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Philipp Staab

Falsche VersprechenWachstum im

digitalen Kapitalismus

Hamburger Edition

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»Coping, doping, hoping, shopping.«Wolfgang Streeck

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I Einleitung

Unter den Top 5 der wertvollsten Unternehmen der Welt(nach Marktwert) befanden sich im Jahr 2015 neben War-ren Buffets Firmenkonglomerat Berkshire Hathaway unddem Energieriesen ExxonMobil drei Technologiefirmen:Apple (Platz 1), Google (Platz 4) und Microsoft (Platz 5).1

Sie stehen exemplarisch für den Aufstieg der Informa-tions- und Kommunikationstechnologien (IKT) in denvergangenen Jahrzehnten und damit für die Digitalisie-rung des Alltags, insbesondere aber der Wirtschaft. Digi-tale Technologien auf Laptops, Tablets oder Smartphonessind aus den Arbeitswelten der Gegenwart nicht mehr weg-zudenken, die meisten Arbeitnehmer und Selbstständigennutzen IKT auf die eine oder andere Art. In der Regelfolgen ihre Tätigkeiten dabei im kleinen Maßstab einerLogik, die Technologieunternehmen wie Apple, Google,Microsoft, Facebook oder Amazon in größerem Stil alseigenes Geschäftsmodell betreiben: Sowohl im Kontextalltäglichen Arbeitens mit IKT als auch bei den Geschäfts-modellen der digitalen Weltkonzerne geht es im Kern umProzesse der Datenverarbeitung, sei es beim Erstellen wis-senschaftlicher Publikationen in Forschungsinstituten,bei Verwaltungsaufgaben in Versicherungsunternehmenoder bei dem zielgenauen Targeting von Konsumentendurch Produktplatzierungen wie bei Google, Facebookoder Amazon. Die Verarbeitung von Informationen bil-

1 Statista, Größte Unternehmen der Welt. Als erstes deutsches Unter-nehmen der Old Economy folgte in diesem Jahr der VolkswagenKonzern auf Platz 49. Im Jahr 2015 hatte Google Apple dann vomersten auf den zweiten Platz verdrängt.

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det den Kern digitalisierter Arbeitsprozesse und Ge-schäftsmodelle.

Die Digitalisierung der Wirtschaft beschränkt sichkeineswegs auf die New Economy aus Technologiegigan-ten und Internet-Start-ups. Sie hat längst klassische Wirt-schaftszweige und den öffentlichen Sektor erreicht: Un-ter Begriffen wie »E-Government«, »Smart Cities« oder»Smart Infrastructure« firmieren beispielsweise Modelle,die weit über die Nutzung computergestützter Datenver-arbeitungsprozesse in der Digitalwirtschaft hinausgehen.Sie bilden Blaupausen für umfassende Restrukturierungs-programme von Verwaltungsprozessen, Stadtentwicklungoder staatlicher Infrastrukturpolitik. Digitalisierungsgi-ganten, wie Google, Apple, Microsoft oder Amazon,wetteifern in diesem Zusammenhang um Aufträge deröffentlichen Hand und gewinnen dabei für staatliche In-stitutionen an Bedeutung: Amazon stellt über seinenCloud-Computing-Dienst Amazon Web Services in denUSA beispielsweise einen bedeutenden Teil der digitalenInfrastruktur des amerikanischen Verwaltungs- und Re-gierungsapparates.

Auch in Kernbranchen der Old Economy stoßen dieDatenkonzerne von der amerikanischen Westküste zu-nehmend vor und erzeugen dort Transformationsdruck.Das zeigt sich am Beispiel der Automobilindustrie: Goo-gle hat hier Industriegiganten mit über hundertjährigerGeschichte mit der Entwicklung autonom operierenderFahrzeuge in Aufregung versetzt, was sich unter anderemim Aufbau eigener digitaler Fahrassistenzsysteme durchdie traditionellen Produzenten niederschlägt. Das 2003gegründete US-amerikanische Unternehmen Tesla hat,um ein anderes Beispiel zu nennen, mit beachtlichen Er-

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folgen in der Elektromobilität erheblichen Innovations-druck in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungender etablierten Automobilisten erzeugt. Auch Apple sollein eigenes Automobil planen und wird damit den Druckauf die vermeintlichen »Industriedinosaurier« weiter er-höhen.

