Leseprobe: Heike Kühn "Schlangentöchter"

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SCHLANGEN TÖCHTER HEIKE KÜHN ROMAN

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SCHLANGENTÖCHTER

HEIKE KÜHN

ROMAN

TÖCHTER

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Als Hartmut Alles, Pfl eger für Reptilien im Frankfurter Zoo, an jenem schicksal-haften Dezembertag des Jahres 1963 erfährt, dass ihm seine Frau statt des erhofften Sohns eine Tochter geboren hat, hält er gerade eine giftige Gruben-otter in den Händen, die seine Unauf-merksamkeit nutzt und ihn durch ihren Biss in Lebensgefahr bringt. Zur gleichen Zeit wird seiner Frau Milla im Kranken-haus eröffnet, dass ihr Neugeborenes Tonie mit einem schwarz-rot-goldenen Schlangenschwanz zur Welt gekommen ist. Wer zunächst nur an eine Laune der Natur denkt, wird von Großmutter Els-beth, der Hüterin des Familiengeheim-nisses, eines Besseren belehrt, denn das Mädchen ist nicht die erste „Schlangen-tochter“ in der weiblichen Ahnenreihe dieser besonderen Familie ... Ihr hellsichtiges Wesen wird Tonie nütz-lich sein, nicht nur beim Umgang mit wilden Zootieren, sondern auch wäh-rend der einsamen Stunden in der dun-klen Abstellkammer, in die sie zur Strafe

gesperrt wird. Mutter Milla kocht und backt derweil und erstickt jeden Konfl ikt unter einer dicken sonntäglichen Sah-neschicht; verdrängte Erinnerungen an die Kriegsjahre brechen sich an anderer Stelle Bahn. Tonie muss selbst heraus-fi nden, warum ihr Vater Hartmut weder an Gott noch an die Menschen glaubt, warum ihre Halbschwester Hannah ständig Bauchschmerzen hat und Tante Christine sich hinter einem undurch-dringlichen Panzer verschanzt.

Heike Kühn entwirft das spannende Pa-norama eines noch durch den Krieg ge-prägten Deutschlands der sechziger und siebziger Jahre und erzählt mit großer stilistischer Begabung von den Verlusten der Unschuld und vom Trauma einer ganzen Generation. In die Geschichte einer deutschen Familie webt sie kunst-voll fantastische Elemente und schafft so einen magischen Raum, in dem die Schlange mit ihrer vielschichtigen Sym-bolik durch die Biografi en führt.

Heike Kühn, geboren 1963, studierte Germanistik, Film, Fernseh- und Theaterwissenschaften, Philosophie und Kunstgeschichte in Frankfurt. Seit 1984 arbeitet sie als Theater- und Filmkritikerin, u. a. für Die Zeit und die Frankfurter Rundschau. Sie publizierte zu den The-men israelischer und iranischer Film, Shoah und Kalter Krieg. Seit 1990 war sie beteiligt an der Konzeption der Arnoldsheimer Filmgespräche, 2007 Referentin an der Kunsthochschule von Portland, Oregon. Für ihr Dreh-buch zu Water Marks gewann sie mit Annette Ernst 2009 den Hessischen Filmpreis in der Kategorie Doku-mentarfi lm und war regelmäßig Jurymitglied internatio-naler Filmfestivals. Schlangentöchter ist ihr erster Roman.

Roman

HEIKE KÜHN SCHLANGENTÖCHTER

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Heike KühnSCHLANGENTÖCHTER

Roman

Etwa 400 SeitenSchön gebunden

Farbiges VorsatzpapierCa. 24,90 €/25,60 € (A)

ISBN 978-3-627-00204-6

Erscheint Anfang März 2014!

EIN DEUTSCHLANDROMAN WIE VON GÜNTER GRASS, EIN FAMILIENROMAN WIE VON ISABEL ALLENDE.

Premierenlesung in der Galerie Bernhard Knaus Fine Art/Frankfurt.

Langer Tag der Bücher/Frankfurt, Leipziger Buchmesse.

Lesungen mit Heike Kühn können über den Verlag vereinbart werden.

