Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

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Robert Louis Stevenson, eine der widersprüchlichsten Gestalten der Literatur, steht im Mittelpunkt dieses Romans. Auf Samoa erschafft sich der Lungenkranke ein pazifisches Zauberreich, in dem er, der "Tusitala", als mächtiger Magier verehrt und geliebt wird. Die Situation ändert sich dramatisch, als sich herausstellt, dass der Herrscher über Vailima auf ewig ein Gefangener des eigenen Reiches bleiben wird. Langsam beginnen Wirklichkeit und Dichtung miteinander zu verschmelzen, denn der Schöpfer von Dr. Jekyll und Mr. Hyde scheint mit jedem Tag mehr die Züge seiner Kreaturen anzunehmen...

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Sabine Büssing

Leuchttuffnim Dschungel

Roman über das Leben des SchriftstellersRobert Louis Stevenson

FRIELING

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Im Verlag Frieling & Partner erschien von Sabine Büssing bereits

,,Das deutsche Reiseschauderbuch" (ISBN 3 -8280-06 I 7-5)

Die Deutsche Bibliothek - ClP-EinheitsaufnahmeBüssing, Sabine:Leuchtturm im Dschungel : Roman über das Leben des SchriftstellersRobert Louis Stevenson / Sabine Büssing. -Orig.-Ausg., l. Aufl. - Berlin : Frieling, 1999

ISBN 3-8280-0759-7

@ Frieling & Partner GmbH BerlinHünefeldzeil e 18, D-12247 Berlin-SteglitzTelefon: 0 30 I 76 69 99-0

ISBN 3-8280-0759-7l. Auflage 1999

Umschlaggestaltung: Michael ReichmuthSämtliche Rechte vorbehaltenPrinted in Germany

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,,Uv Gorrrs wtt-lprq! So spät schon!"

Im Laufe ihrer heutigen Malversuche war Fanny jedes Zeitgefühl abhanden

gekommen. Es mußten Stunden vergangen sein, seit sie das letzte Mal bewußt den

Stand der glühendheißen Novembersonne beobachtet hatte, denn der Feuerball

bewegte sich bereits mit beunruhigender Geschwindigkeit in Richtung Horizont.

Ausgerechnet heute gab es daheim noch so vieles zu tun, was keinenAufschub

duldete, und Fanny hätte womöglich bis zum Einbruch völliger Dunkelheit hier

ausgeharrt, wenn nicht ein Tausendfüßler ihre Staffelei erklommen und sie aus

ihrer Versunkenheit aufgeschreckt hätte. Sosehr sie die giftigen kleinen Erdläufer

verabscheute, die im tropischen Klima von Samoa prächtig gediehen und gar so

klein nicht blieben, so dankbar war sie ausnahmsweise diesem speziellen, auf-

dringlichen Exemplar. Als es gerade dabei gewesen war, quer über ihr neuestes

Projekt in Öl zu laufen und das Bild mit seinen Hunderten von Fußspuren zu ver-

schmieren, hatte Fanny das Tier in ihrer Panik mit einem Bananenblatt beiseite

gefegt und darnit höchstpersönlich ihrem Werk den Rest gegeben. Alles war bis

zur Unkenntlichkeit verwischt; die Konturen des Hafens von Apia konnte man

beim besten Willen nicht mehr identifizieren. Fannys Tagewerk war vernichtet.

In einem Winkel ihres Bewußtseins hielt Fanny diese Tatsache für jene Artgerechter Strafe, die dem Bruch eines Tabus auf dem Fuße folgte, wie zumindest

die Eingeborenen glaubten. Fannys Versuch, die Siedlung und den Hafen mitsamt

den beiden Schiffen zu malen, die seit heute morgen vorAnker lagen, stellte einen

unerhörten Verstoß gegen ihren eigenen Vorsatz dar, auf Samoa niemals etwas

anderes darstellen zu wollen als von Menschenhand unberührte Landschaft. Na-

ttirlich porträtierte sie bisweilen Menschen: ihre Familie etwa, die farbige Diener-

schaft oder auch Weiße und Samoaner aus der näheren Umgebung von Vailima;

doch blieb sie bei solchen Gelegenheiten strikt im häuslichen Rahmen. Was die

Inselumgebung betraf, war sie bis zu diesem Tage ihrem känstlerischen Bestreben

treu geblieben. Keine Menschenseele tauchte auf ihren Bildem auf, nur die unver-

gleichliche Schönheit, welche die Hauptinsel desArchipels, Upolu, demAuge des

Betrachters bot. Zn Beginn ihres Aufenthalts auf Samoa hatte sie ihren Freunden

in Südfrankreich und besonders den Mitgliedem der von ihr gegründeten Künstler-

salons in San Francisco begeisterle Briefe geschrieben. ,,Ihr könnt euch die Natur

in euren ausschweifendsten Gedanken nicht vorstellen. Die Gegend bedarf kaum

der Hand des Malers; sie malt sich gleichsam von selbst."

Welcher Teufel aber hatte sie heute geritten, welcher Dämon war in sie ge-

drungen, der ihr gebot, alle Regeln zu brechen und das von den Bergbewohnern

belächelte und verachtete Apia abbilden zu wollen, eine kunterbunt zusammen-

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gewärfblte, geschmackloseAnsammlung von Bruchbuden, Kramläden, üblen Spe-

lunken, halb verfallenen Feudalhotels mit faulenden Fassaden und hochtrabenden

Namen? Dort wohnten durchweg gestrandete Existenzen: weiße Seeleute, die kein

Kapitän mehr anheuern wollte und die ihren Tag mit Whisky und Kartenspiel ver-

brachten, Mischlinge, die es in der Kunst, ankommende Neulinge mit echten Insel-

souvenirs übers Ohr zu hauen, zu erstaunlicher Meisterschaft gebracht hatten. Die

Besitzer der Kramläden erfreuten sich inmitten solch erlesener Gesellschaft noch

der mit Abstand höchsten Wertschätzung, denn kein Bergbewohner mochte auf

die Dauer ohne sie leben. Die weißen Händler waren die Mittelsleute, die den

regelmäßigen Kontakt zu jener fernen, fih manche unerreichbaren Welt aufrecht-

erhielten, welche man gemeinhin Zivilisation nannte.

Fanny wußte den Dämon zu benennen, der sich, unbeeindruckt von der Schön-

heit der exotischen Kulisse, hinterhältig und verstohlen in ihre Seele geschlichen

und schließlich von ihr Besitz ergriffen hatte. Der Name des Teufels war Heim-

weh.

Der giftige Tausendfüßler erschien Fanny im nachhinein wie eine fleisch-

gewordene Mahnung, sich nicht weiter ihren Sehnsüchten hinzugeben, die doch

zu nichts Gutem führen konnten. Vor weniger als einem Jahr hätte sie sich über

jede Art von ,,Omen" oder ,,Vorzeichen" köstlich amüsiert und die bloße Idee

daran lachend abgetan, wie es Louis auch heute noch tun wtirde - wenngleich

ohne die geringste Spur von echter Heiterkeit in seinem feinsinnigen Spott. Aus

ihrem Spiel war inzwischen Ernst geworden, so wie Fanny, Louis und ihr KIan

l?ingst keine vogelfreie Truppe von ungebärdigen Bohemiens mehr bildeten, son-

dern sich in eine eng verschweißte Gemeinschaft von Schiffbrüchigen oderAus-

gesetzten verwandelt hatten, die sich in ihrer Not oft aneinanderklammerten wie

verängstigte Kinder. Nur war es allein Fanny, der dies wirklich ins Bewußtsein

drang: Ihr Sohn Lloyd vergaß die Abgeschiedenheit, indem er sich ausgiebig in

die Arbeit und in die Arme seiner Inselschönen warf; ihre Tochter Isobel verehrte

ihren Gott; und was Louis anging ... nun, er war vor langer Zeit schon über sich

hinausgewachsen wie vor ihm kein zweiter Sterblicher.

Heute war Louis 43 Jahre alt geworden, und alle wtirden sie kommen, um sei-

nen Geburtstag zu feiern.

Der Gedanke daran riß Fanny endgültig aus der Grübelei, in die sie ganz unbe-

merkt schon wieder verfallen war. Es wurde höchste Zeitfir sie, wollte sie recht-

zeitig daheim erscheinen und ihre Vorbereitungen für die Festlichkeiten treffen.

Mit einem unwillkürlichen Seufzer verpackte sie ihr mißglücktes Bild in mehre-

ren Lagen riesiger Bananenblätter, faltete ihren leinenbezogenen Klappstuhl und

verwandelte die hölzerne Staffelei mit wenigen geübten Handgriffen in ein prakti-

sches Lattenbündel. Bevor sie den Ort verließ, warf sie einen letzten Blick auf die

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Behausungen von Apia. Lange ruhten ihre feucht schimmernden Augen auf den

beiden Segelschiffen, die dort unten vorAnker lagen; eines davon war das Post-

schiff, welches verhältnismäßig oft vorbeikam - fast jeden Monat einmal -, un-

mittelbar daneben schaukelte ein deutscher Schoner auf den Wellen, den sie nicht

kannte. Wahrscheinlich würde er schon morgen oder übermorgen nach Sydney

aufbrechen oder womöglich nach San Francisco ... Mit einem fast körperlichen

Ruck riß sich Fanny aus ihren ungesunden Träumereien, ergriffentschlossen ihre

Bürde und stapfte davon, indem sie den kürzesten Weg nach Vailima einschlug'

Fannys Heim lag unmittelbar unter dem höchsten Punkt der gesamten Insel,

was die Wanderung entsprechend beschwerlich gestaltete. Hinzu kam, daß die

,,Straße", die auf halber Höhe noch recht breit und gut befestigt war, zu einem

erbärmlichen Trampelpfad zusammenschrumpfte, je mehr man sich Vailima nä-

herte. Zum guten Schluß, kurz vor dem Ziel, konnte man den Urwald nur noch mit

äußerster Mühe durchdringen. Ftir Menschen mochte das angehen; doch saß man

zu Pferde, artete der Marsch zu einer regelrechten Expedition aus' Louis, den bei

weitem passioniertesten, unermüdlichsten Reiter auf ganz Upolu, machte der

Dschungel bei solchen Gelegenheiten schier verrückt. Schon häufig hatte er den

glühenden Wunsch geäußert, es möge doch um des Himmels willen bald eine

breite, mit Steinen bepflasterte Straße geben, die den Urwald ein für allemal in

seine Schranken weisen und ihm, Louis, ungehinderten Einritt in sein Land ge-

währen möge. Die Irnvitzigkeit des Unterfangens störte ihn nicht; er verfolgte

seinen Traum weiter, wenn er auch insgeheim genau wissen mußte, daß kein Sa-

moaner sich jemals zu einer Arbeit heranziehen lassen würde, die solch biblische

Dimensionen in sich barg. Ebensowenig hätte man die stolzen Samoaner, für die

,,Arbeit" in der Regel ein absolut unverstänCliches Fremdwort darstellte, zum Bau

der ägyptischen Pyramiden bewegen können. Schließlich mußte es seine tiefere

tledeutung haben, wenn sogar die deutschen Kolonialherren seit jeher bezahlte

Fremdarbeiter von den Salomoninseln importierten.

Nichtsdestotrotz ließ Louis keinen wachen Moment von seinem Wunsch ab -im Schlaf wahrscheinlich erst recht nicht.

Mittlerweile floß der Schweiß in Strömen an Fanny herunter. Dicke Tropfen

kullerten von ihrer Stim und fielen auf den von Schlingpflanzen und Wurzeln

tiberwucherten Weg vor ihr, während sie sich mit tief vorgeneigtem Oberkörper,

mühsam keuchend, den Berg hinaufarbeitete. In der winzigen Lichtung hatte sie

I'ust reglos gesessen und war von der unbarmherzigen Sonne nur mäßig gequält

worden. Der Pfad, auf dem sie sich nun fortbewegte, wurde zwar von einem Bal-

rlachin aus dichtem Blattgeshüpp überdeckt, doch die hohe Luftfeuchtigkeit machte

jcde noch so geringe Bewegung zu einer unmenschlichen Anstrengung. Manch-

rnal bezweifelte Fanny stark, daß sich ihr Leib je an die tropische Hitze würde

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gewöhnen können, zumal sie nicht jünger wurde und im Gegensatz zu Louis, der

imZenit seiner Jahre stand, ihre beste Zeit bereits hinter sich wußte. Louis gedieh

in diesem Klima wie die Pflanzen um sie her; physisch blähte er stetig auf, bis er,

orchideengleich, vor Saft und Kraft nur so strotzte. Fanny lächelte: Der Vergleich

mit Blumen pflegte ihn ungemein zu belustigen.

Als Louis vier Jahre zuvor Vailima erworben hatte, war Fanny der Grund fürdiese Wahl zunächst nicht völlig klar gewesen. Dabei verhielt es sich nicht etwa

so, daß dieses besondere Fleckchen Erde nicht ihren ungeteilten Beifall gefunden

hätte, im Gegenteil; sie liebte sowohl das Land als auch seine Bewohner vorbe-

haltlos. Allerdings wäre ihr persönlich, was die Wahl der Wohnstatt betraf, nahezu

jedes polynesische Eiland recht gewesen, denn die zahlreichen Inselgruppen stan-

den einanderan Schönheit und Einfachheit derLebensbedingungen in nichts nach.

Überall konnte der Mensch von der Hand in den Mund leben, sich das ganze Jahr

hindurch an einer wahrhaft verschwenderischen Fülle von Kokosnüsgen, Bana-

nen, Brotfrüchten und Taro laben oder nach Herzenslust Fische und Krebstiere

schlemmen, die es in Hülle und Fülle gab. ImZuge der ausgedehnten Kreuzfahr-

ten an Bord ihrer eigenen Segelyacht,,Casco" hatten Fanny und Louis fast die

gesamte pazifische Inselwelt erkundet und die wenigen verbleibenden Lücken inihren geographischen Kenntnissen durch weitere Reisen ergänzt, aufdem Scho-

ner ,,Equator" etwa oder dem britischen Handelsschiff,,Janet Nicoll", dann auch

auf der S.S. ,,Lübeck" mit ihrem knurrigen, obgleich stets zuvorkommenden deut-

schen Kapitän. Tausende von Seemeilen hatten sie sogar an Bord des Postdampfers

zurückgelegt. Wenn Fanny also mittlerweile, nach all den mühselig erworbenen

Erfahrungen der letzten Jahre, jene sagenumwobenen, beinahe mystischen Orte

recht prosaisch über einen Kamm scherte -Archipele wie die Fidschis, Marshalls,

Salomonen, Marquesas, die Gesellschafts- und die Gilbertinseln zählte sie ohne

große Anstrengung in einem Atemzuge auf -, dann wußte sie sehr gut, wovon sie

sprach. Und nun, nach Ablauf von fünf Jahren, ertappte sie sich immer häufiger

dabei, daß sie nicht nur ohne Unterschied, sondern barjeglicher Begeisterung an

diese winzigen im Ozean verstreuten Paradiese dachte, deren bloße Erwäihnung

ihre amerikanischen Landsleute, Landratten allesamt, unfehlbar in einen Taumel

der Begeisterung gerissen hätte. Fannys Freunde von einst beneideten sie zweifellos

über die Maßen, so wie es die fernen Verehrer ihres Mannes mit Louis hielten. Wie

gr! daIJ siedieWahrheitnichtkannten-undwiegut, daßLouis seinerseits dieWabr-

heit in Kanäle umzulenken verstand, die seinem Geist weit besser bekamen.

Spätestens seit dem vergangenen September wußte Fanny, daß sich ein riesiger

Sägefisch auf ihrer Fährte befinden mußte, der ihnen mit gnadenloser Präzision

den Raum zum Leben raubte, indem er Stäck für Stäck davon zerteilte und Louis

mitsamt seiner Familie auf den jeweils kleineren Rest verbannte. Diesen giganti-

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schen Sägefisch ihrer Phantasie, den Fanny in grimmiger, sarkastischer Nachah-mung eingeborener Bräuche zum ,,Sitz" eines ,,Großen Geistes" erkoren hatte,

nannte sie in Ermangelung des samoanischen Wortes einfach ,,sawfish-u". So

machten es die Samoaner mit den Dingen, die sie nicht kannten: Sie bedienten

sich des entsprechenden englischen Wortes und hängten kurzerhand ein ,,u" an

das für sie fremde Gebilde. Schon seit geraumer Zeit zercägle Sawhsh-u unent-

wegt und unaufhaltsam ihre Welt, unmerklich zuerst, dann immer dreister und

unersättlicher. Am Anfang waren es Europa und Amerika gewesen, zwischen die

und Louis er einen tiefen Riß trieb, bis Louis das Hindernis nicht mehr überwin-

den konnte und vor lauter Elend seinen Stiefsohn Lloyd als Boten auszusenden

gezwungen war, der ihm das herbeiholen mußte, was von seinen Gütern aufjener

anderen Seite der Großen Kluft zurückgeblieben war. Dann, noch im Februar die-

ses Jahres 1893, hatte der Fisch erneut eine ungeheure Portion bewohnbaren Lan-

des abgesägt: Für Louis war es fast schon zu spät, als er merkle, daß er die unsicht-

bare Grenze nach Australien nie mehr ungestraft wtirde übenchreiten dürfen. Syd-

ney hätte ihn um ein Haar getötet. Nun, den Verlust der sogenannten zivilisiertenL?inder wollte er guten Mutes verschmerzen, wenn er nur ungehindert mit seiner

Yacht im schwimmenden Garten Eden der Südsee umherschippern durfte ... Doch

auch hier schlug Sawfish-u erbarmungslos zu. Vor zwei Monaten, im September,

hatte Fanny ihm in h<ichster Not zu Hilfe eilen und den Todkranken von Honoluluheimbringen müssen - oder wenn vielleicht nicht wirklich ,,heim", dann doch

zumindest nach Samoa. Kaum war die Barriere überquert, die Sawfish-u geschaf-

fen hatte, kaum hatte Louis wieder den Boden von Vailima betreten, war die Krank-

heit von ihm gewichen, als sei sie niemals über ihn hergefallen. Seine Kräfte kehr-

ten wieder, wie von Zauberhand zurückgebracht, garz als ob das gastfreundliche

Land selbst ihn großzügig damit segnen wollte. Hier war er willkommen, gesund

und sicher. Ob damals, zu Beginn des Südseelebens, Louis in weiser Voralrnung

Samoa ausgesucht oder aber Samoa ihn erwählt hatte - wer vermochte das mitletzter Gewißheit zu sagen? Louis schuldete der Insel größten Dank, das wußte er,

und er gedachte sich auf seine Art erkenntlich zu erweisen, Es lag nicht in seiner

Natur, jemals eine Verantwortung abzulehnen.

Ein wichtiges Element der heilenden Kraft des Eilandes bestand gemäiß Fannys

tiefuerwurzelter Überzeugung in einer bemerkenswerten geographischen Eigen-

heit: Obwohl Samoa eigentlich eine Ansammlung von Koralleninseln darstellte,

die sich normalerweise nur unwesentlich über den Meeresspiegel erhoben, besaß

Upolu eine veritable Bergwelt, wie sie in der Südsee nicht ihresgleichen fand.

Louis hatte Vailima, das höchste Stück Land des Archipels, erworben und wohnte

nun mit seinem Klan direkt unterhalb der obersten Spitze des Berges Vaea. Der

Berg wirkte wahre Wunder für seine Gesundheit und obendrein in verschiedener

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Hinsicht. wäihrend das Klima durch Einflüsse, die keinAfi diagnostizieren konnte,seinen spindeldtinen Körper stärkte und stählte und ihm eine unerhörte wider-standskraft verlieh, um die ihn mancher weiße hier beneidete, beflügelte der Blickvom Hochland hinunter zur See seine Phantasie und mobilisierte gleichzeitig sei-ne seelische Energie, Schließlich wußte kein Mensch auf Erden so genau um dieheilende wirkung des Gebirges wie ausgerechnet ein gebürtiger schotte, der nochdazu eine ellenlange Liste an waschechten Highland-Vorfahren aufzuweisen hat-te. Louis fand im Hochland von Upolu seine Highlands wieder, so gut es seinevorstellungskraft eben einzurichten vermochte. und was die sprichwörtliche ver-achtung betraf, die jeder Highlander mit Blut in denAdern und Mark in den Kno-chen für die degenerierten Lowlander empfand - auch sie hatte hier ihren platz.

Fannys Göttergatte galt als ein Philanthrop, der keinem Menschen etwas zuleidetat undjedem half, ob arm oder reich, mächtig oder unbedeutend. Das entsprachvollauf der wahrheit. Doch gleichzeitig lebte tief in seinem Innern ein Hochland-bewohner, wild, unbezähmbar und stolz bis an die Grenze zur Arroganz, der mitFug und Recht den höchsten Platz in der Gemeinschaft beanspruchen zu dürfenglaubte. wer allerdings diese Überlegenheit willig akzeptierte, den überschütteteer mit Zeichen seiner aufrichtigen Freundlichkeit. Heute, an seinem Geburtstag,stellte er zudem erneut eine seiner größten Hochlandtugenden unter Beweis, dieder unumschränkten Gastfreundschaft. Seine Feier, so wußte Fanny schon jetzt,mußte als Hauptgesprächsstofffür das nächste halbe Jahr herhalten. Und sie wür-de diesen Stellenwert im Inselleben auch verdienen.

So feierte Louis in den Highlands von Samoa seinen Ehrentag, hoch droben aufseinem Bergsitz, umgeben von der unermeßlichen Weite der pazifischen See, diezu durchstreifen er nicht länger imstande war, obwohl er eine wunderbare yacht

sein eigen nannte. Draußen auf dem Meer lauerte der Große Sägefisch, der Louis,wenn er ihm schon nicht endgültig den Garaus machen konnte, in einen Gefange-nen der Insel verwandelte. Auf dem schützenden Berg war schwerlich an ihn her-anzukommen; trotzdem beschlich Fanny das Gefühl, daß der Fisch seine Zeit ge-duldig abwartete, insgeheim auf einen Fehler oder eine Unvorsichtigkeit des Be-lagerten hoffend. Im Wasser war etwas, Fanny spürte es genau. Falls Sawfish-uresignierte, gab es immer noch Myriaden von Haien, die die Insel in immer engerwerdenden Kreisen umrundeten ...

,,Unsinn! Verdammter abergläubischer Unsinn! Reiß dich gefälligst zusammen,Fanny!"

Fanny war abrupt mitten auf dem Fußpfad stehengeblieben, angewidert vonihrer eigenen Furchtsamkeit, die beinahe noch größere und saftigere Blüten triebals die Schlingpflanzen um sie her. Energisch stampfte sie mit dem Fuß auf, wäh-rend sie laut mit sich schimpfte. Hier hörte sie ja zum Glück niemand. Die Erfah-

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rung hatte sie gelehrt, daß es ihr am besten gelang, sich zu Ruhe und Gelassenheit

zu zwingen, wenn sie ab und zu ein Wort mit sich selber wechselte. Louis war das

ein Greuel. Gerade in der letzten Zeit schien er so manches Mal an ihrem Geistes-

zustand zu zweifeln. Fanny erkannte seine diesbezügliche Sorge an dem zutiefst

skeptischen Blick und seinen zwar charmanten, aber leicht verkrampften Bemü-

hungen, ihre,,Stimmung" aufzuhellen. Frauen galten als klassische Spielbälle ih-

rer Launen - obgleich Fanny nie zur Hysterie geneigt hatte, war,,Stimmung" auch

für ihren Mann eine plausible Erklärung.

Andererseits hätte Fanny unter keinen Umständen für sein ,,feines Benehmen"

garantieren mögen, wenn sie zum heutigen Wiegenfest ihres Gatten tatsächlich

dasjenige Geschenk besorgt hätte, welches sie vor nur drei Monaten noch fest im

Auge gehabt hatte. Vor besagter Frist w?ire er von ihrer Idee entzückt, ja begeistert

gewesen, ihm jenes Flaschenschiff zu verehren, das bereits seit etwa einem

Dreivierteljahr in der Auslage von Jack Gardiners Kramladen unten in Apia die

Bewunderung aller Passanten aufsich zog. Besonders die Eingeborenen schienen

von dem guten Sttick kaum wegzubekommen: Zu groß war ihre Faszination. Nicht

zuletztaus diesem Grunde zeigte sich Gardiner, Seebär im Ruhestand und neben-

bei ein Erzhalunke, dermaßen unwillig, sich von dem winzigen Dreimaster

,,Caledonia" zu trennen, der durch sein gläsernes GefZingnis hindurch alle Men-

schen verzauberte, Weiße wie Farbige. Fanny wußte, daß der Besitzer des Hotels

,/um deutschen Heinrich" - ein Holländer namens Van de Jong, der gewiß nicht

l{einrich hieß - seinen Ladennachbam schon seit geraumer Zeit vergeblich be-

rchwatzte, ihm das Prachtexemplar von einem Flaschenschiffzu verkaufen. Doch

das alte Schlitzohr Gardiner hegte eine rührende Schwäche für Fanny, ein

npinnwebzartes Gefühl, das ihn seine angeborene Durchtriebenheit urplötzlich

vcrgessen ließ, wenn sie seinen Laden betrat. Der verehrten Fanny wollte er sei-

ncn Stolz, die ,,Caledonia", bereitwillig abheten ... natärlich gegen Bezatrlung,

rlenn ganz so weit ging seine Liebe zu ihr nun auch wieder nicht.

Doch die Ereignisse der letzten Monate bereiteten Fannys schönem Plan ein

jiihes Ende. Im vergangenen Jahr hätte sich Louis über solch ein Geschenk gefreut

wie ein kleiner Junge; von dem Schiffselbst wäre er ebenso hingerissen gewesen

wie von der beziehungsreichen Anspielung, die hinter ihrer Gabe steckte. Heute

jedoch würde ihn derselbe Hintersinn über alle Maßen quälen: ein schottisches

Schiff, eingezwängt in ein durchsichtiges, aber undurchdringliches Gef?ingnis!

[Jnter normalen Bedingungen war Louis kein Mann, der vor Wut mit Gegenstän-

rlcn um sich warf oder sich zu Handgreiflichkeiten hinreißen ließ - um die

,,(ialedonia" allerdings wdre es möglicherweise bald geschehen gewesen. Eine

e inzige ungeschickte Bewegung seinerseits genügte ... So nahm Fanny lieber recht-

ze itig Abstand von dem zum Scheitern verurteilten Unterfangen.

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Fanny blieb erneut stehen, diesmal, um ein wenig auszuruhen. Der Weg gestal-

tete sich immer beschwerlicher, obwohl das kaum möglich schien. Die Sonne war

mittlerweile emsthaft im Untergehen begriffen, eine sachte Brise wehte; in der

feuchten Luft aber geriet schon das Atmen zur Tortur. Vailima war ein ausgedehn-

tes Sttick Land,3l4tlz Morgen fruchtbarsten Inselbodens, mit einem Gef?ille von

insgesamt gut 1.000 Fuß. BeimAbschluß des Handels hatte man Louis und Fanny

erklärt, was Vailima bedeutete: das Land der fünf Ströme. Abgesehen davon, daß

man strenggenommen das Wort,,Strom" nicht aufjeden derFlüsse anwenden konn-

te, da zwei von ihnen nicht viel mehr als Rinnsale darstellten, zwei andere dage-

gen mancherorts eindrucksvolle Kaskaden von etlichen Hundert Fuß Höhe bilde-

ten, war der Name Vailima durchaus ineführend - es gab nämlich nur vier Flüsse,

die vom Mount Vaea entsprangen und sich kreuz und quer über das Areal ver-

teilten. Kein menschliches Auge, oder zumindest kein Auge eines Weißen, hatte

jemals den sagenhaften fünften Strom erblickt, der das Land scheinbarderart nach-

drücklich prägte. Louis und Fanny war dieses nebensächliche Detail von Herzen

gleichgültig gewesen. ,,Vier Flüsse dürften völlig zum Leben ausreichen", hatte

Louis damals gescherzt, ohne eine Miene zu verziehen, und dann hinzugefügt,

daß seiner Meinung nach die Eingeborenen nicht zählen könnten oder wollten

oder garu einfach die Fünf für interessanter, weil magisch bedeutungsvoller hiel-

ten. Damit erledigte sich die Sache. Keiner der beiden verfiel auf die Idee, ernst-

haft nach jenem verschollenen flinften Fluß zu suchen. Sollte er doch im Nie-

mandsland verschwunden bleiben bis zum Jüngsten Tag! Es sei denn, daß Fannys

Fuß einmal zuf?illig an sein Ufer stoßen sollte.

,,Oh!" entfuhr es der überraschten Fanny unwillkürlich.

Für den Bruchteil eines Augenblicks verlor sie die Orientierung. Sie wußte nicht,

wo sie sich befand. Eben noch hatte sie sich mühsamst ihren Weg durch den nahe-

zu undurchdringlichen Urwald gebahnt, ihr Bündel mit Malutensilien auf dem

Rücken; nun stand sie plötzlich vor einem riesigen Tor, mitten im Dschungel! Und

das verschlossene Tor bildete den einzigen Durchlaß in einem mehr als mannsho-

henZavr, der den Pfad hoffnungslos blockierte, weil er sich links und rechts wei-

ter erstreckte, als Fannys Auge reichte! Helle Panik ergriff sie. Wie sollte sie an

diesem furchtbaren Hindernis vorbei nach Hause gelangen? Louis wartete schon

auf sie ...

,,Du bist und bleibst ein dummes Frauenzimmer, Fanny." Sie sprach die Worte

leise, für sich. Kaum war ihr wieder klar, wo sie sich befand, kam ihr das Lächer-

liche ihrer Situation und ihres Benehmens schmerzlich zu Bewußtsein. Mögli-cherweise war Louis' Sorge um ihren Geisteszustand doch nicht völlig aus der

Luft gegriffen. Fanny machte lieber die schwüle Atmosphäre und die körperliche

Anstrengung für ihre momentane Verwimrng verantwortlich. Trotzdem empfand

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sie Scham: Der Schreck, der ihr in sämtliche Glieder gefahren war, schien durch

nichts zu rechtfertigen. Dort vor ihr lag das magische Reich, Tusitalas Zauber-garten - nicht mehr und nicht weniger. Der Große Tusitala war für seine über-

schwengliche Gastfreundschaft auf der ganzen Insel berühmt. Nie war es ihm ein-gefallen, Freunde oder Fremde draußen vor dem Tor stehenzulassen oder sie un-

verrichteter Dinge wieder hinaus in den Dschungel zu schicken. Daß er überhaupt

einen riesigen Wall um sein Reich hatte ziehen lassen, erschien auf den ersten

Blick eigenartig, das stimmte schon. Aber der hohe Zaun stellte weder einen Schutz

noch eine ernstgemeinte Barriere dar; der mächtige Tusitala brauchte keines von

beiden. Zwar gab es nirgendwo sonst auf Upolu etwas Vergleichbares - nicht ein-

mal das Anwesen des deutschen Gouverneurs wartete mit einem richtigen Zaun

auf, geschweige denn das des amerikanischen Gouverneurs auf der Nachbarinsel

Tutuila -, doch das hatte auch seine Richtigkeit. Tusitalas Macht reichte viel wei-ter als der Einfluß der politischen Henen, die unter Lärm und Getöse kamen und

gingen und letztendlich doch keinen der Bewohner nachhaltig zu beeindrucken

verstanden. Mit der Einfriedung sagte der Große Tusitala schlicht: ,,Seht her, dies

ist mein Reich. Jeder ist hier willkommen." Tusitala, ein ausgesprochen eigenwil-liger Christ, hielt nichts von Engeln mit Flammenschwedern, die sein Paradies

vor Unbefugten abschirmten; er wollte es lediglich für jedermann kenntlich ma-

chen, so daß erst gar kein Zweifel aufkam, worum es sich dabei handelte.

Wie um Fannys Einschätzung der Lage bestätigen zu wollen, kam nach weni-

gen Sekunden ein junger Eingeborener zum Tor gelaufen. Fanny hörte von drau-

lJen seine übermütigen Sprünge, kurz bevor er eilfertig die Passage für sie öffnete.

Der Junge trug den landesüblichen Lavalava, eine Art Wickelrock aus Tapa, dem

Material, das die Samoaner aus hauchdünnen Baumrindenschichten zu fertigen

pflegten. Das Muster des Kleidungsstücks dagegen wies den bronzehäutigen Jiing-

ling eindeutig als Gefolgsmann des Großen Tusitala aus. Wer seinen Lavalava mitden Farben, in den Zeichen des Zauberers trug, gab damit zu erkennen, daß er dem

mächtigen Mann bedingungslos ergeben und praktisch alles für ihn zu tun bereit

war. Tusitalas Herrschaft hatte nichts mit Versklavung zu tun; seine Mannen und

lirauen verehrten ihn aus tiefstem Herzen und gaben sich ihm bereitwillig hin.

Anders als aus freien Stticken ließ sich ein echter Samoaner nämlich erst gar nicht

in Fesseln legen.

,,Talofa!" begrüßte der Torwächter Fanny, und seine großen, schwarzenAugen

blitzten sie vergnügt an.

,,Talofa, Mafulu", erwiderte Fanny freundlich die Anrede und durchschritt das

lbr ohne weitere Aufforderung.

Augenblicklich und ohne Vorwarnung senkte sich der magische Bann auf sie

rrieder, der dem Garten innewohnte. Fanny kannte Tusitalas Reich nun schon so

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langeZeil,und trotzdem erstaunte sie noch immer der krasse Gegensatz zwischen

dem Land ,,draußen" und dem prachtvollen Garten innerhalb der Umzäunung,

Tusitalas Land zeichnete sich nicht etwa durch eine üppige Vegetation aus - das

hätte auf Samoa keine Menschenseele in Verwunderung versetzt. Das exakte Ge-

genteil war der Fall: Sein Territorium hatte man gründlich von allem befreit' was

dem Wanderer draußen die Luft nahm. Hier endlich konnte man frei durchatmen,

denn der Dschungel hatte einer gigantischen Lichtung weichen müssen, einem in

seiner Weiträumigkeit beinatre beängstigenden Nichts, Hier durften bloß diejeni-

gen Pflanzen wachsen, denen Tusitala das Wachsen erlaubte, und er tolerierte ein-

zig und allein die Rasenfläche, die seine Wohnstatt umgab. Der Rasen war von

sattestem Grän, streichholzktxz,überaus gleichmäßig und gewissenhaft von jeg-

lichem Unkraut gesäubert. Ihn zu Fuß zu überqueren, dauerte mehr als fünfge-

schlagene Minuten, so weit erstreckte er sich.

wzihrend Fanny auf das imposante Haupthaus ntging, welches zweifelsohne

den ehrfurchtgebietendsten Herrensitz von Samoa, womöglich in der gesamten

Südsee darstellte, hörte sie schon die vertrauten Klänge, die aus dem untersten

stockwerk drangen und sich in leisen, einschmeichelnden windungen den weg zu

ihrem Ohr bahnten. Der Schlangenbeschwörer spielte demnach gerade sein

Flageolett, wie er es so oft tat; die unwirklich hohen Töne der Flöte durchzogen

sanft, unaufdringlich, aber unaufhaltsamer als der Wind jeden Winkel des Anwe-

sens. Niemand vermochte sich gegen den Einfluß dieser eigenartigen Musik zu

wehlen, die sich in phantastischen Kadenzen halb klagend, halb liebkosend in die

Seelen der Bewohner schlängelte.

Fanny, die die betäubende wirkung des Flageolettspiels bereits seit vielen Jah-

ren kannte, wußte nicht, ob sie das Instrument lieben oder hassen sollte.

,,Da bist du ja endlich, Mutter!" wurde sie ungehalten von ihrer Tochter Isobel

begrüßt, die geschäftig auf der Veranda hin und her lief. ,,Hast du etwa vergessen,

daß heute Tusitalas großer Tag ist? Zunttrauen wäre es dir. Tusitala hat nach dir

gefragt, mehrmals schon. Du mußt dich noch umziehen!"

Plötzlich stieg Zorn in Fanny auf. Wie kam Belle dazu, so mit ihrer Mutter zu

reden? Belles an Schwachsinn grenzende Verehrung flir ihren Stiefoater ließ sich

manchmal kaum ertragen; aber daß sie auch noch im trauten Familienkreis den

ihm von den Eingeborenen verliehenenTitel benutzte, als sei es sein Taufname ...

das ging Fanny dann doch zu weit.

Fannybeschloß, den charme seines Flötenspiels mit Gewalt zu ignorieren. Nur

so konnte man sich hier Gehör verschaffen.

,,Louis, um der Barmherzigkeit willen", flehte sie durch das Fenster zu ihm

hinein, ,,hör mit dem schaurigen Quieken auf. Die schweine für das Festmahl sind

längst geschlachtet,"

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Page 14: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Abrupt endete das Spiel drinnen in der Bibliothek. Einige Sekunden lang hensch-

te völlige Stille, dann begann ein höllisches Spektakel, ein infernalischer LZirm,

der Fanny z\ tdng, sich mit aller Kraft die Hände vor die Ohren zu pressen. Wild

und schrill jagten die hohen Töne des Flageoletts einander in den tollsten Disso-

rLanzen, bis man tatsächlich glauben konnte, im Haus würde gerade jemand unter

unsäglichen Qualen niedergemetzelt und dies seien seine jämmerlichen Todes-

schreie. Ein paar Momente dauerte das Konzert, dann schwieg das Instrument

endgültig. Fanny wußte, daß dieser kleineAusbruch ihr gegolten hatte. Louis be-

nahm sich häufig wie ein verzogenes Kind, das unbedingt das letzte Wort behalten

mußte, besonders darur, wenn Fanny ihm die Flötentöne auszutreiben wagte. Aber

ohne durch das Fenster zu schauen, wußte sie auch, daß Louisjetzt sein eigentüm-

liches Lächeln aufgesetzt hatte, jenes etwas schiefe, hintergründige Grinsen, das

schon in Frankreich ihren Sohn Lloyd dermaßen für ihn eingenommen hatte.

,,Mama", hatte der kleine Lloyd damals voller Angst und Wonne geflüstert, ,,der

Mann da sieht aus wie der böse Wolf im Märchen!"

Fanny wandte sich vom Bibliotheksfenster zurück zu ihrer Tochter Isobel. Ge-

rade hob sie zu fragen an, ob schon alles für das Fest gerichtet sei, als Belle aufge-

regt mit dem Finger in Richtung Tor deutete.

,,Da kommen schon die ersten Gäste! Mutter, ich bitte dich, beeil dich mit dem

Umziehen! Du als Gastgeberin ..."Fanny drehte sich übenascht um. Tatsächlich: Vier der Geladenen, alle zu Pfer-

de, betraten in Zweierreihen das Grundsttick. Es waren die wenigen Weißen, die

Louis auf seinenAusritten angetroffen, für interessant genug befunden und herbe-

stellt hatte. Zwei ältliche Fräulein waren darunter, demAussehen nach Englände-

rinnen; des weiteren der Kapitän des Postschiffes sowie ein stämmiger Mann mitt-

leren Alters, den Fanny nicht kannte. Er saß wie ein Mehlsack auf dem kleinen

Inselpferd und blickte ein wenig unglücklich drein - offenbar bescherte ihm das

Reiten keine rechte Freude. Demnach war er höchstwahrscheinlich wederAmeri-

kaner noch Engländer.

,,Das ist mal wieder typisch!" schimpfte Fanny. ,,Von den Weißen zumindest

sollte man erwarten därfen, daß sie sich an die ausgemachte Zeit halten. ,Nichtvor Einbruch der Dunkelheit', haben wir doch ausdrücklich gesagt!"

,,Schau dich um, Mutter", meinte Belle darauf nur trocken.

Fanny stutzte, tat dann aber wie ihr geheißen.

,,Oh-oh." In den vergangenen Minuten hatte sich die Dämmerung in Finsternis

verwandelt. Fanny hatte die Besucher nur deswegen so deutlich erkemen können,

weil neben jedem der Gäste zwei fackeltragende Bedienstete einherschritten.

,,Ich bin schon weg", rief Fanny ihrer Tochter über die Schulter zu und eilte ins

Haus. Dann fiel ihr etwas ein. Sie streckte noch einmal den Kopf aus derTüröffirung.

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,,Begrüß du die Leute, sei so lieb. Und sag deinem Stiefrater Bescheid. Er istsicher schon gestiefelt und gespornt."

,,,{ber ich kann doch nicht ..." Belle wollte noch etwas sagen, doch Fanny warlängst im Haus verschwunden.

Fanny hetzte an der Bibliothek vorbei, die Treppe hinauf zum ersten Stock, wosich ihr Ankleidezimmer befand. Dort angekommen, machte sie sich nicht die

Mtihe, ein Licht anzuzänden; wenigstens ihre Garderobe hatte sie wohlweislichheute morgen schon zurechtgelegt. Während sie sich die vom Schweiß durchnäß-

ten Kleider vom I eib schälte, warf sie regelmäßige Blicke auf die Rasenfläche

draußen. Im Schneckentempo nZiherten sich die Reiter der Veranda. In einiger

Entfernung vom Haus stiegen sie nun ab und überließen ihre Pferde den

eingeborenen Begleitern, Tusitalas Untertanen, die die Tiere wegführten und ver-

sorgten. Andere Bedienstete nahmen ihren Platz ein und geleiteten die Weißen

unter fröhlichen ,,Talofa"-Rufen ins Haus. Der Rasen war übersät von teichtfijSighin und her huschenden fackeltragenden Gestalten.

Fanny beschloß nach kurzer Überlegung, sich trotz der vorgeschrittenen Stun-

de nicht mit einer Katzenwäsche zu begnügen; sie fühlte sich von den Anstren-

gungen des Tages ausgelaugt und ließ sich für ihre gründliche Körperpflege mehr

Zeit, als sie sich erlauben konnte. Das KokosöI, mit dem die Eingeborenen sichgewöhnlich einrieben und das ihren braunen Leibern einen fast unirdischen Glanz

verlieh, vertrug Fanny zu ihrem Leidwesen nicht. Ihre Haut litt täglich mehr indiesem Klima; oft befielen sie grundlos regelrechte Schweißausbrüche, während

ihr Mann, wie es die Briten so treffend auszudräcken verstanden, stets kühl bliebwie eine Gurke.

Endlich war Fanny für die Festlichkeiten eingekleidet und machte sich auf den

Weg ins Erdgeschoß, wo, wie sie wußte, ihr Mann mit den wenigen Weißen aufdie eingeborenen Gäste wartete. Am heutigen Tage würde ein rundes Dutzend

Häuptlinge Tusitala die Ehre geben; das wäre an sich nichts Besonderes mehrgewesen, hätten sich unter den Geladenen nicht auch drei Gefolgsleute von KönigMataafa befunden, die Louis und Fanny vor einigen Monaten unter recht dramati-

schen Umständen kennengelernt hatten. Sie schienen Louis ganz besonders ans

Herz gewachsen zu sein, denn er zeigte seit Wochen Ungeduld.

Aus einern der unteren Räume drang blauer Rauch nach draußen. Fanny lä-

chelte. Das war kein Grund zur Beunruhigung. Der Qualm bewies, daß sich unter

Louis'weißen Geburtstagsgästen keine Tabakverächter befanden. Fanny selbst,

Louis, Lloyd und sogar Belle rauchten daheim und auf Reisen wie die Schlote;

Louis hatte einmal, nachdem ihnen auf ihrer Yacht ,,Casco" der Tabakvonat aus-

gegangen war, mit himmelwärts verdrehten Augen bemerkt, er könne unter Um-

st2inden sein Leben ohne Fleisch und ohne Mehl fristen, aber niemals - niemals! -l8

Page 16: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

ohne seinen geliebten Tabak. Das war einer der Grtinde gewesen, warum Louis sofort

eine garue Plantage seiner bevorangten amerikanischen Sorte hatte anlegen lassen.

Fanny hörte Louis bereits von der Treppe aus. Offenkundig hatte er sich in der

Runde seiner Gäste längst warmgeredet.

,,... besuchte ich vorkurzem eine weiße Dame und mußte zu meinem Ent-

setzen bemerken, daß die armen jungen Dinger in ihrem Haushalt von ihr dazu

gezwungen wurden, europäische Kleider nrtragent. Ich machte ihr diesbezüglich

natürlich Vorhaltungen. Stellen Sie sich vor, was sie mir zur Rechtfertigung auf-

tischt: ,Selbstverst?indlich sind meine Mädchen von Kopfbis Fuß bekleidet', sagt

sie, ,ich lasse keine Frau in meine Nähe kommen, die nicht überall verhüllt ist.'Daplatzte mir der Kragen. ,Frau!' donnerte ich, ,ist dein Denken so verrottet, daß

du die Schönheit, die der allmächtige Gott geschaffen hat, nicht in der ihr eigenen,

gemäßen Form sehen und bewundern kannst? Verstehst du denn nicht, daß ihre

eigene Kleidung dem Klima und ihrer einfachen Lebensweise perfekt entspricht?

Und begreifst du nicht, weiße Frau, daß deine erste Untat nach der Landung aufdieser schönen Insel darin besteht, ihre Seelen zu beschmutzen und ihre beschei-

denen Gedanken zu vergiften?' Ich glaube, der armen Frau klingen nach meiner

Zurechtweisung noch heute die Ohren."

Fanny hörte das leise Lachen der Anwesenden und trat nt ihnen in die Bi-bliothek. Wie sie vermutet hatte, labten sich alle Gäste an den Leib-und-Magen-

zigarctten des Hausherrn und Geburtstagskindes. Auch die beiden englischen La-

dies beteiligten sich bereitwillig an der Darbringung des Rauchopfers. Daß ausge-

rechnet hier, inmitten der riesigen Regale voller wertvoller Bücher, so ausgiebig

Tabakqualm verbreitet wurde, störte den Besitzer der Kostbarkeiten nicht im ge-

ringsten - im Gegenteil. Die ledernen Einbände mußten sowieso mit mehreren

Firnisschichten überzogen werden, um sie halbwegs effektiv vor den Unbilden

der Witterung und vor den Insekten zu schützen, die sich überall einschlichen; wiekonnte ein zusätzlicher Schutz durch Räucherung da wohl von Übel sein?

Als Louis Fannys Eintreten bemerkte, nahm er sie galant bei der Hand und

stellte sie nacheinander denAnwesenden vor. Louis selbst satr wieder einmal pracht-

voll aus, bemerkte Fanny im stillen. Hochaufgeschossen und dün, wie er war,

machte er doch einen mehr als imposanten Eindruck aufjeden Menschen, den er

traf, Mann und Frau gleichermaßen. Seine aufrechte, gerade Haltung verriet den

Stolz seines Wesens; seine schwarzen, manchmal verwegen glitzemden Augen

inmitten dieses für einen Schotten auffallend dunkelhäutigen Gesichtes wirktenbedrohlich und anziehend zugleich. Wieder mußte Fanny an einen frtiheren Ver-

gleich ihres Sobnes Lloyd denken, der immer schon ein unverbesserlicher roman-

tischer Schwärmer gewesen war: ,,Mama, der Mann da sieht aus wie ein mexika-

nischer Vaquero. Wann willst du ihn endlich heiraten?"

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Louis trug wie jedermann im Raum einen Blütenkranz aus betörend duftendern

Jasmin, was ihn womöglich noch abenteuerlicher erscheinen ließ. Auch Fanny

erhielt nun diesen Willkommensgnrß aus den H?inden eines ihrer Mädchen, das

den hier üblichen Lavalava trug - und nichts sonst. Fanny blieben die erstaunten

Blicke der Ladies, die tatsächlich Engl?inderinnen aus Bristol waren, und beson-

ders des unwilligen Reiters von vorhin nicht verborgen. Letzterer, ein Franzose

namens Raoul Dupont, war noch ein Neuling, was das Inselleben betraf; dem

Wohlgefallen nach zu urteilen, welches er für das Mädchen Cipau an den Tag

legte, würde er sich allerdings r!cht bald auf Samoa einleben.

,,Ich muß Ibren Ausführungen von vorhin aus ganzem Herzen beipflichten",

sagte er nun lächelnd. Es war ein Lächeln, das Fanny gar nicht gefiel. ,,Gottes

Schönheiten sollte man in der natürlichen, ihnen gernäßen Form genießen dürfen.

Ich halte Ihre Bemühungen in dieser Hinsicht für exernplarisch. So ein - wie heißt

der Fetzen? - so ein Lavalava ist in der Tat viel praktischer alsjede Spielart euro-

p2üscher Kleidung. Aber wie in aller Welt sind Sie darauf gekommen, ihnen dieses

originelle Muster zu geben? Einfach bezaubemd, muß ich sagen."

Fanny bezog die letzte beifällige Bemerkung eher auf die Reize des Mädchens

als auf das Muster ihres Rockes. Sie sagte nichts. Sie wußte, daß auch Louis sich

mit Gewalt zusammenreißen mußte, la,enngleich aus einem völlig anderen Grund.

