sie wurden, ohne moderne Industriearbeiter zu sein, zu denPionieren der neuen Arbeiterbewegung und prägten dieFührungsschicht der deutschen Sozialdemokratie bis weitin das 20. Jahrhundert hinein. Denn sie besaßen jene Res-sourcen, die man braucht, um eine soziale Bewegung insLeben zu rufen und ihr Schritt für Schritt Parteistrukturenzu verleihen: Organisationskompetenz, Selbstbewusstsein,Bildung, Leitziele, Kommunikationsfähigkeit und Mobilität.

Ihre Organisationskompetenz hatten die Handwerksge-sellen über Jahrhunderte in den Zünften akkumuliert. Nichtweniges dieser alten Zunftstrukturen – etwa die Unterstüt-zungskassen bei Krankheit, Invalidität und im Todesfall –floss in den 1860er und 1870er Jahren unmittelbar in diemoderne Arbeiterbewegung ein. Die Handwerksgesellenverfügten über traditionsgesättigte Symbole und Rituale,Fahnen und Lieder, die auch innerhalb der neuen Arbei-terbewegung identitätsbildend wirkten. Zudem hatten sieschon in der altständischen Gesellschaft ihre Mobilität be-

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wiesen. Nach ihrer Lehrzeit mussten die Gesellen auf Wan-derschaft gehen, sodass sie ihre Organisationen und Ideenüberregional vernetzen konnten. Ebendas wurde die Vor-aussetzung für eine nationale Arbeiterbewegung und Sozi-aldemokratie in Deutschland.

Die Handwerksgesellen hatten einen ausgeprägten Be-rufsstolz und Ehrenkodex, und oft verfolgten sie das Ziel,Meister zu werden. Doch das alles geriet Mitte des 19. Jahrhunderts in Konflikt mit dem neuen Kapitalismus: DieFabrikarbeit entwertete viele alte Berufe und Ehrvorstel-lungen und zerstörte nicht selten die Aufstiegshoffnungender Gesellen. Aus dieser Spannung von traditionsgeleite-ten Erwartungen und neuzeitlichen Enttäuschungen ent-stand das Protestpotenzial der Handwerksgesellen, resul-tierte ihr frühsozialistisches Engagement. Die moderne So-zialdemokratie in Deutschland geht mithin auf Mentalitä-ten der vormodernen, vorbürgerlichen, vorkapitalistischen,vorproletarischen Gesellschaft zurück. Diese Konstellationfindet man häufig: Ganz moderne soziale Bewegungen näh-ren sich von Protestpotenzial, das aus der Verletzung alterRechte hervorgegangen ist, aus der Missachtung traditio-neller Einstellungen, aus der jähen Infragestellung frühe-rer Sicherheiten und Gewissheiten.

Obwohl die neue Arbeiterbewegung also eine Mengerückwärtsgewandter Antriebselemente hatte, wies sie imGroßen und Ganzen doch nach vorn, in die Zukunft. Auchdas lässt sich bei sozialen Bewegungen oft genug beob-achten: Die Energien, die entstehen, indem traditionelleAnsprüche aufgrund gesellschaftlichen und ökonomischenWandels nicht mehr erfüllt werden, verharren nicht in über-lebten Organisationsstrukturen; sie führen nicht nur zunostalgischen Defensivkämpfen, sondern zugleich zu neu-artigen Aktionsmethoden, Postulaten und Forderungen. Soauch bei der frühen Arbeiterbewegung. Schon bald warsie mehr als lediglich die kulturelle und organisatorische

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Verlängerung überkommener Zunftstrukturen, nämlich ei-ne wirklich neue soziale Bewegung von Arbeitern, nicht vonGesellen. Die Gesellenproteste der vormodernen Zeit wa-ren defensiver Natur, sie konzentrierten sich auf die Ver-teidigung alter Rechte. Die Arbeiterbewegung aber gingschnell in die Offensive, forderte neue Rechte, verlangtemehr Teilhabe und Mitwirkung. Und die Gesellen der ver-schiedenen Gewerbe verstanden sich zu Beginn der zwei-ten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich kollektiv als Ar-beiter, da sie –  im Falle von Krankheit, Invalidität, im Al-ter und hinsichtlich der kapitalistischen Konjunkturzyklen –die gleichen Risiken trugen und die gleichen Nöte litten. Indiesem Lernprozess bildete sich die moderne Sozialdemo-kratie.

Doch zunächst handelte es sich dabei lediglich um eineAvantgarde, gleichsam den Vortrupp der entstehenden Ar-beiterklasse. Mehr als einige tausend Mitglieder gehörtendem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in den 1860erJahren nicht an. Ferdinand Lassalle hatte 1863, als er denVerein gründete, noch von hunderttausend gesprochen, dieer rasch beisammenhaben wollte. Aber zu seiner großenEnttäuschung kamen die Massen anfangs nicht.

Man mag verwunderlich finden, dass gerade Lassalle,der jüdische Intellektuelle und Bohemien, der sein Geld alsAnwalt verdiente, diejenige geschichtliche Figur wurde, dieviele für den Gründer der sozialdemokratischen Arbeiter-bewegung halten.

Lassalle stammte aus Breslau, wo er im April 1825 ge-boren wurde, als Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers.Der Name der Familie schrieb sich damals «Lassal», wasSohn Ferdinand als junger Erwachsener mit 26 Jahren fürsich in «Lassalle» modifizierte – wohl auch, um weniger As-soziationen zu seiner jüdischen Herkunft, die ihm unange-nehm, zeitweise sogar verhasst war, zu wecken. FerdinandLassalle wollte hoch hinaus, schon als Kind. Und sein Vater,

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der den Sohn früh hätschelte, ja bewunderte, bestärkte ihnin seinem Ehrgeiz. Auch andere Ältere waren fasziniert, oftgar eingeschüchtert vom Temperament, vom Scharfsinn,der unglaublich raschen Auffassungsgabe und oratorischenVirtuosität Lassalles. Alexander von Humboldt, die Geistes-größe in Berlin zur Mitte des 19. Jahrhunderts schlechthin,sang adorierende Hymnen auf den jungen Genius. Hein-rich Heine huldigte ihm – und fürchtete sich zugleich vorder hemmungslosen Egozentrik. Lassalle war stolz darauf,ein Mann der Tat zu sein. Die Großautoritäten des theore-tischen Sozialismus jener Jahre hingegen, Karl Marx undFriedrich Engels, mochten Lassalle nicht sonderlich. Insbe-sondere Engels hatte für ihn beinahe nur Spott, bösartigeMokanzen übrig. Er konnte Lassalle regelrecht nicht aus-stehen. Friedrich Engels war ein denkbar uneitler Charak-ter, der nie darunter litt, ein wenig im Schatten des ande-ren Genius, von Karl Marx also, zu stehen. Lassalle wieder-um war an Eitelkeit kaum zu überbieten. Und so verhöhnteEngels ihn als «Gecken» mit der «überschnappenden Stim-me», als «Schuft», als «Richelieu des Proletariats». Marxhatte einige Zeit einen etwas offeneren, faireren Blick aufLassalle, als er dessen Stärken sah. Wie dieser, so hatteauch Marx eine besondere Schwäche für Frauen adeligerHerkunft. Aber Marx übertraf in seinen Invektiven gegen-über Lassalle seinen Freund Engels dann doch um einiges.Er, selbst jüdischer Herkunft, bezeichnete Lassalle als «Jü-del», den «Dunklen», einen «jüdischen Nigger». Aber nachdem frühen und überraschenden Tod Lassalles im Duellsandten selbst Marx und Engels, die verlässlichen Spötter,nun respektvolle Kondolenzbriefe nach Deutschland, in de-nen sie Lassalle als den «einzigen Kerl in Deutschland» be-zeichneten, der schon deshalb ihr Freund gewesen sei, weiler als Feind der Bourgeoisie agiert habe.

Mitte April 1862 hatte Lassalle mit einer Rede vor Ber-liner Arbeitern, die anschließend als «Arbeiterprogramm»

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publiziert wurde, auch in Sachsen Aufmerksamkeit erregt.Arbeiter in Leipzig zeigten sich so beeindruckt, dass sie En-de des Jahres Lassalle die Anführerschaft einer neuen Ar-beitervereinigung antrugen. Lassalle bestand auf einer for-mell korrekten, offiziellen Aufforderung, die dann im Fe-bruar 1863 eintraf. Daraufhin sandte Ferdinand Lassalleam 1. März 1863 ein «offenes Antwortschreiben an das Zen-tralkomitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Ar-beiterkongresses zu Leipzig» ab, das gleichsam zur Pro-grammschrift der frühen deutschen Sozialdemokratie avan-cierte. Ende Mai 1863 gründete sich der Allgemeine Deut-sche Arbeiterverein (ADAV) und bestimmte Ferdinand Las-salle für die Dauer von fünf Jahren zu seinem Präsidenten.Gemäß dem «Antwortschreiben» seines neuen Präsidentenzielte der ADAV zuvörderst auf die Einführung eines allge-meinen und gleichen Wahlrechts, schließlich auf die Bil-dung von Produktivgenossenschaften mit Hilfe staatlicherFörderung. Der Staat spielte im Denksystem des Hegelia-ners Lassalle eine ausschlaggebende Rolle; mittels seinersollte sich die sittliche Idee des Sozialismus vollziehen underfüllen.

Den Liberalismus dagegen verachtete der Präsident desADAV in den letzten Jahren seines Lebens geradezu. Die«Fortschrittspartei» der liberalen Bürger war ihm gar derHauptfeind schlechthin  – nicht die Konservativen, nichtdie Junker, nicht der Adel. Mit Bismarck konnte der Chefder Sozialisten stundenlang angeregt parlieren. Dieser, derpreußische Ministerpräsident, war wenigstens ein wirkli-cher «Mann». Hingegen die Liberalen: «Alte Weiber», wieLassalle gerne in seinen Ansprachen sarkastisch ausspie.Das Bündnis der Arbeiter mit der liberalen Bourgeoisie,hämmerte Lassalle seinen Zuhörern ein, sei auf immer vor-bei.

