Leseprobe_Flussfahrt

20

description

Ein Auszug aus der Neuübersetzung von James Dickeys Roman »Flussfahrt«.

Transcript of Leseprobe_Flussfahrt

89

Drei

Fünfzehnter September

Zwischendurch erwachte ich mehrmals, und als ich endlich richtig munter war, hing das Moskitonetz grau und ruhig

vor dem Zelteingang. Drew steckte tief in seinem Schlafsack und wandte mir seinen Hinterkopf zu. Ich hielt die Taschenlampe noch immer in der Hand und versuchte, mir den kommenden Tag auszu-malen. Der Fluss strömte durch ihn hindurch, doch bevor wir uns wieder seiner Bewegung überließen, waren andere Dinge möglich. Ich dachte daran, dass ich an einem Ort war, wo keine – oder fast keine – meiner täglichen Pflichten irgendeinen Sinn machten. Es gab keine Angewohnheiten, auf die ich zurückgreifen konnte. War das Freiheit?, fragte ich mich.

Ich zog den Reißverschluss des Schlafsacks herunter und rollte mich hinaus. Ich hielt den Atem an und während ich mich nach einem schnellen Blick durch das Eulenloch frei machte, entwich meine eigene Wärme und verflüchtigte sich. Ich zog meine Turn-schuhe an und lehnte mich dem Flussrauschen entgegen. Dann stand ich auf.

Es war seltsam warm und ruhig und schwül. Auf dem Fluss zog dichter Nebel, der sich etwas langsamer bewegte als die eigentliche Strömung, in großen formlosen Schwaden flussabwärts. Während ich sie beobachtete, schwebten sie auf das Ufer zu und flossen darüber hinweg, und in ihrer Stille wurde mir klar, dass ich darauf gewartet hatte, dass sie dabei ein Geräusch machen würden. Ich sah auf meine Beine und sie waren verschwunden und die Hände

90

an meinen Seiten ebenfalls. Ich stand da, während mich der Nebel bei lebendigem Leib auffraß.

Ich hatte eine Idee. Ich ging zurück zu meinem Seesack, holte eine Garnitur langer Unterwäsche heraus und zog sie an. Sie hatte fast die gleiche Farbe wie der Nebel. Die Außenhaut meines Bogens bestand aus weißem Fiberglas, was in grünen oder braunen Wäl-dern normalerweise ein Nachteil war, sich jetzt aber als sehr gün-stig erwies. Ich bespannte den Bogen, indem ich mich mit meinem ganzen Körpergewicht darauf lehnte. Dann nahm ich einen Pfeil aus dem Köcher und ging um die Zelte herum. Der Nebel quoll über die Zeltplanen und wogte träge wie tiefes Wasser um Lewis und die anderen herum. Er stieg entlang eines schmalen langen Ein-schnitts oder Grabens in den Wald hinauf. Ich folgte dem Graben, verwarf mein Vorhaben, Lewis zu wecken, und konzentrierte mich darauf, möglichst lautlos zu sein. Ich konnte den Weg vor mir zwar nur erahnen, aber ich wusste, wenn ich im Graben blieb, musste ich ihm nur wieder nach unten folgen, um ins Lager zurückzuge-langen. Selbst wenn der Nebel dichter würde, musste ich mich nur umdrehen und hinunterlaufen, bis ich praktisch – oder tatsächlich – über die Zelte stolperte. Unter diesen Bedingungen versuchte ich, eine Art Beziehung zum Wald herzustellen: Ich war so unsichtbar wie ein Baum.

Zunächst hatte ich nicht daran gedacht, wirklich zu jagen. Ich wusste nicht genau, was ich tat, außer dass ich vorsichtig voran-schritt, weg vom Fluss und in immer größere Stille und Blindheit – denn der Nebel überholte mich und verdichtete sich vor meinem Gesicht. Ich trug den Bogen mit dem eingelegten Pfeil und drei weiteren Pfeilen in der einen Hand und hielt die Sehne mit der anderen. Sie vibrierte wie ein Draht zwischen den Fingern meiner rechten Hand und sandte einen elektrischen Strom aus. Dieser schien aus dem Wald und dem Nebel zu stammen und von der Tatsache gespeist zu werden, dass in diesem Moment das Jagen und

91

der Plan zu jagen eins geworden waren und ich beides nicht mehr unterscheiden konnte. Bevor ich hinter den Zelten in den Wald trat, hatte ich gedacht, dass ich, da ich die Jagdwerkzeuge besaß und sie zu einem gewissen Grad zu benutzen wusste, nur vorgeben würde, das zu tun, weshalb ich hergekommen war. Ich wollte nur eine Weile fortbleiben, bis die anderen aufgewacht waren und bemerk-ten, dass ich weg war – ich dachte daran, an der Grabenkante zu sitzen und mit Blick auf meine Armbanduhr eine halbe Stunde zu warten. Dann wollte ich mit dem Bogen über der Schulter ins Lager zurückkehren und verkünden, ich sei unterwegs gewesen, um mich etwas umzuschauen. Das hätte meiner Ehre gereicht.

