Leseprobe_Verschwundene_Reiche

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Norman Davies Verschwundene Reiche Die Geschichte des vergessenen Europa Aus dem Englischen übersetzt von Karin Schuler, Norbert Juraschitz, Hans Freundl, Helmut Dierlamm und Oliver Grasmück

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primustype: Theiss-Verlag – Davies_ Verschwundene Reiche – 15. August 2013

Norman Davies

Verschwundene Reiche

Die Geschichte des vergessenen Europa

Aus dem Englischen übersetzt von

Karin Schuler, Norbert Juraschitz, Hans Freundl, Helmut Dierlamm

und Oliver Grasmück

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primustype: Theiss-Verlag – Davies_ Verschwundene Reiche – 14. August 2013

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Englische Originalausgabe:Vanished Kingdoms – The History of Half Forgotten Europe

© 2011 by Norman DaviesFirst published by Penguin Books, London

All rights reserved

Deutschsprachige Ausgabe:© 2013 Konrad Theiss Verlag

Imprint der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, DarmstadtAlle Rechte vorbehalten

Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.

Übersetzung aus dem Englischen: Karin Schuler (Kap. 1, 2, 4, 8), Norbert Juraschitz (Kap. 15), Hans Freundl (Kap. 3, 6, 12, 13, 14, Nachwort und Dank),

Helmut Dierlamm (Kap. 5, 7, 9) und Oliver Grasmück (Kap. 10 und 11)Lektorat und Register: Christina Knüllig, Hamburg

Projektleitung: Rüdiger Müller, Theiss VerlagKartographie: Thomas Buri, Bielefeld, nach Vorlagen von Penguin Books

Satz und Gestaltung: primustype Hurler GmbH, NotzingenPrinted in Germany

ISBN 978-3-8062-2758-1

Besuchen Sie uns im Internet: www.theiss.de

Lizenzausgabe für: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

ISBN 978-3-534-25975-5

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-8062-2511-2 (Buchhandel)eBook (epub): 978-3-8062-2511-2 (Buchhandel)

eBook (PDF): 978-3-534-70841-3 (für Mitglieder der WBG)eBook (epub): 978-3-534-70842-0 (für Mitglieder der WBG)

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primustype: Theiss-Verlag – Davies_ Verschwundene Reiche – 9. August 2013

InhaltVerzeichnis der Karten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6Verzeichnis der Stammtafeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1 Das Tolosanische Reich: Zwischenhalt der Westgoten (418–507 n. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

2 Alt Clud: Das Königreich Strathclyde (5.–12. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

3 Burgund: Fünf, sechs oder sieben Königreiche (um 411–1795). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

4 Aragón: Ein Mittelmeerreich (1137–1714) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

5 Historisches Litauen: Großfürstentum mit Königen (1253–1795). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

6 Byzanz: Goldener Zweig im Sternenlicht (330–1453). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

7 Borussia: Wasserreiches Land der Prußen (1230–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

8 Savoyen: Das Haus Humberts (1033–1946). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

9 Galizien: Das Königreich der Nackten und der Hungernden (1773–1918). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485

10 Etrurien: Französische Schlange in Toskaniens Gras (1801–1814) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541

11 Rosenau: Geliebtes und ungewolltes Erbe (1826–1918). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597

12 Montenegro: Das Reich des Schwarzen Berges (1910–1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637

13 Ruthenien: Die Eintages-Republik (15. März 1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689

14 Éire: Der haltlose Rückzug der Krone seit 1916 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705

15 UdSSR: Ein Staat verschwindet – endgültig (1924–1991). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763Wie Staaten sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 891Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 925

1. Farbteil nach S. 128 und vor S. 1292. Farbteil nach S. 800 und vor S. 801

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Montenegro

Das Reich des Schwarzen Berges

(1910–1918)

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iMontenegro wurde am 28. Juni 2006 als 192. Mitglied in die Vereinten Natio-nen aufgenommen. Es ist einer von drei Staaten, denen diese Ehre im 21. Jahr-hundert bisher zuteil wurde; die beiden anderen sind die Bundesrepublik Ju-goslawien, die im Jahr 2000, und die Schweiz, die 2002 der UNO beitraten. Etwas verwirrend mag erscheinen, dass Montenegro von 1992 bis 2002 Be-standteil der Bundesrepublik Jugoslawien war, bis diese Föderation ihren Na-men in »Serbien und Montenegro« änderte.1 Montenegro kann sich zugute halten, dass es seinem Nachbarn, der selbst ernannten Republik Kosovo, einen wichtigen Schritt voraus war, die am 17. Februar 2008 ihre Unabhängigkeit erklärte, bislang aber noch nicht in vollem Umfang international anerkannt ist.

Die Durchsetzung staatlicher Eigenständigkeit ist ein komplizierter Prozess. Eine politische Einheit kann durch eigene Bemühungen die Unabhängigkeit erreichen, doch um völkerrechtliche Souveränität zu erlangen, muss sie von anderen Staaten anerkannt werden. Ein völkerrechtlich anerkannter Staat kann andererseits auch de facto zu funktionieren aufhören, aber seine Auflö-sung gilt de jure erst dann als Tatsache, wenn sie international akzeptiert wor-den ist. Heute, im 21. Jahrhundert, ist die Organisation der Vereinten Nationen

Die Straße nach Cetinje, Montenegro, 1901

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(UNO) zumeist die Institution, welche die volle Souveränität eines Staates be-stätigt, indem sie den Beitrittskandidaten als Mitglied aufnimmt, beziehungs-weise ihn von der Mitgliederliste streicht. Nach den Regeln der UNO wird ei-nem Staat die Mitgliedschaft durch einen Beschluss der Vollversammlung gewährt oder entzogen, die sich an den Empfehlungen des Sicherheitsrates orientiert. Montenegro jedenfalls hat es geschafft. Wie die übrigen fünf ehema-ligen jugoslawischen Teilrepubliken kann es heute auf eine bessere Zukunft hoffen als zu jeder anderen Zeit in den Jahrzehnten zuvor.

Montenegro hat 625 000 Einwohner, die sich auf ein Staatsgebiet von 13 812 Quadratkilometer verteilen. Wie auch in den Nachbarländern Bulgarien und Albanien ist die Bevölkerung traditionell durch die Religionszugehörigkeit ge-teilt, wenngleich die verschiedenen Glaubensgemeinschaften in diesen Län-dern unterschiedlich stark sind. Nach der letzten Volkszählung (2003) gehören drei Viertel der Montenegriner der Serbisch-Orthodoxen Kirche an. Rund 16 Prozent sind Muslime, daneben gibt es eine kleine Gruppe von Katholiken, die hauptsächlich an der Küste leben. Die Amtssprachen sind Montenegrinisch, Serbisch, Bosnisch, Albanisch und Kroatisch. Es werden sowohl das kyrillische als auch das lateinische Alphabet verwendet.