,,Ich sehe, daß Sie mit der Bekleidung der schottischen Hochlandbewohner nicht

unbedingt vertraut sind." Seine Stimme klang sanft. ,,Meine Leute tragen das kö-

nigliche Tartan-Muster des Stuart-Klans." Louis lächelte sein Wolßlächeln.

,"Ah. Ich verstehe." Der Franzose nickte, fügte aber nach einem Moment hinzu:

,,Und was hat dieses reizvolle Muster mit der Eigenart der Eingeborenen zu tun,

wenn Sie mir die Frage höflichst gestatten?"

Louis'Miene blieb unverändert freundlich, sein Ton mild, als er antwortete:

,].{un, das ist offensichtlich. Das Muster des Stuart-Klans paßt perfekt zu ihrer

bronzefarbenen Haut."

Einige Sekunden lang henschte verwirrtes Schweigery dann erfolgte allgemeines

Gelächter, in das Louis aus voller Kehle mit einstimmte. Seine schwarzen Augen

sprähten Funken.

Ein erstaunterAufschrei des vierten weißen Gastes unterbrach plötzlich diesen

trügerischen Heiterkeitsausbruch. Dupont und die Ladies aus Bristol wandten sich

abrupt zu der Quelle des Aufruhrs um. Samuel Clayborne, seit kurzem Kapit?in

des Postschiffes, das zwischen Samoa und den Neuen Hebriden verkehrte, haffe

sich, statt sich am Gespräch zu beteiligen, mit größter Aufrnerksamkeit in der

Bibliothek umgesehen. Die Regale, die der schottischen Geschichte vorbehalten

waren, fanden sein ungeteiltes Interesse, während er mit der Abteilung französi-

scher schöngeistiger Literatur offenbar nichts anzufangen wußte. Er hatte sich zu

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Page 18: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

einer dritten Hauptsektion der umfangreichen Büchersammlung durchgearbeitet

und war gerade damit beschäftigt gewesen, jeden Buchdeckel eingehend zu stu-

dieren, als ein Band darunter seine besondere Neugier geweckt hatte. Dieses Buch

hielt er nun in der Hand.

Eswar Die Schatzinsel.

,,Sir." Claybornes Stimme klang belegt; es fiel ihm sichtlich schwer, seine Ge-

fühle auszudrücken. ,,Sir", sagte er zum wiederholten Male. ,,Verzeihen Sie mirbitte. Meine Unwissenheit ist beschlimend."

,,Was sollte ich Ihnen denn verzeihen, guter Mann?" fragte Louis, der dieAnt-wort kannte. Szenen wie die, welche unfehlbar folgen würde, spielten sich in Vailima

häufig genug ab.

,,Sir, ich bin ein ldiot. Da habe ich nun tausendmal gehört, daß auf Samoa ein

weltberühmter Romancier wohnt, und kenne Ihren werten Namen - und kann doch

zwei und zwei nicht zusammenzählen!" Der Kapitän war den Tränen nahe.

,,Wieso? Was ist denn los?" wollte Dupont wissen.

,,IJnser verehrter Gastgeber ist niernand geringerer als der große Robert LouisStev.enson!"

,,Ach so", nickte Dupont wieder. ,,Verstehe."

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Bevon onn sesrüRzrn Kapitän Clayborne Gelegenheit erhielt, weiter seine auf-

richtige Zerknirschung zu beteuern, stärzte plötzlich Isobel in den Raum. Auch sie

hatte ihre Kleidung gewechselt, wie Fanny mit einem Hauch von Wehmut zur

Kenntnis nahm: Das lange, enganliegende weiße Seidenkleid mit der wertvollen

Petitpoint-Stickerei, das in diesem Klima schon nach einer halben Stunde zu einer

unerträglichen Belastung werden und sich nach einer weiteren Stunde unweiger-

lich in einen schweißdurchtränkten Lumpen verwandeln wtirde,-ließ Isobel im

Augenblick noch erstrahlen wie eine frische Lilie. So kleidete sich normalerweise

eine junge Braut, fand Fanny.

,,Sie sind angekommen!" verkündete Isobel nun freudestrahlend. ,,Die Häupt-

linge und ihre Frauen sind da!"

IsobelsAugen suchten die ihres Stiefraters, doch sobald sich ihre Blicketrafen,

schaute sie sofort zu Boden und errötete bis in den Ansatz ihres langen, ebenmä-

ßig geschwungenen Nackens hinein. EinAusdruck rührender Unschuld lag in ih-

rem Gesicht und in ihrer Haltung, eine jungfräulich anmutende Mischung aus

Schamhaftigkeit und atemloser Erwartung, wie sie zu einer geschiedenen Frau

und Mutter eines kleinen Sohnes nicht recht passen wollte.

Louis schien das alles nicht zur Kenntnis zu nehmen. Genau wie er es Minuten

zuvor mit seiner Gattin getan hatte, nahm er nun Belles HZinde in die seinen und

führte die leicht widerstrebende junge Frau in die Runde seiner Gäste ein.

,,Dieses wunderschöne Geschöpf ist meine Tochter Isobel."

Fanny durchrieselte es kalt bei seinel Worten. Was sie verspärte, war nicht etwa

eine Aufivallung von Eifersucht - sie wußte oder glaubte zumindest zu wissen, daß

sie Belle und auch Louis bedingungslos verfauen konnte, was ihrer beider Respekt

vorder ehelichen Treue betraf. Andererseits war sie weit davonentfemt Louis'durch-

aus wohlbedachten Ausspruch als ein bloßes Zeichen väterlichen Stolzes zu deuten.

Warum sagte er nicht ,,meine Stieftochtet'', wie es nun einmal dan Gegebenheiten

entsprach, oderbesser noch,,unsere Tochter"? Belle sollte niernandem als sich selbst

gehören. Ihre Mutter stellte keine Besitzansprüche an ihren Nachwuchs, hatte es nie

getan. Belles Stiefuater hätte einen diesbezüglichen Vorwurf meilenweit von sich

gewiesen, und ein jeder seiner Bekannten w?ire flugs zur Stelle geeilt, um seine sprich-

wörtliche Selbstlosigkeit zu bestätigen und zu verteidigen. Und keiner von ihnen

hätte im entfemtesten geatrnt dalJ auch er Louis längst erlegen war - denn Louis hatte

sich sein Leben lang als ein unendlich sanfter Eroberer erwiesen. Die Methoden je-

doch tinderten nichs am Resultat seiner Feldzäge.

Belle nahm noch immer die zahlreichen Komplimente entgegen, die man ihr

darbrachte, wobei sich die Kommentare der Bristoler Damen auf ihre erlesene

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Garderobe bezogen und die Schmeicheleien der Herren, obgleich dezent, eher aufden Inhdt derselben abzielten. Die Blicke des Franzosen klebten fiirmlich an Isobels

schlanker, hochgewachsener Gestalt.

,,Ich störe das amüsante Geplauder nur ungern", fuhr Louis dazwischen undbeendete abrupt die Huldigungen. ,,Belle, mein Liebling, hast du zufiillig sehen

können, ob sich unter den Ankömmlingen die drei Häuptlinge befinden, die zuKönig Mataafas Gefolgschaft gehören?" Erwartungsvoll sah er sie an.

Wieder richtete sich Belles Blick auf Louis, prallte formlich an seinen schwar-

zenAugen ab und schien nach einem imaginären Gegenstand auf dem Fußboden

zu suchen.

,,Ja, die drei Männer, auf die du wartest, sind bei ihnen."

,,Gut. Sehr gut." Louis rieb sich zufrieden die H?inde und drängte dann die

weiße Gästeschar zielstrebig aus der Bibliothek, indem er scherzhaft, aber täu-

schend echt die kehligen Lock- und Ermunterungsrufe eines schottischen Schalhirten nachahmte. Alles lachte herzlich ob seines kapriziösen Einfalls. Fanny, die

sich vorkam wie das schwarze Schaf in dieser seltsamen Herde, gehorchte trotz-

dem und folgte dem Rest.

Draußen auf der breiten Veranda verharte die Gruppe auf Geheiß des Haus-

herrn eine Weile. Louis wartete dortganz bewußt so lange, bis die Häuptlinge, 13

an det Zahl, mit ihren Frauen den Rasen beinahe nt zvrei Dritteln überquert hat-

ten. Dann erst setzte er sich in Bewegung, indem er die verbleibende Strecke stol-

zen Schrittes und hocherhobenen Hauptes zurücklegte und nach seinem Marschjählings vor den Besuchern haltmachte. Fanny, die mit den anderen vorerst noch

beim Haus zurückgeblieben war, sah Louis und die Eingeborenen die für Festtage

üblichen überaus höflichen und aller Schlichtheit zumTrotz äußerst komplexen

Mllkommensgesten austauschen. Dabei fiel ihr auf, daß Louis die Häuptlinge der

Dörfer Malua, Vailele, Fangaloa und Nuutua, die er seit Jahren kannte und zu

seinen engen Freunden zählte, heute eigenartig stieftnütterlich behandelte: Diese

stolzen Männeq die Tusitala so aufrichtig liebten und verehrten, daß lediglich ihre

hohe Stellung sie zu zwingen vermochte, jedes Zeichen ausgesprochener Unter-

würfigkeit in der Öffentlichkeit tunlichst zu verrneiden, wurden nun mit einigen

belanglosen Floskeln abgespeist und alsdann von Louis nicht weiter beachtet. Diedrei Häuptlinge hingegen, die von der Nachbarinsel Savaii stammten und heute

clas erste Mal beim großen Tusitala zu Gast waren, empfing der Herr des An-wesens mit ausgesuchtester Liebenswürdigkeit und größtem Respekt - sogar mitlihrerbietung.

Schon durch ihre Kleidung und ihren Schmuck hoben sich die drei Neulinge in'lusitalas Reich von den übrigen Stammesfürsten ab, obwohl der Unterschied al-

les andere als augenfüllig war. Ein Kopfoutz aus rotenVogelfedem oder eine Ket-

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te aus Walzähnen genügten, um die Träger als Bewohner derNachbarinsel auszu-

weisen. Beide Attribute vereinigten aber auch bereits das Höchstmaß an Prunk in

sich, das ein Herrscher der Inseln jemals zur Schau stellte. Anders als ihre Unter-

tanen nämlich, die noch die auf den ersten Blick unmöglichsten Gegenstände zur

äußerlichen Verschönerung za rutzen verstanden, verkörperten die ehrenwerten

M?inner eine für die farbenfrohe Inselwelt geradezu untlpische Schlichtheit. Fanny

kam ihr Hausboy Tuvale in den Sinn, der vor Jahren das Gepäck der älteren Mrs.

Stevenson, Louis' Mutter, ausgepackt und dabei eines ihrer gestärkten, spitzen-

besetzten Häubchen entdeckt hatte. Un{ähig, angesichts solch übermenschlicher

Henlichkeit zu widerstehen, hatte er das gute Stück an sich genommen und eine

Zeillang versteckt - nicht aus Angst vor Bestrafung, sondem um dem Neid der

anderen zu entgehen -, bis er es schließlich nicht länger aushalten konnte und die

Haube, seinen stolzesten Besitz, bei der Gartenaöeit aufsetzte. Königin Victoria

wäre bei seinem Anblick ohne Zweifel erblaßt ... doch ob vor Neid, ließ Fanny

wohlweislich dahingestellt

Auf einen Weißen, der solcherlei Ausbrüche von Putzsucht auf Samoa täglich

zu erleben die Gelegenheit hatte, mußte die Zurückhaltung der Häuptlinge einen

um so tieferen Eindruck machen. Sie wurden ihrem Status vollauf gerecht und

wirkten sogar hoheitsvoller als manöher europäische Monarch, denn sie verban-

den auf unnachatrmliche Weise die angeborene Anmut ihrer einfacheren Lands-

leute mit jenem gravitätischen Betragen, das ihrAmt ihnen eingab. In der Kombi-

nation beider Elemente lag der wahre Ausdruck ihrer Macht begrändet. Die ein-

heitliche Tracht, die aus einem simplen Wickelgewand bestand, welches sich von

der Brupt bis hinunüer zu den Waden ersteckte, unterstrich durch ihre unaufrlringli-

che Eleganz die schlichte Würde ihrer Tr?iger. Das Kleidungsstück war blütenweiß.

Und so standen sich Hausherr und Gäste auf dem Rasen inmitten einer fak-

kelbeleuchteten Arena gegenüber, beide Parteien in strahlendstes Weiß gekleidet,

wie eine bizane Spielart von Revolverhelden, die sich, statt einen Kampfmit Waffen

auszutragen, in der blendenden Helligkeit ihrer Gewandung zu übertreffen such-

ten. Doch während die Häuptlinge in Wahrheit nichts dergleichen beabsichtigten

und dem Gastgeber arglos, ohne Hintergedanken ihre Reverenz bezeugten, war

sich Fanny nicht so sicheq was Louis Tusitala anbelangte. Er trug seine auch bei

Ausritten bevorangte Kluft: ein weißes, weites Hemd, das zum einen seinen aus-

gemergelten Oberkörper verhüllte und zum anderen seiner Vorstellung von

Seeräubernoblesse perfekt entsprach; eine weiße Baumwollhose, weit geschnitten

nach Art der südamerikanischen Viehbarone. Die einzigen Farbtupfer in dieser

Aufrnachung bildeten seine schwarze Schtirpe, die er sich wie einen Kummer-

bund um die Taille geschlungen hatte, und seine vom Hausboy auf Hochglarz

polierten schwarzen Reitstiefel. Darüber hinaus genoß Tusitala bei friedlichen,

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freundschaftlichen Konfrontationen wie der heutigen stets einen unschätzbaren

Vorteil: Er übenagte jeden seiner Gäste um Hauptesl?inge.

Fanny betrachtete die Szene, versenkte sich ganz in den spektakulärenAnblick,

Da, schlagartig, wurde ihr eine fundamentale Erkenntnis zuteil. Plötzlich wußte

sie, warum Louis niemals am eigenen Leib das seinen Leuten verordnete Tartan-

Muster trug, Hoheitszeichen der Stuarls und Erinnerung an sein watres Zuhause.

Er selbst war hier ein Häuptling unter Häuptlingen. Während aber die anderen

sich der traditionellen Kleiderordnung unterwarfen, beanspruchte Louis sie für

sich und seine Zwecke - machte sie sich nutz- und dienstbar.

Fanny war dermaßen in das Schauspiel versunken, daß es eines recht unsanften

Stoßes durch ihre Tochter bedurfte, sie aus ihrer Trance zu reißen. Sie blinzelte

irritiert, schaute in die Runde und vergewisserte sich, daß die übrigen Weißen sich

inzwischen den Eingeborenen angeschlossen hatten, welche nun unter Führung

Tusitalas auf eines derNebengebäude zumarschierten. Um ein Haarhätte man sie,

Fanny, hier auf der Veranda vergessen! Noch im letzten Novembeq exakt vor ei-

nem Jahr also, hatte Fanny unter lauten, fröhlichen Segensrufen an Louis' Seite

die feierliche Prozession angeführt ...

,,Komm mit mir, Mutter"; befahl Belle schroffund griffnach Fannys Hand, als

sei sie eine willenlose Invalidin. Das ging Fanny denn doch zu weit. Mit einem

Ruck riß sie sich von ihrer Tochter los, bemühte sich allerdings gleichzeitig, mit

der hastig Davoneilenden Schritt zu halten.

,,Hast du dir die Häuptlingsfrauen angesehen, Mutter? Sag selbst: Ist ihr Auf-

zug nicht wieder zum Schreien komisch?"

Fannywar insgeheimübenascht, daß Bellenicht ihreungeteilteAufinerksamkeit

auf den großen Tusitalakonzenfrerthatte, doch sie hütete sich, den Gedanken laut

nuszusprechen.

,,Nein, auf die Frauen habe ich nicht geachtet. Sie standen am Rand, außerhalb

tles Lichts - man konnte sie kaum sehen."

,,Na, du kennst ja ihre Festtracht. Matten, nichts als Matten, diese unformigen

l)inger aus Maulbeerbaumborke. Eine der Damen hat sich mindestens zehn Sttick

davon um ihren dicken Bauch gewickelt und wirkt ungefätr so anmutig, als ginge

$ie mitAchtlingen schwanger. Aber du wirst die Gute gleich näher inAugenschein

nehmen können," Belle erz?ihlte munter in einem fort, ohne ihr Tempo auch nur

um einen Deut zu verlangsamen. Sie freute sich auf das Festessen im Kreis der

vielen Gäste - doch mehr noch auf die Worte und Werke Tusitalas des Prächtigen,

tlcssen göttliche Anwesenheit dem gesellschaftlichen Ereignis der Saison ihren

Stempel aufdrticken sollte.

Es hatte sich einst, vor langer Zeit, im Ratrmen eines ähnlichen Festmahls zu-

gctragen, daß Louis diesen seinen Namen aus dem Mund eines Häuptlings emp-

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fangen hatte. Kurz darauf schon war sein Ruf wie Donnerhall gewesen, und wer

immer das Zauberwort hörte, erstarrte in Ehrfirrcht. Bei vergleichbaren Gelegen-

heitenhäfte somancherBewohner Spaniens oderderKarpatenvielleichtdas Kreuz-

zeichen geschlagen oder die Finger vorsorglich gegen den bösen Blick gespreizt,

überlegte Fanny bisweilen. Auf Samoa hielt man es im allgemeinen für effektiver,

einem mächtigen Geist respektvoll zu dienen, als vorwitzig einen aussichtslosen

Kampf gegen ihn zu führen, wie die Christen es gewöhnlich taten.

Fanny konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie ihr erstes samoanisches

Dienstnädchen, das anfangs kein einziges englisches Wort sprach, nach der Be-

deutung des Namens gefragt hatte. Die Erklärung war unendlich mühsam vonstat-

ten gegangen, aber zum guten Schluß hatte Fanny alles begriffen, wie sie damals

in ihrer Anmaßung glaubte. Heute war sie sich nicht mehr sicher. Das Mädchen

Tamaitai wußte sich recht geschickt mit Gesten verständlich zu machen und ent-

wickelte besonders bei der Deflrnition abstrakter Begriffe erstaunliche Phantasie

und großen Einfallsreichtum. Zunächst einmal galt es abzuklären, daß das Wort

,,Tusitala" eigentlich aus drei Ideen zusammengesetzt war. Das erste Konzept,

,,Häuptling", vermittelte Tamaitai, indem sie eine strenge, unendlich würdevolle

Miene aufsetzte, die in solch krassem Widerspruch zu dem kindlichen Gesicht des

Mädchens stand, daß Fanny unwillkürlich laut aufgelacht hatte. Der Zweck war

erfüllt: Fanny hatte die gewünschte Bedeutung erfaßt. Als nächstes kam der Be-

griff,,weiß" an die Reihe. Tamaitai hatte sanft Fannys Hand genommen und sie

zum Vergleich neben die ihre gehalten: vergebens. Das Mädchen wußte schnell

Rat und bestrich ihre von Natur aus honigfarben getönte Haut mit einer dicken

Schicht feuchter, dunkler Erde. Dieser Kontrast war sogur für Fanny, die soeben

erst den Trubel der Zivilisation hinter sich gelassen hatte und sich auf dieAusdrucks-

form der reinen Zeichensprache noch nicht verstand, aussagekräftig genug ge-

wesen. Das dritte Rätsel erwies sich als eine weit härtere Nuß.

Die Vorstellung von,,Wissen" oder,,Kunde", die Samoaner gemeinhin hegten,

war ohnedies fremdartig genug für den zivilisieden weißen Verstand. Der Samoa-

ner, so wußte Fanny, natrm gewissermaßen jedes ihm mitgeteilte Wort flir bare

Münze und faßte den Inhalt als Wirklichkeit auf. Was immer gesagt wurde, ent-

sprach unweigerlich einer Tatsache; die Eingeborenen machten keinen Unterschied

zwischen erdachten Geschichten und realen Begebenheiten - weil sie einen sol-

chen Unterschied gar nicht kannten. Louis galt aus diesem Grunde keineswegs als

eineArt MZirchenerzähler, sondern als eine unerschöpfliche Quelle an Wissen, ein

sprudelnder Brunnen voller Nachrichten aus der Fremde. Seine ,,Kunde" entsprach

der reinen Wahrheit.

Wiehatte sichFanny damals amüsiert, als Tamaitai ihrdie entsprechendeTheorie

vermittels Zeichensprache kundtun wollte! Zuerst beschrieb sie mit beiden Hän-

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den den Umriß eines riesigen Ballons über ihrem flachen Jungmädchenbauch, um

eine Schwangerschaft anzudeuten. Diesen unsichtbaren Ballon führte sie mit bei-

den Händen zu ihrem Kopf und blies zusätzlich die Backen auf, um zu demon-

strieren, daß auch der Kopf, zum Bersten angefüllt mit stlindig wachsendem In-

halt, kurz vor einer befreienden Geburt stand. Dann öffnete sie den Mund sperran-

gelweit, griffmit den Fingern blitzschnell hinein, immer und immer wieder, als

wolle sie etwas zwischenZunge und Zähnen herausholen, was sich zuerst gegen

ihre Bemühungen sperrte und kurz darauf von selbst zu fließen schien wie ein

unaufhaltsamer Strom. Das war der Redefluß! schoß es Fanny dabei durch den

Sinn. Und so war es auch. Die überschüssige Kunde verließ den armen, gequälten

Wissenden, bevor er von ihr aufgebl?iht wurde, bis er platzen mußte. Auf diese

Weise haffe zumindest Fanny die ;,Nebenwirkungen" der Kunde gedeutet. Von

Louis jedenfalls wußte sie definitiv, daß er wtirde sterben müssen, wenn er keine

Möglichkeit mehr flinde, seine Kunde regelmäßig vor einer gespannten, in seinen

Zauberbann geschlagenen Zuhörerschaft auszubreiten. Die Resonanz, welche von

seiner Leserschaft daheim in Schottland zu ihm drang - und von seinen Anhän-

gern im Rest der zivilisierten Welt -, bedeutete ihm zwar im Grunde weit mehr als

das gläubige Staunen der Insulaner, doch sie war zu seinem Leidwesen nicht greifbar

genug. Die Faszination in den Gesichtern seiner schottischen Leser würde er nie

mehr mit eigenenAugen sehen können.

Auf diese originelleWeise also warFanny derName ihres Mannes nähergebracht

worden: ,,Häuptling" - ,,weiß" -,,Kunde". Was Fanny erst sehr viel später be-

schäftigen sollte, war die völlig ungeklärte Frage, was die Kombination der drei

Elemente beinhaltete. War Louis nun der,,weiße Häuptling des Wissens" - oder

etwa, wenn man die Reihenfolge leicht veränderte, ein Herr der weißen Kunde?

Louis, selbst ein Meister des gesprochenen und geschriebenen Wortes, hätte Fannys

Überlegungen sofort als woftklauberische Spitzfi ndigkeit abgetan . . .

,,Mutter! Da bist du ja endlich!" schallte es Fanny vom Eingang des hölzernen

Nebengebäudes, in dem wie immer das üppige Bankett stattfand, laut und barsch

cntgegen. Im ersten Moment glaubte Fanny, Isobel habe gerufen; dann sah sie

ihren Sohn Lloyd in der geöffneten rohgezimmerten Tür stehen, die breiter war als

alle Stalltore auf den Farmen von Indiana, dem Heimatland ihrer Kindertage. Lloyd

winkte seine Mutter mit ebenso ungelenken wie ungeduldigen Fuchtelbewegungen

seiner überlangenArme herbei. Seine randlose Brille glitzerte im Schein der Fak-

kcln, die in einem Halbkreis außerhalb des Eingangs zur Hütte angebracht waren.'lhgsüber sah Lloyd mit den Augengläsern, die nur einen unzulänglichen Aus-

gleich für seine angeborene Kurzsichtigkeit darstellten, wie ein altersschwacher

Maulwurf aus, der kaum noch aus seinem Bau an die frische Luft drang. Heute

nacht, im trügerischen Flackerlicht jedoch, wirkte er auf Fanny wie ein verzerter

Page 25: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Doppelgänger jenes Mannes, welcher nicht sein leiblicher Erzeuger war und ihn

doch zu pragen wußte, wie kein Vater sonst es vermochte.

,,Mutter! Alle warten auf dich! Wo bleibst du nur immer so lange?" Obwohl

Lloyd in Fannys Ohren klang wie das unfreiwillig komische Echo seiner älteren

Schwester Belle, war ihr durchaus nicht zum Lachen zumute. Der impertinente

Ton, den ihre Kinder sich neuerdings ihr gegenüber herausnahmen, verletzte sie

tief. Fanny baute darauf, daß Louis sich eher die Zunge abgebissen hätte, als ein

einziges abfälliges Wort über seine Frau zu äußern: Doch zeigte er sich, wenn er

überhaupt einmal anwesend war, allzu besorgt, allzu fürsorglich um sie bemüht

und gab damit den Kindern zu verstehen, daß irgend etwas mit ihrer Mutter nicht

stimrnte. Was bei Louis letzten Endes aber echter Zuneigung entsprang, wurde

von Lloyd und Belle gnindlich mißverstanden. Herablassung war das Ergebnis.

Und dieser junge Mann vor ihr, der sich aus freien Stticken zu einem miß-

lungenen Abziehbild seines Stiefuaters degradiert hatte, wagte es doch tatsäch-

lich, ganz wie seine ins Backfischalter zurückgefallene Schwester die eigene Mut-

ter vor aller Augen und Ohren zurechtzuweisen! Fast hätte Fanny sich vergessen

und zu diesem unpassendsten aller Zeitpunkte einen Streit vom Zaun gebrochen,

als ein winziges Detail an ihrem respektlosen Sprößling sie innerlich auflachen

ließ und sie augenblicklich mit seiner fehlenden Liebenswtirdigkeit aussöhnte.

Lloyd erduldete heute wahrlich einen herben Verlust! Der jahrelange erbarmungs-

würdige Versuch, sich denselben Bart wachsen zu lassen wie Louis - eine üppige,

wenngleich sorgfültigst zurechtgestutzte Haartracht nachArt des Herzogs Wallen-

stein -, hatte ein Ende gefunden, und zweifellos eines mit Schrecken: Ohne einen

vernichtenden Kommentar des Vorbildes hätte Lloyd sich nicht von einem solch

markanten Merkmal getrennt, das beide für jedermann sichtbar vereinen sollte!

Lloyd ließ nicht locker. Er drängte und zog sie. Was hatte er nur vor? Warum

setzte er sich nicht einfach an seinen angestammtenPlatz, neben seine Schwester

und ihren kleinen Sohn, und überließ Fanny sich selbst? Den Weg hinein würde

sie allein finden; soviel durfte er getost von ihr erwarten.

,,Du sitzt heute abend neben Louis, nehme ich an?" fragte Lloyd gedehnt, mit

angeshengt geheuchelterAusdmckslosigkeit in der Stimme. Fanny erstarte zur Salz-

säule. Nun verstand sie seine Absicht. Lloyd fand es dernnach an der Zeit, seine

Mutüerzu ersetzen. Dergehorsame Sohngedachte den Glorienschein seines allmäch-

tigen Herm zu teilen - zur Rechten des Vaters wollte er sitzen, in seinern Königreich.

Den Teufel würde er tun.

,,Natrirlich sitze ich neben meinem Mann. Was für eine überflüssige Frage! Wo

sonst ist wohl der Platz einer Ehefrau?"

Lloyd zuckte merklich zusaülmen bei dieser spontanen, deutlichen Antwort.

Seine Eulenaugen hinter den dicken Brillengläsern zwinkerten vorNervosität und

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verhaltener Empörung, Er war inAnbetracht aller krampftraften Bemifüungen ein

über die Maßen schlechter Schauspieler, Für diesen speziellen Mangel an Bega-

bung allerdings liebte Fanny ihren Sohn ungeachtet seiner sonstigen Fehler abgöt-

tisch. Trotzdem - oder eher deswegen - verspärte sie nicht die geringste Lust,

seiner neuesten Unverschämtheit nachzugeben. Spitzbübisch lächelte sie ihrem

Sohn ins Gesicht und schritt ihm voran in den weit geöffneten Festsaal. DerAppe-tit auf die Köstlichkeiten, die drinnen auf sie warteten wie in jedem der vergange-

nen Jahre, war ihr leider schonjetzt gründlich vergangen.

Doch als sie endlich den riesigen Raum betrat und die Tafel erblickte, die ihre

Diener am späten Nachmittag aufgebaut und festlich geschmückt hatten, entfuhr

ihr ein Laut des Entzückens. Sie hatte geglaubt, die regelmäßig sich wiederholen-

de Zeremonie genau an kennen und vor Überraschungen, guten wie schlechten,

gefeit zu sein; dabei hatte sie die Erfindungsgabe und den kindlichen Enthusias-

mus ihrer Bediensteten grändlich unterschätzt. Cipau, die inzwischen verheiratete

Tamaitai und ihre Gefiihrtinnen suchten sich ständig selbst zu übertreffen und ge-

genseitig zu überbieten, was ihnen bei der Vorbereitung des heutigen Festrnahls

eindeutig gelungen war. Strenggenommen handelte es sich bei demArrangement

von Speisen und Dekoration natürlich nicht um ein ,,Bankett", weil es keinen Tischgab - am ehesten konnte man das Ensemble mit einem gigantischen überdachten

Picknick vergleichen. Aufeiner sechs Fuß breiten und beinatr fünfzig Fuß langen

,,Decke" aus übereinandergelegten Palmblättern befanden sich die erlesensten

Speisen, die auf der Insel zu finden waren, in einer nie zuvor erlebten Pracht und

Fülle. Die Brotfüichte, Kokosnüsse, Yam-Wurzeln, der Taro und die Bananen,

ausnahmslos makellose Exemplare, lagen nicht etwa einfach auf dieser Blätter-

decke ausgebreitet; die Bananen hatte man halb geschält, die Kokosnüsse ange-

bohrt und mit Trinkhalmen versehen, um den Gästen die Speisen wahrhaft mund-

gerecht zu servieren. Den Taro, eine schmacltrafte und vielseitig verwendbare

Knollenfrucht, fand man in fünferlei Variationen vor: gebacken wie Kartoffeln,zerstampft und mit Kokosnußmilch schaumig geschlagen, gedünstet, gekocht und

mariniert. In vorgekauter Form war er heute nicht vorhanden, denn die Häuptlinge

waren jung und gesund und besaßen wahrscheinlich noch die meisten ihrer Z?ihne

- und falls nicht, hatten sie schließlich ihre Frauen dabei. Auch Palusame, eine

hcgehrte Delikatesse aus Taroblättern und Kokosnußsahne, gehörte zu den Früch-

tcn und Gemüsegerichten. Vor jedem einzelnen der Gäste lag, sozusagen als

l{orsd'ceuvre, ein Bananenblatt mit riesigen Gamelen darauf. Was den farben-

prächtigenAnblick aber ins Phantastische steigerte, waren die Blumenund Blüten-

gewinde, die sich, nur scheinbar ungeordnet, in perfekter Harmonie durch die en-

gcn Täler entlang der Berge von Nahrungsmitteln schlängelten, als wüchsen sie

wie Ranken unmittelbar aus dem Boden hervor. Scharlachroter und cremefarbe-

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ner Hibiskus, lieblich säß duftende Ingwerblüten, betörender weißer Jasmin be-

deckten jeglichen freien Zoll dieses Gesamtkunstwerks. Auch die W?inde und Ttir-pfosten hatten ihren Teil der blumigen Verschönerung abbekommen. Üppige Gir-landen beherrschten den gesamten Innenraum.

Ohne es selbst recht zu bemerken, hatte sich Fanny neben Louis auf den Bodengehockt und die Beine gekreuzt. Das Paar saß am Kopfende des Bananenblatt-

Tischtuches, nah am Eingang. Louis nahm Fannys Hand in die seine und strahlte

sie an. Seine Augen leuchteten vor kindlicher Freude, und diese Art von Glanz

liebte Fanny an ihnen: Es gab nur wenige Momente, in denen sich Louis den ihmNahestehenden wirklich öffnete, obwohl er viel und gern redete. Dies hier war ein

solcher Augenblick, kostbar und köstlich ob seiner Seltenheit.

Viel zu schnell verging die Sekunde völliger Eintracht, da der Hausherr von

allen Seiten abgelenkt wurde. Fanny war wieder sich selbst überlassen und gab

sich ihren Gedanken hin. Einer davon hatte sie schon seit jeher beschäfrrgt. Wie inallerWelt, fragte sie sich oft, konnten sich die Eingeborenen mit nie versiegender

Inbrunst an Speisen erfreuen, die ihnen geradem in den Mund wuchsen, Gerich-

ten, die sich im Grunde genommen kaum nennenswert voneinander unterschie-

den? Wieso ging diese Vorliebe so weit, daß zu größeren Zusammenktinften diesel-

ben Früchte als Geschenke mitgebracht wruden, die man an jedem beliebigen Treff-

punkt, im Umlcreis von höchstens 30 Fuß, ebensogut hätte frisch pflücken können?

Fanny würde die Frage nie zufriedenstellend beantworten, das war ihr klar. IhrTrost bestand darin, daß die Sache sich bei dem mit Abstand wichtigsten, beliebte-

sten Bestandteil des Festrnalrles ganz anders verhielt. Der unumschränkte Favoritaller Samoaner war das Schweinefleisch. Huhn oder Ente konnten mit dem Schwein

nicht konkurrieren; Rindfleisch emtete gar allgemeines Naseriimpfen. Schweine

hingegen liebte man in ganz Polynesien. Fanny hatte selber miterlebt, wie Schiff-brüchige, vor die schwere Watrl gestellt, Säugling oder Schwein zu retten, letzte-

rem unweigerlich den Vorzug gaben. Nun, heute würde ein jeder Eingeborene aufseine Kosten kommen, denn das Bananenblatt-Bankett wartete mit einer Fülle an

gebratenen Tieren auf, unter der sichjeder Tisch gebogen hätte. Fast zwei Dut-zend kleinere Exemplare waren urtlang dem Rand verteilt, etwa spanferkelgroß,

aber auf samoanische Art zubereitet - ,,fM Samoa". Die Dienerschaft hatte zu

diesem Anlaß eine Reihe von Erdlöchern gegraben, sie zur Hälfte mit Steinen

aufgefüllt, daraufein Feuer entfacht und unterhalten, bis die Steine glühendheiß

wurden. Dann hatten sie die Asche entfemt, die kleinen Schweine fest in Ba-

nanenblätter eingewickelt und die rotglühenden Steine über sie gehäuft. Nach er-

staunlich kurzer Zeitwarendie Tiere gar. Fanny erinnerte diese Art der Zubereitung

an die Kochktinste europäscher Zigeuner, die auf 2ihnliche Weise Igel brieten.

Beide Methoden zeicbneten sich durch ihre köstlichen Ergebnisse aus.

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Einer der Häuptlinge warf zunehmend begehrliche Blicke auf die Mitte der

Tafel, wo das unumstrillene piöce de rösistance thronte: ein wahres Ungeheuer

von einem Mastschwein, das die restlichen Exemplare mühelos in sich hätte ver-

einigen können. Das ausschließliche Mastfutter für Schweine bestand auf Samoa

aus Kokosnüssen, und die Tiere gediehen prächtig bei dieser Nahrung. Sie hatte

nur einen Nachteil - zudem einen Nachteil, der niemanden außer Fanny zu betrü-

ben schien: Alles war viel zu säß für Fannys Geschmack. Oft lechae Fanny nach

Pikantem und bekam doch immer nur süße Bananen, süße Brotfrucht, ja sogar

süßlich schmeckendes Krabbenfleisch. Es gab anscheinend nicht genug Salz auf

ganz Samoa, um Taro-Wurzeln wirklich würzigzvntbereiten. Und wenn sie dann

das Glück genoß, ein Schwein von solchen Dimensionen vorgesetzt zu bekom-

men, wußte Fanny doch von vornhereirl, daß das Fleisch süßlich sein würde, bei-

nahe so süß wie das der Kokosnuß. In Vailima naschte Fanny ohne Umschweife

direkt aus dem Salzfaß; in freier Natur lutschte.sie den Schweiß von der eigenen

Haut. So hatte das Vieh daheim in Indiana sie auch oft und gern abgeschleckt!

Noch hatte keiner der Anwesenden ntgelang! denn Samoaner nahmen es mit

der Etikette überaus genau. Niemand hätte es gewagt, vor dem Trink- und Segens-

spruch des tonangebenden Häuptlings unter den Gästen an einer der Speisen zu

naschen oder nur danach die Hand auszustrecken. Tischgespräche waren derweil

jedoch schon munter im Gange; allerdings fanden sie nur zwischen den beiden

Bristoler Damen, dem Franzosen, Kapitän Claybome und Famys Kindern auf der

einen Seite statt, zwischen Louis und den ihm zunächst sitzenden Häuptlingen auf

der anderen Seite. Die meisten Wärdenträger und alle samoanischen Frauen schwie-

gen, eine Zurückhaltung, die nicht ihrer Schüchternheit entsprang, sondern dem

ungeschriebenen Gesetz, daß man sich nicht untereinander in einer Sprache zu

unterhalten hatte, die das fremde Gegenüber nicht verstand. Oft kam es vor, daß

samoanische Mädchen Weiße besuchten, stundenlang zu Gast blieben, nichts sag-

(en, sondem lediglich lachten und kicherten. Diese Mädchen machten gewöhnlich

uuf die weißen Gastgeber einen leicht schwachsinnigen Eindruck, insbesondere

nuflnselneulinge. Baldlemteman, daß sienurumjedenPreis denVerdachtvermei-

den wollten, sie amüsierten sich in trauter Runde über die merkwürdigen Frem-

rlcn.

Ungef?ihr sechs Fuß von Fanny entfernt schien Lloyd in ein anregendes Ge-

rpräch mit den englischen Fräulein vertieft zu sein. Daß er sich nur in Szene set-

ecn wollte, erkannte Fanny an den häufigen kurzen Blicken, die er zu seiner Mut-

lcr herüberwarf. Seine Brillengläser spiegelten sich im Schein der Fackeln, so daß

liunny dieAugen nicht zu sehen vermochte; doch sein herausfordernder Gesichts-

nusdruck war der eines übelgelaunten Kobolds. Er hatte Fanny noch nicht verzie-

hen.

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,,Wissen Sie übrigens, meine verehrten Damen", wandte er sich an die Eng-

länderinnen, ,,daß es gemäß der vorherrschenden Meinung der Eingeborenen nur

eine einzige Fleischsorte gibt, die das köstlicheAroma eines gebratenen Schweins

übertift? Dieses Wildwirdzugegebenermaßen auf Samoa schon längst nicht mehr

gejagt - zumindest versichert man uns Weißen das -, aber die älteren Häuptlinge

lecken sich noch heute die Lippen, wenn sie sich an jene ausgesuchte Köstlichkeit

erinnern. Die Arbeiter, die die Deutschen von den Salomoninseln zu importieren

pflegen, geben vor, den Geschmack nicht persönlich genossen zu haben, weil es

aufihrer Insel nichts in der Richtung gibt ... aber alle, alle kennen sie Leute auf

den Nachbarinseln, die wiederum Leute kennen, die ..."

,,Lloyd!" zischte Fanny ihrem Sohn zu. Lloyd wollte der Mutter einen Schlag

versetzen, indem er die Gäste verunsicherte. Hoffentlich hielt ihn Fannys Zwecht-

weisung auf.

Lloyd grinste nur boshaft. Würde der junge Mann denn nie erwachsen werden?

Als Jugendlicher hatte er sich vernänftiger und verständiger betragor als heute.

Jetztwar er lediglich altklug, arogant - und manchmal unendlich kindisch.

,,Um welches Wild handelt es sich, mein Freund?" wollte die ältere der eng-

lischen Damen wissen, die so aussah, als wüßte sie eine ordentliche Fuchsjagd

durchaus zu schätzen. Womöglich hatte man sie bei dieser Gelegenheit schon als

junges Mädchen blutig gemacht. Fanny erschauerte.

,,Nun - um den Menschen natürlich. Von der Krone der Schöpfung sollte man

erwarten, daß sie auch am besten schmeckt."

,,Um Gottes willen!" jammerte die jüngere der Damen und erbleichte, während

ihre Gef?ihrtin sich als sturmerprobtes Wesen erwies, das man so leicht nicht zu

schrecken vermochte.

,,Obwohl man also, wie gesagt, das Wild selbst nicht mehr jagt, kennt man noch

so manches exquisite Rezept der Zubereitung. Das Fleisch sollte vor allem gut

abgehangen sein..."

,,Lloyd!" fauchte Fanny ihren Sprößling zwischen zusammengebissenen Zäh-

nen an, gleichzeitig ängstlich bernüht, ihren anderweitig ins Gespräch vertieften

Gatten nicht auf Lloyds maliziösen kleinen Vortrag aufinerksam zu machen. Lou-

is bemerkte zum Glück nichts von alledem.

Lloyd ignorierte die Zurechtweisung seitens seiner Mutter vollkommen. Sie

ließ ihn natürlich nicht ungerührt, doch anstatt bei ihm eine Sinneswandlung her-

beizuführen, war sie wie Wasser auf seiner Mühle. Sein Mund venzog sich zu

einem breiten Hohnlächeln, das er zweifellos seinern Stiefrater abgeschaut und

heimlich stundenlang vor dem großen Spiegel in seinem Zimmer einstudiert hatte,

ohne nennenswerte Erfolge zu erzielen. Auf Lloyds Gesichtszüge übertragen wirkte

Louis' typisch schiefes Grinsen ungefähr so charismatisch wie das Gelächter einer

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Hyäne. Auch Fannys liebendes Mutterherz vermochte diesen Umstand nicht zu

verschleiem oder zu beschönigen - ihr Mutterblick, ob liebevoll oder nicht, blieb

nun einmal unbestechlich.

,,In einem Punkt zumindest darf ich Sie beruhigen", wandte sich Lloyd nun der

jüngeren Dame zu, in der er ein verletzlicheres Opfer witterte. ,,Selbstverständlich

wurden niemals - ich wiederhole: zu keiner Zeit - weiße Missionare in Fleisch-

kipfe gesteckt und mit Haut und Haaren gekocht. Das ist ein lächerliches Lügen-

märchen, das man leichtgläubigen Weißen in Europa, nun ja, seruiert hat."

,,Oh", hauchte die Lady und stieß einen Seufzer unendlicher Erleichterung aus.

Leider etwas vorschnell, wie Fanny wußte.

,,Wie hätte das auch vonstatten gehen sollen?" fuhr Lloyd ungerährt fort. ,,Inganz Polynesien und Mikonesien gibt es noch heute keinen Topf, der groß genug

wäre, einen Missionar in einem Sttick aufzunehmen. Außerdem ist die Kochkunst

der Eingeborenen zu verfeinert, ja zu subtil, um ein solches Verbrechen zvzt;Jas-

sen. Es versteht sich für einen guten Küchenchefvon selbst, daß das feinste Stück,

welches man auf freier Wildbahn zur Stecke bringen kann, vor der weiteren Ver-

arbeitung sorgfültig tranchiert und ausgenommen werden muß. Auf den Fidschi-

inseln, um nur ein Beispiel zu nennen, kennt man mindestens 50 ausgeklügelte

Arten der Zubereitung, vom Dünsten, Dämpfen, Braten, Grillen oder Schmoren

bis hin zum Rösten, Fritieren oder gar Flambieren. Wer allerdings die schnelle

Küche bevorzugt, wird wabrscheinlich eine ähnliche Methode anwenden wie die,

welcher wir die köstlich duftenden Schweinchen hier vor unserer Nase zu verdan-

kenhaben..."

Die jüngere englische Lady war dieser letzten herzlosen Bemerkung Lloyds

endgültig zum Opfer gefallen. Laut aufstöhnend warf sie sich in die Arme ihrer

Begleiterin. Sogar beim ständig wechselnden Licht der Fackeln war ihre Leichen-

blässe nicht zu übersehen. ,,Harriet!" schluchzte sie immer wieder. ,,Harriet! Wo-

hin sind wir nur geraten?"

Haniet ihrerseits blieb völlig ungerührt. Sie klopfte der jüngeren Frau ein paar-

mal recht unsanft auf den Rücken, als wolle sie ihr helfen, etwas herun-

terzuschlucken, was ihr im Halse steckengeblieben war. ,,Reiß dich gef?illigst zu-

sammen, Prudence, wir befinden uns in Gesellschaft", schalt sie die unglückliche

Freundin und fügte dann für aller Ohren hinzu: ,,Sie müssen die gute Prudence

schon entschuldigen. Sie ist, wie Sie bernerkt haben werden, ein wenig überemp-

findlich. Das fing bereits auf dem Schoner an, gleich nachdem wir Bristol verlas-

sen hatten. Pru verbrachte die Hälfte der Reise über die Reling gebeugt, wenn Sie

verstehen."

Me schrecklich unbitßch von ihr!fuhr es Fanny durch den Kopf. Daß ein

Schlachtroß wie diese Harriet Sensibilität als ein Zeichen schlimmster Entartung

Page 31: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

wertete, verstand sich von selbst. Prudence tat Fanny aufrichtig leid; ihr mißrate-

ner Sprößling dagegen brachte ihr Blut zum Kochen.

,,Lloyd, mein Sohn", wandte sie sich an den jungen Mann, der sie auf Kosten

der bedauemswerten Pru so hinterhältig provoziert hatte. Fannys Stimme klang

heiser vor mühsam unterdrückter Empörung. ,,Wenn es dir noch ein einziges Mal

einfallen sollte, unseren Gästen mit solch widerwärtigen Geschichten zu nahe zu

treten, wirst du es bereuen."

Lloyd tat überrascht. ,,,A.ber Mutter, ich verstehe dich nicht. Was trennt denn

diese angeblich so widerw?irtigen Geschichten von der christlichen Lehre? War-

um fordert uns Christus selbst dazu auf, seinen Leib zu essen? Das haben wir

schließlich jeden Tag so gehalten, in Vailima, auf Fidschi -wo ist da der grundle-

gende Unterschied, frage ich dich?"

Fanny blieb vor Entsetzen der Mund offenstehen. Nun wagte Lloyd es auch

noch, blasphemische Reden zu führen, um seiner Mutter entgegenzutreten! Hastig

warf Fanny einen Blick auf Louis, der noch immer vollauf mit den Inäuptlingen zu

seiner Linken beschäftigt war. Andemfalls hätte Lloyd es auch niemals gewagt, in

einern derart frivolen Ton über Religion zu reden, denn auf diesem Gebiet ver-

stand Louis nicht viel Spaß.

,,Worin der Unterschied besteht, fragst du mich allen Ernstes?" Fanny gelang

es nur mit Mühe, einen Rest ihrer Fassung zu wahren. ,,Du schwelgst in widerna-

tärlichen Kochrezepten, nennst unseren Glauben im selben Atemzug und scherst

beides über einen Kamm? Hast du jemals in deinem Leben gehört, wie - Gott

möge mir vergeben! - der Priester bei der Eucharistie über 50 ausgeklügelte Arten

der Zubereitung für den Leib des Herrn spricht? Hast du das?"

Anstatt einzulenken, wurde Lloyd zusehends verstockter, obwohl ihm deutlich

anzusehen war, daß er sich längst nicht mehr wohl in seiner Haut fühlte. Doch er

wollte keinen Fußbreit von dern umkämpften Territorium zurückweichen. Nicht

vor seiner Mutter jedenfalls,

,,Und warum gibt es dann in unserer Sprache nur ein einziges Wort für die

Hostie und den Gastgeber, wenn das nicht bedeutet, daß man den Leib des Gastge-

bers essen soll ..."Plötzlich horchte Louis auf und drehte den Kopf in Fannys und Lloyds Rich-

tung. ,,Was ist mit dem Gastgeber?" fragte er.

Fanny preßte die Lippen fest aufeinander und schüttelte nur stumm den Kopf.

Lloyd schwieg wohlweislich ebenfalls.

Als Louis festzustellen glaubte, daß seine Person mit dem Gespräch nichts zu

tun hatte, wandte er seineAuftnerksamkeit sofort wieder den samoanischen Wür-

denfiägern zu, mit denen er sich in einem offenbar sehr bedeutsamen Gedanken-

austausch befand. Seine äußerst lückenhaften Kennürisse der samoanischen Spra-

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che glich er dabei erfolgreich durch sein ausdrucksvolles Mienenspiel und seine

lebhafte Gestikulation aus.

Die Gefahr, von Louis bei seinen allzu lockeren Reden ertappt und mit stum-

mem Vorwurf gestraft zu werden, hatte Lloyd endlich zum Schweigen gebracht.

Doch Fanny war noch nicht fertig mit ihrem Sohn.

,,Samuel - Lloyd - Osbourne." Sie dehnte die drei Worte absichtlich und mach-

te zwischen jedem eine ominöse Pause. Fanny verrrochte Lloyds Reaktion vor-

auszuberechnen: Erst fuhr er zusammen wie von der Tarantel gestochen, dann

begann er irm ganzen Körper nt zittern,ja zu vibrieren, während jegliche Farbe

aus seinem Gesicht wich. Mit der bloßen Nennung seines Namens hatte Fanny

ihm die verhaßte Wahrheit vor Augen gehalten, daß er von einem ungeliebten

Mann im femen Amerika abstammte - und daß Louis ihn nie ausdrücklich adop-

tiert hatte.