Doch jetzt nicht mehr; nicht mehr ganz. Ich spähte wirklich umher und lauschte tatsächlich, und meine Beine und Arme und Finger waren auf der Hut. Zumindest bis zu einer Entfernung von etwa fünfunddreißig Metern war ich ein sicherer Schütze, und in der nächsten halben Stunde würde meine Sichtweite nicht annä-hernd so weit reichen. Ich könnte es schaffen, wenn ich auf einen Hirsch stieß. Ich war mir sicher, dass ich es tun könnte, und es tun würde.

Der Nebel war immer noch dicht, doch der Graben stieg an und als ich höher kam, wurde die Sicht besser: Zuerst drang Licht durch den Nebel und dann erkannte ich allmählich einzelne Dinge – Blätter und Zweige. Die Grabenwände waren nicht mehr so hoch. Sie reichten mir kaum bis zur Schulter und ich konnte zu beiden Seiten auf Bodenhöhe ein wenig in den Wald sehen. Nichts bewegte sich und auch die Stille sprach dafür, dass nichts da war. Für den Fall, dass dennoch etwas da sein sollte, versuchte ich, so lautlos wie möglich zu sein. Der feuchte Boden half mir und soweit ich es beurteilen konnte, hatte ich bisher kaum Geräusche gemacht. Wenigstens für eine kurze Zeit glaubte ich, dass ich am Ende gar keinen allzu schlechten Jäger abgab.

Ich ging weiter hinauf, entlang dessen, was jetzt kaum mehr als

ein vertiefter, an beiden Seiten eingeschnittener Pfad war; um mich herum die letzten Nebelfetzen. Ich wusste, ich sollte besser nicht weitergehen, um den Graben nicht aus den Augen zu verlieren. Ich blieb stehen und drehte mich um. Dort gab es nichts, was ich nicht schon gesehen hätte.

Ich ging zurück und spähte weiterhin so tief in den Wald hinein, wie ich konnte. Links und rechts kam der Waldboden wieder langsam auf Augenhöhe. Der Nebel begann, in kleinen Wölkchen in mein Gesicht zu wabern. Ich fürchtete schon, an den Zelten vorbei direkt in den Fluss zu laufen, als sich zu meiner Linken etwas bewegte. Ich hielt inne und der Nebel reichte mir genau bis zum Kinn. Etwa fünf-zehn Meter von mir entfernt, gerade noch in Sichtweite, stand ein kleiner Hirsch, ein Spießer, soweit ich es beurteilen konnte. Er äste. Er war die kleine Ausgabe eines richtigen Hirsches, aber immerhin ein Hirsch. Er hob den Kopf und blickte mir direkt ins Gesicht, das aus seiner Perspektive wie ein seltsamer Stein auf dem Boden ausgesehen haben musste, wenn er es überhaupt sah. Ich stand da, bis zum Hals im Graben, im Boden des Waldes verborgen.

Er drehte mir seine Flanke zu. Ich hatte tausendfach aus der gleichen Distanz auf Ziele geschossen, die nicht ein Viertel seiner Größe hatten. Und als ich daran dachte – als meine Augen und Hände eins wurden – wusste ich, dass ich ihn genauso leicht töten konnte wie seinen Pappumriss. Ich hob den Bogen.

Er reckte seinen Kopf ein wenig höher und senkte ihn dann wieder. Ich zog die Sehne rechts von meinem Gesicht zurück und suchte einen festen Stand. Für einen Augenblick hielt ich den Bogen so stark gespannt wie möglich. Der Großteil meiner Kraft strömte aus mir heraus und in den Bogen hinein, wobei der Pfeil direkt auf sein Herz gerichtet war. Es war ein leichter Aufwärtsschuss und ich musste ein wenig nach oben halten, obwohl das auf diese Entfernung kaum eine Rolle spielte.

Ich ließ los, doch im gleichen Moment wusste ich, dass es kein

92

guter Schuss war, nicht sehr schlecht, aber trotzdem schlecht. Das-selbe war mir bereits bei Bogenturnieren passiert: im Augenblick des Schusses die Bogenhand anzuheben. Durch das Geräusch der Sehne sprang der Hirsch auf und wirbelte in dem Augenblick herum, als ihn eigentlich der Pfeil treffen sollte. Ich hoffte, ich hätte ihn weiter oben erwischt, doch ich hatte genau gesehen, wie die orangefar-benen Federn über seine Schulter flatterten und verschwanden. Ich mochte ihn gestreift haben, doch ich war sicher, dass ich kein Blut vergossen hatte. Er rannte ein Stück und drehte sich um, blickte über seine Schulter zu mir zurück. Ich nahm einen weiteren Pfeil und legte ihn ein, doch mein Mut hatte mich verlassen. Ich zitterte und hatte Schwierigkeiten, den Pfeil ruhig zu halten. Ich hatte den Bogen nur etwa halb gespannt, als der Hirsch endgültig davon-sprang. Ich schoss trotzdem und sah den Pfeil entsetzlich schlingern und irgendwo oberhalb der Stelle verschwinden, wo eben noch der Hirsch gestanden hatte.

Ich keuchte und schwitzte, während ich den Nebel einsog und ausatmete; ein übles, dampfendes Gas. So ging ich bergab, wobei ich zeitweise meine Hand auf Armlänge vor meinem Gesicht ausstreckte. Ich erblickte die Zelte – erst eines, dann das andere: niedrige dunkle Flecken, die etwas Strukturiertes an sich hatten und hier eindeutig fehl am Platz waren.

