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Lessing Emilia Galotti

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Reclam XL Text und Kontext

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Gotthold Ephraim LessingEmilia GalottiEin Trauerspiel in fünf Aufzügen

Herausgegeben von Thorsten Krause

Reclam

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Der Text dieser Ausgabe ist seiten- und zeilengleich mit der Aus-gabe der Universal-Bibliothek Nr. 45. Er wurde auf der Grundlageder gültigen amtlichen Rechtschreibregeln orthographisch behut-sam modernisiert.

Zu Lessings Emilia Galotti gibt es bei Reclam– einen Lektüreschlüssel XL für Schülerinnen und Schüler (Nr. 15449)– Erläuterungen und Dokumente (Nr. 16031)– eine Interpretation in: Lessings Dramen in der Reihe »Interpre-

tationen« (Nr. 8411)

E-Book-Ausgaben finden Sie auf unserer Websiteunter www.reclam.de/e-book

Reclam XL Text und Kontext Nr. 192252014, 2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,Siemensstraße 32, 71254 DitzingenGestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich ForssmanDruck und Bindung: Canon Deutschland Business Services GmbH,Siemensstraße 32, 71254 DitzingenPrinted in Germany 2017reclam ist eine eingetragene Markeder Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgartisbn 978-3-15-019225-2

Auch als E-Book erhältlich

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Die Texte von Reclam XL sind seiten- und zeilengleichmit den Texten der Universal-Bibliothek.Die Reihe bietet neben dem Text Worterläuterungenin Form von Fußnoten und Sacherläuterungen in Formvon Anmerkungen im Anhang, auf die am Randmit Pfeilen (�) verwiesen wird.

Die Texte von Reclam XL sind seiten- und zeilengleichmit den Texten der Universal-Bibliothek.Die Reihe bietet neben dem Text Worterläuterungenin Form von Fußnoten und Sacherläuterungen in Formvon Anmerkungen im Anhang, auf die am Randmit Pfeilen (�) verwiesen wird.

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Personen �

emilia galottiodoardo und

galotti, Eltern der Emiliaclaudiahettore gonzaga, Prinz von Guastallamarinelli, Kammerherr des Prinzencamillo rota, einer von des Prinzen Rätenconti, Malergraf appianigräfin orsinaangelo und einige Bediente

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Erster Aufzug

Die Szene: ein Kabinett des Prinzen. �

Erster Auftritt

der prinz an einem Arbeitstische, voller Briefschaften undPapiere, deren einige er durchläuft.5

Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bitt-schriften! – Die traurigen Geschäfte; und man beneidetuns noch! – Das glaub ich; wenn wir allen helfen könnten:dann wären wir zu beneiden. – Emilia? (Indem er noch einevon den Bittschriften aufschlägt, und nach dem unterschriebe-10

nen Namen sieht.) Eine Emilia? – Aber eine Emilia Bru-neschi – nicht Galotti. Nicht Emilia Galotti! – Was will sie,diese Emilia Bruneschi? (Er lieset.) Viel gefodert; sehr viel. �– Doch sie heißt Emilia. Gewährt! (Er unterschreibt undklingelt; worauf ein Kammerdiener hereintritt.) Es ist wohl15

noch keiner von den Räten in dem Vorzimmer?der kammerdiener. Nein.der prinz. Ich habe zu früh Tag gemacht. – Der Morgen ist

so schön. Ich will ausfahren. Marchese Marinelli soll michbegleiten. Lasst ihn rufen. (Der Kammerdiener geht ab.) –20

Ich kann doch nicht mehr arbeiten. – Ich war so ruhig,bild ich mir ein, so ruhig – Auf einmal muss eine armeBruneschi, Emilia heißen: – weg ist meine Ruhe, und al-les! –

der kammerdiener (welcher wieder hereintritt). Nach dem25

Marchese ist geschickt. Und hier, ein Brief von der GräfinOrsina.

der prinz. Der Orsina? Legt ihn hin.der kammerdiener. Ihr Läufer wartet.der prinz. Ich will die Antwort senden; wenn es einer be-30

darf. – Wo ist sie? In der Stadt? oder auf ihrer Villa?der kammerdiener. Sie ist gestern in die Stadt gekommen.

2 Kabinett: kleiner Raum, Nebenzimmer; hier: Arbeitsraum 5 durch-läuft: überfliegt 13 gefodert: gefordert 15 Kammerdiener: hochge-stellte Position bei Hofe 19 Marchese: ital. Adelstitel 26 geschickt:ist geschickt worden; man hat ihn rufen lassen 29 Läufer: laufenderBote

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der prinz. Desto schlimmer – besser; wollt ich sagen. Sobraucht der Läufer umso weniger zu warten. (Der Kam-merdiener geht ab.) Meine teure Gräfin! (Bitter, indem erden Brief in die Hand nimmt.) So gut, als gelesen! (Und ihnwieder wegwirft.) – Nun ja; ich habe sie zu lieben ge- 5

glaubt! Was glaubt man nicht alles? Kann sein, ich habesie auch wirklich geliebt. Aber – ich habe!

der kammerdiener (der nochmals hereintritt). Der MalerConti will die Gnade haben – –

der prinz. Conti? Recht wohl; lasst ihn hereinkommen. – 10

Das wird mir andere Gedanken in den Kopf bringen. –(Steht auf.)

Zweiter Auftritt

conti. der prinz.

der prinz. Guten Morgen, Conti. Wie leben Sie? Was 15

macht die Kunst?conti. Prinz, die Kunst geht nach Brot.der prinz. Das muss sie nicht; das soll sie nicht, – in mei-

nem kleinen Gebiete gewiss nicht. – Aber der Künstlermuss auch arbeiten wollen. 20

conti. Arbeiten? Das ist seine Lust. Nur zu viel arbeitenmüssen, kann ihn um den Namen Künstler bringen.

der prinz. Ich meine nicht vieles; sondern viel: ein weniges;aber mit Fleiß. – Sie kommen doch nicht leer, Conti?

conti. Ich bringe das Porträt, welches Sie mir befohlen ha- 25

ben, gnädiger Herr. Und bringe noch eines, welches Siemir nicht befohlen: aber weil es gesehen zu werden ver-dient –

der prinz. Jenes ist? – Kann ich mich doch kaum erin-nern – 30

conti. Die Gräfin Orsina.der prinz. Wahr! – Der Auftrag ist nur ein wenig von

lange her.

