Leseprobe aus: Péter Esterházy Harmonia Caelestis · zeichnet, und der Gesamtheit der »Harmonia...

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© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2017

Leseprobe aus:

Péter Esterházy Harmonia Caelestis

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PÉTER ESTERHÁZY

HARMONIACÆLESTIS

Aus dem Ungar i s chenvon Teréz i a Mora

Berlin Verlag Taschenbuch

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PÉTER ESTERHÁZY

Aus dem Ungarischen von Terézia Mora

Hanser Berlin

PÉTER ESTERHÁZY

HARMONIACÆLESTIS

Aus dem Ungar i s chenvon Teréz i a Mora

Berlin Verlag Taschenbuch

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Die ungarische Originalausgabe erschien 2000unter dem Titel Harmonia Cælestis bei Magvető, Budapest.

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ISBN 978-3-446-25587-6© Péter Esterházy

Alle Rechte der deutschen Ausgabe© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2017

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München,nach einem Entwurf von Gitta Esterházy

Druck und Bindung: CPI books, LeckPrinted in Germany

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E r s t e s B u c h

N U M E R I E R T E S ÄT Z EA U S D E M L E B E N

D E R FA M I L I E E S TE R H Á Z Y

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»Es gibt wenig Menschen, die sich mit dem Nächstvergangenen zu be-schäftigen wissen. Entweder das Gegenwärtige hält uns mit Gewaltan sich, oder wir verlieren uns in die Vergangenheit und suchen dasvöllig Verlorene, wie es nur möglich sein will, wieder hervorzurufenund herzustellen. Selbst in großen und reichen Familien, die ihrenVorfahren vieles schuldig sind, pf legt es so zu gehen, daß man desGroßvaters mehr als des Vaters gedenkt.«

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E s ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nichtkennt.

E inen Text mit einem martialischen barocken Magnaten zubeginnen: Das ist gut: Da flattern und schmettern einem nur

so die Schmetterlinge im Bauch, die Personalcomputer grüßeneinen im voraus, und der Koch, denn warum sollte man (aberwer?) keinen Koch haben, kredenzt als Überraschung paniertenLämmerschwanz, was dem Kalbsfuß ähnlich ist, nur noch wohl-schmeckender, weil zitternder, fragiler: Mein Vater, dieser mar-tialische barocke Magnat, der oft die Gelegenheit und die Pflichthatte, seinen Blick zu Kaiser Leopold emporzuheben, hob seinenBlick zu Kaiser Leopold empor, gab sich eine ernsthafte Miene,obwohl sein glitzerndes, blinzelndes Auge ihn, wie immer, ver-riet, und sprach also: Majestät, es ist elend schwer zu lügen, wennman die Wahrheit nicht kennt, und damit schwang er sich auf sei-nen Rappen Grünspan und ritt in der einfühlsamen Landschafts-beschreibung aus dem siebzehnten Jahrhundert davon.M ein Vater, ich glaube, mein Vater war es, der mit der

Palette unterm Mantel ins Museum ging, sich zurück-schlich, um die eigenen Bilder, die schon dort hingen, zu korri-gieren, oder zumindest Verbesserungen an ihnen vorzunehmen.M ir schwant, zerbrach sich mein Vater lange und vergeb-

lich den Kopf, die heiligsten Dinge sind doch die, an diewir uns nicht erinnern.

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M ein Vater war eine der vielseitigsten Persönlichkeiten derungarischen Geschichte und Kultur des 17. Jahrhunderts.