Bevor aber Lloyd, bis ins Mark getroffen von Fannys simpler Feststellung, sei-

ne kindische Streitlust fahren lassen und sich für den Rest der Festlichkeiten in

seinen bevorzugten geistigen Schmollwinkel zurückziehen konnte, machte sich

Louis sZimtlichen Anwesenden nachdrticklich bemerkbar. Dreimal klatschte er laut

in die Hände und sorgte damit augenblicklich für absolute Stille. Die Weißen in

der Runde werteten dies lediglich als die übliche ungezwungene Aufforderung

des Geburtstagskindes, alle Aufrnerksamkeit nunmehr freundlichst dem Ausbrin-

gen des Trinkspruchs zuzuwenden; für die Samoaner galt jedes Signal Tusitalas

als unmittelbares Gebot. Instinktiv verstanden die Insulaner ihren Tusitala gut,

wenn sie seinen Wunsch als Befehl deuteten - Tusitala pflegte nämlich seine Be-

fehle stets als zart verhüllte Wünsche zu äußern.

Nun richtete er lächelnd einige knappe, kaum hörbare Worte an seinen Nach-

barn zur Linken.

Häupfling Misifolo war der Herrscher des Dörfchens Nuutua, das auf dem gleich-

namigen Eiland lag, welches im äußersten Südosten dem vergleichsweise riesigen

Upolu vorgelagert war. Er gehörte zu jenen Männern, die der Gastgeber bereits

des öfteren eingeladen und bei der Ankunft am heutigen Abend ein wenig ver-

nachlässigt hatte. Im Laufe der vergangenen Minuten andererseits war Tusitala

fast ausschließlich mit Misifolo beschäftigt gewesen; er hatte sich dem Häuptling

sogar mit ausgesprochener Eindringlichkeit gewidmet. Fanny, die nicht wußte,

was das Therna ihres Gespächs gewesen war, stellte zu ihrem Erstaunen fest, daß

Misifolo momentan eine bedrückte, geradezu unglückliche Miene machte. Den

Grund dafür konnte sie sich beim besten Willen nicht erklären. Wie jeder Bewoh-

ner der Insel zeigte auch Misifolo sich normalerweise überglücklich, wenn der

große Tusitala ihm die Gunst zuteil werden ließ, so viele seiner bekanntermaßen

inhaltsschwangeren und datrer kostbaren Worte an ihn zu verschenken.

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Nun wurde die riesige Schüssel mit Kawa-Bier vor ihn hingestellt, und Mi-sifolo verrichtete die dem Brauchtum entsprechenden zeremoniellen Handlungen

mit einem kläglichen, erstarrt wirkenden Lächeln auf dem Gesicht, das ihn zu

diesem feierlichen Anlaß alles andere als würdevoll aussehen ließ. Mittels eines

erheblich kleineren Napfes, der aus einer polierten und mit kunstvoller Schnitze-

reiverzierten Kokosnußhälfte gefertigt war, schöpfte Misifolo die Portion Kawa-

Kawa aus dem großen Gefäß, welche er dem Gastgeber zu kredenzen gedachte.

Dabei bemtihte er sich sichtlich, nichts von dem guten Naß zu verschütten, das aus

den Wurzeln einer auf Samoa heimischen Pfefferpflanze bereitet worden war.

Obwohl Kawa-Bier nicht im eigentlichen Sinne gegoren und daher ein alkohol-

freies Getränk war,zeiligte es doch bei ausgiebigem Genuß eine gewisse Rausch-

wirkung, ähnlich wie andernorts die Betelnuß. Fanny mußte sich eingestehen, daß

sie in der letzten Zeit manchmal etwas übeneichlich zugelangt hatte, wenn die

Köstlichkeit gereicht wurde; sie beruhigte ihre Nerven und d?impfte die Gemüts-

bewegungen, beeintächtigte dagegenkeineswegs ihrenklarenVerstanil. Zum Glück

machte das Kawa-Bier niemanden süchtig. Zl gtt kannte Fanny dieAuswirkun-

gen der in den amerikanischen Südstaaten so fatalen, nichtsdestotrotz überaus be-

liebtenAllzweck-Medizin, des Opium-Derivates Laudanum. Wie viele weiße Frau-

en, deren Nervenkostäm der ständig feuchtschwülen Luft in jenen fruchtbaren

Gebieten nicht gewachsen war, dämmerten wie lebende Tote auf ihren nach dem

Kriege wiederaufgebauten Plantagen dahin! Nicht wenige wurden von ihren be-

sorgten Familien für ein paar Jahre oder auch für immer,,fortgeschickt", wie man

das verharmlosend umschrieb ,,.

Häuptling Misifolo stimmte unterdessen den traditionellen Gesang an, welcher

mit der Darbringung des Kawa-Kawa einherging. Auf samoanisch pries er zu-

nächst den Gastgeber und dessen Großzügigkeit, um dann die volle Kokosnuß-

schale einem der jungen männlichen Bediensteten zu übergeben, die unauffZillig

an der Eingangstür standen. Begleitet von lautem allgemeinen Händeklatschen

trug der Knabe das Gef?iß vorsichtig vor sich her, kniete vor Tusitala nieder und

reichte ihm mit rührend feierlichem Gesichtsausdruck das Getränk dar. Der Haus-

herr stand ihm in nichts nach, was sein wihdevolles Gebaren betraf; er nahm die

bis zum Rand gefüllte Schale in beide Hände, hob sie hoch in die Luft, streckte sie

der Gemeinschaft seiner Gäste entgegen und rief laut: ,,Ia manuia! Ia manuia!"

Diese Worte, die man wohl am ehesten mit ,uA,uf euer aller Gesundheif'über-

setzen konnte, wurden durch ein fröhlichkräftiges,,Soi fua! Soi fua!" aus sämtli-

chen Kehlen der Besucherschar beantwortet. ,,Mögest du lange leben!"

Dieselbe Formel wiederholte Fanny, als man ihr das Gef?iß reichte. Der Chor

erwiderte wie zuvor sein ,,Soi fua", freundlich, höflich, aber mit unüberhörbar

geringerer Begeisterung. Lloyd und Belle warteten scheinbar geduldig, bis die

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Reihe an sie fiel, während sie, wie Fanny wußte, insgeheim bangen Herzens dar-

auf hofften, tatsächlich als Nächste auserkoren und nicht etwa von den fremden

weißen Gästen in Häuptling Misifolos Gunst zurückgesetztarwerden. IhreAngst

war berechtigt: Unmittelbar nach Fanny erhielt die junge Prudence die Schale aus

den Händen des Jungen. Misifolo, der leidlich der englischen Sprache mächtig

war, zeige mit dem Finger auf sie und sagte: ,,Für Matalanumoana. Die schöne

junge Fremde mit blauenAugen von jenseits der Meere." Prudence, wieder halb-

wegs bei Kräften, wechselte emeut die Farbe - diesmal errötete sie.

Einerseits empfand Fanny aufrichtige Freude darüber, daß die scheue Prudence

auf solch galanteArt für erlittene Unbill entschädigt wurde, alldieweil ihr Peiniger

Lloyd sich vor kaum verhohlenem Schmerz wand wie ein harpunierter Fisch. Das

war die gerechte Strafe für seinen Mutwillen, fand Fanny. Und auch Belle stand

die Seelenqual ins Gesicht geschrieben: Schöne junge Fremde ... Mit verkniffe-

nem Mund saß sie an ihrem Platz; kein,,Soi fua!" kam über ihre fest versiegelten

Lippen, als Prudence gesenkten Hauptes, aber überglücklich die allgemeinen

Ehrbezeigungen entgegennatrm. Auf der anderen Seite jedoch erinnerte Fanny die

spontane ,,Taufe" durch Häuptling Misifolo wohl zum tausendsten Male daran,

daß ihr selbst nie ein eigener Name verliehen worden war und niemals verliehen

werden würde. Tusitalas strahlendes Licht war zu mächtig, zu hell und zu glei-

ßend, als daß die Insulaner neben ihm etwas anderes hätten wahmehmen können

als bloße Schattenwesen. So wie der Mond kein eigenes Licht besaß, sondem nur

durch die allmächtige Sonne ein wenig Helligkeit abbekam, verfügte Fanny ein-

zig in und durch Tusitalas Gesellschaft über eine begrenzte Macht. Hätte Tusitala

selbst die Häuptlinge um einen Namen für diese seine Frau befragt - was ihm gar

nicht einfiel -, wäre zwangsläufig nicht mehr dabei herausgekommen als ,,Ge-

f?ihrtin des Tusitala". Darauf verzichtete Fanny gern.

Eine geraume Weile verstrich, bis sämtliche Trinksprüche ausgebracht worden

waren und alle Anwesenden, sogar Belles kleiner Sohn Austin, ihre Portion Kawa-

Kawa erhalten hatten. Endlich machte man sich genäßlich über die Delikatessen

der Insel her. Die Gamelen, die jeder Gast vor sich liegen hatte, verschwanden mit

atemberaubender Geschwindigkeit, desgleichen die schmaclhaften Flußkrebse,

die man aus den vier Strömen des Fünfstromlandes Vailima gezogen hatte. Wäh-

rend die britischen Damen und Dupont, der Franzose, ratlos entlang der Tafel nach

cinem möglichen Ersatz flir Servietten Ausschau hielten, kamen bereits die dienst-

baren Geister vom Eingang gespmngen, um den Anwesenden Fingerschalen und'Iücher darzubieten. Die anschließende Speisefolge blieb ganz den Vorlieben und

dem Gutdünken der Gdste überlassen. Nur einen Gang gab es noch, der speziell

nuf einem Blatt herumgereicht wurde und bei den Eingeborenen größtenAnklang

l'und, wogegen die Weißen sich mit einem unwillktirlichenAusdruck desAbscheus

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gegen die Leckerei sträubten. Fanny lächelte. Sie wußte, daß es sich hierbei um

Palolo handelte, einen grünlichen Wurm, der sich nur während bestimmter

Mondphasen im Meer zeigte und dem man daher Kräfte allerArt zuschrieb - nicht

nietzt Einfluß auf die menschliche Fruchtbarkeit. Die Kreaturen auf dem Blatt

waren zu einer schleimig-glitschigen, grauschwarzen Masse zusammenge-

schrumpft, und obwohl sie wahrscheinlich besser schmeckten als Austem, ekelten

sie den weißen Gaumen unweigerlich an. Auch Louis wehrte stets dankend ab und

atrnete tief auf, sobald die Wtirmer seinen Gesichtskreis verließen.

Doch halt - was war das? Louis nahm nicht nur einen, sondern gleich drei

Palolo in die Hand, schluckte die rohen Tiere herunter und .., machte dazu Laute

größtenWohlbefindens!

Was war heute nur in ihn gefahren?

Fanny schüttelte ratlos den Kopf und widmete sich ihrem eigenen Teller aus

Bananenblatt. Als sie nach einer in ihrerNähe liegenden Brotfrucht grifl runzelte

sie die Stirn. Die Frucht war übersät mit krabbelndenAmeisen. Fanny streifte die

Insekten sorgfültig ab, konnte sich dann aber nicht mehr überwinden, die Brot-

frucht zu essen. Genauso erging es ihr mit einer der Bananen, die man morgens

frisch gepflückt und vor einer halben Stunde halb abgeschält hatte. Die Bananen-

hälfte ohne Schale war pechschwarz; winzige panzerbewehrteAmeisen wimmel-

ten über das weiße Fruchtfleisch, welches unter ihren Leibern kaum mehr sichtbar

war. Sie bildeten mehrere Schichten. Fanny schleuderte die Banane über ihre Schul-

ter, ohne daß es einer der Häuptlinge sehen konnte.

Was war los mit Louis, und schlimmer noch, was war los mit ihr? Nie hatte sie

ein solch kleinliches Benehmen an den Tag gelegt, niejene krankhafte, gekünstel-

te Spielart von Abscheu versptirt, wie ihn allzu hochgezüchtete Damen und Her-

ren in Europa hegten und pflegten! Wie hätte sie wohl auch sonst in der Südsee zu

überleben vermocht, wo ,,loi", wie man winzige Insekten zusammenfassend nannte,

den einzig verläßlichen, immer ptinktlichen Tischgenossen darstellten! In ganz Poly-

nesien kunierte die vielsagende Geschichte von jenem bedeutenden weißen Mann,

der, durch Geschäfte gezwungen, nach Jahrzehnten ausschließlichen Insellebens ei-

nen kurzen Abstecher nach New York gemacht hatte und dort in einern sehr noblen

Restaurant bewirtet worden war. Geistesabwesend hatte dieser Mann das zum Menü

gereichte Brot minutenlang an derTischkante ausgeklopft, bis ihn ein entnervter Ge-

scNäftspartnervorsichtignach dem Grund für seinTun fragte. Noch immerin Gedan-

ken versunken, hatte der lnselbewohner darauftrin erkl?irt, er wolle keinesfalls mehr

Arneisen in seinem Brot mitessen als absolut notwendig. Fanny wußte um die tauri-

ge Wahrheit, die sich hinter dieser amüsanten kleinen Anekdote verbarg . . .

Fanny begnügte sich heute abend also wohlweislich mit Kokosnußmilch. Die

Nüsse wiesen in ihrer Schale nur ein winziges Loch auf, in dem der Trinkhalm

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steckte; den beschwerlichen Weg durch den Halm hindurch würde nicht einmal

die wendigste Vertreterin allerAmeisen bewältigen - so hofte Fanny inbränstig

und schalt sich zugleich ob ihrer Unvernunft.

Wieder machte der Palolo die Runde, wieder nahm Louis ein Sttick und schien

es genüßlich hinunterzuschlucken, wdhrend die Häuptlinge wohlgefällig dazunick-

ten und lachten. Da sah Fanny wenigeAugenblicke später von der Seite, wie Lou-

is verstohlen und mit äußersterVorsicht den Wurm in die Handfläche spuckte, die

er sich, als ob er ausgiebig gäihnte, flach vor den Mund hielt. Er hatte die Delika-

tesse der Einheimischen demnach nur angerährt, um seine mächtigen Gäste noch

stärker zu beeindrucken, als es ohnehin schon der Fall war. Louis mußte damit

eine ganz bestimmte Strategie verfolgen - der Wunn diente nur als Köder, den

statt Louis die Häuptlinge bereitwillig geschluckt hatten. Was aber war der be-

gehrte Fang?

Fanny glaubte zu spüren, wie eine einzelneAmeise über ihren Rücken krabbel-

te, von oben nach unten, ganz langsam, und ihr einen kalten Schauer nach dem

anderen bescherte. Die Prinzessin auf der Erbse war offenkundig ein hartgesotte-

nes Frauenzimmer im Vergleich zu Fanny, der Mimose ...

Schon klatschte Louis abermals laut in die Häinde, um sich Gehör zu verschaffen,

und eine Eingebung sagte Fanny, daß das Festessen nun beendet war, obwohl das

Prachtexemplar von einem Ma.stschwein in der Mitte der Tafel noch nicht einmal

angeschnitten, geschweige denn davon gekostet worden war. Louis brannte dar-

auf, etwas kundzutun; seit Wochen hatte er seine Ungeduld nur mit Mühe imZaunr

halten können, und im Lauf der vergangenen Minuten war seine rastlose Span-

nung so mächtig angewachsen, daß Fanny sie beinahe greifen konnte. Doch wenn

er erst einmal offen ausgesprochen hätte, was er mitzuteilen beabsichtigte, wäre

selbst das wundervolle Schwein nicht l?inger von Bedeutung. Der große Tusitala

hatte seinen Gästen das Festmahl des Jahres vorgesetzt, um es ihnen, rücksichtslos

durch seine Ungeduld, beinah sogleich wieder zu verwehren.

Eine eindeutige Handbewegung Tusitalas gab dem widerstrebenden Misifolo

zu verstehen, daß nunmehr seine Stunde der Bew?ihrung angebrochen war. Misifolo

schaute noch unglücklicher drein als zuvor und ließ keinen Zwetfel daran, daß er

sich augenblicklich nichts sehnlicher wünschte, als in einem Loch im Erdboden

zu verschwinden. Er sträubte sich natürlich nicht angesichts Tusitalas lie-benswür-

digerAufforderung, doch preßte er den Kopf so eng zwischen die emporgereckten

Schultern, als hegte er insgeheim die unsinnige Hoffitung, sich auf diese Weise

unsichtbar machen zu können.

,,Häuptling Misifolo enveist uns eine hohe Ehre", begann Louis mitleidlos, ,,in-

dem er sich soeben spontan dazu bereit erklärt hat, einige Worte für mich ins Sa-

moanische zu übersetzen, die ich insbesondere an unsere Freunde von der Insel

Page 37: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Savaii richten möchte. Wie die meisten von Ihnen wissen, gehören HäuptlingTalupu, HäuptlingApa Loto und Häuptling Nulimu zu jenen Tapferen, die sich imJuli dieses Jahres gegen die Fronhenschaft der deutschen Fremdlinge erhoben

und nach heldenmütigem Kampf von der Übermacht in den finsteren Kerker vonApia geworfen wurden." Es folgte eine kurze Pause, die zum einen der Übersa-zung durch Misifolo, zum anderen der rhetorischen Wirkung diente. Die Kunst

des Schweigens an der rechten Stelle übertraf oft die geschickteste Wortwahl.

Fanny amüsierte sich insgeheim. Ein,,finsterer Kerker" war es nicht unbedingt

gewesen, in dem man die Gefolgsm?inner König Mataafas einquartiert hatte, nach-

dem sie gegen dessen widerborstigen Venvandten Malietoa in den Krieg gezogen

waren und nicht etwa gegen die Deutschen. Es stimmte, daß die deutschen Ver-

walter König Malietoa in sein Amt eingesetzt hatten; doch auch die britischen

Behörden mißtrauten dern unberechenbaren Mataafa, der oft selbst nicht zu wis-

sen schien, was er gerade wollte. Eines wollte er naturgemäß nicht,,und das warein anderer König neben oder gar über dem großen Mataafa. So waren es eher

Machtgerangel und familiäre Streitigkeiten gewesen, die ihn dazu bewogen hat-

ten, mit seinen Mannen eine,,Rebellion" in Gang zu bringen, wie die Deutschen

das kläglich planlose Unternehmen anschließend hochtrabend nannten, die Rebel-

len aber gleichzeitig nicht viel härter bestaften als unartige Kinder. Übrigens wußte

niemand auf den Inseln genau, wie viele Opfer die Kriegshandlungen gefordert

hatten - ja ob überhauptjernand getötet worden war. Die Berichterstattung wurde

durch den besonderen Umstand verzerrt, daß ein jedes mitgeteilte Wort von Naturaus die reine Wahrheit darstellte, daß diese Kunde langsam von Dorf zu Dorf zu

gehen pflegte und daß jeder Bote, jeder Neugierige am Wegesrand sich bemüßigt

fühlte, ein Stück neuer, gewissermaßen eigener Wahrheit daranzuhängen ... Es

war schon vorgekommen, daß weiße Kapittine die Insel Upolu monatelang mie-

den, weil angeblich ein wildes Gemetzel Tausende von Menschenleben gefordert

hatte. Ausgangspunkt der Kunde - und Endpunkt des ,,Massakers" - war indessen

ein simpler Reitunfall gewesen, bei dem obendrein niemand ernstlich zu Schaden

gekommen war. Das alles Zinderte selbstverstlindlich nichts daran, daß die Mög-

lichkeit eines Blutbades durchaus bestehen blieb.

Louis hatte sich von Anbeginn der Streitigkeiten als gltihender Sympathisant

König Mataafas ausgesprochen. Er kannte ihn nicht einmal persönlich, soweit Fanny

wußte; für Louis reichte die Erkenntnis aus, daß Mataafa die volle Ungnade der

Deutschen und der Briten auf sich vereinigte und seine Sache von vornherein zur

Aussichtslosigkeit verdammt war. Louis lehnte jegliche Oberhoheit frernder Völ-ker auf Samoa strikt ab und verteidigte diesen Standpunkt mit ungehemmter Streit-

lust. Und noch einen weiteren Grund gab es für Louis' bedingungslose Parteinah-

me: Louis liebte es, für eine gute Sache - mit anderen Worten die seine - ohne

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Rücksicht auf Verluste zu Felde zu ziehen. Unbewußt stiirzte er sich dabei mitVorliebe in Kreuzzüge, denen das Scheitern im Kern vorherbestimmt war. Viel-leicht w?ihlte er seine Windmühlenkämpfe aber auch ganz bewußt. Immerhin heg-

te er eine romantische Leidenschaft für Verlierer; schon vor vielen Jahren hatte er

Lloyd beim Lesen von Cervantes' Romanen erklärt: ,,Das ist es, was ich bin, Lloyd

- genau ein zweiter Don Quijote!"Eines gewissen Maßes an Theatralik war sich Louis in diesem Zusammenhang

zweifelsohne bewußt. Als die Anhlinger Mataafas in jenem besagten Kerker ge-

fangen gewesen waren, hatte ,,Sa Tusitala", die Sippe des großen Tusitala, beladen

mit Geschenken, Vorräten und Segenswünschen, die schmachtenden Häftlinge inihrem finsteren Verlies besucht. Die Männer, die sie dort vorfanden, freuten sich

ihres Lebens, waren wohlgenährt und nach wie vor sonnengebräunt; auch verfüg-

ten sie über genügend eigene Lebensmittel, um die zu Hilfe geeilten Tröster opu-

lent zu bewirten ... in einem Festmahl fast wie dem heutigen. Louis hatte die

feierliche Prozession seines Klans durch die Gemeinde von Apia und das anschlie-

ßende Gelage im sonnendurchfluteten Gefiingnishof in vollen Zigen g!nossen.

Die Häuptlinge ihrerseits bekundeten unaufhörlich ihre Dankbarkeit und ließen

den großen Tusitala, der ihnen in ihrer Bedrängnis half, ein dutzendmal und mehr

hochleben. Wieder auf ihrem Berg in Vailima angekommen, hatte Louis Fannygegenüber bemerkt, die am Nachmittag erlebte Szene sei reif für die komische

Oper gewesen. Und doch hatten seineAugen bei diesem Scherz verräterisch feuchtgeschimmert. Es waren wie so oft zwei Seelen gewesen, die aus ihm gesprochen

hatten.

,,Aus tiefster Seele", hob nun Louis erneut zu sprechen an, ,,bewundere und

verehre ich die Vision des großen Königs Mataafa, der sein stolzes Volk aus Knecht-

schaft und Sklaverei herausführen will, wie einstens Moses es tat, als er das vonGott gesegnete Volk Israel aus der verhaßten Herrschaft der Agypter hinfort ins

Gelobte Land führte."Fanny war im höchsten Grade verwundert. Die Tatsache, daß Louis mit Vorlie-

be biblische Gleichnisse herarzog oder sich neue, der Situation angemessene zu-

rechtbastelte, lag wohl in seiner Natur begrtindet. Er entstammte mütterlicherseits

einer langen Ahnenreihe von Predigern und Kirchenmännern, unter ihnen die ob

ihrer feurigen Rednergabe berühmt-berüchtigten Balfours, welche nicht nur inLouis' eigenem RomanDavid BalfourilvenPlatz erhalten hatten, sondern auch inmanchem Pamphlet ihrer erbosten Zeitgenossen geschmäht worden waren. Nichtdas religiöse Element war es demnach, das Fanny in Erstaunen versetzte; davon

bekam man in Tusitalas Reich jeden Morgen eine gehörige Portion verabreicht.

Aber erstens hatte Louis diesmal nicht die Übersetzungshilfe der Inselmissionare

in Anspruch genommen, die ihm immer dann seine Rede in feierlichstes Samoa-

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nisch übertragen mußten, wenn es sich um dieAuslegung des Evangeliums nach

Tusitala drehte. Zweitens war es wenig typisch für den eloquenten Louis, daß sein

Vergleich so kraß am Kern der Sache vorbeiging - schließlich wollte und sollte

niemand die Samoaner aus dem ,,Land der Unfreiheit" hinauslühren Es gehörte

schließlich ihnen! Der einzige in dieser Runde, der Samoa von Herzen gem ver-

lassen hätte, um in sein eigenes Land zurückzukehren, wff - Louis . ..

Fanny spürte wieder, wie die winzigkleine Ameise von vorhin über ihren Rük-

ken krabbelte, und erschauerte leicht.

Die Häuptlinge ließen unterdessen ein beifrilliges Gemurmel hören. Sie waren

samt und sonders Christen, wenn auch nur dem Namen nach, denn sie liebten die

Kunde aus dem dicken Buch der weißen Menschen. Zwar wtirden sie nie begrei-

fen, was Begriffe wie ,,Wüste" oder,,Hunger" beinhalten sollten; doch mit Tot-

schlag, Krieg und den Gesetzen der Vergeltung kannten auch sie sich genügend

aus, um Oie Atrntictrt<eiten zu schätzen.

,,Moses hatte den Pharao gewarnt, daß sein Gott ein Gott der Rache sei, der den

ägyptischen Fronherren Plagen senden wärde. Doch der Häuptling Pharao blieb

verstockt, und so karnen alle die Plagen auf die Häupter seiner Untertanen, als da

waren Frösche, Stechmücken und Heuschrecken; und die Lepra suchte sie heim

und die Schweinepest; und eine große, alles Licht verschluckende Finsternis brei-

tete sich über das Land."

Fanny verstand die Welt nicht mehr. Abgesehen davon, daß Louis in der Regel

fast ausschließlich das Neue Testament zitierte, weil seiner Meinung nach die al-

ten Geschichten einen zu großen Gegensatz zur nattirlichen Fröhlichkeit der Insu-

laner bildeten, hatte er die biblischen Plagen noch niemals so frei verändert. Nicht

nur die Reihenfolge! Statt Blattern hatte er Lepra gewählt, nun gut; die Eingebore-

nen konnten mit dieser Heimsuchung tatsächlich mehr anfangen als mit den Seu-

chen der Weißen. Den Hagel hatte Louis ganz weggelassen. Doch statt der Vieh-

pest ausgerechnet die Schweinepest zu wählen ... das mußte die versammelten

Häuptlinge zwangsläufig erheblich schmeräafter berühren als jeden bibelfürch-

tigen Israeliten.

Die Wirkung auf die samoanischen Gäste war in der Tat sehr zwiespältig. Eini-

ge lachten neryös, andere schwiegen betreten oder schauten mit gernischten Ge-

fühlen auf das große Schwein in der Mitte der Tafel, dessen Maul zu einem Grin-

sen verzogen war und dessen glasige Augen ins Leere stierten. Fanny, davon un-

berührt, spürte indes nur das Krabbeln von Loi, derAmeise.

,,Schließlich wurde der Häuptling Pharao durch all diese Plagen besiegt, die

Moses ihm auf sein Haupt herabgezaubert hatte, und Moses zog mit seinern Volk

ungehindert von dannen, zurück in die Heimat. Das Volk der Israeliten pries zuerst

seinen Gott für die Unterstützung, aber dem Moses zeigte es seine Dankbarkeit

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für die Errettung dadurch, daß es eine riesige Straße erbaute, die geradewegs bis

nach Hause führte."Was um Himmels willen soll das bedeuten? fragle Fanny sich entsetzt. Das

Jucken wurde unerträglich. Mit der linken Hand fuhr sie sich so unauff?illig wiemöglich am Nacken entlang unter den Kleidersaum, um der Ameise den Garaus

zu machen.

,,Der große König Mataafa aber ist euer Moses, der euch eine Straße der Freude

und der Liebe ebnen will, auf der ihr als freie Menschen wandeln sollt. Das ist die

Vision des Königs Mataafa! Das ist das Ziel seines großadigen Kampfes! Als ichvor Monaten die Ehre genießen durfte, euch in eurem Gefängnis zu besuchen und

das Mahl mit euch zu teilen, war mir die Absicht des Königs noch nicht so bewußt

wie heute, denn ich bin nur ein einfacher weißer Mann .. ."An dieser Stelle mach-

te Louis eine künstlerische Pause, die wie erwartet durch laute Protestreden sei-

tens der Häuptlinge erfüllt wurde. ,,... ein einfacher Mann, der die Klugheit des

Königs nicht sofort begreifen konnte. Nun aber, da ich den König in seiner ganzen

Weisheit erstrahlen sehe, möchte auch ich seinem hehren Ziel meinen Tribüzol-len."

Erwartungsvoll und etwas verwird schauten alle Häuptlinge auf Tusitala. Die

drei Neulinge von der Insel Savaii, noch nicht vertraut mit Louis' Redekunst, die

einfach schien und sie trotzdem überforderte, ja gleichsam übenannte, runzelten

die Stirn, schwiegen und warteten einfach ab. Misifolo aber, dem nach wie vor die

Übersetzung oblag, war den Tränen nahe.

,,Als es mir vor wenigen Monden vergönnt war, eure Leiden zu lindern und

euch Nahrung und Trost zu spenden, ließet ihr mir eine außerordentliche und gänz-

lich unverdiente Ehre zuteil werden: Ihr fragtet mich nach einem Wunsch, den ihrmir um jeden Preis erfüllen wolltet. Ich Unwürdiger erkannte eure Großzügigkeit

an, verschob die Nennung des Wunsches auf einen späteren Tag, mit dem Vorsatz,

niemals auf der Einlösung dieses allzu großen Anerbietens bestehen zu wollen.

Nun aber, da ich die höhere Macht erkannt habe, die mit voller Absicht bewirkt

hat, daß ich noch immer jenen Wunsch frei habe, möchte ich ihn im Zeichen die-

ser Macht - und als Zeichen dieser Macht - für unser aller Wohl aussprechen.

Auch ich wünsche, daß eine Straße entsteht, ein Weg der Freiheit und der Liebe,

der als Symbol des Hohen und Erhabenen bis in die höchsten Gipfel der Insel

führt ... bis hierher nach Vailima. Ihr allein seid die Auserwählten, die diese Stra-

ße bauen dürfen."

Fanny hörte kaum das laute, bestürzte Raunen, welches nach der Übersetzung

Louis'letzter Worte den Raum erfüllte. Ein Sausen und Brausen erklang im Innem

ihres Kopfes, und eine ganze Armee von gepanzertenAmeisen wandede plötzlich

in Schlachtformation über ihren Rücken. Sie ließ es geschehen.

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In dieser Nacht ffiumte Fanny einen seltsamen, verwottenen, ganz und gar nicht

biblischen Traum: Der Pharao, auf einem fahlen Pferd reitend, befahl einer riesi-

gen Schar dunkelhäutiger Männer, ihm eine Pyramide zu bauen, gtößer und schö-

ner als alle Pyramiden. Die Männer errichteten das Monument in großer Eile,

doch glich es eher einem Turm, der geradewegs in den Himmel wuchs. Der Pha-

rao aber sah, daß es gut war. Voller Freude und Stolz blickte er aufdie dunkelhäu-

tigen Untertanen, die alle das Muster des Stuart-Klans tugen.

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,,.,. NApoLEoN BEsAss diese Flasche, und mit ihr wurde et ziLm König der Welt;

aber schließlich verkaufte er sie und ging unter. Captain Cook besaß diese Fla-

sche, und mit ihr fand er den Weg zu vielen Inseln; aber auch er verkaufte sie und

wurde auf Hawaii erschlagen ... Wenn ein Mann nicht zufrieden ist mit dem, was

er hat, kommt das Böse über ihn."

Fanny saß in einem Korbstuhl aufder breiten vorderen Veranda und las in Lou-

is' neuestem Buch" Inselnächle, das soeben erst in Edinburgh erschienen war. Die

Geschichte vom Flaschenteufel hingegen, in die sie sich gerade vertieft hatte, konnte

mit einer längeren und abenteuerlicheren Vergangenheit aufinarten als die übrigen

Texte der Sammlung. Louis hatte sie ursprünglich für Hawaüaner erdacht, erzählt

und aufgeschrieben: Deshalb war auch der Held der Geschichte ein Eingeborener aus

Hawaii, der die teuflische Flasche von einem Weißen in San Francisco erwarb und sie

nach langen, bösen Erfahrungen mit dem DZimon an einen ande,ren weißen Mann

verkaufte. Die Hawaiianer hatten sich natüilich begeistert gezeigt, und der ,,Flaschen-

teufel" war in verschiedenen Gazetten abgednrckt worden. Louis fühlte sich darauf-

hin bemäßigt, die Wirkung der Geschichte auf sämtlichenArchipelen auszuprobie

ren, die Fanny und er mit ihrer Familie ansteu!rten. Nirgendwo jedoch hatte er einen

so fundamentaleru buchstäblich magischen Erfolg erzielt wie hier auf Samoa.

Die Tatsache, daß alle Polynesier und Mikronesier einen guten Geschich-

tenerzifüler nach Gebühr zu schätzen wußten, war Louis bekannt gewesen. AufSamoa aber karn ein gänzlich neuer Begleitumstand hinzu. Jede Geschichte wur-

de mit der Wahrheit gleichgesetzt; was der Erzähler im Kreise der Lauschenden

auch behaupten mochte, mit oder ohne Vorsatz der Täuschung, glaubte man vor-

behaltlos. Den winzigen Rest, welcher zur Legendenbildung nötig war, erledigten

die ,,kleinen" Wahrheiten der ausschmückenden Berichterstatter, die in ihre Dör-

fer zurückkehrten und aufgeregt die neue Kunde verbreiteten. Und die Kunde lau-

tete: Der weiße Mann mit dem merkwürdigen Bart, den langen Haaren und den

Reitstiefeln befand sich im Besitz einer Flasche, in welcher ein dienstbarer Dä-

mon hauste. Der Däimon erfüllte dem großen, hageren Mann jeden Wunsch, schafte

ihm Reichtümer herbei und verdarb alle seine Feinde. Ein gewisser Napoleon -wer immer das sein mochte, wahrscheinlich ein anderer weißer Mann aus

,Peretania" - hatte die Flasche samt Teufel einst besessen; Captain Cook hatte sie

besessen, und nun besalJ dieser Mann Tusitala das Ding. Es schien demnach nicht

angebracht, mit ihm zu spaßen, denn seine Macht war schier grenzenlos. Tusitala

machte einen freundlichen Eindruck, doch zweifelsohne konnte er sich im Falle

eines Falles auch weniger liebenswürdig benehmen, und ein entfesselter Dämon,

das wußte jedes Kind, kannte niemals Erbarmen.

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Hinzu kam der Umstand, daß die Geisterfurcht der Samoaner von alters her die

Angstlichkeit aller anderen Inselbewohner in dieser Hinsicht bei weitem übertraf;

und das wollte schon etwas bedeuten. Lief oder ritt man in nächtlicher Dunkelheit

an einern Dorf auf Upolu vorbei, sah man unweigerlich Lichter vor jeder Hütte.

Nie hätte es ein Samoaner gewagt, in völliger Finsternis zu schlafen: Dämonen

lagen schließlich überall auf der Lauer. Sogar bei Tage bewegten sich die Einge-

borenen nicht unbedingt stets mit jener Läissigkeit durch den dichten Dschungel,

die man ihnen von weitem anzusehen verrneinte. Nur in der Gruppe, im munteren

Gespräch, waren die Samoaner von Herzen fröhlich und guter Dinge. Allein fürch-

teten sich jeder Mann, jede Frau und jedes Kind im unentwirrbaren Gestrlipp des

Urwaldes, wo die bösen Geister wohnten und auf sie warteten. Manchmal zeigten

sich die Dämonen in überaus anziehender Gestalt, als junge Mädchen etwa, die

mit dem auserw?fülten Insulaner ihres dunklen Begehrens im Meere schwimmen

gehen wollten, um ihn dann nie mehr ans Land zurückkehren zu lassen, So etwas

passierte vonZeitntZeit, wollte man dem allgemeinen Erfahrungssöhatz Glau-

ben schenken. Der Dämon in der Flasche des großen Tusitala dagegen war oben-

drein ein außergewöhnlich häßliches Exemplar, mit dem sicher niemand freiwillig

schwimmen gegangen wäre. Daß man bei seinem Anblick vor Entsetzen beinahe

zu Stein erstarrte, hatte Tusitala im Kreise der Zuhörer selbst bestätigt. Der Dä-

mon war allmächtig, soviel stand fest; sein Besitzer mußte allerdings genauge-

nommen noch einen Deut mächtiger sein, denn er gebot ja dem Geist ...

,,Eine Sache gibt es, deren der Teufel nicht mächtig ist: Er kann das Leben nicht

verlängern", las Fanny halblaut aus dem Buch vor sich hin. Sie hörte, wie sich

Schritte näherten. Eigentlich war es vielmehr ein Galopp, vollführt mit bloßen

Ftißen auf hölzernen Bohlen, und dieses unverwechselbare Geräusch ktindigte den

Ankömmling schon von weitem an, lange bevor er um die Hausecke biegen konn-

te. Fanny vernahm ein lautes, schrilles Wiehern, dann ein kurzes Schnauben und

lächelte nachsichtig. Austin war mittlerweile zwölf Jahre alt und sicherlich ein

wenig zu alt für ein Steckenpferd. Andererseits hätte man ihn in San Francisco

oder Edinburgh viel jünger eingeschätzt als seine dortigen Altersgenossen, denn

er war ziemlich klein von Gestalt, und - was entscheidender war - man hatte ihm

niemals Vorschriften datringehend gemacht, mit welchen Spielen ein Kind seines

Alters sichvergnügen durfte, damiteines Tages,,etwasAnständiges" aus ihm würde.

,,Hallo, Hutchinson", begrtißte Fanny ihren Enkel, als er mit seinem Pferd auf

die vordere Veranda galoppierte. Austin näherte sich geschwind unter lauten ,,Hüa"-

Rufen; offenbar zog ü es in der Gegenwart der Großmutter vor, den Reiter zu

spielen, nicht das Pferd. Vor ihrem Sessel angekommen, stieß er ein gebieteri-

sches ,,Brrrr" aus und rammte beide Füße zugleich in den Boden. Sein ungestü-

mes Roß kam auf diese dramatischeWeise rechtzeitig zum Stehen, bevor es Fanny

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über den Haufen reiten konnte. Galant schwang sich Austin aus dem Sattel, um

das arme reiterlose Pferd anschließend achtlos in die Verandaecke zu schleudern.

Er vergrub beide Hände in den Taschen seiner kurzen Hosen und schlenderte auf

Fanny zu.

,,Ist das etwa eine Art, sein Pferd zu veniorgen, junger Mann? Ich hätte Ihnen

mehr Verantwortungsgefühl zugetraut, Mr. Hutchinson." Fanny breitete die Arme

aus. Ganz gegen seine Gewohnheit gab ihrAustin lediglich einen recht flüchtigen

Kuß auf die Wange. Er wirkte bedrückt.

,,Mein Name ist General Hoskyns, Ma'am. Zu Ihren Diensten. Sie haben mich,

wie ich glaube, mit einem meiner Untergebenen verwechselt." Bevor er ordnungs-

gemäß salutierte, strich er sich eine widerspenstige braune Locke aus der Stirn.

,,Das tut mir aufrichtig leid, General," Fannys Worte entsprachen nicht der

Wahrheit. Wie in aller Welt sollte sie auf dern laufenden bleiben, wenn Louis sei-

nem jungen Spielkameraden täglich einen neuen Namen verpaßte? Gestem noch

war er Fähnrich Hopkins gewesen; innerhalb von 24 Stunden hatte Louis ihn nicht

nurvon der Marine zum Heerversetzt, sondern ihn auch gleich im Schnellverfah-

ren befiirdert, vor seinem ureigenen ,,Standgerichf' sozusagen. Nicht umsonst war

Louis Jurist, noch dazu ein vollwertiges Mitglied der schottischen Anwaltskam-

mer - er verstand sich auf Gesetze.

Trotz der somit zweifellos rechtskräftig erfolgten Beftirderung sah der General

recht traurig drein. Austin ließ den Kopf hängen und scharrte mit seinem

unbeschuhten rechten Fuß über die Bohlen des Verandabodens.

,,Wo ist Onkel Louis, Großmutter? Ich habe ihn seit dem Frühstück nicht mehr

gesehen. Er wollte mit mir ausreiten."

Da war er wiedeq der kleine, nichtsdestotrotz schmerzhafte Unterschied. Fanny

hieß für Austin schlicht ,,Großmutter", und das hatte schließlich seine Ordmrng;

Louis hingegen hätte um keinen Preis zugelassen, daß man ihn Großvater nannte.

Als Freund aller Kinder, denen er sich mit Inbrunst und Feuereifer widmete, wenn

ihn die Lust zum Spiel überkarn, ließ er es doch nicht zu, daß sie ihn anders titu-

lierten als ,,Onkel Louis" oder ,,Tusitala". Er war der hingebungsvolle Onkel eines

jeden Kindes, nicht mehr und nicht weniger, denn auch der beste Onkel der Welt

wurde nie mit tatsächlicher Verantwortung belastet. Ein idealer Onkel genoß zu-

dem den Vorteil der Alterslosigkeit, wenn nicht gar den Zauber der ewigen Ju-

gend.

Dein Onlrel Louß ist allein in den Dschungel geitten, um zu schauen, ob sein

Flaschenzauber schon wirh, wollte Fanny herausplatzen, beherrschte sich aber

noch rechtzeitig.

,,Ich dachte, du hättest deinen Ritt für heute schon hinter dir", meinte sie statt

dessen und deutete mit der Hand in die Ecke, in der das verlassene Holzpferd lag.

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,,Aber Großmutter!" erwiderte Austin vorwurfsvoll. ,,Ich rede doch von richti-

gen Pferden! Onkel Louis wollte mir diesmal den Braunen geben und mit mir

hinaus zum Fort reiten, Der Flaggenmast muß repariert werden. Allein schaffe ich

das nicht." Ungeduldig tratAustin von einem Fuß auf den anderen.

Fanny seufzte. Das ,,Fort", eine winzige Reisighütte auf einer kleinen Lichtung

jenseits des Zauns, mußte wohl warten. Noch vor zwei, drei Monaten hätte Louis

sich mit begeistertem Schwung kopfüber in das Unternehmen der Flaggenmast-

reparatur geworfen und dafür womöglich sogar einen garuenTag lang sein uner-

müdliches Schreiben unterbrochen. Louis war ein disziplinierterArbeiter, was das

Erzählen betraf - er brauchte im Grunde nichts selbst schriftlich niederzulegen,

denn Belle, die getreue Privatsekretärin, hing fortwährend an seinen Lippen und

fing all die kostbaren Wörter mit ihrer Kurzschrift ein, die Louis wie bunte Schmet-

terlinge durch die Bibliothek fliegen ließ. Kein einziges entkam jemals ihrerAuf-

merksamkeit, und so bestand Louis'eigentlicheArbeit im gemessenen Deklamie-

ren jener Wahrheiten, die sich spontan, doch im niemals versiegenden Strom sei-

ner dichterischen Phantasie zu neuer Kunde für die schottischen Leser formten.

Mit Strenge und Selbstzucht weihte Louis seine Freizeit diesem nicht allzu unge-

mütlichen Tagewerk. Müßiggang war ihm ein Greuel.

Wenn aber sein Spielkamerad Austin lockte, ließ Louis oft die Arbeit fahren

und versenkte sich mit dem Jungen in die Vergnügungen seiner eigenen Kinder-

jahre, die, soweit Fanny das beurteilen konnte, nie endgültig für abgeschlossen

erklärt worden waren. Louis hatte das Reich der Kindheit nicht verlassen, ledig-

lich vom Spielzimmer in die Bibliothek verlagert. In jenem großen Zimmer mit

den Büchern tollte er mit den Großen durch geistige Gefilde, wobei Lloyd sein

begabter, beinah ebenbürtiger Gefiihrte sein durfte und Belle, die Chronistin der

Abenteuer, mehr oder minder ins Schlepptau genornmen werden mußte: Schließ-

lich brauchte man sie, um den Proviant hinterherzutragen und das von den Män-

nern erkundete und abgesteckte Wunderland gewissenhaft zu kartographieren.

Austin hingegen verkörperte für Louis den ,,Smout", jenen schmächtigen klei-

nen Louis der frtihen Jahre, den seine Krankheiten für Wochen an sein Edinburg-

her Bett zu fesseln pflegten; er stellte gleichzeitig den l3jährigen Lloyd dar, mit

dem Louis in Frankreich stundenlang die Zinnsoldaten in endlosen Paraden auf-

marschieren lassen konnte, ohne im geringsten zu ermüden, und mit dem er Lloyds

kleine Spielzeug-Druckerpresse und das Figurentheater mit den ausgeschnittenen

Papierpiraten zu ausgelassenem Leben erweckte. Bilder und Ereignisse wieder-

holten sich. Austin war nun fast im selbenAlter wie seinerzeit Lloyd, als er Louis

dazu anspornte, die Schatzinsel zu schreiben: ein echtes, packendes Abenteuer-

buch statt der vielen schottischen Geschichtsromane, die zwar nett zu lesen wa-

ren, aber einen l3j2ihrigen nicht recht zu fesseln vermochten. Und maß man das

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Page 46: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Alter der spielenden Kinder ganz prosaisch in Lebensjahren, stellte man fest, daß

Louis schon immer der perfekte Onkel gewesen war - er stand in der Mitte zwi-

schen Lloyd und Fanny, hätte also weder den leiblichen Vater des einen noch den

leiblichen Sohn der anderen überzeugend vorstellen können.

Mittlerweile verwischten sich diese rein rechnerischenAbmessungen durch den

bloßen äußeren Eindruck, und zwar erheblich zu Louis'Gunsten. Während Lloyd

täglich mehr wie Louis' kaum jüngerer Bruder aussah, fühlte sich Fanny, wenn sie

sich im Spiegel betrachtete, beinahe schon wirklich wie Louis'Mutter. Sie durfte

die Zeichen der Zeit nicht leugnen und tat auch nichts dergleichen. So unange-

nehm die Erkenntnis flir sie war, sie akzeptierte sie: Insbesondere die letzten Jahre

hier auf Samoa hatten die umschwärmte Schönheit von einst in eine leicht ver-

nachlässigte Mahone verwandelt. Dasselbe Klirna, das für Louis die Dienste eines

Jungbrunnens übernahm, saugte Fanni die späirlichen Reste jugendlicher Frische

aus Körper und Seele. Wie ein grünender Baumschößling erhob sich Louis über

all die langsam welkenden weißen Gräser um sich her. Sogar Lloyd war ihm als

Spielgefiihrte im Grunde nicht mehr jung genug, und so begrüßte Louis freudigen

Herzens die unschätzbarwertvolle Gesellschaft des jängsten KlanmitgliedsAustin.

Nur gut für ihn, dachte Fanny mit einer winzigen Spur Bitterkeit, daß diesem

Mann, der selbst niemals Kinder haben wollte, die jungen, unverbrauchtenAble-

ger anderer Menschen geradewegs in den Schoß fielen wie taufrische Früchte ...

MitAustin hatte Louis die kleine Lichtung draußen im Urwald gerodet; zusam-

men hatten sie das Fort erbaut und den Flaggenmast hoch aufgerichtet. Zwar be-

stand die ,,Flagge" nur aus einem löchrigen Fetzen alter Wäsche, doch vergaßen

die beiden Abenteurer nicht, sie getreulich zu hissen, wenn es galt, vorbeisegelnde

oder -dampfende Schiffe zu begrüßen. Daß Louis in solchen Momenten eine schuld-

los verrückte Gestalt abgab, die es mühelos mit jedem Don Quijote aufuehmen

konnte, fiel zum Glück niemandem außer Fanny auf: Ein Schiffbrüchiger, den es

verzweifelt danach verlangte, endlich nach Hause zurückzukehren, winkte fröh-

lich den vorbeiziehenden Schiffen auf ihrem Wege hinterher, wünschte den See-

leuten eine gute Reise ohne ihn an Bord, als befinde er sich schon in Europa und

warte, wenn überhaupt, gelassen auf die nächste Droschke.

Bilder und Ereignisse wiederholten sich, das stimmte; doch verkehrten sie sich

zusehends in ihrkrasses Gegenteil. Derkleine Smout, von derKrankheit grausam

in sein Zimmer eingesperrt, hatte sich durch den Edinburgher Nebel hindurch in

feme Welten begeben, sich nach entlegenen Gestaden gesehnt, wo kein weißer

Mensch hauste, außer vielleicht einigen tollkühnen britischen Eroberern und einer

Handvoll Piraten. Mit Lloyd zusammen, der damals in Frankreich ebenso wie

Louis selbst eine schwere Krankheit auskurieren mußte, hatte er sich ausgemalt,

wie es auf einer Schatzinsel wohl zugehen müßte. Tropische Früchte, ungeahnte

Page 47: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Köstlichkeiten, von denen man in Europa kaum gehört, geschweige denn gekostet

hatte, brauchte man nur sorglos im Vorbeigehen abzupflücken. Wunderbarer, un-

durchdringlich dichter Dschungel herrschte überall dort, wo nicht gerade der fein-

ste weiße Sandstrand zum Baden einlud. Lianen und Schlingpflanzen hingen her-

ab; es gab nackte Wilde allerorten und bunte Vögel und exotische Tiere und ...