4 So gut, als gelesen: So gut wie gelesen 9 will die Gnade haben:will vorgelassen werden 17 die Kunst geht nach Brot: der Künstlermuss zum Gelderwerb auf Bestellung arbeiten (nach Martin Luthers»Tischreden«) 24 leer: mit leeren Händen

1. Aufzug1.–4. Auftritt

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conti. Unsere schönen Damen sind nicht alle Tage zumMalen. Die Gräfin hat, seit drei Monaten, gerade Einmalsich entschließen können, zu sitzen.

der prinz. Wo sind die Stücke?conti. In dem Vorzimmer: ich hole sie.5

Dritter Auftritt

der prinz.

Ihr Bild! – mag! – Ihr Bild, ist sie doch nicht selber. –Und vielleicht find ich in dem Bilde wieder, was ich in derPerson nicht mehr erblicke. – Ich will es aber nicht wie-10

derfinden. – Der beschwerliche Maler! Ich glaube gar, siehat ihn bestochen. – Wär es auch! Wenn ihr ein anderesBild, das mit andern Farben, auf einen andern Grund ge-malet ist, – in meinem Herzen wieder Platz machen will:– Wahrlich, ich glaube, ich wär es zufrieden. Als ich dort15

liebte, war ich immer so leicht, so fröhlich, so ausgelas-sen. – Nun bin ich von allem das Gegenteil. – Doch nein;nein, nein! Behäglicher, oder nicht behäglicher: ich bin sobesser.

Vierter Auftritt20

der prinz. conti mit den Gemälden, wovon er das eine ver-wandt gegen einen Stuhl lehnet.

conti (indem er das andere zurechtstellet). Ich bitte, Prinz, �dass Sie die Schranken unserer Kunst erwägen wollen.Vieles von dem Anzüglichsten der Schönheit liegt ganz25

außer den Grenzen derselben. – Treten Sie so! –der prinz (nach einer kurzen Betrachtung). Vortrefflich,

Conti; – ganz vortrefflich! – Das gilt Ihrer Kunst, IhremPinsel. – Aber geschmeichelt, Conti; ganz unendlich ge-schmeichelt!30

3 zu sitzen: Modell zu sitzen 8 mag!: nun gut!, es sei! (nach frz.soit!) 13 Grund: Grundierung 18 Behäglicher: Zufriedener, froher18 f. ich bin so besser: so geht es mir besser 21 f. verwandt: umge-dreht 25 Anzüglichsten: Anziehendsten 26 Treten Sie so!: TretenSie näher!

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conti. Das Original schien dieser Meinung nicht zu sein.Auch ist es in der Tat nicht mehr geschmeichelt, als dieKunst schmeicheln muss. Die Kunst muss malen, wie sichdie plastische Natur, – wenn es eine gibt – das Bilddachte: ohne den Abfall, welchen der widerstrebende 5

Stoff unvermeidlich macht; ohne das Verderb, mit wel-chem die Zeit dagegen ankämpfet.

der prinz. Der denkende Künstler ist noch eins so vielwert. – Aber das Original, sagen Sie, fand dem ungeach-tet – 10

conti. Verzeihen Sie, Prinz. Das Original ist eine Person,die meine Ehrerbietung fodert. Ich habe nichts Nachteili-ges von ihr äußern wollen.

der prinz. So viel als Ihnen beliebt! – Und was sagte dasOriginal? 15

conti. Ich bin zufrieden, sagte die Gräfin, wenn ich nichthässlicher aussehe.

der prinz. Nicht hässlicher? – O das wahre Original!conti. Und mit einer Miene sagte sie das, – von der freilich

dieses ihr Bild keine Spur, keinen Verdacht zeiget. 20

der prinz. Das meint ich ja; das ist es eben, worin ich dieunendliche Schmeichelei finde. – O! ich kenne sie, jenestolze höhnische Miene, die auch das Gesicht einer Gra-zie entstellen würde! – Ich leugne nicht, dass ein schönerMund, der sich ein wenig spöttisch verziehet, nicht selten 25

um so viel schöner ist. Aber, wohlgemerkt, ein wenig: dieVerziehung muss nicht bis zur Grimasse gehen, wie beidieser Gräfin. Und Augen müssen über den wollüstigenSpötter die Aufsicht führen, – Augen, wie sie die guteGräfin nun gerade gar nicht hat. Auch nicht einmal hier 30

im Bilde hat.conti. Gnädiger Herr, ich bin äußerst betroffen –der prinz. Und worüber? Alles, was die Kunst aus den

großen, hervorragenden, stieren, starren Medusenaugen�

der Gräfin Gutes machen kann, das haben Sie, Conti, 35

redlich daraus gemacht. – Redlich, sag ich? – Nicht soredlich, wäre redlicher. Denn sagen Sie selbst, Conti, lässt

1 Das Original: das Modell des Bildes; hier: Gräfin Orsina 4 dieplastische Natur: die Gestalten bildende Natur 5 Abfall: Zurückblei-ben gegenüber dem Original bzw. der Idealvorstellung 6 Verderb:Verderben 23 f. Grazie: Göttin der Anmut 34 Medusenaugen: hier:furchterregenden Augen; s. Anm. zu 8,34

1. Aufzug4. Auftritt

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sich aus diesem Bilde wohl der Charakter der Personschließen? Und das sollte doch. Stolz haben Sie inWürde, Hohn in Lächeln, Ansatz zu trübsinnigerSchwärmerei in sanfte Schwermut verwandelt.