Am Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erlangte er den Titeldes Palatins und den Rang eines Reichsfürsten. Das Schloß inEisenstadt verwandelte er in eine prunkvolle Residenz, ließ zahl-reiche Kirchen erbauen, an seinem Hof beschäftigte er Kunst-maler und Bildhauer. Mehrere Familienmitglieder lernten auchdie Handhabung des einen oder anderen Musikinstruments; meinVater »prügelte« seine Lieblingsweisen aus dem Virginal heraus,Fürst Pál Antal spielte gleich mehrere Instrumente (manchenQuellen zufolge Geige, Flöte und Laute, anderen zufolge Geigeund Cello), und allgemein bekannt ist auch, daß Haydns Baryton-werke im Auftrage des Fürsten Miklós des Prachtliebenden ent-standen, der das Instrument liebte. Mein Vater schrieb mehrereBände Gedichte – welche zumeist den Einfluß Miklós Zrínyiszeigen – und gab religiöse Werke sowie Gebetsammlungen her-aus. Im Jahre 1711 erschien in Wien seine Sammlung sakralerGesänge unter dem Titel »Harmonia Cælestis«. Infolgedessenregistrierte die ungarische Musikgeschichte meinen Vater bisdato auch als hervorragenden Komponisten. Neueste Forschun-gen haben allerdings ans Licht gebracht, daß diese Bezeichnungim Zusammenhang mit ihm nur in einem begrenzten Sinneanwendbar ist. Nicht nur, weil ein Großteil der in der Sammlungerhaltenen Melodien erwiesenermaßen nicht von ihm stammt(schließlich verwendeten die meisten zeitgenössischen Kompo-nisten fremde Melodien), sondern weil vermutlich auch die Be-arbeitung der Melodien bzw. die Komposition der Stücke nichtvon ihm (oder nicht von ihm alleine) ausgeführt wurden. SeineNotenschreibung ist nicht nur von ihrer äußeren Gestalt her, son-dern auch sonst primitiv, unsicher und auch falsch. Zwischendem Wissensstand, der sich anhand der Dokumente bezüglichder körperlichen und geistigen Fähigkeiten meines Vaters ab-

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zeichnet, und der Gesamtheit der »Harmonia Caelestis«, aberbesonders der komplizierteren Schicht, klafft eine Schlucht, dieman nur mit Phantasie überbrücken kann; um zu diesem Zweckenur die wichtigsten Hängebrückenarten zu nennen: die einfache,die extern verankerte, die in sich verankerte Hängebrücke, die Ka-belbrücke, die schrägverkabelte Harfenbrücke, die sternförmige,die fächerförmige Schrägkabelbrücke sowie die schräg harfen-verkabelte Hängebrücke mit einem Pylon. Mein Vater spielte so-wohl auf der Harfe als auch auf den Sternen.Für den zweiten Satz der Symphonien muß man alt sein, sagte

der junge Haydn zu meinem nicht mehr jungen, aber wiedereinmal ungeduldigen (hitzköpfigen)Vater.Hier folgt der Name meines Vaters! – Dieser Name steht für

einen Traum; den ungarischen Traum vom verschwende-rischen reichen Mann, dem mit beiden Händen im Geldbeutelwühlenden Herrn . . . , vom Patron, der die Geldscheine wie dasGetreide einfährt und Gold und Silber scheffelt, eine Gestalt fastwie aus einem Volksmärchen. Der reiche Ungar . . . In der Phanta-sie der Ungarn bedeutete der Name meines Vaters all das, was dasLeben schon auf Erden zum Himmelreich machen kann . . . Eintatsächliches Kleinkönigtum, nicht wie das der Kleinkönige derAnekdoten, deren Macht an der Dorfgrenze endete, sonderneine Herrschaft, die unmittelbar nach dem alten König kam. Erbedeutete Ländereien von einer Ausdehnung, die nicht einmaldie Wildgänse in einer Nacht zu überqueren vermögen, ganz zuschweigen vom träumerischen Erdenmenschen, der von diesennächtlichen Vögeln nicht mehr als die trügerischen Schreie ver-nimmt! Er bedeutete Schlösser mit beflaggt- bebuschten Türmen,die ihr Spiegelbild vor Langeweile im See betrachteten, denn ihrHerr fand keine Muße, sie zu besuchen. Straßenweise Paläste, in