Dabei propagieren die Internetkonzerne eine ganzneue Perspektive auf ein klassisches Produkt. Denn Goo-gle geht es bei seinem eigenen Auto, wie schon bei derEntwicklung von Karten- und Navigationsanwendungen,vor allem um die Daten der Nutzer. Sie stellen das eigent-liche Geschäftsfeld der Internetgiganten dar, bilden dieBasis diverser Dienstleistungen, die im Zentrum des An-gebots der Unternehmen stehen. Auch klassische Auto-mobilhersteller haben diesen Trend erkannt. So investie-ren Unternehmen wie Daimler und BMW nicht nurmassiv in autonomes Fahren und digitale Car-Sharing-Modelle, sondern auch in die Digitalisierung der Cock-pits. In der Fahrerzelle der Zukunft soll der Passagier alsKunde permanent erreichbar sein für die Konsumnetzedes kommerziellen Internets. Die Quellen der Wertschöp-fung sollen sich, im Stile der Digitalisierungsgiganten,auch in der traditionellen Automobilindustrie weg vonder Produktion und hin zu diversen digitalen Dienstleis-tungen entwickeln. Der Verkauf des Automobils als ehe-mals zentraler Punkt der Wertschöpfung verliert dabei anBedeutung. Als eine Art Smartphone auf vier Rädern solldas Automobil vielmehr das Ankerprodukt bilden, überdas immer neue Dienste reibungslos an den Kunden ge-bracht werden können.

Digitale Technologien und Geschäftsmodelle gewin-nen also auch jenseits der Internetkonzerne an Bedeu-

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tung. Die mit ihnen verbundenen ökonomischen undideologischen Logiken finden zunehmend Verbreitung.Diese strukturbestimmende Entwicklung wird im Fol-genden als »digitaler Kapitalismus« bezeichnet. Damit ist,wie meine einleitenden Bemerkungen anzeigen, wedereine strenge kategoriale Unterscheidung von Kapitalis-mustypen nach der Logik sektoraler Differenzierung im-pliziert: Es kann nicht um einen digitalen im Gegensatzzu einem industriellen oder tertiären Kapitalismus gehen,wenn IKT überall an Bedeutung gewinnen, noch kann derBegriff einstweilen eine historische Trennschärfe, etwa imGegensatz zu den Handelskapitalismen ab dem 13. oderden im 19. Jahrhundert folgenden Manufaktur- und in-dustriellen Kapitalismen,2 beanspruchen. Auch aus derinstitutionellen Perspektive auf die dominierenden Koor-dinationsmechanismen der digitalen Wirtschaftsweise,etwa in Tradition der Debatte um die Varieties of Capita-lism,3 kann der Charakter des digitalen Kapitalismuseinstweilen noch nicht ausbuchstabiert werden. Zu vielist im Werden, zu unsicher sind die Prognosen zu den rea-len Effekten der Digitalisierung. Der vorliegende Essaymacht zu allen drei möglichen Bestimmungszusammen-hängen (sektoral, historisch, institutionell) jedoch einigeVorschläge: So wird gezeigt, dass die Digitalisierung sek-torale Grenzen einreißt, dass bedeutende digitale Innova-tionen bisher vor allem in Handels- und Distributions-prozessen stattfanden und dass im digitalen Kapitalismusbestimmte institutionelle Standards, wie zum Beispiel je-