conti (etwas ärgerlich). Ah, mein Prinz, – wir Maler rech-5

nen darauf, dass das fertige Bild den Liebhaber nochebenso warm findet, als warm er es bestellte. Wir malenmit Augen der Liebe: und Augen der Liebe müssten unsauch nur beurteilen.

der prinz. Je nun, Conti; – warum kamen Sie nicht einen10

Monat früher damit? – Setzen Sie weg. – Was ist das an-dere Stück?

conti (indem er es holt, und noch verkehrt in der Hand hält).Auch ein weibliches Porträt.

der prinz. So möcht ich es bald – lieber gar nicht sehen.15

Denn dem Ideal hier, (mit dem Finger auf die Stirne) – odervielmehr hier, (mit dem Finger auf das Herz) kömmt esdoch nicht bei. – Ich wünschte, Conti, Ihre Kunst in an-dern Vorwürfen zu bewundern.

conti. Eine bewundernswürdigere Kunst gibt es; aber si-20

cherlich keinen bewundernswürdigern Gegenstand, alsdiesen.

der prinz. So wett ich, Conti, dass es des Künstlers eigeneGebieterin ist. – (Indem der Maler das Bild umwendet.)Was seh ich? Ihr Werk, Conti? oder das Werk meiner25

Phantasie? – Emilia Galotti!conti. Wie, mein Prinz? Sie kennen diesen Engel?der prinz (indem er sich zu fassen sucht, aber ohne ein Auge

von dem Bilde zu verwenden). So halb! – um sie eben wie-der zu kennen. – Es ist einige Wochen her, als ich sie mit30

ihrer Mutter in einer Vegghia traf. – Nachher ist sie mirnur an heiligen Stätten wieder vorgekommen, – wo das �Angaffen sich weniger ziemet. – Auch kenn ich ihren Va-ter. Er ist mein Freund nicht. Er war es, der sich meinenAnsprüchen auf Sabionetta am meisten widersetzte. – Ein35 �

alter Degen; stolz und rau; sonst bieder und gut! –conti. Der Vater! Aber hier haben wir seine Tochter. –

7 warm: begeistert 11 Setzen Sie weg: Stellen Sie (das Bild) weg16–18 dem Ideal … kömmt … bei: an das Ideal kommt es nicht her-an 19 Vorwürfen: Motiven 24 Gebieterin: Geliebte 31 Vegghia:(ital.) Abendgesellschaft 32 vorgekommen: begegnet 33 Angaffen:Anstarren 33 sich … ziemet: sich gehört 36 Degen: hier: Kämpfer

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der prinz. Bei Gott! wie aus dem Spiegel gestohlen! (Nochimmer die Augen auf das Bild geheftet.) O, Sie wissen es jawohl, Conti, dass man den Künstler dann erst recht lobt,�

wenn man über sein Werk sein Lob vergisst.conti. Gleichwohl hat mich dieses noch sehr unzufrieden 5

mit mir gelassen. – Und doch bin ich wiederum sehr zu-frieden mit meiner Unzufriedenheit mit mir selbst. – Ha!dass wir nicht unmittelbar mit den Augen malen! Aufdem langen Wege, aus dem Auge durch den Arm in denPinsel, wie viel geht da verloren ! – Aber, wie ich sage, 10

dass ich es weiß, was hier verloren gegangen, und wie esverloren gegangen, und warum es verloren gehen müssen:darauf bin ich ebenso stolz, und stolzer, als ich auf allesdas bin, was ich nicht verloren gehen lassen. Denn aus je-nem erkenne ich, mehr als aus diesem, dass ich wirklich 15

ein großer Maler bin; dass es aber meine Hand nur nichtimmer ist. – Oder meinen Sie, Prinz, dass Raphael nichtdas größte malerische Genie gewesen wäre, wenn erunglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden?Meinen Sie, Prinz? 20

der prinz (indem er nur eben von dem Bilde wegblickt). Wassagen Sie, Conti? Was wollen Sie wissen?

conti. O nichts, nichts! – Plauderei! Ihre Seele, merk ich,war ganz in Ihren Augen. Ich liebe solche Seelen, und sol-che Augen. 25

der prinz (mit einer erzwungenen Kälte). Also, Conti, rech-nen Sie doch wirklich Emilia Galotti mit zu den vorzüg-lichsten Schönheiten unserer Stadt?

conti. Also? mit? mit zu den vorzüglichsten? und den vor-züglichsten unserer Stadt? – Sie spotten meiner, Prinz. 30

Oder Sie sahen, die ganze Zeit, ebenso wenig, als Sie hör-ten.

der prinz. Lieber Conti, – (die Augen wieder auf das Bild ge-richtet) wie darf unsereiner seinen Augen trauen? Eigent-lich weiß doch nur allein ein Maler von der Schönheit zu 35

urteilen.

12 verloren gehen müssen: hat verloren gehen müssen 17 Raphael:Raffaelo Santi (1483–1520), ital. Maler und Baumeister der Renaissance

1. Aufzug4. Auftritt

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conti. Und eines jeden Empfindung sollte erst auf denAusspruch eines Malers warten? – Ins Kloster mit dem,der es von uns lernen will, was schön ist! Aber das mussich Ihnen doch als Maler sagen, mein Prinz: eine von dengrößten Glückseligkeiten meines Lebens ist es, dass Emi-5

lia Galotti mir gesessen. Dieser Kopf, dieses Antlitz,diese Stirn, diese Augen, diese Nase, dieser Mund, diesesKinn, dieser Hals, diese Brust, dieser Wuchs, dieser ganzeBau, sind, von der Zeit an, mein einziges Studium derweiblichen Schönheit. – Die Schilderei selbst, wovor sie10

gesessen, hat ihr abwesender Vater bekommen. Aberdiese Kopie –

der prinz (der sich schnell gegen ihn kehret). Nun, Conti? istdoch nicht schon versagt?