Aber dann traf er bei seiner Kur in Kaltbad auf dem Rigiin der Schweiz auf Helene von Dönniges, die attraktive 18-

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jährige Tochter des Historikers und bayerischen Diploma-ten Wilhelm von Dönniges. Ihretwegen starb Lassalle am31. August 1864 im Duell, nur 15 Monate nachdem er diePräsidentschaft des ADAV übernommen hatte.

Mit seinem Tod setzte in der Arbeiterbewegung ein re-gelrechter Lassalle-Kult ein, der bis zum Ende der Weima-rer Republik die sozialdemokratischen Festivitäten prägte.Stets sang man dort die Arbeiter-Marseillaise, die zur To-tenfeier von Lassalle einen neuen Refrain erhalten hatte:

«Nicht zählen wir den Feind,nicht die Gefahren all!Marsch, Marsch, Marsch, Marschder kühnen Bahn nun folgen wir die uns geführt Lassalle!»

Im Grunde war dieser Kult, der in den 1860er und 1870erJahren in höchster Blüte stand, nur schwer nachvollziehbar,wenn man die genauen Umstände von Lassalles Tod reflek-tiert. Hier hatte sich kein heldenhafter Sozialist im selbst-losen Kampf für die proletarische Sache geopfert. Hier warein eitler Mann im anachronistischen Duell gefallen, weilihm ein junges Mädchen, das er kaum näher kannte, nacheinigen glühenden Liebesbekundungen unerwartet schnip-pisch die kalte Schulter gezeigt hatte. Nur: Lassalles An-hänger wussten nichts Genaues von dem, was sich da in derfernen Schweiz wirklich ereignet hatte. Die Gerüchte, dieumherschwirrten, gingen vorwiegend in die Richtung, dassdie feudale Reaktion den tapferen Freiheitskämpfer Lassal-le in die Falle gelockt und hinterhältig niedergestreckt ha-be. Lassalle sei demnach als kühner und unbestechlicherVorkämpfer für das Anliegen des Proletariats und dessenBefreiung gestorben. Daran glaubten Anhänger des ADAVnoch viele Jahre später.

Damit war die Art und Weise vorgezeichnet, wie in derfrühen deutschen Arbeiterbewegung Lassalles gedacht,

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wie mit der Erinnerung an ihn umgegangen wurde. Der 31. August, der Todestag des ADAV-Chefs, war für rund zweiJahrzehnte der Feiertag dieses Teils der Arbeiterbewegungschlechthin. Die Katholiken pflegten ihre Prozessionen amFronleichnamstag; die protestantischen Bürger erbautensich seelisch am Sedanstag, hissten ihre Fahnen mit denschwarz-weiß-roten Farben; und die neue sozialistische Be-wegung gedachte, jeweils einen Tag vor dem Sedansfest,feierlich Ferdinand Lassalles nahezu im Stil einer religiösenMesse, liturgisch wie in den christlichen Kirchen. In dieserjährlichen Zeremonie verkörperte Lassalle den neuen, wie-dergekehrten Nazarener, den Heiland und Messias des 19. Jahrhunderts.

Doch zu Lebzeiten zeichnete Lassalle unzweifelhaft po-litischer Instinkt aus, der Sinn für den historischen Mo-ment, überdies die entschlossene Handlungskraft, um einesich bietende Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen. Auchgehörten bei ihm Tat und Gedanken eng zusammen; Poli-tik verstand er als die Praxis der Idee. Ein begründungs-und zielloser Pragmatismus kann sich jedenfalls nicht aufLassalle berufen. Seine Vorliebe für einen genossenschaft-lichen Sozialismus ist vielleicht zu Unrecht rasch in Ver-gessenheit geraten. Seine Insistenz auf die Organisationhat die Arbeiterbewegung in Deutschland lange geformt,hat ihr in schwierigen Zeiten Rückzugsräume, Personal,Fundament und Krisenresistenz verliehen. Mit seinem Ein-satz für das allgemeine Wahlrecht und für Wahlagitationhat er die sozialistische Bewegung gewissermaßen zivili-siert, von geheimbündlerischen Träumen und Praktiken ab-getrennt. Aber Lassalle war auch ein plebiszitärer Popu-list. An die parlamentarische Demokratie dachte er nicht,wenn er über die Wege der Revolution – die ihm immer nä-herstand als die langsame Reform – nachsann. Daher wardie neue Partei auch auf ihn zugeschnitten, den präsidialenCharismatiker, der zentralistisch vorgab, wohin das arbei-

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tende Volk zu gehen hatte. Auch das gehört zum Erbe, dasLassalle der Arbeiterbewegung in Deutschland hinterließ.

Schon der wichtigste seiner Nachfolger trat es an: Jo-hann Baptist von Schweitzer. Es gehörte fraglos zu denEigentümlichkeiten der neuen sozialistischen Bewegung,dass ihre Gründungspatrone und Protagonisten weder ausder Arbeiterklasse stammten noch recht eigentlich intimeKenntnisse der proletarischen Verhältnisse besaßen. Dereine, Ferdinand Lassalle, war ein berüchtigter Salonlöwe,Liebhaber schöner Frauen und exquisiter Weine, ein frü-her Rentier und Bohemien; der andere, Johann Baptist vonSchweitzer, war Sprössling einer Frankfurter Patrizierfa-milie, promovierter Jurist und Autor von Theaterstücken,ein Komödiant. Sein politisches Engagement zielte anfangsauf die nationale Bewegung in den Turn- und Schützenver-einen, in denen er jeweils führende Funktionen innehatte.Danach konzentrierte sich seine Aktivität auf die Arbeiter-bildung. Dann aber kam er in seiner Frankfurter Heimatge-gend politisch nicht mehr voran, da er wegen Päderastie inMannheim im Gefängnis eingesessen hatte, was zu seinerÄchtung im Arbeitervereinswesen am Main geführt hatte.Von Schweitzer siedelte nach Berlin über, kam mit Ferdi-nand Lassalle zusammen, gründete die neue Parteizeitung,den Socialdemokrat. 1867 rückte er dann ganz an die Spit-ze des ADAV, gelangte überdies als Abgeordneter in denNorddeutschen Reichstag.

1868 war von Schweitzer ohne Zweifel die zentrale Füh-rungsfigur in der sozialdemokratischen Bewegung. Diesestieß allerdings –  junge politische oder soziale Bewegun-gen pflegen sich gerade zu Beginn zu spalten und mit einergehörigen Portion Unversöhnlichkeit miteinander zu strei-ten  – auf die erbitterte Gegnerschaft der leitenden Figu-ren der zweiten sozialdemokratischen Organisation, näm-lich August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Der Parteihis-toriker Franz Mehring attestierte später von Schweitzer, in

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jenen Jahren «der am klarsten und schärfsten blickende So-zialist auf deutschem Boden» gewesen zu sein. Erst durchihn wurde die kleine Sekte, die Lassalle geschaffen hatte,zu einer schlagkräftigen, verhältnismäßig geschlossenen,taktisch verblüffend klug operierenden Formation. Im Ver-gleich zu Wilhelm Liebknecht, dem ewigen 1848er und Ro-mantiker des politischen Kampfes, hatte von Schweitzer,eifriger Rezipient der Schriften Machiavellis, einen analyti-schen, illusionslosen Blick für politische Kräfteverhältnisseund Handlungsmöglichkeiten. «Kein anderer deutscher Ar-beiterführer», schrieb ein weiterer Historiker der Sozialde-mokratie, Gustav Mayer, «hatte so wenig wie er vom Ideo-logen in sich.» Wie Ferdinand Lassalle, so besaß auch vonSchweitzer einige Bewunderung für die meisterlichen poli-tischen Schachzüge Bismarcks. Und wie Lassalle, vielleichtgar noch stärker als dieser, baute auch von Schweitzer sei-ne Parteiführung in der jungen Sozialdemokratie autokra-tisch aus, strebte einen sozialistischen Bonapartismus bzw.Cäsarismus an.

Mit solch maßlosen Ambitionen entfachte und stärktevon Schweitzer allerdings oppositionelle Kräfte im eigenenLager, was dazu führte, dass er 1871 von der politischenBühne abtrat – wenngleich er mit der ihm eigenen Raffi-nesse zuvor noch versucht hatte, die Mitglieder der Par-tei gegen die ihm zusetzenden Delegierten und Aktivistenk-ader auszuspielen. Aber auch die Genossen an der Basishatten sich zuletzt mehr und mehr von ihm abgewandt. Zusehr war seine persönliche Integrität ins Gerede gekom-men. Von Schweitzer liebte die Annehmlichkeiten eines lu-xuriösen Lebens, ohne sich ein solches materiell leisten zukönnen. Er verschuldete sich hier, pumpte sich dort etwas,konnte das Geld nicht zurückzahlen und griff – so warf manihm zumindest vor – beherzt selbst in die Kasse des Arbei-tervereins. Infolgedessen galt er vielen Historikern der Ar-beiterbewegung als eine «dekadente», «moralisch zweifel-

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hafte» und «derangierte» Persönlichkeit. Doch leugnetendie meisten Autoren nicht von Schweitzers besondere Ver-dienste um den Ausbau und die Festigung der Sozialdemo-kratie, wenngleich ihn vor allem August Bebel, FriedrichEngels und Karl Marx inbrünstig verachteten und schmäh-ten.

