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Erschließung und Interpretation dramatischer Texte – 10. bis 13. Jahrgang Literatur – Literaturgeschichte © deutsch-digital.de Ralf Kastenholz 1 Lessing: Nathan der Weise Verfasser: Ralf Kastenholz Betreuung: Eckehart Weiß Thema: Entstehungszusammenhang des Dramas Entstehungszusammenhang und Bedeutung des Dramas „Nathan der Weise“ innerhalb der Aufklärung „Schreibe wie Du redest, so schreibst Du schön“. Dieser Satz, den vierzehnjährige Lessing sagt, ist nahezu Sprichwort geworden, populäre Äußerung, beinah Volks- mund, Lessing - Besitz auch derer, die nicht wissen, dass sie da Lessing besitzen. Die Kantigkeit, die Frische, die Lust an der Ungeziertheit sind typische Merkmale: mit einem Satz, mit diesem einen Satz steht da ein deutscher Dichter. Schreibe wie du redest, so schreibst du schön: Daran erkennen wir unseren Lessing, auch wenn die deutsch Philologie dahinter eine Menge Eingetrichtertes aufgespürt hat.“(Dieter Hil- debrandt, „Lessing, Biographie einer Emanzipation“, München 1979,S.45) Kurzbiografie Als Sohn eines theologisch ehrgeizigen lutherischen Pfarrers wird Lessing am 22.1.1729 in Kamenz geboren und stirbt am 15.2.1781 in Braunschweig. Bereits im Kindesalter wird er durch Privatunterricht auf seine schulische und universitäre Lauf- bahn vorbereitet, die sich mit der Theologie beschäftigen soll. Von 1741 bis 1746 entstehen während seiner Schulzeit auf der Fürstenschule St. Afra in Meißen, die er aufgrund seiner hervorragenden Leistungen ein Jahr früher als üblich verlässt, die ersten schriftstellerischen Versuche. 1748 wird dann in Leipzig, wo er unter anderem Medizin studiert, sein erstes Lustspiel „Der junge Gelehrte“ uraufgeführt. Seiner ent- deckten Leidenschaft für das Theater geht er auch während seiner darauf folgenden Redakteurs- und Übersetzungstätigkeit (u.a. für die „Berlinische Privilegierte Zei- tung“) in Berlin nach. Nach seiner Promotion zum Magister der Medizin in Wittenberg 1752, entsteht 1755 innerhalb weniger Wochen in Potsdam „Miss Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel“. 1760 verlässt er Berlin und geht als Regimentssekretär nach Breslau. Dies mag für diesen Denker der Aufklärung überraschend wirken, zu- mal er 1762 sogar in den Krieg zieht und an der Belagerung von Schweidnitz teil- nimmt, jedoch lassen die Amtsgeschäfte ihm endlich genug Zeit für private Studien bei sicherem Unterhalt. Es entstehen Vorarbeiten zu „Laokoon oder über die Gren- zen der Malerei und Poesie“(1766) und „Minna von Barnhelm“(1767). Letztendlich wird Lessing am 7.Mai 1770 in sein Amt als Bibliothekar der berühmten herzoglichen Büchersammlung in Wolfenbüttel eingeführt. 1772 wird Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“ uraufgeführt. 1779 erscheint dann knapp zwei Jahre vor seinem Tod Les- sings wohl wichtigstes Werk, das „dramatische Gedicht“ „Nathan der Weise“. (vgl. Hildebrandt, Lessing, S.465 ff) Lessing als Vertreter der Aufklärung Lessing ist ein Vertreter der Aufklärung, der ganz der Abstraktion Voltaires zustim- men würde, welcher die Weltgeschichte als „eine aus immanentem Entwicklungsge- setz heraus fortschreitende Vervollkommnung der Vernunft“ (Meyers Band 23, S.149) ansieht. Ziel der Aufklärung ist es, den Menschen zur selbstbestimmten Frei- heit zu führen, ihn mündig zu machen. Der Mensch ist im Widerspruch zur christli- chen Lehre von Natur aus gut und vernünftig, seine Schlechtigkeit nur Folge gesell- schaftlicher Umstände und religiöser Normen. So wird der Leitsatz „sapere aude“ von Horaz bei Immanuel Kant zum Programm der Aufklärung: Ausgang des Menschen

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Lessing: Nathan der Weise Verfasser: Ralf Kastenholz Betreuung: Eckehart Weiß Thema: Entstehungszusammenhang des Dramas Entstehungszusammenhang und Bedeutung des Dramas „Nathan der Weise“ innerhalb der Aufklärung „Schreibe wie Du redest, so schreibst Du schön“. Dieser Satz, den vierzehnjährige Lessing sagt, ist nahezu Sprichwort geworden, populäre Äußerung, beinah Volks-mund, Lessing - Besitz auch derer, die nicht wissen, dass sie da Lessing besitzen. Die Kantigkeit, die Frische, die Lust an der Ungeziertheit sind typische Merkmale: mit einem Satz, mit diesem einen Satz steht da ein deutscher Dichter. Schreibe wie du redest, so schreibst du schön: Daran erkennen wir unseren Lessing, auch wenn die deutsch Philologie dahinter eine Menge Eingetrichtertes aufgespürt hat.“(Dieter Hil-debrandt, „Lessing, Biographie einer Emanzipation“, München 1979,S.45) Kurzbiografie Als Sohn eines theologisch ehrgeizigen lutherischen Pfarrers wird Lessing am 22.1.1729 in Kamenz geboren und stirbt am 15.2.1781 in Braunschweig. Bereits im Kindesalter wird er durch Privatunterricht auf seine schulische und universitäre Lauf-bahn vorbereitet, die sich mit der Theologie beschäftigen soll. Von 1741 bis 1746 entstehen während seiner Schulzeit auf der Fürstenschule St. Afra in Meißen, die er aufgrund seiner hervorragenden Leistungen ein Jahr früher als üblich verlässt, die ersten schriftstellerischen Versuche. 1748 wird dann in Leipzig, wo er unter anderem Medizin studiert, sein erstes Lustspiel „Der junge Gelehrte“ uraufgeführt. Seiner ent-deckten Leidenschaft für das Theater geht er auch während seiner darauf folgenden Redakteurs- und Übersetzungstätigkeit (u.a. für die „Berlinische Privilegierte Zei-tung“) in Berlin nach. Nach seiner Promotion zum Magister der Medizin in Wittenberg 1752, entsteht 1755 innerhalb weniger Wochen in Potsdam „Miss Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel“. 1760 verlässt er Berlin und geht als Regimentssekretär nach Breslau. Dies mag für diesen Denker der Aufklärung überraschend wirken, zu-mal er 1762 sogar in den Krieg zieht und an der Belagerung von Schweidnitz teil-nimmt, jedoch lassen die Amtsgeschäfte ihm endlich genug Zeit für private Studien bei sicherem Unterhalt. Es entstehen Vorarbeiten zu „Laokoon oder über die Gren-zen der Malerei und Poesie“(1766) und „Minna von Barnhelm“(1767). Letztendlich wird Lessing am 7.Mai 1770 in sein Amt als Bibliothekar der berühmten herzoglichen Büchersammlung in Wolfenbüttel eingeführt. 1772 wird Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“ uraufgeführt. 1779 erscheint dann knapp zwei Jahre vor seinem Tod Les-sings wohl wichtigstes Werk, das „dramatische Gedicht“ „Nathan der Weise“. (vgl. Hildebrandt, Lessing, S.465 ff) Lessing als Vertreter der Aufklärung Lessing ist ein Vertreter der Aufklärung, der ganz der Abstraktion Voltaires zustim-men würde, welcher die Weltgeschichte als „eine aus immanentem Entwicklungsge-setz heraus fortschreitende Vervollkommnung der Vernunft“ (Meyers Band 23, S.149) ansieht. Ziel der Aufklärung ist es, den Menschen zur selbstbestimmten Frei-heit zu führen, ihn mündig zu machen. Der Mensch ist im Widerspruch zur christli-chen Lehre von Natur aus gut und vernünftig, seine Schlechtigkeit nur Folge gesell-schaftlicher Umstände und religiöser Normen. So wird der Leitsatz „sapere aude“ von Horaz bei Immanuel Kant zum Programm der Aufklärung: Ausgang des Menschen

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aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. „Wage es, weise zu sein!“ besagt in unübertrefflicher Kürze, dass man sapiens, klug und weise, nur durch eigenes Han-deln werden kann. Der Forderung der Aufklärung, dass der Mensch den Mut haben soll, seinen Verstand zu gebrauchen, verleiht Lessing in seinem Werk „Nathan der Weise“ Aus-druck, indem er den äußeren Zwang der Religion ablehnt und seine Philosophie auf der dem Menschen eigenen Vernunft aufbaut. So schrieb Lessing während seiner Zeit in Wolfenbüttel dieses Drama zum Teil we-gen eines Theologiestreites mit dem Theologen Johann Melchior Goeze, für den die Bibel unkritisierbare, geoffenbarte Wahrheit war. Goeze, seit 1755 Hauptpastor an der Katharinenkirche in Hamburg, war ein streitbarer Anhänger der lutherischen Or-thodoxie. Er bekämpfte die Aufklärung und wurde bekannt durch den Streit mit Les-sing über die von diesem herausgegebenen „Fragmente des Reimarus“ (vgl. Meyers Band 8, S.229). Lessing wollte Goezes Glauben der Kritik der Vernunft unterwerfen. Er glaubte, dass die Vernunft immer auf dem Weg zur Wahrheit, also immer auf der Suche danach sei, nicht aber, dass er selbst die Wahrheit schon kennt. Lessing glaubte auch, dass die praktische Wirkung des gelebten Christentums wichtiger als die Theologie sei. In der berühmten Ringparabel zeigt Lessing, dass das praktische Verhalten der Gläubigen wichtiger ist als der Streit darum, welche Religion die höhere Autorität hat. Die Entscheidung für eine Religion bedeutet nicht, dass andere Menschen die glei-che Entscheidung treffen müssen. Die rechten Gläubigen üben deswegen unterein-ander Toleranz und suchen in den anderen Menschen hinter allem Äußerlichen das zu finden, was ihnen an Humanität gemeinsam ist. Er stellte der Intoleranz seiner Gegner das Humanitätsideal der „von Vorurteilen freien Liebe“ entgegen. Beispiele aufgeklärten Denkens (I.1 und I.2) Disput über den Wunderglauben (1. Akt, 1. Auftritt) Die Interpretation der Kernszenen gibt einen Einblick in die Botschaft Lessings, der Nathan als den idealen Menschen darstellt, frei von Vorurteilen, ein rationaler Denker ganz dem Ge-bot der Menschenliebe verpflichtet, das Ideal der Aufklärung. Nathans Vernunftdenken wird bereits im ersten Auftritt des ersten Aktes ersichtlich. Er lehnt die schwärmerischen Gedanken seiner Dienerin Daja ab, die die Rettung von Recha für ein Wunder hält. Zunächst wird Nathan im dramatischen Einstieg der Szene in der Exposition der Szene von Daja stürmisch empfangen: „Er ist es! Nathan! – Gott sei ewig Dank, [...]“ (V.1) Exclamatio verdeutlicht die Aufgeregtheit der Dienerin aufgrund des geschehenen Unglücks, die streng gläubige Christin richtet ihren Dank an Gott. Nathan reagiert besonnen, da er von dem Brand des Hauses schon erfahren hat: „Das brannte. So hab‘ ich schon vernommen. [...]Dann, Daja, hätten wir ein neues uns gebaut; und ein bequemeres.“ (V.14ff) Der materielle Schaden ist für Nathan nicht entscheidend, im Zentrum seines Interesses steht seine Tochter, für die er nur das Beste will. Dementsprechend aufgeregt ist er, als er im erregenden Moment davon erfährt, dass diese auch in Gefahr war: „Verbrannt? Wer? Meine Recha sie? Das hab ich nicht gehört.“ (V.21f) Die Ein-Wort-Fragen verdeutlichen, dass Nathan darauf drängt, möglichst schnell alles über die Situation zu erfahren. Seine Tochter ist ihm wichtiger als alles andere. Ohne sie wäre sein Leben sinnlos und er würde sterben wollen: „Töte mich: und martre mich nicht länger. –Ja, sie ist verbrannt.“ (V.26f) Die Marter der Ungewissheit zerreißt ihn innerlich, doch Daja macht ihm zunächst Vorwürfe, da er sie als sein Kind bezeichnet, obwohl sie es nicht ist: „Eure? Eure Recha?“ (V.29) Für ihn ist sie ganz und gar seine Tochter, dies wird durch Repetitio verdeutlicht:

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„Wenn ich mich wieder je entwöhnen müsste, dies Kind mein Kind zu nennen!“ (V.30f) Der offen gebliebene Konditionalsatz verstärkt den Effekt der Aussichtslosigkeit angesichts einer Trennung von ihr. Daja berichtet Nathan von Rechas Vorahnung bezüglich seiner An-kunft, welche sie in Aufregung versetzt hat, verdeutlicht durch Exclamatio: „Horch! Horch! Da kommen die Kamele meines Vaters! Horch! Seine sanfte Stimme selbst!“ (V.72f) Recha ist sehr an Nathan gebunden und ihre Gedanken kreisten bis jetzt nur um ihn: „ihre Seele war die ganze Zeit bei Euch – und ihm.“ Doch als nun ein Anderer auch ihre Gedankenwelt einnimmt, wird Nathan neugierig: „Bei ihm! Bei welchem ihm?“ [...] „Wer war das? Wer? – Wo ist er? Wer rettete mir meine Recha? Wer?“ (V.80f) Die kurzen Fragen bestätigen, dass Nathan sich danach sehnt, dem Retter seine unendliche Dankbarkeit zu beweisen. Als er nun hört, dass der Tempelherr, der nur knapp der Hinrich-tung entgangen ist, der Vermeintliche ist, verleiht er ironisch seiner Verwunderung über den Zufall Ausdruck: „Wie? Ein Tempelherr, dem Sultan Saladin das Leben ließ? Durch ein geringeres Wunder war Recha nicht zu retten? Gott!“ (V.87ff) Er ist Gott dankbar für die Umstände, die zur Rettung seiner Tochter führten, jedoch glaubt er nicht an ein Wunder. Daja schwärmt nun von dem heldenhaften Einsatz des Tempelher-ren und wie er, sein Leben riskierend, Recha aus dem brennenden Haus errettete: „Er kam, und niemand weiß woher. [...] Verschwunden.“ (V.97ff) Da der Tempelherr nicht auf den Dank der Menschen aus war, ist es für Daja ein Mysterium, wieso er die Heldentat unternahm. Sie läßt aber nicht nach, ihrer Dankbarkeit Luft zu ma-chen, geht immer wieder auf den Tempelherren zu, obwohl sie von ihm verhöhnt wird. Sie spürt einen inneren Zwang, ihn immer wieder anzurufen: „Was litt ich nicht von ihm! Was hätt‘ ich nicht noch gern ertragen!“ (V.122f) Es wird für sie zur Religion, ihn fast schon anzubeten und sie gibt sich dem voll und ganz hin. Nathan macht sich zunächst Gedanken über den seelischen Zustand seiner Tochter, da diese verwirrt sein muss, weil der Retter gegen das Gesetz der Belohnung verstößt und sie nicht sehen will: „Ich überdenke mir, was das auf einen Geist, wie Rechas, wohl für Eindruck machen muss. Sich so verschmäht von dem zu finden, den man hochzuschätzen sich so gezwungen fühlt; so weggestoßen, und doch so angezogen werden; [...]“ (V.127ff) Er sieht den Konflikt, der in ihr entsteht, da sie einerseits ihre Dankbarkeit zeigen will, ande-rerseits aber scheinbar grundlos abgewiesen wird. Dieser Umstand ist für ihn nicht logisch und widerspricht seiner rationalen Erziehung. Er drückt die Problematik, die die Situation aufgrund des Widerspruchs zu seiner Lehre schafft, den Retter immer zu lobpreisen, in einer Metapher aus: „Da müssen Herz und Kopf sich lange zanken, ob Menschenhass, ob Schwermut siegen soll.“ (V.133f) Nathan verdeutlicht seine Argumentation, indem er die abstrakten Begriffe Verstand und Ge-fühle durch die Körperteile Kopf und Herz personifiziert. Durch die Personifizierung erreicht er eine höhere Anschaulichkeit. So wäre die Konsequenz einer Gefühlsentscheidung Schwermut, die Folge der rationalen Entscheidung Menschenhass. Da beides negative Ge-fühlslagen sind, möchte Nathan die Verwirrung auflösen. Zunächst jedoch glaubt er, dass Recha jetzt anfällig für Schwärmereien ist: „Das letztere, verkenn‘ ich Recha nicht ist Rechas Fall: sie schwärmt.“ (V.138f) Daja befür-wortet diese Schwärmerei: „Allein so fromm, so liebenswürdig!“ (V.140). Repetitio verdeut-licht, das Frömmigkeit, der schlichte Glaube an Wunder, den Menschen liebenswürdig macht. Daja versucht das Engelswunder zu bewahren, da dadurch die göttliche Kraft bewie-sen wird: „Der Engel einer [...] ; sie aus einer Wolke, in die er sonst verhüllt, auch noch im Feuer, um sie geschwebt, mit eins als Tempelherr hervorgetreten.“ (V.145ff) Außerdem geben Wunder und Engel dem Menschen Hoffnung, „Lasst lächelnd wenigstens ihr einen Wahn, [...] - so einen süßen Wahn!“ (V.151ff)

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Nathan aber will alsbald den Tempelherren bei Recha als Menschen vorstellen, was durch seine Ironie klar wird: „Sodann such ich den wilden, launigen Schutzengel auf.“ (V. 156f) Die Launenhaftigkeit ist ein deutlich menschliches Charakterzeichen, allein schon deshalb ist der Gedanke abwegig, den Tempelherren, der sich einfach nur ungebührlich verhält, für ei-nen Engel zu halten. Nathan entgegnet Daja, dass es unsinnig für einen Menschen ist an Engel zu glauben. Der Mensch glaubt viel lieber an einen Menschen statt an einen Engel, da der Mensch für ihn etwas rational Begreifbares ist. Auffällig ist, wie Nathan sprachlich zu dieser Aussage hin-führt. Er greift nämlich Dajas Aussage wieder auf und verbessert diese mit seiner, wodurch Nathans Aussage noch mehr Gewicht erhält: „Macht dann der süße Wahn der süßern Wahrheit Platz.“ (V.162) Nathan klagt dann die Schwärmerei Dajas an und drängt auf das Finden der rationalen Wahrheit. Er hält die Schwärmerei für verführerisch, sie bietet ihre Reize, doch letztendlich erzeugt die Wahrheitsfindung eine größere Befriedigung, dies wird verdeutlicht durch die Steigerung des Adjektivs „süße“. Er hofft auch Daja überzeugen zu können, dass Recha ei-nem falschen Glauben verfallen ist: „So wirst du doch auf mich, auf mich nicht zürnen, die Engelsschwärmerin geheilt zu sehen?“ (V.165f) Repetitio verdeutlicht, dass er vermeiden will, dass diese Meinungsverschiedenheit zum Bruch zwischen Nathan und seiner treuen Dienerin führen soll. Daja kann ihrem Herrn nicht schlecht gesonnen sein: „Ihr seid so gut, und seid zugleich so schlimm!“ (V.167) Sie erkennt Nathans guten Willen bei der Erziehung, kritisiert aber, dass er keinen Platz für Schwärmereien läßt. Vertiefung des Disputs: Erster Akt, 2. Auftritt Im zweiten Auftritt geht Nathan auf eine Aussage Dajas ein und vertieft somit den Disput über die Natur des Wunders. Daja fragt Nathan, warum der Glaube an Engel so verwerflich sein soll: „Was schadet’s – Nathan, wenn ich sprechen darf – Bei alle dem, von einem Engel lieber als einem Menschen sich gerettet denken? Fühlt man der ersten unbegreiflichen Ursache seiner Rettung nicht sich so viel näher?“ (Reclam, S.16, V.288ff) Darauf argumentiert Nathan in einer Metapher, dass der Mensch sich lieber von einem Engel retten lässt, weil er glaubt, dadurch Gott näher zu stehen als andere: „Der Topf aus Eisen will mit einer silbern Zange gern aus der Glut gehoben um selbst ein Topf aus Silber sich zu dünken.“ (Reclam, S.16/17, V.294ff) Nathan bezeichnet dieses Verhalten als Gotteslästerung: „Denn dein ‚Sich Gott um so viel näher fühlen’ ist Unsinn oder Gotteslästerung.“ (Reclam, S.17, V.299f) Wiederum greift er Dajas Argumentation auf, um sie zu widerlegen und seiner eigenen Aus-sage damit mehr Gewicht zu verleihen, ein Beispiel rationaler Überzeugungsarbeit. Im Folgenden geht Nathan darauf ein, worin der Unterschied liegt, ob man von einem Engel oder einem Menschen gerettet wird. Er ist der Ansicht, dass man nicht gotteslästernd han-delt, wenn man einem Menschen dankt, statt einem Engel. Einem Engel kann man nur durch Opfer danken. Jedoch ist es sinnlos, da der Engel dadurch keinen Vorteil hat. Ein Mensch hingegen kann von dem Dankenden profitieren. Sprachlich stellt Nathan durch zwei parallele Aussagen einerseits die Möglichkeiten, einem Engel zu danken, dar, hebt andererseits auch in der zweiten Anapher die Sinnlosigkeit des Opfers hervor: „Ihr könnt ihm danken; zu ihm seufzen, beten; könnt in Entrückung über ihn zerschmelzen; [...]. Er [...] wird nicht herrlicher durch eur Entzücken; wird nicht mächtiger durch eur Ver-traun.“ (Reclam, S.17, V.308ff) Dadurch, dass er erst am Ende seiner Argumentation als Gegenteil zu den Anaphern seine Kernaussage setzt, erhält diese eine starke Gewichtung: „Nicht wahr? Allein ein Mensch!“ (Reclam, S.17, V.317).