Nach dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens in den 1990er-Jahren und der nachfolgenden Demütigung Serbiens steht Montenegro heute nicht mehr im Schatten seines übermächtigen Nachbarn Serbien. Es vollzieht sich eine ge-wisse Demokratisierung, und auch die Marktwirtschaft beginnt Fuß zu fassen. Das Land hat mittlerweile auch einen voll entwickelten diplomatischen Dienst aufgebaut. Es gibt montenegrinische Vertretungen bei der UNO in New York, der EU in Brüssel, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Eu-ropa (OSZE) in Wien und in allen anderen postjugoslawischen Republiken, beim Heiligen Stuhl sowie in einem Dutzend weiterer Hauptstädte auf allen Kontinenten, auch in Großbritannien und den USA.2

Der Tourismus wird sehr gefördert. Montenegro ist auf dem Land, dem See- und dem Luftweg erreichbar. Es gibt offene Grenzübergänge zu Kroatien, Bos-nien und Herzegowina, zu Albanien, Serbien und in jüngster Zeit auch zum Kosovo (das von Montenegro im Oktober 2008 anerkannt wurde). Die Buslinie Autosaobracaj verbindet das kroatische Dubrovnik mit Herceg-Novi in Monte-negro. Eine Eisenbahnverbindung besteht zwischen Podgorica nach Bar, es fin-det regelmäßiger Fährverkehr zwischen Bar und der Stadt Bari in Italien statt, und in Podgorica und Tivat gibt es jeweils einen internationalen Flughafen. Die Flüge in die europäischen Hauptstädte werden von den beiden nationalen Fluglinien Montenegro Airlines und Adria Airways abgewickelt. Der stark fre-quentierte kroatische Flughafen in Dubrovnik liegt nur rund 30 Kilometer von

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der Grenze entfernt. Man kann heute also nicht mehr sagen, dass Montenegro abgelegen oder unzugänglich sei.

In den Touristenbroschüren und auf den einschlägigen Internetseiten wim-melt es von Superlativen über die »Perle der Adria«:

Das Meer, die Seen, die Schluchten und die Berge ermöglichen es jedem Besucher,

entsprechend seinen Wünschen einen erholsamen Urlaub zu verbringen. Der Reisende

kann an einem der zahlreichen Strände an der Budva-Riviera morgens Kaffee trinken, am

Skardar-See bei Vogelgezwitscher zu Mittag essen und am offenen Kaminfeuer an den

Hängen des Berges Durmitor das Abendessen einnehmen ...

S E R B I E N

K O S O V O

A L B A N I E N

KROATIEN

BOSNIEN UND

HERZEGOWINA

Bucht von Kotor

ADRIATISCHES

MEER

Skutari-See

Drina

Montenegro 2011

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Eine wechselvolle Geschichte ... hat diesem stolzen Land ein unschätzbar reiches Erbe an

historischen Monumenten beschert. Das blaue Meer mit seinen endlosen Sandstränden,

das rauschende Wasser seiner klaren Flüsse und die wunderschönen Bergmassive geben

Montenegro in Verbindung mit dem Geist der Vergangenheit alles, was es braucht, um

unvergessliche Ferien zu erleben.

Montenegro ist ein umweltbewusstes Land ... Zahlreiche Sonnentage in den Sommermo-

naten und große Schneemengen im Winter sind die Voraussetzung für die beiden am

stärksten entwickelten Tourismusarten. In jüngster Zeit präsentiert Montenegro ganz

trendbewusst auch Angebote für Extremsportler ...3

Besonders empfohlen werden Wildwasserfahrten auf dem Fluss Tara im Dur-mitor-Nationalpark.4

Die beiden großen Städte im Inneren des Landes, Podgorica und Cetinje, konkurrieren um Besucher, doch die meisten Urlauber zieht es an die Küste, wo sie von wildromantischer Natur und historischem Charme verwöhnt werden. Ulcinj besitzt »den längsten Sandstrand an der Adria«. Kotor wurde von der UNESCO der Titel eines Welterbes verliehen. In Petrovac gibt es römische und venezianische Ruinen. Die Hotelinsel Sveti Stefan, die durch einen Damm mit dem Festland verbunden ist, rühmt sich einer langen Liste illustrer Gäste – So-phia Loren, die englische Prinzessin Margaret, Elizabeth Taylor, Richard Bur-ton, Juri Gagarin, Alberto Moravia, Sidney Poitier, der Präsident der Mongolei und Willy Brandt waren hier schon zu Gast (was einiges darüber aussagt, wie lange es schon besteht); nach einer Renovierung wurde das Hotel 2010 wieder-eröffnet, seine klösterlich schlicht gehaltenen Räume sind mit modernem Lu-xus ausgestattet und kosten pro Nacht ab 950 Euro aufwärts.5 Im Hafenort Bar stehen die türkische Festung Haj Nehaj und die Burg von König Nikola.

Podgorica ist mit 135 000 Einwohnern die größte Stadt des Landes und auch die Hauptstadt. Sie liegt in der Nähe der Überreste einer illyrischen Siedlung und entwickelte sich im Mittelalter zu einem Handelszentrum. Die Stadt, die im Zweiten Weltkrieg praktisch dem Erdboden gleichgemacht wurde, erlebte ihr größtes Wachstum während der Industrialisierung in der Nachkriegszeit, als sie in Titograd umbenannt wurde.6 Cetinje hat nur knapp ein Zehntel der Einwohner von Podgorica, ist aber das historische und religiöse Zentrum des Landes. Die im 15. Jahrhundert am Fuße des Berges Lovcen gegründete Stadt bildete ein wichtiges Bollwerk gegen das Vordringen der Osmanen aus dem Landesinneren und der Venezianer, die die Küstenregion beherrschten. Ihre lange Widerstandstradition trug ihr den Beinamen »Serbisches Sparta« ein. Zu ihren wichtigsten Kulturdenkmälern gehören das Kloster, das Lokanda-Hotel und das Biljarda-Haus (1838), der frühere Königspalast, in dem sich das ulti-

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mative Symbol der Europäisierung im 19. Jahrhundert befindet: ein Billard-Salon. Die zahlreichen Eisengitter in Cetinje wurden aus eroberten osmani-schen Kanonenkugeln hergestellt.7

Doch nicht alles ist in Montenegro so klar und transparent wie das Wasser der Adria. Einige Wirtschaftsbereiche stecken in großen Schwierigkeiten, die Bevölkerung wird zerrissen von Identitätskonflikten, und das politische System ist ähnlich autokratisch wie in Putins Russland.