conti. Ist für Sie, Prinz; wenn Sie Geschmack daran finden.15

der prinz. Geschmack! – (Lächelnd.) Dieses Ihr Studiumder weiblichen Schönheit, Conti, wie könnt ich bessertun, als es auch zu dem meinigen zu machen? – Dort, je-nes Porträt nehmen Sie nur wieder mit, – einen Rahmendarum zu bestellen.20

conti. Wohl!der prinz. So schön, so reich, als ihn der Schnitzer nur ma-

chen kann. Es soll in der Galerie aufgestellet werden. –Aber dieses bleibt hier. Mit einem Studio macht man soviel Umstände nicht: auch lässt man das nicht aufhängen;25

sondern hat es gern bei der Hand. – Ich danke Ihnen,Conti; ich danke Ihnen recht sehr. – Und wie gesagt: inmeinem Gebiete soll die Kunst nicht nach Brot gehen; –bis ich selbst keines habe. – Schicken Sie, Conti, zu mei-nem Schatzmeister, und lassen Sie, auf Ihre Quittung, für30

beide Porträte sich bezahlen, – was Sie wollen. So viel Siewollen, Conti.

conti. Sollte ich doch nun bald fürchten, Prinz, dass Sie so,noch etwas anders belohnen wollen, als die Kunst.

der prinz. O des eifersüchtigen Künstlers! Nicht doch! –35

Hören Sie, Conti; so viel Sie wollen. (Conti geht ab.)

6 mir gesessen: mir Modell gesessen 10 Die Schilderei: Das Gemäl-de 10 wovor: für die 13 gegen ihn kehret: ihm zuwendet 14 versagt:vergeben 20 darum: dafür 22 Schnitzer: Handwerker, der aus Holzkunstvolle Bilderrahmen fertigt 24 Studio: Übungsstück, Studien-objekt 31 Porträte: Porträts 35 O des eifersüchtigen Künstlers!: Oh,der eifersüchtige Künstler!; alter Genitiv

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Fünfter Auftritt

der prinz.

So viel er will! – (Gegen das Bild.) Dich hab ich für jedenPreis noch zu wohlfeil. – Ah! schönes Werk der Kunst, istes wahr, dass ich dich besitze? – Wer dich auch besäße, 5

schönres Meisterstück der Natur! – Was Sie dafür wollen,ehrliche Mutter! Was du willst, alter Murrkopf! Fodrenur! Fodert nur! – Am liebsten kauft’ ich dich, Zauberin,von dir selbst! – Dieses Auge voll Liebreiz und Beschei-denheit! Dieser Mund! und wenn er sich zum Reden öff- 10

net! wenn er lächelt! Dieser Mund! – Ich höre kommen.�

– Noch bin ich mit dir zu neidisch. (Indem er das Bild ge-gen die Wand drehet.) Es wird Marinelli sein. Hätt ich ihndoch nicht rufen lassen! Was für einen Morgen könnt ichhaben! 15

Sechster Auftritt

marinelli. der prinz.

marinelli. Gnädiger Herr, Sie werden verzeihen. – Ich warmir eines so frühen Befehls nicht gewärtig.

der prinz. Ich bekam Lust, auszufahren. Der Morgen war 20

so schön. – Aber nun ist er ja wohl verstrichen; und dieLust ist mir vergangen. – (Nach einem kurzen Stillschwei-gen.) Was haben wir Neues, Marinelli?

marinelli. Nichts von Belang, das ich wüsste. – Die GräfinOrsina ist gestern zur Stadt gekommen. 25

der prinz. Hier liegt auch schon ihr guter Morgen, (auf ih-ren Brief zeigend) oder was es sonst sein mag! Ich bin garnicht neugierig darauf. – Sie haben sie gesprochen?

marinelli. Bin ich, leider, nicht ihr Vertrauter? – Aber,wenn ich es wieder von einer Dame werde, der es ein- 30

kömmt, Sie in gutem Ernste zu lieben, Prinz: so – –der prinz. Nichts verschworen, Marinelli!�

3 Gegen das Bild: Dem Bild zugewandt 4 wohlfeil: günstig, billig7 Fodre: Fordere 18 f. war … gewärtig: nicht bewusst 26 guter Mor-gen: hier: Gruß 30 f. einkömmt: einfällt 31 in gutem Ernste: in vol-lem Ernst

1. Aufzug5./6. Auftritt

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marinelli. Ja? In der Tat, Prinz? Könnt es doch kommen?– O! so mag die Gräfin auch so Unrecht nicht haben.

der prinz. Allerdings, sehr Unrecht! – Meine nahe Ver-mählung mit der Prinzessin von Massa, will durchaus, �dass ich alle dergleichen Händel fürs Erste abbreche.5

marinelli. Wenn es nur das wäre: so müsste freilich Orsinasich in ihr Schicksal ebenso wohl zu finden wissen, als derPrinz in seines.

der prinz. Das unstreitig härter ist, als ihres. Mein Herzwird das Opfer eines elenden Staatsinteresse. Ihres darf10 �

sie nur zurücknehmen: aber nicht wider Willen verschen-ken.

marinelli. Zurücknehmen? Warum zurücknehmen? fragtdie Gräfin: wenn es weiter nichts, als eine Gemahlin ist,die dem Prinzen nicht die Liebe, sondern die Politik zu-15

führet? Neben so einer Gemahlin sieht die Geliebte nochimmer ihren Platz. Nicht so einer Gemahlin fürchtet sieaufgeopfert zu sein, sondern – –

der prinz. Einer neuen Geliebten. – Nun denn? WolltenSie mir daraus ein Verbrechen machen, Marinelli?20

marinelli. Ich? – O! vermengen Sie mich ja nicht, meinPrinz, mit der Närrin, deren Wort ich führe, – aus Mitleidführe. Denn gestern, wahrlich, hat sie mich sonderbar ge-rühret. Sie wollte von ihrer Angelegenheit mit Ihnen garnicht sprechen. Sie wollte sich ganz gelassen und kalt stel-25

len. Aber mitten in dem gleichgültigsten Gespräche, ent-fuhr ihr eine Wendung, eine Beziehung über die andere,die ihr gefoltertes Herz verriet. Mit dem lustigsten Wesensagte sie die melancholischsten Dinge: und wiederum dielächerlichsten Possen mit der allertraurigsten Miene. Sie30

hat zu den Büchern ihre Zuflucht genommen; und ichfürchte, die werden ihr den Rest geben.