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Nathan betont auch noch einmal, dass Menschen nur lieber an Wunder glauben, weil sie sich dadurch der Verantwortung entziehen wollen, die sie den anderen Menschen gegenüber haben, nämlich dem Dienst am Menschen: „Begreifst du aber, wie viel andächtig schwärmen leichter als gut handeln ist? Wie gern der schlaffste Mensch andächtig schwärmt, um nur [...], nur um gut handeln nicht zu dürfen?“ (Reclam, S.19, V.359ff) Verantwortung des Menschen aufgrund seiner Vernunft Erfolg rationaler Erziehung Die beiden Szenen können als typisch für die Aufklärung angesehen werden. Aus anderen Sprachen übersetzt stehen für den Begriff Aufklärung Wörter, die das Wort Licht enthalten. Man versuchte Licht ins Dunkle zu bringen, um zur Wahrheit zu gelangen. Dabei werden Traditionen hinterfragt, gebrochen um dann auf der Basis des menschlichen Verstandes zu neuen Erkenntnissen und zur Wahrheit zu gelangen. Die Analyse Nathans von der Natur des Wunders ist ein Beispiel für eine aufgeklärte Denkweise. Zunächst reduziert er das Wunder auf die grundlegenden Tatsachen, nämlich der Rettung seiner Tochter durch den Tempel-herrn. Dann hinterfragt er die Ansichten Dajas rein argumentativ und berichtigt ihre Ansich-ten durch seine. Nathans Vorgehensweise basiert auf logischen Gedankenabfolgen und nicht auf unfehlbaren Dogmen und Wahrheiten von Religionen. Darüber hinaus zeigt die Schlussfolgerung Nathans, dass der Mensch eine Verantwortung aufgrund seines Verstan-des hat. Jemand, der nur alle Ereignisse auf göttlichen Willen zurückführt, stellt eigentlich seinen eigenen Glauben vor den anderen in Frage und versucht, sich der Verantwortung zu entziehen. Somit verrät dieser Mensch seinen Verstand und damit auch seine Existenz als Mensch. Im Verlauf des weiteren Dramas zeigt sich, dass die rationale Erziehung Nathans sehr wohl funktioniert. Der Tempelherr will Recha nicht sehen, da er sie so sehr liebt, dass er sich ihrer nicht mehr entbehren könnte, deswegen meidet er sie. Das Wunder, dass der Tempelherr freigelassen wurde, liegt darin begründet, dass die Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Vater, dem Bruder des Sultans, erkannt wurde. Das Drama zeigt also auf, dass unter Einsatz der Vernunft alle Vorgänge begründet werden können, selbst wenn sie auf den ersten Blick aufgrund der unüberschaubar scheinenden Komplexität noch so wie ein Wunder erscheinen. Parallelen zur realen Außenwelt ergeben sich dadurch, dass der Wahlspruch der Aufklärung „sapere aude“, habe Mut deinen Verstand zu benutzen, sich als Aufforderung von Nathan verstehen lässt. Das Christentum aus der Sicht der fortschrittlichen Moslems (Zweiter Akt, ers-ter Auftritt) In der ersten Szene des zweiten Aktes spielen Saladin und Sittah im Palast zusammen Schach. Saladin ist zerstreut und bringt nach dem verlorenen Spiel seine Probleme und Sor-gen in Bezug auf die Politik, die Erbfolge seiner Herrschaft, die Konflikte mit den Christen und seine angespannte Finanzlage zur Sprache. Es wird das Bild eines fortschrittlichen Mos-lems entworfen. Das Schachspiel als Bild der Politik Das Schachspiel ist in dieser Szene eine Metapher für die Politik. Durch die Figurenkonstel-lation wird die königliche Hierarchie widergespiegelt, denn wie hier gibt es im Schach viele einfache Figuren, die Bauern, die aufgrund ihrer eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten und ihrer Anzahl vergleichsweise wenig wert sind. Sie werden hauptsächlich eingesetzt, um die wenigen wertvollen Figuren zu schützen und zu verteidigen und die gegnerische Reihe der Bauern zu zerschlagen. Im Grunde ruht das politische System auf den Schultern der ge-sellschaftlich Niedriggestellten. Charakterisierung des Sultans; Wunsch nach Frieden Anhand der Szene wird der Sultan Saladin vorgestellt. Sein Charakter, ein Beispiel für den der fortschrittlichen Moslems, zeichnet sich durch maßlose Freigebigkeit aus. So zahlt er beispielsweise seiner Schwester tausend Dinar, wenn sie ihn beim Schach besiegt: „Ich seh‘ nun schon: ich soll heut meine tausend Dinar‘, kein Naserinchen mehr gewinnen.“ (V.804f)

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Naserinchen sind Kupfermünzen, benannt nach dem Kalifen Naser. Was Finanzgeschäfte anbelangt, ist er im Allgemeinen recht sorglos, wodurch er aber leicht in Geldnot gerät: „Was, wenn ich‘s habe, mir so überflüssig, und hab ich‘s nicht, so unentbehrlich scheint. [...] Das leidige, verwünschte Geld!-“ (V.911ff) Zwar lehnt er den Materialismus ab und verhält sich dadurch fortschrittlich, dass er sein Geld nicht egoistisch für sich behält, sondern es seinen Untertanen zukommen lässt, doch muss er in seiner Position als Sultan auch gleichzeitig den Haushalt ausgleichen, wozu er aufgrund seiner sozialen Einstellung nicht fähig ist. Sittah dagegen scheint ihr Handeln stets gut zu durchdenken und beweist, besonders beim Schach, einen klugen Kopf. Dies formuliert Saladin mit den Worten: „Nicht die ungeformten Steine, Sittah, sind’s, die mich verlieren machten: deine Kunst, dein ruhiger und schneller Blick...“ (V.842ff) Schon zu Beginn der Szene wird durch Saladins Zerstreutheit auf dessen Probleme auf-merksam gemacht: „Wo bist du, Saladin? Wie spielst du heut? [...] Genug, du warst zerstreut; ...“ (V.788ff) Saladins schlechte Konzentration beruht auf politischen Schwierigkeiten. Er wünscht sich Frieden mit den Christen. Doch seine Pläne, sich mit dem Anführer der Kreuzritter, Richard Löwenherz zu verbünden, indem er Sittah und seinen Bruder Melek mit Richards Geschwis-tern verheiratet, sind fehlgeschlagen: „Ich hätte gern den Stillestand aufs neue verlängert; hätte meiner Sittah gern, gern einen guten Mann zugleich verschafft. Und das muss Richards Bruder sein [...] Wenn unserm Bru-der Melek dann Richards Schwester wär‘ zu Teile worden: Ha! welch ein Haus zusammen!“ (V.854ff) Saladin hat also die Vision von einer gemeinsamen, friedlichen Zukunft zwischen Islam und Christentum. Seine Vorstellung geht weit über den Gedanken der bloßen Koexistenz hinaus, vielmehr will er durch die Verheiratung seiner Geschwister dafür sorgen, dass Toleranz bis in alle Zeiten bestehen bleibt. Sittah: Klage über die Scheinheiligkeit der Christen In dieser Szene werden auch Sittahs und Saladins unterschiedliche Haltungen gegenüber dem Christentum aufgezeigt. In Sittahs Augen sind die Christen scheinheilig und haben den Kern der christlichen Botschaft vergessen. Sie verurteilt das Namenchristentum und dessen missionarische Besessenheit: „Seine [Jesu] Tugend nicht; sein Name soll verbreitet werden; [...] um den Namen ist ihnen nur zu tun.“ (V.876ff) Saladin ist dagegen der Meinung, dass nicht die Christen im Allgemeinen, sondern die Tem-pelherren am Verfall des Christentums die Schuld trügen. Aus reiner Machtbesessenheit würden diese das Mönch- und das Rittertum verbinden, denn über dadurch ermöglichten Eroberungen könnten sie ihren Einflussbereich vergrößern: „Die Tempelherren, die Christen nicht, sind schuld: sind nicht als Christen, als Tempelherren schuld. [...] Daß des Ritters Vorteil Gefahr nicht laufe, spielen sie den Mönch, den albern Mönch.“ (V.890ff) In der Schachszene wird deutlich, wie groß Saladins Geldnot ist. Im weiteren Verlauf der Handlung wird es für ihn unumgänglich sein, einen Kredit aufzunehmen. So wird zugleich auf eine Begegnung zwischen Judentum und Christentum hingeleitet, denn der Jude Nathan ist der Einzige, der so wohlhabend ist, dass er mit seinem Geld die Staatskasse stützen könnte Ein Beispiel rationaler Überzeugungsarbeit (2. Akt, 5. Auftritt) In dem 5. Auftritt des 2. Aufzugs kommt es zunächst zu dem lang erwarteten Treffen zwi-schen Nathan und dem Tempelherrn. Schon am Anfang erweist sich Nathan wiederum als ein Meister der Gesprächsführung, wohingegen der Tempelherr einfach und naiv erscheint. Rechas Rettung empfindet er als selbstverständlich, denn es sei die Pflicht eines Tempel-herrn, dem Nächsten in einer Notlage zur Hilfe zu kommen. Zudem schätzte er sein Leben

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zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht hoch ein, da er als „Gefangener“ des Saladin mit sich nichts anzufangen weiß. Philosophie der Gleichheit aller Menschen Disput: Nathan - Tempelherr Nathan bemerkt diese Verschlossenheit und versucht sie durch einen Akt der Selbsterniedri-gung, er küsst den Saum des angebrannten Mantels, aufzubrechen. Er führt dem Tempel-herrn vor Augen, wie außergewöhnlich gut und mutig seine Leistung war. Er erinnert ihn an die geistigen Aufgaben seines Ordens, die Pflichten aus innerer Überzeugung zu erfüllen und nicht so, als ob sie nur auferlegt seien. TEMPELHERR. Nun gut, das will ich auch nicht ganz verreden; Um meines Mantels willen nicht. Sobald Der ganz und gar verschlissen; weder Stich Noch Fetze länger halten will: komm' ich Und borge mir bei Euch zu einem neuen, Tuch oder Geld. - Seht nicht mit eins so finster! Noch seid Ihr sicher; noch ists nicht so weit Mit ihm. Ihr seht; er ist so ziemlich noch Im Stande. Nur der eine Zipfel da Hat einen garstgen Fleck; er ist versengt. Und das bekam er, als ich Eure Tochter Durchs Feuer trug. NATHAN (der nach dem Zipfel greift und ihn be- trachtet.) Es ist doch sonderbar, Daß so ein böser Fleck, daß so ein Brandmal Dem Mann ein beßres Zeugnis redet, als Sein eigner Mund. Ich möcht ihn küssen gleich - Den Flecken! - Ah, verzeiht! - Ich tat es ungern. TEMPELHERR. Was? NATHAN. Eine Träne fiel darauf. TEMPELHERR. Tut nichts! Er hat der Tropfen mehr. -( Bald aber fängt Mich dieser Jud' an zu verwirren.) NATHAN. Wär' t Ihr wohl so gut, und schicktet Euern Mantel Auch einmal meinem Mädchen? TEMPELHERR. Was damit? NATHAN. Auch ihren Mund auf diesen Fleck zu drücken. Denn Eure Kniee selber zu umfassen, Wünscht sie nun wohl vergebens. TEMPELHERR. Aber, Jude - Ihr heißet Nathan? - Aber, Nathan - Ihr Setzt Eure Worte sehr - sehr gut - sehr spitz - Ich bin betreten - Allerdings - ich hätte ... NATHAN. Stellt und verstellt Euch, wie Ihr wollt. Ich find' Auch hier Euch aus. Ihr wart zu gut, zu bieder, Um höflicher zu sein. - Das Mädchen, ganz Gefühl; der weibliche Gesandte, ganz Dienstfertigkeit; der Vater weit entfernt - Ihr trugt für ihren guten Namen Sorge; Floht ihre Prüfung; floht, um nicht zu siegen.

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Auch dafür dank' ich Euch - TEMPELHERR. Ich muß gestehn, Ihr wißt, wie Tempelherren denken sollten. (Reclam, S.53-54, V.1235ff) Der Tempelherr erwacht langsam aus seiner einfältigen Einstellung und beginnt mit Nathan einen Disput. Auf diese Weise bringt Nathan das Gespräch auf eine intellektuelle Ebene. Er leitet den Disput mit der These ein, dass alle Länder gute Menschen besitzen würden, wor-auf der Tempelherr einwendet, dass sich die Güte der Menschen sehr wohl unterscheide. Nathan führt die Unterschiede allerdings nur auf Äußerlichkeiten zurück und antwortet mit einem Gleichnis: NATHAN. Mit diesem Unterschied ists nicht weit her. Der große Mann braucht überall viel Boden; Und mehrere, zu nah gepflanzt, zerschlagen Sich nur die Äste. Mittelgut, wie wir, Findt sich hingegen überall in Menge. Nur muß der eine nicht den andern mäkeln. Nur muß der Knorr den Knuppen hübsch vertragen. Nur muß ein Gipfelchen sich nicht vermessen, Daß es allein der Erde nicht entschossen (Reclam, S.54, V.1278ff) Somit vergleicht er den Wald mit der menschlichen Gesellschaft. In jedem Wald gibt es gro-ße und kleine Bäume. Ein großer Baum kommt den Fürsten und reichen Leuten gleich. Sie brauchen viel Platz zum leben, wenn sie zu nahe beieinander stehen, gibt es nur Reibereien und Streitigkeiten. Die mittelgroßen Bäume treten am häufigsten im Wald auf und entspre-chen den Bürgern. Die großen und kleinen Bäume müssen sich vertragen, sonst funktioniert die Gesellschaft nicht gut. Die Größe darf also keinen Unterschied machen. Außerdem ist jeder Baum, egal wie groß, dem gleichen Boden entwachsen. Das letzte Bild bedeutet, dass die Menschen von Natur aus gleich sind bzw. sich auf der gleichen Grundlage entwickelt haben. Diesem Argument kann sich der Tempelherr nicht entziehen ist aber dennoch der Meinung, dass die Juden sich über andere erheben und sich als auserwählt verstehen. Sehr wohl gesagt! - Doch kennt Ihr auch das Volk, Das diese Menschenmäkelei zu erst Getrieben? Wißt Ihr, Nathan, welches Volk Zu erst das auserwählte Volk sich nannte? Wie? wenn ich dieses Volk nun, zwar nicht haßte, Doch wegen seines Stolzes zu verachten, Mich nicht entbrechen könnte? Seines Stolzes; Den es auf Christ und Muselmann vererbte, Nur sein Gott sei der rechte Gott! - Ihr stutzt, Daß ich, ein Christ, ein Tempelherr, so rede? Wenn hat, und wo die fromme Raserei, Den bessern Gott zu haben, diesen bessern Der ganzen Welt als besten aufzudringen, In ihrer schwärzesten Gestalt sich mehr Gezeigt, als hier, als itzt? Wem hier, wem itzt Die Schuppen nicht vom Auge fallen ... Doch Sei blind, wer will! - Vergeßt, was ich gesagt; Und laßt mich! (Will gehen) (Reclam, S.54-55, V.1287ff)