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denen sich allenfalls der Pförtner einen Bart wachsen ließ, in denverschlossenen Räumen lebten die Porträts jener, die einander ge-liebt hatten, nach Laune ihr trautes Leben, oder die Verfeindetendrehten einander den Rücken zu: – die Dienerschaft trank untenin der Gaststätte Ivkoff in der Josephsstraße, wohin seit Men-schengedenken die müßigen Herrschaftsdiener gehen. Der Name,hier folgt der Name meines Vaters, ist eine Legende, am Ende des19. Jahrhunderts, als die ungarischen Herrenhäuser in Wahrheitschon einzustürzen begannen, waren in jenen Stunden, in denender Ungar träumerisch seinen Pfeifenrauchringen hinterher-blickte, mehr oder weniger nur zwei Namen zu vernehmen. Dereine Name: der meines Vaters. Der andere Name: Rothschild. Esgab natürlich noch andere Namen in Ungarn, die jedes Kindkannte: solche Namen waren zum Beispiel: Franz Josef, oder deralte Tisza – während die Angehörigen des weiblichen Geschlechtsmanchmal auch den Namen Mihály Timárs, des Schiffers mitdem langen Bart, Jókais Patenkind, vor sich hin seufzten, wennsonst nicht, dann in ihren Träumen –, aber die ernsthafte, beson-nene, gediegene Einwohnerschaft des Landes hing, wenn sie sichschon Tagträumen hingab, nur noch am Namen meines Vaters,oder ebenjenes Rothschilds. Wie oft träumte der Wanderer imSchatten einer altehrwürdigen mythischen Trauerweide, daß dieLandstraße, die sich lang vor ihm hinstreckte, auf Befehl mei-nes Vaters einst mit Salz schneeweiß bestreut worden war, da-mit Maria Theresia auch im Hochsommer noch mit einem vonElenhirschen gezogenen Moskauer Schlitten von Wien nach Ei-senstadt gebracht werden konnte. Wie oft sah sich der der Phan-tasterei ohnehin zugeneigte transdanubische Reisende mit auf-gerissenen Augen um, wenn der Fuhrmann mit einem Schwungseines Peitschenstiels auf glanzerfüllte Märchenschlösser zeigte;auf von der Sonne gestreichelte, wegschlummernde riesige Parks;auf bis zum Himmelskreis silbrig dahinwogende Seen, aus denen

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manchmal der Goldfisch seinen Kopf herauswarf; auf Tiergärten,aus denen die Rehlein so zahm hervorlugten wie aus den Bilder-büchern der Kinder . . . und der Fuhrmann murmelte unter seinemrötlichen Bart: Auch das gehört dem, hier folgte der Name mei-nes Vaters. Und die Schmiede, in der wir die Pferde beschlagenlassen werden, auch die gehört dem, hier folgte der Name meinesVaters. Zusammengefaßt: Wer vermöchte all jene süßen Echosaufzuzählen, die in den alten Ungarn erklangen, wenn der Namemeines Vaters fiel, wer, zusammengefaßt.M ein Vater gab nur langsam klein bei, er vertraute seinem

Sohn nicht wirklich. Und der schlug und schlug nur aufihn ein.Unsere Familie ist nach dem Abendstern (auf ungarisch: est-

hajnal ) benannt. Im Anfang hatten wir keine Namen, inden ersten Jahrhunderten des Jahrtausends wurden die Amtsträ-ger, die in den Urkunden und deren Klauseln erwähnt sind, nurmit dem Vornamen und, seltener, mit dem Namen ihrer Sippe ge-nannt, und wenn es keinen Namen gibt, gibt es auch keine Fami-lie. (Eine Familie ist die Summe von Personen, die aufgrund vonAbstammung miteinander verbunden, von demselben Blute,durch dieselbe historische Vergangenheit vereint sind und des-wegen zusammengehören. Der Respekt vor den Altvorderen unddie Pflege der Erinnerung an sie ist die Grundlage der Familien-wie der Heimatliebe. Deswegen zerhackt jede Familie, die ihreVergangenheit vernachlässigt und das Gedenken an die Ahnennicht in Ehren hält, die Wurzeln des Lebensbaumes der Nationundsoweiter. ) Denn wodurch wird eine Familie zu einer Familie?(»Wer eine Cousine ist, bestimme ich. «) Kurz: dadurch, daß sie esaussprechen kann, sich auszusprechen traut: wir. Und sie will esauch. Es kommt ihr leicht über die Lippen. Und dann braucht