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Leseprobe          

Heike  Kühn  Schlangentöchter  

       

 Mehr  Infos:  www.frankfurter-­‐verlagsanstalt.de  

                                   

 

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KAPITEL 1

»Wir werden ihn Tonie nennen. Wie meinen Großvater. Anton Alles hat alles. Was Sie bei uns nicht kriegen, brau-chen Sie nicht, stand auf der Tonne mit den Heringen, und wenn die Polen kamen und zu viert einen Heringsschwanz kauften, ist Christine immer um die Tonne rum und hat ihnen das vorgelesen. Da war sie acht und schon giftiger als du. Nu halt doch mal still. Man könnte ja meinen, es ist das erste Mal.« Der Schwanz der Schlange peitschte den Arm des Wärters, als seine rechte Hand sich dem rautenförmigen, zu den Schläfen hin dunkel bebänderten Kopf des Tieres näher-te und die linke sich bereitmachte, das Fangeisen aus dem Erdreich des Terrariums zu ziehen. Bevor die Schlange sich den Moment der Lockerung zunutze machen konnte, fi xier-ten kundige Finger ihren Schädel über dem Glasrand einer Petrischale. Daumen und Mittelfi nger ihres Gegners mas-sierten sanft ihre Giftdrüsen. Refl exartig dehnte sich der Ra-chen. Die langen, am Unterkiefer befestigten Fangzähne blitzten im Neonlicht. Sie lenkten von den unscheinbaren Röhren der Giftzähne ab, die sich mitsamt der verkürzten, um neunzig Grad verstellbaren Oberkieferknochen aus ihrem Versteck am Gaumen des Tieres lösten und klappmesserartig zum Vorschein kamen. Noch ein Druck auf den massigen, zum Hals hin schmaler werdenden Schädel, und die Schlange verbiss sich in den Glasrand. Anerkennend musterte Hartmut Alles die dickfl üssig hervorperlende Flüssigkeit. Zehn Tage hatte er das Weibchen vor dem Melken hungern lassen. Das dottergelbe Gift in ihren Drüsen hätte Beute bedeutet. Nun würde es sich in Heilung verwandeln. Bedächtig zog er den weit aufgerissenen Rachen des Tieres zurück, drückte den

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Kopf erneut auf den Boden des Terrariums und unter die Gabelung des Fangstocks. »Muss bald so weit sein«, sagte er, während seine Hände über den vibrierenden Schlangenleib strichen und dabei entlang der schwarzbraunen, leuchtend gelb gesäumten Rauten- und Dreiecksfl ecke auf dem rot-braunen Schuppenkleid die Reste einer unlängst vollzoge-nen Häutung abschilferten. Als das Telefon in der Futter-küche klingelte, zuckten Mann und Schlange zusammen, im Gleichklang einer Bewegung. »Heinz, geh ran, ich hab Fens-ter fünf offen. Heinz!« Seine Stimme wand sich durchs Frankfurter Exotarium, kroch in die Ecke hinter dem kleinen Futterhäuschen, stieß auf den Lehrling, der auf der Riesen-schildkröte saß und ihren rissigen Panzer ölte. Aufgeschreckt faltete der Junge seinen Lappen zusammen und schwang sich über die hüfthohe Glaswand. Durch die oberen Spros-senfenster der Futterküche, die sich den Besucherströmen als gläserner Tempel entgegenstellte und auf dem Weg zu der Riesenschildkröte umgangen werden musste, konnte der Lehrling seinen Ausbilder sehen. Nicht einmal am Abend der Inventur ließ sich Hartmut Alles davon abbringen, das Gift für den Serumsbestand der Uniklinik einzustreichen.Dem Tag der Listenfüller brachte Hartmut Alles die Ver-achtung eines Provinzfürsten für seine Steuereintreiber ent gegen. Sollten doch die übrigen Tierpfl eger des Frank-furter Zoos gemeinsam mit Ärzten und Biologen Hufen und Tatzen hinterherlaufen, die fl inken Erdmännchen mit Infrarotstrahlern aus der Dezembererde herauslocken und tränende Augen auf vielfarbig vibrierende Kolibris richten, die sich fl ügelschlagend zu verdoppeln schienen. Mochten Lehrlinge wie der fünfzehnjährige Heinz im Erdgeschoss des Exotariums entlang der tief in die Erde hineingebauten Süß- und Salzwasserreviere an Schwärmen kleiner Fische verzweifeln, die nicht die Chuzpe hatten, sich leuchtend wie