Und nun befand sich Louis nach einem Leben voller Reisen und erstaunlicher

Erlebnisse auf eben dieser Schatzinsel und wünschte sich weit, weit fort von ihr,

zurück in sein Zimmer im nebligen Edinburgh oder wenigstens ins heitere Frank-

reich. Mit Lloyd hatte er sich hierher versetzt, nach einem Ort wie Samoa; in

Austins Gesellschaft reiste er heim in die Zivilisation, wo das Leben wohlgeord-

net war, wo gepflasterte Straßen den Menschen alle Wege öffneten. Pflanzen gab

es dort hauptsächlich in Parkanlagen; sie waren leicht unter Kontrolle,jain Schach

zu halten und wuchsen nicht zügellos wild wie die Schlingpflanzen, die als

zehnköpfrge Drachen wiederkehrten, sobald man ihnen nur ein einziges glitschi

ges Glied mit dem Buschmesser abgehauen hatte. In Europa waren die Bäume

von Natur aus klein, das Gebüsch auf die rechte Größe zurechtgeschnitten, die

Blumenbeete planvoll angelegt. Gab es dort wirklich einmal ein Labyrinth, dann

war es mit Sicherheit ein von Menschenhand kreiertes, ähnlich wie die kunstvoll

gestutzten Hecken in den Gärten von Versailles. Verlief man sich in den Irrgärten

der Menschen, jauchzte man laut auf vor Vergnügen. Verlief man sich im Ingarten

der unerbittlichen Natur dieser Inselwelt, lachte man gewiß nicht, denn man wuß-

te schließlich nicht, ob man lebend aus dem erstickenden, erdrückenden Dschun-

gel herausfinden wiirde.

Fanny wußte genau, was in Louis vorging, obwohl ihr Mann ihr gegenüber

nicht ein einziges Wort hatte verlauten lassen. Das war nicht nötig: Fanny las die

Zeichen, die ihr ins Auge sprangen. Es quälte Louis, daß eine mysteriöse Krank-

heit ihn ebenso unerbittlich an diese Schatzinsel fesselte wie einst an sein Kinder-

bett, ein dummes Leiden, das ihm hier auf Samoa nicht im geringsten zusetzte, das

also gar nicht wirklich in seinem Körper existierte! Seit Louis ihr einmal lachend

geschildert hatte, auf was für lustige Gedanken der kleine Austin verfiel, wenn er

in seinem Fort inmitten des Dschungels spielte, kannte Fanny die Wahrheit.

,,Weißt du, wovon der Bengel träumt, wenn er durch den Urwald streift? Dar-

auf kommst du nie! Er glaubt, er sei in Europa! Ist das zu fassen?" Dann hatte

Louis Austins Phantasiegebilde im Detail beschrieben: ,,Der Junge spinnt sich für

jeden Baum und jedes Gewächs Namen zurecht. Du wirst es nicht für möglich

halten, wie viele ,Eichen', ,Buchen' und ,Kastanien' es da draußen vor dem Tor

gibt! Die ekligen Orchideen verzaubert der Kleine im Handumdrehen in Hecken-

rosen und Vergißmeinnicht. Er pflückt sich Kirschen und Weintrauben und Him-

beeren, die samt und sonders aussehen wie ordinäre Bananen und Ananas. So

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große ,Himbeeren' hast du übrigens dein Lebtag nicht gesehen, Fanny!" Dann

hatte Louis leiser, wie zu sich selbst, hinzugefügt: ,,Den Hang ntm Fabulieren

muß er von mir haben." Fanny gab ihm insgeheim unumwunden recht, obgleich

sie einen ganz anderen Hintergedanken hegte. Allein hatte Austin wohl kaum sei-

neArt dermagischenVerwandlung entwickelt, aus dem einfachen Grunde, weil er

nur aus Louis' Mund von alljenen Pflanzen und Früchten gehört haben konnte.

Ein anderer, deutlicherer Anhaltspunkt für Louis' wahren Seelenzustand war

Fanny vor etwa zwei Jahren unter die Augen gekommen. Sie erinnerte sich an

jenen Tag im Frühling, als sei er erst gestern gewesen. Die Rührung, die sie da-

mals ergriffen hatte, ließ ihr auch heute noch heiße Tränen in die Augen steigen.

An dem bewußten Morgen des Jahres 1892 hatte Fanny wie so oft die Bibliothek

betreten, um sich ein Buch aus den Regalen herauszusuchen, bevor Louis und

Belle zu arbeitenbegannenund derZutritt somit fürUnbefugteverboten seinwärde.

Wie immer sah das Innere der Bibliothek aus wie ein Schlachtfeld. Bücher, Manu-

skriptseiten, Schreibutensilien und Zigarettenbildeten ein wüstes Durcheinander

auf Boden, Tisch und Sekret2ir; dieses Chaos war eine der Vorbedingungen für

Louis' erfolgreiche schriftstellerische Tätigkeit.

Auf der Suche nach Zündhölzem hatte Fanny einige leere Bögen Briefrapier

vom Schreibtisch gefegt und war dabei zufüllig auf ein beschriebenes Blatt Papier

gestoßen. Es handelte sich offenbar um einen Brief, verfaßt in Louis' eigener spin-

nenartiger Handschrift, die auf den ersten Blick ebenso unverwechselbar wie un-

leserlich erschien. Weniger aus Neugier denn aus amüsierter Verwunderung her-

aus begann Fanny das Schriftstück zu lesen, das an eine ,,Miss B." in Schottland

adressiert war. Selten schrieb Louis einen Brief persönlich; seine durchaus um-

fangreiche private Korrespondenzpflegte er Isobel zu diktieren wie alles andere.

Diese,,offrziellen" Briefe atmeten denselben Geist wie seine Reden: Sie zeugten

von großer Stilsicherheit und einem ausgeprägten Sinn für Humor, doch sie sagten

nichts über das Gefühlsleben des Verfassers aus. Dieser Brief war anders. Fanny

spürte es sofort.

Die unbekannte ,,Miss 8." aus Schottland mußte sich, wohl im Auftrage ihrer

drei kleinen Töchter, mit der herzlichen Bitte an Louis gewandt haben, den Mäd-

chen etwas über das lnselleben zu erzählen. Das tat Louis ausführlich in seiner

Antwort, und zwar mit solch ungewohnter Offenheit, solch beinah schockieren-

dem Freimut, daß Fanny das Herz blutete. Louis ließ darin zunächst die schutzbe-

fohlenen Mädchen grüßen und bat dann ihre Mutter, ihnen zu erklären, daß tief zu

ihren Füßen, gleichsam auf der Unterseite ihrer Welt, ein ,,langer, magerer Mann"

wohnte. Diesem Mann unter ihnen, so bat Louis, sollten die Mädchen doch freund-

lichst wenigstens ein paar Schritt näherkommen, indem sie in ihren Keller hinab-

stiegen!

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Dieser Wunsch nach kindlichem Entgegenkommen war bei Louis an sich nichts

Ungewöhnliches. Als er jedoch von Samoa zu erzählen begann, fiel es Fanny bald

wie Schuppen von den Augen. Erst las sie zwischen den Zeilen, dann war auch

dieser Kunstgriff nicht mehr vonnöten, um mit Bestimmtheit sagen zu können,

daß der Schreiber des Briefes zutiefst unglücklich war, krank vor Heimweh und

voller Furcht.

,,Wenn der magere Mann in den Wald geht, schämt er sich sehr, das zuzugeben,

aber er hat ständig schreckliche Angst. Der Wald ist so riesig und menschenleer

und heiß und immer voller eigenartiger Geräusche ... Ihm ist immerfort einsam

zumute und bang, und er weiß gar nicht, wovor er Angst hat . . ."

ln der Einfachheit dieser Worte lag ausnahmsweise nichts GeKinsteltes, das

sptirte Fanny instinktiv. Aus ihr sprach Louis'zltn G'änze entblößte Seele, unge-

schützt und unendlich verletzlich in ihrer ungewohnten Nacktheit. Was Mrs. B. -wer immer sie war - als wohlbedachtes Zugeständnis eines Alteren an die furcht-

same Kindernatur ansehen mochte, konnte Fanny besser deuten. Als Louis berich-

tete, wie er einmal einen Fluß hatte überqueren wollen und ihm plötzlich ein Schlag

versetzt worden war, der ihn kopfüber vom Pferd riß, hielt sich Fanny erschrocken

die Hand vor den Mund. Nur eine dumme Kokosnuß ... aber Kokosnüsse erwie-

sen sich oft als tödlich auf Samoa,

Louis fürchtete sich also vor der Macht des Urwaldes und ritt dennoch so oft

ganz allein hinein. Wollte er dem unbezwinglichen Urwald trotzig die Stirn bieten

wie sein Vorbild Don Quijote auf seinem dürren Roß oder eher wie ein Kind, dem

es vor dem Dunkel und den Spinnweben und den Gespenstern des Kellers grauste

und das sich gerade deswegen verbissen pfeifend die Stiege zur Finsternis hinab-

quälte? Fanny wußte nicht, welches von beiden es war; sie erkannte nur, daß Lou-

is den Dschungel täglich aufs neue herausforderte. Er war David, der Urwald Go-

liath. Aber der Urwald hier war kein biblischer Ort. Falls es der Wahrheit ent-

sprach, daß auf der anderen Seite der Erde einst ein Knabe einen zweibeinigen

Riesen zur Strecke gebracht hatte, berlihrte das diesen tausendfach verwurzelten

Giganten nicht im geringsten.

Möglicherweise, überlegte Fanny oft, würde Louis nicht annähernd so häufig

sein lückenlos umzäuntes Refugium verlassen, wenn er sich dabei nicht stets in

Begleitungjenes anderen befände, in der Gesellschaft des großen Zauberers Tusitala

näimlich. Tusitala besaß seine eigene Macht, die Louis gegen den Widersacher

beschützen sollte. Zum Zeichen dafür trug Louis Tag und Nacht jenen Ring, wel-

chen ihm die samoanischen Eingeborenen kurz nach seiner Namensgebung ver-

ehrt hatten: ein kostbar verziedes Schmucksttick, aus Schildpatt gefertigt, das aus

Silber geformte Wort Tusitala kunstvoll in den Reif eingelegt. Louis trug es am

rechten Ringfinger. Den gravierten Ehering, den er seinerzeit mit Fanny getauscht

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hatte, behielt er an seiner linken Hand, wie das in Fannys amerikanischer Heimatüblich war. Der Ring mit Ttrsitala darin steckte an seiner rechten Hand, wie das inLouis' europiüscher Heimat nach der Hochzeit üblich war ... Bedeutete dieser

Umstand, daß Louis rechtn?ißig ein Paar mit Tusitala bildete?

Nun aber waren mittlenveile mehr als acht Wochen verstrichen, seit Louis-Tusitala seine fürstlichen Geburtstagsgäiste bewirtet hatte, und noch immer mach-

te niemand die leisestenAnstalten, seinen so geschmackvoll und erfinderisch vor-getragenen Wunsch zu erfüllen. Louis wurde zuerst von Tag za Tag, dann von

Stunde zu Stunde unruhiger. Schon das unerwartet zögerliche Verhalten der Häupt-linge unmittelbar nach seinerAnsprache, als seine Worte kaum verklungen warenund dieWucht ihrerBedeutsamkeit dieWZinde derHütte sprengen zuwollen schien,

hatte Louis außerordentlich irritiert. Ob er die unerhörte Tragweite seines Wun-sches nicht erfaßte? Fanny bezweifelte das stark. Louis-Tusitala hielt sich selbst

für einen unerhört mächtigen Mann, und nicht einmal zu Unrecht.

Nach anfiinglichem entsetzten Raunen und einer ebenso langen Spanne be-

tretenen Schweigens hatte sich endlich HäuptlingApa Loto dazu aufgerafft, eini-ge passende Worte an Tusitala zu richten. Häuptling Misifolo übernatrm nach wievor die Aufgaben des Übersetzers. Apa Loto versicherte, auch im Namen seiner

beiden Mitstreiter für König Mataafas Sache, daß der Wunsch des großen Tusitalaallen Samoanern heilig sei und seine guteAbsicht jedermanns Bewunderung ver-diene. Dann allerdings wiesApaLoto bedauemd auf die Schwierigkeiten hin, diedem Straßenbau zvr Zeit noch im Wege stünden. Nicht einmal Louis konnte sichden Argumenten verschließen, die Apa Loto vorbrachte: Der Häuptling und seine

beiden gleichrangigen Begleiter waren die einzigen Gefolgsleute Mataafas, die an

der Geburtstagsfeier teilnehmen konnten, aus dem schlichten Grunde, weil von

allen Teilnehmem des Mahles in Apia nur diese drei sich bereits auf freiem Fuß

befanden. Es ging das Gerücht um, daß König Mataafa von den Deutschen ins

Exil auf die Marquesasinseln geschickt werden sollte; sogar die Engländer befür-worteten den Plan der Deutschen, und die Amerikaner hielten sich wohlweislichaus der ganzen verzwicktenAngelegenheit heraus. Wenn aber Mataafa gehen mußte,

blieb unklar, ob man nicht gleichzeitig die Mehrzatrl seinerAnhänger fortzuschaf-

fen gedachte . Zwar schien das unwahrscheinlich, denn die Deutschen hatten sich

bisher stets recht nachsichtig gezeigt, doch wußte niemand etwas Konkretes.

Wohlgemerkt waren das nicht Häuptling Apa I-otos genaue Worte gewesen, denn

den Begriff,,Gerüchf'kannte er nicht. Es waren allerdings unterschiedliche ,,Wahr-heiten" zu ihm durchgedrungen, die sich zu seinem Leidwesen nur schwer miteinan-

der vereinbaren ließen: König Mataafa war tot; König Mataafa lebte friedlich mitseiner katholischen Frau nebst den anderen Gattinnen auf Savaii; König Mataafa

sollte demnächst von den Deutschen als rechtnäßiges Oberhaupt eingesetzt werden.

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Unter solchen Voraussetzungen erkannte sogar Louis, daß er sich gewaltsam

zur Geduld zwingen mußte. Er hofte darauf daß bald stimtliche Häuptlinge von

den deutschen ,,Fronherren" die Freiheit zurückerhielten, damit er sie umgehend

für seine eigenen Zwecke einsetzen konnte - zugleich natürlich für das Wohl aller

Bewohner, also für das Wohl der Insel.Im Laufe der vergangenen acht Wochen

hatten Fanny und er sämtliche Informationen aufzuschnappen versucht, die sich

im Umlauf befanden. Eine weitere Handvoll samoanischer Häuptlinge hatte of-

fenbar das Gefängnis verlassen dürfen, soviel schien eindeutig festzustehen. Was

mit derüberwältigenden Mehrheit geschah, wußte niemand. Und so wartete Lou-

Is...Seit seinem Gebudstag wurde er zunehmend neryöser und gereizter, was ihn

nicht hinderte, dasselbe von den Mitgliedern seines Klans zu behaupten. Die Tat-

sache, daß er die Festlichkeiten anläßlich seines Ehrentages nicht nur empfindlich

beeinkächtigt, sondem beinahe zum Erliegen gebracht hatte, ignorierte er völlig.

Den Häuptlingen und ihren Frauen war das nackte Entsetzen anzusehen gewesen.

Naturgemäß steckten die drei direkt betroffenen Ehrengäste im schlimmsten Zwie-

spalt von allen. Die restlichen Samoaner erschauerten lediglich bei der Vorstel-

lung, daß ein Insulaner - obendrein ein Häuptling! - wirkliche, wahrhaftige Ar-

beit verrichten sollte. Das von Tusitalas Ansinnen heimgesuchte Dreigespann da-

gegen benahm sich wie vom Donner gerührt. Die Männer sahen unglücklich zu

Boden, als könnten sie dort einenAusweg aus ihrer Lage entdecken, während ihre

Frauen aufgeregt durcheinanderplapperten und keinerlei Rücksicht mehr auf die

Regel natrmen, daß man vor Fremden nicht in fremder Sprache zu reden hatte.

Nach einiger Zeitbrachtendie Häuptlinge ihre erbosten Gemahlinnen zum Schwei

gen, zweifellos mit dern Argument, daß ein Versprechen, einmal gegeben, nicht

zurückzunehmen war, selbst wenn es nur eine belanglose Höflichkeitsfloskel dar-

stellte wie die meisten Schwüre dieserArt auf Samoa. Wer hatte denn auch ahnen

können, damals in Apia, daß der Tusitala einmal mit einer solch unglaublichen

Bitte herausrücken würde!

Wie Fanny bereits vorausgeahnt hatte, zeigte danach niemand mehr Interesse

an dem unterbrochenen Festnahl, und auch die anschließende Tanzzercntorie verlor

ganz erheblich an Anziehungskraft. Wäihrend sich die Dienerschaft fröhlich und

ausgelassen zu Inselkläingen bewegte, schauten Häuptling Talupu und sein Lei-

densgenosse Nulimu fortwährend auf den großen Tusitala und beschworen ihn

ftirmlich mit den Augen. Nur - Tusitala erwiderte ihren Blick niemals. Er hatte

gesagt, was zu sagen war, und die Sache war damit fürs erste erledigt. Als Nulimu

und Talupu merkten, daß sie nichts auszurichten vermochten, fielen ihre verzwei-

felten Blicke immer öfter auf Fanny. Es verstand sich von selbst, daß sie über ihre

mißliche Lage nie und nimmer mit Worten sprechen würden, schon gar nicht zu

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Fanny; aber sie wagten eindeutig den Versuch, ihr begreiflich zu machen, in welchschreckliche Bedrtingnis ihr Gatte die Häuptlinge durch seine Bitte gebracht hatte.

Fanny mußte keine Gedankenleserin sein, um genau zu erraten, welche Fragen

die drei Männer ihr lautlos zuriefen, während auf der Tanzfläche des Holzhauses

die farbigen Mitglieder aus Tusitalas Sippe ihre eigene pantomimische Darbie-tung zum besten gaben. Warum nimmt der große Tusitala nicht seinen Flaschen-

dämon zu Hilfe? Warum will er ausgerechnet uns?

Und ohne es auch nur im geringsten zu ahnen, stelltgn sich seit dem mißlungenen

Geburtstagsfest - einem Fehlschlag, den außer den Betroffenen im übrigen nie-mand mitbekommen hatte - sowohl Louis als auch die Häuptlinge zweifellos die-selbe bohrende Frage: I(irkt Tusitalas Zauber etwa nicht mehr? Fanny allein wuß-te mit unbeinbarer Sicherheit zu sagen, daß Louis' magische Kraft niemals versie-gen würde, komme, was wolle. Der Zauber des großen Tusitala nämlich war imGrunde nichts anderes als die Fortsetzung des klassischen Stevensonschen Zau-

bers mit - zugegeben - ein wenig abgewandelten, auf die Inselwelt zugeschnitte-

nen Mitteln. Bei näherer Betrachtung jedoch stellte sich heraus, daß Louis sogar

den berühmt-berüchtigten Geist in der Flasche schon sein Leben lang besessen

und benutzt hatte. Das Geftiß für den Dämon war sein eigener, ansonsten so man-

gelhafter, unzulänglicher Körper; der Geist, der aus ihm heraus über die Men-

schen aller Länder gebot, war jene Gabe, die ansatzweise bereits seinen Prediger-

vorfahren treulich gedient hatte. Louis verfügte über diese Gabe in unerschöpfli-

chem Übermaß. Es war Charisma, das durch göttliche Gnade verliehene Talent,

Führer für andere Menschen zu sein.

Doch der Flaschenzauber wirkte noch auf eine andere Art und Weise, die eng

mit der ersteren verknüpft war. Fanny wagte nicht zu ennessen, ob der Prediger-

nachkomme Louis wirklich nur jenem Befehl des Herm Folge leistete, wie alle

verläßlichen Jünger seine Netze auszuwerfen und ein,,Menschenfischer" in Chri-sti Namen zu werden. Blinder Gehorsam gehörte nicht zu Louis' Eigenschaften,

guten oder schlechten. Allerdings legte er tatsächlich seine Menschenfallen aus,

wo er gerade ging und stand; keinem menschlichen Wild gelang es, sich seiner

phänomenalen Anziehungsk,raft nt entziehen. Die Ausstrahlung seiner Persönlich-

keit schien ihm sämtliche Gefangenen ganz ohne sein bewußtes Zutun in die Net-ze antreiben, doch konnte man sich in dieser Beziehung niemals sicher sein. Eines

wußte Fanny mit Bestimmtheit: Louis verstand es, die Seelen derer, die er an sich

fesselte, dauerhaft in Gefüßen einzuschließen, sie gleichsam in die Tasche zu stek-

ken, wie man sagte, und sich ihrer im Bedarfsfalle ohne langes Zögemzu bedie-

nen.

Fanny blickte ihrem Enkel Austin hinterher, der haurig, mit gesenktem Kopfvon dannen trottete, weil der Mittelpunkt seines jungen Lebens heute nicht mit

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ihm ausreiten wollte. Es war noch heller Vormittag, aber für den kleinen Austin

war die Sonne bereits untergegangen, der Tag verdorben. Unter all den schier un-

zähligen ,,Q)fem", die sich ein Leben lang in Louis' sanfter Gewalt befanden,

bildete Fanny die eirlz;ige Besonderheit. Sie fühlte keinen Stolz angesichts ihrerEinzigartigkeit, im Gegenteil; die Ironie ihres Schicksals traf sie mit doppelter

Härte. Fanny nämlich stellte den einzigen Menschen auf Gottes Erdboden dar, der

den wundervollen, sagenhaften Louis nicht um seines seelischen Magnetismus

willen liebte. Anfangs hatte sie den Jäger, dem das Wild wie hypnotisiert entge-

genkam, um sich ohne Gegenwehr gefangensetzen zu lassen, aufgrund seiner Gabe

zutiefst verabscheut. Erst später, viel später, hatte sie dann gelernt, denselben Mann

zu lieben - trotz seiner Gabe. Zum Dank dafür durfte sie sich nun als das mitAbstand unfreieste Lebewesen auf der Insel betrachten. Die Geiseln, um derent-

willen sie ihrer Unabhängigkeit auf ewig Lebwohl gesagt hatte, ahnten unterdes-

sen nichts von ihren wahren Beweggrärnden ...

UnwillHirlich dachte Fanny an ihren ersten Mann zurück, Samudl Osbourne,

der durch sein unmögliches, unverantwortliches Verhalten die Widerstandskraft

seiner Gattin gegen jederlei Ausprägung von Charme nicht nur gefördert, son-

dern geradezu gestfült hatte. Verglichen mit Louis'Kräften wirkten Sams Über-

redungskünste im nachhinein fast lächerlich - wie billige Taschenspielertricks

angesichts echter Magie, Für die zur Zeit der Eheschließung l7jährige Frances

Vandegrift aber hatte sich Sams Westentaschencharme als fatal genug erwiesen.

Seine Anstellung als Sekret?ir des Gouvemeuß von Indiana schien der blutjun-gen Fanny eine sichere Grundlage für jede Ehe zu sein. Wie sollte sie ahnen, daß

sich hinter dem vier Jahre älteren Sam ein ewiger Goldsucher verbarg, den sein

rastloser Geist um und um trieb, der kein halbes Jahr an einem Ort verbringen

wollte und der nichts auf der Welt mehr verabscheute als sichere Verhältnisse!

Mit den ständig wechselnden Lebensumständen, die das Gold- und Silberschürfen

mit sich brachte, verstand Fanny sehr schnell umzugehen, denn das rauhe, primi-

tive Leben im Staate Indiana wirkte aufjederrnann abhärtend, der nicht schon inder Jugend daran zugrunde ging. Fanny war also von Hause aus gut vorbereitet.

Selbst das Dahinvegetieren in der wilden Prospektorensiedlung Virginia Cirymeist allein mit Baby Isobel, ertrug die junge Fanny klaglos: Sie hatte es noch

nicht gelernt, sich zu beklagen. Anstatt mit der Zeit ruhiger und etwas seßhafter

zu werden, wenigstens um seinerTochterwillen, entwickelte sich Sarn zu einem

echten Vagabunden, der mrar mit Schätzen beladen zu Fanny zurückzukehren

pflegte, doch unglücklicherweise stets im Abstand von mehreren Jahren. In San

Francisco lebte Fanny in einem der schönsten Häuser, aber fast immer allein;

seine mehr als ausgedehnten Streifztige auf der Suche nach weiterem Gold unter-

ließ Sam keineswegs. Es wäre ihm nie eingefallen, besagtes Gold als Geschäfts-

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mann in der Stadt zu verdienen, solange er es unter unsäglichen Mühen dem

Erdboden entreißen konnte .., Dann erreichte Fanny die Meldung von Sams ge-

waltsamem Tod, riß sie in Verzweiflung, nur um als Vorbote für das plötzliche

Erscheinen eines höchst lebendigen Samuel zu dienen. Diesem kurzen Intermez-

zo hatte Lloyd seine Entstehung zu verdanken, und schon war Sam wieder ver-

schwunden. Abermals erklärte man den abwesendenAbenteurer für tot, abermals

kam er zurück, um einen Sohn zu zeugen und sich kurz daraufaus dem Staube zu

machen. Daß Sam jedesmal den Heimweg zu Fanny fand, stand außer Zweifel,nur wurde diese Gewißheit mittlerweile zu einer Quelle der Beunruhigung: Diest?indige nervenzermürbendeAbfolge von scheinbarem Tod und allzu realer Ge-

burt zehrte stärker an Fannys Kräften, als es das Leben aufder Prärie vermocht

hatte. Fanny, die zwischen Sams fruchtbaren Besuchenifue Zeit damit verbrach-

te, künstlerische und literarische Zirkel n gründen und so das kulturelle Brach-

land namens San Francisco mit nachhaltigem Erfolg zu bepflanzen, hatte keinen

Sinn mehr für Sams dramatische Auftritte. Sie verfaßte mittlerweile selbst Dra-

men und besaß genügend Sachverstand, um das Treiben ihres Gatten als

Schmierenkomödie entlarven zu können. Zum Lachen war ihr allerdings kaum

zumute, und so beschloß sie eines Tages kurzerhand, den Spieß umzudrehen und

ihrerseits das Weite zu suchen, bevor sie und ihre Kinder den unvermeidlich tra-

gischen Teil des Dramas zu spären bekamen. Immerhin blieb Fanny dabei rück-sichtsvoll genug, Sam ihre jeweiligenAdressen in Europa mitzuteilen - ob es ihn

nun interessierte oder nicht.

Hier auf Samoa hatte Fanny Zeit im Überfluß, um über die Richtigkeit ihres

Verhaltens injenem Jahre 1875 nachzugrübeln, als sie die trügerische Sicherheit

ihres Haushaltes an der amerikanischen Westktiste gegen die völlige Unsicherheit

eines Lebens in Paris eingetauscht hatte. Sam erfuhr nie, daß Fanny ihn nur um

seinetwillen verließ; sie ,,entschuldigte" ihr mutwilliges Entweichen aus dem Kä-

fig mit der bedrohten Gesundheit ihres Jüngsten, Hervey. Es stimmte, daß Hervey

die feuchte, diesige Luft San Franciscos nicht gerade zuträglich war. Hervey, der

seinen Geschwistern kaum ähnelte, wirkte so zerbrechlich, so zart und durchschei-

nend, als sei er gar kein wirkliches Kind, sonderr; wie manche Leute es auszu-

drücken pflegten, ein Engel auf kurzem Besuch im irdischen Jammertal. Seine

goldenen Locken und tiefblauenAugen verstdrkten noch diesen sonderbaren Ein-

druck, welcher sich nur allzubald als wahr erweisen sollte. Jedenfalls reichte

Herveys angeschlagene Gesundheit sogar für den verantwortungslosen Sam als

Begründung aus, sich verpflichtet zu fühlen, Fanny regelmtißig winzige Geldsum-

men zu überweisen. Dieses Bargeld und ein wenig ererbter Schmuck wärden Fanny

und ihren drei Kindern in Paris schon irgendwie über die Runden helfen, wie sie

inständig hoffte. Sie täuschte sich grändlich.

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Nein, ihre Kinder mußten selbstverständlich nicht darben - zumindest nicht im

strengen Sinne, denn das hätte Fanny niemals zugelassen. Ihre Freiheit, mit 17

Jahren verloren und nun neu gewonnen, bedeutete ihr viel, doch nicht annähernd

genug, um sehenden Auges Leben und Wohlergehen ihrer Kinder aufs Spiel zu

setzen. Und dennoch tat sie genau das. Nach wenigen Monaten in Paris, im Laufe

eines bitterkalten Winters, zog sich Hervey ein schleichendes Leiden zu, das der

hinzugezogeneArzt auch für teures Geld nicht zu definieren wagte, wie er sagte:

Wahrscheinlich hatte er die Hoffnung für ihren Kleinen bereits aufgegeben. Was

Fanny sah, meinte sie selbst unschwer als Schwindsucht erkennen zu können. Ih-

ren verbliebenen Schmuck trug sie ins Pfandhaus und kaufte dem dahinsiechen-

den Hervey Leckerbissen und Spielsachen, die anzurähren der Junge schon nicht

mehr die Kraft aufbrachte. Sein Lebenslicht wurde täglich, ständlich schwächer,

flackerte für Momente auf und verlosch endlich gara. Den völlig ausgezehrten

Körper des Fünlährigen begruben Fanny und ihre beiden Alteren auf dem Fried-

hof Pöre Lachaise, in einem jener pietätlosen Gräber, die ihre Bewohner nur für

die Dauer von fünf Jahren - mithin Herveys Lebensspanne - aufnahmen und die

Gebeine nachAblauf der Frist in die Katakomben ausspien.

Schon damals, im Winterjenes Jahres 1876, hatte Fanny darüber nachgegrübelt,

ob diese Prüfung nicht gleichzeitig eine Bestrafung für ihre Selbstsucht darstellte.

Die Frage nach einem Gott, der ihr Hervey entrissen hatte, schien ihr zweitrangig

-jedenfalls weit weniger wichtig als der offensichtliche Zusammenhang zwischen

Ursache und Wirkung. Ohne den eisigen, mörderischen Pariser Winter wäre Henrey

noch am Leben. Fanny schwor sich in jenem Winter, an Herveys bejammernswert

armseliger Grabsfätte, daß nie wieder eines ihrer Kinder unter ihren Kapricen zu

leiden haben sollte, Das Wohl von Belle und Lloyd würde ihr fortan über alles

gehen, auch wenn das bedeutete, daß Fanny ihre eigenen Bedürfnisse für den Rest

ihres Lebens zugunsten ihrer Kinder ignorierte.

Wenn Fanny sich selbst gegenüber ehrlich Rechenschaft abgab, mußte sie ge-

stehen, daß dieser frei erwählte ,,Opfergang" sich zunächst nicht sonderlich be-

schwerlich gestaltet hatte. Sie war ursprünglich eigens nach Paris aufgebrochen,

um in dieser Weltstadt der schönen Kikrste zu lernen, zu studieren und ihre eigene

Malerei zu vervollkommnen. In Paris hatte die respektable Bürgerliche, die das

gesunde Selbstbewußtsein der Pionierfrauen und zugleich das kulturelle Minder-

wertigkeitsgefühl allerAmerikaner mitgebracht hatte, mit atemberaubender Schnel-

ligkeit erkannt, daß sie inmitten der dort ansässigen Künstlerhorden nichts zu be-

fürchten ... und absolut nichts verloren hatte. Nach wenigen Tagen schon vergaß

sie die Beklommenheit, mit der sie bei ihrerAnkunft sowohl Werke als auch Lo.

bensweise der Einheimischen mit ihrer eigenen, zwangsläufig ,,bourgeoisen" Sicht

der Dinge verglichen hatte. Die meisten Vertreter des Künstlervölkchens rund um

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die Akademie gehörten keineswegs zu den Berufenen, zu denen sie selbst sich

prahlerisch zählteq viele von ihnen waren schlicht und ergreifendjunge Schnö-

sel, die ihren Vätern auf der Tasche lagen und sich inmitten gleichgesinnter ,,Schön-geistef'angenehme Tage und wilde Nächte zu machen gedachten. Jeder in der

Hauptstadt hielt sich für ein besonderes, von den Musen auserwähltes Wesen -gemeinsam bildeten diese Jtfurger der Kunst nicht mehr als eine Schafrrerde, wenn-gleich eine, die sich aus überwiegend schwarzen Exemplaren zusammensetzte.

Fanny amüsierte sich köstlich über die jungen Leute und betrachtete ihr ausgelas-

senes Treiben mit wohlwollenderNachsicht. Die anf?ingliche Furcht, ihnen unterle-gen zu sein, verflüchtigte sich im Handumdrehen. Fanny kam sogar zu dern Schluß,

daß die hart arbeitenden Feierabendmaler von San Francisco oft wahrhaftere künst-

lerische Beseeltheit besaßen als die Pariser.

Ihren Sohn Hervey hatte Fanny unwiederbringlich verloren; nun galt es der

Stadt schleunigst den Rücken zu kehren, um Lloyd zu retten. Mit jenem un-

heilverheißenden Gesichtsausdruck, den sie seit dem Siechtum ihres Jüngsten nur

allzugut kannte, legte der behandelnde Arzt ihr einen sofortigen Ortswechsel ans

Herz: ,,Madame, es ist unerl2ißlich, daß Sie dieses Kind aufs Land schicken. DerJunge ist einem Nervenzusammenbruch nahe, und wenn Sie ihn nicht umgehend

aufs Land hinausbringen, lehne ich jede weitere Verantwortung ab."

Bereitwillig leistete Fanny dem eindringlichen Ratschlag Folge und reiste mitLloydund Belle in das Örtchen Grez,einrerzrrolles, altes Städtchen am Saum des

Waldes von Fontainebleau. Auch hier, so hatte man sie vorgewarnt, hauste eine

verwilderte Rotte von Bohemiens; der Gasthof, in dern sie absteigen sollte, sei

gottlob ,,künstlerfrei". Fanny verbarg mühsam ihre Belustigung ob der zweifellosgutgemeinten Wamung, beschloß allerdings, sich strikt aus jedem,,krinstlerischen"

Treiben herauszuhalten und sich statt dessen voll und ganz ihrem Sohn und dessen

Gesundheit zu widmen. Wieder einmal entwickelte sich alles anders als geplant,

denn ausgerechnet Lloyd, der in der sonnigen, fröhlichen Atmosphäre von Grez

von Anfang an wie ausgewechselt schien, zog es unter die gefürchteten, berüch-

tigten Boherniens. Auch Belle, die zusehends zu einer anmutigen jungen Darne

heranwuchs, zeigte sich dem scherzhaften Werben der Tunichtgute um sie her

nicht abgeneigt, und so mußte Fanny die beiden zwangsläufig begleiten. Verstoh-

len gestand sie sich ein, daß sie weit mehr Vergnügen empfand, als es einer pflicht-bewußtenAnstandsdame zukam - denn auch Fanny wurde heftigst umschwärmt.

Nach wenigen Tagen stellte keiner der Osbournes mehr einen Fremdkörper in der

Siedlung dar: Sie gehörten vielmehr zum Kern der Truppe.

Schon zu Beginn ihres Aufenthaltes in Grez - ja, wenn sie es recht bedachte,

bereits in Paris! - waren Fanny wilde Gerüchte über zwei offenbar über die Ma-

ßen verdorbene und zwielichtige Gestalten zu Ohren gekommen. Nannte man ihre

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Namen, senkte sich Stille über jede Gesellschaft, entsetztes Schweigen herrschte

dann bei der Bevölkerung des Städtchens, stumme Andacht bei den Bohemiens.

Dieselben drei Worte hörte Fanny immer und immer wieder: die nuei Stevensons !

Noch hielten sich die,,zwei Stevensons", die ihrem Ruf zufolge wahre Wundertie-

re sein mußten, fern von Grez auf und wurden mit heißer Inbrunst täglich zurück-

erwartet. Sie genossen ihren zweifelhaften Ruhm nicht zuletzt aufgrund der wag-

halsigen, absolut hirnverbrannten Exkursionen, die sie zu Lande und zu Wasser zu

untemehmen pflegten, Die allgemeine Aufregung angesichts der ersehnten Wie-

derkehr der,,zwei Stevensons" übertrug sich schnell aufden phantasievollen, ner-

vösen, leicht beeinflußbaren Lloyd. Augenscheinlich trachtete einjeder der in Grez

ansässigen Känstler begierig - beinahe ?ingstlich! - danach, sich des Wohlwollens

jener,,zwei Stevensons" nachhaltig zu versichem. Ob jemand Lloyd den Floh ins

Ohr gesetzt hatte oder ihr Sprößling selbst auf die Idee verfallen war, wußte Fanny

nicht zu sagen: Lloyd bildete sich ernsthaft ein, es liege in der Macht der ,,zwei

Stevensons", Fanny und ihre Kinder aus der paradiesischen Kolonie von Grez zu

vertreiben. Nun, sie würde abwarten, schwor sie sich damals. Und wenn irgendein

hergelaufener Stevenson ihr den rechfrnäßig erworbenen Platz streitig machen

wollte, sollte er es nur versuchen!

Im nachhinein erschien Fanny der Umstand völlig angemessen, daß damals die

,,zwei Stevensons" nicht gleichzeitig zurückgekehn waren. Louis war der unum-

strittene Abgott der Gemeinde, während sein Vetter Bob seinen Propheten dar-

stellte. Und ein Prophet war schließlich hauptsächlich dazt da, die Ankunft seines

Gottes anzuktindigen und angemessen vorzubereiten ... Nattirlich erfreute sich

Bob Stevenson der allgemeinen Huldigung seitens der gläubigen Gemeinde, aber er

genoß nur den Vorgeschmack dessen, was den göttlichen Louis erwartete, falls der

Gesalbte den Jtingem zu Grez endlich die Ehre zu geben geruhte. DieAdventszeit fiel

in jenem Jahre eindeutig in die Sommermonate! Fanny, die diese l?icherlicheAnbe-

tung in allen Einzelheiten mitbekam, konnte sich nicht entscheiden, ob sie lachen

oder weinen sollte. Bob Stevenson, den sie unbefangen begrüßt und bereits näher

kennengelemt hatte, gefiel ihr ausnehmend gut. Sie mochte seine abenteuerliche Klei-

dung und insbesondere sein schiefes Grinsen. Es war jenes typische Wolfslächeln,

das sie erst später in perfekterAusprägung an Louis, dem Urheber, entdeckte. Irgend-

warur begann es wohl jeder seiner Gtinstlinge und Epigonen aufzusetzen - wobei ein

waschechter Stevenson, zudem ein Vetter des großen Louis, das göttliche Merkmal

von Natur aus besser zu imitieren imstande war als andere, gewöhnliche Menschen.

Zu allem UUs.fluß tug Bob auch noch denselben Vomamen wie sein Verwandter,

was bei Fanny wiederholt zu Verwechslungen führte. Eines erkannte sie jedoch auf

Anhieb: TroE seines scblechten Rufes und seines abenteuerlichen Gebarens war Bob

Stevenson ein sanftes Lamm im Wolßpelz.

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In Fannys Gegenwart legte er augenblicklich jede Verstellung ab und offenbar-

te ihr bereitwillig sein wahres, überraschend schüchtemes Wesen.

Wtihrend sich Fanny und ihre Kinder mit Bob anfreundeten, hieß es in der

gesamten Kolonie mittlerweile nur ununterbrochen: ,,Warte, bis Louis kommt!"

Diese Worte, die den damals achtjährigen Lloyd anAussprüche zu gemahnen schie-

nen wie etwa ,,Warte, bis der Schwarze Mann dich holen kommt", verfehlten kei-

neswegs ihre Wirkung auf die ohnehin überreiae Einbildungskraft des Jungen.

Zwar verspürte Lloyd Angst bei den Worten, die man überall und bei jeder Gele-

genheit vemahm, doch wuchs gleichzeitig schon jetzt seine anbetende Bewunde-

rung fürjenes ferne Götterwesen ins Unermeßliche. Lloyd begann diesen,,Louis"

zu lieben, lange bev'or er ihn das erste Mal vonAngesicht zuAngesicht satr. ,,Lou-

is" wußte und konnte alles, ,,Louis" war.der geistreichste, faszinierendste Mann

auf der Erde, ,,Louis" war diejenige höchste Instanz, die man zu Rate ziehen muß-

te, wenn ordinären Sterblichen nichts mehr gelingen wollte. Allein die pittoreske Art,

wie er der Sage nach gewöhnlich in einer winzigen Segeljolle nach Grez geschippert

kam und jede Nacht draußen unter dem Stemenzelt zubrachte ... Louis hatte sich,

ohne es zu alrnen, ohne überhaupt körperlich anwesend zu sein" zum ausschließli-

chen Inhalt von Lloyds kindlicher Gedankenwelt aufgeschwungen. Schon viele Wo-

chen vor Louis'Ankunft war Lloyd sein glücklichster Gefangener gewesen ...

Bereits damals hatte der Junge seine Mutter doch tatsächlich zu fragen gewagt,

warum sie kein ,,hellblaues Samtgewand" besäße und ob sie sich nicht ein solches

Kleid beschaffen wolle, um den allseits angehimmelten,,Louis" ein wenig stärker

zu beeindrucken als andere Frauen. Hätte Fanny nicht nach wie vor auf Lloyds

geschwächtes Nervenkostlim Rücksicht genommen, wäire ihr spätestens nach die-

ser Bemerkung die Hand ausgerutscht. Was sie noch verrückter anmutete, war

Lloyds leise geäußertes Bedauern darüber, daß er nicht die goldenen Locken und

meerblauenAugen des verstorbenen Hervey besaß. Bei jenen Worten schüttelte es

Fanny innerlich. Der Schmerz um ihren Jüngsten, noch nicht verebbt, kehrte durch

Lloyds widersinnigen Wunsch mit doppelter St?irke wieder.

Dann eines Tages, als der Weg für die Rückkunft des großen Louis hinreichend

geebnet war, saßen etwa 16 oder 18 Personen gerade beimAbendmahl im Gasthof

beisammen, als es geschah. Lautes Poltern und Scheppern ertönte plötzlich an

einem der aufdie Straße hinausschauenden Fenster, Gepäckstücke flogen in das

Innere der Schankwirtschaft, und mit einem einzigen riesigen Satz sprang ein jun-

ger Mann herein, der ein staubiges Felleisen auf dem Rücken trug. Die Tischge-

sellschaft erhob sich wie auf Befehl und umringte den Ankömmling unter lauten

Jubelrufen. Zwei Dutzend Häinde streckten sich sehnsuchtsvoll nach ihm aus und

beriihrten den jungen Mann am ganzen Körper. Am liebstenwürden sie den Saum

seines Gewandes küssen, schoß es Fanny durch den Kopf, und beinahe hätte sie

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laut aufgelacht. Mittlerweile hatten zwei der Jünger den Ehrengast auf ihre Schul-tern gehoben; nun trugen sie ihn auf den Stuhl, den man geschwind in der Mitteder frohen Runde postierte. Wrirdevoll wie ein König nahm der große Louis -natärlich war er niemand anderer! - auf seinem Thron Platz und wurde alsdann

unter Durcheinandemrfen und glücklichem Lachen den drei ,,Neuen" in der Ge-

meinde vorgestellt. ,,Mein Vetter, Herr Stevenson", verkündete Bob feierlich, in-dem er gravitätisch den Kopf neigte und so dem Amt des Hofrnarschalls und Zere-

monienmeisters vollauf gerecht wurde. Fanny wulderte sich, daß die Vorstellung

nicht umgekehrt erfolgte, damit der König durch ein lässiges Nicken seine Zu-

stimmung zu ihrer Anwesenheit, ja ihrer unwürdigen Existenz geben konnte.

Fanny war als einzige Anwesende nicht aufgestanden. Zum ersten Mal traf nun

Louis'Blick auf den ihren. Ob er in Fannys Augen ihre instinktiveAblehnung las?

Die Botschaft in seinen schwarz blitzendertAugen war dafür unmißverständlich:

Wartb nur ab - dich Widerspenstige erwische ich auch noch ...

Was für eine sorgfältige und doch erbärmliche Inszenierung, hatte Fanny imstillen erwidert, und was für eine unwürdige Art der Selbstdarstellung. Alle ande-

ren sind ihm rettungslos vedallen.

Doch Fanny hielt ohne das leiseste Blinzeln seinem sanften Tyrannenblick stand.

Zu allem Überfluß hatte sie ihrerseits ein feines, spöttisches Lächeln für ihn parat,

und zwar ihre private, persönliche Ausprägung - selten benutzt, aber stets wirk-sam. Es war dermaßenzart, daß mitAusnahme von Louis niemand es registrierte,

was Fanny nur recht sein konnte. Indem sie halb züchtig, halb kokett die Augen

niederschlug, begrüßte sie Louis aufdas freundlichste.

,,Seien Sie von Herzen gegrüßt, Robert Stevenson Nummer zwei. Endlich ha-

ben Sie also die Markierungen entziffem können, die der große Robert dem klei-nen Vetter in weiser Voraussicht auf seinem Heimweg hinterlassen hat. Aus Erfah-

rung weiß ich, daß das Spurenlesen eine hohe Kunst ist, die unter Strapazen er-

lemt sein will. Gottlob genossen Sie die Hilfe Ihres liebevoll um Sie besorgten

Vetters! Aber sagen Sie, Robert der Zweite, hatten Sie Schwierigkeiten, durch die

Ttir zu gelangen? Als wir anderen vorhin eintraten, bewältigten wir dieses gewag-

te Unterfangen ohne die geringste Mühe."

Der hinterhältige Schachzug, Original und Kopie vor aller Ohren lässig auszu-

wechseln, erschütterte Louis bis ins Mark. Oh, er behielt sich unter nahezu voll-kommener Kontrolle und fegte Famys impertinente Bemerkung mit lautem La-chen hinweg; doch für den winzigen Bruchteil einer Sekunde vermochte Fanny

den Anblick des Höllenfeuers zu erhaschen, das in seinen Augen loderte. Blitz-schnell senkte sich ein Vorhang überjenes erschreckende Bild, das Fanny trotzihrer herausfordemden Reden niemals zu sehen erwartet hätte. Ihr stockte der

Atem.

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Das anschließende Gastrnahl, das durch dieAnkunft des großen Louis erst richtig

in Schwung kam und bald von einer ausschweifenden Zecherei begleitet wurde,

schien für den Rest der Gesellschaft durch keinerlei Verstimmung getrübt. Fanny

und Louis jedoch befanden sich bereits mitten in dem Krieg, den sie einander

offen erklärt hatten - wenn auch ,,nur" durch Blicke und Gesten. Was die Ah-

nungslosen um sie her als verspielten Scherz und womöglich als kaum verstecktes

Liebäugeln deuten mochten, war in Wahrheit ein erbitterter Zweikampf. Es ging

dabei nicht um die Eroberung einer Frau im klassischen Sinne. Louis hatte zwar

zahlreiche ,,romantische" Erfahrungen gesammelt, wie sich später herausstellte,

doch besaßen Liebeleien - ob erfolgreich oder enttäuschend - keinen allzu großen

Stellenwert für ihn. Hier ging es um unendlich viel mehr. Louis konnte nicht be-

greifen, geschweige denn akzeptieren, wie ein menschliches Wesen, Mann, Frau

oder Kind in der Wiege, nicht augenblicklich im wärmenden Feuer seines Charmes

dahinschmolz und anbetungsvoll auf die Knie sank.

Fannys erster Fehler war es gewesen, damals den Fehdehandschuh aufgenommen

zu haben. Ihr zweiter Fehler bestand darin, den Feind gnadenlos weiter zvreizen

und aufzustacheln. Ihre Kämpfernatur erlaubte zu jener Zeit keine andere Vorge-

hensweise, und doch ... Am schlimmsten war allerdings die böse Ironie, daß aus-

gerechnet ihre für den Durchschnittsamerikaner außergewöhnliche historische

Bildung ihr eine schreckliche Waffe in die Hand gab, die sich nach Gebrauch

umgehend gegen sie selbst wenden sollte. Sie hätte gar nicht einmal gewußt, wo-

von sie sprach, wenn sie in San Francisco nicht jahrelang Muße gehabt hätte, in den

Büchern ihres Mannesüberschoffische Geschichtenachzulesen.Auch Sam Osboume

war vemarrt in die Lebensumstände seiner vermeintlichen ,,Vorfahren ' ...

,,Mir ist zu Ohren gekommen, Mr. Stevenson", hatte sie ins allgemeine Ge-

spräch eingeworfen, ,,daß Sie wie Ihr Vetter von Kopf bis Fuß ein waschechter

Schotte sind. Die königliche Familie der Stuarts genießt demnach, wie ich anneh-

me, Ihre ungeteilte Bewunderung?" Dazu lächelte Fanny honigsüß.

Louis runzelte erstaunt die Stirn, neigte den Kopf zur Seite und lächelte. Dies

wat Nt Abwechslung und zu Fannys großem Erstaunen ein träumerisches, ver-

sonnenes Lächeln, weder gektinstelt noch selbstbewußt und daher auch für Fanny

überaus einnehmend. Beinahe bereute sie schon, den nächsten logischen Schritt

gehen zu müssen. Sie zwang sich dazu.

