Leseprobe Die Sehnsucht ist ein Anderer

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Elisabeth Wirth * Die Sehnsucht ist ein Anderer Jaja Verlag

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Mit „Die Sehnsucht ist ein Anderer“ legt Elisabeth Wirth ihr Erstlingswerk vor. In neun Kurzgeschichten erzählt sie vom Suchen und Hadern, von Veränderung und Hoffnung. Die Illustrationen von Janina Schütz leiten jede Geschichte ein. Ein Maler im falschen Leben. Eine junge Frau, die sich in ihr One-Night-Stand verliebt. Eine Silvesternacht in der sich alles ändern kann oder auch nichts. Ein Tag am See mit Kindheitserinnerungen, die wie Melonenbrause schmecken. Eine junge Illustratorin, die mit ihren Träumereien ringt. Ein alter Mann, der mit der Liebe abgeschlossen hat. von Elisabeth Wirth mit Illustrationen von Janina Schütz Taschenbuch, DinA5, in Farbe, 86 Seiten ISBN 978-3-943417-19-7 10.- Euro

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Elisabeth Wirth * Die Sehnsucht ist ein Anderer

Jaja Verlag

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Ich wünschte, es käme auf leisen Sohlen, würde sich zaghaft anschleichen und uns erfassen. Wir würden uns in die Augen sehen, Hände würden sich fassen und wir müssten nichts sagen. Wir wären Verbündete. Wir wären unser eigener Geheimbund. Wir würden uns lieben im Dunkel der Nacht, erforschen und übereinander herfallen. Wir würden beben.

Wir würden abends im Bett liegen, jeder mit seinem Buch in der Hand. Du würdest aufblicken, wenn ich die Seite umschlage und es wäre Glück. Wir würden spazieren gehen. Wir würden uns von unserer Kindheit erzählen, davon, wie Gras schmeckt und was wir in selbstgebauten Höhlen taten, von Schulzeit und Einsamkeit, von Familienbanden, von Freunden und vergangenen Lieben.Wir würden über alte Träume reden und neue schmieden. Wir würden über Bücher und Musik und Filme und Kunst und Politik diskutieren, bis der Wein alle und der Aschenbecher voll ist. Wir würden uns gemeinsam die Zähne putzen. Du würdest mich weinen sehen. Ich würde dich weinen sehen. Wir würden im Café sitzen und du würdest mir beim Tagebuchschreiben zuschauen. Es wäre nicht langweilig. Wir würden uns auch alleine lassen können. Wir würden die Lieblingsbücher des anderen lesen und unsere Lieblingsfilme sehen. An unseren Geburtstagen würden wir füreinander einen Geburtstagstisch mit Geschenken und Frühstück decken. Wir würden Feste feiern. Wir würden unsere Freunde treffen und uns abends von unserem Tag erzählen. Wir würden manchmal auf dem Markt einkaufen gehen. Abends gäbe es Oliven und Pasten und Brot und Salat. Im Sommer würden wir auf dem Balkon essen. Wir würden unsere Eltern kennenlernen. Zu Silvester würden wir uns um zwölf Uhr küssen. Wir würden uns übereinander wundern. Du würdest warten, während ich in die Küche renne, um zu sehen, dass der Herd auch wirklich aus ist. Im Waschbecken würden deine Bartstoppeln liegen. Irgendwann würde beim Pinkeln die Badezimmertür offen bleiben. Du würdest dich an ein paar rosa Dinge und die Winkekatze gewöhnen. Dafür würdest du vielleicht irgendetwas, womit ich nichts anfangen kann, obsessiv sammeln. Wir würden uns in der Videothek nicht entscheiden können.