Lewis war auf und versuchte, ein Feuer aus nassen Ästen und Zweigen zu machen. Während ich die Sehne aus dem Bogen löste, kamen die anderen ebenfalls heraus.

»Was ist damit?«, fragte Lewis und betrachtete die beiden leeren Schlitze im Köcher.

»Ich habe geschossen.«»Hast du?«, sagte Lewis und richtete sich auf. »Habe ich. Ein grandioser Fehlschuss auf fünfzehn Meter.«»Was ist passiert? Wir hätten einen Braten haben können.«»Ich glaube, ich habe meine Bogenhand verrissen. Ich war nervös.

93

Weiß der Teufel, warum. Ich hatte ihn im Visier. Er wurde immer größer. Es war, als schösse man auf eine Zimmerwand. Aber ich habe ihn trotzdem verfehlt. Es war nur dieser eine Augenblick, als ich den Pfeil losließ. Irgendetwas befahl mir, die Hand zu heben, und bevor ich etwas dagegen machen konnte, hatte ich es getan.«

»Verdammt«, sagte Bobby. »Psychologie. Die edle Kunst der Jagd.«

»Du wirst noch weitere Gelegenheiten bekommen«, sagte Drew. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

»Zum Teufel«, sagte ich. »Wenn ich ihn getroffen hätte, wäre ich immer noch im Wald auf seiner Spur. In diesem Nebel wäre er schwer aufzuspüren. Genauso wie ich.«

»Du hättest die Stelle markieren sollen, von der aus du geschos-sen hast, und dann zurückkommen und uns holen können«, sagte Lewis. »Gemeinsam hätten wir ihn gefunden.«

»Es würde ganz schön dauern, ihn jetzt zu finden«, sagte ich. »Wahrscheinlich ist er schon im nächsten County.«

»Kann sein«, sagte Lewis. »Aber es ist schade. Wo ist mein alter treffsicherer Kumpel geblieben?«

»Dein alter treffsicherer Kumpel ist explodiert«, sagte ich. »In alle Richtungen.«

Lewis sah mich an.»Ich weiß, dir wäre das nicht passiert«, fuhr ich fort. »Das

brauchst du mir nicht zu sagen. Wir hätten Fleisch gehabt. Wir hätten ewiges Leben gehabt. Und soll ich dir etwas sagen? Ich wünschte, du wärst da oben gewesen und ich wäre dabei gewesen. Ich hätte meinen Bogen abgespannt und zugesehen, wie du ihm einen Blattschuss verpasst. Direkt in die Pumpe. Aus fünfzehn Metern eine Kleinigkeit. Ich habe da oben tatsächlich die ganze Zeit an dich gedacht.«

»Dann denk nächstes Mal nicht an mich. Denk an den Hirsch.«Ich ließ es dabei bewenden und ging, um die Sachen aus den Zelten

94

zu schaffen. Lewis gelang es schließlich, so etwas wie ein Feuer in Gang zu bringen. Als die Sonne höher stieg und an Kraft gewann, brannte sie den Nebel in wenigen Minuten weg. Dadurch zeigte sich der Fluss, den wir zuerst kaum ausmachen konnten, immer deutlicher, bis wir nicht nur seine Oberfläche und die Bewegung der Strömung erkennen konnten, sondern bis auf die Kiesel des Flussbetts nahe des Ufers durch ihn hindurch sahen.

Wir aßen Pfannkuchen mit Butter und Hirse. Nachdem wir fertig waren, ging Lewis zum Fluss und wusch das Geschirr ab. Ich zerrte die Luftmatratzen aus den Zelten, zog die Ventilkappen ab und legte mich nacheinander auf jede Matratze, bis ich den Boden durch sie hindurch spürte und auf dem letzten Atemseufzer lag, den ich am Abend zuvor hineingepumpt hatte. Wir rollten die Zelte zusam-men, die noch feucht und von Blättern und Rindenstücken bedeckt waren, und verstauten sie in den Kanus. Ich fragte die anderen, ob sie meinten, wir sollten diesmal andere Teams zusammenstellen. Ich fürchtete, Lewis könnte in seiner Ungeduld unwirsch gegenüber Bobby werden. Außerdem schien Bobby plötzlich am Rande der Verzweiflung, als bereue er bereits, überhaupt mitgekommen zu sein, sodass ich glaubte, es sei vielleicht das Beste, wenn ich mich seiner annahm. Drew hätte bei den Witzen, die Bobbys einziges Mittel gegen seine Angst waren, nicht gelacht oder nicht auf die richtige Weise gelacht. Ich dagegen glaubte, ich könnte das.

»Wie steht’s mit uns, Tiger?«, sagte ich zu Bobby.»Okay«, sagte er. »Was schätzt du, wie weit wir heute kommen

werden?«»Da bin ich überfragt«, sagte ich. »Wir werden so weit kommen

wie möglich. Hängt vom Wasser ab und wie viele Stellen wir durch-waten müssen. Alles, einschließlich der Karte, spricht dafür, dass weiter unten eine Schlucht kommt und das beunruhigt mich ein wenig. Aber wir können nichts daran ändern.«

Bobby und ich stiegen ein und paddelten los, und ich merkte sofort,

95

96

dass ich eine schwere Zeit haben würde. Ich war selbst auch nicht in allerbester Form, aber Bobby stöhnte und keuchte bereits nach den ersten hundert Metern. Seine Bewegungen waren vollkommen unkoordiniert und durch ihn verwandelte sich das Kanu von dem, was es unter Drews gleichmäßigen kräftigen Schlägen gewesen war, zu einem nervösen, instabilen Gefährt, das dazu verurteilt schien, alles falsch zu machen, und entschlossen war, uns abzuschütteln. Ich war sicher, dass Lewis genug von Bobby hatte und dass ich seiner in Kürze ebenfalls überdrüssig sein würde.