,,Man hat Sie richtig informiert, Madame", gab Louis erwartungsgemäß zr.lr

Antwort. ,,Der Klan der Stuarts verdient, wie ich meine, jedermanns ehrliche Hoch-

achtung und Sympathie."

,,Nun, ich als Frau verstehe nattirlich nicht allzuviel von diesen Dingen", fuhr

Fanny heuchlerisch fort, indöm sie ihre eigene Verstellung von galzem Herzen

verdammte. ,,Ich meine jedoch sagen zu dürfen, daß Sie, verehrter Mr. Stevenson,

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sich Ihrem Stuart-König Jakob und seinem Stamm gegenüber in jeder Hinsicht als

ein würdiger Nachfolger erweisen."

,,Sie spricht von unserem Bonnie Prince Charlie, Louis!" rief Bob Stevenson

fröhlich dazwischen. ,,Er lebe hoch!" Bob ergriffsein Rotweinglas, das er schon

etliche Male geleert hatte, und brachte den Toast aus. ,",A,uf den seligen Charlie!"Louis griffzwar gleichfalls nach seinem Glas, gab sich aber erheblich zurückhal-

tender. ,,Fast aufden Tag genau 130 Jahre ist es her, dalJ die Hochlandhäuptlinge

bei Culloden vernichtend geschlagen wurden von den vedluchten Engländern."

Zögemd setzte er hinzu: ,,Ich bitte untertänigst um Entschuldigung für meinen

kleinenAusbruch, Madame. Sie haben ein glorreiches und zugleich trauriges Ka-pitel berührt. Trinken wir also auf den guten Highland Harry und seine tapferen

Krieger, die für eine ehrenvolle Sache ihr Leben wagten und es gegen die nichts-

würdigen Engländer verloren." Louis hob sein Glas langsam, starte ein paar Se-

kunden nachdenklich hinein und stürzte den Inhalt dann in einem Zuge hinunter.

Da fiel ihm unvermittelt Fannys Kompliment wieder ein.

,,Womit ich die Ehre verdiene, von Ihnen mit den Nachfahren James des Zwei-ten verglichen zu werden, weiß ich zwar beim besten Willen nicht - aber ich dan-

ke Ihnen verbindlichst für die Artigkeit, Madame." Louis stand auf und machte

eine galante Verbeugung. Seine Miene war ernst. Fanny brach es fast das Herz,

mit ihrem Schlachtplan fortzufahren.

,,Ich meine, die Übereinstimmungen springen jedermann ins Auge, der nicht

völlig blind ist", sprach sie eisig. ,,Allein der Name Ihres gepriesenen Prinzen ist

vielsagend - ,Highland Harry'! Für mich klingt das nach einem Straßenräuber,

einem hergelaufenen Halsabschneider, der seine armen Untertanen bis aufs Blutaussaugte, Und das Schlimmste war, daß sich diese Untertanen selbst in seine

Hand begaben, denn schließlich war er alles andere als ihr rechtunäßiger König

,,Madame!" Louis war zutiefst verwundet, ließ sich aber in Gesellschaft seiner

- nun, seiner eigenen Untertanen um keinen Preis gehen. Statt offene Wut zu

verraten, verlegte er sich auf das genaue Gegenteil. Stimme wie auchAugen nah-

men jene sanfte, engelhafte Milde an, die Eingeweihten von dem unter dieser wei-

chen Decke glähenden Feuer ebenso deutlich kündete wie die Rauchsignale der

Prärieindianer.

,,Schon die Art und Weise, wie Sie hier Hof zu halten pflegen", fuhr Fanny

unbarmherzig fort, ,,wie Sie sich von Ihren Freunden feiern lassen . . . Bonnie Prince

Charlie hätte das kaum besser gekonnt, damals in der ,Verbannung'. Die Schlach-

ten durften andere für ihn schlagen, und der Feigling floh kurzerhand ins angeneh-

me französische Exil, wo er den ganzen Tag nur Wohlleben und Ausschweifung

genoß. Charlie war kein Freiheitsheld, sondern eine machtbesessene königliche

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Nachgeburt, einer der verdammenswürdigsten Feudalherren, die die Welt gesehen

hat. Schottland kann sich glücklich preisen, daß man den Krieg vor einem Jahr-

hundert nicht für ihn gewonnen hat!"

Fanny merkte sofort, daß sie erheblich zu weit gegangen war, aber sie konnte

ihre Worte nicht mehr zurücknehmen. Die vergnügten, weinseligen Franzosen

verstanden natürlich nicht, wie tiefder Schlag ging, den sie Louis versetzt hatte.

Sie hielten die ganze Szene für ein Gepläinkel, ein bloßes Scheingefecht unter

Freunden, und lachten anschließend nur etwas unsicher, ohne wirklich um den

Stand der Dinge zu wissen. Sogar Bob verkannte die Situation grtindlich. Er pfiffleise durch die Zihne und zwinkerte Fanny zu.

,Nie hätte ich gedacht, Fanny, daß in dir ein so temperamentvolles Wesen

schlummert", murmelte er verwirrt, abör anerkennend. ,,Kann schon sein, daß un-

ser guter Charlie im Grunde ein ziemlich krummer Hund war - wenigstens war er

ein echt schottischer Hund, das mußt du zugeben. Was allerdings Louis mit ihm

zu schaffen hat, kapiere ich nicht. Du kennst unseren Louis doch kaum. Louis ist

die edelste Seele auf der ganzenWelt. Eher würde er sich die rechte Hand abhak-

ken, bevor er andere Menschen versklaven könnte. Stimmt's, Leute?"

,,Stimmt!" riefen alle wie aus einem Munde und lachten dabei. Amen, dachte

Fanny nur, Auch sie lächelte.

Louis hob inmitten des Tumults um seine Person lautlos die Hand, um sich zu

Wort zu melden, Man erkanate seine Absicht und verfiel augenblicklich in völli-ges Schweigen. Niemand gab auch nur einen Mucks von sich. Nein, sie waren

keine Sklaven.

,,Die hochverehrte Mrs. Osbourne hat völlig recht mit ihrer Einschätzung - ich

meine, soweit sie Charlie betrifft." Louis neigte den Kopf vor Fanny. Noch einmal

füllte er sein Glas aus der Rotweinkaraffe und prostete ihr darauftrin zu. ,,Einen

Toast auf Mrs. Osbourne, eine echte amerikanische Demokratin ... und anschlie-

ßend einen auf die kläglich verblendeten Stevensons sowie alle anderen armen

schottischen Hunde auf Gottes Erdboden." Er hob das Glas zum Munde und leerte

es in drei langen Schlucken.

,,Auf alle schottischen Hunde!" echoten seine Anhänger und taten es ihm ge-

treulich nach.

Nach dem Zwischenfall, der nur Fanny und Louis unauslöschlich im Gedächtnis

bleiben sollte, wußte Fanny, daß Louis aufRache sinnenwürde-nicht auf Revan-

che im herkömmlichen Sinne, sondern auf eine zweifelsohne erhndungsreiche

und obendrein überausy'eundliche Form der Vergeltung. Sie brauchte nicht lange

im Dunkeln zu tappen. Allzubald erkannte sie, in welche Richtung er seine Fall-

stricke auslegte. Es waren Lloyd und Belle, die er für den Rest des Abends und

somit für den Rest ihres Lebens in Beschlag zu nehmen gedachte. Während er

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Fanny, die neben ihn zu sitzen gekommen war, ohne es zu wollen, im Laufe der

weiteren Stunden jenes quälend langenAbends nicht weiterbeachtete, widmete er

sich ausgiebigst den kleinen Sorgen und Nöten ihres Nachwuchses. Lloyd lechzte

sowieso längst nach Louis'Zuwendung: Er jaulte vor Wonne wie ein Welpe, den

man unter dem Bauch krault. Auch Belle wurde bald zu Wachs in Louis'Händen,die im Formen und Zurechtbiegen vonjungen Seelen recht geübt schienen ... Undso landeten Fannys Kinder genau dort, wo ihre verstockte Mutter nie hatte gefan-gen sein wollen: in zwei sorgsam etikettierten Flaschen, auf einem Regal des La-boratoriums von Mr. Louis Stevenson.

,,Mutter, wir brauchen deinen Rat. Soll der Koch zum Mittagessen eine derguten Flaschen aus dem Vorrat aufrnachen?"

Fanny fiel vor Schreck um ein Haar aus ihrem Korbstuhl. Wie hatte Belle sichnur so rücksichtslos anschleichen können; sie wußte doch, daß ihre Mutter in letz-

ter Zeit zusehends schreckhafter wurde!

,,Fla-flaschen?" stotterte Fanny verdattert und war sich zugleich schmerzhaft

bewußt, daß Isobel ihr im Geiste mittlenveile eine ganze Reihe von Qualitätenabsprach, unter ihnen nicht zuletzt die F?ihigkeit des zusammenhängenden Den-

kens und Redens. Nun, wenn es weiter nichts war ...

,,Ja, Flaschen. Ratatui schlägt vor, ein paar Dosen zu öffnen und dazu den Weiß-

wein zu kredenzen, von dem Tusitala noch ein Dutzend auf Lager hat. Dein Gatte

ist nicht da; ihn können wir nicht um Rat fragen. Was meinst also du, Mutter?'Fanny zögerte keine Sekunde. ,,Öffne die Flasche! Öffne sie sofort, bevor wir

es uns anders überlegen!" Dann platzte sie unwillkärlich heraus: ,,Nein, warte -entkorke nicht nur die eine, sondern mach sie alle auf, bevor Louis zurückkommt!"

Belle bedachte ihre Mutter mit einem prüfenden Blick, der die ausgesprochen

kühle Diagnose gleich mit einschloß. Ach, Fanny wußte nur zu gerlau, was die

Kinder hinter ihrem Rücken über sie redeten. Dieser unbedachte Ausbruch würde

das heutige Tagesgespräch bilden - allerdings sicher nicht bei Tisch.

,,Ich denke doch, eine wird reichen, Mutter", entgegnete Isobel gedehnt und

wandte sich zum Gehen. ,,Ich werde Ratatui Bescheid geben." Kopfschüttelnd

machte sie sich auf den Weg.

Fanny sann über die eigent{imliche Faszination nach, die alle Samoaner beim

Anblickundbesonders beim Öffirenvon ordin?irenBlechbüchsen ernpfanden. Auch

Ratatui, ihr Koch, den Louis scherzhaft,,Ratatouille" zu nennen pflegte, bildete indieser Angelegenheit keine Ausnahme. Samoaner besaßen nichts, was Europäer

oder sogarAmerikaner,,Geschichtsbewußtsein" genannt hätten - sie lebten in den

Tag hinein, kannten nicht einmal das Jatr ihrer eigenen Geburt und vermochten

diesbezüglich nur vage Antworten zu geben, die stets um Jahrzehnte an der Wahr-

heit vorbeizugehen schienen. Das hatte nichts mit Eitelkeit zu tun: Junge Frauen

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siedelten ihr Alter nach Gutdünken zwischen zehn und hundert Jahren an, ohne

sich das geringste dabei zu denken. Auf dieser Insel, wo die Zeit ein Chaos ohne

Anfang und ohne Ende darstellte, weil sie als Konzept im Verstand der Eingebore-

nen genaugenommen gar nicht existierte, gab es nur wenige eindeutige histori-

sche Fakten. Der Kampf König Mataafas gehörte keineswegs dazv; er war nur

eine unbedeutende Episode, an die sich bald niemand mehr würde erinnern kön-

nen, seine Gefolgsleute eingeschlossen. Ein außerordentlich geschichtsträchtiges

Ereignis war im Gegensatz dazu die Ankunft der ersten Blechbüchse auf Samoa

gewesen. Die Weißen, die sie einst in ihrem Gepäck mitbrachten, waren wie alles,

was sich vor mehr als zwei, drei Jahren ntgetragen hatte, längst vergessen. Doch

man brauchte weiß Gott kein hndigerArchäologe zu sein, um sofort aus den Ein-

geborenen herauszubrin ge\ was sich damals in jener ersten Dose befunden hatte.

Aus dem samoanischen Wort für Blechbüchse, ,,peasoup-u", ließ sich entnehmen,

daß es sich bei dem Inhalt der geheiligten ersten Dose um Erbsensuppe gehandelt

hatte.

Die Faszination, welche ,,peasoup-u" unweigerlich auf alle Insulaner ausübte,

wirkte auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Zum einen war der Begriff ,,Dose"

gleichbedeutend mit ,,Delikatesse", denn jedwedes Lebensmittel, das in Büchsen

tür teures Geld und unter großen Umständen auf die Insel transportiert wurde,

mußte diese Investition auch lohnen. Wann immer ein Samoanermit Dosenfleisch

oder Büchsengemüse bewirtet wurde - Vorräten also, die in der zivilisierten Welt

tiischen Speisen niemals den Rang streitig machten und oft sogar von Seeleuten

mit Mißbilligung gestraft wurden -, fühlte sich der Insulaner über die Maßen ge-

ehrt und verwöhnt und schnalzte vorVorfreude mit der Zwge. Eingemachtes aus

dcm gl?inzenden Blech der Weißen zog er sogar dem dicksten Schwein vor; der

lnhalt spielte dabei keine Rolle. Man ließ sich überraschen. Nach Fannys Erfah-

rung hatte es noch nie eine Enttäuschung gegeben.

Die zweite Ebene der Bezauberung erwies sich als erheblich komplexer. Das

l'rinzip des hermetischen Ab- oder Einschließens war der samoanischen Natur

viillig fremd. Daß Weiße auf die Idee verfielen, ein Lebensmittel nicht bloß locker

in Bananenblätter zt wickeln, sondern es einzusperrerz, so daß es nicht mehr aus

tlem Gefängnis herausschauen und man selbst nicht hineinsehen konnte, stellte

e ine unbegreifliche Form von Magie dar. Samoaner kannten ja nicht einmal das

rluuerhafte Gefangennehmen von Menschen, geschweige denn die Methode, ei-

rtcn Feind wochen-, monate- oder jahrelang einzuschließen.

Ganz ähnlich schien es auch um die staunende Bewunderung bestellt zu sein,

rlic die SamoanerbeimAnblickvonFlaschenschiffen empfanden. Die,,Caledonia"

im Kramladen unten inApia zum Beispiel zog nicht von ungefZihr so viele Einge-

hurene in ihren Bann. Fanny hatte in vielen Häfen der Erde Miniaturschiffe wie

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dieses gesehen, in San Francisco, in Marseille, sogar in Edinburgh und Sydney,

und ein alter deutscher Kapitän hatte im Gespräch einst mit feierlichem Ernst dar-

auf bestanden, die prächtigsten Exemplare kämen aus seiner Heimatstadt Ham-

burg. In allen Häfen drtickten sich Kinder und Halbwüchsige, aber auch viele

Envachsene an den Vitrinen mit den Flaschenschiffen darin regelrecht die Nasen

platt. Jeder von ihnen wollte ergränden, mit welchem Trick der Erbauer das Schiff

in die Flasche hineinbekommen hatte. Die meisten wußten nicht, daß der Bastler

die winzigen Schiffsmasten vermittels eines komplizierten Geflechtes von Fäd-

chen so tiefbeugte, daß er das fertige schmale Gebilde leicht durch den Flaschen-

hals schieben und es anschließend zu voller Größe aufrichten konnte, indem er

lediglich sein Netzwerk aus Fäden losließ, Das war der ,,Zaubertick", dessen

Charme weiße Bewunderer erlagen, gleichgültig, ob sie ihn durchschauten oder

nicht. Bei den Eingeborenen verhielt sich die Sache grundlegend anders. Sie,,wuß-

ten", daß das Schiff in der Flasche ein echtes Schiff war, das bereits die Inseln

bereist hatte, und vielleicht fragten sie sich manchmal, wo seine Mannschaft geblie-

ben war - sie zeigte sich jedenfalls nie an Deck oder in der Takelage. Die Magie,

welche darin lag, ein großes Schiffdermaßen zu verkleinern, erstaunte sie durch-

aus, wenngleich nicht allzusehr: Menschenköpfe konnte man schließlich auch ganz

erheblich einschrumpfen. Was die Samoaner an einem Miniaturschiff wie der

,,Caledonia" so über die Maßen fesselte, war die Verwunderung darüber, daß man

den freien, stolzen Geist, der dem Wasserfatrzeug innewohnte wie jedem sich

bewegenden Wesen, in die winzige Flasche hatte sperren können,

Ging man von dem malSlosen Staunen aus, das sie angesichts eines gefangenen

sichtbaren Wesens zeigen, war leicht zu begreifen, daß Tusitalas Flaschendämon

ihnen vollends denAtem raubte. Einen Dämon zu beherrschen, war übermensch-

lich; ihn in jenermilchig-undurchsichtigen Flasche aufzubewahren, von derTusitala

ihnen erzählt hatte, verstärkte diesen Eindruck. Doch nicht einmal die berüchtigte

Flasche hatte man je zu Gesicht bekommen - obwohl, wie Fanny wußte, Mitglie-

der ihrer Dienerschaft des öfteren nach dem bewußten Behältnis Ausschau hiel-

ten. Da Tusitala niemals persönlich behauptet hatte, die Flasche zu besitzen, sie

sich aber zweifellos in seinem Berlitz befand,wuchs das Geheimnis ins für den Men-

schenverstand Unermeßliche. Ein unsichtbarer Däimon, eingesperrt in einem unsicht-

baren Gefiingnis ... Auf solche Weise vereinigte Tusitalas abgefüllter und verkorkter

Dämon also das eherprosaisch anmutende Geheimnis von,pea.soup-u", dem Unsicht-

baren in der Dose, mit dem gefangenen Schiffsgeist. Büchse und Flasche, von den

Weißen mitgebracht, hatten demnach kräftig mitgeholfer\ Tusitalas Teufel den Weg

zu ebnen und ihn für alle Zeit unsterblich zu machen. Er war Teil der Inselgeschichte.

Aber Fanny kannte die Inselgeschichte recht gut und wußte, daß Upolu selbst

über einen Flaschengeistzauber verfügte, der stärker und unerbittlicher wirkte als

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jede Magie des weißen Mannes. Obwohl Fanny Louis gegenüber nie dartiber sprach,

besalJ sie zudem den schriftlichen Beweis dafür, daß auch er um den Flaschen-

d2imon wußte, der der Insel untertan war und sich in der jtingsten Vergangenheit

bereits einmal gegen weiße Eindringlinge zur Wehr gesetzt hatte - mit vernichten-

dem Erfolg.

Als Louis es sich zurAufgabe gesetzt hatte, einenAbriß über die Inselgeschichte

zu schreiben, war er auch auf den Grund zu sprechen gekommen, warum derAr-

chipel von Samoa heute nicht länger eine Kolonie darstellte wie noch im letzten

Jahrzehnt, sondern politisch nur mehr unter der gemeinsamen ,,Aufsicht" der Deut-

schen, Briten und Amerikaner stand. Für Louis schien das System der Fremdherr-

schaft nach wie vor arg genug, um sich darüber bis zum Siedepunkt zu erhitzen;

doch Louis brauchte stets ein Thema von,,allseitigem" Interesse, für das er einen

seiner aussichtslosen Kreuzzüge unternehmen konnte. Raubte man ihm die Grund-

lage für seine gerechte Sache und machte die Kampagrre überflüssig, war et zrl

Tode betrübt,

Louis, der glühendste Verfechter samoanischer Unabhängigkeit und Selbst-

bestimmung, hatte sich seinerzeit m?ichtig zusammenreißen müssen, um nicht sei-

ner Genugtuung angesichts der Vernichtung dreier ,,fremder" Flotten in seinem

EssayAusdruck zu verleihen. Erstens hielt ein guter Geschichtsschreiber sich tun-

lichst zurück, was die Gefühlsverwicklung der eigenen Person betraf- als Vollju-

rist und selbsternannterAnwalt der Insel bekam er genügend Gelegenheit, sich im

Rahmen seiner anderen Pamphlete in flammenden Plädoyers auszulassen. Zwei-

tens gehörten zahlreiche Briten zu den Heerscharen von Opfem, und auch Englän-

der lagen ihm um der alten Zeiten willen am Herzen, trotz ihres Charakterfehlers,

nicht als Schotten auf die Welt gekommen zu sein.

Im März.des Jahres 1889, fast unmittelbar vor Louis' Ankunft auf der Insel -schon im Dezember erwarb er Vailima -, hatte ein,,tragisches Unglück", ein Hur-

rikan, die stolzesten und modernsten Kriegsschiffe der drei Flotten im Hafen von

Apia völlig vernichtet. Nun galt ein Hunikan immer als Quelle schlimmster Zer-

störung; doch derAblauf dieser Katastrophe schien Fanny etwas Besonderes, das

durchaus nicht den ,].{aturgesetzen" entsprach, wie die Weißen sie auslegten. Louis

bemühte sich in seiner kurzen Chronik um trockene Sachlichkeit, soweit dem ein-

gefleischten Romancier das gelingen wollte; doch er mußte wissen, was er tat-

sächlich beschrieb: Wie sonst war es zu erklären, daß er den Hafen vonApia nicht

weniger als ein dutzendmal mit einer riesigen Flasche verglich, die Mole mit dern

gewölbten Boden derselben, die schmaleZufahrtmit ihremHals, ja ihremSchlund,

der den gefangenen Schiffen das Entkommen und letztlich die Rettung unmöglich

machte? Dieselbe Flasche des Hafens, die zu jeder anderenZeit die sich in ihr vor

Stürmen verbergenden Schiffe beschützte wie eine Mutter die ihr anvertrauten

Page 67: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Kinder, hatte sich gegen sie gewendet - warum? Die Antwort war grauenerregend

einfach. Die Geister der Schiffe gebärdeten sich nicht wie schutzsuchende G$ste,

die sich still und bescheiden an die nattirliche Mole schmiegten, sondern wie mäch-

tige Herrscher der Meere, die gekommen waren, um die Insel endgültig in Besitz

zu nehmen. Nie zuvor hatte es eine solche Zurschaustellung geballter Macht imkleinen Apia gegeben, nie zuvor mehr als ein Dutzend fremder Zerstörer und

Schlachtschiffe dort, wo sonst nur ein oder zwei Boote lagen und wo nach Ansichtder kühnsten Experten höchstens ihrer vier gefahrlos vorAnker gehen durften!

Es war die Zeit der größten Auseinandersetzungen zwischen den drei Groß-

mächten gewesen, als noch eine jede von ihnen Samoa als ihr verbrieftes Eigentum

beanspruchte. Die Flaggschiffe der L?inder bekriegten sich zwar nicht auf offener

See, drohten jedoch täglich mit Übergriffen. Als die Wettergläser ins Bodenlose

fielen und der Hurrikan erwadet wurde, legten die Schiffe nebeneinander im Ha-

fen an, eins neben dem anderen, auf engstem Raum; die Spätankömr.nlinge mach-

ten es sich im Flaschenhals der Zufahrt bequem. Da lagen sie nun riebeneinander,

alles andere als friedlich: Kampfh?ihne, gespornt und zum äußersten bereit, imZaum gehalten einzig vom Frieden des belagerten Hafens. Doch der Dämon des

Hafens beschloß, den in seinem Obdach herrschenden Frieden als erster zu bre-

chen. Seine Geduld mit den Fremden war erschöpft.

Sie alle hätten guteAussichten gehabt, den Hurrikan außerhalb des Hafenbeckens

zu überstehen, zumindest nicht mit Mann und Maus unterzugehen: ,,Adler" und

,,Eber", Stolz des Deutschen Reiches; die prächtige,,Vandalia", die ,,Nipsic" und

die,,Trenton" derAmerikaner; die,,Calliope" unter dem britischen Captain Kane.

Unmittelbar vorAusbruch des Sturmes war selbstverst?indlich keines der Schiffe

bereit, seinenAnkerplatz aufzugeben und Raum für den Feind zu machen. Als der

Hurrikan erst einmal zu toben begann, konnte keines der Fahrzeuge mehr aus der

Hafenflasche entweichen, sosehr ein jedes es auch versuchte. Der Dämon hatte

die enge Züafut durch die vereinte Kraft des Windes und der ttickischen Strö-

mungen fest verkorkt und gestattete kein Entrinnen mehr aus dem geschlossenen

Schlund der Flasche. Als er sah, daß sein Zauber wirkte, schüttelte er die hilflos indem Behältnis gefangenen Flaschenschiffe mit Riesenkräften hin und her, ließ die

Ungetüme aus Holz und Eisen gegen die Korallenriffe prallen, wo sie zerschell-

ten, ja zerbröckelten wie Eierschalen. Der DZimon kannte seine Insel und wußte,

wie sie beschaffen war: Ihr korallener Ursprung, der sie eigentlich zu einem fla-chen Atoll hätte machen sollen, war durch das unterirdische Wirken der Vulkane

verändert worden. Nun bestand sie aus vorgelagerten Ketten von Korallenbänken,

aus Sandstränden und hohem Gebirge und stellte eine Einzigartigkeit im Stilleq

Ozean dar. Der Dämon verließ sich auf die zerstörerische Arbeit der Riffe, aus

denen die Ränderder Hafenflasche vonApia zu beinahhundert Prozent bestanden

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- rasiermesserscharfe Splitter und Scherben, die den Bauch eines Schiffes wie ein

Holzspielzeug aufschlitzen konnten. An ruhigen Tagen bargen sie keine Gefahr,

auch nicht dann, wenn genügend Raum zum Manövrieren vorhanden war. Nun

jedoch behinderte ein Schiff das andere, der Feind den Feind, der Freund den

Kriegsgeführten. Sie alle hatten sich vorwitzig in die Flasche hineinbegeben, aus

freien Stticken, und somit ihre Gefangenschaft selbst verschuldet. Um den tödli-

chen Korallen auszuweichen, die bereits die ,,Eber" mit scharfen Krallen ausge-

weidet, unter ihre Bänke gezogen und regelrecht verschluckt hatten, schipperten

die restlichen Schiffe verzweifelt und verstört umeinander. Und nun beschloß der

Dämon, der einen gesunden, wenn auch sehr bösen Sinn für Humor besaß, seine

hinterh?iltigste Waffe einzusetzen. Er ließ die Geister der feindlichen Schiffe ge-

geneinander zum ,,Kampf' anfeten, wie sie es ja im Grunde schon immer gewollt

hatten...

Eines nach dem anderen spielte der Dämon die Schiffe gegeneinander aus. Was

kein Krieg auf hoher See bewerkstelligt hatte, schafte der Ankerplatz von Apia,

der mühelos den gesamten Inhalt des Flaschenbauches aufüeb. Jedes Schiffsuch-

te zu entkommen; auf der panischen Flucht streifte und rammte jedes die anderen,

l.'reund wie Feind. Diejenigen, die steuerlos umhergeworfen wurden, waren ge-

f?ihrlich. Diejenigen, die sich noch im Besitz ihres eigenen Willens glaubten, wa-

ren tödlich für sich selbst und den traurigen Rest. Eines nach dem anderen zer-

schellten sie an den Rändem der Flasche und aneinander. Sie gingen unter und

nahmen die Besatzungen mit in das dauerhafte Grab der Korallenriffe.

Als man nach dem Abflauen des Windes das Ausmaß der Zerstörung erkun-

dete, sah man keine Flotte mehr. Ein Schiff, die ,,Adler", das Schmuckstäck der

f)eutschen, hatte es jedoch sehr weit gebracht. Dort, wo der deutsche Adler nun

mit aufgerissenem Rumpf lag, sollte er für lange Jahre von dem Humor des Dä-

mons künden. Wie ein toter Vogel, der nie mehr mit vollen Segeln über den Pazi-

lik fliegen würde, wie ein erbärmliches Stück Aas ruhte die große Konstruktion

von Menschenhand mitten auf dem Festland der Insel - eine Trophäe des Dä-

rnons. Die wenigen geretteten Seeleute stolperten hilf- und ziellos auf der Insel

umher. Sie waren nicht länger stramme Marinesoldaten, sondern schlicht Schiff-

hrüchige. Nein, dachte Fanny, die Insel brauchte wahrlich keine Menschen zu ih-

tvr Verteidigung.

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,,NuN, wENN ou mich fragsl sollte Louis seine überschüssige Kraft lieber daanver-

wenden, einen Leuchtturm für den Hafen von Apia zu bauen. Das ist avar ebenso

unsinnig wie sein gegenwärtiges Unterfangen, aber es schadet auch niemandem."

Isobel, die rurtätig neben Fanny auf derVeranda saIJ, nickte stumm zu den Worten

ihrer Mutter, doch Fanny bezweifelte stark, ob sie ihr überhaupt zuhörte. Is&el bebte

am ganzen Körper und konnte ihre Hände nicht einen Moment lang still in ihrem

Schoß ruhen lassen. In unregelmäßigenAbständen durchlief ein Zucken ihre Finger,

die sie dann krampflraft gegeneinanderrieb. Fanny war gerade damit beschäftigt, die

Zwiebeln aus ihrem liebevoll gehegten Gemüsegarten zu schälenund für das Mittag-

essen voranbereiten. Gem häüe sie der müßig dasiEenden Belle angeboten, ihr bei

dieser Arbeit zu helfen, die sie normalenveise niemand anderem anvertraute; zog

man allerdings Belles jetzigen Zustand in Betachq mußte man damit rpehnen, dalJ

Belle sich an dem scharfen Messer verldzte. Das durfte man keinesfalls riskieren:

Belles flinke Finger waren höheren Aufgaben geweiht als dem Gemüseputzen, sie

benötigte sie während des gemeinsam mit Louis zelebrierten Gottesdienstes, wel-

chen man im Kreise gewöhnlicher Steölicher gemeinhin,,Schreiben" nannte.

Der einzige Haken bestand zar Zeit darin, daß die stolze Hohepriesterin - als

die Belle sich insgeheim sicher betrachtete, während Louis im besten Falle seine

Meßdienerin in ihr satr - verloren und von ihrem Gott verlassen auf den Veranda-

stufen hockte, ein Häufchen Elend, das intensiv Löcher in die schwüle Morgenluft

starrte und als musikalische Untermalung ihres Kummers ab und an langgezoge-

ne, tiefe Seufzer ausstieß.

Louis war es heute nämlich gar nicht in den Sinn gekommen, sich an die all-

morgendliche Diktier- und Schreibarbeit zu begeben - und diese für Belle un-

haltbare Situation währte nun bereits eine geschlagene Woche! Wenige Monate

zuvor noch hatte Louis den Morgen zwar friih, aber mit Bedacht begräßt, hatte

regelmäßig jeden Tag vor der versammelten Familie und den vertrautesten Mit-gliedem der Dienerschaft eine Andacht abgehalten, sonntags eine ganze Messe

zelebriert, bevor der Klan gemeinsam das Frühstück einnahm. Seit Tagen nun

stand Louis mitten in der Nacht auf, zusammen mit den wenigen Hühnern, die in

der Nähe des Hauses lebten, um zunächst einige Runden um die Veranda zu dre-

hen und sich dann an sein neuerdings bevorzugtes Tagewerk zu begeben: das Ro-

den. Stundenlang hörte man ihn draußen vor dem Haus klopfen, hacken, hämmern

und sägen, und wenn der Rest der Familie aufstand, entnervt durch den frühen

Lärm, begutachteten Fanny, Lloyd und Belle mit gemischten Gefühlen die Früch-

te seinerArbeit. Die wenigen Bäume, die auf dern pedantisch kurzgehaltenen Ra-

sen verblieben waren, hatten mit Stumpf und Stiel Louis' Rodungswut weichen

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müssen. Einer nach dem anderen verschwand in den Morgenstunden, in dern ge-

heimnisvollenZwielicht, das die Dämmerung ankändigte. Das Fällen der Bäume

überließ Louis niemandem aus der Dienerschaft; die Hausboys mußten nach voll-

brachter Tat die Stämme wegfragen und hinter dem Haus zerkleinem, aber den

eigentlichenAkt des Umstürzens nahm Louis für sich allein inAnspruch. Wenn er

dann endlich das Haus betrat, noch immer bis zu den Zälnonmit Buschmessern,

Axten und Sägen bewaffnet, begrüßte er den Rest seiner Sippe mit einem flüchti-

gen Nicken und nahm im Grunde niemanden wirklich walr. Während er die tradi-

tionelle Andacht abhielt, merkten alle, daß weder sein Verstand noch sein Herz

sich bei der Sache befanden. Statt seine eigenen ergreifenden Gebete zu erfinden,

für die er weit und breit berühmt war, rasselte er lediglich ein oder zwei Vaterunser

herunter, um dem immerhin von ihm persönlich eingeführten Ritual der Morgenan-

dacht so schnell wie möglich zu entrinnen. Und schon grng es wieder ans Roden.

Eine weitere frühmorgendliche Beschäftigung von ehedem begann Fanny mitt-

lerweile schmerzlich zu vermissen, obwohl sie sich diese Schwäche nur ungern

eingestand: Vor einigen Wochen noch hatte Louis es sich nicht nehmen lassen, die

Familiekurz nach dem Frühstäckmitdenmanchmal überirdisch säuselnden, meist

aber erbärmlich quiekenden Tönen seines Flageoletts zu verwöhnen. Nun dachte

er gar nicht mehr daran, auch nur eine Minute seiner freien Zeit auf das Qu?ilen

dieses Instrumentes zu verwenden, welches Fanny klammheimlich mit einem recht

anzüglichen Spitznamenbelegthatte. Das lange, flötenartige, miteinem schnabel-

ähnlichenAuswuchs versehene Ding erinnerte sie so nachdräcklich an das National-

instrument der Schotten, daß sie es sich nicht verkneifen konnte, es hinter Louis'

Rücken seinen ,,kastrierten Dudelsack" zu nennen. Und nun vermißte sie das

Monstrum doch tatsächlich!

,,,{ber Louis ist doch nach wie vor mit seinem neuesten Roman beschäftigt oder

etwa nicht? Ich habe im Vorbeigehen des öfteren bemerkt, daß die Tür zur Bibliothek

wenigstens nachmitüags verschlossen ist. Dermach aöeitet ibr zusamm!f,f"

Belle hörte nach der Frage ihrer Mutter für einenAugenblickmit ihren Zuckun-

gen und dem dauernden Häinderingen auf, um alsdann in verstärktern Maße erneut

damit zu beginnen. Wer mochte hier wohl die wahre Nervenkranke sein? fragte

Fanny sich nicht das erste Mal in der vergangenen Woche. Die arme Isobel schien

ihr regelrecht süchtig nach der Gegenwart des großen Tusitala. Blieb er fort, wuß-

te sie nichts mit sich anzufangen. Ihr SohnAustin konnte sich in solchen Notlagen

wenigstens allein beschäftigen, wenn er auch seiner kindlichen Enttäuschung

manchmal etwas unangemessenen Ausdruck verlieh.

,Ja, es stimmt ... wir arbeiten noch zusammen." Isobel preßte die Worte fiirm-

lich hervor und k?impfte dabei mit den Tränen. Dann stieß sie einen schier endlos

langen Seufzer aus.

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,,,{ber dann ist doch im Grunde alles beim alten geblieben", bemerkte Fanny,

die nichts dergleichen dachte, sondern ihre Tochter dazu ermutigen wollte, sich an

der Mutterbrust ihren ganzen Kummer von der Seele zu reden. Es wäre so schön,

wieder einmal zu spüren, wie Belle sich vertrauensvoll an ihre Schulter lehnte.

Wie entsetzlich weit lagen die Augenblicke trauter Zweisamkeit von Mutter und

Tochter nun schon zurück!

Belle schluchzte zvtü kurz auf, teilte aber offensichtlich das Bef,ürfnis ihrer

Mutter nach echter Nähe nicht. Die junge Frau schenkte Fanny nicht einmal einen

Blick, während sie ihr die Lage schilderte. Nach wie vor schaute sie angestrengt

ins Leere und knetete krampftraft einen Finger nach dem anderen.

,,Weißt du, Mutter ... wenn Louis und ich früher zusammen in der Bibliothek

waren, dann habe ich - habe ich ihm viel mehr bedeutet als nur ein . . . ein Schreib-

utensil. Wir scherzten und lachten zusammen, ich gab meine eigenen Kommenta-

re zu seinen Geschichten, und ... und . .. er natrm sie auch ernst! Wie gft hat er zu

mir gesagt: ,Belle, liebste Belle, du bist meine beste Kritikerin. Wäs sollte ich

ohne deine Inspiration anfangen?"'

Das kam Fanny überaus bekannt vor, doch sie hütete sich, eine diesbezügliche

Bemerkung zu machen. Oh, Louis, wie viele deiner Jünger hqst du schon mit ge-

nau diesem Lob bedqcht? Sie selbst hatte die Worte jahrelang vernommen, sie

wußte, daß auch Lloyd mit ihnen groß geworden war - zumindest so groß, wie

sein angebeteter Held es zuließ. Lob wirkte wahre Wunder.

,,Und nun lobt er dich nicht mehr?" fragte Fanny.

,,Loben? Er sieht mich ja nicht einmal mehr!" platzte Isobel heraus und senkte

sofort wieder die Stimme, erschrocken über ihren eigenen heftigen Ausbruch. Leise

fuhr sie fort.

,,Jeden Nachmittag sitze ich zwischen den Regalen, vor dem Sekretär, und war-

te auf Louis. Mal kommt er erst spät, mal gar nicht - aber ich warte. Er weiß, daß

ich warte, so wie er weiß, daß die Nacht auf den Tag folgt und Ebbe auf Flut. Ich

bin immer da, wenn er mich braucht. Das ist auch in Ordnung so. Ich würde nie-

mals auf den Gedanken verfallen, mich zu beschweren, denn ein großer Künstler

wie er hat seine eigenen Gesetze, denen man sich eben unterordnen muß. Ich habe

die ... die Notwendigkeit dieser Gesetze schon vor Jahren erkannt und richte mich

nach ihnen. Aber - aber ..."

,,Nun sieht er dich nicht mehr", flüsterte Fanny kaum hörbar, und sie wagte

dabei nicht zu bestimmen, ob sie mit ihrer Tochter sprach oder mit sich selbst.

,,Wenn er die Bibliothek betritt, bemerkt er mich nicht so, wie man etwa einen

Freund wahmimmt: Er setzt meine Anwesenheit stillschweigend voraus. Ich bin

nicht länger seine Muse, ich bin zu einem ... einern Ding geworden, dessen man

sich wie selbstversttindlich bedient. Es mag furchtbar klingen, aber ... ich fühle

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mich wie ein Stäck seines Schreibtisches - wie die Sekretärin, die mit dem Sekre-

tär verwachsen ist. Hört sich das alles nicht schrecklich komisch an, Mutter?"

Fanny schwieg. Was sollte sie ihrer Tochter sagen? Es war höchste Zeit, daß sie

die Watrheit persönlich entdeckte.

,,Wenn wir nun beginnen, befieblt er mir, den letztenAbschnitt vorzulesen. Dann

diktiert er mit solch grauenhafter Schnelligkeil als ob der Satan ihm im Nacken säße

... Es gibt keine Kurzschrift, die es mit diesem Höllenternpo aufrrimmt!"

,,Das ist doch früher niernals seineArt gewesen", murmelte Fanny. ,,Das Dik-

tieren bereitet ihm gewöhnlich erst dann wirkliches Vergnügen, wenn er jedes

Wort gleichsam auf der Zunge zergehen lassen kann." Sie schüttelte ungläubig

den Kopf.

Belle, die nicht danach fragte, woher ihre Mutter die feierlichen Besonderheiten

des schriftstellerischen Hochamtes wohl kennen mochte, nickte bekrtiftigend zu

Fannys Aussage.

,,Genau das ist es, was mir einen Schauer über den Rücken jagt", enviderte sie.

,,Seine Schilderungen erscheinen mir genauso packend und einfallsreich wie im-

mer - obwohl ich das während der Niederschrift gar nicht recht zu beurteilen

vennag, denn alles geht so rasend schnell, daß meine Hände und mein Denkver-

mögen nach kuruer Zeit auf der Strecke bleiben. Wie ein Automat lcitzele ich

dann nur noch vor mich hin, ohne eigenen Sinn und Verstand. Und auch Louis

macht keinen glücklichen Eindruck, obwohl er so produktiv ist wie nie zuvor."

,,Hmmmmm", machte Fanny und enthielt sich ansonsten jedes Kommentars.

Sie hielt eine der kleinen, festen Zwiebeln in die Höhe, die sie selbst in ihrem

Gemüsegärtchen gezogen hatte, und betrachtete sie mit größterAufrnerksamkeit.

Langsam drehte sie das Lauchgewächs in ihrer Hand, schweigend, versunken, bis

es ihrer Tochter Belle zuviel wurde.

,,Mutter, ich wage nicht zu ennessen, wieviel deine .., deine Zwiebeln dir und

deinem Seelenfrieden bedeuten mögen." Ihre Stimme troffvor Sarkasmus. ,,Du

hast dich sehr weit von uns anderen entfernt, und watrscheinlich ist dir das nicht

einmal bewußt geworden. Aufjeden Fall faszinieren diese verdammten Zwiebeln

dich mehr als dein eigener Mann und die Tatsache, daß er zutiefst unglücklich ist."

Fanny konnte nicht länger an sich halten. ,,Wer ist denn wohl unglücklicher

von euch beiden, Louis oder du? Der Mann geht wenigsüens seinen Beschäftigungen

nach, so unsinnig manche davon uns auch anmuten mögen, während du hier ne-

ben mir kauerst und die H?inde ringst und ergreifeirder stöbnst als die Drittbesetzung

der Ophelia in einem Schmierentheater."

Fannys Vorwurf hatte Isobels mühsam zur Schau getragenen Gleichmut nicht

nur ins Wanken gebracht, sondern ihm vollends den Garaus gemacht. Erst verhal-

ten, dann immer hemmungsloser begann Belle zu weinen, bis die Tr"anen ungehin-

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dert ihre Wangen herabkullerten. Wortlos griffFanny in den Armelaufschlag ihres

Kleides und reichte der Tochter ein baumwollenes, mit Klöppelspitze verziertes

Taschentuch. WZihrend der vergangenen zwei Jahre auf Samoa hatte sie stets so

einTüchleinbereitgehalten, um ihre eigenen, oft schwerkontrollierbaren Gefühls-

ausbrüche wenigstens vor ihrer Dienerschaft zu verbergen. Für die Samoaner wa-

ren weinende Frauen ein ganz und gar ungewohnter und unbegreiflicherAnblick.

,,Ist ja schon gut, Belle, mein Liebling", suchte Fanny den Kummer der noch

immer laut schluchzenden Isobel zu beschwichtigen. Fanny nahm sie 6icht in den

Arm - gern hätte sie das getan, aber sie scheute vor der möglichen Abwehrreakti-

on ihrer Tochter zurück. ,,Weißt du, was mich wundert? Da sitze ich hier und

scbneide frische Zwiebeln, und du hockst fast vier Fuß weit weg und mußt davon

weinen. Zwiebeln sind schon ein arg seltsames und eigenwilliges Gemüse."

Isobel antwortete natürlich nicht auf diese lapidare Feststellung. Um sie aufzu-

heitem, holte Fanny etwas weiter aus. .j

,,Wußtest du übrigens, mein Schatz, daß die größten Gelehrten sich im Laufe

der Geschichte über das Wesen der Zwiebel ausgebreitet haben? Schon die alten

Griechen machten sich so ihre eigenen tiefphilosophischen Gedanken über dieses

Gernüse." Ob das stimmte, wußte Fanny beim besten Willen nicht, aber es küm-

merte sie im Augenblick auch herzlich wenig. ,,Irgendein weiser Mann oder eine

weise Frau hat, so glaube ich, einstmals verkündel ,Die Zwiebel stellt nichts ge-

ringeres dar als das getreue Abbild der menschlichen Natur. Ihre äußerste Schale

sagt noch nichts über den Inhalt aus; sie ist sozusagen die Hülle der diskreten

Höflichkeit, die sich fest um das wahre Wesen schmiegt. Man riecht nichts, man

kann sich noch keine Meinung bilden über das, was bei näherer Untersuchung

unweigerlich zutage tritt.' Na ja, das Zwiebelchen sieht jedenfalls lecker aus, und

man gibt sich natürlich nicht damit zufrieden, es in einer Vitrine aufzubewahren.

Wo käme man da hin! Also entfernt man die Hülle, und die Shafe folgl auf dem

Fuße. Die Haut darunter ist schon nicht mehr halb so diskret und unaufdringlich

wie ihr Deckmäntelchen."

,,Dafür stömt sie Würze aus ... ein besonderes Aroma." Belle merkte endlich,

worauf ihre Mutter hinauswollte, und lächelte zustimmend. Fanny betrachtete die

Tochter mit Wohlgefallen.

,,Du hast es genau erfaßt, mein kluges Kind. Obwohl dem Liebhaber des Zwie-

belchens bereits zu diesem Zeitpunkt die ersten Tränen in die Augen treten - denn

es ist frisch und saftig und daher besonders geführlich -, denkt er nicht daran, die

Finger davon zu lassen oderwenigstens mit dem Schälen Schluß zu machen. Der

Dummkopf! Mit jeder Haut, die der unbesonnene Tropf entfemt, stößt er auf neue

pikante Schönheiten. Die Zwiebel reizt seine Sinne, seine Neugier - aber vor al-

lem reizt sie ihn zu immer mehrTränen. Der Mensch jedoch ist ein selten dummes

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Tier. Er häutet und entschleiert und kann nicht damit aufhören, obwohl ihm längst

regelrechte Bäche aus den Augen fließen. So genau wollte er sein heißgeliebtes

Zwiebelchen sicher gar nicht kennenlernen! Wenn er schließlich das Herz in Hän-

den hält, zerreißt es ihn schier."

Belle starrte nachdenklich vor sich hin, doch ihr Schluchzen war versiegt. Sie

wirkte erheblich ruhiger und gefaßter.

,,Das war eine schöne Geschichte, Mutter. Hab vielen Dank dafür." Bei diesen

Worten griffIsobel nach Fannys Handund drückte sie kurz. Nun, eine Umannung

hätte Fanny weit besser gefallen, aber sie freute sich überjede noch so unschein-

bare Geste, die ihr die Zuneigung der Tochter offenbarte.

,,Weißt du, Mutter, es gibt da noch eine weitereAngelegenheit, die mir Sorgen

und Kopfzerbrechen bereitet", fuhr Belle fort. ,,Im Laufe der letztqWochen hat

sich hier in unserem Vailima vieles so drastisch verändert, daß man manchmal

ganz die Orientierung verliert. Unsere Bräuche, unsere gesafirte Lebensweise ...

Und ausgerechnet Louis ist es, der Herr von Vailimq der die Regeln umstößt, die

er selbst ins Leben rief."

Fanny erwiderte schweigend Belles fragenden Blick. Spnch weiter, bedeutete

sie ihr lautlos.

,,Es ist fast so, als ob Louis seine alte Weltordnung mit Gewalt zerstört, um

einer neuen Platz zu schaffen. Dieser unablässige Kahlschlag in unserem Garten -garlz ar schweigen von der verrückten Idee, ausgerechnet die Häuptlinge eine

ausgewachsene Straße durch den Dschungel hauen zu lassen. Und das ist bei wei-

tem noch nicht alles! Er plant viel mehr!"

,,Was sagst du da, Kind?" Fanny spürte, wie ihre Eingeweide sich zu einem

festen Knoten zusammenballten. Nur unterschwellig nahm sie zur Kenntnis, daß

Isobel das erste Mal in ihrem Leben ihren Stiefuater zu kritisieren gewagt, ja eine

seiner Handlungen unverblümt als ,,velrückt" bezeichnet hatte ...

Isobel holte tief Luft.

,,Als ich vor rund einer Woche morgens in die Bibliothek trat - damals schien

alles noch beim alten zu sein -, sah ich, daß Louis eine große Landkarte aufdem

Schreibtisch ausgebreitet hatte. Ich dachte bei mir: ,Diese Karte hat Louis selbst

gezeichnet, wahrscheinlich für Austin, denn sie ähnelt ganz erstaunlich jener

Phantasielandkarte, die Louis seinerzeit in Schottland anfertigte, um den kleinen

Lloyd aufzuheitern.' Du weißt, von welcher Karte ich rede, Mutter, ntimlich von

derselben, die später von den Verlegern als Buchumschlag für die Scftaainselver

wendet wurde. ,Wie schön', sagte ich also im stillen zu mir, ,Louis trägt sich mit

dem Vorhaben, eine neue wundervolle Abenteuergeschichte zu schreiben.' Ich trat

näher an die Karte heran. Was genau ich erwartete, weiß ich nicht zu sagen ... so

etwas wie L2ingen- und Breitengrade, Angaben von Seemeilen, Navigationshilfen

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und natürlich die Markierung für den Schatz, den es zweifellos auf dieser Insel zu

heben galt. Ein Goldschatz wie der, dem Long John Silver, derböse Schiffskoch,

und Jim Hawkins hinterherjagen."