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der giftige Rotfeuerfi sch von Korallen und Seegras abzu-heben.Die illuminierte Treppe hinauf zu Hartmuts Reich herrsch-ten andere Gesetze. In Plastikstufen eingelassene grüne Ne-onröhren glommen wie ewige Lichter, mählich ansteigend wie Kerzen auf einem Opferstock, bis sie vom feuchtwarmen Gleißen des subtropischen Paradieses im Obergeschoss auf-gesogen und übertrumpft wurden. Hier, im Himmel der Echsen und Krokodile, unter den künstlichen Sonnen, die Vipern und Königsnattern hitzeschwer mit der steinernen Kulisse ihrer Behausungen verschmelzen ließen, galt Hart-mut Alles’ Wort als elftes Gebot: Liebe die Geschöpfe, die dir anvertraut sind, mehr als deinen Nächsten.Abgesehen von den Blattschneiderameisen, die am hinteren Ausgang des Exotariums Gänge in die Erde trieben, ohne sich an der Glasscheibe zu stören, die Licht in ihre Geheim-nisse fallen ließ, abgesehen von dem Gewimmel der Rosen-käfer und anderer Bewohner des Insektariums kannte Hart-mut Alles jedes seiner Tiere. Der Alleswisser, zuckte es in den Gesichtern seiner Mitarbeiter, wenn Hartmut Progno-sen über die zu erwartenden Neuzugänge abgab. Nie entging ihm, wo ein Tier sich im Minidschungel eines Terrariums oder unter dem Sand einer zwei Meter breiten Kammer-wüste verbarg. Im Geist nummerierte er den Nachwuchs sei-ner Schlangen bereits, wenn die Leiber der Lanzenottern und Mambas von Eiern anschwollen und die lebendgebärende Gabunviper begann, wie ein aufgerollter orientalischer Tep-pich auszusehen.Heinz hastete zum lichten Raum der Futterküche, dessen Front rechts und links von der Tür die Schaukästen der Skorpione bildeten. Entlang der gläsernen Seitenwände sta-pelten sich die Behälter mit den Botschaftern des Spinnen-reichs. Das grüne Telefon, das an der gegenüberliegenden

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Wandverschalung hing, war verstummt. Heinz setzte sich auf den blankgescheuerten Tisch, auf dem das Futter für die Tiere zubereitet wurde, und ließ die Beine spinnenwärts bau-meln. Neben dem Telefon, zu dem sein Kopf zwischen zwei kurzbeinigen Schlenkern herumschwang, war die Tabelle an-gepinnt, die seit Wochen für Nervosität sorgte. Kein Pfl eger hielt es für ratsam, dagegenzuhalten, wenn der Alleswisser nach den Quoten für die Mambas die Geburt seines ersten Sohnes festsetzte.Nicht einmal der alte Pinguin-Paul, den das Rheuma ge-zwungen hatte, seine kugelbäuchigen Freunde gegen das Kassenhäuschen einzutauschen, erlag der Versuchung, auf eine Laune der Natur zu tippen. Konnten aus einem Gelege von zwanzig Eiern nicht siebzehn Schlänglein hervorgehen? Konnte das Kind, mit dem Hartmuts Frau Milla nun schon eine Zoo-Inventur lang rang, nicht ein Mädchen sein? »Nicht in diesem Leben«, versicherte Hartmut. Einen Alles wolle er, einen Alles bekäme er. Und was anderes als ein Junge könnte seine Frau dazu bringen, derart viel Fleisch zu essen?»Wie kann er das wissen?«, dachte Heinz und holte seine Zunge zurück, die über seine rosigen Kinderlippen fuhr. Auch jetzt, da er sich aus dem Futterhäuschen nicht heraus-wagte, fühlte Heinz sich hin- und hergerissen. Seit vier Wo-chen beobachtete er den Alleswisser. Selbst der Fünf minuten-tod in Gestalt der schwarzen Mamba schien sich Hartmuts Gemütskälte zu fügen. Dass in Hartmuts Adern Gift fl oss, galt als ausgemacht. Wie eine Speikobra, die ihren ätzenden Speichel meterweit ins Auge des Gegners schleudert, konnte er in einer Ecke des Exotariums losbrüllen und am anderen Ende den Gescholtenen treffen. Seine Beleidigungen saßen fest wie die Giftzähne, die manche Schlangen beim Zubeißen zurückließen. Die Pfl eger rissen Witze über ein Anti-Alles-Serum. Heinz mochte nicht mitlachen. Hartmut Alles war