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Der gleiche Anspruch stehe den anderen Religion zu. Der Ursprung des Stolzes und des religiösen Fanatismus liege daher im Judentum. Nach diesem Einwand will der Tempelherr gehen. Nathan reagiert auch auf diesen Einwand geschickt. Er nimmt die Erkenntnis des Tempelherren, dass die Menschen vom Ursprung her gleich sind als Grundlage für eine endgültige Verständigung. NATHAN. Ha! Ihr wißt nicht, wie viel fester Ich nun mich an Euch drängen werde. - Kommt, Wir müssen, müssen Freunde sein! - Verachtet Mein Volk so sehr Ihr wollt. Wir haben beide Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind Wir unser Volk? Was heißt denn Volk? Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, Als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch Gefunden hätte, dem es gnügt, ein Mensch Zu heißen! (Reclam, S.55, V.1305ff) Nathan differenziert den Begriff Volk, dessen Grundlage die Menschen sind. Der Boden, dem alle entwachsen sind, ist das Menschsein. Die Religion kommt erst in zweiter Linie. Al-lerdings kann sich kein Mensch von Geburt an sein Volk und seine Religion aussuchen. Der minimale Konsens, der sich aus dieser rationalen Überzeugungsarbeit ergibt, genügt zum Freundschaftsbund. TEMPELHERR. Ja, bei Gott, das habt Ihr, Nathan! Das habt Ihr! - Eure Hand! - Ich schäme mich Euch einen Augenblick verkannt zu haben. NATHAN. Und ich bin stolz darauf. Nur das Gemeine Verkennt man selten. TEMPELHERR. Und das Seltene Vergißt man schwerlich. - Nathan, ja; Wir müssen, müssen Freunde werden. NATHAN. Sind Es schon. - Wie wird sich meine Reche freuen! - Und ah! welch eine heitre Ferne schließt Sich meinen Blicken auf! - Kennt sie nur erst! TEMPELHERR. Ich brenne vor Verlangen - Wer stürzt dort Aus Euerm Hause? Ists nicht ihre Daja? (Reclam, S.55-56, V.1314ff) Somit einigen sie sich auf philosophischer Ebene darauf, dass sie in erster Linie Menschen sind. Auf diese Weise hat Nathan es geschafft, dass zwei äußerlich so unähnliche Menschen Freundschaft schließen. Minimalkonsens von Judentum und Christentum: Menschenwürde Die Szene ist ein Bild der Begegnung des Judentums, in Form von Nathan und des Christen-tums, welches durch den Tempelherren verkörpert wird. Auf intellektueller Ebene der Ver-nunft wird schließlich klar, dass für beide Religionen grundlegend ist, die Menschenwürde zu achten. Die Differenzen, die durch die unterschiedlichen Werte der Religionen entstehen sind zweitrangig. „

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Eine weiteres Beispiel für einen aufgeklärten Dialog: Recha erweist sich als würdige Schülerin Nathans (Dritter Akt, erster Auftritt) Fast spiegelbildlich zur ersten Szene des ersten Aktes findet in der 1.Szene des 3.Aufzugs zwischen Daja und Recha ein aufgeklärter Dialog statt, indem sich Nathans Tochter als wür-dige Schülerin seiner durch Vernunft geprägten Erziehung erweist und den Verführungsver-suchen und Schwärmereien Dajas widersteht. (Szene: in Nathans Hause) Recha und Daja RECHA. Wie, Daja, drückte sich mein Vater aus? »Ich dürf' ihn jeden Augenblick erwarten?« Das klingt - nicht wahr? - als ob er noch so bald Erscheinen werde. - Wie viel Augenblicke Sind aber schon vorbei! - Ah nun: wer denkt An die verflossenen? - Ich will allein In jedem nächsten Augenblicke leben. Er wird doch einmal kommen, der ihn bringt. DAJA. O der verwünschten Botschaft von dem Sultan! Denn Nathan hätte sicher ohne sie Ihn gleich mit hergebracht. RECHA. Und wenn er nun Gekommen dieser Augenblick; wenn denn Nun meiner Wünsche wärmster, innigster Erfüllet ist: was dann? - was dann? DAJA. Was dann? Dann hoff' ich, daß auch meiner Wünsche wärmster Soll in Erfüllung gehen. RECHA. Was wird dann In meiner Brust an dessen Stelle treten, Die schon verlernt, ohn einen herrschenden Wunsch aller Wünsche sich zu dehnen? - Nichts? Ah, ich erschrecke! ... DAJA. Mein, mein Wunsch wird dann An des erfüllten Stelle treten; meiner. Mein Wunsch, dich in Europa, dich in Händen Zu wissen, welche deiner würdig sind. RECHA. Du irrst. - Was diesen Wunsch zu deinem macht, Das nämliche verhindert, daß er meiner Je werden kann. Dich zieht dein Vaterland: Und meines, meines sollte mich nicht halten? Ein Bild der Deinen, das in deiner Seele Noch nicht verloschen, sollte mehr vermögen, Als die ich sehn, und greifen kann, und hören, Die Meinen? DAJA. Sperre dich, so viel du willst! Des Himmels Wege sind des Himmels Wege. Und wenn es nun dein Retter selber wäre, Durch den sein Gott, für den er kämpft, dich in Das Land, dich zu dem Volke führen wollte, Für welche du geboren wurdest? RECHA. Daja! Was sprichst du da nun wieder, liebe Daja! Du hast doch wahrlich deine sonderbaren

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Begriffe! »Sein, sein Gott! für den er kämpft!« Wem eignet Gott? was ist das für ein Gott, Der einem Menschen eignet? der für sich Muß kämpfen lassen? - Und wie weiß Man denn, für welchen Erdkloß man geboren, Wenn mans für den nicht ist, auf welchem man Geboren? - Wenn mein Vater dich so hörte! - Was tat er dir, mir immer nur mein Glück So weit von ihm als möglich vorzuspiegeln? Was tat er dir, den Samen der Vernunft, Den er so rein in meine Seele streute, Mit deines Landes Unkraut oder Blumen So gern zu mischen? - Liebe, liebe Daja, Er will nun deine bunten Blumen nicht Auf meinem Boden! - Und ich muß dir sagen, Ich selber fühle meinen Boden, wenn Sie noch so schön ihn kleiden, so entkräftet, So ausgezehrt durch deine Blumen; fühle In ihrem Dufte, sauersüßem Dufte, Mich so betäubt, so schwindelnd! - Dein Gehirn Ist dessen mehr gewohnt. Ich tadle drum Die stärkern Nerven nicht, die ihn vertragen. Nur schlägt er mir nicht zu; und schon dein Engel, Wie wenig fehlte, daß er mich zur Närrin Gemacht? - Noch schäm' ich mich vor meinem Vater Der Posse! DAJA. Posse! - Als ob der Verstand Nur hier zu Hause wäre! Posse! Posse! Wenn ich nur reden dürfte! RECHA. Darfst du nicht? Wenn war ich nicht ganz Ohr, so oft es dir Gefiel, von deinen Glaubenshelden mich Zu unterhalten? Hab' ich ihren Taten Nicht stets Bewunderung; und ihren Leiden Nicht immer Tränen gern gezollt? Ihr Glaube Schien freilich mir das Heldenmäßigste An ihnen nie. Doch so viel tröstender War mir die Lehre, daß Ergebenheit In Gott von unserm Wähnen über Gott So ganz und gar nicht abhängt. - Liebe Daja, Das hat mein Vater uns so oft gesagt; Darüber hast du selbst mit ihm so oft Dich einverstanden: warum untergräbst Du denn allein, was du mit ihm zugleich Gebauet? - Liebe Daja, das ist kein Gespräch, womit wir unserm Freund' am besten Entgegen sehn. Für mich zwar, ja! Denn mir, Mir liegt daran unendlich, ob auch er ... Horch, Daja! - Kommt es nicht an unsre Türe? Wenn Er es wäre! horch! (Reclam, S.64-66) Der vorangehende erste Auftritt des dritten Aufzugs handelt davon, wie Recha Daja eine Lektion im aufgeklärten Denken erteilt. Nach einer kurzen Vorstellung der Grundsituation in der Exposition – Sie erwarten den Tempelherrn – kommt es zu einem Disput über den Wert

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des vernünftigen Denkens, der im Höhepunkt der Szene Recha und Daja fast entzweit. Der Streit bricht ab, weil der Tempelherr erscheint. Während Recha sehnlichst auf den Tempelherrn wartet, hofft Daja, dass auch ihr ganz per-sönlicher Traum in Erfüllung geht, nämlich dass sie mit dem Tempelherrn und Recha nach Europa gehen kann. Recha jedoch möchte nicht ohne Not Nathan verlassen und versteht Dajas Traum nicht. Als Erklärung argumentiert Daja irrational und weist Recha auf die Fü-gung Gottes hin. Diese problematisiert im Gegenzug Dajas Gottesbild und wirft ihr Unver-nunft vor, und dass sie sich der Lehren Nathans unwürdig erweise. Recha weist Daja auf die Grundlage ihres Denkens, die Vernunft, hin und beschuldigt sie, schon einmal fast um den Verstand gebracht zu haben. Das Gespräch erreicht seinen Höhepunkt, als Daja Rechas Worte als Posse abtut und es zum Streit kommt. Recha winkt ab, sie zollt jedoch Daja Aner-kennung. Dann weist sie Daja darauf hin, dass für sie in den biblischen Geschichten die Ver-haltensweisen wichtiger waren als das Heldenhafte. Die Szene wird im Höhepunkt durch die Ankündigung des Tempelherrn abgebrochen. Am Anfang der Szene wird ersichtlich, dass Recha Sehnsucht nach dem Tempelherren hat. Seit Nathan ihr gezeigt hat, wie mutig der Tempelherr gehandelt hat, denkt sie nur noch an ihn und hofft auf eine Gelegenheit, ihn wiederzusehen. Diese Sehnsucht bezeichnet sie als ihrer „Wünsche wärmster“ (V.1528) oder als „herrschenden Wunsch aller Wünsche“ (V.1533f) Durch diese Alliterationen wird betont, wie wichtig für sie das Wiedersehen ist. Sie benutzt am Anfang auch viele rhetorische Fragen, Ausrufe und wiederholt öfter bestimmte Satzteile, wodurch ihre Aufregung über das baldige Wiedersehen reflektiert wird: „Wieviel Augenblicke sind aber schon vorbei! – Ah nun: wer denkt an die verflossenen? [...] Und wenn er nun gekommen, dieser Augenblick [...] : was dann? – was dann?“ (V.1520ff) Dajas größtes Anliegen ist es dagegen, nach Europa zurückzukommen. Sie hofft, dass sich Recha und der Tempelherr verlieben und sie mit in ihre christliche Heimat nehmen. Was Na-than davon hielte, wenn Recha und sie ihn verließen, kümmert sie nicht: „Mein, mein Wunsch wird dann an des [Rechas] erfüllten Stelle treten; meiner. Mein Wunsch, dich in Europa, dich in Händen zu wissen, welche deiner würdig sind.“ (V.1536ff) Dajas Wesen ist von sehr großer Emotionalität gezeichnet. Das fällt auch durch ihre Wort-wahl auf, denn sie verwendet vergleichsweise viele Ausrufe, die ihre heftigen Gefühle wi-derspiegeln, wie zum Beispiel: „O der verwünschten Botschaft von dem Sultan!“ (V.1525) oder „Posse! – Als ob der Verstand nur hier zu Hause wäre! Posse! Posse!“ (V.1580f) Dementsprechend hat sie auch in Glaubensfragen einen Hang zur Schwärmerei, d.h. sie sieht in jedem Geschehen eine Offenbarung Gottes. Schon am Anfang des Dramas hat sie Rechas Rettung auf ein göttliches Wunder zurückgeführt, und auch jetzt meint sie, dass es ihr und Rechas von Gott gewolltes Schicksal sei, nach Europa zurückzukehren: „Sperre dich soviel du willst! Des Himmels Wege sind des Himmels Wege. Und wenn es nun dein Retter selber wäre, durch den sein Gott, für den er kämpft, dich in das Land, dich zu dem Volke führen wollte, für welches du geboren wurdest?“ (V.1547) Durch Repetitio in der Metapher für das Schicksal verdeutlicht sie die Unmöglichkeit, sich den „Wegen des Himmels“ zu entziehen. Recha hat dagegen die rationale Denkweise Nathans übernommen. In dieser Szene wird dies besonders dadurch hervorgehoben, dass Recha Dajas irrationale Argumente durch lo-gische Beweisführung widerlegt. Beispielsweise zeigt sie Daja auf, wie unsinnig eine Bemer-kung wie „Sein, sein Gott für den er kämpft“ (V.1555) ist. Dabei steigert sich Recha immer mehr in ihre Kritik hinein. Sie vergleicht schließlich ihre Denkweise mit Dajas und kommt zu dem für ihre Gesellschafterin empörenden Ergebnis, dass die Schwärmerei die ihr von Na-than vermittelte Vernunft schädige. Sie verwendet dafür eine sehr bildhafte Sprache, um ihre Folgerungen für Daja zu veranschaulichen. Sie benutzt die Worte „Blumen oder Unkraut“ als Metapher für die Schwärmerei. Diese Blumen üben jedoch mit ihrem starken Duft einen Rausch aus, dem Daja verfallen ist. Recha spürt den Rausch auch, jedoch ist sie stark ge-nug sich der Verlockung zu entziehen:

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„Was tat er [Nathan] dir, den Samen der Vernunft, den er so rein in meine Seele streute, mit deines Landes Blumen oder Unkraut zu vermischen? – Liebe, liebe Daja, er will nun deine bunten Blumen nicht auf meinem Boden! - Und ich muss dir sagen, ich selber fühle meinen Boden, wenn sie noch so schön ihn kleiden, so entkräftet, so ausgezehrt durch deine Blume; fühle in ihrem Dufte, sauersüßem Dufte mich so betäubt, so schwindelnd! [...] Ich tadle drum die stärkern Nerven nicht, die ihn vertragen. Nur schlägt er mir nicht zu.“ (V.1562ff) Diese Auffassung zeigt sich auch bei ihrer Meinung über das christliche Heldentum. In ihren Augen zeigt sich die Frömmigkeit nicht am Glauben selbst und nicht daran, wie man seine Religion ausübt, sondern einzig und allein im Verhalten: „Wenn war ich nicht ganz Ohr, sooft es dir gefiel, mich von deinen Glaubenshelden zu unter-richten? [...] Ihr Glaube schien freilich mir das Heldenmäßigste an ihnen nie. Doch so viel tröstender war mir die Lehre, daß Ergebenheit in Gott von unserem Wähnen über Gott so ganz und gar nicht abhängt.“ (V.1582ff) Die erste Szene des dritten Aktes dient innerhalb des Dramas als weiteres Beispiel für einen aufgeklärten Dialog. Schon im ersten Akt wurde gezeigt, wie Nathan das Wunder der Ret-tung auf natürliche Ursachen zurückführt. In dieser Szene beweist Recha, dass sie das rati-onale Denken ihres Vaters übernommen hat. Auch sie nimmt nicht einfach alles hin, was Daja ihr weismachen möchte, sondern hinterfragt, was unklar ist. Damit gibt Lessing in dieser Szene erneut ein Beispiel für aufgeklärtes Denken. In der Epo-che der Aufklärung wurde versucht, allen ererbten Wahrheiten gegenüber Skepsis zu zeigen und vernünftige Antworten bezüglich Moral, Ethik und Religion zu finden. Viele Anhänger der Aufklärung kämpften für eine „natürliche Religion“, wie zum Beispiel für ein „humanistisches Christentum“, das von den vielen unvernünftigen Dogmen und Glaubenssätze, die von Kir-che erlassen worden waren, befreit sein sollte. Eine andere Glaubensrichtung der damaligen Zeit war der Deismus. Darunter versteht man die Auffassung, dass Gott sich durch die Natur und ihre Gesetze zu erkennen gibt, sich aber nicht auf übernatürliche Weise Aufruf zur Befolgung des Gebots der Menschenliebe (III. Akt, siebter Auftritt) Die Ringparabel ist das eigentliche Kernstück des Dramas. Mit ihr und im überleitenden Dis-put wird verdeutlicht, dass das Gebot der Menschenliebe vorrangig ist. Wiederum schafft Nathan es, deswegen mit dem Vertreter des Islams, dem Sultan, einen Konsens zu schaffen und auch dessen Freund zu werden. In einer spannungsvollen Handlungsabfolge wird Nathan zunächst zum Sultan geladen, der ihn, statt wie von dem Juden erwartet, Geld zu fordern, mit der Frage konfrontiert, welche Religion die richtige sei. In einer Denkpause, erkennt Nathan, welche Schwierigkeiten diese Frage aufwirft und beschließt im Monolog, zur Verbildlichung mit einem Märchen zu antwor-ten. Dieses trägt er dem ungeduldigen Sultan in der 7.Szene des 3.Aufzugs vor. Siebenter Auftritt Saladin und Nathan SALADIN. (So ist das Feld hier rein!) - Ich komm' dir doch Nicht zu geschwind zurück? Du bist zu Rande Mit deiner Überlegung. - Nun so rede! Es hört uns keine Seele. NATHAN. Möcht auch doch Die ganze Welt uns hören. SALADIN. So gewiß Ist Nathan seiner Sache? Ha! das nenn' Ich einen Weisen! Nie die Wahrheit zu Verhehlen! für sie alles auf das Spiel Zu setzen! Leib und Leben! Gut und Blut! NATHAN. Ja! ja! wanns nötig ist und nutzt. SALADIN. Von nun

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An darf ich hoffen, einen meiner Titel, Verbesserer der Welt und des Gesetzes, Mit Recht zu führen. NATHAN. Traun, ein schöner Titel! Doch, Sultan, eh ich mich dir ganz vertraue, Erlaubst du wohl, dir ein Geschichtchen zu Erzählen? SALADIN. Warum das nicht? Ich bin stets Ein Freund gewesen von Geschichtchen, gut Erzählt. NATHAN. Ja, gut erzählen, das ist nun Wohl eben meine Sache nicht. SALADIN. Schon wieder So stolz bescheiden? - Mach! erzähl', erzähle! NATHAN. Vor grauen Jahren lebt' ein Mann in Osten, Der einen Ring von unschätzbarem Wert' Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte, Und hatte die geheime Kraft, vor Gott Und Menschen angenehm zu machen, wer In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder, Daß ihn der Mann in Osten darum nie Vom Finger ließ; und die Verfügung traf, Auf ewig ihn bei seinem Hause zu Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring Von seinen Söhnen dem geliebtesten; Und setzte fest, daß dieser wiederum Den Ring von seinen Söhnen dem vermache, Der ihm der liebste sei; und stets der liebste, Ohn' Ansehn der Geburt, in Kraft allein Des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde. - Versteh mich, Sultan. SALADIN. Ich versteh dich. Weiter! NATHAN. So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn, Auf einen Vater endlich von drei Söhnen; Die alle drei ihm gleich gehorsam waren, Die alle drei er folglich gleich zu lieben Sich nicht entbrechen konnte. Nur von Zeit Zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald Der dritte, - so wie jeder sich mit ihm Allein befand, und sein ergießend Herz Die andern zwei nicht teilten, - würdiger Des Ringes; den er denn auch einem jeden Die fromme Schwachheit hatte, zu versprechen. Das ging nun so, so lang es ging. - Allein Es kam zum Sterben, und der gute Vater Kömmt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwei Von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort Verlassen, so zu kränken. - Was zu tun? - Er sendet in geheim zu einem Künstler, Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes, Zwei andere bestellt, und weder Kosten

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Noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich, Vollkommen gleich zu machen. Das gelingt Dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt, Kann selbst der Vater seinen Musterring Nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft Er seine Söhne, jeden ins besondre; Gibt jedem ins besondre seinen Segen, - Und seinen Ring, - und stirbt. - Du hörst doch, Sultan? SALADIN (der sich betroffen von ihm gewandt.) Ich hör, ich höre! - Komm mit deinem Märchen Nur bald zu Ende. - Wirds? NATHAN. Ich bin zu Ende Denn was noch folgt, versteht sich ja von selbst. - Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder Mit seinem Ring', und jeder will der Fürst Des Hauses sein. Man untersucht, man zankt, Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht Erweislich; - (Nach einer Pause, in welcher er des Sultans Antwort erwartet) Fast so unerweislich, als Uns itzt - der rechte Glaube. (Reclam, S.77-80) Ein Mann besitzt einen Ring, einen glänzenden Opal, dessen Oberfläche alle Farben wider-spiegelt. Die Wunderkraft dieses wertvollen Schmuckstücks besteht darin, dass er den jewei-ligen Träger vor Gott und Menschen angenehm macht, vorausgesetzt, man glaubt an die Kraft des Wunderringes. Dieser Mann nun vererbt den Ring dem von ihm am meisten gelieb-ten Sohn und mit dem Ring verknüpft ist auch der Anspruch auf das Alleinerbe des väterli-chen Besitzes. Dieser festgelegte Brauch wird über mehrere Generationen hinweg gepflegt, bis der Ring schließlich zu einem Vater gelangt, der die Erbentscheidung nicht zu treffen vermag, da er seine drei Söhne alle gleich liebt. Kompliziert wird die Geschichte dadurch, dass der Vater jedem einzelnen den Ring versprochen hat, nicht aus Bosheit, sondern aus Schwäche und Unsicherheit. Als der Vater bemerkt, dass er nicht mehr lange zu leben hat, weicht er dem drohenden Konflikt aus, indem er zwei weitere Ringe anfertigen lässt, die dem ersten vollkommen gleichen. In seiner Todesstunde ruft er jeden Sohn einzeln zu sich, gibt jedem einen Ring und stirbt. Die eigentliche Ringparabel als Bildnis der drei Weltreligionen Der Opal reflektiert mit den verschiedenen Farben seine Macht, den Träger vor allen Men-schen, sowie vor Gott durch seine Wirkung, aber auch den nötigen Willen des Eigentümers beliebt zu machen: „...hatte die geheime Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zu-versicht ihn trug“ (V.1915ff). Das Farbenspiel steht ferner für die unendliche Vielfalt Gottes. Aus dieser Tatsache ergibt sich die Folgerung, dass es sich beim Besitzer um den idealen Menschen handeln muss, der das Menschsein verkörpert. Dieser beste Vertreter der Menschheit ist zum Machthaber aus-erkoren: „Ohn´ Ansehn der Geburt, in Kraft allein des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde.“ (V.1926f), da der Ring eine humane Herrschaft garantiert, welche zur Glückseligkeit in einem Staat notwendig ist. Ein ähnliches Prinzip wird beispielsweise bei der Auswahl des Oberhaupts des Lamaismus, des Dalai-Lamas, berücksichtigt, der von Geburt an zu einem „besseren“ Men-schen erzogen wird. Nach einer langen humanen Regierungsgewalt kommt es zu einem Gewissenskonflikt eines Vaters, der seine drei Söhne, die die Weltreligionen Christentum,