der prinz. So wie sie ihrem armen Verstande auch denersten Stoß gegeben. – Aber was mich vornehmlich mitvon ihr entfernt hat, das wollen Sie doch nicht brauchen,35

Marinelli, mich wieder zu ihr zurückzubringen? – Wenn

5 Händel: Tun, Treiben; hier: Liebesaffären 10 darf: hier: braucht21 vermengen: verwechseln 27 Beziehung: hier: Anspielung, Bemer-kung 29 melancholischsten: schwermütigsten 30 Possen: Scherze,Unsinn

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sie aus Liebe närrisch wird, so wäre sie es, früher oderspäter, auch ohne Liebe geworden – Und nun, genug vonihr. – Von etwas andern! – Geht denn gar nichts vor, inder Stadt? –

marinelli. So gut, wie gar nichts. – Denn dass die Verbin- 5

dung des Grafen Appiani heute vollzogen wird, – istnicht viel mehr, als gar nichts.

der prinz. Des Grafen Appiani? und mit wem denn? – Ichsoll ja noch hören, dass er versprochen ist.

marinelli. Die Sache ist sehr geheim gehalten worden. 10

Auch war nicht viel Aufhebens davon zu machen. – Siewerden lachen, Prinz. – Aber so geht es den Empfind-�

samen! Die Liebe spielet ihnen immer die schlimmstenStreiche. Ein Mädchen ohne Vermögen und ohne Rang,hat ihn in ihre Schlinge zu ziehen gewusst, – mit ein we- 15

nig Larve: aber mit vielem Prunke von Tugend und Ge-fühl und Witz, – und was weiß ich?

der prinz. Wer sich den Eindrücken, die Unschuld undSchönheit auf ihn machen, ohne weitere Rücksicht, soganz überlassen darf; – ich dächte, der wäre eher zu be- 20

neiden, als zu belachen. – Und wie heißt denn die Glück-liche? – Denn bei alledem ist Appiani – ich weiß wohl,dass Sie, Marinelli, ihn nicht leiden können; ebenso wenigals er Sie – bei alledem ist er doch ein sehr würdiger jun-ger Mann, ein schöner Mann, ein reicher Mann, ein Mann 25

voller Ehre. Ich hätte sehr gewünscht, ihn mir verbindenzu können. Ich werde noch darauf denken.

marinelli. Wenn es nicht zu spät ist. – Denn soviel ichhöre, ist sein Plan gar nicht, bei Hofe sein Glück zu ma-chen. – Er will mit seiner Gebieterin nach seinen Tälern 30

von Piemont: – Gämsen zu jagen, auf den Alpen; und�

Murmeltiere abzurichten. – Was kann er Besseres tun?Hier ist es durch das Missbündnis, welches er trifft, mitihm doch aus. Der Zirkel der ersten Häuser ist ihm von�

nun an verschlossen – – 35

der prinz. Mit euren ersten Häusern! – in welchen das Ze-�

8 f. Ich soll ja noch hören: Ich habe (bisher) noch nicht gehört 9 ver-sprochen: verlobt 16 Larve: hier: einem hübschen Gesicht 16 Prun-ke: Zurschaustellung, Einsatz 17 Witz: hier: Verstand, Geist 26 ihnmir verbinden: ihn durch Ämter an den Hof binden 27 darauf den-ken: darüber nachdenken 33 Missbündnis: Mesalliance, unpassendeHeirat

1. Aufzug6. Auftritt

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remoniell, der Zwang, die Langeweile, und nicht seltendie Dürftigkeit herrschet. – Aber so nennen Sie mir siedoch, der er dieses so große Opfer bringt.

marinelli. Es ist eine gewisse Emilia Galotti.der prinz. Wie, Marinelli? eine gewisse –5

marinelli. Emilia Galotti.der prinz. Emilia Galotti? – Nimmermehr!marinelli. Zuverlässig, gnädiger Herr.der prinz. Nein, sag ich; das ist nicht, das kann nicht sein.

– Sie irren sich in dem Namen. – Das Geschlecht der Ga-10

lotti ist groß. – Eine Galotti kann es sein: aber nicht Emi-lia Galotti; nicht Emilia!

marinelli. Emilia – Emilia Galotti!der prinz. So gibt es noch eine, die beide Namen führt. –

Sie sagten ohnedem, eine gewisse Emilia Galotti – eine15

gewisse. Von der rechten könnte nur ein Narr so spre-chen –

marinelli. Sie sind außer sich, gnädiger Herr. – Kennen Siedenn diese Emilia?

der prinz. Ich habe zu fragen, Marinelli, nicht Er. – Emilia20

Galotti? Die Tochter des Obersten Galotti, bei Sabio-netta?

marinelli. Eben die.der prinz. Die hier in Guastalla mit ihrer Mutter wohnet?marinelli. Eben die.25

der prinz. Unfern der Kirche Allerheiligen?marinelli. Eben die.der prinz. Mit einem Worte – (Indem er nach dem Porträte

springt und es dem Marinelli in die Hand gibt.) Da! – Diese?Diese Emilia Galotti? – Sprich dein verdammtes »Eben30

die« noch einmal, und stoß mir den Dolch ins Herz!marinelli. Eben die.der prinz. Henker! – Diese? – Diese Emilia Galotti wird

heute – –marinelli. Gräfin Appiani! – (Hier reißt der Prinz dem Ma-35

rinelli das Bild wieder aus der Hand, und wirft es beiseite.)