Karl Marx’ Schriften trugen in den darauffolgenden Jahr-zehnten zur großen Sinnstiftung der sozialistischen Bewe-gung bei. Nach und nach eigneten sich die führenden deut-schen Sozialdemokraten die Analysen und Prognosen vonMarx an und verbreiteten eine Art volksmarxistische Versi-on in der Anhängerschaft der Partei. Marx war im Grundeein Geschöpf des bürgerlichen Zeitalters, der Aufklärung,des Rationalismus, der Ehrfurcht vor Erkenntnis, Wahrheit,Wissenschaft. Marx war ein Forscher aus Leidenschaft. Tagfür Tag saß er stundenlang in der Bibliothek des British Mu-seum, las auch noch die entlegensten Bücher, exzerpierteunermüdlich – um sich und seine Ansicht immer wieder aufsNeue zu korrigieren. Abends ging es dann zu Hause bis indie Nacht weiter, in einem mit Büchern, Blättern und Manu-skripten vollgestopften Arbeitszimmer, das für Außenste-hende einen chaotischen Eindruck gemacht haben muss.Leicht machte es sich Marx mit seinem unbändigen Lese-hunger nicht. Denn er fand nie ein Ende, ließ es nie genugsein. Der Imperativ des Zweifels – auch an sich selbst – warihm Elixier, ehernes Gebot und: Plage wie Paralyse. Es gingihm da wie anderen weit überdurchschnittlich begabtenGeistern. Ihre Ansprüche sind hoch, die an sich selbst an-gelegten Maßstäbe oft kaum erreichbar. Das Opus, das sieschaffen wollen, soll einzigartig, komplett, vollendet sein,im höchsten Glanz erscheinen, noch nach Jahrzehnten Be-stand und Gültigkeit haben. Solche Ambitionen spornen zu-nächst an, aber sie lähmen auch, umso mehr, je näher derTermin der Werkvollendung rückt. Das galt auch für Marx.Er brauchte Jahre, ja Jahrzehnte für seine großen Analy-

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sen zur Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft; das meis-te brachte er gar nicht erst zum Abschluss, mochten auchseine Freunde drängen, wie sie wollten. Marx war kein Au-tor, der diszipliniert schrieb, Fristen und Verträge einhielt.Meist flüchtete er sich, wenn es ernst wurde, in Krank-heiten. Er war ein großer Hypochonder, bekam aber auchwirklich die somatischen Folgen zu spüren. Seine Leidens-geschichte mit all den Furunkeln und Karbunkeln an denempfindlichsten Körperstellen wurde hernach in der Medi-zin- und Psychologiegeschichte des Sozialismus legendär.

Weit leichter gingen Marx seine zahllosen Pamphletevon der Hand, in denen er seine ebenso unzähligen Geg-ner «vernichtete». Häme, Sarkasmus, Sottisen  – darüberverfügte Marx überreichlich. Er konnte über die unbedeu-tendsten Köpfe seiner Zeit Hunderte von Seiten zwar bos-hafter, aber brillanter Polemik verfassen, Seite für Seite ge-füllt mit ebenso funkelnden wie verächtlichen Aperçus. Indieser Art, in der Marx seine Widersacher intellektuell zer-fetzte, blieben ihm die späteren Epigonen des «Marxismus»treu. Die Negation war jedenfalls die stärkste Seite von KarlMarx. Oder freundlicher ausgedrückt: die Kritik. Marx be-stach durch seine Kritiken – an Hegel, an Feuerbach, ander Ökonomie des Kapitalismus, am Gothaer Programm derjungen deutschen Sozialdemokratie. Immer konnte Marxmesserscharf sezieren, wo die Aporien lagen, wo der Scheindas reale Sein überdeckte, wo Texte ins Phrasenhafte ab-rutschten. Er dachte weniger über präzise Alternativen,über Wege, Techniken und Instrumente des anderen nach.Dergleichen tat er hochfahrend als kleinbürgerliche Uto-pisterei und philiströse Spekulation ab. Auch sprachen ausseinen sozialistischen Schriften kein Altruismus, keine Wär-me, kein Mitgefühl. Man gewann nicht den Eindruck, dassda jemand mit dem Subjekt seiner Geschichtsphilosophie,dem Proletariat, mitlitt. Sein primäres Interesse galt derbürgerlichen Gesellschaft, der inneren Dynamik des Kapita-

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lismus. Davon war er zutiefst erregt: von der mächtigen Ex-pansionskraft der kapitalistischen Produktionsweise, vonder Wucht, mit der sie territoriale Grenzen einriss und sichinternational ausdehnte – niemand sonst hat die Globalisie-rung so früh und hellsichtig antizipiert wie eben Marx be-reits in den 1840er Jahren, als die Mehrheit der europäi-schen Nationen noch tief in der Feudalität steckte.

Marx war fasziniert vom Kapitalismus, beeindruckt auchvon der Fortschrittsfähigkeit des Bürgertums. Und zugleichhasste er dies alles. Nichts charakterisierte das Leben desdeutschen Emigranten im Londoner Exil mehr als die steteSpannung von extremem Leistungswillen und düsterer De-struktivität, von Suche nach Zuneigung und triebhafter Zer-störung der meisten Freundschaften. Marx wollte Meistersein, in philosophischen Runden, im Kommunistenbund, inder sozialistischen Internationale. Doch zugleich konnte ergläubige und beflissene Jünger nicht ertragen; er wies siehochmütig und kalt von sich ab. Die besten Freunde – mitAusnahme des kommunistischen Fabrikanten Friedrich En-gels – gerieten früher oder später zu abgründig gehasstenFeinden. Aus dieser Spannung zog Marx viel Energie – al-lerdings auch in schlimmer autoaggressiver Hinsicht.

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Ferdinand Lassalle (1825 – 1864), Sohn großbürgerlicher El-tern, gilt als Begründer der sozialdemokratischen Arbeiterbe-wegung in Deutschland. Er war eine charismatische Persön-lichkeit und hatte große politische Pläne. Doch starb er früh,39-jährig, in einem Duell. Reichskanzler Bismarck sagte in ei-ner Reichstagsdebatte im September 1878 über ihn: «Lassallewar ehrgeizig im hohen Stil, und ob das deutsche Kaisertum

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gerade mit der Dynastie Hohenzollern oder mit der DynastieLassalle abschließen solle, das war ihm vielleicht zweifelhaft.»

Der exilierte Marx gehörte zu jenen gesellschaftlich eherrandständigen, politisch jedoch ehrgeizigen Intellektuel-len, deren Zusammenspiel mit bildungsbeflissenen Hand-werksgesellen charakteristisch für die frühe deutsche So-zialdemokratie war. Schon die wandernden Gesellen der1830er Jahre hatten in Paris, Zürich und London emigrier-te Intellektuelle kennengelernt – und mit ihnen so manchesozialistische Utopie. Bis 1933 trifft man in der Geschichteder deutschen Sozialdemokratie oft auf den Typus des mar-ginalisierten, beruflich blockierten, religiös oder politischgeächteten Bildungsbürgers, der in der Arbeiterbewegungeinen Platz und nicht selten auch eine Führungsrolle such-te. Dieser «Konvertit» hatte sich an seiner Herkunftsklassewund gerieben, sich über deren haltlosen Opportunismusund mangelnden Idealismus empört und sodann in der Ar-beiterklasse den neuen kollektiven Heiland entdeckt. Daswurde oft genug noch alttestamentarisch überhöht: JenenIntellektuellen galt der Sozialismus als Erlösungsbotschaftfür die gesamte Menschheit; und sie selbst sahen sich gernals Auserwählte, jeder für sich ein Moses, der das Volk indas gelobte Land der klassenlosen Gesellschaft führen wür-de. Das Gros der ehrgeizigen revolutionären Intellektuel-len interessierte sich dabei nicht sonderlich für die Alltags-nöte und Problemlösungen der unteren Schichten. Die au-thentische Volks- und Arbeiterkultur mit ihren derben Sit-ten, oft brutalen Umgangsformen – alkoholgeschwängert,schmutzig, zotig – bereitete ihnen vielmehr Unbehagen, ja:Ekel. Die Intellektuellen dachten, wenn sie die geschichtli-che Rolle der Massen priesen, an den lesenden, bildungsbe-flissenen, disziplinierten Arbeiter der Bildungsvereine. Die-ser rezipierte, was jene formulierten; der Arbeiter sollte indie Richtung gehen, die ihm die Intellektuellen wiesen.

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Bildung war jedenfalls das Zauberwort für jene Hand-werksgesellen, welche die frühe Sozialdemokratie begrün-deten. Das zweite Zauberwort in diesen Kinderjahren derArbeiterbewegung lautete «Assoziation». Und als dritteskam noch die «Produktivgenossenschaft» hinzu, die alsLeitidee allerdings sehr viel schneller an Kraft verlor unddie sozialdemokratische Arbeiterbewegung längst nicht sodurchdrang und festlegte wie eben «Assoziation» oder «Bil-dung». Alles in allem spiegelte diese Trias frühsozialisti-scher Identität die Verhaltensmaßstäbe, die Gruppenmo-ral, auch die Wunschvorstellungen, Träume und Hoffnun-gen der Handwerker und der qualifizierten Arbeiter. Es warein gut organisierter, selbstverwalteter, ausbeutungsfreierWerkstattsozialismus, nach dem die Pioniere der deutschenSozialdemokratie strebten.

Ungelernte Arbeiter ließen sich davon jedoch wenigerfaszinieren; und überhaupt sollte die Kluft zwischen ge-lernten und ungelernten Arbeitern in der deutschen Sozial-demokratie lange Zeit fortbestehen: Die Sozialdemokratiewar von Beginn an Bewegung und Partei der disziplinier-ten, ehrgeizigen, aufstiegswilligen Arbeiter; jene, die überdiese Tugenden und Einstellungen nicht verfügten, frem-delten ihr gegenüber oft, gehörten nicht zu ihren treuen An-hängern und standen in Krisenzeiten schnell abseits oderin anderen politischen Lagern.