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seiner Bewerbung zuvorgekommen. Vor ihm hatte der Alles-wisser begriffen, dass Heinz unter Schlangen keinen Arbeits-platz suchte, sondern ein Zuhause. Wenn er jetzt hinausginge, würde es klingeln. Besser, das durchdringende Geräusch kündigte einen Jungen an. Oder jemand anderes nähme ab. Vor vier Wochen hätte er den Hörer noch gar nicht anrühren dürfen.

Heinz starrte auf die Tür der Futterküche, bis die Erinne-rung sich termitengleich durchs Holz fraß, Zeit und Raum durchlöcherte. Er hätte nicht sagen können, was ihm selt-samer vorkam, der eigene Körper auf der anderen Seite der Tür oder das Gefühl, sich auf seinem Horchposten nicht von der Stelle bewegt zu haben. So hatte er gestanden, einer von außen, dem noch kein Innerstes Zutritt gewährt hatte. »Das hier«, hatte sein abgeklärter Kollege Rufus gesagt und mit dem Finger auf die in Augenhöhe angenagelte Verkündi-gung der zu erwartenden Eiablage getippt, »solltest du aus-wendig lernen.« Heinz hatte gehorcht und sich verschluckt. »Wie kann er das wissen?« »Der ist dabei gewesen«, hatte Ru-fus sich über den kleinen Heinz gefreut, der ihn dabei ab-löste, die Eier-Frage zu stellen und die Riesenschildkröte zu polieren. »Der macht halbe-halbe mit Mutter Natur, frag Pinguin-Paul.«Ein Stockwerk tiefer konnte Pinguin-Paul ihm auch nichts anderes sagen. Seit fünfzehn Jahren wartete Paul auf die Schlange, die Hartmut Alles zu täuschen vermochte. Paul zuckte mit den Achseln. Schlangen waren so zweideutig. Wie einfach war dagegen ein Leben mit Pinguinen! »Pass auf«, sagte Paul, derweil er sein Rheuma vor dem Pinguinbecken in Bewegung setzte, »jetzt krieg ich Gesellschaft.« Wie ein Bademeister, der einem Ertrinkenden zu Hilfe eilt, war ein Eselspinguin ins Wasser gehüpft. Sein Schnabel hatte die

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Glaswand gestreift, die ihn von seinem alten Pfl eger trennte. Synchron hatten sich die beiden durch das Halbdunkel be-wegt, bis das Gehege endete und beide zur Kehrtwendung zwang. Pauls Knie ächzten, als er auf dem glatten Linoleum einen Halbkreis beschrieb. Seine Augen waren schon auf der Suche nach dem Partner auf der arktischen Seite der Scheibe. Und da war der zipfelohrige Vogel, ein schwarzweißes Glücksrad, das sich um die eigene Achse drehte, während zwei jettfarbene Knopfaugen sich vor Vergnügen kugelten, bis Paul erneut in ihr Blickfeld geriet und der Unterwasser-spaziergang wieder aufgenommen werden konnte. An der Kasse regten sich Hände zum Applaus. Paul schob seinen Hintern ins Kassenhäuschen, ein Einsiedlerkrebs, der sich in sein Schneckenhaus bettet, und lächelte seinen Bewunderern zu. Die beiden sahen aus, als schwänzten sie die Schule, um das Halbdunkel des Exotariums für sich zu haben.

Heinz ertappte sich dabei, auf dem Tisch der Futterküche zu sitzen und seinen Oberkörper hin- und herzuschaukeln. Vol-ler Unruhe war er im Herbst 1963 ins Exotarium gekommen. Boas und Pythons, vor deren Wohngemeinschaft er stehen geblieben war, hatten sich auf ihren Kletterbäumen in die Unkenntlichkeit eines olivfarbenen Knäuels zurückgezogen. Beinah wäre er wieder gegangen. Im hinteren Teil der Anlage fi ng er eine Bewegung auf. Ein Pfl eger ging zwischen den Schlangen umher, öffnete eine Tür an der Rückwand des Ge-heges und verschwand in einem Geheimgang. Urplötzlich tauchte er vor Heinz auf. Ob er schon mal eine angefasst habe? Der Schlangenwärter genoss die Verlegenheit, die seine Frage auslöste. Heinz schüttelte den Kopf und sah noch trostloser aus. Sein blasses Kindergesicht veranlasste den Schlangenwärter, eine der Frontscheiben zu öffnen. Sofort ließ sich die Boa vom Baum herab und kam ihm entgegen.