2 Dürftigkeit: Entbehrung, Mangel, Mittellosigkeit 20 Er: indirekteAnredeform. Der Angesprochene wird an dieser Stelle vom Vertrautenzum direkt angesprochenen Untertan. 24 Guastalla: Ort am ital. FlussPo, nördlich von Parma

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Die Trauung geschiehet in der Stille, auf dem Landgutedes Vaters bei Sabionetta. Gegen Mittag fahren Mutterund Tochter, der Graf und vielleicht ein paar Freunde da-hin ab.

der prinz (der sich voll Verzweiflung in einen Stuhl wirft). So 5

bin ich verloren ! – So will ich nicht leben!marinelli. Aber was ist Ihnen, gnädiger Herr?der prinz (der gegen ihn wieder aufspringt). Verräter! – was

mir ist? – Nun ja ich liebe sie; ich bete sie an. Mögt ihr esdoch wissen! mögt ihr es doch längst gewusst haben, alle 10

ihr, denen ich der tollen Orsina schimpfliche Fesseln lie-ber ewig tragen sollte! – Nur dass Sie, Marinelli, der Sieso oft mich Ihrer innigsten Freundschaft versicherten – Oein Fürst hat keinen Freund! kann keinen Freund haben!– dass Sie, Sie, so treulos, so hämisch mir bis auf diesen 15

Augenblick die Gefahr verhehlen dürfen, die meinerLiebe drohte: wenn ich Ihnen jemals das vergebe, – sowerde mir meiner Sünden keine vergeben!

marinelli. Ich weiß kaum Worte zu finden, Prinz, – wennSie mich auch dazu kommen ließen – Ihnen mein Erstau- 20

nen zu bezeigen. – Sie lieben Emilia Galotti? – Schwurdann gegen Schwur: Wenn ich von dieser Liebe das Ge-ringste gewusst, das Geringste vermutet habe; so mögeweder Engel noch Heiliger von mir wissen! – Eben daswollt’ ich in die Seele der Orsina schwören. Ihr Verdacht 25

schweift auf einer ganz andern Fährte.der prinz. So verzeihen Sie mir, Marinelli; – (indem er sich

ihm in die Arme wirft) und betaueren Sie mich.marinelli. Nun da, Prinz! Erkennen Sie da die Frucht

Ihrer Zurückhaltung! – »Fürsten haben keinen Freund! 30

können keinen Freund haben!« – Und die Ursache, wenndem so ist? – Weil sie keinen haben wollen. – Heute be-ehren sie uns mit ihrem Vertrauen, teilen uns ihre ge-heimsten Wünsche mit, schließen uns ihre ganze Seeleauf: und morgen sind wir ihnen wieder so fremd, als hät- 35

ten sie nie ein Wort mit uns gewechselt.

11 tollen: hier: verrückten, wahnsinnigen 15 hämisch: heimtückisch16 verhehlen: verschweigen, verbergen 25 in die Seele: bei der See-le 26 schweift auf einer ganz andern Fährte: geht in eine falscheRichtung 28 betaueren: bedauern

1. Aufzug6. Auftritt

16

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der prinz. Ach! Marinelli, wie konnt ich Ihnen vertrauen,was ich mir selbst kaum gestehen wollte?

marinelli. Und also wohl noch weniger der UrheberinIhrer Qual gestanden haben?

der prinz. Ihr? – Alle meine Mühe ist vergebens gewesen,5

sie ein zweites Mal zu sprechen. –marinelli. Und das erste Mal –der prinz. Sprach ich sie – O, ich komme von Sinnen! Und

ich soll Ihnen noch lange erzählen? – Sie sehen mich ei-nen Raub der Wellen: was fragen Sie viel, wie ich es ge-10

worden? Retten Sie mich, wenn Sie können: und fragenSie dann.

marinelli. Retten? ist da viel zu retten? – Was Sie versäumthaben, gnädiger Herr, der Emilia Galotti zu bekennen,das bekennen Sie nun der Gräfin Appiani. Waren, die15

man aus der ersten Hand nicht haben kann, kauft manaus der zweiten: – und solche Waren nicht selten aus derzweiten um so viel wohlfeiler.

der prinz. Ernsthaft, Marinelli, ernsthaft, oder –marinelli. Freilich, auch um so viel schlechter – –20

der prinz. Sie werden unverschämt!marinelli. Und dazu will der Graf damit aus dem Lande.

– Ja, so müsste man auf etwas anders denken. –der prinz. Und auf was? – Liebster, bester Marinelli, den-

ken Sie für mich. Was würden Sie tun, wenn Sie an mei-25

ner Stelle wären?marinelli. Vor allen Dingen, eine Kleinigkeit als eine Klei-

nigkeit ansehen; – und mir sagen, dass ich nicht verge-bens sein wolle, was ich bin – Herr!

der prinz. Schmeicheln Sie mir nicht mit einer Gewalt, von30

der ich hier keinen Gebrauch absehe. – Heute sagen Sie?schon heute?

marinelli. Erst heute – soll es geschehen. Und nur gesche-henen Dingen ist nicht zu raten. – (Nach einer kurzenÜberlegung.) Wollen Sie mir freie Hand lassen, Prinz?35

Wollen Sie alles genehmigen, was ich tue?