2 Vgl. Kocka, Geschichte des Kapitalismus; Braudel, Die Dynamikdes Kapitalismus.

3 Hall/Soskice, Varieties of Capitalism.

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ner der lohnabhängigen Beschäftigung als zentraler ge-sellschaftlicher Integrationsmechanismus, systematischgefährdet sind, aber auch neue Standards forciert werden.All dies ist jedoch noch weit entfernt von einer schlüssi-gen Theorie über die Digitalisierung der Wirtschaft. Sowerden Leserinnen und Leser dieses Essays einstweilenmit der prozessualen Definition des digitalen Kapitalis-mus als Durchsetzung und Verbreitung von IKT und dermit ihnen verbundenen ökonomischen und ideologi-schen Dynamiken vorlieb nehmen müssen. Der digitaleKapitalismus ist somit zunächst als eine Figuration, alsoals ein Interdependenzgeflecht unterschiedlicher Fakto-ren in einer gemeinsamen Konstellation, zu verstehen.4

Einzelne Elemente dieser Figuration – etwa die histori-schen Triebfedern des digitalen Kapitalismus, seine ideel-len Wurzeln und ideologischen Grundtheoreme, die ihndominierenden Geschäftsmodelle und seine Implikatio-nen für die Entwicklung sozialer Ungleichheit – werdenim vorliegenden Essay mit dem Ziel behandelt, Hypothe-sen über die wirtschaftliche Logik des digitalen Kapitalis-mus der Gegenwart zu entwickeln.

Dabei werde ich mich einer Methode der experimen-tellen Verdichtung bedienen, indem ich bestimmteGrundzüge des digitalen Kapitalismus vornehmlich imRahmen der benannten Leitunternehmen der Digitalisie-rung und unterschiedlicher sogenannter Start-ups5 mitebenfalls primär digitalen Geschäftsmodellen analysiere.

4 Zum Begriff der »Figuration« vgl. Elias, Über den Prozeß der Zivi-lisation.

5 Start-up-Unternehmen sind neu gegründete Firmen, die mit demZiel der Vermarktung einer innovativen Idee in der Regel aufschnelles Wachstum setzen.

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Wie eingangs kursorisch beschrieben, gibt es zahlreicheempirische Gründe, von einer Leitfunktion dieser Unter-nehmen im Prozess der Digitalisierung der Wirtschaftauszugehen: Sie bieten vielfach die Basistechnologien an,die in anderen Kontexten genutzt werden,6 verfügen überenorme finanzielle Kapazitäten und dringen permanentin neue Geschäftsfelder vor, in denen sie digitale Restruk-turierungsprozesse ins Werk setzen.7 Sie bilden, so eineAnnahme von Oliver Nachtwey und mir, die wir andern-orts formuliert haben, eine »Avantgarde des digitalen Ka-pitalismus«8.

Das KonsumtionsproblemAuf Basis der Analyse von Leitunternehmen der Digitali-sierung soll hier noch eine modellhafte Argumentations-linie verfolgt werden: Ich argumentiere, dass der digitaleKapitalismus eine verhältnismäßig neue Antwort auf einProblem darstellt, das den Kapitalismus seit dem Endedes Nachkriegsaufschwungs in der Mitte des 20. Jahrhun-derts prägt: Die Schwäche der Nachfrage, die mit den Pro-duktivitätsfortschritten nicht standhalten kann. Die rück-blickend recht kurze Phase der Nachkriegsprosperität –ich werde später ausführlich darauf zu sprechen kom-

6 Microsoft, Google oder Apple liefern beispielsweise mit ihren Be-triebssystemen und den damit verbundenen Anwendungen dentechnischen Standard der meisten Datenverarbeitungsprozesse.

7 Amazon und andere E-Retailer revolutionieren mit ihren digitalenGeschäftsmodellen den Einzelhandel, Google und Apple dringenmit unterschiedlichen Anwendungen in den Markt für smarteHaustechnik vor, Start-ups wie Uber oder Lyft verändern das Per-sonenbeförderungsgewerbe.