Und schließlich gab es ebenfalls von Anfang an die in-nersozialistischen Streitigkeiten, Flügelkämpfe und Spal-tungen, die so typisch für die Geschichte der Arbeiterbewe-gung wurden. Die meisten Arbeitervereine machten schon1863 nicht mit, als Lassalle die autonome Arbeiterparteiausrief; die Mehrheit verblieb im Organisationsrahmen desliberalen Bürgertums, bis sich 1869 in Eisenach die Sozial-demokratische Arbeiterpartei als zweite eigenständige For-mation der Arbeiterschaft und des Sozialismus konstituier-te. Deren Anführer waren August Bebel und Wilhelm Lieb-

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knecht. Dieser zweite Flügel der sozialdemokratischen Ar-beiterbewegung war weniger zentralistisch, weniger auto-kratisch als der von Lassalle geformte. Im Übrigen unter-schied man sich in der nationalen Frage: Die Lassalleanerhielten zu Preußen, die Richtung Bebel / Liebknecht bevor-zugte die großdeutsche Lösung. Besonders in den erstenJahren ging es zwischen den Angehörigen der beiden Par-teien ziemlich rüde zu. Sie sprengten einander die Veran-staltungen, beschimpften und prügelten sich zuweilen. Erstin den frühen 1870er Jahren, als die Kontrahenten gleicher-maßen Opfer staatlicher Kriminalisierung und Illegalisie-rung waren, hörte der Kleinkrieg auf. Hinzu kam die wirt-schaftliche Krise, die nach dem Gründerkrach 1873 einsetz-te. Beides zusammen, der Druck des Obrigkeitsstaates wieder kapitalistischen Depression, brachte die verfeindetenLager des frühen Sozialismus einander rasch näher, ja ein-te die Sozialdemokratie: 1875 wurde in Gotha die Sozialis-tische Arbeiterpartei Deutschlands gegründet.

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2.Nicht revolutionär,nicht reformistisch.Unter der Monarchie

Karl Marx spuckte Gift und Galle gegen das Programm, dassich die vereinte Sozialdemokratie gab. Mit dem ihm eige-nen boshaften Scharfsinn sezierte er die Widersprüche, Un-gereimtheiten und «lassalleanischen Phrasen» des Gotha-er Programms. Doch die Philippika des im Londoner Exillebenden sozialistischen Meisterdenkers drang nicht rechtnach Deutschland durch. Sie hätte auch nicht viel bewirkt,denn die deutschen Sozialdemokraten wollten den lästigenParteienstreit im eigenen Lager endlich beilegen; auf theo-retischen Glanz kam es ihnen in dieser Situation kaum an.Überhaupt echauffierte sich Marx 1875 im Grunde ganz un-nötig: Die Zeit des «Lassalleanismus» lief in den 1870erJahren ohnehin ab, die Zahl der «Marxisten» in der deut-schen Arbeiterbewegung dagegen nahm stetig zu. Der mas-sive politische und ökonomische Druck, der die Arbeiterbe-wegung in diesem Jahrzehnt einte, war zugleich der Reso-nanzboden für die Verbreitung marxistischer Ideen und Be-grifflichkeiten.

Nur selten zuvor hatten die Arbeiter in Deutschland dieKlassengesellschaft und den Klassenstaat als so bedroh-lich, rücksichtslos und demütigend empfunden wie in den1870er Jahren. Auf den Gründerkrach 1873 folgte einelanganhaltende wirtschaftliche Stagnation. Firmenzusam-menbrüche und Entlassungen häuften sich, Streiks bliebenerfolglos, und bald war die gewerkschaftliche Gegenmachtempfindlich geschwächt. Zum Ende des Jahrzehnts führteein Bündnis von Konservativen und Rechtsliberalen über-

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dies noch die Schutzzollpolitik ein, durch die sich importier-tes Getreide verteuerte, wodurch wiederum die Lebensmit-telpreise erheblich stiegen. So gerieten die städtischen Ar-beiter ökonomisch und sozial mehr und mehr in Bedräng-nis.

1878 verübten zwei von wirren politischen Ideen geleiteteMänner, Max Hödel und Karl Nobiling, Attentate auf den Kai-ser. Reichskanzler Bismarck nutzte dies, um seinen größteninnenpolitischen Gegner auszuschalten, und brachte das «Ge-

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setz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozial-demokratie» durch den Reichstag. Die sozialdemokratischePartei war fortan verboten. An diese bitteren und gleichzeitigprägenden Jahre für die deutsche Sozialdemokratie erinnertesich August Bebel 1903: «Die Schläge fielen hageldicht, alleswurde zertrümmert … , Hunderte und wieder Hunderte von Ge-nossen wurden brotlos … Wir wurden wie räudige Hunde ausder Heimat hinausgetrieben.»

Gewiss: Eine solche Krisensituation war für Arbeiter kei-ne ganz ungewöhnliche Erfahrung, und sie allein hättedie deutsche Sozialdemokratie wohl nicht für marxistischesVokabular geöffnet; da mussten noch die politische Ent-rechtung, ja die gesellschaftliche Stigmatisierung hinzu-kommen, welche die Sozialdemokraten zwischen 1878 und1890 erlebten. Dies war die Zeit des Sozialistengesetzes,mit dem Reichskanzler Otto von Bismarck die Sozialdemo-kratie zu zerschlagen suchte. Als im Mai und im Juni 1878zwei Psychopathen Attentate auf den greisen Kaiser Wil-helm I. verübten, instrumentalisierte Bismarck dieses Er-eignis kurzerhand und boxte das «Gesetz gegen die gemein-gefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie» durchden Reichstag. Dabei waren die beiden Attentäter gar keineSozialdemokraten: Der eine zählte zu den Anhängern desantisemitischen Hofpredigers Adolf Stoecker, der anderesympathisierte mit den Nationalliberalen. Aber darauf ach-tete in der Hysterie, die nach den Schüssen auf den KaiserOberhand gewann, kaum jemand; fast herrschte eine ArtPogromstimmung gegen die Sozialdemokraten. Bismarck,der sich vor der «Partei des Umsturzes» fürchtete, nutz-te das kühl kalkulierend aus. Und so wurde die Parteior-ganisation in den nächsten zwölf Jahren verboten, ebensodie Gewerkschaften; die sozialdemokratischen Zeitungenmussten ihr Erscheinen einstellen, und ein großer Teil derParteielite – Agitatoren, Journalisten und Organisatoren –kam unter Anklage, landete in Zuchthäusern, wurde aus-gewiesen oder zur Emigration gezwungen. Und stets beka-

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men sie das brandmarkende Verdikt von den «vaterlands-losen Gesellen» höhnisch hinterhergeschickt.

Nur wenige andere Phasen in der deutschen Geschich-te haben die Sozialdemokraten so nachdrücklich und dau-erhaft geprägt wie die Zeit unter dem Sozialistengesetz.Sie wurden verachtet, verfolgt und beleidigt, sie fühltensich gedemütigt – und das von allen gesellschaftlichen Kräf-ten. Anfangs hatten sich lediglich Nationalliberale und Kon-servative hinter die Bismarck’sche Verbots- und Unterdrü-ckungspolitik gestellt; später dann, als das Sozialistenge-setz verlängert werden musste, fand sie aber auch die Un-terstützung von Zentrumsabgeordneten und Linkslibera-len. Das wurde zum Urerlebnis der Sozialdemokraten imUmgang mit sozialen und politischen Gruppen: Seither ta-ten sie sich schwer mit bürgerlichen Bündnispartnern undmisstrauten prinzipiell der Charakterfestigkeit deutscherLiberaler. Seither teilten sie die Gesellschaft streng in Gutund Böse auf, in «wir und die anderen».

Von nun an herrschte in der Sozialdemokratie der mar-xistische Jargon vor. Natürlich wurden nicht alle sozial-demokratischen Arbeiter zu eifrigen und verständigen Le-sern des bekanntlich ziemlich sperrigen Marx’schen Werks;man las eher – und auch das gilt bloß für eine kleine Min-derheit – die popularisierten Fassungen von Friedrich En-gels oder Karl Kautsky. Nein, es waren Schlagwörter undeinzelne Begriffe aus dem Marx’schen Erklärungsarsenal,die damals die Runde machten. Lassalle hatte noch aufden Staat gesetzt, auch auf den preußischen und den Bis-marck’schen; aber diese Position hatte mittlerweile jedenRückhalt verloren. Der Staat galt den Sozialdemokratennun unzweifelhaft als Klassenstaat. Im Marx’schen Duktusbezeichnete man sich selbst als «Proletariat», die anderen,die Herrschenden, als «Bourgeoisie». Von Marx hatte manüberdies die Deutung übernommen, dass alle Geschichte ei-ne Geschichte von Klassenkämpfen sei, und die Gewissheit,

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dass aus ihnen die Proletarier als historische Gewinner her-vorgehen müssten. Die Arbeiterklasse würde am Ende dieBourgeoisie enteignen und eine ausbeutungsfreie Gesell-schaft der Gleichen einrichten, ohne soziale Not, ohne po-lizeiliche Repression, ohne großen Arbeitsdruck. So muss-te es kommen – schließlich hatte Karl Marx es prognosti-ziert. In den schwer erträglichen Jahren der Unterdrückungjedenfalls glaubten immer mehr sozialdemokratisch orien-tierte Arbeiter bereitwillig an diese Lehre.

Es war die Mischung aus Religionsersatz und Wissen-schaftsanspruch, die damals gerade die Elite der sozial-demokratischen Facharbeiter faszinierte. Viele von ihnenhatten sich soeben erst von der Kirche gelöst, aber damitnicht schon alle Heilsbedürfnisse hinter sich gelassen. Al-lerdings suchten sie nicht nach einer rein spirituellen Al-ternative, einem rein metaphysischen Ersatz für die aufge-gebene Kirchlichkeit. Die lernbegierigen Facharbeiter die-ser Zeit begeisterten sich vielmehr für die Naturwissen-schaften; sie lasen allerlei einschlägige Traktate und vor al-lem auch Charles Darwin. Dies ergänzte sich mit ihrem In-teresse an den popularisierten Formen des Marxismus, et-wa an den Broschüren des Parteitheoretikers Karl Kautsky.Denn hier, in den Schriften Kautskys, verband sich Heilsver-sprechen mit wissenschaftlichem Anspruch, war der Chi-liasmus gleichsam Naturgesetz. Die sozialdemokratischenArbeiter glaubten nicht einfach an das sozialistische End-ziel, sie wussten, dass es dazu kommen würde, weil es Folgeund Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung war. Die-ses Verständnis von Politik und Gesellschaft wurzelte tiefin der deutschen Sozialdemokratie und hielt sich dort nochganze acht Jahrzehnte – zum Guten wie zum Schlechten:Die Sozialdemokraten standen zueinander selbst in schwie-rigen Zeiten, denn sie vertrauten auf die letztlich segens-reiche «Entwicklung»; aber sie versteckten sich oft genug

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auch passiv und einfallslos hinter ihr, wo sie doch hättenvorpreschen, Einfluss nehmen und gestalten können.