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man auch einen Namen. Denn wer keinen Namen hat, der japstnur stumm vor sich hin wie ein Fisch. Wir . . . Pause. Japse nur,mein Junge, japse, die Luft ist dein Lebenselement. Man brauchteinen Namen. Wir, die Baradlays. In der Umgebung, in den Tüm-peln der Großen Schüttinsel, der Csallóköz, denn dort war unserDonaueschingen, nannte man sie (uns): die Ritter Blaubart. >Blau-bart<*, das ist kein guter Name, denn es hatten auch andere Leuteblaue Bärte, während so mancher Ritter Blaubart überhaupt kei-nen hatte, denn entweder hatte er keinen Bart, oder er war nichtblau. Mit einem Wort, weder Ritter noch Blaubärte. So läßt sichkeine hoffnungsträchtige Familie etablieren. Die Blaubärtigkeitselbst hat sich auch als zu konkret und nebulös eindeutig gezeigt,als wäre die gesamte Mischpoke eine Art Poussierstengel gewe-sen, wenngleich das naturgemäß auf einer Der- eine- so- der-andere- so- Basis ablief, wenn überhaupt; allerdings müssen wirmangels entsprechender Urkunden auch das als von Dunkelheitumhüllt betrachten. Der Name scharwenzelte schon eine ganzeWeile um uns herum, kam vom Himmel, kam aus der Erde undkam aus uns selbst, aus unserem Bart. Welcher Stern sonst hätteder Stern der Blaubärte sein können als die Venus, der fünfte Pla-net, der Stern der Liebe, Advokatin weltlicher Lustbarkeit, desSingens, allerlei Geigen- , Trompeten- und Flötenspiels, teurenGeschmeides und Zierats. Im übrigen ist ihre Farbe das Grün, ihrGeruch der Salbeiduft, sie ist der Sonne am nächsten, in einemJahr steht sie vor ihr, dann nennt man sie Luzifer, also morgend-licher Stern, im nächsten Jahr folgt sie ihr, dann nennt man sieHesperus, abendlicher Stern; esthajnal ist der Name für beide.Wenn ein Mann in der Stunde des Abendsterns krank wird, ist essicher wegen einer Weibsperson. Der Knabe oder das Mädchen,

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* Im Text in einfache Anführungen gesetzte kursivierte Passagen im Ori-ginal deutsch.

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das in seiner Stunde geboren wird, wird unfruchtbar, bewahre,daß es buhlerisch werde. Der Mensch des Abendsterns ist einsehr weicher Mensch, zweifelt in der Hauptsache, zweifelt dort,wo er nicht sollte, sägt an dem Ast, auf dem er sitzt. Er sägt undpflanzt, er sägt und pflanzt. Mein Vater: wer im Abendstern steht,dem schwindelt erschrocken, denn er steht im Leeren, wederhier noch dort, es ist kein Tag und es ist keine Nacht, der Himmelist leer, nur ein einziger Stern ist zu sehen, nichts als dieser zit-ternde Schimmer, dieses vibrierende Nichts, das aber plötzlichmehr und reicher als alles ist, kernig und leicht wie Lachscreme,farbig und streng, es bewegt sich und ist konstant, die Stunde derMelancholie; wer in der blauen Stunde steht, mag frohlockendschwelgen, denn er steht im Jetzt, in der Ewigkeit – ach, derFaustsche Augenblick, so genant das auch ist! –, kein schlüpfrigerTang der Vergangenheit zieht an ihm, keine unbedachte Zukunftbedrückt ihn, es gibt kein Wo und kein Wohin, es gibt das Jetzt,die goldene Gegenwart, den silbernen Augenblick, das eiserneSein, und dann gibt es nichts anderes mehr als dieses Eisen, denRost, die Schönheit des Rosts und seine Derbheit, dieses wahr-haftige, dieses schwere Gemorsch, Materie in der Immaterialität:mein Vater.Der 1700 erschienene große Foliant, das »Trophaeum Nobi-

lissimae ac Antiquissimae Domus Estorasianae«, dieses»geschmacklos hergestellte« Lügenwerk, dieses »Attentat gegenden gesunden Menschenverstand« enthält die Genealogie mei-nes Vaters und zeigt 171 imaginäre und tatsächliche Ahnen inGanzkörper- Kupferstichen. Ein Teil der Bilder wurde vom Hof-maler des Fürsten, einem gewissen Petrus, hergestellt. Der Ma-rien- und Familienkult meines Vaters entspringt derselben Quelle,schön symbolisiert durch den Stich auf dem Titelblatt, eine Alle-gorie, in der Heldenmut (Fortitudo), verkörpert durch die Figur