8 Nachtwey/Staab, Die Avantgarde des digitalen Kapitalismus, S. 59–84.

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men – war gekennzeichnet durch die erfolgreiche Kombi-nation von Massenproduktion und Massenkonsum. Die-ses Doppelgespann wirtschaftlicher Dynamik, allgemeinals Fordismus bezeichnet, geriet allerdings schon Endeder 1960er Jahre zunehmend aus dem Tritt, weil die Nach-frage nicht mehr mit der Entwicklung der Produktivi-tät Schritt halten konnte. Das vorherrschende Produk-tionsmodell erzeugte, in anderen Worten, nicht mehr aussich heraus jene Nachfrage, die zur Aufrechterhaltungder wirtschaftlichen Wachstumsraten der unmittelbarenNachkriegszeit vonnöten gewesen wäre. Ich bezeichnediesen Zustand als »Konsumtionsproblem«.

Seit Auftreten des Konsumtionsproblems sind zahl-reiche Wege erprobt worden, die Nachfrage wieder inSchwung zu bringen. Einerseits wurde versucht, den pri-vaten Konsum durch die Expansion öffentlicher bezie-hungsweise privater Schulden anzuregen. Andererseitsdiente vielerorts auch eine stärkere Exportorientierungdurch die Internationalisierung der Absatzmärkte der Er-schließung neuer Nachfragereservoirs. Beide Strategiensind nach wie vor wirksam. Eine genaue Betrachtung desdigitalen Kapitalismus zeigt jedoch, so mein Argument,dass dieser eine verhältnismäßig neue Antwort auf dasKonsumtionsproblem bildet, das die entwickelten Volks-wirtschaften der OECD-Welt seit dem Ende des Nach-kriegsbooms prägt. Das eigentliche Versprechen der Leit-unternehmen des digitalen Kapitalismus ist, wie ichzeigen werde, die Lösung des Nachfrageproblems durchdie Rationalisierung und Intensivierung des Konsums.

Um die logischen Implikationen dieser Wirtschafts-form darstellen zu können, ist es notwendig, von den al-ternativen Lösungsansätzen des Konsumtionsproblems –

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Expansion von Schulden und Globalisierung der Absatz-märkte – zeitweilig zu abstrahieren und sich dem digita-len Kapitalismus als geschlossenem Modell zu widmen.Ziel dieser Herangehensweise ist analytische Klarheit, dieallerdings nur um den Preis des temporären Ausschlussesebenfalls existierender empirischer Alternativen zur Lo-gik der Digitalisierung zu haben ist. Daher werde ich beider Erläuterung der wirtschaftlichen Dynamik des di-gitalen Kapitalismus vielfach die natürlich weiterhin be-stehenden alternativen Strategien der Generierung vonNachfrage durch Schulden und die Globalisierung derAbsatzmärkte außer Acht lassen.

Nach dem Wachstum ist vor dem Wachstum?Das Konsumtionsproblem des gegenwärtigen Kapitalis-mus – ich werde es im nächsten Kapitel ausführlich dar-stellen – ist ein entscheidender Bestandteil der historischenSituation, die den Hintergrund für die Digitalisierung derWirtschaft bildet. Die hoch entwickelten Ökonomien derOECD-Welt konnten seit der Abkühlung der Konjunkturab den 1960er Jahren nicht wieder an die vorangegan-genen wirtschaftlichen Wachstumsraten anschließen. Inden USA, Großbritannien, Deutschland, Japan, Frank-reich und Italien – um nur einige wichtige OECD-Ökono-mien zu nennen – fiel das Wirtschaftswachstum9 von 3 bisknapp 10 Prozent während der 1960er Jahre überall aufunter 2 Prozent im Jahr 2014.10 Einige kritische Beobach-ter sprechen daher schon seit geraumer Zeit von einer

9 Real GDP Growth.10 Coggan, Secular Stagnation. Zur langfristigen Entwicklung des

Wirtschaftswachstums vgl. auch die Debatte um eine säkulare Sta-gnation, bspw. Teulings/Baldwin (Hg.), Secular Stagnation.