Besonders Karl Kautsky (1854 – 1938) sorgte für die Verbrei-tung der Marx’schen Ideen in der deutschen Arbeiterbewe-gung. In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhundertsgalt er als «Cheftheoretiker» der Sozialdemokratie. Er liefer-te dem Parteiführer Bebel die entscheidenden theoretischenStichworte, und zusammen mit Eduard Bernstein verfasste erdas Erfurter Programm von 1891. Nach der Jahrhundertwendeließ sein Einfluss auf die Sozialdemokraten deutlich nach; indem Moment, wo diese zu einem politischen Faktor wurden,

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handeln und sogar regieren mussten, war mit seinem verstaub-ten Determinismus nicht mehr viel anzufangen.

Während der Zeit des Sozialistengesetzes aber stärkte undfestigte der optimistische marxistische Entwicklungsglau-be die Sozialdemokratie zweifellos; die Zukunftsgewissheitspendete Trost, verlieh Kraft und gab Zuversicht. Mit demMarxismus ließen sich politische Unterdrückung und so-ziale Not besser ertragen, und überhaupt empfand manihn als attraktives, anziehendes Denkgebäude. Am Ende je-denfalls war Bismarck gescheitert: Der Reichskanzler hat-te die Sozialdemokratie nicht zerstört, sondern größer ge-macht. Zum Ausgang des Sozialistengesetzes vereinten diesozialdemokratischen Kandidaten bei den Reichstagswah-len dreimal mehr Stimmen auf sich als in der Zeit des Er-lasses. Auch das prägte die Sozialdemokraten zutiefst: Siehatten gelitten, man hatte sie ausgegrenzt und isoliert, aberschließlich waren sie erfolgreich. So zog es sie noch überJahrzehnte – mitunter geradezu magnetisch – in die Paria-stellung. Die Sozialdemokraten liebten es geradezu, zu lei-den. Ihnen gefiel die Rolle des Ausgestoßenen, des Geäch-teten und Verfemten und dementsprechend die des Mär-tyrers, des Helden, der sich, aufrecht und anständig, demDruck der Herrschenden nicht beugt und auf diese Weiseüber alle Feinde siegt. Unter dem Sozialistengesetz schu-fen sich die Sozialdemokraten ihr Epos, ihre Legende, ausder sie immer dann zitierten, wenn sie in Bedrängnis gerie-ten. Daran klammerte sich 1933 auch Otto Wels, als er demErmächtigungsgesetz der Nationalsozialisten entgegentratund in der Kroll-Oper trotzig ausrief: «Das Sozialistenge-setz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch ausneuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratieneue Kraft schöpfen.»

Die bürgerlichen und feudalen Kräfte hatten die Sozial-demokratie unter dem Sozialistengesetz in die Isolation ge-trieben. Aber die marxistische Sozialdemokratie fand all-

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mählich Geschmack an dieser Isolation, ja verschärfte sienoch durch ihren exklusiven Missionsanspruch, durch ihreradikale Klassenkampf- und Revolutionsrhetorik. Ihre An-hänger grenzten sich nach Aufhebung des Sozialistengeset-zes sogar selbst und freiwillig ab, verließen beispielswei-se auch solche – und keineswegs wenigen – «bürgerlichen»Freizeit- und Bildungsvereine, die gegen sozialdemokrati-sche Arbeiter gar nichts hatten. Sie errichteten sich ihreeigene Welt, ihr separates Milieu, getragen von zahlreichenKultur-, Sport- und Geselligkeitsvereinen. Der Sozialismusin Deutschland wurde zum Milieu- und Vereinssozialismus,streng abgeschottet von der bürgerlichen Organisations-und Lebensform.

Insofern hat das Sozialistengesetz die Arbeiterbewegung,wenn man so will, in die Gegenkultur getrieben, sie stärkernach links gerückt, weg von Lassalle, hin zu Marx. Auf deranderen Seite haben die Jahre der Unterdrückung – para-doxerweise und natürlich unbeabsichtigt  – aber auch diemoderaten und reformistischen Grundströmungen inner-halb der deutschen Sozialdemokratie gefördert. Die autar-ke Welt des sozialdemokratischen Milieus etwa, die damalsentstand, radikalisierte nicht die Arbeiter, sondern dämpf-te eher ihren Aktionismus, ihre Militanz, ihr revolutionäresDraufgängertum. Die «Milieusozialisten» wurden mehr undmehr Vereinsmeier, richteten sich, nicht unzufrieden mitdem Alltag, den man darin hatte, in ihren Gesangs-, Wan-der- und Sportclubs ein.

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Das war nicht nur Spießbürgerlichkeit, sondern durchauseine imposante Eigenkultur, eine große Organisationsleis-tung der Arbeiter, die auch der Emanzipation diente. Im so-zialdemokratischen Bildungswesen beispielsweise lerntensie hinzu, was die staatlichen Volksschulen ihnen vorent-halten hatten. Aber das Milieu war keine Trainingsstätte,kein Katapult für die revolutionäre Tat. Vielmehr milderte

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es die Verbitterung der sozialdemokratischen Arbeiter, ih-re Wut auf den Staat und die Herrschenden. Über ihr Mi-lieu fanden sie einen festen Ort im Kaiserreich, nicht imZentrum des Systems, nicht anerkannt von den mittlerenund höheren Schichten, aber im Ganzen – vor allem nachder Zeit des Sozialistengesetzes – doch gesichert und ge-schützt. Sie mussten nicht im Untergrund leben und hattenkeinen blutigen Terror von oben zu befürchten. Finster ent-schlossene Revolutionäre waren die sozialdemokratischenVereinsmeier in Deutschland daher nicht. Sie hatten sicheine Heimat aufgebaut, ihre soziale und kulturelle Nischebewohnbar gemacht. Das alles setzten sie für unwägbarerevolutionäre Risiken nicht einfach aufs Spiel.

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Otto von Bismarck (1815 – 1898), Reichskanzler von 1871 bis1890. Als virtuosem Diplomaten und nüchternem Realpolitikerwaren ihm die großen weltanschaulichen Bewegungen seinerZeit mit ihren Glaubenskräften und visionären Zielsetzungen– der Katholizismus ebenso wie die sozialistische Arbeiterbe-wegung – fremd. Während er die Sozialdemokratie als Parteimit Ausnahmegesetzen und Polizeiaktionen drangsalierte, ver-suchte er zugleich, die Arbeiter durch Sozialreformen an denStaat zu binden. Illusionslos und freimütig gab er zu: «Wennes keine Sozialdemokratie gäbe und nicht eine Menge Leutesich vor ihr fürchteten, würden die mäßigen Fortschritte, die

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wir überhaupt in der Sozialreform bisher gemacht haben, auchnicht existieren, und insofern ist die Furcht vor der Sozialde-mokratie … ein ganz nützliches Element.»

Die Sozialdemokraten hatten also selbst unter dem Sozia-listengesetz mehr zu verlieren als nur ihre Ketten. Die zwölfJahre Bismarck’scher Repression sind eben nicht zu ver-gleichen mit den zwölf Jahren des nationalsozialistischenTerrorregimes. Im Kaiserreich waren die Sozialdemokra-ten als Individuen nicht völlig entrechtet; als Staatsbürgerstanden sie unter dem durchaus verlässlichen Schutz vonRecht und Verfassung und wurden physisch nicht wirklichbedroht. Ihre Partei war durch parlamentarischen Mehr-heitsbeschluss verboten, aber als Ersatz konnten sie rechtproblemlos ihre Geselligkeitsvereine gründen und pflegen.Und sie hatten Parlamentarier, denn im Kaiserreich wähl-te man Personen, nicht Parteien. Infolgedessen konntenSozialdemokraten als Einzelpersonen kandidieren, gewähltwerden und schließlich als Abgeordnete im Reichstag agie-ren. Ihre parlamentarischen Reden durften gedruckt undverbreitet werden. Damit war die Reichstagsfraktion derSozialdemokraten die einzige legale Instanz der sonst ver-botenen Partei; sie wurde zum Zentrum, zum Leitungsor-gan der deutschen Arbeiterbewegung.

Das prägte die Sozialdemokraten auf lange Zeit: Wahl-kämpfe, Wahlen, parlamentarische Arbeit, Spezialwissenund Fachkompetenz – das hatte in der Partei höhere Be-deutung als der Gedanke an die revolutionäre Massenak-tion oder gar die Spekulation auf den Barrikadenkampf.Der Primat der Parlamentsfraktion trug so ebenfalls zurEntradikalisierung der Sozialdemokratie bei. Überhauptdarf man sich die sozialdemokratische Reichstagsgruppenicht als Ansammlung feuriger Volkstribunen oder gardeutscher Danton-Gestalten vorstellen. Als Parlamentariermusste man sein finanzielles Auskommen haben, denn Diä-ten gab es erst nach der Jahrhundertwende. Gewerbliche

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Arbeiter, wirkliche Proletarier also, hatten deshalb keineChance, zumal ihnen als sozialdemokratischen Kandidatenseitens ihrer Betriebe die Entlassung drohte. So tummel-ten sich in den sozialdemokratischen ReichstagsfraktionenParteischriftsteller, aber auch Tabakhändler oder Gastwir-te. Friedrich Engels grauste es bei diesem Anblick: «Wassitzen in der Fraktion für Spießer und kommen immer wie-der hinein!»

Auch die Sozialgesetzgebung, das Bismarck’sche Zu-ckerbrot, das der Reichskanzler nach den Peitschenhiebendes Sozialistengesetzes verteilte, förderte die reformisti-schen Mentalitäten. Natürlich stimmten die Sozialdemo-kraten zunächst gegen die Sozialgesetze – und doch nutz-ten sie vom ersten Moment an die Möglichkeiten und Insti-tutionen des neuen Sozialversicherungswesens. Das bliebebenfalls lange ein Merkmal sozialdemokratischen Verhal-tens: anfangs die große fundamentaloppositionelle Geste,das pathetische «Nein!», dann irgendwann die pragmati-sche Annäherung, schließlich das stillschweigende «Ja».