1 vertrauen: anvertrauen 10 Raub der Wellen: Bild des auf dem Meerherumtreibenden bzw. gesunkenen Schiffes; hier: von Leidenschaft er-fasst 18 wohlfeiler: günstiger 23 auf etwas anders denken: an etwasanderes denken 29 Herr: Inhaber herrschaftlicher Rechte 31 keinenGebrauch absehe: keinen Gebrauch erkenne bzw. machen kann34 raten: helfen

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der prinz. Alles, Marinelli, alles, was diesen Streich abwen-den kann.

marinelli. So lassen Sie uns keine Zeit verlieren. – Aberbleiben Sie nicht in der Stadt. Fahren Sie sogleich nach Ih-rem Lustschlosse, nach Dosalo. Der Weg nach Sabionetta 5��

geht da vorbei. Wenn es mir nicht gelingt, den Grafen au-genblicklich zu entfernen: so denk ich – Doch, doch; ichglaube, er geht in diese Falle gewiss. Sie wollen ja, Prinz,wegen Ihrer Vermählung einen Gesandten nach Massaschicken? Lassen Sie den Grafen dieser Gesandte sein; 10

mit dem Bedinge, dass er noch heute abreiset. – VerstehenSie?

der prinz. Vortrefflich! – Bringen Sie ihn zu mir heraus.Gehen Sie, eilen Sie. Ich werfe mich sogleich in den Wa-gen. (Marinelli geht ab.) 15

Siebenter Auftritt

der prinz.

Sogleich! sogleich! – Wo blieb es? – (Sich nach dem Por-träte umsehend.) Auf der Erde? das war zu arg! (Indem eres auf hebt.) Doch betrachten? betrachten mag ich dich fürs 20

Erste nicht mehr. – Warum sollt ich mir den Pfeil nochtiefer in die Wunde drücken? (Setzt es beiseite.) – Ge-schmachtet, geseufzet hab ich lange genug, – länger als ichgesollt hätte: aber nichts getan! und über die zärtlicheUntätigkeit bei einem Haar alles verloren ! – Und wenn 25

nun doch alles verloren wäre? Wenn Marinelli nichts aus-richtete? – Warum will ich mich auch auf ihn allein verlas-sen? Es fällt mir ein, – um diese Stunde, (nach der Uhr se-hend) um diese nämliche Stunde pflegt das fromme Mäd-chen alle Morgen bei den Dominikanern die Messe zu 30

hören. – Wie wenn ich sie da zu sprechen suchte? – Dochheute, heut an ihrem Hochzeittage, – heute werden ihrandere Dinge am Herzen liegen, als die Messe. – Indes,

1 diesen Streich: hier: diesen Schicksalsschlag 11 dem Bedinge: derBedingung 19 arg: hart 21 Pfeil: Pfeil Amors, in der römischen My-thologie Gott der Liebe 29 um diese nämliche Stunde: genau umdiese Zeit 30 bei den Dominikanern: in der Kirche des dominika-nischen Mönchsordens

1. Aufzug6.–8. Auftritt

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wer weiß? – Es ist ein Gang. – (Er klingelt, und indem ereinige von den Papieren auf dem Tische hastig zusammen-rafft, tritt der Kammerdiener herein.) Lasst vorfahren! – Istnoch keiner von den Räten da?

der kammerdiener. Camillo Rota.5

der prinz. Er soll hereinkommen. (Der Kammerdiener gehtab.) Nur aufhalten muss er mich nicht wollen. Dasmalnicht! – Ich stehe gern seinen Bedenklichkeiten ein ander-mal um so viel länger zu Diensten. – Da war ja noch dieBittschrift einer Emilia Bruneschi – (Sie suchend.) Die10

ist’s. – Aber, gute Bruneschi, wo deine Vorsprecherin – –

Achter Auftritt

camillo rota, Schriften in der Hand. der prinz.

der prinz. Kommen Sie, Rota, kommen Sie. – Hier ist, wasich diesen Morgen erbrochen. Nicht viel Tröstliches! – Sie15

werden von selbst sehen, was darauf zu verfügen. – Neh-men Sie nur.

camillo rota. Gut, gnädiger Herr.der prinz. Noch ist hier eine Bittschrift einer Emilia Ga-

lot- - Bruneschi will ich sagen. – Ich habe meine Bewil-20

ligung zwar schon beigeschrieben. Aber doch – die Sacheist keine Kleinigkeit – Lassen Sie die Ausfertigung nochanstehen. – Oder auch nicht anstehen: wie Sie wollen.

camillo rota. Nicht wie ich will, gnädiger Herr.der prinz. Was ist sonst? Etwas zu unterschreiben?25

camillo rota. Ein Todesurteil wäre zu unterschreiben.der prinz. Recht gern. – Nur her! geschwind.camillo rota (stutzig und den Prinzen starr ansehend). Ein

Todesurteil, sagt ich.der prinz. Ich höre ja wohl. – Es könnte schon geschehen30

sein. Ich bin eilig.camillo rota (seine Schriften nachsehend). Nun hab ich es

doch wohl nicht mitgenommen! – – Verzeihen Sie, gnä-

7 Dasmal: Diesmal 11 Vorsprecherin: Fürsprecherin 15 erbrochen:durch Aufbrechen des Siegels geöffnet 16 was darauf zu verfügen:was darauf anzuordnen ist 23 anstehen: aufschieben 28 stutzig: er-staunt

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diger Herr. – Es kann Anstand damit haben bis mor-gen.

der prinz. Auch das! – Packen Sie nur zusammen: ich mussfort – Morgen, Rota, ein Mehres! (Geht ab.)

camillo rota (den Kopf schüttelnd, indem er die Papiere zu 5

sich nimmt und abgeht). Recht gern? – Ein Todesurteilrecht gern? – Ich hätt es ihn in diesem Augenblicke nichtmögen unterschreiben lassen, und wenn es den Mördermeines einzigen Sohnes betroffen hätte. – Recht gern!recht gern! – Es geht mir durch die Seele dieses grässliche 10

Recht gern!

1 Anstand: hier: Aufschub 4 ein Mehres: ein Weiteres, mehr

1. Aufzug8. Auftritt

2. Aufzug

20

1./2. Auftritt

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Zweiter Aufzug

Die Szene: ein Saal in dem Hause der Galotti.