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Wie eine Wünschelrute ging ihre gespaltene Zunge dem Zap-fen ihres Kopfs voraus, begierig, die Quelle der Erschütte-rung zu fi nden. Ein Griff hinter ihren Nacken, und die Schlange lag in den Armen ihres Pfl egers. »Fass sie an«, for-derte er Heinz auf, die Schönheit des Tieres auf ganzer Länge entfaltend.Der Schlangenmann und seine Schlange.Das Gewicht der Boa, Heinz meinte es wieder zu spüren. Am ersten Tag seines neuen Lebens, Hartmut hatte ihm die Boa in einem Akt der Überrumpelung um den Hals gelegt, waren seine Knie auch so weich geworden. Wie die Schlange auf seine verkrampften Muskeln reagierte. Ein Zittern zog die sandfarbenen Ellipsen ihres Rückenmusters auseinander, dehnte ihre Rauten zum Einfallstor einer unbekannten Di-mension. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte der Schlangenmann, »halt still und erschrecke sie nicht.« Eine Weltumdrehung hing Heinz am Boa-Ende, ein Hündchen an der Leine, dann lösten Hartmut Alles’ Hände das zuckende Band von seinem Hals.

Noch Tage später spürte Heinz den Rhythmus, den die Rie-senschlange an seine erschlafften Muskeln weitergegeben hatte. Sein Nacken glühte. Die Steife, die seinen Kopf so oft vom Körper fernzuhalten schien, war aus seinen Halswirbeln gewichen. »Ich bin Hartmut Alles«, hatte Hartmut sich ihm vorgestellt, »und du bist mein neuer Praktikant.«Letztlich, das hatte Heinz seiner ersten Begegnung mit Hart-mut entnommen, war es immer der Mensch, der den Men-schen betäubte. Er lernte viel von Hartmut. Die Kobra, die sich der Legende nach durch das Flötenspiel ihres Besitzers hervorrufen und verschaukeln ließ, folgte seinen Bewegun-gen. Schlangen waren taub für Musik.

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Heinz konnte in der Futterküche die Skorpione hören, die beim Wenden im engen Geviert der Schaukästen mit auf-gestellten Stacheln auf die Scheiben trommelten. Die Ku-ckucksuhr, die zu jeder vollen Stunde ein Krokodil aus ih-rem Inneren hervorschießen ließ, das über einem winzigen Ei Acryltränen vergoss, zeigte zwanzig Minuten vor Mitter-nacht. Was schwänzelt die Uhr? Hartmut und Rufus wurden nicht müde, den Scherzartikel zu befragen, in dessen Ziffer-blatt Mutter Krokodil saß und der Zeit mit erhobenem Schwanz eins auf den Zeiger gab. Heinz schlich zur Tür hi-naus.Hartmut Alleswisser war noch immer mit der Bewohnerin des fünften Terrariums beschäftigt. Kraulte er der Schlange den Rücken? Der Junge umging seinen Ausbilder in einem Bogen, der beinah bis zum Krokodilbecken auf der anderen Seite des Besuchergangs reichte. Er fl itzte die Treppe hinun-ter zum Kassenhäuschen. Bei Paul erholten sich alle Neu-linge von der Anstrengung, es einem Alles recht zu machen. »Ich war nicht schnell genug am Telefon. Er steht da und streichelt die Spenderschlange.«»Bist doch ein grüner Junge«, sagte Paul. »Er hat eine Pin-zette und liest damit Milben ab. Milben machen Schlangen reizbar.« Paul sah auf die große runde Uhr über dem Eingang. »Hartmut mag seine Schlangen ja auch nach Dienstschluss kurieren, aber ich mach jetzt Feierabend. Vergiss nicht, du musst dich bei ihm abmelden.« Heinz nickte ergeben. Er war schon auf der Treppe, als der Telefonapparat im Kassenhäus-chen klingelte. Das musste das Signal für das Ende der In-ventur sein. Gleich würde Paul die Treppe raufkeuchen, um mit Hartmut die Verriegelung der Terrarien zu überprüfen.»Herr Alles, ich melde mich ab«, sagte Heinz, »es ist Mitter-nacht.«Hartmut nickte Heinz zu, der pünktlich und mit respekt-