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Judentum und Islam symbolisieren, gleich liebt und sich nicht für einen Nachfolger entschei-den kann: „...die alle drei er folglich gleich zu lieben sich nicht entbrechen konnte.“ (V.1932f) Mit der Vervielfältigung des Ringes bricht er das alte Recht, da er merkt, dass die Tradition nicht mehr ausreicht, um human und gerecht zu handeln. Dies liegt darin begründet, dass das Recht von Menschen gemacht wurde und daher unvollständig und fehlerhaft ist. Letztlich kommt es nach dem Tod des Vaters zu einem Streit um das Erbe, also im Grunde genom-men um die Macht im Staat, da die Söhne alle ihr Herrschaftsrecht in Anspruch nehmen wol-len: „Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder mit seinem Ring´, und jeder will der Fürst des Hauses sein.“ (V.1959ff) Da die Echtheit bei keinem der Ringe nachweislich ist, kommt es zu einer Entscheidung vor Gericht. SALADIN. Wie? das soll Die Antwort sein auf meine Frage? ... NATHAN. Soll Mich bloß entschuldigen, wenn ich die Ringe, Mir nicht getrau zu unterscheiden, die Der Vater in der Absicht machen ließ, Damit sie nicht zu unterscheiden wären. SALADIN. Die Ringe! - Spiele nicht mit mir! - Ich dächte, Daß die Religionen, die ich dir Genannt, doch wohl zu unterscheiden wären. Bis auf die Kleidung; bis auf Speis und Trank! NATHAN. Und nur von Seiten ihrer Gründe nicht. - Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert! - Und Geschichte muß doch wohl allein auf Treu Und Glauben angenommen werden? - Nicht? - Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? Doch deren Blut wir sind? doch deren, die Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe Gegeben? die uns nie getäuscht, als wo Getäuscht zu werden uns heilsamer war? - Wie kann ich meinen Vätern weniger, Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. - Kann ich von dir verlangen, daß du deine Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht Zu widersprechen? Oder umgekehrt. Das nämliche gilt von den Christen. Nicht? - SALADIN. (Bei dem Lebendigen! Der Mann hat Recht. Ich muß verstummen.) (Reclam, S.80-81, V.1965ff) Disput über die Unterscheidbarkeit der Religionen Im theologischen Disput nach dem ersten Teil der Parabel erteilt Nathan dem Sultan Saladin eine Lehrstunde. Er überzeugt ihn, dass seine These, dass die drei Religionen nicht zu un-terscheiden sind, wahr ist. Der Sultan zeigt sich nach dem ersten Teil der Parabel hinsichtlich seiner Frage nach der wahren Religion noch nicht zufrieden. Es kommt zu einem Disput zwischen Nathan und Sal-adin. Nathans These, dass die Religionen nicht zu unterscheiden sind, steht Saladins Auf-fassung von der Verschiedenheit der Religionen entgegen. Nathan widerlegt den Einwand

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des Sultans, indem er ihm erklärt, dass die Religionsgeschichte des Christentums, des Ju-dentums und des Islams im Grunde identisch ist. Keine der drei theistischen Religionen ü-berliefert authentische Worte von Gott. Der zweite Aspekt seines Beweises liegt in der Erzie-hung eines jeden. Als Kind erfährt man die Religion und Tradition seiner Eltern und empfin-det sie als wahr. Jeder ist in seinem Kreis gefangen und sieht die anderen Religionen nicht als Wahrheit an. Saladin muss erkennen, dass Nathans These richtig ist. Doch die entschei-dende Frage, welche nun die wahre Religion ist, bleibt offen. Der zentrale Aspekt des theologischen Disputs zwischen Nathan und dem Sultan ist die Fra-ge, ob sich die Religionen voneinander unterscheiden. Saladin vertritt die These, dass sehr wohl Unterschiede vorhanden sind. Allerdings kann er nur Äußerlichkeiten aufzählen „...dass die Religionen, die ich dir genannt, doch wohl zu un-terscheiden waren. Bis auf die Kleidung, bis auf Speis und Trank!“ (V.1971ff) Nathan hingegen ist der Auffassung, dass die Religionen nicht zu unterscheiden sind. Er gibt eine gewagte Stellungnahme ab, in der er sich nicht anmaßt die Ringe zu unterscheiden, die der Vater identisch anfertigen ließ. Die drei Ringe stehen für die theistischen Religionen, und mit Vater ist Gott gemeint. Nathan erlaubt sich kein Urteil über Gottes Werk. Alle drei Religi-onen sind von Gott gegeben und damit echt. Weiterhin belegt Nathan seine These mit zwei einfachen Weisheiten. Sein erster Beweis ist historischer Natur. Die Wurzeln der Christen, Juden und Moslems sind identisch, ihre Über-lieferungsgeschichte ist gleich. Weder die Bibel, noch der Koran oder das Alte Testament können auf authentische Worte von Gott bauen. Es existieren nur Überlieferungen von Zeu-gen, die unterschiedlich betroffen waren: „...Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert!- Und Geschichte muss doch wohl allein auf Treu und Glauben angenommen werden...“ (V.1975ff) Ferner verweist Nathan auf die Kindheit jedes Einzelnen. Es liegt in der Natur des Menschen zuerst seinen Eltern zu glauben. Sie führen uns in die Religion und in die damit verbundene Tradition ein. Somit ist jeder in seinem Kreis und in seiner Denkweise gefangen: „Nun wes-sen Treu und Glauben zieht man denn am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?“ (V.1979f) Darüber hinaus erklärt Nathan, dass aufgrund der Erziehung und dem Vertrauen zu den Eltern andere Religionen als unwahr betrachtet werden. Es gibt keine Toleranz oder Einsicht: „Kann ich von dir verlangen, dass du deine Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht zu widersprechen? Oder umgekehrt.“ (V.1987ff) Saladin kann dem nicht widerspre-chen, erkennt Nathans Ratio und stimmt seiner Auffassung zu: „(Bei dem Lebendigen! Der Mann hat Recht. Ich muß verstummen.)“ (V.1991). NATHAN. Laß auf unsre Ring' Uns wieder kommen. Wie gesagt: die Söhne Verklagten sich; und jeder schwur dem Richter, Unmittelbar aus seines Vaters Hand Den Ring zu haben. - Wie auch wahr! - Nachdem Er von ihm lange das Versprechen schon Gehabt, des Ringes Vorrecht einmal zu Genießen. - Wie nicht minder wahr! - Der Vater, Beteu'rte jeder, könne gegen ihn Nicht falsch gewesen sein; und eh' er dieses Von ihm, von einem solchen lieben Vater, Argwohnen laß': eh' müß' er seine Brüder, So gern er sonst von ihnen nur das Beste Bereit zu glauben sei, des falschen Spiels Bezeihen; und er wolle die Verräter Schon auszufinden wissen; sich schon rächen. SALADIN. Und nun, der Richter? - Mich verlangt zu hören, Was du den Richter sagen lässest. Sprich! NATHAN. Der Richter sprach: wenn ihr mir nun den Vater

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Nicht bald zur Stelle schafft, so weis' ich euch Von meinem Stuhle. Denkt ihr, daß ich Rätsel Zu lösen da bin? Oder harret ihr, Bis daß der rechte Ring den Mund eröffne? - Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; Vor Gott und Menschen angenehm. Das muß Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden Doch das nicht können! - Nun; wen lieben zwei Von euch am meisten? - Macht, sagt an! Ihr schweigt? Die Ringe wirken nur zurück? und nicht Nach außen? Jeder liebt sich selber nur Am meisten? - O so seid ihr alle drei Betrogene Betrieger! Eure Ringe Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring Vermutlich ging verloren. Den Verlust Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater Die drei für einen machen. SALADIN. Herrlich! herrlich! NATHAN. Und also; fuhr der Richter fort, wenn ihr Nicht meinen Rat, statt meines Spruches, wollt: Geht nur! - Mein Rat ist aber der: ihr nehmt Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: So glaube jeder sicher seinen Ring Den echten. - Möglich; daß der Vater nun Die Tyrannei des Einen Rings nicht länger In seinem Hause dulden wollen! - Und gewiß; Daß er euch alle drei geliebt, und gleich Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen, Um einen zu begünstigen. - Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut, Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, Mit innigster Ergebenheit in Gott, Zu Hülf'! Und wenn sich dann der Steine Kräfte Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern: So lad' ich über tausend tausend Jahre, Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen, Als ich; und sprechen. Geht! - So sagte der Bescheidne Richter. SALADIN. Gott! Gott! NATHAN. Saladin, Wenn du dich fühlest, dieser weisere Versprochne Mann zu sein: ... SALADIN (der auf ihn zustürzt, und seine Hand er- greift, die er bis zu Ende nicht wieder fahren läßt.) Ich Staub? Ich Nichts? O Gott!

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NATHAN. Was ist dir, Sultan? SALADIN. Nathan, lieber Nathan! - Die tausend tausend Jahre deines Richters Sind noch nicht um. - Sein Richterstuhl ist nicht Der meine. - Geh! - Geh! - Aber sei mein Freund. (Reclam, S.81-83, V.1992ff) Nachdem Nathan den Sultan im Scheitelpunkt der Ringparabel im Disput von seiner Auffas-sung, dass die Religionen eigentlich nicht unterscheidbar sind, argumentativ überzeugt hat, schließt er weitergehend den zweiten Teil der Geschichte an. Hierin bringen die drei Söhne ihr Anliegen vor einen Richter, um zu klären wer den echten Ring erhalten hat, also recht-mäßiger Herrscher ist. Der Richter sieht sich außerstande, eine Entscheidung zugunsten eines Klägers zu fällen, zumal keiner der drei Ringträger vor Gott und den Menschen ange-nehm erscheint, also geliebt wird, sowie es die Macht des echten Ringes verheißt. Der Rich-ter spricht daraufhin ein salomonisches Urteil und mutmaßt, dass der echte Ring verloren ging. Die Söhne sollen ihre Herrschaft aber trotzdem human und dem Ring entsprechend ausrichten, um dann in tausend Jahren von einem weiseren Richter beurteilt zu werden. Saladin ist begeistert von Nathans Weisheit, die aus der Geschichte heraus deutlich wird, will sein Freund werden und ist sich darüber im Klaren, dass er nicht der Richter ist, der das zweite Urteil fällen kann. Das salomonische Urteil: Gott lässt mehrere Lehren zu Im zweiten Teil der Ringparabel wird zunächst deutlich, dass jede der drei theistischen Reli-gionen, für die Brüder stehen, sich für die von Gott auserwählte hält. Dementsprechend for-dert ein jeder der Ringträger die Herrschaft im Namen Gottes, verkörpert durch den Vater, für sich ein: „...die Söhne verklagten sich; und jeder schwur dem Richter, unmittelbar aus seines Vaters Hand den Ring zu haben. – Wie auch wahr!“ (V.1993ff) Jede der Religionen hält ihre Wahrheit für unumstößlich, da sie ja nach alter Überlieferung von Gott gegeben wurde. Eben deshalb können die Auslegungen, der anderen Glaubensrichtungen nur Lügen sein: „er [der Richter] wolle die Verräter schon auszufinden wissen, ...“ (V.2007f) Der Richter, also ein außenstehender neutraler Beobachter, erkennt, dass auf keine der Re-ligionen zutrifft, dass sie das Gebot hält, jeden zu lieben, ganz ohne Betrachtung möglicher Differenzen und alle im Streit miteinander liegen. Dieser Offensichtlichkeit verleiht der Rich-ter durch rhetorische Fragen und Aufforderungen Ausdruck: „Nun; wen lieben zwei von Euch am meisten? – Macht, sagt an! Ihr schweigt? Die Ringe wirken nur zurück? [...] O so seid ihr alle drei betrogene Betrieger!“ (V.2019ff) Durch Exclamatio wird verdeutlicht, dass der Rich-ter meint, dass keine der Religionen die alleinige Wahrheit für sich gepachtet hat, und es Betrug ist, davon zu reden. Im Laufe der Zeit ist die wahre Religion, die direkt aus Gottes Hand stammt, verloren gegangen. Die jetzigen Religionen stammen zwar von dieser ab, je-doch ist keine mehr dieser gleich, da durch vielfältige Abänderungen durch verschiedene Interpretationen das Original verschwunden ist: „Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring ging verloren.“ (V.2025f) Jedoch steckt im Kern der Botschaften immer noch je-weils ein Teil der ursprünglichen Wahrheit: „Den Verlust zu bergen, zu ersetzen, ließ der Va-ter die drei für einen machen.“ (V.2027f) Diesem salomonischen, weisen Urteil, das keinen verklagt und gleichzeitig keinen über die anderen erhebt schließt der Richter seinen Rat für die Zukunft an. Es wird verdeutlicht, dass Gott mehrere Lehren zulässt, die seine Schöpfung preisen. Das Prinzip der Herrschaft eines Glaubens ist ihm unerwünscht: „Möglich; dass der Vater nun die Tyrannei des einen Rings nicht länger in seinem Hause dulden wollen!“ (V.2035ff) Tyrannei bedeutet Unterdrückung und gegen eben diese ist Gottes Lehre gerich-tet, er fordert also das Losreißen von Vorurteilen gegenüber anderer Religionen, um dem am allererster Stelle stehendem Gebot der Menschenliebe zu dienen: „Und gewiß; dass er euch alle drei geliebt, und gleich geliebt; indem er zwei nicht drücken mögen, um einen zu be-günstigen. – Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach!“ (V.2041f) Jede der Religionen ist in sich begründet und hat eine Existenzberechtigung. Aus dieser Erkenntnis heraus ist die Toleranz selbstverständlich. Die Vorurteile, beispielsweise, dass Juden geizig sind und Christen scheinheilig sind, sind oberflächlich und nicht zu pau-