»Locker«, sagte ich. »Locker. Übertreib es nicht. Alles, was wir wollen, ist dieses Ding geradehalten. Wir müssen uns nicht die Seele aus dem Leib paddeln. Lass das einfach den Fluss machen. Lass George das übernehmen.«

»George ist zu langsam. Ich will so schnell wie möglich raus aus dieser gottverdammten Gegend.«

»Aber, aber. So schlimm ist sie auch wieder nicht.«»Ist sie nicht? Die Moskitos haben mich letzte Nacht beinahe

aufgefressen. Ein Stich neben dem anderen. Vom Schlafen auf dem verdammten Boden bekomme ich eine beschissene Erkältung. Ich habe einen Bärenhunger auf etwas, was gut schmeckt. Und damit meine ich keine Hirse.«

»Beruhige dich einfach ein bisschen und wir kommen ans Ziel … falls wir ans Ziel kommen. Du kannst Gift darauf nehmen, dass es deiner Erkältung sicher nicht gut tut, in diesen Fluss zu fallen.«

»Scheiß drauf«, sagte er. »Ich habe diesen Wald satt. Ich habe es satt, in Erdlöcher zu scheißen. Das hier ist was für Indianer.«

Nach einer Weile beruhigte er sich ein wenig und die Röte seines Nackens wurde etwas heller. Alle fünfundzwanzig Meter machten wir ein paar Paddelschläge und der Fluss trug uns voran. Bei meinem hohen Schwerpunkt und seinen Nerven glaubte ich trotzdem, dass unsere Chancen ziemlich gut standen, vor Ende des Tages zu kentern. Vor allem, wenn schnelle Abschnitte mit vielen

97

Felsen kamen. Bobby und ich waren zusammen mindestens fünfzig Pfund schwerer als die beiden anderen und durch das zusätzliche Gewicht der Ausrüstung lagen wir zu tief im Wasser. Wir hatten zu viele Sachen an Bord und ich signalisierte Lewis, ans Ufer hinüber-zupaddeln. Er tat es und wir schlingerten längsseits an das andere Kanu und machten fest.

»Es wird heiß«, sagte Lewis.»Höllisch heiß«, sagte ich.»Hast du vorhin die große Schlange gesehen?«»Nein. Wo?«»Sie lag auf einem Ast der alten Eiche, unter der ihr vor etwa

anderthalb Meilen durchgefahren seid. Ich habe sie erst gesehen, als ihr direkt unter ihr wart und sie den Kopf hob. Ich wollte keinen Alarm schlagen. Ich dachte, das würde sie vielleicht nervös machen. Ich bin ziemlich sicher, dass es eine Mokassinschlange war. Ich habe gehört, die lassen sich in Boote fallen.«

»Verdammte Scheiße«, sagte Bobby. »Das hätte uns gerade noch gefehlt.«

»Ja«, sagte Lewis. »Das kann ich mir vorstellen.«»Könnt ihr ein paar von unseren Sachen in euerem Kanu mitneh-

men?«, fragte ich. »Wir liegen verdammt tief.«»Sicher. Hol das Kochgeschirr und die Schlafsäcke. Das sollte uns

etwa gleich schwer machen. Du kannst uns außerdem die Hälfte von dem Bier geben, das noch da ist.«

»Aber gern. Heute werden wir alle eine kleine Abkühlung gebrauchen können.«

»Warum nur das Bier dafür benutzen?«, sagte Lewis und knöpfte sein Hemd auf. »Hier ist das Wasser flach und ruhig. Ich werde mich ein wenig nass machen.«

Ich packte die Schlafsäcke, das Bier, den Primuskocher und die anderen Kochutensilien in das andere Kanu. Lewis war bereits im Wasser und kraulte nackt flussabwärts, wobei er seinen Rücken

98

zeigte wie Johnny Weissmüller in den alten Tarzan-Filmen. Er schwamm so gut, wie er alles andere auch machte, und überholte die Strömung mit Leichtigkeit. Dann kam er zurück und seine Augen leuchteten auf Höhe des Wasserspiegels. Ich schälte mich aus meinem Overall und tauchte hinein. Drew tat das Gleiche.

Der Fluss war sehr kalt. Es fühlte sich an, als seien Schnee und Eis darin gerade erst zu Wasser geworden. Aber er war wundervoll klar und lebendig. Er brach sich an uns wie Glas und schloss sich danach unversehrt. Ich schwamm ein wenig in die Strömung hinein und hätte am liebsten auf jede Anstrengung verzichtet – ich war jeder Art von menschlicher Anstrengung überdrüssig, insbesondere meiner eigenen – und mich tot oder lebendig mit dem Strom treiben lassen, wo immer er mich auch hintragen würde. Aber ich schwamm dennoch anstrengende vierzig Meter gegen das beharrliche Zerren und flussabwärts ziehende Drängen zurück und richtete mich neben Lewis auf, der bis zur Hüfte im Wasser stand, das sich an seinem Bauch kräuselte und brach. Ich sah ihn an, denn ich hatte ihn noch nie ohne Kleidung gesehen.