Mit seiner Sozialgesetzgebung hatte Bismarck die Ar-beiter von den Sozialdemokraten wegziehen wollen, verge-bens. Vor allem die Krankenversicherungen trugen – entge-gen Bismarcks Absicht – zur Integration der Sozialdemokra-ten bei. Etliche tausend sozialdemokratische Aktivisten ka-men so in die Funktionsräume des Sozialsystems, besetztenbesonders in den Ortskrankenkassen die Verwaltungsgre-mien, Aufsichtsräte und Vorstände – häufig genug in haupt-amtlichen Positionen. Das ließ in der Arbeiterbewegung ei-nen Typus von Funktionär entstehen, den es auch in den Ge-werkschaften gab, der sich an der sozialen Wirklichkeit ori-entierte, die Bedingungen der Gegenwart verändern wollteund tatsächlich einiges an Fortschritten und Verbesserun-gen erreichte. Dieser Funktionärstypus lebte in den Struk-turen der Gesellschaft, verteidigte sie schon in Teilen, neig-te jedenfalls nicht mehr zu revolutionären Visionen, brauch-

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te keine kühnen Heilsversprechen und strebte nach keinemFundamentalwandel. Mithin trieb er die Vergewerkschaf-tung, die Sozialverkassung der Arbeiterbewegung voran.

Demonstration zum 1. Mai 1890 in Dresden. Im Jahr zuvor hat-te der Gründungskongress der Sozialistischen Internationalein Paris beschlossen, «eine große internationale Manifestationzu organisieren, und zwar dergestalt, dass gleichzeitig in al-len Ländern und in allen Städten an einem bestimmten Tagedie Arbeiter an die öffentlichen Gewalten die Forderung rich-ten, den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen». So kames 1890 in mehreren Staaten zu Demonstrationen und Streiks,auf die die Arbeitgeber vielfach mit Aussperrung reagierten.Auch 1919 scheiterten Sozialdemokraten und Gewerkschaftenmit ihrem Vorhaben, den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag zumachen. Zum arbeitsfreien «Tag der nationalen Arbeit» wurdeer erst 1933 unter den Nationalsozialisten.

Und doch blieb die Utopie von der befreiten Gesellschaftwichtig für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Ge-wiss: Pragmatische Grundhaltungen setzten sich mehr undmehr durch, aber das führte keineswegs zu einem reformis-tischen Selbstverständnis, zu einem selbstbewussten refor-mistischen Ethos. Dafür stieß der praktische Reformismus

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zu rasch an seine Grenzen; denn für die Sozialdemokratengab es im Kaiserreich im Grunde keine Bündnispartner fürdie Reform der Gesellschaft  – nicht in der Reichspolitik,aber auch nicht in den Kommunen. In den Gemeinden dermeisten Reichsländer herrschte ein strikt plutokratischesZensuswahlrecht; die bürgerlichen Parteien standen hier– und das noch bis in das erste Jahrzehnt der Bundesrepu-blik hinein  – den Sozialdemokraten oft als Einheitsblock,als Kartell gegenüber. Insofern war ein reformistisches Pro-gramm, wie es Eduard Bernstein zum Ende des 19. Jahrhun-derts entworfen hatte, nicht sonderlich attraktiv.

Bernstein galt in späteren Jahrzehnten als Pionier undVater einer realpolitischen, reformerischen, parlamenta-risch orientierten Partei der gemäßigten Linken. Wie et-liche andere sozialistische Vordenker jener Aufstiegsjahr-zehnte der Arbeiterbewegung war auch er jüdischer Her-kunft. Aber Bernstein entstammte nicht, wie Karl Marx,dem Bildungsbürgertum, kam erst recht nicht, wie Ferdi-nand Lassalle, aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie.Die Verhältnisse in der Familie Bernstein waren vielmehrärmlich und eng. Der Vater verdiente sein Geld als Lokomo-tivführer und hatte die beachtliche Zahl von 16 Kindermün-dern zu stopfen. So fehlte das Geld, um dem begabten SohnEduard den gymnasialen Abschluss zu ermöglichen. DerSohn des Eisenbahners hatte also – wie allerdings nicht we-nige im Sozialismus des Jahrhunderts zwischen 1860 und1960 – sein Wissen als Autodidakt zu sammeln.

Insofern war Bernsteins Biographie nicht untypisch fürdie Sozialdemokratie jener Ära. Diese frühen Jahrzehntewaren wohl die glücklichsten in der Geschichte der Arbei-terbewegung. Die Partei wuchs und wuchs; die Zahl ihrerWähler und Reichstagsmandate mehrte sich stetig. Manstand in der Opposition, durfte sich also –  durch keiner-lei Regierungszwänge in den eigenen Idealen kompromit-tiert – radikal, prinzipienstark und visionär gebärden. Auch

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Bernstein gehörte zunächst zu den gläubigen Marxisten,mehr noch: Er avancierte zu einem geistigen Protagonistendieser Denkrichtung. Den Zugang zum Marxismus hattenihm die vergleichsweise populär verfassten Schriften Fried-rich Engels’ – des engsten Freundes und Kampfgefährtenvon Karl Marx – verschafft. Und Engels blieb rund 15 Jah-re wichtig für Bernstein. Solange Engels lebte, traute sichBernstein nicht, seine Bedenken und wachsenden Zweifelgegenüber dem marxistischen Paradigma offen auszuspre-chen.

Stattdessen wuchs Bernstein im Laufe der 1880er Jah-re auf dem Felde der marxistischen Theorie, nebst seinemdamaligen Freund Karl Kautsky, in die Rolle der großenAutorität. Beide verfassten gemeinsam das später partei-historisch berühmt gewordene «Erfurter Programm» derdeutschen Sozialdemokraten. Und beide bezahlten ihre so-zialistische Schriftstellerei mit Jahren der Verbannung ausDeutschland. Eduard Bernstein traf es besonders hart:Über zwanzig Jahre musste er im Exil verbringen, da er inseiner deutschen Heimat steckbrieflich zur Fahndung aus-geschrieben war. Anfangs redigierte Bernstein das illegaleParteiorgan Der Sozialdemokrat von der Schweiz aus; dannwurde er, unter dem Druck der deutschen Behörden, auchvon dort ausgewiesen. Zwischen 1888 und 1901 lebte er inder Londoner Emigration. Dort kam er in engen Kontakt mitFriedrich Engels, der Bernsteins Fleiß und Verlässlichkeitzu schätzen lernte und ihn schließlich zum Verwalter seinesNachlasses – darunter auch der umfangreiche Briefwechselmit Karl Marx – bestimmte.

Dabei war Bernstein, als Friedrich Engels 1895 ver-schied, kein verlässlicher Apostel des Marxismus mehr.Auch Engels, dem Bernstein seine zunehmend häretischenAnsichten eher verschwieg, hatte das gespürt und ihm zu-weilen vorgeworfen, mehr und mehr wie eine «englischeKrämerseele» zu klingen. Tatsächlich hatte sich Bernsteins

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Position seit seiner Ankunft in London schleichend verän-dert. Das mochte darauf zurückzuführen sein, dass er einundoktrinärer Kopf war, den eine neue Empirie zu neuemDenken inspirierte. Das konnte aber auch – wie nicht ganzwenige aus seinem Bekanntenkreis erzählten – mit Bern-steins leichter Beeinflussbarkeit zusammenhängen. Jeden-falls: Schon gleich nach seiner Ankunft in der englischenHauptstadt geriet Bernstein in den Bann der «Fabian Socie-ty», einer kleinen, elitären Gruppe von Intellektuellen – En-gels nannte sie abfällig: die «jebildeten Sozialisten» – , diean Programmen und Konzeptionen einer sozialen Reform-politik bastelten. Die prominenten Figuren dieser Gruppewaren das Ehepaar Beatrice und Sidney Webb sowie derDramatiker und spätere Literaturnobelpreisträger GeorgeBernard Shaw. Sidney Webb kreierte für die Gruppe die Ma-xime des «Schritt für Schritt», also eine graduelle Reform-strategie anstelle des revolutionären Hammerschlags. Unddieses Prinzip der schrittweisen Überwindung des Kapita-lismus wurde auch für die nächsten Jahrzehnte zum Credodes Eduard Bernstein.

An die Öffentlichkeit ging Bernstein damit allerdingserst nach dem Tod seines langjährigen Mentors FriedrichEngels. Dann aber hatte er den Mut zu einer Generalkri-tik an den zentralen Deutungen der marxistischen Theorie.Zumindest in den populären Schulungsschriften der Par-tei ging die marxistische Sozialdemokratie von einer steti-gen Verelendung der Arbeiterklasse aus, vom unvermeid-lichen Niedergang der Mittelschichten, von einer dualenPolarisierung zwischen den Millionenmassen an Proletari-ern und der kleinen Ausbeuterschicht der Großbourgeoisie.Das alles, so die Prognose der Marxisten, würde von einemBündel sich kumulativ verschärfender Krisen begleitet sein,schließlich in einen großen «Kladderadatsch» der bürgerli-chen Gesellschaft münden, wodurch die Pforte für die neuesozialistische Gesellschaft aufgestoßen wäre.

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Gegen all diese Interpretationen und Zukunftsprogno-sen brachte Bernstein in den Jahren 1896 bis 1898 in ei-ner Artikelserie für das sozialdemokratische TheorieorganNeue Zeit seine Einwände vor. Er hatte über die Jahre mitgroßem Fleiß statistisches Material gesammelt, mit dessenHilfe er nun zu beweisen versuchte, dass das materielle Le-bensniveau der Arbeiter gestiegen und nicht zurückgegan-gen war, dass die Mittelschichten sich wohl wandelten, aberkeineswegs verschwanden, dass die Anpassungsfähigkeitdes Kapitalismus bemerkenswerter war als seine Krisen-dynamik, dass ein jäher Zusammenbruch des Kapitalismusnicht zu erwarten und auch nicht wünschenswert sei. Undschließlich stellte er die historisch-moralische Überlegen-heit des «revolutionären Subjekts», der Arbeiterklasse also,ebenfalls in Frage. Nüchtern konstatierte er, dass es zwardurchaus revolutionäre, tapfere und human eingestellte Ar-beiter gebe, aber eben leider auch solche, die als rundumreaktionäre, gänzlich feige und nicht selten gar bestialischeGestalten die Welt schlechter statt besser machten.