Fanny spürte, wie sich trotz der morgendlichen Schwüle eine Gänsehaut über

ihren Körper ausbreitete. Ihr schwante Unangenehmes. Schweigend, atemlos

lauschte sie der Tochter.

,,Du kennst jedes Fleckchen auf der Schatzinselkarte, Mutter, und dahgr ist dirja bekannt, daß Louis damals außerdem eine Unmenge geographischer Einzelhei-

ten hineingemalt hat: Urwald, Felsen, Strände, aber auch einzelne Bäume. Anders

hätte es mit der Erzählung wohl nicht so reibungslos funktioniert, denn schließlich

heißt es dort überall: Such dir diesen verkrüppelten Baum, jenen überhZingenden

Felsen, ein ganz bestimmtes Gewässer, dann lauf 150 Schritt und fang an, nach

des toten Mannes Kiste zu buddeln. Na" wie dem auch sei - ich war bei meinem

Fund tatsächlich auf die Karte einer Insel gestoßen. Bei näherer Betrachttrng sah

ich, daß Louis minutiös wie stets sämtliche geographischenAnhaltspunkte einge-

tragen hatte. Inklusive der Inselvegetation ..."

,,Und? Was weiter?" Fanny scheute vor Belles Erwiderung zurück, doch ihre Span-

nungwuchs ins Unerhäglicheundvedangteunverzüglichnach einerkonlaetenCrrund-

lage. Fanny bekam sie prompt und wünschte sofort nie danach gefragt zu haben.

,,Die Insel, die Louis diesmal gezeichnet hat, ist durchaus kein Phantasiegebilde

- wohl aber die Hunderte undAberhunderte von Markienmgen, die er eingetragen

hat. Es handelt sich bei dem Plan um eine Karte von Upolu, nicht wie es anr Zeit

besteht, sondern wie es offenbar in Jahren oder Jahrzehnten aussehen soll. Ich

habe nicht alles begriffen."

,,Was soll das heißen: ,wie Upolu aussehen soll'?" Fanny schüttelte ihre Toch-

ter unsanft mit beiden HZinden.

,,Nun ja ... zumindest eine Sache konnte ich unzweideutig erkennen. Louis

beabsichtigt, garn Vailima zu roden, urbar zu machen und aufjedem verfügbaren

Stück Land Plantagen anzulegen. Wohlgemerkt nicht kleine Pflanzungen für Ka-

kao und Kaffee und Tabak, wie wir sie für unsere bescheidenen Bedtirfrrisse be-

reits besitzen - riesengroße Felder sollen es werden."

,,Um Himmels willen!" rief Fanny entgeistert aus. ,,Vailima umfaßt 3l4llz

Morgen fruchtbares Land! Das kann man doch unmöglich alles in Plantagen ver-

wandeln! Wir - wir behnden uns doch schließlich nicht in Europa!"

Isobels Gesicht natrm einen rätselhaft verklärtenAusdruck an. ,,Wer weiß", sagte

sie und klang geheimnisvoll wie ein in Trance versetztes Orakel. ,,Vielleicht wer-

den wir bald in einem zweiten Europa leben. Was Tusitala sich bisher vornahm,

hat er im Endeffekt noch jedesmal in die Tat umgesetzt."

,pu und dein Tusitala! Ihr zwei macht mich krank!"

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Der verschleierte Blick wich langsam aus Isobels Augen, zu Fannys großer

Erleichterung.

,,Er wird es schaffen", wisperte Belle. ,,Ich habe Angst."

Fanny runzelte die Stim. Sie ergriffBelles Schulterund drtickte sie leicht. ,,Du

brauchst keine Angst zu haben, Kind. Denk daran, wie oft schon Louis sich in der

Vergangenheit auch für schlichtweg aussichtslose Unternehmungen eingesetzt und

versagt hat. Er pflegt aber derart wtirdevollund grandios dabei unterzugehen, daß

man stets versucht ist, seine Feldzüge trotz allem als Siege zu verbuchen. Als

moralische Siege zumindest. Wart's nur ab, auch bei diesem Vorhaben wird er

schließlich die Windmtihlen erkennen und Windmühlen sein lassen und sich mit

Bravour aus der Schlinge ziehen."

,,Meinst du wirklich, Mutter?" fragte Belle hoftrungsvoll und wischte sich mit

dem Handrücken verstohlen die Augen.

,,Aber selbstventändlich glaube ich das. Bald schon wird sich das Leben hier in

Vailima wieder in normalen Bahnen bewegen. Die Häuptlinge werden mit Sicher-

heit keine Straße bauen, Louis wird deswegen ein paar Wochen schmollen und

seine übrigen Pläne für ewig aufEis legen - na, und dann kehrt die gepriesene

Routine wieder hier ein, an der du so hdngst."

,,Ach, Mutter, sei doch nicht so!" schalt Isobel, aber sie war wegen der letzten

Bemerkung ihrer Mutter nicht verärgert. Im Gegenteil, sie strahlte wie ein kleines

Mädchen, dem man seine Zuckerstange erst vom Munde geraubt, dann heil und

unversehrt zurückgebracht hatte.

,,Nur eines verstehe ich nicht, Mutter", sinnierte Isobel. ,,Warum ist Louis über-

haupt auf diesen kuriosen Plan verfallen? Wieso dieses tägliche Bäumeroden, bis

bald außer Rasen kein einziges Gewächs mehr innerhalb des Zaunes zu sehen ist?

Auch mit dem Rasen wird Louis von Tag nt Tag kleinlicher und pedantischer.

Gestern hörte ich ihn laut mit Tusamu und Valele schimpfen, weil sie angeblich zu

nachlässig Unkraut jäteten. Die zwei haben ihre Sache bisher doch gut gemacht."

Nur eines verstehst du also nicht, mein Kind, dachte Fanny bei sich und staunte

über das gigantischeAusmaß von Belles lgnoranz. Daß dieses ,,Eine" zufüllig den

Kem der Existenz ihres geliebten Herrn und Meisters ausmachte, entging der ach

so einfühlsamen, sensiblen Isobel völlig. Belle vermochte nicht einmal den ge-

nauen Zeitpunkt zu bestimmen, an dem Louis begonnen hatte, sich so einschnei-

dend zu verändern. Fanny dagegen konnte Zeit, Grund undAusmaß der Umwand-

lung benennen. Vor dem vergangenen Septernber, als Fanny den todkranken Louis

aus Honolulu hatte herholen müssen, hatte er seinem Wohnort keine übertriebene

Aufmerksamkeit geschenkt: Gut, erwollte auf ein gewisses Maß an europäschem

Komfort nicht verzichten - obgleich weiße Besucher dieses bißchen ,,materielle

Bequemlichkeit" als reinsten Luxus bestaunten. Er ließ einen prächtigen Garten

Page 77: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

anlegen und trimmte sowohl Park als auch Untertanen auf schottische Manier.

Genaugenommen stellte der Rasen viel eher ein Sinnbild für englische Dekadenz

dar oder zumindest für die elende Verweichlichung der Lowlander, doch Fanny

hütete sich, Louis mit solchen Spitzfindigkeiten zu b6lästigen. Louis lebte recht

gemütlich in der Illusion, sich ein winziges Stück Schottland mitgebracht zu ha-

ben, das seinen Bedürfnissen vollauf genügen würde bis zu dem gebenedeiten

Tag, an dem er mit seiner Familie in die Zivilisation, in die Freiheit, ins ersehnte

Heimatland zurückkehren würde.

Der Traum von der Rückkehr schien damals keinem Mitglied des Klans unan-

gemessen oder gar weltfremd. Die Familie richtete sich auf der Insel Upolu häus-

lich ein, doch eben nur so häuslich, wie sie es im Laufe einer langen Kette von

Aufenthaltsorten getan hatte, einer endlosen Perlenschnur von vermeintlichen

Gesundheitsbrunnen zwischen denAlpen und denAdirondacks, die sich samt und

sonders als Fehlschläge entpuppt hatten. Bei jedem Halt am Wegespand ihres

Nomadentrecks hatten sie ein Häuschen gemietet oder gekauft, um sich ihre Un-

abhängigkeit so gut wie möglich zu bewahren. Erst in der Südsee fand Louis'

Leiden wirkliche Linderung; erst auf Samoa schien er dauerhaft, ja endgültig von

seiner Krankheit zu genesen. Der Kauf von Vailima bedeutete allerdings keines-

wegs, daß Louis auf immerdar in dem Gesundheitsparadies zu bleiben gedachte.

In seinen Augen wie in den Augen seines gesamten Klans stellte Louis einen Kur-

und Badegast auf Upolu dar, und zwar den glücklichsten, den die Welt bisher

gesehen hatte. Aus dem Krtippel, der sein halbes Leben hatte im Bett verbringen

müssen, war plötzlich ein kraftstrotzendes, ausdauemdes Wesen geworden, des-

sen Körper endlich - endlich! - mit der energiegeladenen Seele mitzuhalten im-

stande war. Er wurde zum Fisch unter Fischen, wenn er im Meere schwimmen

ging, zu einer veritablen schottischen Bergziege, wenn er in Vailima umherkletterte

oder gar hohe Palmen erklomm. Er aünete frei und leicht, kannte kaum noch die

Bedeutung des Wortes ,,Blutsturz", denn die Krankheit besaß keine Macht mehr

über ihn. Natürlich liebte er Vailima, das ihm so viel Kraft spendete; aber er liebte

es wie den schönsten I'e rienort der Erde: ein Fleckchen, wo er Abenteuer erleben

und gleichzeitig an seinen Romanen schreiben konnte, wo er ungebunden von der

Zivilisation war wie kein Bohemien vor ihm, wo er diesen ihm neu geschenkten

Leib in seiner reinsten, unbekleidetsten Form genießen durfte wie nirgendwo sonst.

Das galt es auszunutzen! Und hatte er die Geschenke dieses wunderbar heilsamen

Ortes erst bis zur Neige ausgekostet, würde er als kerngesunder Mann, neugebo-

ren, in sein geliebtes Schottland zurückkehren und trotz aller Dankbarkeit nicht

ein einziges Mal mehr hinter sich blicken. Sein wahres Paradies wtirde stets Schott-

land bleiben; Samoa besaß nicht denAnflug einer Chance gegen diese übermäch-

tige Konkunenz im Innersten, Allerheiligsten seines Herzens. Im Vergleich be-

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deutete Vailima, sein vorübergehendes Heim, Louis nicht mehr als eine flüchtige

Liebschaft,

Darüber zeigten sich im Grunde auch die Mitglieder seines Klans erleichtert,

allen voran Fanny, die das allerdings nie laut aussprach. Eines Tages kam Isobel inFannys Ankleidezimmer gestärmt, führte einen walren Freudentanz auf und ver-

kündete, Louis wolle ,,höchstens noch ein Jahr" auf Samoa bleiben und dann end-

lich in die Heimat fahren! Minuten zuvor hatte er ihr einen Brief an seinen engsten

literarischen Freund diktiert, den amerikanischen Romancier Henry James, der

Louis laut schriftlichem Bekunden überaus schmerzlich vermißte und seine Ab-

wesenheit kaum noch zu ertragen imstande war. Louis bat um das Verständnis des

Freundes und um seine Geduld, denn binnen Jahresfrist würde Louis' Gesund-

heitszustand sicherlich dermaßen gefestigt sein, daß nichts und niemand mehr diese

Robustheit ernsthaft untergraben könne! Natürlich, so räumte Louis in dern Briefein, vernachlässigte er sträflich seinen Freund und auch die gesamte zivilisierte

Welt; doch nach seiner Wiederkehr sollte die Schuld zehnfach aufgewogen wer-

den. Derart optimistisch äußerte sich Louis im Jahre 1890 ...Im September war der Traum zerplatzt wie eine Seifenblase. Über Nacht wurde

aus dem Feriengast ein Gefangenel aus dem paradiesischen Refugium ein Ker-

ker, aus dem Inselkurort ein trostloses Eiland, von dem es kein Entrinnen mehr

gab. Nie wieder sollte Louis Schottland wiedersehen! Nie wieder durfte er die

Insel verlassen! Ein Dasein im Exil war an sich schon grausam genug; doch inmehr als einer Hinsicht spielte Louis' Schicksal einen mitleidlosen Schabernack

mit ihm. In seiner jetzigen Lage hatte Louis die ,,freie" Watrl zwischen dem Ver-

szclr, Schottland zu erreichen - denn mittlerweile wußte eq daß er schon wenige

Tage nach dem Verlassen der Insel unweigerlich sterben wärde -, und dem Ver-

bleib auf Samoa, was mit jahrzehntelanger Haft gleichzusetzen war. Samoas Geist

hielt Louis am Leben, und sein Leben in Gefangenschaft konnte theoretisch nahe-

zu ewig währen. Wie hatte es ein britischer Arzt zehn Jahre zuvor so treffend

ausgedrückt, als er Louis in Südfranlcreich untersuchen kam und den Kranken ineiner Blutlache vorfand, unf?ihig zu sprechen: ,,Madam, erhalten Sie ihn am Le-

ben, bis er die 40 erreicht hat, und haben Sie das vollbracht, kann er gut und gern

90 werden." Fanny hatte sich nach Kräften bemüht, den Rat des Arztes zu befol-gen; die Insel leistete ihren ureigenen Beitrag. Nichts hinderte Louis nun daran, 90

Jahre alt zu werden, weitere 50 Jatre in Gefangenschaft zu verbringen. Welch

greulicher, entsetzlicher Fluch war das! War es Louis doch früher schon unendlich

schwergefallen, seine Zeit abnwarten, seine von Doktoren verordnete Haft abzu-

sitzen, sei es im Lungensanatorium von Davos, das er haßte wie die Pest, oder inden Vororten von Nizza und Marseille, die er nicht viel weniger verabscheute. Vor

einem Jahr noch hatte Louis sich die vermeintliche Wartezeit mit Schreiben und

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Flötenspiel recht angenehm vertreiben können. Nun gab es nichts, aufdas es noch

zu warten galt - sogar der eigene Tod lag in unerreichbar weiter Ferne ...

Louis sah die Grundfesten seines Lebens in Trüuünern liegen und seine letzten

Hoffnungen auf ein Leben in Schottland zerschmettert; daher schien es nur nattir-

lich, daß er sich etwas gänzlich Neues aufbauen mußte, um nicht den Verstand zu

verlieren. Wie gut konnte Fanny ihm dieses Bedürfiris nachfühlen! Das bißchen

,,Schottland", das Louis sich im Herzen von Vailima zurechtgestutzt hatte, reichte

nun nicht mehr aus. Auch der phantasiebegabteste Mensch konnte sich nicht für

die Dauer seines ganzen Lebens mit einer solch fadenscheinigen Illusion zufrie-

dengeben. Was lag näher als derunstillbare Drang, diese Insel, die Louis in Gefan-

genschaft hielt wie den Dämon in der Flasche, zu seiner ihm angehörenden Hei-

mat umzuformen? Insgeheim hegte Fanny einen unerhörten Verdacht, was das

Verhältnis zwischen der Insel Upolu und dem weißen Bewohner auf ihrem Berg

betraf. Verhielt sich die Insel nicht ganz und gar wie eine schöne, üppige, frucht-

bare Frau, die den an ihren Gestaden gelandeten siechen Fremdling hüldvoll auf-

nahm, ihn gesund pflegte, verwöhnte und verhätschelte, sich an der Entfaltung

seines - zugegeben - grotesk mageren, doch sehnigen und zähen Leibes erfreute?

Diese ,,Frau" merkte jedoch allzubald, daß, je mehr sie den exotischen Mann aus

dem femen Peretania kräftigte, sein Wunsch um so stäirker wuchs, der Wohltäterin

so bald als möglich auf immer den Rücken zu kehren. Zt einer anderen Heimat

drängte es die zeitlebens geschundene Kreatur, zu einer Heimat, die den Mann seit

seiner Kindheit stiefmütterlich behandelt hatte und die er nichtsdestotrotz über

alles liebte. Das konnte die Insel nicht zulassen.

Oh, Fanny war sich durchaus bewußt, daß Louis über solche Gedanken laut

lachen wtirde odeq viel schlimmer, daß er sie voll quälender Besorgnis mustern

könnte wie eine Kandidatin für das Tollhaus. Manchmal glaubte Fanny selbst, daß

sie sich hart an der Grenze zum Wahnsinn bewegte. Das unablässige Grübeln, die

unerhägliche Schwüle ... Und spann sie die Idee von der imaginären Insel-Frau

wirklich weiter, stellte sich nur zu bald heraus, wie unhaltbar sogar ihre Art von

Märchenlogik war. Schließlich sorgte nicht die Insel, sondern der Rest der Welt

dafür, daß Louis nirgendwo sonst überleben konnte! Alle anderen Länder brach-

ten ihn in tödliche Gefahr! Nur ein Umstand erschien Fanny dabei äußerst beunru-

higend, wenn nicht gar ausgesprochen zwielichtig: Bevor Louis erstmals seinen

Fuß auf die Insel gesetzt hatte, war er zrluat ein Invalide, doch immerhin kräftig

genug für die weitesten Kreuzfahrten gewesen, die auch manchen robusteren Eu-

ropäer arg in Mitleidenschaft gezogen hätten. Je mehr Zeit er auf Samoa verbrach-

te, je mehr sein körperliches Wohlbefinden durch Samoa wuchs, desto schwer-

wiegender wurden die anschließenden Attacken, die seine Krankheit hinterrücks

auf ihn unternahm, sobald er die Insel verließ . . . Unbestreitbar hatte von Anfang

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an ein Wechselverhältnis bestanden zwischen der Dauer seines Aufenthaltes hierund den Barrieren, die sich zwischen Insel und Außenwelt auftärmten. Die Inselverdarb ihn für alle anderen Gestade, indem sie ihn zu einem ihrer einheimischenLebewesen umformte. Jener Sägefisch Sawfish-u, den Fanny vor Monaten aus

einer Laune heraus ersonnen hatte, nahm immer konkretere Gestalt an - als einVerbündeter, ein Hilfsgeist der Insel.

Egal, ob Fanny nun diese vemunftwidrigen ,,Überlegungen" als Ausgangspunktwählte oder einfach nur die Qualen nachempfand, die Louis in der Gefangenschaft

erdulden mußte: Sie begriff sehr gut, wamm ihr Mann zumindest vorläufig das

Roden zu seinem obersten Ziel erkoren hatte. Don Quijote war in der Tat wieder

einmal ausgezogen, um ein irnvitziges Unternehmen zu beginnen. Diesmal trug

der dürre Mann, wenn er auf seinem Pferd in den Dschungel ritt, statt einer Lanze

eine riesige Säge über dem Rücken. Mit der Säge wtirde er seine eigenen Kreise

ziehen, einen nach dem anderen, um Vailima, sein vom Urwald befreites Land, bis

zum Rand des Menschenmöglichen auszudehnen und so womöglich gar dem mäch-

tigen Sawfish-u zu trotzen. Wenn die Insel-Frau ihn behalten wollte, würde er die

Eifersüchtige eben der rechtmäßigen, eirzigen Liebe seines Lebens so sehr an-

gleichen, daß die Imitation ihn halbwegs zufriedenstellen konnte. Alles Grtinzeug,

das höher wuchs als schottisches Heidekraut und keinen ausgleichenden Nutzen

aufivies, mußte seiner Säge weichen; Louis wärde Plantagen anlegen und sie der

schiägen, abfallenden Lage Vailimas gemäß in Parzellen aufteilen. Doch auch der

vermeintliche Flickenteppich, der sich zwangsläufig aus den örtlichen Uneben-

heiten ergab, würde sich im Endeffekt lückenlos in den großen schottischen Plan

einfügen - nur ein vorbeiziehender Vogel könnte dann allerdings noch den Ent-

wurf der Tapisserie ersp?ihen, das gigantische grüne Tartan-Muster, welches aus

Vailima dereinst entstehen würde. Es gäbe dann keinen Baum mehr, der es Men-

schen ermöglichte, das Werk aus der Höhe zu betrachten.

,,Unmöglich! Das ist völlig ausgeschlossen!" Fanny hieb sich mit beiden Fäu-

sten gegen die Schläfen, um sich die aberwitzigen Gedanken buchstäblich aus dem

Kopf zu schlagen. Kein Mensch konnte es auf Dauer gegen den Urwald auftrehmen;

Louis erfuhr das noch früh genug, und für den Augenblick sollte er ruhig wie ein

Besessener roden, um seine Wut, seine Angst und seinen Schmerz zu betäuben - sich

ihrerbestenfallssogarzuentldigen EswürdekeinegrünenSchottenkarte.esinVailima

geben, was Jür ein lächerliches Hirngespinst war das wieder!

Bezeichnenderweise hatte auch Louis'Wunsch nach einer gepflasterten Straße,

die nach Vailima hinauffiihrte, erst seit dem vergangenen September konkrete

Formen angenommen. Aus Hawaii zurück und augenblicklich genesen, mußte er

sofort über das Mittel nachgegrübelt haben, mit dem er die Häuptlinge für seine

Sache einspannen konnte. Beim Gastmatrl seinerzeit in Apia hatte Louis bestimmt

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noch keinen Gedanken an ein derartiges Vorhaben verschwendet. Das As in sei-

nem Armel - oder besser der ,,Joker" des freien Wunsches - blieb unangetastet.

Louis hatte dem Anerbieten der Häuptlinge gewiß 4icht mehr Bedeutung beige-messen, als diesemA-usdruck guten,,Willens" zukam; die Höflichkeit der Samoa-

ner galt als sprichwörtlich, aber auch erwiesenermaßen als nichtssagend und barjeglicher Grundlage. Und dann rückte Louis plötzlich mit einem Plan heraus, derjeden auf der Insel, ob weiß oder farbig, durch seineAbsurdität schockieren muß-

te. Die Verwimrng wuchs angesichts der Tatsache, daß Louis, anstatt auf das Un-erhörte zu spekulieren, seine Straße ohne großesAufhebens aus eigenen Kräftenhätte errichten lassen können - Arbeitskräften nämlich. So gigantisch das

Straßenbauprojekt auf den ersten Blick schien, war es doch ein Nichts verglichen

mit den Zielery die sich der selbstemannte Landschaftsgärtner von Vailima ge-

steckt hatte. Louis verfügte über genügend samoanische Gefolgsleute, die seine

Plantagen errichten würden. Wie gut ließen sich also ein, zwei Dutzerld von ihnen

für den Straßenbau abzweigen! Im äußersten Notfall hätte er sogar'auf die zeit-

weise Hilfe der Fremdarbeiter von den Salomoninseln zurückgreifen können. Ob-gleich Fanny wußte, daß Louis die Gegenwart solcher,,Fremdef'auf seinem Ter-

ritorium ganz und gar nicht schätzte, mußte der unbändige Wunsch nach einer

gepflasterten Straße dieses Unbehagen eigentlich aufiviegen - zumal die Salomon-

insulaner viel mehr von solchen Dingen verstanden.

Aber Louis verlangte kompromiß- und einsichtslos nach der Unterstützung der

samoanischen Häuptlinge, die ihm mit höchster Wahrscheinlichkeit niemals zuteil

werden wtirde. Warum? Louis'Verhalten, das er an seinem Geburtstag ihnen ge-

genüber an den Tag gelegt hatte, verriet Fanny, daß seine Taktik envas mit dem

Streben nach Macht zu tun hatte: Keine Geringeren als die Herren der Insel sollten

ihm zu Diensten sein und damit ein flir allemal ein Zeichen setzen. Wenn Louisschon auf einem erbärmlichen Stückchen Land inmitten der Einöde des pazih-

schen Ozeans hockenbleiben mußte bis ans Ende seiner Tage, erwies es sich als

angebracht, den restlichen Einwohnern seiner Insel die ihnen angemessenen Plät-

ze alz;üeilen Wie oft schon hatte Louis Fanny von seiner Jugend in Schottland

erzählt, als er seinem Leiden und seiner jammervollen körperlichen Verfassung

ntmTrolz regelrechte Überlebensexkursionen unternommen hatte, die er seinen

besorgten Eltern mit den lapidaren Worten ankündigte: ,,Ich gehe crusoieren!"

Wie der berühmte Romanheld untenvarf sich auch Louis, damals allerdings freiwillig, den Entbehrungen, die das Leben eines Schiffbrüchigen mit sich brachte.

Mittlerweile hatten sich die Vorzeichen drastisch gewandelt; doch gab dies Louis

Crusoe das verbriefte Recht, seine Inselgefthrten, deren Anspruch auf Freiheit

und Selbstbestimmung er persönlich so vehement vertrat, in eine riesige Armee

kleiner Freitage zu verwandeln?

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Ihr Gefühl sagte Fanny jedoch, daß der Hauptgrund für sein Beharren nichts

mit jenen gewöhnlichen Machtgelüsten zu tun hatte, die andere Mäinner zu ihren

,,Ruhmestaten" trieben. Louis'erklärter Gegner war der Dschungel, der sich über-

all auf der Insel breitmachte. Der Urwald stellte gleichzeitig den einzigen Feind

dar, der Louis Todesangst einjagte. Louis lebte seiner Selbsteinschätzung gemliß

aufdem höchsten bewohnbaren Punkt der Insel. Die Luft war dünn hier oben und

bekam einem Mann wie ihm, der nicht zu aünen vermochte wie andere Menschen,

ausgezeichnet - doch die Höhe machte ihn noch einsamer, noch verwundbarer in

seinem Kampf gegen das undurchdringliche Gestrüpp, das ihn hier auf dem Berge

Vaea umgab. Eine Straße gestaltete nicht bloß das Reiten angenehmer; eine Straße

würde Louis mit den anderen Häuptlingen verbinden, die unterhalb seines Rei-

ches angesiedelt waren. Um die Straße zu bauen, mußten diese mächtigen Häupt-

linge, rechtmlißige Eingeborene der Insel, mit Axten, Buschmessem, Sicheln und

Sensen gegen den Urwald angehen, sich zum ersten Mal mit ihm anlegen und

durch diesen Akt der Herausforderung zu Louis'Verbtindeten, an Kampfgenossen

werden. Louis brauchte im Grunde nicht dieArbeitskraft der Häuptlinge. Erbenö-

tigte ihre angestammte Macht, damit sie ihm seine entsetzliche Angst nahmen.

,,Mutter, schau doch mal dort drtiben! Da reitet unser Ritter in schimmernder

Rüstung in den Dschungel hinein!"

Diesmal schnitt sich Fanny vor Schreck mit dem Schälmesser tief in den Dau-

men. Die Zwiebel, mit der sie gerade beschäftigt war, entglitt ihren Händen und

fiel zu Boden. Es dauerte einen Moment, bis der Schmerz ihr Gehim erreichte;

dann aber schrie sie laut auf. Blut tropfte aus Fannys Daumen auf die hölzernen

Stufen der Veranda. Fanny war verwirrt.

,,Mutter, das mußt du unbedingt verbinden!" meinte Isobel kategorisch und

wickelte kurzerhand das Taschentuch, mit dem sie sich vor Minuten noch die ei-

genen Tränen abgewischt hatte, um den verletzten Daumen ihrer Mutter. Sehr zart-

fühlend ging sie nicht mit ihr um, doch Fanny ließ es geschehen: Isobel war keine

Veteranin aufdem Gebiet der Krankenpflege.

,,Wie kannst du dich nur so ungeschickt anstellen, Mutter!" plapperte Isobel

weiter. ,,Ich habe dich doch nicht einmal angestoßen. DerAnblick deines Sohnes

ist zwar nicht gerade erhebend, aber daß der gute Lloyd eine solch einschneidende

Wirkung auf dich ausübt . . ." Isobel kicherte vor sich hin. Sie war tatsächlich ein

Ausbund anZartgefithl.

Es stimmte: Dort drüben ritt Lloyd gerade durch das Tor, das Vailima von dem

umgebenden Urwald trennte. Zu Pferde sah er leider nicht viel besser aus als zu

Fuß, obwohl er sich für diesen Ausflug in seine erlesensten Kleider geworfen hat-

te. Fanny hegte den leisen Verdacht, daß Lloyd, der ähnliche Körpermaße besaß

wie sein Vorbild, heimlich in Louis' Kleiderschrank gestöbert hatte . . .

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,,Ist das nicht Louis' bestes Hemd, Mutter?" fragte Isobel und bestätigte Fannys

Vermutung. ,,Dein Sohn, dieser Schlingel, befindet sich also wieder einmal aufFreiersfüßen. Na, viel Glück, junger Mann. Du wirst es brauchen."

Diese Worte aus dem Munde einer noch jungen Frau, deren Liebesleben völligbrachlag und die nach gescheiterter Ehe ausgerechnet zu Mutter und Stiefuater

auf Samoa zurückgekehrt war, befremdeten Fanny nachdrücklich. Was genau tat

Isobel eigentlich hier? Ihrer Mutter zuliebe lebte sie sicherlich nicht auf der Insel,

und ihrem Sohn erwies sie keinerlei Gefallen damit, ihn abseits aller Zivilisationaufivachsen zu lassen, ohne Schulen, ohne gleichartige Spielgeführten.

,,Lloyd ist schließlich kein Mönch, Isobel", gab Fanny deshalb etwas spitz zu-

rück. ,,Er hat kein Gelübde ewiger Keuschheit abgelegt ... wie es allem Anschein

nach gewisse andere Leute getan haben." Dabei sah sie der Tochter ins Gesicht.

,,Die Tapos darfst du aber doch nicht zählen, Mutter", entgegnete Isobel, die

wieder einmal nichts verstand und sich den Schuh daher auch keinesyegs anzog.

,,Diese Mädchen müssen, wie du sehr wohl weißt, nur solange keuSch leben, bis

die Altesten einen passenden Mann für sie aussuchen."

,,Ich rede auch gar nicht von den Ehrenjungfrauen, meine Liebe", erwiderte

Fanny leise. Sie gab es auf, das Thema mit ihrer Tochter vernünftig zu bereden. Es

hatte keinen Sinn.

,,Üb.igens hat Lloyd, um auf Brautschau zu gehen, eigens seine scheußliche

Brille abgelegt", fuhr nun Isobel munter damit fort, über den Bruder zu lästem.

,,Hoffentlich findet er sich dort draußen im bösen Dschungel zurecht, so ganz

ohne Sehhilfe. Wehe, wenn er vom rechten Weg abkommt und sich in den fleisch-

fressenden Pflanzen verf?ingt! Oder es wirft womöglich irgendein kleines, fettes

Inselmädchen seine Fallstricke nach ihm aus. Immerhin ist er im Moment, nun ja,

blind vor Liebe und entsprechend hilflos ... Schlimmstenfalls trifft er auf eine

Vertreterin dieser berüchtigten weiblichen Dämonen, so ein hübsches Wesen mitdrei Armen, dafir ganz ohne Zähne, und geht mit ihr gründlich baden."

Trotz der Bosheit ihrer Tochter konnte sich Fanny ein Lachen nicht verkneifen.

Ein Körnchen Wahrheit war in Isobels Schilderung sehr wohl zu finden; Lloydpirschte sich meist an weibliche Wesen heran, die sich bei näherer Betrachtung als

peinliche Entgleisungen erwiesen - doch ob das an der fehlenden Brille lag oder

an Lloyds eigentümlichem Geschmack, mochte Fanny lieber nicht beurteilen. Meist

entschied Lloyd weise, daß sein Hauptvergnügen in der geweihten Suche lag und

nicht etwa im Gegenstand derselben. Manchmal hatte er mehr Glück; in letzteren

Fällen schien er allerdings weit zufriedener mit dem jeweiligen Gegenstand. Fanny

sah die Sache gelassen. Die Insulanerinnen nahmen es mit Tugenden wie Treue inder Regel nicht gerade genau, Enthaltsamkeit kannten die meisten überhaupt nicht,

und so ließ Fanny ihren Lloyd in Frieden ziehen. Erstens konnte sie ihn sowieso

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nicht aufhalten; zweitens war er ein gesunder junger Mann und sollte sich ruhig

seiner Jugend entsprechend austoben. Alles war in bester Ordnung, solange er

sich nicht mit Lepra infzierte.

,,Weißt du noch, Mutter, wie deine Freunde in San Francisco uns beide aufzu-

ziehen pflegten, als wir unseren Plan bekanntgaben, alle zusammen in die Südsee

zu reisen? ,Nehmt euch vor der Konkurrenz in acht', haben sie gesagt, ,dort unten

sind alle Frauen Göttinnen.' Daß ich nicht lache! Mir persönlich scheint es viel

eher, als ob gerade hier in der Südsee mehr häßliche, plumpe, mißgestaltete und

fette Frauen zu finden seien als irgendwo sonst auf der Welt.'

Fanny schüttelte den Kopf. ,,Das kannst du so nicht sagen. Zunächst mußt du

bedenken, daß die Samoaner fette Frauen zutiefst verehren ... sie möglichst auf

Händen tragen, immer vorausgesetzt, daß sie das körperlich auch schaffen."

,,Wie würdest du es dann also ausdrücken, Mutter?"

Fanny überlegte. ,,Ich glaube, es gibt da gar keinen Unterschied", meinte sie

dann. ,,In San Francisco sind die Frauen verhüllt und ihre kleinen Unre-

gelmäißigkeiten mit ihnen. Hier laufen alle weiblichen Wesen nackt herum und

zeigen dementsprechend auch jeden Makel, mit dem sie behaftet sind. In San Fran-

cisco halten die Menschen Samoa schlechthin für das Paradies. Das schließt für

die Männer mit ein, daß auch die eingeborenen Frauen perfekte Kreaturen sein

müssen. Natürlich stellen sie sich in ihrer Phantasie bildschöne, grazile nackte

Mädchen vor. Kein gesunder Mann würde von einer nackten Drei-Zentner-

lnsulanerin mit schwarzen Ztihnen träumen ..."

,,Außer unserem Lloyd." Isobel kicherte.

Fanny seufzte tief auf. ,"A.ußer unserem Lloyd", gab sie zu.

,,Aber Scherz beiseite." Isobel wurde ernst. ,,Ich habe heute morgen den neue-

sten Inselklatsch mitbekommen, und er ist dermaßen extravagant, daß er der Wahr-

heit entsprechen muJ3. Kein Insulaner kann sich etwas so Phantastisches ausden-

ken. Und wenn das stimmt, was ich gehört habe, muß sich Lloyd tatsächlich vor

einem der Mädchen in acht nehmen, sonst verliert er am Ende noch seinen Kopf -im wahrsten Sinne des Wortes."

,,Was meinst du?" Fanny legte ihr Schälnesser beiseite.

,,Du hast doch sicher schon von der berühmten Soenga vemommen, dem gan-

zen Stolz der französische,n Missionsschule?"

,,Selbstverständlich." Die junge Soenga, eine der wenigen wirklich makellos

schönen Frauen der Insel - zumindest gemäß landläufigen europäischen Vorstel-

lungen - und zudem mitAbstand die intelligenteste von allen, war die Tochter des

Häuptlings Cielasengo, dessen Stamm nicht weit von hier lebte. Bereits als halber

Säugling war sie zw Tapo erkoren worden, zur Ehrenjungfrau ihres Dorfes; dann

überlegte man es sich anders und übergab das vielversprechende Kind der Obhut

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der weißen Missionare. Soenga erlernte dort unter anderem drei Sprachen in Wortund Schrift, vornehme Konversation für weiße Salons und kirchliche Picknicks,das Speisen mit Messer und Gabel und das würdeyolle Tragen weißer Kleidung.Die Reihenfolge dieser ihrer Fertigkeiten konnte höchstens einem Nicht-Samoa-ner Rätsel aufgeben: Wer je einen Samoaner dabei beobachtet hatte, wie er sichverzweifelt mit Eßbesteck abquälte oder aber mit Knöpfen, Haken und Ösen, ver-stand den Verlauf des christlichen Erziehungsplanes vollkommen. Auf diese Wei-se verbrachte Soenga annähernd ihre gesamte Kindheit und Jugend, sogar das

frtihe Erwachsenenalter, in der hermetisch abgeschlossenen Gesellschaft von Mis-sionaren und wenigen weißen Siedlern. Wie vorausberechnet entwickelte sich das

Mädchen zu einem perfekten Vorzeigemodell der missionierten Eingeborenen; sie

stellte mit ihrem Charme, ihrerAnmut und ihrer Intelligenz den natärlichen Mit-telpunkt jeder,,weißen" Festlichkeit darund wurde gefeiert, ja angebetet wie viel-leicht nur noch die katholische Madonna neben ihr. i

,,Ich dachte, Soenga sei vor kurzem zu ihrem Stamm zurückgekelirt", sagte

Fanny. ,,Sie sollte wohlo wenn ich mich nicht ine, ihren Verwandten das Leucht-feuer der Zivilisation heimbringen. Zu diesem Zweck hat man sie ja schließlichweggeschickt. Und hat sie ihre Leute schon etwas gelehrt?"

,,Das kann man wohl mit Fug und Recht behaupten", antwortete Isobel lang-sam und mit unheilschwangerer Betonung.

,,Mach's nicht so spannend, Liebes. Hat sie in der Hütte ihrer Familie einen

Debattiersalon für höhere Töchter aufgemacht, oder ist sie mit Messer und Gabel

auf eine Kokosnuß losgegangen? Was soll sich Dramatisches abgespielt haben?"

,,Du brauchst dich gar nicht darüber lustig zu machen", gab Isobel tro%igzu-rück. ,,Das Mädchen hat beinah einenAufstand angezettelt - nattirlich keinen krie-gerischen, aber immerhin. Sie kam nach Hause, so berichtet man, und trug nochimmer die Sachen am Leibe, die sie während der letzten Jahre selbst zu bevorzu-gen schien. Weiße Kleidung, versteht sich, Rock und Bluse, ja sogar Schuhe undStrümpfe. Kaum war sie in ihrem Heimatdorf aufgetaucht, scharte sich alles Volkum sie, wie du dir leicht vorstellen kannst, und wollte die neue, rundum verbesser-

te Soenga ausgiebig begutachten. Daraus wurde tatsächlich eine interessante Vor-stellung! Die Gute stellte sich in die Mitte des Dorfplatzes, wartete, bis sie jeder-

mannsAufmerksamkeit genoß, und zog sich dann langsam und genüßlich splitter-

nackt aus. Die schönen Kleider, die sie mitgebracht hatte, zerriß sie entweder oder

stülpte sie den Dorfschweinen über die Köpfe! Stell dir das einmal vor! Alle stan-

den nur mit offenem Mund um sie herum und glotzten. Ich nehme an, sie fragten

sich ernsthaft, ob sie ein solches Verhalten bei den Missionaren gelernt hatte. Aberdas war nur der Anfang."

,,So?" Fannys Interesse an Belles Bericht wuchs zusehends.

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,,In der Tat. Soenga bequemte sich bald, einen Lavalava anzuziehen, aber sie

wäihlte mit Bedacht das gröbste und wohl schmuckloseste Ding, das jemals von

einer Insulanerin getragen wurde. Sie übertreibt es überhaupt ein:bißchen mit der

Einfachheit! Daß sie wie die anderen wieder mit den Fingern ißt, versteht sich

wohl von selbst. Und wofür sie die drei Sprachen gelernt hat, weiß nur der Teufel.

Statt sie ihren Stammesleuten ein wenig nZiherzubringen, verlegt sie sich auf das

exakte Gegenteil: Sobaldjemand sie anfangs ansprach und dabei auch nur ein,

zwei Brocken Samoa-Englisch benutzte, um sich bei dem weißen Wunderkind

beliebt zu machen, ist sie dem ahnungslosen Betreffenden fast vor Zom ins Ge-

sicht gesprungen. Mittlerweile wagt es niemand mehr, in ihrer Gegenwart wie die

Missionare zu reden - geschweige denn über sie. Alles ,Weiße' hat sie höchstper-

sönlich gewissermaßen zum Tabu erklärt; und sie läßt in ihren Hetztiraden nicht

einmal die Stammesältesten zu Wort kommen. Schließlich und endlich hat der

Rhetorikunterricht der Franzosen also Früchte getragen. InjederArt von Konver-

sation kann Soenga ihre Gegner nämlich mit Leichtigkeit an die Wand dräcken.

Und das obendrein fein, sittsam, bescheiden und ganz ohne christliche Nächsten-

liebe."

Fanny starrte ihre Tochter mit offenem Mund an. ,,Das ist wirklich erstaunlich",

flüsterte sie.

,,Nicht wahr?" entgegnete Belle, die den wahren Grund für das Erstaunen der

Mutter nicht erahnte. ,,Außerdem ist mir zu Ohren gekommen, daß Soenga sich

sehr ungebührlich und undankbar behägt, wenn sie zufällig aufweiße Siedler stößt.

Sie schaut sie kurz giftig an, wirft stolz den Kopf in den Nacken und rauscht

hoheitsvoll an ihnen vorbei, ohne ihnen auch nur einen Gruß zu schenken. Dabei

können die Weißen wahrscheinlich noch von Glück reden, daß Soenga sie nicht

attackiert. Falls also unser armer Lloyd auf sie teffen sollte und ohne seine Brille

am Ende nicht bemerkt, daß Soenga sich aufdem Kriegspfad befrndet und gar

nicht in Stimmung für seine amourösen Anschleichversuche ... dann ist es urn

mein Bruderherz wohl endgültig geschehen. Soenga würde ihn aufressen."

,,Höchst faszinierend", murmelte Fanny versunken.

Isobel warf ihr einen mißbilligenden Blick zu. ,,So mag man es auch nennen,

wenn man will. Ist dir denn nicht bewußt, was fürAuswirkungen ein solches Be-

tragen haben könnte, was eine Unruhestifterin wie Soenga anzurichten vermag?

Das Mädchen ist doch ansonsten klug und verständig und weiß sich jeder Heraus-

forderung zu stellen. Wenn ihre Stammesgenossen nicht so unglaublich täge, phleg-

matisch und denkfaul wären, wie es nun einmal alle Samoaner von Natur aus sind,

würde ich Soenga fast zutrauen, daß sie eines Tages halb Upolu gegen die Weißen

aufiviegelt. Da hast du dein gepriesenes ,Leuchtfeuer der Zivilisation'. Dcs Expe-

riment ist wohl grändlich mißglücl1."

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Fanny lächelte still vor sich hin. Ihr Schweigen erzümte Belle sichtlich. AlsFanny nach einer vollen Minute noch immer nichts sagte, warf Isobel resigniert

die Arme in die Höhe, erhob sich von den Stufen {er Veranda und zog von dannen.

,,Das Experiment ist allerdings anders verlaufen als geplant", murmelte Fanny.

Sie wußte nicht, was sie von den möglichen Folgen halten sollte, die Soengas

widerborstiges Verhalten zeitigen mochte; sie war sich lediglich bewußt, dal3 Soenga

sie zutiefst faszinierte. Eine junge Frau, der das Feuer der weißen Götter als Ge-

päck mit auf den Weg zu den Ihren gegeben worden war, entledigte sich mit voller,

klarerAbsicht dieses Feuers, suchte sogar noch die wenigen Funken auszutreten, die

beteits auf ihr Volk übergesprungen waren. ,,Ein umgekehrter Prometheus", flüsterte

Fanny und bemerkte dabei nicht die eigene andächtige Ergriffenheit.

Und sie fragte sich, was denn nun wirklich passieren konnte, wenn ein junger

Mann wie ihr Sohn Lloyd zurAbwechslung auf eine willensstarke Frau wie Soenga

prallte, anstatt mit einem seiner üblichen sarnoanischen Mädchen anzubandeln.Leider lag n?imlich Isobel mit ihrer Einschätzung der samoanischen Wesensart gar

nicht so falsch; schon die m?innlichen Insulaner zeigten kein großes Maß an Ener-

gie, während die Frauen einen regelrecht apathischen Eindruck machten, wenn sie

sich nicht gerade in einer vielköphgen Gesprächsrunde befanden. Zum großen

Teil mußte man die geistige Schlafftreit der Bevölkerung garz einfach dem uner-

träglich schwülen Klima zuschreiben. Fanny bemerkte schließlich an sich selbst

und den anderen Weißen, wie alle hier langsam, aber sicher verfielen - alle außer

Louis natürlich. Und doch gab es offensichtlichAusnahmen wie diese Soenga, die

sich zu ihrer eigenen Lebensform bekannte ... nicht a:os Mangel an Widerstands-

kraft, sondem gestäirkt durch ein Übermaß an Durchsetzungsvermögen.

Unwillkürlich, beinah unbemerkt, schlich sich die Erinnerung an Fannys eige-

nen amowösen Zweikampf mit Louis in ihre Gedanken - obwohl Fanny bezwei-

felte, daß Louis sie zu Anfang überhaupt wie ein Liebhaber begehrt hatte. Daß sie

ihn darnals nicht geliebt hatte, wußte Fanny nur allzlugat ...Es war in Frankreich gewesen, eine geraume Zeitnachihrer ersten Begegnung

in der Schenke nt Grez. Fanny hatte Louis Stevenson längst spurlos aus ihrem

Gedächtnis gestrichen - oder hätte dies ohne die stZindige Erinnerung durch äuße-

re Umstände zumindest sehr leicht tun können. Seine allseits bis zur Raserei ge-

liebte Person hatte keinen nachhaltigen Eindruck bei Fanny hinterlassen, wohlaberbei ihren Kindem, die auch Monate nach Louis'Abreise aus Grez noch jeden

Tag von ihm schwtirmten. Fanny ihrerseits interessierte sich recht lebhaft für ein

anderes männliches Exemplar der Gattung Stevenson: für seinen Vetter Bob, der

in Südfranlreich geblieben war, während Louis sich nach Schottland begeben hat-

te. Wäre er staff dessen nach Timbuktu oder Feuerland aufgebrochen, hätte dies

Fanny zu jener Zeit kaum gleichgültiger sein können. Bob Stevenson hingegen

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war so recht ein Mann nach Fannys Geschmack, freundlich, warrnherzig, freimü-tig und geradeheraus, keineswegs ein Meister der Verstellung wie sein jifurgerer

Verwandter. Seinen schlechten Ruf in bezug auf die Damenwelt nabm Fanny inKauf, zumal sie rasch merkte, daß in Bobs Fall die Gerüchtekäche jede seiner

vermeintlichen Eskapaden zehnfach neu aufzuwännen oder füsch zu garnieren

pflegte, und zwar ohne sein Zutun. Es war ein Phänomen, wie es Fanny späternurauf Samoa wieder in ähnlich starkerAusprägung begegnen sollte. Weit davon ent-

femt, einen geeignetenHeiligen abzugeben, besaß Bob Stevenson doch genügend

Qualitäten, die ihn grundlegend von den anderen jungen Windhunden in Grez und

Umgebung unterschieden. Fanny betachtete ihn als einen lieben und liebenswer-

ten Freund und schloß eine intensivere Entwicklung ihrer Beziehung in der nahen

Zukunft keineswegs aus.

Das Leben in der Känstlerkolonie verlief bescheiden, aber in jeder Beziehung

beschaulich und angenehm. Oft machten sich Fanny und Bob frühmorgens ge-

meinsam auf den Weg, um sich nach einem passenden Motiv umzuschauen, das

sie anschließend in Öl festhielten,jeder an seiner eigenen Staffelei arbeitend, doch

stets in trauter Zweisamkeit. Landschaftsbilder stellten auch Bobs große Leiden-

schaft dar, während die meisten der anderen männlichen ,,Kolonisten" Portraits

bevorzugten - vomehmlich Aktstudien, wie Fanny unschwer den Ergebnissen zu

entnehmen vermochte, welche imZuge so manch abendlichen Umtrunkes in fro-her Runde herumgezeigt wurden. So verbrachten Fanny und Bob zahlreiche Tage

und Nächte in völliger Unschuld, trotz der Nähe des vemrchten Künstler-Gomorrhas. Insgeheim wänschte sich Fanny manchmal, Bob solle ihr einen An-trag machen, der ein wenigvnsittlicher ausfallen könnte ...

Daß Bob nichts dergleichen untemahm, lag gewiß nicht an seiner mangelnden

Zuneigung zu Fanny. Das spürte sie instinktiv, ohne sich dabei ungebührlich zu

schmeicheln. Bob genoß schließlich ihre Gesellschaft: Sonst hätte er sie wohl kaum

tagein, tagaus begleitet, anstatt sich entweder allein auf den Weg in die Natur zu

machen oder sich dieZeit mit seinen Freunden zu vertreiben, die allesamt jünger

waren als Fanny. Der größte Hinderungsgrund für Bob, den Fanny sich vorstellen

konnte, lag in der Tatsache begründet, daß sie noch immer ehelich gebunden war.

Zwar bedeutete diese Ehe frr Fanny nur mehr eine reine Formsache; Bob jedoch

scheute offensichtlich davor zurück, einer verheirateten Frau die Art vonAvancen

zu machen, die Fanny sich heimlich erträumte.

Und es gab noch zwei weitere Gründe, die Bob davon abhielten, sich Fanny zu

offenbaren. Die beiden Grtinde hießen Lloyd und Isobel. Bob verstand sich präch-

tig mit Fannys Kindern - wenn auch nicht annähernd so prächtig wie Louis, dem

sie vonAnbeglnn an aus der Hand gefressen hatten -, und im Falle einer engeren

Verbindung wären die beiden Bob Stevenson wohl sicher nicht im Wege gewesen.