Für Montenegros Austritt aus der jugoslawischen Föderation wurde in erster Linie das Argument angeführt, dass sich das Land dadurch vor der Hyperinfla-tion in Jugoslawien schützen könne, die 1994 das Rekordniveau von 3,13 Mil-lionen Prozent pro Monat erreicht hatte. Im Jahr 1999 wurde daher der Dinar durch die Deutsche Mark ersetzt, seit der Umstellung der Deutschen Mark auf den Euro 2002 wird der Euro als Landeswährung verwendet. Informierte Be-obachter konnten schon damals erkennen, dass sich Montenegro auf die Ab-spaltung vorbereitete.8 Dennoch hat sich die Wirtschaft nur mühsam erholt. Wichtige Pfeiler sind der florierende Zigarettenschmuggel, Geldwäsche und zwielichtige ausländische Investoren, vor allem Russen, die hier einen sicheren Hafen für ihre Aktivitäten gefunden haben. Auf dem weltweiten Korruptionsin-dex, der 179 Länder auflistet, nimmt Montenegro den 85. Platz ein.9

Der Kern des Identitätsproblems besteht in der Frage, ob die Montenegriner Serben sind oder nicht. Bei der Volkszählung von 2003 bezeichneten sich nur 270 000 Einwohner oder 43 Prozent der Bevölkerung als ethnische Monteneg-riner; 200 000 Einwohner oder 32 Prozent ordneten sich als Serben ein. Mitt-lerweile wurden weitere Erhebungen durchgeführt, wobei die Zahlenverhält-nisse entsprechend der Frageformulierung stark schwankten – nach Ansicht der Betreiber einer Internetseite von Emigranten besteht die Bevölkerung zu 62 Prozent aus Montenegrinern, die Serben machen nur 9 Prozent aus.10 Für die Unterscheidung ist indessen weniger die religiöse Praxis maßgeblich als die Einstellung gegenüber dem serbischen Staat und der stark politisierten ser-bisch-orthodoxen Kirche, die darauf beharrt, dass alle ihre Angehörigen Serben sind, ob sie es wollen oder nicht. Im Jahr 1993 wurde die erste Volksabstim-mung über die Unabhängigkeit abgehalten; sie fand in einem politischen Um-feld statt, das von Serbiens Slobodan Miloševic’ beherrscht wurde und von dessen Bemühungen, die Einheit Jugoslawiens notfalls mit Gewalt zu bewah-ren. Es war daher nicht überraschend, dass sich in diesem Referendum eine Mehrheit für den Verbleib bei Serbien aussprach. Doch dadurch wurde auch die Bildung einer separatistischen montenegrinisch-orthodoxen Kirche geför-dert, die die Vorstellung ablehnt, dass alle ihre Mitglieder Serben seien, und die nun wiederbelebt wurde, nachdem sie 75 Jahre nicht mehr existent gewe-

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sen war. Dies zeigte, dass es nicht nur im politischen Bereich starke Widerstän-de gegen die serbische Vorherrschaft gab. Bei der zweiten Volksabstimmung 2006 nach der Absetzung von Miloševic stimmte eine knappe Mehrheit von 55,5 Prozent für die Unabhängigkeit; 45,5 Prozent der Einwohner votierten dagegen.11

Während dieser Zeit wurde Montenegros Politik von einer einzigen Partei und einem einzigen Mann bestimmt. Diese Partei, die Demokratische Partei der Sozialisten Montenegros (DPS) war eine Nachfolgeorganisation von Titos altem Bund der Kommunisten Jugoslawiens. Führer der Regierungspartei war Milo Djukanovic (geb. 1962), ein Paradebeispiel für einen ehemaligen Kommunis-ten, der es geschickt verstand, sich an die postkommunistische Ära anzupassen. Djukanovic war früher Basketballspieler und hat die hochgewachsene Statur einer charismatischen Führungspersönlichkeit, das Gesicht eines Filmstars und die Eloquenz eines gewieften Populisten. Er wurde als enger Mitarbeiter von Miloševic bekannt, der ihn dabei unterstützte, die »antibürokratische Revoluti-on« in Serbien durchzusetzen und die alte Garde der Partei auszuschalten. Dann drängte er seine früheren Mitstreiter zur Seite und wurde 1991 im Alter von 29 Jahren erstmals zum Ministerpräsidenten ernannt. Mit Ausnahme einer vierjäh-rigen Unterbrechung von 1998 bis 2002, als er das Amt des Staatspräsidenten ausübte, fungierte Djukanovic bis zum Dezember 2010 als Ministerpräsident. Mitte der 1990er-Jahre brach er mit Miloševic, weil er den Vertrag von Dayton ablehnte, der den Krieg in Bosnien-Herzegowina beendete, und gegen Ende des Jahrzehnts wandte er sich allmählich der Unabhängigkeitsbewegung zu. Ende 2010 trat er als Ministerpräsident zurück und schlug seinen bisherigen Stellver-treter Ligor Luksic als Nachfolger vor, er blieb aber Vorsitzender der DPS. Nach eigenen Angaben möchte Djukanovic weiterhin die Bemühungen um die Auf-nahme Montenegros in die Europäische Union unterstützen, doch aus der akti-ven Politik hat er sich weitgehend zurückgezogen.

Die Macht der politischen Elite Montenegros beruht angeblich auf einer en-gen Verbindung zwischen der regierenden Partei und dem früheren jugoslawi-schen Geheimdienst; ihren Reichtum verdankt sie Banken und Unternehmen, die von ihren Familien beherrscht werden, wie etwa Firmen namens Capital Invest, Primary Invest und Select Investment. Djukanovic genoss während des Bosnien-Konflikts hohes internationales Ansehen, vor allem bei den Amerika-nern, geriet dann jedoch vorübergehend ins Zwielicht, als ihn die italienische Polizei beschuldigte, Kontakte zur Mafia und zur Camorra zu unterhalten – doch diese Vorwürfe wurden mittlerweile fallen gelassen. Djukanovic wurde einmal beschrieben als ein »Marxist, der sich ein Bild von Margaret Thatcher auf den Schreibtisch stellt« und als »der gerissenste Mann auf dem Balkan«.12

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Wie Staaten sterben

Der merkwürdige Tod der Sowjetunion – der mich bei den Forschungen zu dem vorliegenden Buch maßgeblich inspirierte und beeinflusste – lässt es reiz-voll erscheinen, eine Typologie »untergegangener Reiche« zu erstellen. Staatli-che Gebilde erlöschen aus einer Vielzahl von Gründen, und es stellt sich die Frage, ob sich für ihr Verschwinden bestimmte Muster ausmachen lassen. His-toriker können sich nur schwer mit dem Gedanken an Zufallsursachen an-freunden, daher erscheint es wünschenswert, diese Vorgänge analytisch zu untersuchen, so provisorisch und ungesichert die Ergebnisse auch sein mögen.

Politisches Siechtum lässt sich in unzähligen Erscheinungsformen beobach-ten. Doch in unserem Zusammenhang geht es weder um »Revolution« noch um »Regimewechsel« oder um »Systemversagen«. Bei Revolutionen und Regime-wechseln wird eine bestehende Ordnung oder Regierung gestürzt, doch das Staatsgebiet und das Staatsvolk bleiben unverändert. »Systemversagen« be-zieht sich auf politische Organismen, die ihre Funktionsfähigkeit einbüßen, aber nicht notwendigerweise völlig zusammenbrechen müssen; man kann die-se Organismen mit einem Auto vergleichen, das nicht mehr fährt, aber noch nicht verschrottet worden ist. Unsere kurze Untersuchung beschränkt sich auf das einschneidendere Phänomen von Staaten, die zu existieren aufhören.