Seltsamerweise hielt sich die Empörung über derlei Ket-zereien in den ersten beiden Jahren in Grenzen. Der Ent-rüstungssturm brach erst im Jahr 1898 los, als Bernsteineinen Satz schrieb, der bis heute in der Linken berühmt,für viele berüchtigt ist: «Ich gestehe es offen, ich habe fürdas, was man gemeinhin unter ‹Endziel des Sozialismus›versteht, außerordentlich wenig Sinn. Dieses Ziel, was im-mer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.» Jetztbebte die Partei, jetzt blieb die Debatte keineswegs auf In-tellektuelle beschränkt, jetzt folgte für ein halbes Jahrzehnteine erbitterte Auseinandersetzung, die seither den histo-rischen Namen «Revisionismusstreit» trägt.

In diesem Disput stand Bernstein von Beginn an auf ver-lorenem Posten. Der Marxismus spendete in jenen Jahrenden Arbeitern Trost und Hoffnung auf eine erlösende Zu-kunft. Bernstein dagegen stand ihnen für pedantische Be-

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denkenträgerei, für ein fades Linsengericht zäher Reform-schritte. Leicht jedenfalls hatte Bernstein es nicht. Im Lau-fe der Kontroverse verlor er seinen langjährigen bestenFreund, Karl Kautsky. Etliche Monate musste er überdiesden Parteiausschluss, also den Bann der wärmenden sozia-listischen Familie, fürchten.

Denn es ging hart zur Sache in der Sozialdemokratie inden fünf Jahren zwischen 1898 und 1903. Die Sprache wur-de rüder, die Toleranz nahm ab, das Autodafé breitete sichaus. Damals, in den Zeiten des Revisionismusstreits, bautesich der Jargon der Dogmatik und Rechthaberei auf, wuchsdie Hemmungslosigkeit, den Andersdenkenden als Renega-ten, Konvertiten, ja Verräter «an der Sache» zu brandmar-ken und politisch zu vernichten. Der unversöhnliche Streitim Sozialismus der Zwischenkriegszeit, auch die Deforma-tionen und Pervertierungen in den folgenden staatssozialis-tischen Episoden: Hier hatten sie ihren Ursprung. Schlimmwar nicht zuletzt Rosa Luxemburg, die in libertären Krei-sen zuweilen seltsamerweise noch immer als «freiheitli-che Sozialistin» gilt und für ihre poetische Sprache geprie-sen wird. In der Auseinandersetzung mit Bernstein griff sienicht zu lyrischen Bildern. In harten, unerbittlichen Sätzenforderte sie den Ausschluss Bernsteins aus der Partei, über-zog ihn mit galligen Gehässigkeiten und spottete über seinPlädoyer für den Weg der Reformen in einen demokrati-schen Parlamentarismus. In Luxemburgs Weltbild existier-te nur die schroffe Alternative des «Alles oder nichts»; fürdas Wesen von Reformen, Kompromissen, Bündnissen hat-te sie keinerlei Sinn.

Insofern war Bernstein in der Tat weit moderner, rea-listischer als seine Kontrahenten im Revisionismusstreit.Doch eine Chance, aus diesem Konflikt als Sieger hervor-zugehen, besaß er nicht. Mit großen Mehrheiten wurde dieBernstein’sche Position von den Parteitagen der Sozialde-mokraten niedergestimmt. Das geschah zunächst in Abwe-

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senheit Bernsteins, da diesem in Deutschland ja das Ge-fängnis drohte. Doch der neue Reichskanzler von Bülowhob 1901 den Steckbrief auf, da er hoffte, dass Bernsteinnach seiner Rückkehr Anhänger sammeln und die sozialde-mokratische Partei aufmischen würde.

Indes: Zum charismatischen Religionsstifter, der gläu-bige Jünger und folgsame Schüler um sich scharte, taug-te Bernstein nie. Als er nach über zwanzig Jahren der Ver-bannung wieder auf einem Parteitag auftauchte, waren ge-rade die Sozialdemokraten des rechten Flügels –  die aufeinen neuen Leitwolf gehofft hatten – schwer enttäuscht.Sie erlebten einen denkbar unpraktischen Menschen, derüber die Gabe der Rede einfach nicht verfügte. Bernsteinsprach zögerlich, unsicher, in abgehackten, brüchigen Sät-zen. Er gehörte in die Schreibstube, nicht auf die Bühnevon Volksversammlungen. Aber auch mit seinen Schriften– ob Bücher, Aufsätze oder Zeitungsartikel – erreichte undbewegte er die Massen nicht. Dafür war sein Stil zu spröde,zu langatmig, zu oberlehrerhaft. Er hatte die Defizite deroffiziellen Parteidoktrin erkannt, das ja. Er hatte mit sei-nen englischen Erfahrungen deutsche Einseitigkeiten kor-rigiert, auch das. Er hatte früher als die meisten anderen imSozialismus seiner Generation begriffen, dass in komplexenmodernen Gesellschaften allein die systematische Reform,nicht der revolutionäre Frontalangriff realistisch sein konn-te; dies blieb sein Verdienst. Aber eine kohärente Strategie,die in seiner Gegenwart die Sozialdemokraten überzeugteund mitriss, hatte er nicht konzipieren können. Zum Führerder praktizierenden Reformisten in seiner Partei wurde derRevisionist der Schrift nicht.

In jenen Jahrzehnten wärmte der Marxismus des offizi-ellen Parteitheoretikers Karl Kautsky und des ParteiführersAugust Bebel mehr als der reformistische Empirismus vonBernstein. Die Aussicht auf eine herrschaftsfreie Zukunfts-gesellschaft schien verlockender als der zähflüssige, sto-

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ckende Reformprozess im Obrigkeitsstaat. Doch war derMarxismus der wilhelminischen Sozialdemokratie ein Radi-kalismus der Phrase, der Sonntagsreden, der gemütvollenErbauung, nicht der militanten Aktion. Als marxistischerSozialdemokrat durfte man seelenruhig auf den –  selbst-verständlich gesetzmäßigen – Zusammenbruch der Gesell-schaft warten, musste konzeptionell und strategisch nichtsdafür tun. Für einen aktiven Radikalismus der Massen, densich etwa Rosa Luxemburg herbeiwünschte, fehlten einfachdie blanke Wut, der offene Hass in der sozialdemokrati-schen Arbeiterschaft. Denn schließlich hatte sich die öko-nomische und soziale Lage der Arbeiter im Kaiserreich kei-neswegs verschlechtert, im Gegenteil: Die Reallöhne wa-ren sukzessive gestiegen; die Arbeitszeit hatte sich seit derFrühindustrialisierung erheblich reduziert, von etwa sech-zehn auf zehn Stunden täglich; und vom Schicksal anhal-tender Massenarbeitslosigkeit blieb man verschont.

Rosa Luxemburg (1870 – 1919) auf einer Kundgebung in Stutt-gart, 1907. Die spätere Mitbegründerin des Spartakusbundesund der KPD war eine große Rednerin, leidenschaftlich, tempe-ramentvoll, scharfsinnig. Sie träumte vom revolutionären Auf-stand des Proletariats, von Barrikadenkämpfen und internatio-

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nalen Massenstreiks. Der Parlamentarismus war in ihren Au-gen nicht mehr als ein «Hühnerstall» voll «legalistischem Ge-gacker». Rosa Luxemburg war eine der letzten großen revolu-tionären Romantiker des 19. Jahrhunderts; von den kalten Des-poten des staatssozialistischen Totalitarismus unterschied siesich ebenso wie von den nüchternen Demokraten der westli-chen Verfassungssysteme im 20. Jahrhundert.

Kurzum: Die sozialdemokratischen Arbeiter waren im Wil-helminismus zwar kulturell und politisch stigmatisiert, abersozial und ökonomisch erlebten sie beachtliche Fortschrit-te. So wohnten denn auch zwei Seelen in der Brust der deut-schen Arbeiterbewegung: Die eine war ein bisschen radi-kal, die andere ein bisschen reformistisch. Ebendas spie-gelte sich im berühmten Erfurter Programm von 1891. Dar-in gab es einleitend einen allgemeinen Teil, der gehorsammarxistisch geschrieben war und ein düsteres Krisenszena-rio des Kapitalismus entwarf, aber auch den alles entschei-denden Königsweg aus der sonst unabwendbaren Misereofferierte: die Verwandlung des kapitalistischen Privatgutsin gesellschaftliches Eigentum. Dem folgte dann allerdingsein Abschnitt mit vielen konkreten Forderungen zur Ver-besserung der Verhältnisse, die jedoch in der bürgerlichenGesellschaft eigentlich gar nicht erfüllt werden konnten,wenn man dem anfangs gezeichneten apodiktischen Kri-sendrama Glauben schenkte. Zumindest gab es zwischenden beiden Programmteilen keine Vermittlung, kein strate-gisches Verbindungsstück; sie standen jeweils für sich. Eswar ein gespaltenes Programm, das zwei Wirklichkeiten be-schrieb und zwei Perspektiven wies; die doppelte Seelenla-ge der Arbeiterbewegung, die widersprüchliche Erfahrungder Arbeiterschaft, ihre reformistischen Alltagsmentalitä-ten und ihre revolutionären Zukunftshoffnungen wurden zueinem Paket verschnürt.