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vollem Abstand vor ihm stand. Voller Bedauern ließ Hart-mut von der Schlange ab, die auf drei Metern Länge mit einer Armee blässlicher Parasiten kämpfte. Heinz umging das geöffnete Terrarium. Er solle es nicht darauf anlegen, herauszufi nden, ob die Versicherung in der Probezeit Be-gräbnisse bezahle, hatte sein neuer Kollege Rufus gestichelt, bevor er zum Skifahren gefahren war. Über Pauls Angewohn-heit, Neuigkeiten hemmungslos herauszuschreien, hatte Ru-fus nichts gesagt. »Glückwunsch«, hörte Heinz Pauls Stim-me durchs Treppenhaus dröhnen, »Glückwunsch, Hartmut, du hast eine Tochter!«Hinter der geöffneten Scheibe zogen sich die Lippen aus Hartmuts Gesicht zurück, um einem Schrei Platz zu machen. »Verscheißern« meinte Heinz, der am nächsten stand, im nächsten Moment zu hören, doch Hartmuts Kehle schleu-derte aus dem Zentrum des Gebrülls lediglich Brocken em-por, die zischend in den Strom der Worte zurückfi elen. MICH ALLEINE. Heiß stieg die Empörung in Hartmut auf. Hatte er Millas unehelicher Tochter Hannah nicht seinen gu-ten Namen gegeben? Milla geheiratet, obwohl sie dieses Balg mitgebracht hatte? Wo war der Sohn, der es ihm lohnte? Noch bevor er den Hass auf Milla zurückdrängen konnte, die ihm keinen Alles geboren hatte, spürte er den brennen-den Schmerz in der rechten Hand. Wut hatte am Fangstab gerüttelt und eine unbändige Kraft entfesselt. Hartmut starrte auf den Zahn, den die Schlange beim Zubeißen in sei-nem Mittelfi nger zurückgelassen hatte.»Ich hatte keine Zeit nachzudenken«, wird Heinz später sa-gen, da Vorwurf und Verdienst in seiner Personalakte kolli-dieren.Jetzt aber behält er mit einem Auge den blau anlaufenden Hartmut im Blick, der vor dem Terrarium zusammensinkt. Mit dem anderen Auge folgt er den Windungen des Reptils,

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das in der Mitte des Besuchergangs hinter einer Schnee-schaufel Stellung bezieht. In seinem Rücken spürt Heinz den Atem, den Paul für ihn anhält. Wenn sie sich tellerartig zu-sammenrollt, geht sie zum Angriff über, so war das doch, oder Heinz? Die Erinnerung an das Gelernte verschwimmt vor Heinz’ Augen wie ein Schwarm silbrig blendender Ma-krelen, der schneller die Richtung wechselt, als er Fisch und Gedanken fassen kann. Die Schlange hebt den Kopf. Die Stichfl ammen ihrer Pupillen lodern auf. Die Augenbrauen-schilde, der berühmte grimmige Blick! Der Buschmeister, blinkt es durch Heinz’ Gehirn, kann sich an Giftigkeit nicht mit der Kobra messen, doch die schiere Menge seines Giftes gleicht die geringere Toxizität aus. Dieses Weibchen hat be-reits einmal in die Petrischale gebissen; die Hälfte seines Gifts ist ihm damit genommen. Trotzdem setzt Heinz die Intro spektion seiner neuen Gelehrsamkeit fort, während er sich der an die Wand gelehnten Schneeschaufel nähert, trotzdem ist etwas mit dieser Schlange, deren Familienzuge-hörigkeit ihm nicht einfällt. Sie ist eine, eine, sie ist Lachesis mutus, na fein, denkt Heinz, hier beißen sie lateinisch, und er-greift schweißnass den Stiel, bevor er die verdutzte Schlange auffegt und die Schaufelvoll farbenprächtig gemusterten Tod ins gegenüberliegende Krokodilbecken katapultiert.Wie ein Lindwurm fl og die Schlange durch die Luft, das Ende ihrer drei Meter langen Starre ein Höhenruder, das be-leidigt hin- und herschwang. Jenseits der Glasbrüstung klatschte ihr Leib in den Krokodilteich. Der gedämpfte Laut zuschnappender Kiefer verriet Heinz, dass die Frage der post-darwinistischen Artenauslese sich erledigt hatte. Die Frage nach dem Serum nicht. Hinter ihm war Paul bereits zum Notfallkoffer gestürzt. Wüssten die Männer, was die Uhr schwänzelt, könnten sie die Gabe des menschlichen Ge-hirns ermessen, in so kurzer Zeit so viel Zeit verstreichen zu