Politische Philosophen, die erstmals im antiken Griechenland in Erschei-nung traten, haben sich jahrtausendelang über die Frage der Staatlichkeit Ge-danken gemacht, doch der Untergang von Staaten stand nur selten im Mittel-punkt ihrer Überlegungen. Aristoteles bezeichnete den Staat als eine »Schöpfung der Natur« und den Menschen als ein »soziales, politisches Wesen« (zóon politikon), was die Annahme nahelegt, dass er davon ausging, dass auch Staaten wie alle anderen Lebensformen einem Zyklus von Geburt und Tod un-terworfen sind.1 Thomas Hobbes, der sich in erster Linie für die Begründung und Erhaltung von Staaten interessierte, äußerte sich auch ausführlich über ihren Verfall und ihr Ende. In seinem Werk Leviathan erläuterte er die »inneren Krankheiten«, die zur »Zerrüttung« eines Gemeinwesens führen und es zu-grunde richten können. Der wichtigste Einflussfaktor ist der Krieg. »Wenn in einem auswärtigen oder inneren Krieg ein Staat in der Art besiegt wird, dass die Bürger von demselben keinen ferneren Schutz erwarten können, so hört der Staat auf ...« Schließlich lässt sich »von sterblichen Menschen ... nichts er-warten, was unsterblich ist.«2 Rousseau gelangte in seinem Gesellschaftsvertrag zu der gleichen Schlussfolgerung. »Welcher Staat kann wohl, nachdem Sparta und Rom untergegangen sind, auf einen ewigen Bestand rechnen?«, fragte er

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rhetorisch. »Ebenso wie der menschliche Körper beginnt auch der politische schon von seiner Entstehung an zu sterben und trägt den Keim seines Unter-ganges in sich selbst ... Auch der am besten bezüglich der Verfassung eingerich-tete Staat wird einmal ein Ende nehmen.«3

Auch christliche Theologen und Bibelgelehrte, die auf eine ebenso lange Tradition zurückblicken können wie die Philosophen, haben sich seit jeher mit dem Aufstieg und dem Fall von Staaten beschäftigt, wenngleich weniger mit Fragen nach deren Ursachen; sie begnügten sich gewöhnlich mit Erklärungen, die auf die göttliche Vorsehung oder den Zorn Gottes abhoben. Der Untergang Babylons im Jahr 539 v. Chr., der eines der bedeutendsten Ereignisse im Alten Testament war, wird in der Johannes-Offenbarung als eine Metapher für das Ende der alten, bekannten Welt und die Heraufkunft des von Jesus Christus regierten »Neuen Jerusalem« dargestellt. Bibelfeste Christen kennen die Ge-schichte vom Gastmahl des Belsazar, bei dem der Prophet Daniel die geister-hafte Schrift an der Wand des Palastes entzifferte: »Mene mene tekel u-pharsin ... Gezählt hat Gott die Tage deiner Herrschaft und macht ihr ein Ende. Gewo-gen wurdest du auf der Waage und zu leicht befunden«;4 viele kennen auch die Worte des Engels aus dem Himmel: »Und er rief mit mächtiger Stimme: ›Gefal-len, gefallen ist Babylon, die Große! Zur Wohnung von Dämonen ist sie gewor-den, zur Behausung aller unreinen Geister‹.«5 Der heilige Augustinus von Hippo (354–430), einer der bedeutendsten lateinischen Kirchenlehrer der Spät antike, befasste sich mit diesen Fragen in seinem Werk Vom Gottesstaat; die gesamte Menschheitsgeschichte, schrieb er, bestehe aus dem Gegensatz zwischen der civitas terrena, dem irdischen Staat, und der civitas dei, dem Got-tesstaat. Das Vergehen des Ersteren sei eine notwendige Voraussetzung für den Triumph des Letzteren.6 Thomas von Aquin (um 1225–1274), einer der ein-flussreichsten christlichen Theologen und Philosophen der Geschichte, prägte das katholische Denken bis weit in die Moderne. In seiner Summa Theologica wies er politische Fragen wie die Entstehung und den Zerfall von Staaten dem Bereich des universalen oder natürlichen Rechts zu, löste sie dadurch vom göttlichen Gesetz und erschloss sie für die allgemeine, nichttheologische Dis-kussion, an der sich jedermann beteiligen konnte.7 Die protestantischen Refor-mer brachten eigene politisch-theologische Denkschulen hervor. In England entwickelte Thomas Cromwell (um 1485–1540) im Vorspruch zur Supremats-akte (Act of Supremacy) von Heinrich VIII. ein neues Modell der englischen Geschichte, um die Verbindung zwischen der Autorität des Königs und der tra-ditionellen katholischen Lehre aufzulösen.8 In Deutschland griff Martin Luther mit seiner Zwei-Reiche-Lehre (der Abtrennung von weltlicher Obrigkeit und dem Reich Gottes) den von Augustinus im Gottesstaat entwickelten Ansatz wie-der auf.9

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Im 19. Jahrhundert forderten Anarchisten wie Proudhon und Bakunin, die alle Formen institutionalisierter oder zentralisierter Autorität ablehnten, die »Zerstörung des Staates«.10 Die Marxisten äußerten sich ähnlich, wenngleich sie andere Ziele verfolgten. Marx bestritt, dass er die »absolute Zerstörung des Staates« beabsichtige; das »Absterben des Staates«, wie Engels es ausdrückte, sollte erst in einem späteren Stadium erfolgen, wenn die Klassengegensätze überwunden sein würden.11 Lenin hingegen verlangte in seiner Schrift Staat und Revolution die »Zerstörung des bürgerlichen Staates« als ersten Schritt zur Errichtung der »Diktatur des Proletariats«.12

Im 20. Jahrhundert haben Völkerrechtler diese Thematik mit neuen theore-tischen Ansätzen und Methoden erforscht. Im Englischen entwickelte sich da-für der zentrale Begriff »Extinction of States« (Untergang von Staaten).13 In der Debatte wurde jüngst auch die Auffassung vertreten, dass in einer Welt, in der es keine terra nulla (Niemandsland) mehr gibt, der Untergang bestehender Staatswesen die Voraussetzung für die Schaffung neuer Staaten sei.14

Politikwissenschaftler begannen sich erst relativ spät mit der Thematik zu beschäftigen. Allzu oft haben sie sich durch weitschweifige Darlegungen her-vorgetan, die am Ende doch nur zu naheliegenden und offenkundigen Schluss-folgerungen führten. Es ist daher beruhigend, dass der englische Begriff »State Death« (Staatstod), auf den sie sich anscheinend verständigt haben, unge-wöhnlich prägnant ist.15 Ihr Ansatz, der weitgehend auf Faktorenanalyse und dem Vergleich von Fallstudien beruht, ist eng verbunden mit Analysen von Ter-ritorialstreitigkeiten und Konflikten, die dem Ausbruch von Kriegen vorausge-hen. Doch ihre Argumente würden größeres Gewicht haben, wenn sie sich nicht so stark auf Daten stützen würden, die aus dem grob vereinfachenden Correlates of War Project (COW) stammen, einem 1963 an der Universität Mi-chigan begonnenen Projekt zur Untersuchung der Geschichte der Kriegfüh-rung. Mit Unverständnis nehmen Historiker zur Kenntnis, dass das COW will-kürlich das Jahr 1816 als den Beginn der Geschichte bestimmt, dass es offenkundig untaugliche Definitionen von Staatssouveränität verwendet und dass es (in den Studien, die bislang im 21. Jahrhundert erschienen sind) die UdSSR noch nicht zu einem Forschungsgegenstand gemacht hat.16 Es ist je-doch ein hoffnungsvolles Zeichen, dass es Bemühungen gibt, die COW-Daten einer Überprüfung zu unterziehen.17

Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts hat sich in der Forschung ein weiteres Teilgebiet entwickelt, das unter dem Begriff »Gescheiterte Staaten« zusammen-gefasst wird. Dieser Begriff ist zweifellos eine Fehlbezeichnung, weil die politi-schen Körperschaften, auf die er bezogen wird, zwar schwach sind, aber noch nicht das Zeitliche gesegnet haben. Man sollte sie vielleicht besser als »Schei-

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ternde Staaten« bezeichnen oder als Staaten, die »zu zerfallen drohen«. Seit 2005 wird jährlich ein Index mit 60 solchen funktionsunfähigen Staaten veröf-fentlicht, der sich auf quantitative Messungen ihrer Defekte und Störungen stützt und sie in die Kategorien »kritisch«, »gefährdet« und »Grenzfälle« unter-teilt.18 Somalia, der Tschad und der Sudan standen 2010 an der Spitze der Liste. Europa wurde durch Georgien (Rang Nr. 37), Aserbeidschan (Nr. 55), Moldawien (Nr. 58) sowie Bosnien und Herzegowina (Nr. 60) repräsentiert.

Bezeichnungen sind wichtig und terminologische Unschärfe ist ein Hinweis darauf, dass sich Wissenschaftler schwertun, ihre Methoden mit jenen von Nachbardisziplinen abzustimmen. Wenn die »Auflösung des Staates« für Hob-bes und Locke gut genug war (und auch für die französischen Philosophen), muss man sich fragen, warum weniger bedeutende Geister mit dieser Bezeich-nung nicht auskommen. Neben der »Auflösung« muss man sich heute mit »Zer-störung«, »Vergehen«, »Auslöschung«, »Erlöschen«, »Tod«, »Scheitern«, »Zer-fall« und vielen anderen Bezeichnungen auseinandersetzen. Man fühlt sich erinnert an den Monty-Python-Sketch vom toten Papagei, der »verendet«, »ge-storben« oder »verschieden« ist, in dem »keine Spur von Leben mehr ist«, der »abgeritten ist zu den Ahnen« oder den »die ewigen Jagdgründe als Mitglied aufgenommen« haben« – bis am Schluss lapidar festgestellt wird: »Das ist ein Ex-Papagei«.19 In unserem Kontext geht es ebenfalls um die Vergangenheit, um Ex-Staaten. In diesem Zusammenhang hat die Bezeichnung »untergegangene Staaten« wieder an Bedeutung gewonnen; eine viel besuchte Internetseite führt für Europa nicht weniger als 207 untergegangene Staaten auf, was aber zweifellos zu niedrig angesetzt ist.20

Eine Zeit lang wurden nur zwei Arten der Auflösung eines Staates für rele-vant erachtet: die Auflösung durch äußere Gewalt und die Auflösung durch inneres Versagen: In der Terminologie von Hobbes wurde der »auswärtige Krieg« den »inneren Krankheiten« gegenübergestellt. John Locke verfolgte ei-nen ähnlichen Ansatz in seinen Zwei Abhandlungen über Regierung. Nachdem er festgestellt hat, dass der »Einfall fremder Gewalt [...] der gewöhnliche und fast einzige Weg [ist], wie diese Vereinigung aufgelöst wird«, fährt er fort: »Au-ßer diesem Umsturz von außen werden Regierungen auch von innen aufge-löst«, und anschließend erläutert er, unter welchen Umständen dies erfolgen kann.21

Auch die Völkerrechtler bevorzugten ein duales Modell und unterschieden zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Auflösung. Eine »freiwillige Auflö-sung« vollzog sich exemplarisch auf den britischen Inseln, wo »die Königreiche England, Schottland und Irland als eigenständige Staaten aufgelöst wurden«,

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um das Vereinigte Königreich zu schaffen.22 Beispiel für eine »unfreiwillige Auflösung« ist »Polen, das 1795 zerstört wurde.«23

Heute sind sich die Wissenschaftler einig, dass äußere und innere, freiwilli-ge und unfreiwillige Faktoren allesamt beobachtbar sind und dass duale Erklä-rungsmodelle nicht mehr ausreichen. Bei den in diesem Buch versammelten Fallstudien sind mindestens fünf Mechanismen erkennbar: Implosion, Erobe-rung, Zusammenschluss, Abwicklung und »Kindstod«.

Von der Sowjetunion wird häufig behauptet, sie sei »implodiert«.24 Dieses Bild stammt aus dem Bereich der Astronomie, wo Sterne und andere Himmels-körper, oft auch sehr große und scheinbar feste, aus sich heraus zerbrechen und zu Staub zerfallen. Dies lässt vermuten, dass hier äußere Kräfte einwirken, doch das eigentliche Ereignis steht mit einer verhängnisvollen Fehlfunktion im Zentrum im Zusammenhang; es entsteht ein Vakuum, die einzelnen Bestand-teile lösen sich voneinander, und schließlich wird das Ganze zerstört. Eine solche Katastrophe ereignete sich in Moskau im Herbst 1991. Das politische System der Sowjetunion beruhte auf der zentralistischen Diktatur der Kommu-nistischen Partei und auf der Kommandowirtschaft. Als Gorbatschow diese nicht länger halten konnte, verloren die Parteistrukturen ihre Funktion. Fünf-zehn Einzelrepubliken wurden dazu gedrängt, den letzten Schritt über das rei-ne »Systemversagen« hinaus zu tun. Eine Implosion muss daher als ein Tod durch natürliche Ursachen betrachtet werden.

Bei den wissenschaftlichen Versuchen, den Zerfall der Sowjetunion zu erklä-ren, werden fast so viele Argumentationslinien verwendet, wie es Fachleute gibt, die sich damit beschäftigen. Sowjetologen verweisen meist auf die ver-fehlte Wirtschaftspolitik. Andere heben das ideologische schwarze Loch her-vor, das durch Gorbatschows Entscheidung entstand, den Kalten Krieg zu be-enden, die den »ersten sozialistischen Staat« seiner raison d’être beraubte; manche betonen den Aufstand der Nationalisten, der zu dem fatalen Plan führ-te, den Unionsvertrag zu reformieren, und zu dem fehlgeschlagenen Putsch im August 1991. All dies hat sicherlich zu der Entwicklung beigetragen. Im Kern aber geht es um die Frage, warum sich die ausgeklügelte Maschinerie des Par-teistaates als unfähig erwies, auf die neuen Probleme zu reagieren. Hier betritt man das weite Feld der unbeabsichtigten Konsequenzen von Glasnost und Pe-restroika.25