Erster Auftritt

claudia galotti. pirro.

claudia (im Heraustreten zu Pirro, der von der andern Seite5

hereintritt). Wer sprengte da in den Hof ?pirro. Unser Herr, gnädige Frau.claudia. Mein Gemahl? Ist es möglich?pirro. Er folgt mir auf dem Fuße.claudia. So unvermutet? – (Ihm entgegeneilend.) Ach! mein10

Bester! –

Zweiter Auftritt

odoardo galotti und die vorigen.

odoardo. Guten Morgen, meine Liebe! – Nicht wahr, dasheißt überraschen?15

claudia. Und auf die angenehmste Art! – Wenn es andersnur eine Überraschung sein soll.

odoardo. Nichts weiter! Sei unbesorgt. – Das Glück desheutigen Tages weckte mich so früh; der Morgen war soschön; der Weg ist so kurz; ich vermutete euch hier so ge-20

schäftig – Wie leicht vergessen sie etwas: fiel mir ein. –Mit einem Worte: ich komme, und sehe, und kehre so-gleich wieder zurück. – Wo ist Emilia? Unstreitig be-schäftigt mit dem Putze? –

claudia. Ihrer Seele! – Sie ist in der Messe. – Ich habe25

heute, mehr als jeden andern Tag, Gnade von oben zu er-flehen, sagte sie, und ließ alles liegen, und nahm ihrenSchleier, und eilte –

odoardo. Ganz allein?claudia. Die wenigen Schritte – –30

6 sprengte: jagte, galoppierte 16 Wenn es anders: Sofern, falls es23 Unstreitig: Zweifellos 24 dem Putze: dem Anlegen von Kleidernund Schmuck

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odoardo. Einer ist genug zu einem Fehltritt! –claudia. Zürnen Sie nicht, mein Bester; und kommen Sie

herein, – einen Augenblick auszuruhen, und, wann Sie�

wollen, eine Erfrischung zu nehmen.odoardo. Wie du meinest, Claudia. – Aber sie sollte nicht 5

allein gegangen sein. –claudia. Und Ihr, Pirro, bleibt hier in dem Vorzimmer, alle

Besuche auf heute zu verbitten.

Dritter Auftritt

pirro und bald darauf angelo. 10

pirro. Die sich nur aus Neugierde melden lassen. – Was binich seit einer Stunde nicht alles ausgefragt worden! – Undwer kömmt da?

angelo (noch halb hinter der Szene, in einem kurzen Mantel,den er über das Gesicht gezogen, den Hut in die Stirne). 15

Pirro! – Pirro!pirro. Ein Bekannter? – (Indem Angelo vollends hereintritt,

und den Mantel auseinanderschlägt.) Himmel! Angelo? –Du?

angelo. Wie du siehst. – Ich bin lange genug um das Haus 20

herumgegangen, dich zu sprechen. – Auf ein Wort! –pirro. Und du wagst es, wieder ans Licht zu kommen? –

Du bist seit deiner letzten Mordtat vogelfrei erkläret; aufdeinen Kopf steht eine Belohnung –

angelo. Die doch du nicht wirst verdienen wollen? – 25

pirro. Was willst du? Ich bitte dich, mache mich nicht un-glücklich.

angelo. Damit etwa? (Ihm einen Beutel mit Gelde zeigend.)– Nimm! Es gehöret dir!

pirro. Mir? 30

angelo. Hast du vergessen? Der Deutsche, dein vorigerHerr, – –

pirro. Schweig davon!

3 wann: wenn; vgl. Anm. zu 22,3 8 zu verbitten: abzuweisen13 kömmt: kommt 23 vogelfrei: rechtlos; an einen für vogelfrei er-klärten Menschen darf jeder ungestraft Hand anlegen, sein Leib wirdden Vögeln als Aas freigegeben.

2. Aufzug2./3. Auftritt

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angelo. Den du uns, auf dem Wege nach Pisa, in die Falleführtest –

pirro. Wenn uns jemand hörte!angelo. Hatte ja die Güte, uns auch einen kostbaren Ring

zu hinterlassen. – Weißt du nicht? – Er war zu kostbar,5

der Ring, als dass wir ihn sogleich ohne Verdacht hättenzu Gelde machen können. Endlich ist mir es damit gelun-gen. Ich habe hundert Pistolen dafür erhalten: und das ist �dein Anteil. Nimm!

pirro. Ich mag nichts, – behalt alles.10

angelo. Meinetwegen! – wenn es dir gleichviel ist, wiehoch du deinen Kopf feil trägst – (Als ob er den Beutel wie-der einstecken wollte.)

pirro. So gib nur! (Nimmt ihn.) – Und was nun? Denn dassdu bloß deswegen mich aufgesucht haben solltest – –15

angelo. Das kömmt dir nicht so recht glaublich vor? – Ha-lunke! Was denkst du von uns? – dass wir fähig sind, je-mand seinen Verdienst vorzuenthalten? Das mag unterden sogenannten ehrlichen Leuten Mode sein: unter unsnicht. – Leb wohl! – (Tut als ob er gehen wollte, und kehrt20

wieder um.) Eins muss ich doch fragen. – Da kam ja deralte Galotti so ganz allein in die Stadt gesprengt. Was willder?

pirro. Nichts will er: ein bloßer Spazierritt. Seine Tochterwird, heut Abend, auf dem Gute, von dem er herkömmt,25

dem Grafen Appiani angetrauet. Er kann die Zeit nichterwarten –

angelo. Und reitet bald wieder hinaus?pirro. So bald, dass er dich hier trifft, wo du noch lange

verziehest. – Aber du hast doch keinen Anschlag auf ihn?30

Nimm dich in Acht. Er ist ein Mann –angelo. Kenn ich ihn nicht? Hab ich nicht unter ihm ge-

dienet? – Wenn darum bei ihm nur viel zu holen wäre! –Wenn fahren die junge Leute nach?

pirro. Gegen Mittag.35

angelo. Mit viel Begleitung?

1 Pisa: Stadt in der Toskana 11 gleichviel: gleichgültig 11 f. wie hoch …trägst: wie teuer du deinen Kopf verkaufst 29 f. wo … verziehest:wenn du noch lange verweilst 30 du hast: du hast … vor 34 Wenn:Wann

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