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schalisieren. Trotz Beschimpfungen soll man den anderen akzeptieren und sogar lieben, allein aus dem Wunsch nach dem Frieden, den Gott fordert: „...mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott,...“ (V.2045ff). Allein aus Be-achtung dieser Forderungen heraus sollte es möglich sein, eine humane Gesellschaft aufzu-bauen. Lessing stellt die Frage, ob diese wohl in tausend Jahren schon durch einen neutra-len Beobachter, einen weiteren Richter, erkennbar sein wird: „...über tausend tausend Jahre, [...] da wird ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen als ich; und sprechen.“ (V.2050ff) Aufruf zum Aufbau einer humanen, vorurteilsfreien Gesellschaft Lessing meint also, dass es möglich sein müsse, die absolut humane, vorurteilsfreie Gesell-schaft aufzubauen und verdeutlicht dies durch die Verbrüderung des Juden mit dem Sultan, der innigen Freundschaft der beiden, die ein Beispiel der Menschenliebe ist: „Die tausend tausend Jahre deines Richters sind noch nicht um. – Sein Richterstuhl ist nicht der meine. – Geh! – Geh! – Aber sei mein Freund.“ (V.2058ff) Die Freundschaft der Beiden ist ein Anfang des Aufbaus, jedoch ist die Zeit noch nicht gekommen, in der das Ideal erreicht sein wird. Kritik am orthodoxen Christentum (Vierter Akt, zweiter Auftritt) Dieser Vorstellung einer humanen Gesellschaft steht jedoch viel Intoleranz und Unverständ-nis gegenüber. Dies wird am Beispiel des Patriarchen deutlich. Nachdem der Tempelherr von Daja erfahren hat, dass Recha als Christin im jüdischen Haus Nathans aufgezogen wird, ist er verwirrt und wendet sich an den Klosterbruder, der ihn an den Patriarchen verweist. In der 2.Szene des 4.Aktes erzählt der Tempelherr diesem Vertre-ter des orthodoxen Christentums von den Verhältnissen in Nathans Haus als angenommener Fall. Der Patriarch fordert den Tod des schuldigen Juden. Der Patriarch, welcher mit allem geistlichen Pomp den einen Kreuzgang heraufkömmt, und die Vorigen TEMPELHERR. Ich wich ihm lieber aus. - Wär' nicht mein Mann! - Ein dicker, roter, freundlicher Prälat! Und welcher Prunk! KLOSTERBRUDER. Ihr solltet ihn erst sehn, Nach Hofe sich erheben. Itzo kömmt Er nur von einem Kranken. TEMPELHERR. Wie sich da Nicht Saladin wird schämen müssen! PATRIARCH (indem er näher kömmt, winkt dem Bruder.) Hier! - Das ist ja wohl der Tempelherr. Was will Er? KLOSTERBRUDER. Weiß nicht. PATRIARCH (auf ihn zugehend, indem der Bruder und das Gefolge zurücktreten.) Nun, Herr Ritter! - Sehr erfreut Den braven jungen Mann zu sehn! - Ei, noch So gar jung! - Nun, mit Gottes Hülfe, daraus Kann etwas werden. TEMPELHERR. Mehr, ehrwürd'ger Herr, Wohl schwerlich, als schon ist. Und eher noch, Was weniger. PATRIARCH. Ich wünsche wenigstens, Daß so ein frommer Ritter lange noch

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Der lieben Christenheit, der Sache Gottes Zu Ehr und Frommen blühn und grünen möge! Das wird denn auch nicht fehlen, wenn nur fein Die junge Tapferkeit dem reifen Rate Des Alters folgen will! - Womit wär' sonst Dem Herrn zu dienen? TEMPELHERR. Mit dem nämlichen, Woran es meiner Jugend fehlt: mit Rat. PATRIARCH. Recht gern! - Nur ist der Rat auch anzunehmen. TEMPELHERR. Doch blindlings nicht? PATRIARCH. Wer sagt denn das? - Ei freilich Muß niemand die Vernunft, die Gott ihm gab, Zu brauchen unterlassen, - wo sie hin Gehört. - Gehört sie aber überall Denn hin? - O nein! - Zum Beispiel: wenn uns Gott Durch einen seiner Engel, - ist zu sagen, Durch einen Diener seines Worts, - ein Mittel Bekannt zu machen würdiget, das Wohl Der ganzen Christenheit, das Heil der Kirche, Auf irgend eine ganz besondre Weise Zu fördern, zu befestigen: wer darf Sich da noch unterstehn, die Willkür des, Der die Vernunft erschaffen, nach Vernunft Zu untersuchen? und das ewige Gesetz der Herrlichkeit des Himmels, nach Den kleinen Regeln einer eiteln Ehre Zu prüfen? - Doch hiervon genug. - Was ist Es denn, worüber unsern Rat für itzt Der Herr verlangt? TEMPELHERR. Gesetzt, ehrwürd'ger Vater, Ein Jude hätt' ein einzig Kind, - es sei Ein Mädchen, - das er mit der größten Sorgfalt Zu allem Guten auferzogen, das Er liebe mehr als seine Seele, das Ihn wieder mit der frömmsten Liebe liebe. Und nun würd' unser einem hinterbracht, Dies Mädchen sei des Juden Tochter nicht; Er hab' es in der Kindheit aufgelesen, Gekauft, gestohlen, - was Ihr wollt; man wisse, Das Mädchen sei ein Christenkind, und sei Getauft; der Jude hab' es nur als Jüdin Erzogen; laß es nur als Jüdin und Als seine Tochter so verharren:- sagt, Ehrwürd'ger Vater, was wär' hierbei wohl Zu tun? PATRIARCH. Mich schaudert! - Doch zu allererst Erkläre sich der Herr, ob so ein Fall Ein Faktum oder eine Hypothes'. Das ist zu sagen: ob der Herr sich das Nur bloß so dichtet, oder obs geschehn, Und fortfährt zu geschehn.

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TEMPELHERR. Ich glaubte, das Sei eins, um Euer Hochehrwürden Meinung Bloß zu vernehmen. PATRIARCH. Eins? - Da seh der Herr Wie sich die stolze menschliche Vernunft Im Geistlichen doch irren kann. - Mit nichten! Denn ist der vorgetragne Fall nur so Ein Spiel des Witzes: so verlohnt es sich Der Mühe nicht, im Ernst ihn durchzudenken. Ich will den Herrn damit auf das Theater Verwiesen haben, wo dergleichen pro Et contra sich mit vielem Beifall könnte Behandeln lassen. - Hat der Herr mich aber Nicht bloß mit einer theatral'schen Schnurre Zum besten; ist der Fall ein Faktum; hätt' Er sich wohl gar in unsrer Diözes', In unsrer lieben Stadt Jerusalem, Eräugnet; - ja alsdann – TEMPELHERR. Und was alsdann? PATRIARCH, Dann wäre mit dem Juden fördersamst Die Strafe zu vollziehn, die päpstliches Und kaiserliches Recht so einem Frevel, So einer Lastertat bestimmen. TEMPELHERR. So? PATRIARCH. Und zwar bestimmen obbesagte Rechte Dem Juden, welcher einen Christen zur Apostasie verführt, - den Scheiterhaufen, - Den Holzstoß - TEMPELHERR. So? PATRIARCH. Und wie vielmehr dem Juden, Der mit Gewalt ein armes Christenkind Dem Bunde seiner Tauf entreißt! Denn ist Nicht alles, was man Kindern tut, Gewalt? - Zu sagen: - ausgenommen, was die Kirch' An Kindern tut. TEMPELHERR. Wenn aber nun das Kind, Erbarmte seiner sich der Jude nicht, Vielleicht im Elend umgekommen wäre? PATRIARCH. Tut nichts! der Jude wird verbrannt. - Denn besser, Es wäre hier im Elend umgekommen, Als daß zu seinem ewigen Verderben Es so gerettet ward. - Zu dem, was hat Der Jude Gott denn vorzugreifen? Gott Kann, wen er retten will, schon ohn' ihn retten. TEMPELHERR. Auch Trotz ihm, sollt ich meinen, - selig machen. PATRIARCH. Tut nichts! der Jude wird verbrannt. TEMPELHERR. Das geht Mir nah'! Besonders, da man sagt, er habe Das Mädchen nicht sowohl in seinem, als Vielmehr in keinem Glauben auferzogen, Und sie von Gott nicht mehr nicht weniger Gelehrt, als der Vernunft genügt.

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PATRIARCH. Tut nichts! Der Jude wird verbrannt ... Ja, wär' allein Schon dieserwegen wert, dreimal verbrannt Zu werden! - Was? ein Kind ohn' allen Glauben Erwachsen lassen? - Wie? die große Pflicht Zu glauben, ganz und gar ein Kind nicht lehren? Das ist zu arg! - Mich wundert sehr, Herr Ritter, Euch selbst ... TEMPELHERR. Ehrwürd'ger Herr, das übrige, Wenn Gott will, in der Beichte. (Will gehn) PATRIARCH. Was? mir nun Nicht einmal Rede stehn? - Den Bösewicht, Den Juden mir nicht nennen? - mir ihn nicht Zur Stelle schaffen? - O da weiß ich Rat! Ich geh sogleich zum Sultan. - Saladin, Vermöge der Kapitulation, Die er beschworen, muß uns, muß uns schützen; Bei allen Rechten, allen Lehren schützen, Die wir zu unsrer allerheiligsten Religion nur immer rechnen dürfen! Gottlob! wir haben das Original. Wir haben seine Hand, sein Siegel. Wir! - Auch mach' ich ihm gar leicht begreiflich, wie Gefährlich selber für den Staat es ist, Nichts glauben! Alle bürgerliche Bande Sind aufgelöset, sind zerrissen, wenn Der Mensch nichts glauben darf. - Hinweg! hinweg Mit solchem Frevel! .. TEMPELHERR. Schade, daß ich nicht Den trefflichen Sermon mit beßrer Muße Genießen kann! Ich bin zum Saladin Gerufen. PATRIARCH. Ja? - Nun so - Nun freilich - Dann - TEMPELHERR. Ich will den Sultan vorbereiten, wenn Es Eurer Hochehrwürden so gefällt. PATRIARCH. O, oh! - Ich weiß, der Herr hat Gnade funden Vor Saladin! - Ich bitte meiner nur Im besten bei ihm eingedenk zu sein. - Mich treibt der Eifer Gottes lediglich. Was ich zu viel tu, tu ich ihm. - Das wolle Doch ja der Herr erwägen! - Und nicht wahr, Herr Ritter? das vorhin Erwähnte von Dem Juden, war nur ein Problema? - ist Zu sagen- TEMPELHERR. Ein Problema. (Geht ab) PATRIARCH. (Dem ich tiefer Doch auf den Grund zu kommen suchen muß. Das wär' so wiederum ein Auftrag für Den Bruder Bonafides.) - Hier, mein Sohn!