Alles, was er über die Jahre für seinen Körper getan hatte, zahlte sich aus, während er dort fest im Wasser stand. Ich konnte es daran erkennen, wie er mich ansah; mein Blick war der Lohn für seine Mühen. Ich hatte nie zuvor in meinem Leben solch einen männlichen Körper gesehen, nicht einmal auf den Fotos in den Gewichtheber-Magazinen, denn die meisten dieser Athleten sind klein, und Lewis war deutlich über einen Meter achtzig groß. Ich schätzte ihn auf fünfundneunzig Kilo. Die Muskeln waren fest und glatt und wenn er sich bewegte, traten die Adern an den ent-sprechenden Stellen hervor. Wenn man ihn so betrachtete, schien er aus rotbraunen Teilen zusammengefügt, die gut zueinander passten und mit blauem Draht umwickelt waren. Man konnte sogar die Adern an seinem Bauch sehen und ich wusste, dass ich mir nicht annähernd vorstellen konnte, wie viele Sit-ups und

99

Liegestütze – und welche spezielle Ernährung – nötig waren, um diese sichtbar zu machen.

Er legte eine Hand auf meine Schulter und fuhr durch den Pelz. »Woran denkst du, Bolgani der Gorilla?«

»Ich denke, Tarzan spricht mit gespaltener Zunge«, sagte ich. »Ich denke, Herr von Dschungel spricht mit Zunge von Schlange. Ich denke, wir niemals kommen heraus aus Wald. Er uns hergebracht, um zu bleiben und gründen Königreich.«

»Ja, stimmt genau«, sagte Bobby vom Ufer aus. »Ein Königreich der Schlangen.«

Drew tauchte auf und kam zu uns. »Gott, ist das herrlich«, sagte er. »Wirklich. Ich habe mich noch nie so großartig gefühlt. Erfri-schend. Genau das ist es. Ich fühle mich fit für den ganzen Tag. Eine Minute hier drin, würde dir auch guttun, Bobby.«

»Nein, danke. Wenn ihr fertig seid, werden ich und der andere Schwabbel einfach weiter den Fluss runterschwabbeln, der gewa-schene und der ungewaschene.«

Er saß mit angezogenen Knien in der Sonne und schützte sich gegen die Kälte des Wassers, die er uns ansehen konnte. Unsere Brustwarzen waren blau, und meine Bauchmuskeln begannen sich in der eisigen Unterwasserströmung zusammenzuziehen. Ich stieg hinaus und zog meinen verschwitzten Overall an. Mein Kopf war frisch und kühl, während sich mein Körper wieder aufheizte. Ich wollte wieder in den Fluss springen, bevor ich erneut zu schwitzen anfing.

Bobby und ich gingen zu unserem Kanu und überlegten, was wir noch in das andere Boot umladen könnten. Schließlich nahmen wir nur ein Zelt, meinen Bogen, ein Sixpack Bier und Drews Gitarre mit, denn das Holzkanu leckte ein bisschen und unseres war mehr oder weniger dicht. Wir wickelten die Gitarre in die Zeltplane, stiegen ein und stießen uns ab.

Unser Kanu lag jetzt viel besser im Wasser und Bobbys Paddeln

100

verbesserte sich dadurch deutlich. Und vielleicht auch deswegen, weil er jetzt selbst davon überzeugt war, dass wir umso schneller wieder vom Fluss runterkamen, je weniger er uns zur Last fiel.

Lange Zeit war das Wasser ruhig. Wir ließen eine Flussbiegung nach der anderen hinter uns, manchmal nahe dem einen Ufer, manchmal nahe dem anderen. Ich versuchte, nicht mehr unter herabhängende Zweige zu fahren, was recht einfach war. Der Fluss wurde breiter und langsamer und ruhiger, und wir mussten mehr paddeln als zuvor. Wir spürten die Strömung kaum noch. Sie war sehr schwach und wenn wir eine Pause machten, war es, als würde uns etwas Unsichtbares unter der Wasseroberfläche weiterziehen, während das Wasser um uns herum stillstand. Weit vorne konnten wir ein Geräusch hören, aber es schien sich flussabwärts zurück-zuziehen. Jede Biegung eröffnete nur einen weiteren ruhigen Fluss-abschnitt und offenbarte allmählich die Wälder an beiden Ufern. Auf der rechten Seite flog ein Reiher auf. Er schoss flussabwärts vor uns her, flog nach links, dann nach rechts, dann im Zickzack, stieß schnell, aber unentschlossen hinab. Er verschwand hinter der nächsten Biegung und als wir diese erreicht hatten, stieg er erneut aus den Zweigen auf, wo wir ihn nicht gesehen hatten und hob sich auf langen, blauen Schwingen in die Luft. Er stieß einen rauen, gequälten, unmenschlichen Schrei aus und zog vor uns einen groß-artigen Halbbogen über den Fluss. Dann flog er erneut mit langen Flügelschlägen flussabwärts, wobei seine Flügelspitzen beinahe das Wasser streiften, sodass er mit jedem Abwärtsschlag der Schwingen seinen eigenen, fast konturlosen, vom Fluss verzerrten Schatten zu berühren schien. Dies wiederholte sich über vier oder fünf Bie-gungen, bis wir schließlich an eine kamen, die zwar den anderen glich, wo wir ihn jedoch nicht mehr sahen. Vielleicht war er über die Wälder abgedreht, aber ich dachte, dass er wahrscheinlich irgendwo ruhig sitzen geblieben war. Möglicherweise war er kurz davor, erneut hektisch aufzufliegen, während wir uns näherten und

101

vorübertrieben, aber er schaffte es, den lang gezogenen, verzwei-felten Schrei zu unterdrücken, bis wir verschwunden waren.