Die Entwicklung in der Bundesrepublik Jugoslawien, die zwischen 1991 und 2006 in mehreren Phasen zerfiel, verlief in mehrfacher Hinsicht ähnlich wie jene in der Sowjetunion. Ähnlich wie Moskau entglitt auch Belgrad die Macht, als die Teilrepubliken die Anweisungen aus dem Zentrum missachteten. Doch in Jugoslawien fassten die zentralen Institutionen wieder Tritt, und das von

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Serbien beherrschte Zentrum begann mit einem langwierigen Rückzugsge-fecht, in dem es versuchte, die separatistischen Neigungen der Nachbarn zu zügeln. Doch letztlich führte Serbiens gewaltsamer Versuch, die Föderation durch militärische Mittel zusammenzuhalten, zu einer Stärkung der zentrifu-galen Kräfte, die bereits an Schwung gewonnen hatten. Je mehr Miloševic wü-tete, umso stärker entfremdeten sich die Teilrepubliken vom Zentrum, was schließlich auch für Montenegro galt, Serbiens bislang treuestem Partner. In diesem Fall erscheint die Bezeichnung »Explosion« vielleicht am treffendsten.26

Die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie, die 1918 zusammenbrach, könnte man als ein weiteres Beispiel für eine Implosion anführen. Hier spielte der äußere Druck aufgrund der militärischen Aktionen im Ersten Weltkrieg eine größere Rolle. Doch das Reich überstand die kriegerischen Auseinander-setzungen unversehrt und zerbrach erst nach dem Ende des Krieges im Zuge des verhängnisvollen Versagens der staatlichen Autorität. Nachdem im März 1918 an der Ostfront ein Friedensvertrag unterzeichnet worden war, wurde das Kernland nicht länger von einem »Einfall fremder Gewalt« bedroht. Der Kon-flikt an der italienischen Front war, obwohl er sehr heftig ausgefochten wurde, letztlich nur von regionaler Bedeutung. Doch in den Monaten danach büßten die Habsburger und ihr Staatswesen die Fähigkeit zur Führung ein. Ab Oktober wurden Erlasse des Kaisers nicht mehr respektiert, und die Provinzen des Rei-ches begannen ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Galizien beispielsweise erhob sich nicht gegen die Zentralgewalt; es wurde vielmehr von einem macht-losen Wien alleingelassen, das von österreichisch-deutschen Republikanern bedrängt wurde. Ohne politische Führung zerfiel das Reich schließlich in allge-meinem Chaos.27

Wie Locke feststellte, ist der »Einfall fremder Gewalt« die häufigste Ursache für den Untergang eines Staates. Das tolosanische Reich, die Staaten von Bur-gund, das Byzantinische Reich, das polnisch-litauische Großfürstentum und Preußen (als Bestandteil des Dritten Reiches) wurden alle durch Eroberung oder Unterwerfung zerstört. Doch Eroberer streben nicht immer danach, ihre besiegten Gegner zu vernichten; sowohl das byzantinische wie auch das polni-sche Beispiel zeigen, dass es neben den Absichten des Eroberers auch von der Gesundheit und der Stärke eines eroberten Landes abhängt, welches Schicksal die Verlierer erwartet. Im Jahr 1453 war das einstmals mächtige Byzantinische Reich auf einen winzigen Stadtstaat zusammengeschrumpft, bevor es durch die letzte Belagerung endgültig ausgelöscht wurde. Bis 1795 hatte die polnisch-litauische Realunion ein Jahrhundert lang unter Übergriffen von außen, admi-nistrativem Versagen und innerer Auszehrung gelitten, bis sie schließlich in den Teilungskriegen unterging. Es stellt sich daher die Frage, ob die Schwäche

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des Staates oder die Böswilligkeit seiner Feinde ausschlaggebend waren für den Zerfall. Das lässt sich nur dann eindeutig beantworten, wenn der eroberte Staat hilflos dem Eroberer ausgeliefert ist und dieser nach Belieben entweder Gnade walten lassen oder den Gegner vernichten kann. Die großen Philoso-phen der Aufklärung hatten sich häufig spöttisch über die Machtlosigkeit des Großfürstentums geäußert. Der Patient war zweifellos krank, aber diese Krank-heit war nicht das Ausschlaggebende. Entscheidend war vielmehr, dass die Nachbarn des Großfürstentums entschlossen waren, ihr Opfer zu töten und sich dessen Besitztümer anzueignen. Die Teilungen Polen-Litauens kann man mit einem langen Feldzug mit fortgesetzten Angriffen und Schikanen verglei-chen, der schließlich mit der Ermordung des zermürbten Feindes endet. »Po-len-Litauen war das Opfer einer politischen Vivisektion – durch Verstümme-lung, Amputation und am Ende einer völligen Zerstückelung: die einzige Entschuldigung, die dafür angeführt wurde, lautet, dass sich der Patient nicht wohlgefühlt habe«.28 Ein Gerichtsmediziner würde in diesem Fall »Tod durch unnatürliche Ursachen« feststellen.

Unterwerfung ist also nicht notwendigerweise die Vorstufe zur Auslöschung. Cato mag ausrufen »Carthaginem esse delendam« (»Karthago muss zerstört werden«), doch diesem Ratschlag muss man nicht folgen. Im Falle von Preu-ßen – das 1945 noch existierte, obwohl es in Deutschland aufgegangen war – warteten die Alliierten fast zwei Jahre, bis sie ihm den entscheidenden Schlag versetzten. In anderen Fällen wurden Länder erobert, besetzt und annektiert und entstanden später doch wieder neu. Rousseau war sich dieser Möglichkeit durchaus bewusst, als er 1769 die missliche Lage von Polen-Litauen analysie-ren sollte. »Ihr werdet wahrscheinlich als Ganzes geschluckt werden«, sagte er richtig voraus, »deshalb müsst ihr dafür Sorge tragen, dass ihr unverdaulich bleibt.«29 Für die Erfahrungen der baltischen Staaten im 20. Jahrhundert gilt dasselbe. Estland, Litauen und Lettland wurden im Juni 1940 von der Sowjet-union besetzt und in die UdSSR eingegliedert. Aber sie wurden nicht vollstän-dig verdaut. Fünfzig Jahre später kamen sie, wie Jonas in der biblischen Erzäh-lung, wieder hervor aus dem Bauch des Wals, nach Luft schnappend, aber unversehrt.

Auch geopolitische Faktoren spielen zweifellos eine wichtige Rolle. So ha-ben beispielsweise Schweden im 18. Jahrhundert oder Spanien im 19. Jahr-hundert gezeigt, dass der Niedergang und der Zerfall von Staaten so weit fort-schreiten können, dass potenzielle Aggressoren leichtes Spiel mit ihnen haben würden. Aber dennoch überleben sie, weil sich niemand die Mühe macht, sie zu erledigen. Der bekannteste Vertreter der Theorie vom »Staatstod« rückt vor allem diesen Vorgang in den Vordergrund.30

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Viele politische Gebilde entstehen durch die Verschmelzung bereits beste-hender Einheiten; das Ausmaß der Integration, das durch diese Verschmelzung erreicht wird, ist jedoch sehr unterschiedlich. Dynastische Staaten sind beson-ders anfällig für das Sammler-Syndrom. Das Königreich Aragón war dafür ein Beispiel, das fünfte burgundische Königreich ein weiteres und das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland ein drittes. Deshalb besteht auch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein auf diese Weise entstandener Länder-komplex wieder in seine ursprünglichen Teile zerfällt, wenn dieser Prozess um-gekehrt wird. Solche Vorgänge lassen sich am besten mit den aus der Wirt-schaft stammenden Begriffen Fusion und Entflechtung beschreiben.