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(Er spricht im Abgehn mit dem Klosterbruder) (Reclam, S.98-103) Priorität der Glaubensvorschriften vor der Vernunft Der Tempelherr ist nicht sehr erfreut über die Zusammenkunft mit dem Patriarchen, da er eigentlich nichts mit ihm zu schaffen hat: „Ich wich‘ ihm lieber aus. – Wär nicht mein Mann!“ (V.2454) Er erkennt, dass die Zurschaustellung von Reichtum bei dem Christen mehr ausgeprägt ist als im Palast des Sultans: „Und welcher Prunk! [...] Wie sich da nicht Saladin wird schämen müssen!“ (V.2456ff) Die Begrüßung der des Patriarchen wirkt übertrieben freundlich und aufgesetzt: „Was will er?“ [...] „Nun, Herr Ritter! – Sehr erfreut den braven jungen Mann zu sehn! - Ei, noch so gar jung! – Nun, mit Gottes Hülfe, daraus kann etwas werden.“ (V.2460ff) Die oberflächlichen Komplimente werden verstärkt durch Exclamatio, die Ellipse verdeutlicht, dass der Tempelherr dem christlichen Herrscher eigentlich nicht bekannt ist und er gar nicht weiß, was dieser von ihm will. Der junge Herr gibt sich bescheiden und unterwürfig: „Mehr, ehrwürd’ger, wohl schwerlich als schon ist.“ (V.2464ff) Der Patriarch betont im Anschluss die Wichtigkeit, dem christlichen Glauben ergeben zu die-nen: „...dass so ein frommer Ritter lange noch der lieben Christenheit, der Sache Gottes zu Ehr‘ und Frommen blühn und grünen möge!“ (V.2467ff) Dieser Dienst, für das Christentums und für die Missionierung zu kämpfen, macht in der hie-rarchischen Struktur blinden Gehorsam notwendig, der aufgrund der Unfehlbarkeit auch ge-rechtfertigt ist: „Nur ist der Rat auch anzunehmen.“ (V.2475) Der Tempelherr, der erkennt, dass strikter Ge-horsam Nachteile hat und der Mensch eine Eigenverantwortung hat, fragt daraufhin: „Doch blindlings nicht?“ (V.2476) Daraufhin muss der Patriarch der Vernunft des Einzelnen Rechnung tragen: „Ei freilich muss niemand die Vernunft, die Gott ihm gab, zu brauchen unterlassen,...“ (V.2476ff). Exclamatio verdeutlicht, dass dem Orthodoxen dieses Urteil schwer fällt und er schränkt es sofort ein. Gottes Wille müsse nicht hinterfragt und damit stur befolgt werden, also auch die Befehle der Kirche, die ja die Botschaft Gottes verbreitet: „...wer darf sich da noch unterstehn, die Willkür des, der die Vernunft erschaffen, nach Ver-nunft zu untersuchen?“ (V.2486ff) Daraufhin trägt der Tempelherr die Geschichte von Recha als angenommener Fall, also im Konjunktiv vor: „Ein Jude hätt ein einzig Kind, - es sei ein Mädchen,...“ (V.2495f). Der Patriarch ist schockiert von der Vorstellung eines jüdisch erzogenen Christenkindes, was durch seinen Ausruf verdeutlicht wird: „Mich schaudert!“ (V.2509) Gleichzeitig hat er den Verdacht, das der Geschichte ein wahres Geschehen zugrunde liegt: „...ob der Herr sich das nur bloß so dichtet, oder ob’s geschehn, und fortfährt zu geschehn.“ (V.2510ff) Repetitio verdeutlicht, dass der Patriarch darauf aus ist, einen Schuldigen zu finden. Als der Tempelherr entgegnet: „Ich glaubte, das sei eins...“ (V.2514ff), um Nathan vor eventuellen Attacken des Patriarchen zu bewahren, wird dieser zornig und beleidigend: „Eins? – Da seh‘ der Herr wie sich die stolze menschliche Vernunft im Geistlichen doch irren kann.“ (V.2516ff) Er greift das Argument des vernunftbegabten Menschen aus der vorigen Diskussion wieder auf und sieht seine Behauptung, der Kirche sei strikt zu dienen bestätigt. Den Tempelherren versucht er durch Provokation dazu zu bringen, die Wahrheit preiszugeben: „...den Herrn damit auf das Theater verwiesen haben, wo dergleichen pro et contra sich mit vielem Beifall könnte behandeln lassen.“ (V.2522ff)

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Der junge Christ erweist sich jedoch als geschickt und bringt den Patriarchen geduldig durch kurze Fragen dazu, sein Urteil zu verkünden, ohne dass der Tempelherr Nathan verraten muss: „Und was alsdann? [...] So? [...] So?“ (V.2530ff) Der Patriarch fällt das gnadenlose Urteil, den Juden zu verbrennen: „...bestimmen obbesagte Rechte dem Juden [...] den Scheiterhaufen,...“ (V.2535ff). Nebenbei unterstreicht er wiederum die Unfehlbarkeit der Kirche, die als einzige für die Er-ziehung von Kindern geeignet ist: „Denn ist nicht alles, was man Kindern tut, Gewalt? Zu sagen: - ausgenommen, was die Kirch‘ an Kindern tut.“ (V.2540ff) Selbst als der Tempelherr die barmherzige, humane Tat des Juden, der das Kind vor dem sicheren Tod bewahrte, unterstreicht, bleibt der Orthodoxe bei seiner festgefahrenen Mei-nung: „Tut nichts! Der Jude wird verbrannt.“ (V.2546) Er gibt damit den Regeln und Normen seiner Religion unbedingten Vorrang vor der Vernunft, was durch seine irrationale Aussage noch bestätigt wird: „...besser, es wäre hier im Elend umgekommen, als dass zu seinem ewigen Verderben es so gerettet ward.“ (V.2546ff) Der Tod ist also besser als ein Leben mit Juden, seine Intoleranz erreicht ihren Höhepunkt. Das durch Gott gewollte Schicksal ist sowieso nicht zu verändern: „Gott kann, wen er retten will, schon ohn ihn retten.“ (V.2550f) Damit entzieht der Patriarch den Menschen von seiner Eigenverantwortung, die er aufgrund seiner Vernunft hat. Die vernunftbetonte Erziehung des Kindes ohne strenge Glaubensricht-linien ist für ihn deshalb auch nicht vorstellbar: „Was? Ein Kind ohn allen Glauben erwachsen lassen?“ (V.2561f) Die rhetorischen Fragen und Ausrufe verdeutlichen seine Empörung über dieses Vergehen: „Das ist zu arg!“ (V.2565) Immer wieder wiederholt er seinen Schuldspruch: „Tut nichts! Der Jude wird verbrannt.“ (V.2558ff) Daraus wird deutlich, dass er seine Meinung längst gebildet hat, er ist nicht fähig seine Ver-nunft einzusetzen, um aus den Umständen heraus zu begreifen, dass die Tat des Juden zu-nächst human und positiv war. Dies erkennt jetzt auch der Tempelherr und will gehen, er-wähnt aber provokant, die ganze Wahrheit vielleicht in der Beichte preiszugeben, was aber nur ironisch ist, da er genau weiß, dass der Patriarch das Beichtgeheimnis zugunsten der Ergreifung des schuldigen Juden brechen würde: „Ehrwürd’ger Herr, das Übrige, wenn Gott will, in der Beichte.“ (V.2565f) Dieser glaubt, nachdem der Tempelherr ihn nicht unterstützt, beim Sultan Gehör zu finden. Repetitio verdeutlicht, dass der Sultan verpflichtet ist zu helfen: „Saladin, vermöge der Kapitulation, die er beschworen, muss uns, muss uns schützen;“ (V.2570ff) Auch wähnt der Orthodoxe den Moslem von der Wichtigkeit des Glaubens überzeugen zu können, in ihm den richtigen Ansprechpartner für seine Zwecke zu finden: „Auch mach ich ihm gar leicht begreiflich, wie gefährlich selber für den Staat es ist, nichts glauben!“ (V.2578ff) Der Patriarch hält den islamischen Herrscher für einen ähnlich resoluten und die eigenen Ziele verfolgenden Despoten wie sich. Vom Tempelherren denkt er, dass dieser für ihn nicht länger von Nutzen sein wird, deshalb behandelt er ihn grob, jegliche gekünstelte Freundlich-keit ist abgelegt, der Patriarch zeigt sein wahres Gesicht: „Hinweg! Hinweg mit solchem Frevel!...“ (V.2582f) Der Tempelherr, der der Strafpredigt des Patriarchen sowieso nichts mehr abgewinnen kann, spielt nun mit ihm und läßt sein gutes Verhältnis zum Sultan durchblicken, der ihn zu einer Audienz eingeladen hat: „Schade, dass ich nicht den trefflichen Sermon mit bessrer Muße genießen kann! Ich bin zum Saladin gerufen.“ (V.2583ff) Der Orthodoxe ist verblüfft: „Ja? – Nun so – Nun freilich – Dann“ (V.2586). Die Ellipsen und Gedankenstriche verdeutlichen, wie irritiert und sprachlos der sonst so schlagfertige Patri-

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arch ist. Der Tempelherr lenkt damit geschickt davon ab, vom Patriarchen selbst verurteilt zu werden, da er den Schuldigen verschweigt. „Ich will den Sultan vorbereiten, wenn es Eurer Hochehrwürden so gefällt.“ (V.2587) Plötzlich ist der Patriarch wie ausgewechselt, da er eine gelegene Chance gekommen sieht, sich vor dem Sultan zu profilieren und er setzt die freundliche Maske wieder auf: „O, oh! – Ich weiß, der Herr hat Gnade funden vor Saladin! – Ich bitte meiner nur im Besten bei ihm eingedenk zu sein.“ (V.2589) Gleichzeitig bietet er dem Tempelherren im Gegenzug für diesen Dienst an, den Fall des Juden als angenommen zu akzeptieren: „...das vorhin Erwähnte von dem Juden, war nur ein Problema?“ (V.2595f) Jedoch ist der Patriarch hinterlistig, wird der Sache nachgehen und sich des Klosterbruders als Spitzel bedienen: „Das wär so wiederum ein Auftrag für den Bruder Bonafides.“ (V.2599f) Scheinheiligkeit, Sturheit und damit Inhumanität der Kirche In der Szene wird der Patriarch als Vertreter des orthodoxen Christentums genau charakteri-siert. Es liegt nahe, dass Lessing diese Figur als Abbild des Hauptpastors Goeze konstruiert hat, um die Eigenschaften und Schwächen dieses Anhängers der lutherischen Orthodoxie offenzulegen. Er kritisiert damit gleichzeitig die Einstellung der Kirche, die sich der Aufklä-rung entgegenstellte. Er kreidet die angebliche Unfehlbarkeit der Kirche an und verurteilt den strikten Gehorsam, der daraus resultiert. Dieser widerspricht nämlich der Vorstellung Les-sings von der Eigenverantwortung des Einzelnen. Er beschreibt die Kirche als hinterlistig, in der Verfolgung ihrer Ziele egoistisch und rigoros, eben nicht human. Hinter dieser Fassade der Freundlichkeit und der Scheinheiligkeit, von Gott gewollte Ziele zu verwirklichen, steht jedoch die sture Auffassung, dass angebliche Feinde der „einzig wahren“ Lehre ausgemerzt werden müssen. Toleranz und erst recht die Gleichheit aller Menschen sind unvereinbar mit dem anzustrebenden Glaubensmonopol. copyright: deutsch-digital.de