In der neuerlichen Stille schien der Fluss unter uns tiefer und tiefer zu werden. Während die Sonne höher stieg, wechselten seine Farben zu satteren Grüntönen. Die Strömung wurde stärker; mit jedem Paddelschlag glitten wir weiter und weiter. Ich dachte bei mir, dass niemand, der sich durch das Dickicht am Ufer kämpfen musste, mit uns Schritt halten konnte.

Hin und wieder blickte ich auf den Bogen, der mit seinem breiten Griff zu meinen Füßen lag und straff aussah, und auf die beiden Pfeile, die mit Farbe gestrichen waren. Die großen orangefarbenen Federn wanden sich aus ihnen hervor und die geschmirgelten Spitzen glänzten in der Sonne wie Radium. Obwohl ich beim Anspannen des Bogens große Probleme gehabt hätte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, hielt ich an beiden Ufern nach Hirschen Ausschau und hoffte, wir würden auf ein großes Tier stoßen, das gerade trank. Das wäre etwas gewesen.

Wir kamen durch tiefes, schnell fließendes Wasser und trieben dann um eine ruhige lang gezogene Biegung, die uns in einen düsteren Tunnel aus riesigen Bäumen führte: Nadelbäume, entweder Fichten oder Tannen. Dort drinnen war es dunkel und drückend; das dichte Grün schien uns den Atem aus den Lungen zu saugen. Wie auf ein Signal zogen Bobby und ich die Paddel aus dem Wasser und wir trieben weiter, so wie der Fluss es wollte. Grelle Lichtpunkte tanzten auf den Wellen. Sie waren golden und schienen heiß genug, um zu brennen und beinahe so kompakt, dass man sie von der Wasseroberfläche aufsammeln konnte wie Nägel.

Wir kamen zwischen offenen Wiesen heraus, auf denen das Gras über einen Meter hoch stand. Ein gesprenkelter Teil des Ufers glitt ins Wasser und ich brauchte einige Augenblicke, bis ich begriff, dass es eine Schlange war. Sie durchschwamm etwa fünfzehn Meter vor uns den Fluss, mit erhobenem Kopf, als kraule sie. Am gegen-

102

überliegenden Ufer glitt sie aus dem Wasser, ohne ihre Bewegung zu ändern, ein Wesen mit einem eigentümlichen Zauber, einer eigentümlichen Bewegung, für die es keine Hindernisse gab.

Wir fuhren weiter, machten lange, kräftige Paddelschläge. So gut ich konnte, hatte ich meine Schläge denen Bobbys angepasst. Ich bewegte mich, wenn er sich bewegte, und es gelang mir, mein Paddel gleichzeitig mit seinem einzutauchen und herauszuziehen. Ich dachte, er müsse über diesen Fortschritt sehr froh sein, doch ich sagte nichts, weil ich fürchtete, den Rhythmus zu verlieren.

Zwei Stunden nachdem der Reiher uns verlassen hatte, war unser Bier ausgetrunken. Die Sonne brannte auf die kahle Stelle auf meinem Kopf und mein Nylonzeug klebte an meinem Körper. Meine Zunge schwoll an und meine Wirbelsäule drückte sich durch meine Haut. Ich tastete sie zwischen den Paddelschlägen ab, um zu sehen, ob etwas durchgedrungen war. Die Sitzkante schnitt in meinen rechten Oberschenkel, doch dies war die einzige Position, in der ich gut mit dem Fluss zurecht kam. Sämtliche Schmerzen versuchten, sich miteinander zu verbinden und ich konnte nichts dagegen tun.

Ich sah zurück. Das andere Kanu kam gerade hinter der letzten Biegung hervor. Lewis war ein Stück hinter uns geblieben. Ich glaubte, er wollte uns im Blick haben, falls wir Schwierigkeiten bekämen. Jedenfalls waren sie etwa eine halbe Meile hinter uns und verschwanden, als wir in eine weitere Biegung hineinfuhren und ich mit meinem Paddel auf das linke Ufer deutete. Ich wusste nicht, ob sie mich gesehen hatten oder nicht, aber ich wollte sie herbeiwinken, wenn sie vorüberkamen. Ich wollte mich in den Schatten legen und ein wenig ausruhen. Ich war hungrig und hätte gern noch ein Bier getrunken. Wir tauchten die Paddel ein und schwenkten hinüber.

Als wir uns dem linken Ufer näherten, hörten wir ein Rauschen unterhalb der Bäume. An einer Stelle bewegten sich die Blätter wie in einer leichten Brise. Das frische, grünweiße Wasser eines Bachs

103

schäumte in den Fluss. Wir ließen uns ein wenig treiben und kamen etwa siebzig Meter weiter flussabwärts ans Ufer. Ich stellte den Bug gegen das Ufer und paddelte kräftig, um das Boot dort zu halten, während Bobby ausstieg und uns festmachte.