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Doch Lloyd undlsobel dachfez erst gar nicht daran, eine solche Verbindung zuzu-

lassen. Auf Fanny, ihre eigene leibliche Mutter, wirkten sie offrnals wie fremde

Wesen ... wie zwei Agenten in geheimer Missionl von einer femen, feindlichen

Macht dazu angestiftet, die Pläne ihrer Mutter gründlich im Auge zu behalten und

notfalls mit rigorosen Maßnahmen zu vereiteln. Die Lage gestaltete sich um so

verrückter, als der,,Auftraggeber" nicht das geringste von der geheimen Weisung

wußte. Oder ahnte Louis zumindest etwas? SeinerWirkung auf Kinderseelen war

er sich zweifellos vollaufbewußt - doch kämmerten ihn dieAuswirkungen seines

magnetischen Charmes überhaupt, drtiben im fernen Schottland?

Neben ihren Malausflügen suchte Fanny selbstverständlich soviel Zeit wie

möglich auf die Erziehung ihrer Sprößlinge za verwenden. Sie widmete ihnen

regelm?ißig die Mittags- und frühenAbendstunden, oft auch garueTage; vonVer-

nachlässigung konnte also gar keine Rede sein. Isobel, bereits eine junge Dame

und rein theoretisch im heiratsfühigen Alteq zeigle anrn Glück keiner-lei Bereit-

schaft, sich von einem der Bohemiens den Kopfverdrehen zu lassen. Fanny durfte

sie getrost ohne Anstandsdame in der Gesellschaft der,,bösen Buben" zurücklas-

sen, was sie sehr erleichterte: Schließlich wäre nur Fanny persönlich für dieses

Amt in Betracht gekommen und darnit rund um die Uhr beschäftigt gewesen. Doch

wie dankten ihr Lloyd und Belle die ungewohnte und recht ungewöhnliche Frei-

heit? Nicht genug damit, dalJ sie ihrer Mutterununterbrochen, ohneAtem zu schöp-

fen, von dem großartigen, wunderbaren, göttlichen Fabelwesen namens Louis

vorschwärmten und ihren armen Verstand mit dieser besonders niederträchtigen

Spielart der indianischen Wasserfolter auszuhöhlen trachteten. Anstatt die eigene

Ungebundenheit zu genießen wie andere Kinder in ihrem Alter, vergeudeten die

beiden die meiste Zeit darnit, Fanny hinterherzuschleichen und sie auf Schritt und

Tritt zu überwachen wie Polizeispitzel. Wenn ihre Verfolger sich allerdings ernst-

lich einbildeten, entsprechend unbemerkt bleiben zu können, läuschten sie sich

gründlich. Isobels weiße Kleiderblitzten regelmtißig aus dem Unterholz des Wal-

des von Fontainebleau hervor, und Lloyds Kurzsichtigkeit hinderte ihn schon da-

mals an der vollen Entfaltung der von ihm angesüebten indianergleichen Körperbe-

herrschung und Tamfritrigkeit. Fanny hätte diese Unternehmungen ihrer Kinder

mit amüsierter Nachsicht betrachtet, wenn da nicht ein unangenehmer Umstand

gewesen wäre: Bob bemerkte die Verfolger natärlich auch.

Bob Stevenson war sich derAnziehungskraft, die sein Vetter Louis von fem auf

die beiden ausübte, vollaufbewußt und wunderte sich nicht im geringsten dar-

über. Er akzeptierte den Zauber, der von seinern Verwandten ausging, als dessen

angeborenes und daher absolut rechtmäßiges Privileg. Wenn Fanny ehrlich zu sich

war, mußte sie sich eingestehen, daß auch Bob ihr manchmal mit der Wasserfolter

erheblich auf die Nerven ging, denn Bob verstand es ebensogut wie ihre Kinder,

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seinen Vetter ohne Unterlaß zu verherrlichen. Er redete für sein Leben gern über

Louis, und Fanny ließ ihn gewähren; allerdings trug Fannys mühsam aufgebrach-

te Geduld nicht unbedingt dazu bei, Bobs Idol in ihrenAugen sympathischer wer-

den zu lassen.

,,Was mich an Louis möglicherweise am meisten fasziniert", pflegte Bob bei

diesen Gelegenheiten ar sagen, ,,ist seine gespaltene Natur. Es wohnen zwei See-

len in seiner Brust, zwei Männer in seinem Körper ... wenn du verstehst."

,,Nein, das verstehe ich nicht", gab Fanny darauf jedesmal zurück. ,,Ich per-

sönlich finde, daß sein Körper schon für elnen Mann erheblich zu dürr geraten ist.

Wo soll danoch Platz füreinen zweiten sein?" Fanny stellüe sich absichtlich dumm.

,,Ach, Fanny", stöhnte Bob dann auf, weil erbegriff, daß sie ihn nur aufziehen

wollte, ,du weißt ganz genau, was ich meine. Louis besteht aus zwei ganz und gar

unterschiedlichen, nein, sogar vollkommen gegensätzlichen Wesen, die zueinan-

der in einer Beziehung stehen wie der Tag zur Nacht, das Licht zur Dunkelheit.

Und ich wage kaum zu sagen, welche der Kreaturen in seinem Innern mich mehr

zu fesseln vermag,"

,,Das hast du aber schön ausgedrückt, Bob", spottete Fanny. ,,Sehr poetisch.

Leuchtet Louis' Schmachtleib vielleicht sogar im Dunkeln? Dieses Talent würde

mich nach dern, was du mir geschildert hast, nicht sonderlich überraschen."

,,Fanny, du machst mich rasend!" Das war in Bobs Fall ein Ding der Un-

möglichkeit; seine dunklen Augen konnten zvtar ab und an gef?ihrlich aufblitzen,

doch dabei blieb es dann auch: Bobs Heiterkeit und Sanftnut siegten stets sofort

über aufkeimenden Unwillen. Sein Lächeln strafte seine Worte Lügen.

,,Aber im Ernst, Fanny - du müßtest Louis so gut kennen wie ich, dann würdest

du anders über ihn reden. Er ist ein Mensch äußerster Extreme. Mittelwege und

faule Kompromisse sind ihm seit jeher fremd. Louis ist mitAbstand der feurigste

Rebell, den ich kennengelemt habe, der wildeste Heißspom und der unnachgiebigste

Bildershirmer. Doch zugleich erfüllt ihn der tiefste Drang nach Moral, Religion

und menschlichem Anstand. In diesen Belangen zeig! er manchmal regelrecht

unerbittliche Härte. Gegen jedes Unrecht geht er mit Feuer und Schwert an."

Diese Schilderung machte Fanny stutzig. Sie wußte inzwischen natürlich, daß

Louis ein erblich vorbelasteter Calvinist war und auf eine komplette Ahnengalerie

von religiösen Fanatikern zurückblicken durfte. Bei den Worten ,,Moral" und ,"R e-

ligion" rieselten ihr nun kalte Schauer über den Rücken. Oh, sie brachte beiden

Begriffen die größte Hochachtung entgegen und betrachtete sie als unverzichtbare

Bestandteile des menschlichen Lebens - aber wie verzerrt und böse hörten sich

dieselben Worte aus dem Munde eines Eiferers oft an! Und sie mußte plötzlich an

die Heerscharen von reitenden Predigern denken, die schon mr Zeit ihrer Kind-

heit wie eine Heuschreckenplage über ihr heimatliches Indiana hergefallen waren.

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Sie kamen meist aus dem Osten, aber auch aus Nebraska, Iowa und Kansas, jenen

noch neuen Gebieten, die man kurze Zeit späternicht grundlos den Maisgtirtel nann-

te ... und den Bibelgürtel. Jet ., nach dem Btirgerpieg, suchten sie die ausgelaugte,

moralisch ziel- und wehrlose Bevölkerung wahrscheinlich schlimmer heim als zu-

vor. Fanny erinnerte sich, daß fastjeden Tag ein Verfteter dieser unheimlichen Spezi-

es bei ihrer Familie aufzutauchen pflegte. Zum Glück jagte ihr Vater, ein zutiefst

gottesfürchtiger, aber keineswegs gutgläubiger Mann, die Prediger regelmäßig mit

der Flinte von seinem Grund und Boden. Fannys Vater war Forsthdndler und Grund-

stücksmakler, ein harter Geschäftsmann, der sich von keinem hergelaufenen Strolch

die Butter vom Brot nehmen ließ, wie er es ausdrtickte. Werur er wieder einen solch

zwielichtigen ,,Mann Gottes" mit Kaninchenschrot vertrieben hatte, atrnete Fanny

erleichtert auf. Sie kamen einzeln, einer nach dem anderen, und sahen doch alle gleich

aus: wie Geier, die sämtlich demselben Nest entflogen waren. Auf die kleinelanny

machten sie einen nachhaltigen Eindruck, doch durchaus keinen angenehmen. In der

Erinnerung schienen sie zu einem einzigen Wesen zu verschnielzen, einer

schwarzgekleideten Kreatur, stocksteif und hager wie eine Vogelscheuche, die auf

einer rippendürren Schindmähre ritt gleich einer Gestalt aus derApokalypse. Oh, wie

gewandt diese selbstemanntenApostel daherarreden wußten, wenn man ihnen nicht

- wie Fannys Vater - augenblicklich die Medizin verabreichte, die sie brauchten, die

Antwort gab, die sie verstanden! Ihre Stimmen klangen leise und samtweich, aber in

ihren schwarzenAugen loderten alle Feuer der Hölle ...

,,Mit Feuer und Schwert, sagst du?" fragte Fanny, und derAtem stockte ihr fast.

,,So einer ist dein Louis also?"

Bob schien bemerkt zu haben, daß seine Worte bei Fanny einen üblen Eindruck

hinterlassen hatten. Sofort suchte er seinen vermeintlichen Fehler wiedergutzumachen.

,,Nun, das sagt man doch nur so", druckste er herum. ,,Louis ist ein lieber Kerl,

der niemandem ein Leid zufügen könnte. Und wenn ich bei ihm von Moral spre-

che, meine ich seine eigene Sichtweise der Sache. Nicht die herkömmliche, bür-

gerliche Moral, die mit Menschenliebe gar nichts zu tun hat, sondern eher die

Auflehnung gegen alle Heuchelei. Louis hat in den letzten Jahren mit allen Mit-

teln gegen die bourgeoise Scheinheiligkeit angekäimpft. Der Umgang mit Dirnen

und der regelmäßige Gang ins Bordell in der Lothian Road von Edinburgh waren

ihm sozusagen stets ein christliches Bedürfnis."

Fanny taute ihren Ohren nicht. Fär eine Weile stand sie mit offenem Mund da,

unfähig zu sprechen - zumal sie erkannte, daß Bob das alles todemst meinte und

nicht einAnflug von Ironie in seinem Gerede lag. War Bob denn schwachsinnig?

,,Ein ... christliches ... Bedürfnis." Fanny nickte zu ihren Worten, als ver-

stände sie dadurch das Unfaßbare. Fanny hegte keinen Widerwillen gegen Dirnen

- ,,Shady Ladies" nannte man sie in ihrer Heimat, weil die armen Dinger ihrem

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Gewerbe nur auf der Schattenseite der Staße nachgehen durften -; aber den Bordell-

besuch mit praktiziertem Christentum gleichzusetzen, ging ihr doch etwas zu weit.

,,Genau", bestätigte Bob nun ganz unbefangen. ,,Louis hat auch Gedichte über

seine Vorliebe geschrieben, um die Btirger von Edinburgh grtindlich zu schockie-

ren, Er hat sie allerdings noch nicht veröffentlicht."

Die Geschichte wurde immer toller! Fannys Glaube an Bobs gesunden Men-

schenverstand schwand zusehends. ,pas ist ja wirklich ganz reizend', flüsterte sie

tonlos.,,Undweiß denn Louis'Vatervon seinenEskapaden, wennich fragendarf?"

Bob riß Mund und Augen weit auf. ,,Um Gottes willen!" rief er erschrocken.

,,Das würde den armen Mann auf der Stelle umbringen! Nein, er weiß gar nichts.

Louis liebt seinen Vater über alles - das könnte er ihm niemals antun. Aus diesem

Grunde fühlte er sich auch moralisch gezwungen, den, nun ja, intimeren Verkehr

mit einem Mädchen aus dem Bordell abzubrechen, das ihm sehr am Herzen lag.

Die Kleine muß reizend gewesen sein, so wie Louis sie beschreibt. Aber sie be-

gann auf einmal, Louis Liebesbriefe nach Hause zu schicken, auf teurem Bütten-

papier mit Blumenarabesken, für das sie sich ihr letztes Geld vom Munde abge-

spart hatte, das arme Geschöpf ,.."

,,... und da hatte Louis natürlich die moralische Pflicht seinem Vater gegen-

über, mit dem ... Geschöpf kurzen Prozeß zu machen." Fannys Stimme vibrierte

vor kaum verhohlenem Zorn.

,,Nun ja - leider. Louis litt seinerzeit sehr darunter. Er wohnt schließlich bei

seinen Eltern und hat eine gewisse Verantwortung zu tragen. Deshalb sprach ich

auch von jenen zwei Naturen, die in seiner Brust existieren. Weißt du, es ist eigen-

tümlich: An der Vorderseite seines Vaterhauses in der Heriot Row prangt ein wun-

derschönes Messingschild mit der Aufschrift ,R. L. Stevenson, Advokat'; aber

wenn er sich in amouröse Abenteuer sftirzen möchte, schleicht sich Louis - der

andere, in seinem Körper verborgene Louis - gleichsam durch die Hintertür in die

Gasse hinaus wie ein Dieb in der Nacht."

Fanny hielt jede weite,re Unterhaltung mit Bob für überflüssig, was das Thema

Louis Stevenson behaf. Niemand schien mehr zurechnungsfrihig bleiben zu können,

wenn er über Louis sprac[ dns war allzu offensichtlich. Sogar der verständige Bob

hörte sich an wie ein vollendeter Schwachkopf! Ein ,,Rebell', der sich nachts zwecks

geheimer christlicher Umtriebe aus dem Haus des Herm Papa schlich, um dessen

Seelenfrieden nicht zu stören - gdnz z\ schweigen von dem väterlichen Geldsegen,

der den klientenlosenAnwalt rmd erfolglosen Schreiberling überWasser halten muß-

te! Wo hatte man so etwas schon gehört? Und Bob bewunderte seinen Vetter oben-

drein dafür, daß er kompromißlos gegen bürgerliche Scheinmoral ankämpfte ...

Als Fanny kurze Zeit später mit Lloyd und Isobel in ihr gernietetes Häuschen

nach Paris zurückkehrte, fragte Bob sie umständlich und rührend zaghaft, ob er ihr

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dort einen Besuch abstatten dürfe. Natürlich frohlockte Fanny innerlich bei dem

Gedanken, daß Bob eigens ihretwegen in die Hauptstadt reisen wollte und ihr dort

womöglich ernstere Absichten kundzutun beabsiclrtigte. Wer konnte das wissen?

In der Ktinstlerkolonie mit ihrer fröhlichen, aber frivolen Atmosph?ire wäire ihm

dies sicherlich unmöglich erschienen, doch die Metopole genoß immerhin einen

etwas respektableren Ruf - genau wie Fanny.

Ob ihre Kinder Louis über den für sie beunruhigenden Lauf der Dinge informiert

hatten, wußte Fanny auch im nachhinein nicht zu erraten. Die Möglichkeit kam

jedoch schon deshalb kaum in Beüacht, weil Belle und Lloyd Louis' Postanschrift

nicht besaßen: Sonst hätten sie ihm nämlich täglich lange Briefe geschrieben und

ihre Korrespondenz nicht lange vor ihrer Mutter geheimhalten können. Wahrschein-

lich war es Bob selbst gewesen, der gutmütige, gutgläubige Tropf, der Louis den

erhoften Verlauf seiner Herzensangelegenheit enthüllt hatte. Als nämlich Bob seine

Freundin Fanny in Paris aufsuchte, hatte er - zufällig, rein zufiillig - seinen Vetter

Louis im Schlepptau ... obwohl Fanny jeden Eid geschworen hätte, daß Louis die

treibende Kraft hinter diesem Tauziehen darstellte. Fanny fiel aus allen Wolken,

als sie den ungeliebten, aufdringlichen Menschen gastfreundlich aufnehmen muß-

te. Zwar gebäirdete sich Louis, was Manieren und makellos höfliches Auftreten

betraf, wie ein vollendeter Gentleman; doch es war nicht zu übersehen, daß er sich

in Fannys Räumen von der ersten Minute an so lässig bewegte, wie es eigentlich

nur dem Hausherrn zukam.

Fanny verfluchte ihn innerlich, machte aber notgedrungen gute Miene zu Lou-

is' vermutlich bösem Spiel,

Alle saßen sie in Fannys winzigem, aber schmucken Salon, Fanny, Bob, Lou-

is, Isobel und Lloyd, und vertieften sich in vorwiegend literarische und künstleri-

sche Gespräche. Isobel und Lloyd schien das von Herzen egal; sie hingen ge-

bannt an Louis'Lippen, die übrigens fortw?ihrend in Bewegung blieben, und scher-

ten sich dabei keinen Deut um den Inhalt des Gedankenaustausches. Fanny konn-

te schließlich nicht umhin, ihrem Widerwillen endlich einmal Luft zu verschaf-

fen.

,,Bob hat mir kürzlich erzählt, Mr. Stevenson, dalJ IhrAufenthalt in Frankreich

Sie zu ganz bestimmten literarischen Forschungen angeregt hat." Fanny nutzte

eine der wenigen Pausen in Louis'Redefluß, um ihren eigenen Teil beizusteuern.

,,Wenn ich Bob recht verstehe, planen Sie eine Reihe von Essays über drei, nun

ja, moralisch außerordentlich umstrittene Persönlichkeiten. Vertreter der Dicht-

kunst, nehme ich an?"

Louis begriffsofort, worauf Fanny hinauswollte, und verstellte sich meisterhaft.

Ausgesucht ritterlich neigte er den Kopf vor Fanny, wobei sich Belles Brust ein

abgründig tiefer, aber unhörbarer Seufzer entrang. Isobel schmachtete Louis an.

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,,In der Tat, Madame. Ich schreibe bereits an einem Abriß über das Leben Fran-

gois Villons, des wohl größten, bedeutendsten französischen Dichters ..."

,,... der die käufliche Damenwelt über alles liebte und ein verurteilter Verbre-

cher war, nicht watr? Hat er nicht am Galgen sein Leben ausgehaucht?" Fanny

lächelte süffrsant.

,,Nun, so heißt es bösartigen Gerüchten gemäß. Er lebte immerhin im aus-

gehenden Mittelalter. Die Aufzeichnungen über ihn erweisen sich als ver-

gleichsweise rar und irreführend ..."

,,Oh", hauchte Fanny in gespielter Verwimrng, ,,Dann hoffe ich doch, daß Sie

bei Ihren Untersuchungen zu den zwei anderen Herren mehr Glück haben werden.

Um wen handelt es sich?"

,,LIm unsere wohl erhabensten Dichterfürsten, Fannf', kam Bob Louis zuvor.

Das Thema stellte für ihn als Schotten eine nationale Ehrensache dar; natürlich

hatte er Fanny längst detailliert über Louis'Vorhaben in Kenntnis gesetzt.

,,Das ist wahr", pflichtete ihm Louis sofort bei und nahm die Zügel des Ge-

sprächs wieder auf.

,,Es handelt sich um den großen Robert Bums und seinen etwas unbekannteren

Vorgänger Robert Fergusson. Letztercr von beiden lebte im 17. Jatrhundert und

war das wohl überragendste Genie seiner Zeit."

,,Das interessiertmichbrennend, Mr. Stevenson", erwiderteFanny.,,Bobs Schil-

derung meinte ich entnehmen zu können, daß dieser Fergusson sozusagen ein

Edinburgher Vorgäinger von Ihnen gewesen sein muß, mit dem Sie sich in jeder

Beziehung zu identifizieren scheinen. Ich für mein Teil betrachte ihn als ein durch

und durch verrottetes Subjekt, einen hemmungslosen Säufer und - haltet euch

einenAugenblick die Ohren zu, Kinder- einen abscheuerregenden Lüstling. Was

sagen Sie daztr?*

Fanny hatte selbstredend nicht damit gerechnet, daß Louis sich einem offenen

Streitgespräch über Moral stellen würde; sie behielt recht. Dieser gerissene Hund

wußte, wann es den Schwanz einzuklemmen galt!

,,Sie träuschen sich keineswegs in Ihrer Einschätzung seines Charakters, Ma-

dame. In sittlichen Belangen darf man sich den armen Robert Fergnsson demnach

auch keineswegs zum Vorbild erw?ihlen. Sie haben Bob grändlich mißverstanden,

was meine Verehrung für seine Person betrifft. Es ist ausschließlich der Poet, der

mich rührt - und vergessen Sie nicht, daß der Bedauernswerte mit nur 24 Jatren

im Edinburgher lrrenhaus zugrunde ging. Wir Glücklicheren sollten demgernäiß in

unserem Urteil Milde und Barmherzigkeit walten lassen."

Ah, da kam sie deutlich zum Vorschein, seine christliche Nächstenliebe! Schon

hob Fanny an, sich über den letzten Verfreter des Dreigespanns auszulassen, als

Louis ihr zuvorkam.

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,,IJnd was Robert Burns angeht, unser aller Idol und Wegbereiter, so haben

meine genaueren Nachforschungen schon jetzt ergeben, daß ich seine Lebens-

weise aus tiefstem Herzen verdammen muß uhd dies auch in meinem Aufsatz

Niederschlag finden wird - sosehr mich persönlich das schmerzt."

Was für ein plötzlicher, aus diesem Moment heraus geborener Sinneswandel

das doch war! Fanny traute ihren Ohren kaum.

,,Ich stellte unlängst gewissermaßen eine chronologische Tabelle seiner zahllo-

sen Liebschaften auf ... und seitdem finden Sie mich geradezu sprachlos vorAb-

scheu und Widerwillen."

Sprachlos? Nun, zumindest vermochte Louis nach wie vor ausgiebig über die-

se seine Unf?ihigkeit zu plaudern ...

,,Robert Burns war, sehr zu meinem Leidwesen, ein vulgärer Verführer, ein

gewissenloser Trophäensammler ohne den geringsten Respekt vor der mänsch-

lichen Würde der Opfer seiner unseligen Jagdleidenschaft. Es gibt keine Entschul-

digung für ein solches Verhalten. Er war, kurz gesagt, ein Schuft." '

Falls Bob Stevenson eine grundlegende Veränderung in Louis'Thesen auffrel,

schien ihn das zumindest nicht zu erstaunen. Die Kinder hatten sowieso kaum ein

Wort der Unterhaltung verstanden. Wieder einmal waren es nur Fanny und Louis,

die um den wahren Kern ihrer Auseinandersetntng wußten, so wie damals im

Gasthof zu Grez. Und so wie damals warfen sich die beiden, unbemerkt vom Rest

der Runde, vielsagende Blicke zu, die nichts mit liebevollem Geplänkel zu tun

hatten.

Du vermaledeiter Heuchler, lautete Fannys Botschaft, die Louis mit mildem

Lächeln und sanftem Blick zur Kenntnis nahm.

Dich erwische ich auch noch,wiederholte Louis seine ursprängliche Drohung.

Es wird gar nicht mehr lange dauern.

Seine ominöse Ankündigung sollte sich bereits nach wenigen Wochen zu be-

wahrheiten beginnen.

Nach dem Besuch der beiden Stevenson-Vettern hörte Fanny auf einmal kein

Wort mehr von Bob. Hatte er seiner vertrauten Freundin etwa übelgenommen,

was sie überjene schottischen Poeten gesagt hatte - oder aber zu Louis? Fanny

bezweifelte das stark. Ein solch nachtragendes Verhalten hätte nicht zu Bob ge-

paßt: Gab es eine Unstimmigkeit zu kldren, tat er das stets sofort, ohne lange dar-

über nachzugrübeln, wie tief er gekränkt worden war oder wie schwer er sich an

dem odei der Betreffenden zu rächen hatte. Fanny beschloß, ihn offen nach der

Ursache seiner plötzlichen Zurückgezogenheit zu fragen.

In Grez, Auge inAuge mit Fanny, zögerte Bob lange mit derAntwort. Als Fanny

sie schließlich vernommen hatte, traf der Schock sie wie ein Blitzschlag. ,,Ich

liebe diese Frau über alles, Bob", hatte Louis seinem Vetter anvertraut. ,,Ich werde

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gie für mich gewinnen, koste es, was es wolle." Gleichzeitig hatte Louis Bob von

einem Briefan seine Eltern in Edinburgh erzählt. In dem Schreiben ktfurdete er

ihnen von einem wundervollen Wesen, einer,,ausnehmend schönen Frau", die er

bei Fontainebleau kennengelernt hatte und heimzuführen gedachte.

,,Aber was habe ich mit deinem Louis zu schaffen? Ich kenne ihn doch kaum,

und was ich von ihm kenne, mag ich nicht!"

Bob blickte nur schweigend zu Boden.

Er war wieder zu dem geworden, was er zu Anfang ihrer Bekanntschaft ge-

wesen war: der Prophet seines Herrn, der die Wege des Meisters ebnete und sich

sofortklag- undwillenlos zurückzog, wenndie Pläne des anderen die seinen durch-

kreuzten. Und Fanny, belagert von einem selbsternannten Hochlandhäuptling,

mußte einsam in ihrer Wagenburg aushalten, während die Kavallerie zum Ab-

schied eine weiße Fahne schwenkte.

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Page 97: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

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VBrwInRr UND ENrcEIsrEnr schaute die gesamte Farnilie von der Veranda aus ihrem

Oberhaupt nach, das sich gerade im Begdtrbefand, aufseinem Lieblingspferd

Jack in den Dschungel hinauszureiten. Nicht der Ausritt an sich war es, der sie

verblüffte, sondern Louis'lauter, ein wenig schräger, dafür leidenschaftlicher Ge-

sang, den nur Jack auf die Dauer ertrug.

,,My heart's in the Highlands, my heart is not here", tönte es durch das gesamte

Anwesen innerhalb des Zaunes und vermutlich durch halb Vailima. Louis sang

dieses Lied oft und gern, was zu jeder anderen Zeit niemanden verwundern durfte,

war es doch das populärste Volkslied der Schotten, ihre von Louis'gerühmtem

und geschmähten Dichtervorbild Robert Burns ins Leben gerufene heimliche Na-

tionalhymne. Daß sich Louis' Herz im schottischen Hochland befand, wie es in

dem Lied hieß, und nicht etwa hier auf Samoa, hätte nach Fannys Meinung inzwi-

schen auch der Dümmste begreifen müssen - abgesehen von Lloyd und Isobel

natürlich. An die Art, wie Louis seinen Gesang in die Welt hinausschmetterte,

hatte man sich wohl oder übel gewöhnt. Was die Familie verunsicherte, war der

merkwürdige Umstahd, daß ihm heute noch zum Singen zumute war, nach all dem

Furchtbaren, welches sich seit dem Morgengrauen in Gesinde- und Haupthaus

ereignet hatte. Louis hatte die Situation souverän gerneistert, doch gerade die Tat-

sache, daß er jetzt so inbrünstig sang, demnach Herz und Verstand noch bereitwil-

liger ins Hochland flüchten ließ als gewöhnlich, konnte nur eines bedeuten:Auch

ihm hatten die Vorf?ille insgeheim einen Mordsschreck eingejagt. Der zivilisierte

Louis war auf zivilisierte Weise mit der leidigenAngelegenheit umgegangen und

hatte sie zu jedermanns Zufriedenheit bewtiltigt. Der andere, urspriturglichere Louis

fürchtete sich, weil er wußte, daIS die wohltuende Schutzschicht weißer Kultur in

einer Sache wie dieser nur die Gemüter beschwichtigte und einlullte. Die wahre

Gefahr vermochte sie niemals zu bannen.

Im Morgengrauen, als noch alles in tiefem Schlaf gelegen hatte - sogar Louis,

der inzwischen innerhalb des Zaunes beim besten Willen nichts mehr zu roden

vorfand, war noch nicht aufgestanden -, wurden s?imtliche Familienmitglieder

plötzlich durch ein markerschüfferndes Kreischen aus den Betten gescheucht. Das

ohrenbetäubende, verzweifelte Geschrei ließ alle augenblicklich an Mord und

Totschlag denken. Jemand dort draußen brauchte dringendst Hilfe, wenn es dafür

nicht schon längst zu spät war. Louis war als erster in seine Kleider geschlüpft;

Fanny, die im Zinner nebenan schlief, folgte ihm auf dem Fuße nach draußen,

und auch Lloyd und Belle stäLrmten hinterdrein. Austin schickfe man umgehend

zurück ins Bett, denn was man draußen vorzufinden befürchtete, war mit Sicher-

heit kein angemessener Anblick für Kinderaugen.

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Als die Familie schließlich vor dem Gesindehaus ankam, wo die Hausan-

gestellten zu schlafen pflegten, traf sie zwar auf eine erregte Menschenansammlung,

doch fand sich kein Hinweis auf eine mögliche Bluttat. Und doch wäre, wie sich

nur eine Minute später herausstellte, um ein Haar ein Meuchelmord geschehen!

Vier kräftige Männer hielten den jungen Tauilo, Tamaitais christlich angetrauten

Ehemann, fest an Rumpf und Gliedern umschlungen und machten keinerlei An-

stalten, ihren Griffzu lockem, als Tusitala zu ihnen trat. Dabei schien ihre Maß-

nahme alles andere als nötig: Tauilo, offenbar leicht verwirrt, aber ansonsten lamm-

fromm, stand ganz ruhig da und leistete nicht die geringste Gegenwehr. Er machte

lediglich kugelrundeAugen; sein Mund stand weit offen vor Erstaunen.

Zu seinen Füßen lag ein riesiges Buschmesser, an dem gottlob kein Blut klebte,

soweit man das bei der notdärftigen Beleuchtung feststellen konnte. Selbst Fackel-

schein hätte aber den fzuchten Glanz von frischem Blut erkennen lassen müssen.

,,Was hat sich hier abgespielt?" fragte Louis die vier Samoaner, die Tauilo um-

klammerten und denen ihre Aufgabe ein merkwürdig kindliches Vergnügen zu

bereiten schien. Tauilo selbst hielt nun, in Tusitalas Gegenwart, etwas verschämt

den Kopf gesenkt und grinste dümmlich. Was auch immer vorgefallen sein moch-

te, eines merkte jederderweißen Herren: Tauilo wußte genau, daß es A,rger für ihn

geben würde, doch einer Schuld in dieser Angelegenheit war er sich keineswegs

bewußt.

,,Wo steckt deine Frau, Tauilo?" fragte Louis jetzt. ,,Wo ist Tamaitai geblieben?

Antworte mir auf der Stelle!"

Wie um ihren Ehernann von jeder Entgegnung zu entbinden, trat plötzlich

Tamaitai selbst aus dem Hintergrund der Schar hervor und nickte Tusitala grüßend

zu. Ihr Lavalava hing ihr in Fetzen vom Körper herab, und ihr Haar satr wirr und

völlig zezaust aus; doch sie lächelte Tusitala freundlich und gelassen an und meinte

nur: ,,Hier bin ich."

,,Warst du vielleicht diejenige, die eben noch so verzweifelt geschrien hat,

Tamaitai?" fragte Louis steng.

,,Ja, Tusitala." Ihr Lächeln blieb so freimütig wie zuvor, ihre Haltung wirkte

entspannt und gelöst. Auch sie schien dem Ereignis, das sie gerade vor Angst

beinah um den Verstand gebracht hatte, mittlerweile keine Bedeutung mehr beizu-

messen.

,,Warum hast du denn so entsetzlich geschrien, Tamaitai?'fragte Louis weiter.

,,Es klang fast so, als sei jemand mit dem Buschmesser hinter dir her ..." Louis

stockte.

,,Das stimmt, Tusitala", gab Tamaitai ihm heiter zur Antwort. ,,Tauilo wollte

mir vorhin den Kopf abschlagen. Aber nun nicht mehr. Es ist alles wieder in Ord-

nung." Ihr fröhliches Lächeln hätte jeden der Weißen augenblicklich für sich ein-

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genommen, wenn ihre Worte nicht gewesen wären. Der lapidare Kommentar, zu

dem ihre gute Miene so gar nicht passen wollte, peunruhigte alle zutiefst. Doch

der Wunsch, Tarnaitais Aussage möge sich um Gottes willen als MißverstZindnis

entpuppen, erfüllte sich nicht. Im Grunde hatten sie das auch alle gewußt.

Nachdem man zunächst das Buschmesser aus Tauilos Reichweite entfemt und

den jungen Mann dann aus der Umklammerung der Freunde befreit hatte, erzählte

Tamaitai den Vorfall. Die Samoaner nickten ab und zu und murmelten beiftillig zu

ihrerAt der Darstellung. S?imtliche Versammelten hatten sich auf den Boden ge-

hockt, um Tamaitziza lauschen, eine der eingeborenen Frauen holte einen großen

Topf Kava-Bier herbei, und so erwuchs aus der Geschichte von Tauilos nächtli-

chem Mordversuch an seiner geliebten Tamaitai im Handumdrehen ein prächtiger

Anlaß für eine frühmorgendliche frohe Feierrunde. Eirlr;ig den weißen Teilneh-

mern an dieser Sitzung lag es fem, Erleichtemng zu empfinden; ihr Unbehagen

wuchs rapide im Laufe des Berichtes. Belle verzog immer häufrger v.orAbscheu

das Gesicht, bis es zu einer Grimasse erstarte. Lloyd, der in derAuftegung seine

Brille im Haus vergessen hatte und nun in mehr als einer Hinsicht im Dunkeln

tappte, blinzelte ratlos umher und kratzte sich nervös den Nacken. Fanny fühlte

genau wie die beiden, nur gesellte sich zu ihrem Widerwillen kein Erstaunen. Ihr

Hauptaugenmerk galt Louis, dem Untersuchungsrichter im vorliegenden Krimi-

nalfall: Es kam nur selten vor, daß ein ums Haar demAnschlag des eigenen Gatten

entkommenes Opfer munter plaudernd die Details zum besten gab, während der

Schuldige - aber nichtAngeklagte - neben ihr saß und, lebhaft nickend, frohen

Mutes ihre Worte untermauerte.

Tamaitai, die gottlob ihr ganzes Leben lang einen ausgeprägt leichten Schlaf

gehabt hatte, war durch diesen Umstand sozusagen messerscharf dem Tode ent-

ronnen. Die Dämonenfurcht, gemeinsames Erbteil aller Insulaner, verhinderte im

Einklang mit der fortwährenden nächtlichen Schwüle jeglichen tiefen Schlum-

mer; die mit der Muttermilch eingesogene Dämonenfurcht hatte Tamaitai also ei-

nerseits gerettet, doch andererseits auch den Weg für die blutrünstige Attacke ih-

res Mannes geebnet. Mitten in der nächtlichen Dunkelheit, die nur durch die un-

vermeidliche einsame Lampe vordem Eingang des Gesindehauses gemildert wurde,

war Tamaitai durch ein Geräusch an ihrer Seite aufgewacht. Schemenhaft erkann-

te sie die Gestalt ihres Tauilo und nahm wahr, wie er sich über sie beugte. Nun war

das an sich für Eheleute nichts Besonderes; ausgesprochen merkwärdig erschien

Tamaitai dagegen die Tatsache, daß er sich seiner jungen Frau mit dem Buschmes-

ser in der Hand näherte, das er obendrein wild über seinem Kopf hin und her

schwang. Geistesgegenwärtig rollte sich Tamaitai zur Seite und entkam dadurch

dem sonst unfehlbar tödlichen Hieb, der ganz ohne Wamung erfolgte. AufTamaitais

aufgeregtes Kreischen reagierte der wildgewordene Tauilo nicht oder höchstens

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insofem, als er zu weitererVerfolgung aufgestachelt wurde. Inzwischen waren die

anderen Bediensteten im Gesindehaus aufgewacht. Sie hätten Tamaitai jedoch kaum

rechtzeitig zu Hilfe eilen können, wenn nicht ein günstiger Umstand der jungen

Frau einen Vorsprung verschaft hätte: Tauilo hatte sich mitsamt seinem Busch-

messer in Tamaitais Moskitonetz verfangen und wand sich darin hin und her wie

ein gefangenes Tier. Er mußte das zarte Gespinst zuerst mit der scharfen Waffe

durchtrennen, bevor er sich wieder mit ungeteilter Konzentration der Jagd nach

seiner Gefährtin widmen durfte. Seine blinde Wut war durch den Kampf mit dem

Moskitonetz nur noch weiter geschürt worden. Von panischerAngst getrieben liefTamaitai in Richtung Haupthaus und schrie sich dabei die Seele aus dern Leib -zumindest pflegten die Weißen verzweifelte Laute wie die ihren auf solche Weise

zu umschreiben. Tauilo sauste unbeirrt hinterdrein, messerschwingend und wild

gestikulierend, doch zugleich stumm wie ein Fisch. Sein Ziel war es, Tamaitai den

Garaus zu machen, da gab es nicht den Schatten eines Zweifels. Die Mitbewohner

der beiden Eheleute, die seine Absicht richtig deuteten, unternahmen alles in ihrer

lkaft Stehende, den Rasenden aufzuhalten. Daß Tauilo ohne Unterlaß mit seiner

beeindruckend großen Waffe herumfuchtelte und wahllos Hiebe in alle Richtun-

gen austeilte, erschwerte die Rettungsaktion beträchtlich, doch zu guter Letzt ge-

lang es einem der Männer, ihm ein Bein zu stellen und ihn zu Fall zu bringen. Im

nächsten Moment saßen vier Samoaner rittlings auf ihm und entwaffneten ihn

mühelos, und schon nach wenigen Sekunden war in Tauilos Wesen die alte Ruhe

eingekehrt, die jedermann so außerordentlich an ihm schätzte. Seine Sanfonut war

sprichwörtlich; und Sanftmut legte er auch jetzt wieder an den Tag.

Tamaitai hatte mit ihrer Erzählung geendet, und die Umsitzenden spendeten ihr

vorbehaltlosenApplaus. Die junge Frau strahlte über das ganze Gesicht - ihr Ehe-

mann desgleichen. Die vier Weißen enthielten sich wohlweislich jeder Beifalls-

kundgebung. Fanny brauchte sich nicht erst die Erklärungsversuche der beiden

Hauptbeteiligten anzuhören, um zu wissen, wer sich unweigerlich als der einzig

,,Schuldige" an diesem Zwischenfall herausstellen würde. Es war natärlich ein

Dämon gewesen! Anfrille geistiger Umnachtung wie der soeben allseits glücklich

überstandene ereigneten sich aufder Insel zwar nicht häufig, doch ziemlich regel-

mäßig. Schnell erholten sich die Betroffenen wieder, manchmal allerdings nicht,

bevor sie mindestens ein Familienmitglied zur Strecke gebracht hatten. Niemand

verübelte ihnen ihr Verhalten, niemand bestrafte ihr Verbrechen, denn in den Au-

gen der Insulaner gab es wohl eine Untat, aber keine Schuld seitens des Täters. Ein

Dämon hatte seine Finger im Spiel, und dagegen erwiesen sich die Menschen als

machtlos. So auch hier, in Tamaitais und Tauilos Fall: Tamaitai verteidigte ihren

geliebten Gatten mit der simplen Feststellung, daß ein Urwaldgeist in den Schlä-

fer eingefalren war und zur Tatzeit seinen Körper besessen hatte. Tauilo hingegen

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konnte sich kaum erinnem, aber er brachte vor, daß er in der Nacht aufgewacht sei

und statt seinerTamaitai einen ekelhaften Dämor1 in Frauengestalt neben sich habe

liegen sehen. Schnell habe er nach seinem Buschmesser gegriffen, um dem Phan-

tom auf die Sprtinge zu helfen. Das Gespenst habe tatsäichlich gekreischt und ge-

brüllt, wie nur ein unirdisches Wesen zu schreien vermochte - also galt es die

Verfolgung des bösen Geistes aufzunehmen. Und der Dämon hatte durch seine,

Tauilos, tapfere Gegenwehr ja nun auch wirklich die Flucht ergriffen, denn kaum

sah Tauilo aus der Umklammerung seiner Landsleute auf, erblickte er statt des

scheußlichen Phantoms wieder seine heißgeliebte Tamaitail Trotz der ein wenig

widersprüchlichen Aussagen der beiden Eheleute stand eine Tatsache für die Insu-

laner felsenfest: Ein Dämon hatte sich ins Gesindehaus eingeschlichen, jeden Gat-

ten einzeln verhext und betört und ein schlimmes Durcheinander verursacht. Nun

aber war er wieder verschwunden und die Sache somit erledigt. Man hoffie in-

brifurstig, er möge nicht zurückkommen, aber den armen Beinahe-Opfern des Dä-

mons das Leben nachträglich unnötig schwerzumachen, fiel niemandem ein. Was

hatten Tauilo und Tamaitai schließlich mit dem eklen Geist zu schaffen?

Auch Louis wußte natürlich um die Ausmaße des leidigen Dämonenproblems - er

hatte die Geisterfurcht schließlich für seine eigenenZwecke eingespannt. Deshalb

verblüften seine nächsten an Tauilo gerichteten Worte Fanny, die still neben ih-

rem Gatten saß, um so nachdrücklicher.

,,Entspricht das tatsächlich der Wahrheit, Tauilo? Ein D?imon ist also in deinen

Leib eingedrungen, oder meinetwegen in Tamaitais Leib, und hat dich dam ge-

bracht, das Buschmesser gegen deine Frau zu ergreifen?"

,J4 Tusitala. Aber Frau war nicht Frau."

,,Nun gut. Darüber wollen wir nicht streiten. Doch war es nicht vielleicht ganz

anders? Wolltest du nicht vielmehr einfach Tamaitais Kopf, um ihn als Trophäe zu

verwenden?"

Genauso übenascht wie Fanny, ja sogar zutiefst verletzt, geblirdete sich nach

diesen Worten Tusitalas die gesamte Runde der Eingeborenen. Tusitala hatte da

einen furchtbaren Vorwurf gegen Tauilo erhoben, der ibn dementsprechend mit

erhobenen Händen, körperlich gleichsam, entschieden von sich wies. Natärlich

waren alle Anwesenden anständige, ehrenwerte Samoaner und daher Kopfäger

wie ihre Väter, aber niemals, um keinen Preis, hätte sich einer von ihnen dazu

hinreißen lassen, einen Frauenkopf abzuschlagen. Frauenleben und Frauenehre

tastete man auch in Kriegszeiten nicht absichtlich an, und wer gegen die Etikette

verstieß und trotzdem einem weiblichen Wesen den Kopf abhackte, galt als ruch-

los, ehrlos und, schlimmer noch, als ausgesprochen ungalant.

Fanny mußte daran zurückdenken, wie zur Zeit von König Mataafas Feldzügen

auch einige ihrer Hausboys, die Mataafa aufgrund ihrer Klanzugehörigkeit Loya-

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lität zu bezeigen hatten, von Boten regelrecht zum Kriegsdienst geladen worden

waren. Seinerzeit hatten ,,ihle" Boys, fröhliche und freundliche junge Bwschen

allesamt, ihr unaufgefordert versichert, sie würden keinesfalls Köpfe sammeln,

ein Versprechen, dern Fanny danals schon keinen Glauben schenkte. Ein unheim-

liches Gefühl beschlich sie beim Aufbruch der Jungen, als sie die frischgebacke-

nen Krieger im Gänsemarsch das Grundstück verlassen sah, unter munterem Ge-

sang und aufgeräumt winkend. Jeder von ihnen trug die ,,Uniform" Mataafas, ein

rotes Halstuch, das er sich vorher noch schnell unten im Kramladen zuApia hatte

beschaffen müssen, und einen großen Picknickkorb, dessen Inhalt Fanny eigens

für ,,ihre" kriegerischen Helden ansammengestellt hatte. Kriegshandlungen auf

Samoa, durch weiße Augen betrachtet, trugen stets einen Stempel des Lächerli-

chen und zugleich Grausigen: Die Krieger - auch die Veteranen! - zeigten eine

solch kindliche, naive Freude an den Schlachten, die vor ihnen lagen, daß man

glauben konnte, sie machten sich auf den Weg zu einer Familienfeier. Erwies sich

ihr provisorisches Feldlager im Dschungel allerdings als zu feucht und zu wenig

komfortabel, kehrten sie oft einfach in ihre Dörfer zurück, denn sie liebten die

Bequemlichkeit über alles und waren nur schwer aus ihrer angeborenen Trägheit

aufzurütteln. Unmittelbar vor einer Schlacht kam es nicht selten vor, daß die geg-

nerischen Parteien sich umarmten, heiter miteinander plauderten und einen ge-

meinsamen Umtrunk zelebrierten. Hatte der eigentliche Kampf aber erst einmal

begonnen, kannten die fröhlich spielenden Kinder plötzlich nicht mehr den An-

flug von Gnade. Nicht genug damit, daß sie einander abschlachteten - das tat

schließlich jeder Soldat. Schon während des allgemeinen Tötens jedoch emtete

man eifrig gegnerische Köpfe, und manchen Sammlem fiel es einfach zu schwer,

vorher lange auf das Ableben des Opfers zu warten. Insbesondere davonhumpelnde

Verwundete galten als begehrte, weil angenehm leichte Beute.

Die Tatsache, daß Louis soeben auf das Sammeln weiblicher Köpfe angespielt

hatte, entbehrte keineswegs jeder Grundlage. Louis zog es voq das Thema im

Familienkreis zu ignorieren, doch Fanny selbst hatte oft genug Gerüchte gehört,

welche besagten, daß es in den Schlachten um die Herrschaft König Mataafas zu

unerhörten, nie zuvor dagewesenen Ausschreitungen gekommen war. Mataafa

konnte ausnahmsweise nichts damit zu schaffen haben, denn er hatte seinen Krie-

gern die Kopfiagd ausdrücklich verboten - ein verrücktes, typisch christliches

Verbot, das selbstverständlich von jedem echten Samoaner mißachtet wurde. Die

Gerüchte, die Fanny zu Ohren gedrungenwaren, mußten ausnahmsweise derWahr-

heit entsprechen, denn sie warfen ein zu peinliches Licht aufdie Siften ganz Sa-

moas, als daß ein stolzer lnsulaner sie hätte erfinden können. Eine Eigenheit der

samoanischen Kriegführung bestand nämlich darin, daß die Tapos, die Ehren-

jungfrauen ihres Stammes, die Krieger zu begleiten und sich recht ausgiebig an

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den Kampftrandlungen zu beteiligen pflegten. Die Mädchen schenkten vor der

Schlacht Kava-Bier an Freund und Feind aus, luden wdhrend des Kampfes die

Gewehre nach und wehrten nach Kräften die Arlnäherungsversuche gegnerischer

Kopfiäger ab, die sich wie Aasgeier auf die Leichen oder noch lebenden Leiber

ihrerAngehörigen stürzen wollten. Die Tapos trugen zu diesen gesellschaftlichen

Anlässen ihre hübschesten Lavalavas, bei gutem Wetter möglichst geblümte

Sonnenschirme, die ihnen prächtig standen - und da auf Samoa grundsätzlich nur

bei Sonnenschein gekämpft wurde, ergriffen Tapos stets die Gelegenheit für Mo-denschauen. Nur selten fand eine Tapo während der Schlacht den Tod, denn sie

war tabu: Lediglich ein verirrter Speer oder eine abgelenkte.Kugel konnten sie

niederstrecken. Und war wirklich eine Tapo den Heldentod gestorben, verstand es

sich von selbst, daß niernand sich an ihr und insbesondere ihrem Kopfvergreifendurfte. Dieses Gebot stellte sozusagen das oberste Gesetz samoanischer Ritter-

lichkeit dar. ,;

Doch vor wenigen Monaten war dann tatsächlich das Unglaubliche passiert;

und es sollte noch schlimmer kommen. Nach dem Einsammeln der Köpfe nämlich

behielten die glücklichen Recken in der Regel ihre Beute nicht, sondem lieferten

sie bei ihrem Stammesfürsten ab, der die Ernte begutachtete und den Männem

entsprechendes Lob zollte. Am ,,Hofe" eines der Fürsten begab es sich, daß man

bei der Besichtigung der Trophäen zu jedermanns größter Scham und Entrüstung

drei Frauenköpfe entdeckte. Nun konnte ein Kopf ein bloßes Versehen bedeuten

und zwei Köpfe äußerste Nachlässigkeit - aber drei Köpfe! Die Kunde von dieser

Entgleisung machte auf ganz Samoa die Runde, und obwohl man die Häupter der

Tapos, deren eine zu allem Unglück als Nichte einer von Mataafas Hofdamen

identifiziert wurde, schleunigst vergrub, war das Verbrechen geschehen. Zwar ging

der Fürst nicht so weit, die Krieger zu bestrafen, die es immerhin gut mit ihrem

Herrn gemeint hatten - doch sie empfingen einen ausdräcklichen Tadel für ihrVerhalten.