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lassen. Endlos, oder etwa nicht, kniete Paul vor Hartmut auf dem Boden, bis das Kissen aus dem Erste-Hilfe-Koffer hinter dem Rücken des schwer Atmenden steckte.Hartmuts Augen sind rot. Aber hat er nicht noch ein zweites Paar? Mit den Augen, die kurz nach dem Biss in sein Fleisch hinabgeglitten sind und lidlos durch seine Arterien schwim-men, sieht Hartmut das Gift. Er sieht die Schlange unter sei-ner Haut, die nur darauf wartet, mit jeder seiner Regungen in den Kanälen des Blutes vorwärtszugleiten, dem Pulsieren entgegen wie das Buschmeisterweibchen der Hitze, die in Hartmut aufgestiegen ist. Familie Grubenottern, will er Paul und Heinz zuschreien, Grubenottern, ausgestattet mit der Grube zwischen Auge und Nase, einem Sinnesorgan, das noch in völliger Dunkelheit die Körperwärme der Beute re-gistriert. Das alles wird er Heinz erzählen, eintrichtern wird er es ihm. Er ist aus der Zeit gefallen, doch sobald er zurück ist, wird er aus dem Jungen einen Schlangenmann machen. Er hat genug von Realschülern, die nur bei ihm antreten, um am Ende des zweiten Jahrtausends in den Genuss einer städ-tischen Zusatzrente zu kommen. Praktikanten sind für ihn auch nur eine Art lebender Terrarien. Hartmut beobachtet das Leben darin: eine Regung von Widerwillen gegenüber dem Gewimmel in der Kinderstube der Geburtshelferkröte, ein Zusammenzucken, wenn der Atem der Alligatoren nach dem Geruchssinn schnappt, und der Anwärter auf den Exo-ten-Status wird in den Streichelzoo verbannt. Wenn die Her-ren glauben, dass Hängebauchschweine besser riechen, bitte sehr. Dem Glück, einem Warmblüter mit Schaufel und Be-sen hinterherzulaufen, steht Hartmut nicht im Wege.Nicht dass Hartmut etwas gegen Säugetiere hat. Was immer dem Tierreich angehört, kann auf seine Loyalität vertrauen. Für Schlangen empfi ndet er von jeher anders. Auf Adam und Eva kann er verzichten. Sein Paradies gehört der Schlange.

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An guten Tagen, wenn die Pythons mit ihrer Beute spielen und ihre gemusterten Leiber zu einem Netz von Gier und Lebensfreude zusammenziehen, spricht er von der Wieder-geburt des Frankfurter Zoos. Von den Tieren, die Bombarde-ment und Raubzüge der Stadtbewohner überstanden haben. Von dem Brot für die Elefanten, das der berühmteste Direk-tor, den Frankfurts Zoo je hatte, Hartmut blau färben hieß, um die Frankfurter von Klettertouren über die Zoomauer abzubringen. Nie denkt Hartmut an diesem Punkt der Er-zählung darüber nach, ob es zermürbender ist, Elefanten oder Menschen hungern zu lassen. Wenn der kleine Heinz nur nicht immer alles stehen ließe. Wenn er das hier überlebt, muss er ihn wegen der Schneeschaufel zur Rede stellen. Jetzt muss er nur wach bleiben. Milla, denkt er in dem Teil seines Hirns, das sich weigert, dem Dunkel nachzugeben, Milla und das Kind, das Tonie heißen muss. Das kann sie ihm nicht abschlagen. Kein Anton geworden, na gut. Für eine Tonie wird es wohl reichen.Hartmut fühlte die Maske des Gifts über seinem Gesicht. Sein Wille ein winziger Hammer, der auf die verstockten Muskeln einschlug, bis die Maske riss und er für einen Augen-blick aus seinem Gefängnis hinaussehen konnte. Die Arm-banduhr. Kurz nach dem Biss hat er auf die Uhr gesehen. Im-mer gut, zu wissen, wann der Tod eintritt. Vier Minuten sind vergangen. »Die Schlange?«, würgte er hervor, während Paul mit dem Notfallkoffer heranschlitterte. Paul winkte ab. Alles in Ordnung. Wenn man das so sagen konnte. »Höher«, gur-gelte Hartmut, als Paul über der grünblau schillernden Wun-de, an deren Rändern sich rund um den zurückgebliebenen Zahn bereits olivengroße schwarze Blasen ausstülpten, nach der einzig richtigen Stelle für die Druckkompresse suchte. Fünf bis zehn Zentimeter über der Bisswunde, herzwärts. Seltsam. Wo doch ein Finger immer auf andere zu deuten