»Das artet in richtige Arbeit aus«, sagte Bobby, als er mir die Hand reichte.

»Mein Gott«, sagte ich. »Ich werde langsam zu alt für so was. Ich glaube, das nennt man Lehrgeld zahlen.«

Bobby setzte sich auf den Boden und löste das Taschentuch, das er um den Hals trug. Er lehnte sich über das Wasser und tauchte es ein, dann wischte er sein Gesicht und den Nacken ab und rieb sich lange damit über die Nase. Ich beugte mich vor und berührte mehrfach meine Zehen, um mein Kreuz zu lockern. Dann blickte ich stromaufwärts. Das andere Kanu war noch nicht zu sehen. Ich wandte mich um und wollte etwas zu Bobby sagen.

Zwei Männer traten aus dem Wald, einer zog ein Gewehr am Lauf hinter sich her.

Bevor er mich ansah, ahnte Bobby nichts von ihrer Anwesenheit. Dann drehte er den Kopf, bis er über seine Schulter schauen konnte. Er stand auf und klopfte sich ab.

»Wie geht’s?«, sagte er.Der größere der beiden hatte ein verbissenes Gesicht und sah uns

mit zugekniffenen Augen an. Sie kamen näher und bewegten sich dabei in einer Art Halbkreis, als liefen sie um etwas herum. Der kleinere war älter, er hatte große helle Augen und schmutzigweiße Bartstoppeln, die in Büscheln auf seiner Wange sprossen. Sein Gesicht schien sich in mehrere Richtungen gleichzeitig zu drehen. Er trug eine Latzhose, und sein Bauch sah aus, als platze er gleich daraus hervor. Der andere war hager und groß und starrte, als blicke er aus einer Höhle oder einem anderen düsteren Ort weit hinter seinen gelblichen Augäpfeln. Als er seine Kiefer bewegte, kam der untere viel zu weit nach oben, als dass er noch Zähne gehabt haben könnte. »Entflohene

104

Sträflinge«, schoss es mir durch den Kopf. Oder »Schwarzbrenner«. Aber sie konnten ebenso gut auch Jäger sein.

Sie kamen heran und blieben aus irgendeinem Grund geradezu lächerlich nah vor mir stehen. Ich versuchte, nicht von der Stelle zu weichen. Es schien eine bestimmte Absicht dahinter zu stecken.

Der ältere reckte mir sein kränklich aussehendes Gesicht entge-gen. »Was zum Teufel treibt ihr hier?«

»Wir paddeln flussabwärts. Sind seit gestern unterwegs.«Ich hoffte, die Tatsache, dass wir miteinander redeten, wäre ein

gutes Zeichen.Er sah den großen Mann an; vielleicht ging etwas zwischen

ihnen vor, vielleicht aber auch nicht. Ich konnte Bobby nicht in meiner Nähe spüren und das andere Kanu war nicht zu sehen. Ich schrumpfte auf meine normale Größe, eine Bewegung die nur ich wahrnahm, und mir wurde flau im Magen. »Wir sind gestern Nachmittag in Oree losgefahren und hoffen, dass wir es heute Abend oder morgen früh bis Aintry schaffen.«

»Aintry?«»Sicher. Dieser Fluss fließt nur in eine Richtung, Käpt’n. Haben

Sie noch nichts davon gehört?«, sagte Bobby und ich hätte ihn umbringen können.

»Ihr kommt nie nach Aintry«, sagte er mit monotoner Stimme.»Warum nicht?«, fragte ich ängstlich, aber gleichzeitig neugierig.

Auf eine seltsame Art reizte es mich, ihn zu einer Erklärung zu veranlassen.

»Weil dieser Fluss nicht nach Aintry fließt«, sagte er. »Ihr habt irgendwo eine falsche Abzweigung genommen. Dieser Fluss hier kommt nicht mal in die Nähe von Aintry.«

»Wohin fließt er dann?«»Er fließt … er fließt …«»Er fließt nach Circle Gap«, sagte der andere, ohne sich um seine

Zahnlosigkeit zu kümmern. »Sind etwa fünfzig Meilen.«

105

»Junge«, sagte der Stoppelbärtige. »Ihr habt keine Ahnung, wo ihr seid.«

»Na ja«, sagte ich. »Wir fahren dahin, wohin der Fluss fließt. Ich schätze, irgendwo werden wir schon ankommen.«

Der andere Mann bewegte sich auf Bobby zu.»Verdammt noch mal«, sagte ich. »Wir haben nichts mit euch zu

schaffen. Wir wollen keinen Ärger. Wenn ihr hier in der Nähe eine Brennerei habt, haben wir kein Problem damit. Wir könnten es sowieso niemandem verraten. Und wisst ihr auch warum? Ihr habt recht. Wir wissen nicht, wo wir sind.«

»Eine Brennerei?«, sagte der große Mann und schien ehrlich überrascht.