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Wir würden in Ausstellungen und ins Kino und auf Konzerte gehen. Manchmal würde ich von der Welt überfordert sein. Wir würden kochen und essen gehen. Wir würden zusammen wohnen. Wir würden Falten vergleichen und du hättest mehr. Du würdest meine Texte lesen und Anmerkungen an den Rand schreiben. Ich würde dich fotografieren. Ich würde Künstlerin werden. Wir würden in den unterschiedlichen Zimmern der Wohnung arbeiten. Wir würden am Küchentisch Zeitung lesen. Wir würden reisen - mit einem Bus durch Europa, und am anderen Ende der Welt würden wir in billigen Hotels übernachten. Wir würden uns streiten. Wir würden uns vermissen. Wir würden Erdbeeren auf dem Balkon pflanzen. Wir würden im Sommer Tage am See verbringen. Ich würde dich mit einem Grashalm kitzeln, du wärst genervt und am Abend würde unsere Haut immer noch warm von der Sonne sein. Die Zeit würde vergehen. Wir würden immer neue Sachen aneinander entdecken. Wir würden übereinander erstaunt sein. Irgendwann würde einer unserer Großeltern sterben und wir würden uns zur Beerdigung begleiten. Und wenn wir wieder zu Hause wären, würden die schwarzen Klamotten eine Spur auf dem Wohnungsboden bilden. Es wäre ein Akt gegen die Sterblichkeit. Wir würden Traditionen fortführen und neue entwickeln. Wir würden über Sinn und Unsinn des Lebens debattieren. Wir würden nicht wissen, welche Partei wir wählen sollen. Irgendwo würde Krieg geführt werden. Ich würde schwanger werden und wir würden mit Brause anstoßen. Wir würden eine größere Wohnung suchen. Wir würden uns aufFarben einigen und renovieren. Und umziehen. Es wären zu viele schwere Bücherkisten. Mein Bauch würde wachsen. Wir würden Techniken finden, wie es trotzdem geht. Neun Monate würden vorbeigehen. Plötzlich wären wir zu dritt. Es würde das Merkwürdigste und Wunderbarste sein. Wir würden wenig schlafen. Du könntest besser damit umgehen. Wir würden Urlaub an der Ostsee machen. Im Winter würde es schneien. Wir würden den ersten Geburtstag unseres Kindes feiern. Wir würden uns über alle noch so kleinen Entwicklungen freuen, bis wir sie als normal hinnehmen würden. Manchmal würde es uns auffallen. Wir würden Gute-Nacht-Geschichten vorlesen und abends erschöpft ins Bett fallen. Es würde sich Alltag einstellen.

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Er hätte eine gewisse Poesie. Sie wäre vielleicht nicht immer zu spüren. Wir würden älter. Wir würden eine leise und zugleich große Liebesgeschichte. Wir würden sie immer weiter schreiben.

Es wird auf leisen Sohlen kommen. Sich zaghaft anschleichen und uns erfassen. Wir werden uns in die Augen sehen, unsere Hände werden sich fassen und wir werden nichts sagen müssen. Wir werden Verbündete sein, unser eigener Geheimbund. Wir werden uns lieben im Dunkel der Nacht, erforschen und übereinander herfallen. Wir werden beben.

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Elisabeth Wirth * Die Sehnsucht ist ein Anderer

Jaja Verlag

Ein Maler im falschen Leben. Eine junge Frau, die sich in ihr One-Night-Stand verliebt.

Eine Silvesternacht in der sich alles andern kann oder auch nichts. Ein Tag am See mit Kindheitserinnerungen,

die wie Melonenbrause schmecken. Eine junge Illustratorin, die mit ihren Träumereien ringt.

Ein alter Mann, der mit der Liebe abgeschlossen hat.

Kurzgeschichten vom Suchen und Hadern, von Veränderung und Hoffnung.

„Elisabeth Wirth spürt dem großen Thema Liebe in ihren Geschichten sensibel nach. Ihre Texte sind still, unaufgeregt und detailreich.

Fast könnte man beim Lesen meinen, sie stünde hinter der nächsten Ecke, würde alles beobachten und aufschreiben.“

Michael-André Werner

ISBN 978-3-943417-19-7