Das »Königreich Sardinien« (1718–1861) kann als ein beispielhafter dynas-tischer Herrschaftsverbund betrachtet werden. Seine vier konstituierenden Be-standteile – Savoyen, Piemont, Nizza und Sardinien – waren von der Casa Sa-voia auf ähnliche Weise zusammengefügt worden, wie sich ein multinationaler Konzern ein Portfolio aus verschiedenen Marken und Unternehmen aufbaut. Nach den Napoleonischen Kriegen bestand die Gemeinsamkeit der verschiede-nen Teile eigentlich nur noch darin, dass sie alle dem Herrscherhaus unterstan-den. Als im Laufe der 1860er-Jahre die Bewegung des Risorgimento ihren Hö-hepunkt erreichte, traf die herrschende Dynastie die bewusste Entscheidung, sich des savoyischen und des nizzardischen Teils des Portfolios zu entledigen, um den Boden für ein neues Unternehmen zu bereiten, das den Namen »König-reich Italien« erhielt. Die sardinische Marke wurde zusammen mit Savoyen ge-opfert, weil beide mit dem neuen Businessplan der Dynastie nicht mehr verein-bar waren.

Herrscherdynastien bedienen sich vielfältiger Strategien, deren bedeutends-te die Verheiratung ihrer Erben und Erbinnen ist. Da man in patriarchalischen Gesellschaften davon ausgeht, dass die Besitztümer der Ehefrau jenen ihres Ehemannes untergeordnet werden, verlieren die Herrschaftsgebiete einer Erbin durch die Heirat normalerweise ihre eigene Identität, wie es etwa bei der Ehe-schließung von Jadwiga von Polen 1835 und von Maria von Burgund 1477 der Fall war. In der Praxis war vieles auch von den Verhandlungen über die Erbfol-geregelungen im Vorfeld der Eheschließung abhängig, die zu sehr unterschied-lichen Ergebnissen führten: In Großbritannien beispielsweise ist noch bekannt, welch unterschiedliche Regelungen 1601 nach dem Tod von Elisabeth I. bei der Bildung der Personalunion von »England und Wales« und Schottland, bei der Vereinigung der Königreiche England und Schottland 1707 und bei der Entste-hung der Union von Großbritannien und Irland 1801 getroffen wurden.

Der Fall der Krone Aragón ist in diesem Zusammenhang besonders interes-sant. Der Doppelstaat entstand 1137 durch einen Heiratsvertrag zugunsten der

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Erbin von Aragón und des Erben der Grafschaft Barcelona. Formell waren Ara-gón und Katalonien nach wie vor selbstständige politische Einheiten, als 1469, mehr als drei Jahrhunderte später, der künftige König Ferdinand I. von Aragón die Infantin Isabella, die Thronerbin von Kastilien, heiratete. Dasselbe galt für ihr Königreich Valencia. Auch nach der Eingliederung in das Königreich Spani-en blieben diese drei Kerngebiete noch fast 250 Jahre nach dieser zweiten weg-weisenden Heirat juristisch und administrativ eigenständig; die Krone Aragón löste sich erst im Gefolge des Vertrags von Utrecht 1713 auf. Damals war Spa-nien Objekt des Erbfolgekrieges zwischen den Bourbonen und den Habsbur-gern – die zu Zeiten von Königin Petronella und Graf Ramón Berenguer noch völlig unbekannt waren.

Liquidierung ist ein vertrauter Begriff aus dem Unternehmensrecht, und es gibt keinen Grund, warum man ihn nicht auch auf bestimmte Umstände an-wenden sollte, in denen einem staatlichen Gebilde oder einem »politischen Un-ternehmen« absichtlich ein Ende bereitet wird. Das augenfälligste Beispiel ist die Übereinkunft der politischen Führer der beiden Teile der Tschechoslowa-kei, die sich 1993 auf ihre »samtene Scheidung« verständigten. Seither sind die Tschechische und die Slowakische Republik souveräne Staaten und pflegen ein gutnachbarschaftliches Verhältnis innerhalb der Europäischen Union.31

Die größte Schwierigkeit besteht natürlich darin, festzustellen, welche Li-quidationen in echtem Einvernehmen erfolgen und welche nicht. Für viele gilt das nicht. Die handverlesene »Große Nationalversammlung«, die im November 1918 auf scheinbar demokratische Weise Serbien ermächtigte, das Königreich Montenegro zu annektieren und aufzulösen, kann als klassisches Beispiel für ein von Politgangstern veranstaltetes Schmierentheater eingestuft werden. Die Alliierten versäumten es bedauerlicherweise, den Schurken zu benennen; sie ließen die Montenegro-Frage bei der Pariser Friedenskonferenz unter den Tisch fallen, vielleicht weil sie keine Möglichkeit sahen, einen unberechenba-ren Verbündeten wie Serbien zu zügeln. Zumindest ein britischer Staatsmann, ein späterer Nobelpreisträger und Mitglied des Gründungsausschusses des Völ-kerbunds, erkannte wohl, was hier vor sich ging; Lord Robert Cecil (1864–1958) bezeichnete die serbische Delegation auf der Friedenskonferenz als »eine Bande von unehrlichen und blutrünstigen Intriganten«, und er ließ sich auch nicht, wie so viele damals, vom Auftreten der Bolschewiken blenden.32 Andererseits erklärte Cecil 1931, ein halbes Jahr vor dem Einmarsch der Japa-ner in die Mandschurei, vor dem Völkerbund: »Selten hat es eine historische Epoche gegeben, in der ein Krieg so unwahrscheinlich war wie heute.« Auch scharfsinnige Staatsmänner sind bisweilen gutgläubig.

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Die Einverleibung der baltischen Staaten durch die Sowjetunion 1940 war begleitet von Militärinvasionen, falschen »Volksabstimmungen« und Ratlosig-keit auf internationaler Ebene. Handverlesene Delegierte wurden zusammen-getrommelt, Porträts von Stalin durch die Straßen getragen. Die Öffentlichkeit wurde eingeschüchtert, Kritiker schikaniert oder physisch beseitigt. Das Ergeb-nis war von vornherein klar, doch der Welt wurde erzählt, dass die besetzten Länder freudig Moskau um die Aufnahme in die UdSSR gebeten hätten. Im weiteren Verlauf wurden diese »bürgerlichen Republiken« liquidiert. Man könnte aber auch von einem »erzwungenen Selbstmord« sprechen.