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schien, sollte seiner jetzt zum Herzen führen? Musste man Paul alles sagen? Pinguine verdarben einen für die At tacken der Welt, die zubiss, wenn man glaubte, ihr jegliches Gift entrissen zu haben. »Feste, aber nicht zu fest«, stöhnte Hart-mut. Hinter Pauls Kopf zielt eine Schneeschaufel auf Hart-mut. Er hat von den Halluzinationen Gebissener gehört, von Insekten, die über den Körper krabbeln, von dem metal-lischen Geschmack im Mund. Er also sieht eine Schnee-schaufel. Bei 26 Grad Raumtemperatur. Allerdings scheint die Hitze ihn neuerdings auszusparen. Vor seinen Augen grieselt es. Er fühlt, dass er dabei ist, etwas zu verlieren. Das Gefühl? Den Verstand?»Nicht hinlegen«, klapperten Hartmuts Zähne einen Refrain auf das Summen, das in seinen Ohren anstieg, »nicht be-wegen.« Wegen, wegen, wegen, braust das Echo in seinem Körper, der sich in ein Kosmos-Abhörgerät verwandelt hat. Das Trappeln der Blattschneiderameisen, das Schrumpfen seiner Nieren, das Platzen sauerstoffhaltiger Blutkörperchen, Hartmut hört es. Aber da ist auch seine Mutter Elsbeth, die »Puppchen, du bist mein Augenstern« singt, und ein Ge-räusch, das hier nicht hingehört. Der Gürtel seines Vaters pfeift durch die Luft wie eine Messerschmitt im Anfl ug.

In der Futterküche fi el Heinz das Kästchen mit dem Serum leer aus den Händen. Die Phiole, die Hartmut brauchte, hatte ein Zollbeamter bekommen, der eine Kiste mit der Aufschrift »Achtung! Lebendware!« geöffnet hatte. Noch so einer, der eine Warnung nicht verstand, selbst wenn sie vor ihm lag und ihm mit dem Schwanzende etwas vorklapperte. War zwar kein Buschmeister, der den Dämlack gebissen hatte, aber eine verwandte Seele. Polyvalentes Serum, dachte Hart-mut draußen auf dem Gang, oder zumindest dachte er, dass er dachte. Mit dem frisch gemolkenen Gift im Kühlschrank

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konnte er nichts anfangen. Das wusste sogar der kleine Heinz. Den Krankenwagen hatte der Junge längst angefor-dert. Noch immer hielt Heinz den Hörer ans Ohr gepresst. »Er sagt«, brüllte Heinz Paul zu, der dicht hinter ihm stand, »er sagt, sie sind gleich da. Sie halten Serum für alle Fälle be-reit.« Am anderen Ende der Leitung stieß der Lärm auf wenig Gegenliebe.»Hören Sie mich?«, raunzte es in Heinzens Ohr. »Hören Sie mir jetzt mal zu? Wir müssen wissen, was den Mann gebissen hat. Und jetzt kommen Sie mir nicht wieder mit Lachesis mutus. Wir sind die Uniklinik, nicht das Senckenbergmuseum. Die Familie brauchen wir. Ihre stumme Schicksalsgöttin, welcher Familie gehört sie an?«