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Auszug aus dem Erfurter Programm von 1891. Den theoreti-schen Teil hatte Karl Kautsky verfasst, die eher praktisch-kon-kreten Passagen stammten von Eduard Bernstein. Später wa-ren beide dann Gegner im sogenannten Revisionismusstreit;Kautsky hütete die marxistischen Glaubenssätze, Bernsteinwollte sie revidieren. Schon im Erfurter Programm war dieseSpannung erkennbar: Der eine Teil erwartete alles Heil vonder Revolution, der andere versprach sich viel auch von derReform. Aber so war die Haltung der deutschen Sozialdemo-kraten im Kaiserreich: ein bisschen revolutionär, ein bisschenreformistisch.

Und damit schien die Sozialdemokratie auch bestens zu fah-ren, denn mit ihr ging es stetig aufwärts: Zu Beginn des Kai-serreichs hatten die Sozialdemokraten bei den Reichstags-wahlen lediglich 3,2 Prozent der Stimmen erhalten; 1912dann, bei den letzten nationalen Wahlen im Wilhelminis-mus, erzielte die Partei immerhin 34,8 Prozent und war diestärkste politische Kraft in Deutschland – die Liberalen ka-men zusammen auf 25,9, die Konservativen auf 12,2 unddas katholische Zentrum auf 16,4 Prozent. Auch die Mitglie-derrekrutierung verlief nach der Jahrhundertwende erfreu-lich. Um 1900 hatte die Partei nicht mehr als 200 000 Mit-glieder, 1913/14 lag die Zahl dann bei nahezu einer Million.

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Überhaupt waren die Jahre zwischen 1900 und 1914 orga-nisatorisch entscheidend für die deutsche Sozialdemokra-tie. Erst jetzt wandelte sie sich vom Wahlverein zur schlag-kräftigen Massenpartei: Das Netz der Kultur- und Umfeld-organisationen war dichter als je zuvor, der Ausbau desParteiapparats weit vorangeschritten. Nachdem sich auf-grund eines neuen Reichsvereinsgesetzes von 1908 Frau-en in ganz Deutschland politisch organisieren durften, stiegdie Zahl sozialdemokratisch aktiver Frauen von 11 000 imJahr 1907 auf 82 000 im Jahr 1910. Ideologisch und orga-nisatorische Anführerin der proletarischen Frauenzusam-menschlüsse war die frühere Lehrerin Clara Zetkin, eineRepräsentantin des radikal linken Flügels ihrer Partei. Sieachtete streng auf eine – wie sie bevorzugt zu sagen und zuschreiben pflegte – «reinliche Scheidung» von allen bürger-lichen Frauenrechtsinitiativen, richtete ihre Vereinigungganz auf den primären «Kernkonflikt», den Antagonismusvon Kapital und Arbeit, den Klassenkampf von Proletari-at und Bourgeoisie, aus. Die organsierten sozialdemokrati-schen Frauen, als Seite ihres Geschlechts in der proletari-schen Gesamtklasse, hatten sich für den politischen Befrei-ungskampf als unabdingbare Voraussetzung jeder Emanzi-pation und Befreiung zu schulen, für ihre Rolle und Missionim harten Alltag sozialistischer Überzeugungsarbeit diszi-pliniert zu erziehen. Dieser strikte Bildungsauftrag galt ge-nerell für die Sozialdemokratie jener Jahre. Die Partei hat-te ihre – 1906 in Berlin eröffnete – eigene zentrale Partei-schule und gab rund siebzig Zeitungen heraus. Dem Zen-tralbildungsausschuss der Sozialdemokratie gehörten 364lokale Einrichtungen an, deren Bildungskurse im Jahr 1913insgesamt 44 146 Teilnehmer erfassten. Zudem vollzog sichin der Parteielite ein einschneidender Generationswechsel:Der Typus Ebert, in den 1870er Jahren geboren, kam nachoben und wurde allmählich wichtiger als der Typus Bebel

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aus der 1840er-Kohorte. Gewissermaßen löste der Organi-sator und Sekretär den Agitator und Tribun ab.

Der Mann der Wachstums- und Heroenzeit der Sozialde-mokratie war August Bebel gewesen; unter ihm wurde dieArbeiterbewegung in Deutschland groß. Mit zwanzig Jah-ren zählte er schon zu den ersten Männern der Arbeiterbil-dungsbewegung, mit siebenundzwanzig saß er im Reichs-tag. Damals war ein schneller Aufstieg junger Arbeiter inden Organisationen der eigenen Klasse noch leicht mög-lich. Natürlich wartete auf sie dann das Märtyrertum: Aus-weisung und Gefängnis. Doch das verschaffte ihnen auchRuhm. Bebel verbrachte rund siebenundfünfzig Monate sei-nes Lebens in Strafanstalten, was für ihn nicht nur ein Un-glück war. Der von seiner Konstitution her eher schwächli-che Sozialistenführer erholte sich hier meist recht gut vonden Strapazen der Politik, und vor allem konnte er Unmen-gen von Büchern lesen. Der Freiheitsentzug war für ihn ge-wiss eine Schmach und Belastung, aber er bedeutete auchRegeneration und Bildung. Das Gefängnis machte Bebelzum Märtyrer und Schriftsteller und festigte insofern seineFührungsposition in der Sozialdemokratie.

Der andere Grund für Bebels überragende politischeStellung war seine rednerische Kraft. Der Sozialismus be-fand sich schließlich noch in seiner agitatorischen Phase,der Rhetor war wichtiger als der Organisator. Und Bebelwar ein charismatischer Redner, voller Temperament undSuggestivkraft. Er sprach durchaus herrisch, apodiktisch,duldete keinen Widerspruch. Doch das stieß die Arbeiternicht ab; sie liebten ihn, gerade weil er den Zweifel ver-bannte, wenn er von der Siegesgewissheit des Sozialismussprach. Für viele Arbeiter war er eine Art Heiland, zumin-dest aber ein Prophet der neuen, der befreiten Gesellschaft.In sächsischen Arbeiterwohnungen ersetzte man im letztenDrittel des 19. Jahrhunderts das Luther-Bild vielfach durchein Porträt des deutschen Sozialistenführers. Später zier-

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ten Bebel-Konterfeis sogar Bierkrüge und Taschenmesser,und oft wurde er auch «Kaiser der deutschen Arbeiter» ge-nannt.

Wilhelm Liebknecht (1826 – 1900) und August Bebel (1840 – 1913) im Hochverratsprozess vor Gericht in Leipzig, März1872. Die beiden Angeklagten wurden wegen ihrer Opposi-tion gegen den Deutsch-Französischen Krieg zu zwei JahrenFestungshaft verurteilt. Bebel musste in seinem Leben insge-samt siebenundfünfzig Monate in Gefängnissen und Zuchthäu-sern verbringen. Auch deshalb wurde er zum Märtyrer undHelden der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Die Haftnutzte er für ausgiebige Lektüre, weshalb er das Gefängnisauch «Universität der Arbeiter» nannte. Freimütig gestand derschmächtige, von seinen langen Vortragsreisen erschöpfte Be-bel kurz vor seinem Tod: «Ich würde wohl zugrunde gegangensein, wenn sie mich nicht öfter zur rechten Zeit eingelocht hät-ten.»

Zu dieser Zeit hatte die Arbeiterbewegung noch etwas Re-ligiöses, war sie noch Stätte von Kult und Vision. Bebel warzwar nicht ihr großer Schriftgelehrter, aber doch ihr ers-ter Künder und Propagandist. Den Zukunftsstaat konnte erbegeisternd beschreiben und in den schönsten Farben aus-

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malen, so auch in seinem Buch «Die Frau und der Sozialis-mus», das bis zu seinem Tode 1913 in 53 Auflagen erschien.Keine andere sozialistische Schrift hat die europäischen Ar-beiter so sehr beeinflusst wie diese. In ihr konnte man le-sen, wie paradiesisch es in der sozialistischen Zukunftsge-sellschaft zugehen würde: Man arbeitete dort nicht mehrals drei Stunden täglich; es gab keine Verbrecher und auchkeine Polizei; der Staat regelte alles im Guten. Bebels Buchwar ein Best- und Longseller, der ihn zu einem wohlhaben-den Mann machte. Der Arbeiterführer konnte sich sogar ei-ne große Villa in der Schweiz leisten, und die Arbeiter nah-men ihm das nicht übel, etikettierten ihn nicht als «Bon-zen».

Denn Bebel war ein ehrlicher Mann, der an das glaub-te, was er sagte. Er sehnte sich wirklich nach der Revoluti-on. Dabei war er im Alltag eher ein pragmatischer Mensch,sehr geschäftstüchtig, in politischen Dingen auch taktischäußerst beweglich, durchaus kein Dogmatiker und Prinzi-pienreiter. Doch es fehlte das innere Band zwischen demrevolutionären Chiliasmus und der pragmatischen Wendig-keit: Er hatte kein mittelfristiges Reformkonzept, keinenPlan für die strukturelle Transformation der Gesellschaft;für ihn gab es nur das Hier und Jetzt sowie die weite, revo-lutionäre Zukunft. Als er 1910 seinen siebzigsten Geburts-tag feierte, gab Bebel seinen Gästen und Gratulanten sei-nen innigsten Wunsch preis: «Ich hoffe den Tag noch zuerleben, an dem ich Euch die Sturmfahnen der Revolutionvorantragen werde.» Das war nicht einfach aus feierlichemAnlass so dahingesagt. Bebel hoffte das tatsächlich. Als erdann drei Jahre später starb, da endete mit ihm auch dasmessianische Zeitalter der deutschen Sozialdemokratie.

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Bebel war eher klein von Gestalt, doch er besaß viel Energie,konnte rabiat werden und autoritär sein. Er hoffte auf die Re-volution des Proletariats und den Zusammenbruch der bürger-lichen Gesellschaft, aber zugleich war er ein geschickter Takti-ker, listig und pragmatisch. Die sozialdemokratischen Arbeiterverehrten ihn wie einen Kaiser, sein Porträt hing in ihren Stu-ben, und seine Ansprachen waren für viele wie eine Verkündi-gung. Sein Buch «Die Frau und der Sozialismus» (1883) wur-de zum Klassiker der sozialistischen Bewegung; es machte ihn,

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der Geschäftstüchtigkeit nicht verächtlich fand, zusammen mitanderen Einkommensquellen zu einem wohlhabenden Mann.

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