Irische Republikaner könnten nun die Auffassung vertreten, dass ihre Repu-blik durch den Anglo-Irischen Vertrag von 1921 auf ähnliche Weise liquidiert wurde. Ihrer Ansicht nach war der Vertrag ungültig, weil die irischen Vertreter durch die Kriegsdrohung der Briten zur Annahme genötigt wurden, und sie waren fest davon überzeugt, dass Einschüchterung und Zwang im Spiel gewe-sen waren. Die Anhänger des Freistaats dagegen glaubten, dass der Inhalt des Vertrages nicht so schwerwiegend war und dass sich hinter der Behauptung von einer »Liquidierung der Republik« eine kompliziertere Wirklichkeit ver-barg. Sie konnten sich auf die Fakten stützen. Zwar waren der Name und die Form der »Republik« unter Zwang aufgegeben worden, aber die Substanz eines eigenständigen, sich selbst verwaltenden irischen Staates blieb bestehen. Zu-dem wurde Irland durch den Vertrag nicht in das Vereinigte Königreich einge-gliedert, er schuf vielmehr die Grundlagen, auf denen später die Irische Repu-blik errichtet wurde.

Somit verbleibt noch eine Kategorie, die man in Ermangelung eines präzise-ren Begriffes als das politische Gegenstück des Kindstods bezeichnen könnte. Um überleben zu können, brauchen neugeborene Staaten intakte innere Orga-ne, eine funktionsfähige Exekutive, eine schlagkräftige Verteidigung, Einnah-men und einen diplomatische Dienst. Wenn sie all dies nicht besitzen, fehlen ihnen die Mittel, um ihre autonome Existenz zu sichern und aufrechtzuerhal-ten, und sie gehen unter, bevor sie atmen und gedeihen können. Die »Eintages-Republik« in der Karpatenukraine zeigt dies sehr anschaulich. Da ihr Exekuti-vorgan lediglich die Proklamation der Unabhängigkeit, aber nichts darüber hinaus zustande brachte, kann man sie als Totgeburt bezeichnen.

Andere junge Staaten sind nach kurzem Kampf untergegangen. Nie ist ein neuer Staat verwundbarer als in seiner Anfangszeit, und die Geier beginnen schon zu kreisen, sobald das Neugeborene seinen ersten Atemzug tut. Viele dieser Neugeborenen sterben, weil sie nicht in der Lage sind, sich aus eigener Kraft zu erhalten, wenn ihnen die Unterstützung der Eltern entzogen wird. Sämtliche napoleonischen Schöpfungen, wie etwa das Königreich Etrurien, ge-

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hören in diese Kategorie. Andere brechen zusammen, weil ihr politisches, mili-tärisches oder wirtschaftliches Umfeld zu abweisend ist. Einige Beispiele dafür finden sich in der kurzen Darstellung der sowjetischen Geschichte in Kapitel 15. Einer dieser Staaten war Kerenskis konstitutionelles und republikanisches Russland, das im Februar 1917 nach dem Sturz der zaristischen Regierung ent-stand und dessen provisorische Regierung schon nach acht Monaten von den Bolschewiken ausgelöscht wurde. Zu dieser Gruppe zählen auch die Weißrus-sische Volksrepublik von 1918 und die Ukrainische Volksrepublik, die zur sel-ben Zeit ausgerufen wurde. Als drittes könnte man das Heimatland des Be-gründers der Sowjetunion nennen, die Republik Georgien, die sich nach ihrer Entstehung 1918 drei Jahre lang behaupten konnte und die fast 90 Jahre später im feindseligen Umfeld des großen russischen Nachbarn erneut Lebenszeichen von sich gab.33

Eine erfolgreiche Staatsbildung ist ein seltener Glücksfall. Sie erfordert Ge-sundheit und Lebenskraft, wohlmeinende Nachbarn und das zielstrebige Be-mühen, das eigene Wachstum voranzutreiben und einen Zustand der Reife zu erreichen. Alle bekannten Staatswesen der Geschichte haben diese Phase der Prüfung in der Kindheit durchlaufen, und viele von ihnen haben später ein sehr hohes Alter erreicht. Wer von ihnen die Prüfung nicht bestand, ging sang- und klanglos unter. Das ist das Naturgesetz des Seins, es gilt gleichermaßen für politische Gemeinwesen wie für den Menschen im Allgemeinen.

Seit den Zeiten der alten Griechen zog der Tod eines Monarchen eine große Trauerfeier, eine Grabrede, eine Beerdigung oder das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen, eine Inschrift auf dem Grabstein und einen Nachruf nach sich. Die Beisetzung des Westgotenkönigs Alarich im Fluss Busento war lediglich eine kleine Abweichung von der üblichen Praxis. Die Angelsachsen und die Wikinger bestatteten ihren Häuptling oft zusammen mit seinem Schiff, um das Ende seiner Herrschaft und den Beginn einer neuen Reise entweder in die Wal-halla oder in den Himmel zum Ausdruck zu bringen:

Für Scyld kam auch die Schicksalsstunde,

Es ging der Held in Gottes Hut.

Da trugen die Treuen den toten Fürsten

Zum Seegestade, wie selbst er bestimmt

Als der Recke noch mächtig der Rede war.

Der liebe Scylding, der Landesgebieter,

Vereist im Hafen lag erzbeschlagen

Das Flutross des Fürsten, zur Fahrt bereit;

Und es legten die Mannen den lieben König,

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Den Brecher der Ringe, an Bord des Schiffes

Beim Maste nieder. Gar manches Kleinod

Und funkelnder Schmuck ward fernher gebracht.

...

Mit Hieber und Harnisch, dem Helden im Schoß

Lag edles Gestein, das hinaus mit ihm

In der Flut Bereich fahren sollte.

...

Sie hissten ihm noch zu Häupten ein Banner,

Ein goldgefärbtes, dann gab man ihn preis

Den tosenden Wogen mit traurigem Herzen,

Mit sorgendem Sinn. Zu sagen vermag

Der Helden keiner, der Hallenbewohner

Unterm leuchtenden Himmel, wo die Landung stattfand.34

Im Allgemeinen wurde der Untergang eines Staatsschiffes nicht so ausführlich begangen, wenn auch bisweilen durchaus Nachrufe zu vernehmen waren. Wil-liam Wordsworth etwa betrauerte den Tod eines Staates, der wesentlich älter war als das Königreich Etrurien, aber ebenfalls zu jenen Gemeinwesen gehörte, die durch die Launen Napoleons ausgelöscht wurden:

Einst war des Ostens Schönheit ihr zu eigen,

dem Westen Schutz, bewahre sie den Wert,

den ihr der Adel der Geburt beschert:

Venedig, erste in der freien Städte Reigen!

Wie strahlend, jung und weiblich war die Stadt,

die niemals ward verführt und nie geschändet,

und wenn sie sich der Ehe zugewendet,

war es das Meer, das sie sich erkoren hat.

Und dann sie ihren Ruhm verwelken sah

und die erkämpfte Vormachtstellung schwinden:

Zu ihres langen Lebens letztem Jahr

lasst uns ein Wort des Mitgefühles finden

und trauern, auch wenn sie ein Schatten war

von alter Größe, als das Ende nah.35