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Post-Wachstumsökonomie11 und entwickeln Visionen ei-ner Postwachstumsgesellschaft.12 Auch der viel zitiertefranzösische Ökonom Thomas Piketty geht von einer sys-tematischen Wachstumsschwäche des Gegenwartskapita-lismus aus. Ihm zufolge wuchsen seit dem Ende des Nach-kriegsbooms die Vermögen stärker als die Einkommen,die kaufkraftbereinigt sogar vielfach stagnierten. DieserProzess bedingt, dass dem Wirtschaftskreislauf Nachfra-gekontingente entzogen werden, die andernfalls in Formvon Konsumkraft zur Verfügung stünden. Denn geradegeringe und mittlere Löhne fließen in der Regel direktwieder in den Konsum,13 Vermögen aber werden immerwieder (re-)investiert. In jüngerer Zeit haben gar der Ka-pitalismuskritik unverdächtige Analysten begonnen, voreinem nachhaltigen Abschwung der Weltwirtschaft zuwarnen. So sprach beispielsweise der amerikanische Öko-nom Larry Summers im Herbst 2013 auf einer Konferenzdes Internationalen Währungsfonds von der Möglich-keit, dass die Weltwirtschaft sich in eine säkulare, alsonachhaltige und langatmige Stagnation manövriert ha-ben könnte.14

Vor diesem Hintergrund hat die Suche nach einemMessias, der das wirtschaftliche Wachstum in die hochentwickelten Ökonomien der Gegenwart zurückbringenkönnte, in der Digitalisierung der Wirtschaft einen neuen

11 Vgl. d’Alisa/Demaria/Kallis (Hg.), Degrowth.12 Vgl. Lessenich/Dörre (Hg.), Grenzen des Wachstums.13 Vgl. hierzu exemplarisch folgende Studien des IWF: Kumhof/Ran-

cière, Inequality, Leverage and Crises; Kumhof/Rancière/Winant,Inequality, Leverage and Crises.

14 Siehe auch Summers, Why Stagnation Might Prove to Be the NewNormal.

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Adressaten gefunden. Die Beratungsfirma McKinsey bei-spielsweise prophezeit in einer global orientierten Studieein potenzielles Wachstum im Wert von 11 Billionen Dol-lar bis 2025 als möglichen Effekt des Ausbaus des »Inter-nets der Dinge«, also der fortschreitenden Verbreitung ver-netzter Klein- und Kleinstcomputer in allen Arbeits- undLebensbereichen.15 Für Deutschland, wo die Debatte umdie Digitalisierung der Wirtschaft vor allem als Diskursum die Restrukturierung der industriellen Produktiongeführt wird, kursiert die Zahl eines zusätzlichen Wachs-tum im Gegenwert von 78 Milliarden Euro im gleichenZeitraum.16 Es handelt sich hierbei, den Verfassern derStudie zufolge, um wirtschaftliches Wachstum, das exklu-siv durch digitale Anwendungen in sechs besonders in-novationsträchtigen Wirtschaftsbranchen anfallen soll,17

also zusätzlich zu den auch ohne Digitalisierung erwarte-ten Zugewinnen.18

Stellt man diese äußerst optimistischen Prognosenin Rechnung, so wird verständlich, warum die Digitali-sierung der Wirtschaft zu einem von unterschiedlichenAkteuren forcierten Transformationsmodell der Gegen-

15 Manyika u.a., The Internet of Things.16 Bauer u.a., Industrie 4.0.17 Chemische Industrie, Automobilbau, Maschinen- und Anlagen-

bau, elektrische Ausrüstung, Land- und Forstwirtschaft sowie In-formations- und Kommunikationstechnik.

18 »Für alle anderen Branchen addiert die Studie des Fraunhofer-In-stituts für Arbeitswirtschaft und Organisation und des Bitkom aus-gehend von solchen Wachstumsraten noch einen 50-Prozent-Effekthinzu und kommt damit zu einer Hochrechnung der gesamtwirt-schaftlichen, durch Industrie 4.0 verursachten Impulse auf ins-gesamt 267,5 Milliarden Euro« (Sabine Pfeiffer, Warum reden wireigentlich über Industrie 4.0?).