»Klar«, sagte ich. »Wenn ihr Whiskey brennt, kaufen wir euch etwas ab. Könnten wir gut gebrauchen.«

Der Mann mit dem Hängebauch sah mich schief an. »Wovon redest du, zum Teufel?«

»Ich weiß jedenfalls nicht, wovon du redest«, sagte ich.»Du hast irgendwas vom Whiskeybrennen gesagt. Du glaubst,

wir brennen Whiskey. Komm schon. Hab ich recht?«»Scheiße«, sagte ich. »Ich habe keine Ahnung, ob ihr Whiskey

brennt oder jagt oder euer ganzes beschissenes Leben lang durch die Wälder rennt. Ich weiß es nicht und will es auch gar nicht wissen. Es ist mir egal.«

Ich blickte zum Fluss, aber wir hatten uns ein wenig vom Ufer entfernt und ich konnte das andere Kanu nicht sehen. Ich glaubte nicht, dass es schon vorbeigefahren war, aber absolut sicher war ich nicht. Ich schüttelte den Kopf und bei dem Gedanken, dass es bereits vorüber sein könnte, fühlte ich mich vollkommen leer. Vielleicht waren wir zu weit vorausgefahren.

Mit allergrößter Anstrengung sah ich dem Mann wieder ins Gesicht und versuchte, damit klarzukommen. Etwas an meinem Blick auf den Fluss muss ihm aufgefallen sein.

106

»Noch jemand bei euch?«, fragte er.Ich schluckte und überlegte, wobei die verschiedensten Mög-

lichkeiten durcheinander schossen. Wenn ich Ja sagte und sie Streit wollten, dann zogen wir Lewis und Drew unvorbereitet mit hinein. Oder sie würden uns in Ruhe lassen, weil vier zu viele für sie waren, um damit fertig zu werden. Wenn ich allerdings Nein sagte, dann wären Lewis und Drew – vor allem Lewis – vielleicht in der Lage, etwas … nun ja, etwas zu unternehmen. In meinen Gedanken tauchten Lewis’ Brustmuskeln auf, seine Beine, an deren Oberschenkel die Adern hervortraten, und seine Waden, die unter Wasser schmale Fesseln hatten und kräftig waren wie die eines Zentauren. Darauf würde ich mich verlassen.

»Nein«, sagte ich und machte ein paar Schritte nach hinten, um sie vom Wasser wegzuführen.

Der hagere Mann beugte sich hinüber und berührte Bobbys Arm, den er sonderbar behutsam betastete. Bobby zuckte zurück, und als er das tat, hob sich der Gewehrlauf, beinahe zufällig, aber bestimmt.

»Am besten, wir fahren weiter«, sagte ich. »Wir haben noch eine ziemliche Strecke vor uns.« Ich machte eine halben Schritt auf das Kanu zu.

»Ihr fahrt nirgendwohin«, sagte der Mann vor mir und richtete das Gewehr direkt auf meine Brust. Mein Herz blieb stehen und ich fragte mich, wie die beiden Mündungen in dem Augenblick aussehen würden, in dem sich der Schuss löste: ob Feuer aus ihnen hervortreten würde oder ob da nur eine graue Wolke sein würde oder ob sich in diesem Augenblick zwischen Leben und Tod über-haupt nichts veränderte. Er schlang den Strick, den er als Abzug benutzte, um seine Hand.

»Du kommst hierher zurück, außer du willst, dass deine Gedärme im Wald verteilt werden.«

Ich hob die Hände halb hoch wie ein Schauspieler in einem Film;

107

ich war hilflos und meine Blase drückte. Ich ging vorwärts in den Wald durch ein paar große Büsche, die ich sah, aber nicht spürte. Die anderen folgten hinter mir.

»Mit dem Rücken zu dem Baum da«, sagte einer von beiden.Ich suchte mir einen Baum aus. »Den hier?«, fragte ich.Ich bekam keine Antwort. Ich stellte mich mit dem Rücken an

den Baum, den ich gewählt hatte. Der hagere Mann kam zu mir und nahm mir meinen Gürtel ab, an dem das Messer und das Seil hingen. Mit schnellen Handbewegungen löste er das Seil, öffnete den Gürtel und legte ihn so fest um mich und den Baum, dass ich kaum noch atmen konnte. Die Schnalle schloss er auf der anderen Seite des Baumes. Er kam mit dem Messer in der Hand zurück. Mir dämmerte, dass sie dies schon zuvor gemacht haben mussten. Es sah nicht so aus, als machten sie es zum ersten Mal.

Der Hagere hielt das Messer hoch und ich erwartete, es in der Sonne blitzen zu sehen, aber dort, wo wir waren, gab es keine Sonne. Doch selbst hier im tiefen Schatten sah ich die Klinge, die ich mit einem Schleifstein geschärft hatte: die feine Schraffur durch das schnelle Abschleifen, die Verwandlung von Metall in eine mör-derischen Klinge.

»Sieh dir das an«, sagte der große Mann zu dem anderen. »Ich wette, damit kann man Haare abrasieren.«

»Warum probierst du es nicht aus? Sieht aus, als hätte er genug davon. Nur nicht auf dem Kopf.«

Der große Mann griff nach dem Reißverschluss meines Overalls, atmete flach, und zog ihn bis zum Gürtel herunter, als wolle er mich aufreißen.

»Großer Gott«, sagte der ältere. »Sieht aus wie ein gottver-dammter Affe. Hast du so was schon mal gesehen?«

Der hagere Mann legte die Messerspitze unter mein Kinn und drückte sie nach oben. »Haben sie dir schon mal die Eier abge-schnitten, du beschissener Affe?«