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des Herkules, und Edelmut (Generositas), dargestellt in der Fi-gur des Mars, jene Halle bewachen, in der ein Engel die, hier folgtder Name meines Vaters, - Krone auf einem Kissen der Recht-schaffenheit (Honor) darbringt, und wo Honor fast eindeutig inder Gestalt der Heiligen Jungfrau erscheint, mit der Krone Un-garns auf dem Kopf. Nach Zeugnis des »Trophaeum« leitet meinVater unsere Herkunft nicht nur von Adam, Noah usw. und nähervon Attila ab, sondern, noch näher, von Csaba, dem PrinzenCsaba, den er gleichzeitig auch für den Urvater des Árpáden-Hauses hält. So war der Stammesvater Eurs, der laut dieser Fik-tion am längsten von allen landnehmenden Stammesfürsten ge-lebt hatte, zu seiner Zeit eigentlich ein souveräner Herrscher,und noch dazu der Cousin der heiligen Könige. Von ihm stammtunser Urvater ab, Estoras, dessen Mutter, die dakische PrinzessinIda, >noch dazu< die Enkelin Decebals war – wie wir wissen, wardie Wiederangliederung Siebenbürgens an Ungarn eine der be-vorzugten, aber niemals in Erfüllung gegangenen Ideen meinesVaters. Estoras steht in nichts hinter dem heiligen István zurück,auch er wurde vom heiligen Adalbert getauft, selbstverständlichauf den Namen Paulus. Und so folgen die Ahnen einer auf den an-deren, sie kommen daher in endloser Reihe, bis hin zu Benedek,der im fünfzehnten Jahrhundert tatsächlich gelebt hat. In einemExtrakapitel führt der Band jene vom ersten bis zum letztenBuchstaben erlogenen königlichen Bullen an, ausgestellt vomheiligen László, Endre von Jerusalem, Lajos dem Großen, Sieg-mund, Mátyás Corvinus usw. , die diesen – im übrigen nicht exi-stenten – Ahnen verschiedene Privilegien zugesprochen habensollen. Der heilige László selbst, so bezeugt es diese virtuelleUrkunde, habe sich außerordentlich gefreut, daß sein lieber Ver-wandter aus einer Familie stammt, die es schon zu Zeiten JesuChristi zu etwas gebracht hat. Mein Vater deutete im übrigen dieMöglichkeit an, daß diese Behauptungen fiktiv sind. Zwar nur auf

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persisch, aber immerhin. Dabei verpaßt er unserem Namen eineneue Etymologie. Wonach der Drache auf persisch Ezder ge-nannt wird, also heißt die Familie eigentlich Drachenhauser, undder Drache ist nichts anderes als der in unserem Wappen befind-liche Greif, welcher mit gezücktem Schwert die Heimat vertei-digt. Aber damit noch nicht genug: Nach all dem sinniert meinVater auch noch lange darüber, daß nicht jede Familie über soeine urkundlich belegbare Herkunft verfügt, in Ungarn laufenauch Familien herum, die, so mein Vater (!), nur zwei- bis drei-tausend Jahre alt sind, denn infolge der vielen Schicksalsschläge,die das Vaterland heimgesucht haben, sind die Archive zu Ascheverbrannt, aber was soll’s, schließlich ist Adel sowieso nur etwaswert, wenn er mit Tugend gepaart ist, ha- ha, wohingegen dieHerkunft für sich allein nur wie ein gekalkter Sarg ist: inwendiggepackt mit Abscheulichkeit..

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