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wartsökonomie geworden ist. In der Bundesrepublik wirdsie beispielsweise von einem Konglomerat aus Unterneh-mern, Forschungsinstituten, Gewerkschaften, Politikernund Beratungsfirmen als vierte industrielle Revolution(»Industrie 4.0«) stilisiert. Nach Dampfkraft (erste indus-trielle Revolution), elektrifizierter Massenproduktion(zweite industrielle Revolution) und der Implementationder Mikroelektronik (dritte industrielle Revolution) solldie Digitalisierung der Produktionsapparate eine neueStufe wirtschaftlicher Entwicklung einleiten.

Sollte die in Deutschland so populäre Vision einer di-gitalen Industrie wirklich jene ökonomische Zeitenwendeeinleiten, die der Begriff der »industriellen Revolution«nahelegt, so müsste sie allerdings mehr sein als eine wei-tere Verjüngungskur der hierzulande etablierten Hoch-produktivitätsökonomie und ihres Wirtschaftsmodells.Hinweise, dass sich am bundesrepublikanischen Erfolgs-rezept der Generierung von Nachfrage durch Exporte et-was ändern könnte, indem beispielsweise neue Nachfrageauf dem heimischen Arbeitsmarkt generiert würde, suchtman allerdings, trotz der zuletzt positiven Lohnentwick-lung, weitgehend vergebens. Zwar kann man hoffen, dasssich digitale Produktivitätsgewinne der nahen Zukunftim industriellen Sektor gewissermaßen automatisch auchin höhere Löhne der abhängig Beschäftigten umsetzenund damit auch die nationale Nachfrage steigt. Diese Ent-wicklung ist jedoch keineswegs zwingend. Vielmehr zeigtsich in Ländern wie Deutschland oder den USA schon seitLängerem das Phänomen, dass auch in Boom-Zeiten dieReallöhne stagnieren oder gar sinken, Wachstum alsomit steigender Einkommensungleichheit einhergeht. Ein-kommensungleichheit trägt ihrerseits zu Einbrüchen der

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privaten Nachfrage bei, da, wie bereits erwähnt, reichereHaushalte zur Reinvestitionen ihrer Einkommen neigen,diese also nicht, wie im Falle ärmerer Haushalte, direkt inden Konsum zurückfließen, wie beispielsweise Studiendes IWF argumentieren.19 Ohne die entsprechende Nach-frage führten allerdings auch die erhofften Produktivi-tätsgewinne20 im industriellen Sektor nicht zu langfristi-gem Wachstum. Produkte müssen schließlich Abnehmerfinden, damit die Effizienzsteigerungen der Produktions-apparate sich in realen Gewinnen materialisieren. Füreinzelne Länder mag der Export ein Substitut für dieSchwäche der Nachfrage auf den Heimatmärkten bilden.Auf der Ebene der Weltwirtschaft handelt es sich dabeifreilich um ein wenig nachhaltiges Wirtschaftsmodell, dadie Gewinne der Exportnationen durch das »Abgraben«von Nachfrage generiert werden, die dann in den Import-märkten fehlt. In der Wirtschaftsordnung der Gegenwart,die auf Massenkonsum systematisch angewiesen ist, istdie Entwicklung der Nachfrage neben Produktivitätsge-winnen die zweite entscheidende Schnittstelle wirtschaft-lichen Wachstums.

Es wirkt vor diesem Hintergrund konsequent, dass dieDigitalisierungsprozesse der jüngeren Vergangenheit undGegenwart vor allem in konsumnahen Dienstleistungen,wie der Werbung, der Warendistribution und dem Han-del, entscheidende Schwerpunkte hatten bzw. haben. Einewirklich radikale Restrukturierung, die auf qualitativneuartige Phänomene verweist, hat vor allem in den Dis-

19 Vgl. Kumhof/Rancière, Inequality, Leverage and Crises; Kumhof/Rancière/Winant, Inequality, Leverage and Crises.

20 Also die Vergrößerung des wirtschaftlichen Outputs in Relation zuden eingesetzten Produktionsfaktoren.

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tributions- und Konsumtionsapparaten stattgefunden.Der E-Commerce beispielsweise, also der Warenhandelim Internet, wie er von Amazon und tausenden anderenUnternehmen betrieben wird, soll einen immer effizien-teren Konsum gewährleisten und damit auch noch dieletzten Nachfragereservoirs ausschöpfen, die etwa auf-grund zeitlicher Engpässe bei den Konsumenten einst-weilen nicht erschlossen sind. Hierzu werden immerschnellere Distributionsverfahren implementiert undimmer neue Apps entwickelt, die das reibungslose Shop-ping an jedem erdenklichen Ort ermöglichen sollen. DasGravitationszentrum solcher Rationalisierungsstrategienim Bereich der Konsumtion bilden die benannten Leit-unternehmen der Digitalisierung wie Amazon, Google,Apple, Facebook oder Microsoft, die allesamt neue Kon-sumtionsmodelle innerhalb ihrer komplexen und hoch-gradig vernetzten Techniksysteme erproben.

Stellt man die enormen Wachstumsraten und Macht-ressourcen der Digitalisierungsgiganten sowie den hohenVerbreitungsgrad der von ihnen entwickelten Technolo-gien und Geschäftsmodelle in Rechnung, erscheint dievon ihnen angestrebte Restrukturierung der Konsum-tions- und Distributionsapparate als ein ernst zu nehmen-des Transformationsprogramm für den Kapitalismus derGegenwart. Die Rationalisierungsversuche im Bereichder Nachfrage legen es aus meiner Sicht nahe, den digita-len Kapitalismus als eine Antwort auf das Konsumtions-problem des Gegenwartskapitalismus zu interpretieren.Er bietet aus dieser Perspektive ein neues Programm zurGenerierung jener Nachfrage, die gemeinsam mit Pro-duktivitätssteigerungen die zweite Säule möglichen wirt-schaftlichen Wachstums bildet. Die dem digitalen Ka-

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pitalismus implizite Verheißung neuer wirtschaftlicherWachstumsimpulse besteht daher vor allem in der Ge-nerierung neuer Nachfrage durch die Restrukturierungder Konsumtionssphäre. Die entscheidende Frage lautetdann: Kann der digitale Kapitalismus das ihm impliziteVersprechen halten und eine erfolgreiche Alternative zuden etablierten Bearbeitungsmodi des Konsumtionspro-blems bieten? In den folgenden Kapiteln dieses Essayswerde ich dieser Frage mit Blick auf die Geschichte desKonsumtionsproblems (Kapitel II), die politische Öko-nomie der Gegenwart und die mit ihr verbundenen ideo-logischen Dynamiken (Kapitel III), die Rationalisierungs-programme des digitalen Kapitalismus (Kapitel IV) sowiedie Frage der Entwicklung sozialer Ungleichheit als Effektvon Digitalisierungsprozessen (Kapitel V) in der Knapp-heit, die die stilistische Form des Essays gebietet, nachge-hen. Abschließend fasse ich meine Befunde mit Blick aufeine Theorie des digitalen Kapitalismus zusammen.

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Inhalt

I Einleitung 7

II Von der politischen Ökonomie des20. Jahrhunderts zum digitalen Kapitalismus 21

III Digitale Ideologie – Digitale Ökonomie 39

IV Von der Rationalisierung der Produktionzum effizienten Konsum 56

V Digitalisierung und soziale Ungleichheit 81

VI Das Konsumtionsdilemma 120

Bibliografie 126Zum Autor 133

Zum Autor:

Philipp Staab, Dr. rer. pol., ist Soziologe und war von 2008 bis Mitte 2016 am Hamburger Institut für Sozial-forschung beschäftigt. Seit September 2016 ist er Mit-arbeiter am Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit (igza.org). Seine Forschungsschwerpunkte: Wandel der Arbeitswelt, Soziologie sozialer Ungleich-heit, politische Soziologie, digitaler Kapitalismus. In der Hamburger Edition erschienen: Macht und Herrschaft in der Servicewelt (2014).

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Umschlaggestaltung: Wilfried GandrasSatz: Dörlemann Satz, LemfördeDruck und Bindung: CPI books GmbH, Leck, GermanyPrinted in GermanyISBN 978-3-86854-305-6

1. Auflage September 2016