Vor diesem ehrenrührigen Hintergrund also sprach Louis nun seinen Verdacht

aus, und seine Bediensteten zeigten sich, wie Fanny fand, zu Recht ein wenig

pikiert, Fanny wunderte sich, wie ihr Gatte im vorliegenden Falle des nächtlichen

Überfalls auf Tamaitai eine Übereinstimmung mit jenem beschämenden Kriegs-

ereignis sehen konnte. Es fiel ihr nur ein plausibler Grund für seine Unlogik ein:

Er glaubte selbst nicht an eine Entsprechung und wollte lediglich Zeit gewinnen,

um seine Strategie zu überdenken. Tusitala galt immerhin als der Oberste Richter

von Vailima. Er entschied über Gut und Böse. Dämonen jedoch bereiteten ihmganz offenbar großes Unbehagen ...

In der immerhin bereits vier Jahre wäihrenden Geschichte der Rechtssprechung

zu Vailima unter dem ehrenwerten Richter Tusitala-Stevenson hatte sich erst ein

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Pr'äaedenzfall ereignet, der im weitesten Sinne mit der Einwirkung von ,,Dämo-

nen" zu nm gehabt hatte. Das Verfahren hatte damals ,,mangels Beweisen" einge-

stellt werden müssen, da sich zu Louis'und Fannys größtem Vergnügen heraus-

stellte, daß Louis' Mutter mit Hilfe ihrer bauchrednerischen Fähigkeiten den Dä-

mon verkörpert hatte. Die gute alte Maggie, eine zerbrechlich wirkende, aber re-

solute Dame, hielt es seinerzeit für ein probates Mittel, sich solcherart in einen

bösen Geist zu verwandeln, und der Erfolg ihres Einfalls gab ihr recht. Eine junge

Frau namens Sina hatte sich gerade den Fuß entzündet und litt unter Schmerzen.

Nun waren Samoaner in der Regel kaum anfiillig für Krankheiten, und wurden sie

tatsächlich einmal kranlg dauerte es meist nur wenige Tage, bis sie sich wieder

wohlauf befanden. Doch bedingt durch ihr phlegmatisches Wesen, das sie dazu

brachte, vorjedem Schicksalsschlag ohne Gegenwehr zu kapitulieren, hielten sich

von Schnupfen oder Husten geplagte Samoaner sofort für todgeweiht und legten

sich schnurstracks zum Sterben nieder. Das taten sie dann allerdings keineswegs

still, sondern unter lautem, anhaltenden Jammern und Jaulen. Die liebe Maggie,

stets in hochgeknöpftes Schwan gekleidet und trotz des Klimas eine vollendete

britische Dame, konnte und wollte Sinas Geschrei nicht länger ertragen. Als Sinas

Pflegerin fühlte sie sich ermächtigt, zu drastischen Maßnahmen zu greifen: Inmit-

ten eines Kreises von lnsulanem, die auf Sinas unvermeidliches Ableben warte-

ten, schimpfte sie laut mit dem,,Dämon", der zweifellos in Sina eingefahren war

und sie nun piesackte. Und der böse Geist gab in der Tat Antwort - mit leiser,

zittriger Stimme versprach er, hinfort ein,,guter Junge" sein zu wollen und Sina in

Ruhe zu lassen. Sowie Sina das dämonische Versprechen vernahm, verebbten

merkwärdigerweise auch ihre Schmerzen auf der Stelle. Maggie hatte den Sieg

über die Krankheit davongetragen, prahlte aber im Haupthaus nicht mit der wah-

ren Natur ihres dwchscNagenden Erfolges. Bei seinen Untersuchungen unter den

Eingeborenen fand Louis heraus, daß der Dämon,,Tu" hieß und seine Mutter per-

sönlich diesen Namen gehört hatte ... Das machte ihn stutzig, und bald zeigte es

sich, daß die gottesfürchtige Maggie nach dem Beinahe-Bibelspruch,per Zweck

heiligt die Mittel" vorgegangen war. Etwas verblüffi ob der Tatsache, daß ausge-

rechnet seine Mutter, von deren Seite schließlich sämtliche h,edigeworfatuen stanm-

ten, sich dazu hatte hinreißen lassen, samoanischen Naturglauben zu praktizieren,

sprach Louis sie respektvollst auf diesen Umstand an. Der guten Maggie saß schon

seit jeher der Schalk im Nackeq und sie wußte sich mit bescheidenem Augenauf-

schlag, aber entschieden zu verteidigen: ,,Mein lieber Smout, ich bitte doch darum,

das tunlichst nicht durcheinanderzubringen: Der Geist den ich zu Anschauungs-

zwecken benutzt habe, war ein stang biblßcher Dämon, geradewegs aus dem Alten

Testament, undhattemitdem Hokuspokus dieserlnsel nichtdas geringste zutun. Ich

verwahre mich gegen solcheAnspielungen auf das schärfste, mein Sohn."

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Fanny hatte sich ein Taschentuch auf den Mund pressen müssen, um nach

Maggies Rede nicht vor Lachen laut loszuprusten. Maggie, die ihrem viktorianisch-

sittsamenAussehen nach kein Wässerchen tlüben konnte, setzte ihrem Louis non-

chalant eine der saftigsten Lügen vor, die Fanny je vernommen hatte. Denn auf

einen,,Mr. Tu", der sich auf wunde Füße spezialisierte, war Fanny imAlten Testa-

rnent noch nie gestoßen! Louis seinerseits wirkte froh, daß die Dämonenan-

gelegenheit sich auf diese Weise erledigt zu haben schien. Die Nachwirkungen

zeigten sich allerdings schon in der folgenden Nacht: Der Raum bei den Stallun-

gen, in dem die vermeintlich todkranke Sina gelegen und in welchem der Dämon

sie beschlichen hatte, galt von nun an als unbetretbar für die Eingeborenen. Schließ-

lich hatte der böse Geist lediglich versprochen, Sina zu verschonen; davon, daß er

nicht in die Kammer zurückkehren würde, hatte er nichts verlauten lassen :.. Alles

endete damit, daß Sina und ihre kleine Familie in ein anderes Nebengebäude um-

gesiedelt werden mußten. Das Schlimmste an der Sache bestand darin;'daß Louis'

Augapfel, sein ,,Soldatenzimmer", in dem er entweder allein oder mit Austin ima-

ginäire Schlachten schlug und das seine Sammlung prachtvoller Militaria beher-

bergte, dem Umzug weichen mußte und lange Zeit kein angemessener Ersatz zu

finden war. Louis und Austin blieb nichts anderes übrig, als an der Tür zu dem

seither leerstehenden Raum bei den Stallungen ein Holzschild anzubringen, auf

das Austin gepinselt hatte: ,,Mr. Tu, Dämon. Bitte dreimal klopfen."

Doch heute morgen, nach dem nur durch unglaubliches Glück vereitelten Mord-

anschlag auf Tamaitai, sah die Situation anders aus. Keiner der Weißen konnte den

Zwischenfall auch nur ansatzweise lächerlich finden, das verstand sich von selbst.

Zu ernst waren die Untat oder der bloße Versuclr, sie zu begehen. Selbst Maggie

Stevenson mit ihrem praktischen und zupackenden Wesen wäre hier mit ihrem

Latein am Ende gewesen; und die alte Dame befand sich seit einigen Monaten

nicht einmal mehr auf der Insel, sondern daheim in der Zivilisation, wo sogar die

Dämonen sich besser zu benehmen wußten. Soweit es nicht gerade seine Flaschen-

geist-Geschichte betraf, verstand Louis mit Dämonen nicht sonderlich geschickt

umzugehen. Fanny war sogar insgeheim überzeugt, daß ihm die unbekämmerte

Art, wie seine Mutter ihre eigenen Dämonenprobleme meisterte, bereits im Falle

,,Tu" sowohl imponiert als auch ein vages Unbehagen eingeflößt hatte. Und nun

gar ein Kapitalverbrechen!

Bei den veritablen kleinen ,,Gerichtsverhandlungen", die von Zeit nt Zeit auf

Vailima abgehalten wurden, handelte es sich stets um reine Bagatelldelikte, und

die Angeklagten gehörten selbstverständlich ausnahmslos zu Tusitalas Unterta-

nen. Eine echte Befugnis zur Ausübung des Richteramtes besaß Louis nämlich

durchaus nicht; die Rechtssprechung aufder Insel oblag dem ofüziellen Obersten

Richter beziehungsweise dem Magistratsvertreter des Archipels. Diese Herren je-

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doch gaben sich erstens grundsätzlich nicht mit Lappalien ab, bei denen sich Ein-geborene untereinander massakrierten, es sei denn, die Gewalttaten nahmen krie-gerische Ausmaße an. Ausscbreitungen gegen Weiße, die seit langer Zeit nichtmehr vorgekommen waren, hätten die Verwaltung allerdings sehr wohl aus ihrer

Ruhe aufgeschreckt. Zweitens hatte der derzeitige ChiefJustice, der doppelzängi-

ge und -gesichtige Mr. Ide - den Fanny heimlich ,,Mr. Hyde" nannte, was sie

sowohl auflouis'berühmte Geschichte bezog als auch aufdie Tatsache, daß det

gute Mann sich sehr gern vor Verantwortung,,versteckte" - vollauf damit zu tun,

sich nicht wie seine unglücklichen Vorgänger mit den drei Konsuln der,,Schutz-

mächte" zu überwerfen. In dem politischen Durcheinander, welches auf Samoa

herrschte, suchten s2imtliche Regierungsbeamten zu verhindem, daß ihre Köpfe

rollten, was sich jedoch nicht auf die Traditionen der Eingeborenen bezog. Politi-

ker genossen kein langes Leben auf Samoa, und Mr. Ides deutsche Vorgänger,

Freiherr Senfü von Pilsach und Herr Cedercrantz, waren nach kärzestsr Frist er-

wartungsgemäß an ihrem allzu gewagten und phantastischen Versuch gescheitert,

,,Ordnung" auf Samoa einkehren zu lassen.

Weit davon entfernt, sich ernsthaft zum Richter aufschwingen zu wollen, trach-

tete Louis denn auch nur danach, ein Mindestmaß an,,Ordnung" in seinem Reich

Vailima zu wahren. Die Nichtigkeiten, die ihm dabei bisher untergekommen wa-

ren, bereiteten ihm eher Vergnügen als Verdruß. Fanny ging sogar so weit, seine

Verhandlungen als kindlichen ZeiWertreib zu betrachten, denn er legte oft unter

seiner strengen Maske eine solch naive Spielfreude an den Tag, daß es sie gerade-

zu entzückte. Es ging schließlich um nichts bei seinen Auftritten ,,vor Gericht"!

Hatte ein Samoaner Tusitala oder einen Landsmann bestohlen, eine Arbeit nicht

nach Kräften oder weisungsgemäß ausgeführt, ein Mann seine Frau geschlagen

oder umgekehrt, war Tusitala als Richter zur Stelle. Alle fügten sich in das unver-

?inderlich milde Urteil, nachdem sie mit fröhlich gesenktem Kopf den passenden

Spruch gehört hatten, der interessanterweise ganz genauso klang wie die all-morgendliche Predigt. Jedem der Beteiligten, vom Angeklagten bis zum Richter,

machte die Rechtsprechung den größten SpaI3. Darüber hinaus hegte Louis die

angenehme Überzeugung, daß seine Urteile dem Rechtsgefühl der Samoanerund

ihrer eigenen Sicht der Dinge völlig entsprachen, sie demnach auf die ,,ihnen ge-

mäße" Weise zu zivilisieren halfen. Fanny brachte es nicht über sich, ihm in dieser

seiner Herzensangelegenheit zu widersprechen. Louis wußte einfach nicht, was

den Samoanem,,gemäß" war - niemandwußte das genau, nicht einmal die Insu-

laner selbst. Fanny zumindest konntg in der sogenannten Rechtsprechung der

Stammesfürsten nw ausgeprägte Willkür entdecken, keine Logik, keine Indizien,

keine Argumente. Es gab demzufolge auch nur zwei Urteile: Täter und Tat wurden

entweder ignoriert, oder aber der Unglückliche verlor seinen Kopf. Der jeweilige

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Ausgang hing nach Fannys Dafürhalten eher von der Verdauung des Fiirsten ab

als von seinem Willen oder seiner F?ihigkeit zu gerechten Schlußfolgerungen.

Nun aber stand der große Tusitala inmitten seiner Leute, die er um Hauptes-

länge übenagte, und halle ü.otz seiner üblichen Geistesgegenwart nicht die ge-

ringsteAhnung, wie er in derschlimmen Geschichte verfahren sollte-imwahrsten

Sinne des Wortes. Ausgerechnet Tauilo, der Schuldige in Louis'Augen, war der-

jenige, der die furchtbaren Worte aussprach.

,,Du machen./ono, Tusitala? Ja?" Und dabei strahlte Tauilo vor lauterVorfreude

über das ganze Gesicht.Einzig Fanny bemerkte sogar beim späirlichen Licht der

Fackeln, wie Louis erbleichte. Zum ersten Male war ihr Gatte wirklich sprachlos.

Ein ,,fono" hatte Tauilo sich gewänscht, eine Zusammenkunft der Eingeborenen,

die immer unter einem guten, fröhlichen Zeichen stand, ganz gleich, ob es sich

dabei um ein Geburtsfest, ein Essen oder eine politische Versammlung handelte.

,,Fono" bedeuteten für Tauilo und seine Landsleute demnach ebenso die berähm-

ten und allem Anschein nach heißbegehrten Gerichtsverhandlungen Tusitalas!

Fanny wand sich unwillkürlich. Sie war sich bewußt, daß jetzt erst, in diesem

Augenblick, ihrem Louis das volle Ausmaß seiner Selbsttäuschung zu Bewußt-

sein kommen mußte. Das Spiel, das er jahrelang mit seinen begeisterten Unterge-

benen gespielt hatte, so wie er sich auch mitAustin schauspielerisch zu verstellen

pflegte, hatte sich im Handumdrehen für Louis in traurigen Ernst verwandelt. Es

war der Ernst des weißen Mannes, der Emst des Erwachsenen, der Emst des ver-

eidigten Advokaten. Alle drei Dinge wollte Louis nicht sein" doch danach fragte

ihn in dieser Lage niemand mehr. Das ewige Kind und der Bohemien in ihm muß'

ten sich der grausamen Wirklichkeit stellen, einem echten Mordversuch, began-

genvonlurrd an einem seiner Spielkameraden!

Dieselben ,,Kinder", die Louis' Rasen auf Streichholzktirze trimmten, seine

Pferde pflegten und sein Tartan-Muster trugen, hatten das Spiel zu weit getrieben

und sich von ihm entfemt. Er war nun der verantwortungsvolle Eltemteil, der

seine verirrten Schäfchen weise auf den Pfad der Tugend zurückzuführen hatte.

Doch für seine Schutzbefohlenen hörte das Spiel nicht auf, denn sie kannten ja

keinen Ernst! In dem einsamen Wissen um jegliches Fehlen von Gut und Böse,

Verbrechen und Bestrafung, Schuld und Sähne würde Louis die Verhandlung ab-

halten, und die Lächerlichkeit des Prozesses, der Prozedur, mußte ihn bis ins Mark

hinein treffen. Für Louis gestaltete sich das Spiel von ehedem unweigerlich zur

quälenden Farce.

Wlihrend Louis noch immer betroffen schwieg, erinnerte sich Fanny an einen

Ausspruch seiner Mutter. Maggie hatte ihr vorgelesen, was sie schon während

Louis'drittern Lebensjahr in ihrem Tagebuch festgehalten hatte: ,,Smouts Lieb-

lingsbeschäftigung ist es, eine Kirche zu bauen; er macht sich eine Kanzel mit

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Snrhl und Betschemel; er liest im Sitzen oder steht abwechselnd auf und singt."Ein Dreij?ihriger! Und derselbe Smout spielte 40 Jahre spätermit genauso glühen-

der Leidenschaft den Prediger, den Richter, den Soldaten. Womöglich aber setzte

Tauilos nächtliche Meucheltat dem glücklich versunkenen Spiel Tusitalas ein

schlimmeres Ende, als der Eingeborene es seiner Frau jemals hätte bereiten kön-

nen...Fanny dachte noch einen logischen Schritt weiter. Selbst der wider Willen er-

wachsen gewordene Louis war im Grunde außerstande, sich mit dieser speziellen

Lage auseinanderzusetzen. Louis verspürte den übermächtigen Drang, Ordnung

in das Chaos samoanischen Lebens zu bringen, sei es pflanzlicher oder menschli-

cher Natur. Alles um ihn her wuchede, wie es wollte, ohne daß jemand dem Wild-wuchs Einhalt gebot. Die Jurisprudenz aber, die normalerweise - in der Zivilisati-on, mit anderen Worten - dant angetan war, Ordnung zu schaffen, ließ sich hierüberhaupt nicht anwenden, es sei denn, Louis verfuhr letztendlich mit derselben

Willkrlr wie die Stammesfürsten. Niernand von seinen Leuten verstand die ab-

strakten Konzepte der Juristerei, dieja schon Europäern oft undurchsichtig schie-

nen. Selbst Louis hatte sich einmal über die unsinnigen Unterschiede zwischen

schottßcher wÄ englßcher Rechtsprechung ausgelassen, und da er in London

studiert hatte, wußte el wovon er sprach. Die Jurisprudenz war eine Erfindung der

Weißen, eine äußerst willktirliche obendrein, die sich anmaßte, Allgemeingültig-keit zu besitzen, obwohl sie in jedern Land, jeder Grafschaft, jeder Stadt anders

aussah. Davon, daß Recht mit Gerechtigkeit nichts zu tun hatte, wußte manch

armer Mann in der sogenannten Zivilisation ein Lied zu singen - doch erst aufeiner Insel wie Upolu, die von beidern nie gehört hatte und ohne beide lebte, er-

fuhr ein Rechtsgelehrter wirklich, wie überflüssig seine Profession war.

,,Wir alle werden dich bei diesem wichtigen/ono untersttitzen, großer Tusi-

tala", verktindete Fanny plötzlich in die Runde hinein, ohne recht zu wissen, was

sie da tat. Louis drehte abrupt den Kopf in ihre Richtung, zutiefst überrascht: Nie

zuvor hatte Fanny ihren Mann ,,Tusitala" genannt. Fannys Blick traf den seinen

und las darin neben all der Unsicherheit und dem Zweifel auch eine Spur von

Hoffirung. Sie nickte ihm aufinuntemd zu und fuhr fort: ,,Wir brauchen dich selbst-

verständlich als unseren Richter. Um der Bedeutung des Anlasses aber den gebüh-

renden Nachdruck zu verleihen, wird Isobel heute als Gerichtsschreiberin fungie-

ren, Lloyd als Staatsanwalt, und ich selbst werde die Verteidigung des Schuldigen

übernehmen, wenn du das großmütig gestattest." Fanny neigte den Kopf.

Eine halbe Ewigkeit stand Louis wortlos neben ihr, stumm vor Erstaunen. Dann

aber begriffer und strahlte seine Frau an. Schweigend tastete er nach Fannys Hand

und drückte sie. Du kannst dich immer an mirfesthalten, hatte Fanny ihm signali-

siert, und Louis verstand die Botschaft. Wenn du im Sturm den Hafen nicht mehr

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siehst, bin ich da, um dir zu leuchten. Dieses Gelöbnis, dessen Wahrheit Louis und

auch Fanny langeZeitvergessen hatten, wischtg Louis'Angste restlos hinweg.

,,Na dann los!" rief er der Gruppe m, ,,Auf anmfono! DieAngelegenheit duldet

keinen weiteren Aufschub ! "Die Tatsache, daß weder Lloyd noch Belle begriffen, worum es ging oder wor-

in ihre Aufgaben bestehen sollten, ktimmerte Louis nicht im geringsten. Ausschlag-

gebend war, daß der Jurist, der sonst stets allein die Verhandlung bestritt - als

,,Ktonanwalt", ,,Verteidiger" und ,,Richter" in Personalunion -, am heutigen

Sitzungsmorgen Unterstützung von neuen, weißen Spielgefdhrten bekam. Nun,

da er die tragischeAbsurdität seines eigenen Spiels erkannt hatte, wußte er Fannys

Beitrag hundertfach zu schätzen: Nie zuvor hatte sich Fanny an seinenAufführun-

gen beteiligt und so seiner Selbstdarstellung Vorschub geleistet. Louis kannte sei-

ne Frau nur als Ausbund an Vernunft und gesundem Menschenverstand, und bei-

des waren Eigenschaften, die er zwar dringend an ihr brauchte, abep im Innern

verabscheute wie j eder Künstler - und fast j eder Mann. Doch gerade jetzt, als sein

Spiel im Grunde aus war, bot Fanny sich ihm als Spielgeführtin an und ließ alle

Vernunft fahren, damit er nicht allein blieb. An ihr und an der neuen, aufin endigen

Zeremonie konnte er sich festhalten, wenn es auf dieser furchtbaren, chaotischen

Insel sonst nichts gab, an das er sich zu klammern vermochte. Zum Spiel brauchte

er weder Recht noch Gesetz; was er brauchte, waren echte Freunde.

,,Los, los", scheuchte Fanny Belle und Lloyd auf die sich aus eigenemAntrieb

nicht von der Stelle rühren zu wollen schienen. ,,Steht nicht dumm herum und

haltet Maulaffen feil. Ihr habt doch gehört, was zu tun ist. Holt den großen Tisch

aus dem Eßzimmer und ein paar Stühle aus Maggies Wohnung."

,,Aber ...", wagte Lloyd seiner emsigen Mutter entgegenzuhalten. Fanny ver-

schloß ihm den Mund mit ihrern erhobenen Zeigefinger und sah ihn ernst und

gebieterisch an. Vor lauter Erstaunen ob der ungewohnten Strenge schwieg Lloyd

tatsächlich.

,,Wozu denn Stähle?" wollte Isobel wissen, doch auch bei ihr duldete Fanny

au Abwechslung keinerlei Widerspruch.

,,Glaubst du denn etwa, liebste Belle, wir sollten ausgerechnet bei Louis' wich-

tigster Verhandlung seit seinem Eintritt in die Anwaltskammer auf den Veranda-

stufen herumhocken wie Hähner auf der Stange - oder wie Bqrbsren?"

,J.{-nein, Mutter", fügte sich Belle vorsichtshalber und erklomm eilig die brei-

ten hölzemen Außenstufen zu Maggies Fijäumen, die seit einigen Monaten unge-

nutzt geblieben waren.

Fanny überlegte. Was brauchte ein ordentlicher Richter noch? Da war zum ei-

nen die samoanische Bibel, ein Geschenk der englischen Missionsschule, aufwel-

che die zu vereidigenden Zeugen schwören mußten, auch wenn sie weder Buch

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noch Ritual begriffen. Fanny lief in die Bibliothek und holte sie. Kaum zurück auf

der Veranda, wo nun bereits der Eßzimmertisch stand, hatte sie eine neue Einge-

bung. Natärlich! Das schönste Spielzeug eines jeden Richters! Fanny rannte in die

Küche und packte im Vorüberhuschen den riesigen Fleischklopfer, der seinen üb-

lichen Platz neben Hack- und Tranchiermessern einnahm. Als Fanny den Klopfer

abschätzend in der Hand wog und dabei an den auf Hochglanz polierten Tisch

dachte, ihren ganzen Stolz, ergriffsie auf dem Weg nach draußen kurzerhand ei-

nes der winzigen Zierkissen von der Chaiselongue im Wohnzimmel Jetzt konnte

Louis nach Herzenslust mit dem Klopfer auf dem Tisch herumhämmem, ohne

Kerben in der Mahagoniplatte zu hinterlassen. Fanny seufzte schuldbewußt. Wie

es aussah, wärde noch eine geraume Weile vergehen, bis die ordentliche Hausfrau

endlich lernte, sich völlig ungehemmt ins Spiel zu stürzen - ohne jegliche Rück-

sicht auf Leib, Leben oder Möbel.

Draußen war inzwischen alles bereit. Kronanwalt Lloyd saß an der linken Ecke

des Richtertisches, Belle unmittelbar davor, Papier und Bleistift bei der Hand.

Fanny nahm ihren Platz an der rechten äußeren Kante des Eßtisches - nein, des

Richtertisches ein. Weiße wie Samoaner warteten gespannt auf die Ankunft des

Höchst Ehrenwerten Richters Tusitala, der sich im Hinterzimmer - wo immer das

sein mochte - auf den Fall vorbereitet hatte und nunmehr mit einem dicken roten

Buch unter demArm auf die Verhandlungsveranda trat. In dem Nachschlagewerk

erkannte Fanny amüsiert das schottische Zivilgesetzbuch. Nun, die Sache mochte

in Schottland vielleicht vor eine andere Kammer gehören, doch hier galt es ja

schließlich, sie so zivilisierl wie möglich zu regeln . . . Fanny merkte plötzlich, daß

etwas Wichtiges vergessen worden war: derAngeklagte! Sie winkte Tauilo aufge-

regl zn sich an den Tisch. In seinem Feuereifer sprang der junge Mann sporn-

streichs über das Geländer, anstatt den Weg über die Stufen zu nehmen, und hock-

te sich neben seiner Verteidigerin auf den Boden. Der Rest der Samoaner, s?imtli-

che Zeugen und das freudestrahlende Opfer, das voller Stolz auf seinen Gatten

blickte, mußten vorerst ,,draußen" bleiben, denn auf der Veranda gab es für sie

keinen Platz mehr. Farury war es in Tauilos unmittelbarer körperlicher Nähe etwas

unbehaglich zumute. Zwar,,kannte" sie ihn seit Jahren, und er wirkte im Moment

überaus friedlich; doch der Gedanke, daß er nur wenige Minuten zuvor seiner

Tamaitai das Lebenslicht haüe ausblasen wollen, ließ einen unüberwindlichen

Graben zwischen Fanny und ihm entstehen. Allerdings wußte Fanny, daß sie ir-

gendwie einen Kompromiß zwischen der samoanischen Lebensweise und ihrer

eigenen finden mußte, wollte sie ihrer Verteidigerrolle gerecht werden. Im übrigen

war ihr seit hzute morgen ihre alte Freundin Tamaitai beinatre noch frernder gewor-

den als Tauilo: Ein frohlockender Gewaltverbrecher wirkte auf weiße Betachter wie

ein Sctrlag ins Gesichq ein frohlockendes Opfer war einfach ein Unding.

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Louis kam sofort zur Sache. Fanny bemerkte, daß der neuartig ausgestattete

Gerichtssaal ihm einigenAuftrieb verlieh; dochrer wollte dieAngelegenheit nichts-

destotrotz so schnell wie möglich hinter sich bringen. Ohne Zweifel erleichterte es

ihn dabei unendlich, daß er, der große Redner, an diesem Tage keines der Plädoy-

ers halten mußte!

Als erster kam Lloyd an die Reihe. Er war ein begabter, vielversprechender

Schriftsteller, aber ohne Feder in der Hand alles andere als ein rhetorisches Talent.

Zunächstverbrachte ereinige Minutendamil feierlichundmit Lampenfieberkämp-

fend seine Brille zu putzen, die er für diese Gelegenheit zwar überhaupt nichtbenötigte, von der er sich jedoch versprach, sie möge ihm ein gesetztes, würdevol-

les Aussehen verleihen. Als das Drahtgestell endlich auf Lloyds Nase saß und er

ein paarmal in die Runde gezwinkert hatte, legte er sich ohne Vorwarnung vehe-

ment ins Zeug. Unglücklicherweise verlor erbei seinerAnklageerhebung völlig den

Umstand aus den Argeo, daß der Angeklagte am Ende ungeshaft da,rronkommen

würdennd dies schonzum gegenwärtigenZeitpunktfelsenfest stand. DeintnrgLloydsfeurige Rede leider nicht die geringste Rechnung. Als er schließlich von Schwefel

und ewigem Höllenbrandzupredigenbegannund forderte, man solle denAngeklag-

ten rädem, vierteilen, aufir?ingen und seine steölichen Überreste verbrennen, wurde

es Fanny endgültig zu bunt. Lloyd begriffnicht! Statt in ihrer aller Bühnenstäck einen

Rest von Würde und Erhabenheit zu wahrerq totz des unüberbrückbarenAbgnrndes,

der sich zwischen den beidsn Kulturen auftat, befand sich der begeisterte, in unglück-

selige Euphorie geratene Lloyd im Begnfl dieAngelegenheit in das reinste Kasper-

letheater zu verwandeln! Womöglich stammte die Vorlage zu seiner flammenden Rede

aus einem der Romane seines Stiefuaters, in denen die nichtswärdigen Lowland-

Richter meist blutrtinstige Tlnannen oder kriecherische Vasallen Englands darstellten

- wie dem auch sein mochte, es galt Lloyd aufzuhalten, bevor er noch mehr Unheil zu

stiften vermochte, als dieser Morgen b!reits gebracht hatte.

Leise bedeutete Fanny der eifrig kritzelnden Isobel, sich ein wenig zur Seite zu

neigen; sodann streckte sie so unauffällig wie möglich das rechte Bein aus und

verabreichte ihrem Sohn einen kräftigen Tritt. Sie war sich bewußt, daß sie dabei

selbst den schmalen Grat überschritt, der zwischen Seriosität und Farce verlief,und Schamröte stieg ihr ins Gesicht. Doch Lloyds Redefluß geriet unverzüglich

ins Stocken und versiegte schließlich ganz; nichts anderes hatte Fanny bezweckf.

Keiner der Samoaner bemerkte Fannys unwürdigen Triclq Lloyd war gottlob vorSchmerz sprachlos, und Louis, garz gravitätischer Richteq zog es vor, still in sei-

nen Bart zu lächeln.

Nachdem Tauilo seine Darstellung der vereitelten Bluttat noch einmal hatte

wiederholen dürfen, wobei er viele neuartigewrd noch nicht gehörte Einzelheiten

vorbrachte, die jedermann vor der Veranda zu Beifallsstürmen hinrissen, erhielt

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die Verteidigung das Wort. Fanny erinnerte sich plötzlich an das Buschmesser, das

noch immer vor dem Gesindehaus lag, und ließ es schleunigst herbeiholen. Drei

Männer,,trugen" es.

,,Euer Ehren, ich bitte Sie darum, sich dieses Beweisstück anzusehen." Fanny

legte das Messer vor Louis auf den Tisch. ,,Ich weise nachdrücklichst darauf hin,

daß keinerlei Blutspuren auf der Klinge zu finden sind. Demnach ist auch nie-

mand einem Verbrechen zum Opfer gefallen."

Fannys einfache Worte, die zurar dem Hohen Gericht angemessen, doch weit

verständlicher für die Eingeborenen waren als Lloyds hochtrabende Phrasen, wur-

den von den Samoanern mit lautem Beifall begräßt. Fanny, die noch immer keine

Ahnung hatte, wie ihre eigene Strategie aussehen sollte, faßte durch die Unterstüt-

zung der Insulaner Mut - auch wenn sie diese Leute nicht begriffund wahrschein-

lich nie begreifen würde.

,,Die Ehefrau des Angeklagten, Tamaitai, weist ebenfalls keine Spuren auf, die

auf eine Gewalttat ihres Mannes schließen lassen. Es ist offensichtlich kein Ver-

brechen geschehen."

,,Einspruch, Euer Ehren!" meldete sich Lloyd zu Wort.

,,Abgewiesen", schmetterte Louis ihn unerbittlich ab. ,,Verteidigung, fatren Sie

mit Ihren Ausführungen fort."

,,DerAngeklagte - wenn wir ihn denn überhaupt so nennen wollen, denn nie-

mand in der Runde bezichtigt ihn eines Verbrechens - vertritt im Gegenteil die

Ansicht, er habe durch sein beherztes Verhalten eine Schandtat verhindert.Tatilo

hat mit eigenen Augen einen Dämon gesehen, der sich für Tamaitai ausgab, und

ihn mutig vertrieben."

Der Beifall, der Fanny von außerhalb der Veranda entgegenschlug, zeigte ihr

deutlich, daß zumindest die Dienerschaft ihreArgumente guthieß. Fanny ließ sich

einfach treiben.

,,Wir alle, die wir schon lange im Dschungel gelebt haben, wissen, wie Dämonen

von Menschen Besitz ergreifen. Sie kommen aus dem Unvald angeschlichen, drin-

gen durch einen Spalt in der Wand oder ein Astloch und beteten ungehindert die

Häuser der Menschen. Der Mensch an sich ist frei von Schuld, wie ein leeres Gefüß,

welches Tag und Nacht flir fremde Geister offensteht. Der Mensch ist gegen die An-

griffe der Dämonen machtlos und wehrlos. Ist ein Geist in seinen Leib, das offene

Gefäß, eingedrungen, leben plötzlich zwei Wesen dort wo vorher nur eines gelebt

hat. Jenes zweite Wesen, das von dem Menschen nicht aus sich verlrieben werden

kann, ist ein Teufel, böse, ganein und hinterhliltig. Es will das Gefüß mißbrauchen."

Die Runde draußen applaudierte. Louis wartete gespannt. Da kam Fanny eine

Idee, wie sie weiter vorgehen konnte; wenn Lloyd zu Louis' Schriften Zuflucht

nahm, tat sie das auch!

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,,Euer Ehren, in Ihrer Funktion als Herr der Kunde wissen Sie von jener seltsa-

men Begebenheit, die sich kurz vor Ihrer Abrgise im schönen Peretania nrgetra-

gen hat. Ich spreche von Ihrem weißen Bekannten, jenem Gelehrten der Medizin

und des Rechts, in dessen Hinterhaus regelmäßig ein affenartiges Wesen einzu-

dringen pflegte - ein buckliger kleiner Dämon."

Erstaunt hob Louis die rechte Augenbraue und öffnete den Mund, als wolle er

etwas sagen, Dann besann er sich eines Besseren und erwiderte nur trocken: ,,Fah-ren Sie fort."

Oh, selbstversttindlich war sich Fanny darüber im klaren, daß sie kein un-

passenderes Beispiel hätte wählen können als ausgerechnet die Geschi_chte von

Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Aber wie sonst sollte sie all diese verdammten Dämonen

ordentlich unter einen Hut bringen: jene, die auf Dauer in den Menschen wohnten;jene, die sich nur auf der Durchreise befanden; jene, die von ihren Gastgebem

dazv aufgefordert wurden, sich bei ihnen einzunisten und es sich hühch bequem

zu machen ,,. Sogar Louis'aufgeklärte Leser wußten oft nicht zwischen den ver-

schiedenen Sorten von Teufelsbtaten zu unterscheiden. Vor einem knappen Jahr-

zehnt, kurz nach derVeröffentlichung derNovelle, die einen Meilenstein auf Lou-

is' Ruhmesstraße darstellte, hatte Fanny sich auf einer Soir6e mit Bewunderern

ihres Mannes unterhalten und festgestellt, daß sie Louis' unheimlichen,,Helden"

genauso auf den Leim gekrochen waren wie ihrem Schöpfer. Weit davon entfernt,

Dr. Jekyll als den abgefeimten Schurken und Heuchler zu entlarven, den er auch

ohne seinen selbstgebrauten Dämon abgab, hielten die meisten ihn für einenAus-

bund an Güte, der leider von einem dahergelaufenen Teufel bis ins gemeinsame

Grab hinein gequält wurde. Daß Dr. Jekyll absichtlich eine zweite Gestalt an-

nahm, um seiner Lüsternheit freien Lauf lassen zu können, ohne seinen guten Rufzu schädigen, war den Leuten irgendwie entgangen. Jekyll und Hyde waren schon

jetzt gleichbedeutend mit ,,gut" und ,,böse" geworden! Der Dämon schlich sich

zltrat ^Jt

Hintertür des Laboratoriums herein; doch war derselbe Dämon zuvor

zwecks Auslebung niederer Triebe in die Welt hinaus entsandt worden.

,,Die Verteidigung erlaubt sich, auf die Tatsache hinzuweisen, daß der Ehrenwerte

Richter Tusitala selbst im fernen Peretania einen Fall erlebt hat, der dem heutigen

nicht unähnlich ist, und dementsprechend bittet sie das Hohe Gericht, Verständnis,

Milde und Barmherzigkeit walten zu lassen. Auch Tauilo wurde offensichtlich

durch das Eindringen eines Dämons zu einem Doppelwesen, das von der Über-

macht des Teufels zu seinen Handlungen gezwungen wurde. Der Dämon ist wie-

der verschwunden. Tauilo wohnt wie vorher allein in seinem Leib."

Und gerade dieser Umstand war es, der die samoanischen Eingeborenen ewig

von ihrem Häuptling Tusitala trennen mußte. Sie waren keine Doppelwesen, son-

dern einfache Kreaturen. Sie sahen keine Veranlassung nJ Heuchelei und ,,dop-

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pelter" Moral, denn sie besaßen nicht einmal eine einfoche Moral, die streng ge-

nug war, so genannt zu werden! Sie mußten sich niemals in der Nacht auf die

Gasse hinausschleichen wie Diebe, denn sie brauchten nichts zu verbergen. Und

gerade diese Notwendigkeit der Tarnung fehlte Louis unbeschreiblich auf dieser

simplen, erschreckend paradiesischen Insel. Was hätte er darum gegeben, hier mit

zwielichtigen Elementen zu verkehren um der alten Zeiten willen, mit anderen

faszinierenden, schillemden Doppelwesen, wie er eines war, und mit ihnen den

Aufstand gegen das Bürgertum zu proben! Heute sah Fanny nur mehr das Trauri-

ge an seiner Lage, denn daß das Ausmaß seiner Heuchelei gar so schlimm niemals

gewesen war, wußte sie seit langer Zeit. Hier gab es keinen Heuchler, der ihm

cbenbürtig war, keinen Teufel, mit dem er verkehrte. Er war doppelt - einsam.

,,Ich danke der Verteidigung für ihe interessanüen Ausfühnrngen", sprach Louis

nun lächelnd, denn er hatte Fannys anzüglichenAufrufzu ,,Mlde" und ,,Barmherzig-

keit" als das erkannt, wozu er mittlerweile, im Laufe ihrer ehelichen Verfrautheit,

geworde,n war: ein liebevoll gemeinter privater Scherz. ,,Unter Berücksichtigung der

von Ihnen vorgebrachten Fakten aus dem fernen Peretania sehe ich mich imstande,

umgehend ein Urteil zu sprechen. Der Angeklagte Tauilo war zx Zeit der Tat ein

Doppelwesen, und nw der Dämon, der nun nicht mehr in ihm wohnt, darf für die Tat

bestaft werden. Tauilo und Tamaitai därfen wie üblich an ihre Arbeit gehen."

Die Beobachter der Verhandlung jubilierten lauthals. Tauilo strahlte Tusitala an,

nahm wieder die Abkürzung über das Geländer und fiel seiner Tamaitai in die

offenen Arme. Er hatte zwar keinen anderen Ausgang derAngelegenheit erwartet,

aber dasfono war so aufregend gewesen! Nur die Sache mit derArbeit schmeckte

ihm nicht ganz. Aber das war unvermeidlich.

Bevor die Runde sich aufzulösen drohte, rief Fanny alle noch einmal zur Ord-

nung, obwohl dieser Teil der Zeremonie eher Louis-Tusitala zugekommen wäre.

F)in wichtiges Problem galt es nach wie vor zu klären - eine wirkliche, handfeste

Schwierigkeit, die augenblicklich bewältigt werden mußte, wenn Louis nicht Ge-

f'ahr laufen wollte, ein ganz neues Gesindehaus bauen zu lassen. Nach dem heuti-

gen Vorfall würde kein Samoaner mehr das Nebengebäude betreten, wenn nicht

cine Lösung gefunden wurde, die die Beseitigung des unliebsamen dämonischen

Besuchers betraf. Mr. Tu und der Verlust des Soldatenzimmers hatten Louis diese

Lektion nachdrücklich gelehrt.

,,Euer Ehlen, wir müssen zwei Dinge bewerkstelligen, bevor die Nacht wieder

hereinbricht", diängte Fanny nun deshalb besorgt. ,,Es ist unabdingbar, daß wir

den Dämon offen beim Namen nennen - du weißt, daß er das schlecht verträgt -und ihn ein für allemal von unserem Grund und Boden vertreiben."

Eine Idee zur ,,Taufe" des Dämons war Fanny schon gekommen. Vor Jahren,

als das erste Rinderpaar, ein Bulle und eine Kuh, Vailima gemeinsam betrat wie

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einstAdam und Eva, fragten die Samoaner Louis, wie sie die fremden Kreaturennennen sollten. Mit einer ausladenden Handbewegrung hatte er aufbeide gewiesen

und erklärt: ,Ä bull and a cow." Nun galt jedes Rindvieh, gleich welchen Ge-

schlechts, als eine eigene Art von Doppelwesen ,,bullanacow". Das mußte doch

auch mit Dämonen gehen ...

,,Mir ist zu Ohren gekommen, daß unser Quälgeist einen komplizierten Namen

hat. Er nennt sich Jekalahyde."

Augenblicklich brach Louis in lautes, befreiendes Gelächter aus. Die Samoaner

sahen ihn ob dieser Reaktion mit großenAugen an, doch sie wußten, daß ihr Tusitala

noch mit jedem Däimon fertig wurde. ,,Was schlägst du vor?" fragte er Fanny.

,,In die Flasche mit ihm. Wie mit dem anderen auch."

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,,Es rsr NIcHr zu fassen. Da öffiren sich vor ihrer Nase die Gefiingnistüren, und

keine Seele denkt daran, freiwillig zu entweichen! Was geht nur in den Köpfen

dieser Menschen vor?"

Auf dem Rückweg nach Vailima mußte Fanny fast ununterbrochen an diese

Worte denken, die Louis heute morgen im Zwiegespräch mit seiner Frau geäußert

hatte. Die Tatsache, daß er den Drang versptirt hatte, die neuesten politischen Er-

eignisse derart ausgiebig mit ihr zu besprechen, noch dazu während des Früh-

stticks, verriet Fanny das Ausmaß seiner Ratlosigkeit. Im Augenblick gab es aber

auch wirklich zu viele Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellten; Don Quijote

selbst hätte wahrscheinlich angesichts dei Unzahl von Windmühlenflügeln kapi-

tuliert, mit denen Louis sich mr Zeit abquälte. Doch Don Quijote war nicht halb

so halsstarrig und verbohrt wie Louis.

Erst seit wenigen Wochen durfte Fanny sich wieder einigermaßen sicher füh-

len, wenn sie den Weg nach Apia hinunter einschlug oder, was ungleich öfter vor-

kam, den Trampelpfad zu ihrer Lieblingslichtung mit Blick auf den Pazifischen

Ozean. Ein neuer selbsternannter König, Tamasese mit Namen, hatte einen Auf-

stand angezettelt, der erheblich blutiger vonstatten gegangen war als Mataafas

mißglücktes Unterfangen, und im Unterschied z-trletzterem schreckte Tamasese

keineswegs davor zurück, offen die weißen Siedler zu bedrohen. Nun mußte auch

Tamasese sich der vereinten Waffengewalt der drei Schutzmächte beugen. Was

Louis und Fanny gleichermaßen erboste, war der Umstand, daß Tamasese nicht

etwa verbannt werden sollte wie der arme Mataafa, sondern lediglich ein paar

rostige alte Gewehre abzuliefern hatte, die Tamaseses Mannen mangels Munition

sowieso nicht mehr zum Schießen taugten.

Was Louis allerdings noch ein wenig mehr arsetzte als diese himmelschreiend

ungerechte Vorzugsbehandlung seitens des ,,größenwatrnsinnigen Dreigestirns",

wie er die Konsuln zu titulieren pflegte, war das Verhalten der Opfer ihrer Willktir.

Mataafa lebte in der Verbannung und 13 seiner Gefolgsleute mit ihm. Einige we-

nige, Louis' Geburtstagsgäste, befanden sich auf freiem Fuß. Weitere 27 Häupt-

linge jedoch, allesamt jung und kräftig und nach Louis'Ansicht zweifelsohne ganz

hervorragende Straßenbauer, bevölkerten noch immer das Gefüngnis von Apia.

Es ging ihnen gut, sie waren wohlgenährt, und sie brauchten im Gefüngnis nicht

zu arbeiten, was sich für die Konsuln von selbst verstand. Louis seinerseits war

nicht von dem Gedanken abzubringen, daß die Armen in ihrem Kerker fürchter-

lich leiden mußten, ja geradezu verschmachteten. Doch was taten sie, als während

Tamaseses Aufstand die Bewacher, mit Polizei?imtern bekleidete Insulaner, in

Windeseile wie ein Mann die Flucht ergriffen? Mataafas Männer blieben sitzen.

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Und wie verhielten sie sich, als eine Gruppe anderer Gefangener, die zu Tamasese

stoßen wollte, aus dem finsteren Kerker flüchtete - was zwar keine sonderliche

Anstrengung darstellte, aber immerhin ein'e Andeutung von Tatendrang? Anstattsich der Truppe anzuschließen, legten Mataafas Männer eine völlig unenilarteteTaktik an den Tag, die jedermann übemrmpeln mußte: Sie blieben sitzen.

,,Ich könnte mir vorstellen, daß sie den Leuten aus Aära noch hinterhergewunken

haben", hatte Louis gegrollt, um dann überraschend hinzuzufügen: ,,Fanny ...glaubst du, sie sind möglicherweise meinetwegen dort hocken geblieben?"

Fanny hatte ungläubig reagiert und auch durchaus Verwunderung verspürt, al-lerdings weniger inAnbetracht der ldee - denn die war ihr selbst schon gekommen

- als angesichts des Umstandes, daß Louis' Gedanken dieselbe Richtung einge-

schlagen hatten. Er z.og somit durchaus die Möglichkeit in Erwägung, daß die

Häuptlinge, ,,gowarrt" durch ihre drei Standesgenossen, das Verweilen im Kerkerganz ohne nützliche Beschäftigung der Freiheit und der mit ihr verbundenen freude-

spendendenArbeit vorziehen könnten. Eine sehr gewagte Vorstellurig, zugegeben

- aber die samoanische Wirklichkeit schlug mitunter verrücktere Kapriolen als die

Phantasie des begabtesten Romanciers.

,,Nun sag doch, Fanny: Was meinst du? Könnte etwa ich der Grund für ihre

Weigerung sein, sich einfach aus dem Staub zu machen?" Louis hatte plötzlichzutiefst beKimmert geklungen. Sosehr er sich auch wtinschte, die Häuptlinge indienstbare Geister zu verwandeln, wollte er doch nicht auf solche Weise schuld an

ihrem ,,Elend" sein. Mehr aus Mitleid denn aus echter Überzeugung hatte Fanny

ihren Mann beschwichtigt.

,,Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Es gibt eine plausiblere

Erklärung für ihr Verhalten."

,,Tatsächlich?" Louis hatte hoffnungsvoll aufgehorcht.

,,Allerdings, Mataafas Verbannung geht ihnen sehr nahe. Sie hoffen darauf, daß

die Entscheidung noch einmal überdacht wird oder die Regierung zumindest Gna-

de walten lZißt. Wenn die Konsuln aber sehen, daß seine Gefolgsleute mir nichts,

dir nichts die Flucht ergreifen, gef?ihrdet das Mataafas Sache beträchtlich. Statt

dessen bleiben sie also brav im Gef?ingnis zurück und lassen die anderen fliehen,

um zu zeigen: ,Seht her, auf Mataafa und seine Männer ist jederzeit Verlaß."'Louis'Erleichterung nach diesenAusführungen Fannys war fast körperlich spür-

bar gewesen. Er hatte über das ganze Gesicht gestrahlt und gerufen: ,,Natürlich!Absolut logischt" Stimmt,hatte Fanny gedacht. Wel zu logischJür SamoanerDoch

wieder einmal hütete sie sich, ihre Gedanken laut auszusprechen. Fanny wußte,

daß sich Louis nun erneut und mit verdoppelter Energie in seine Kampagne zur

Erlösung Mataafas und seiner Männer sttirzen würde, die in den letzten zwei Mo-naten vornehmlich darin bestanden hatte, Briefe an britische Zeitungsverleger und

t20

Page 118: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Parlamentsmitglieder zu senden. Mittlerweile schrieb man April; mit dem Märzwar die Zeit der schlimmsten Hurrikane zu Ende gegangen, von denen man oben

auf Vailima manchmal nur ein fernes, tiefes Summen und Brummen vernalun,

durch die man bei anderen Gelegenheiten ein paar Dächer einbüßte, wtihrend die

Einwohner von Apia stets vorAngst zitterten - und das mit Recht. Der Sturm inLouis' schmächtiger Brust dagegen würde sich niemals legen, nicht zu seinen Leb-

zeiten. Augenblicklich tobte und wetterte er gegen die drei Konsuln, die in Louis'Augen die Wurzeln so ziemlich allen Übels auf Samoa repr2isentierten. Mit müh-

sam gezügeltem Zorn und ebenso angestrengt gewahrter Diplomatie suchte Louisdie Vertreter der Presse und des Parlaments von der Gerechtigkeit einer Sache zu

überzeugen, welche die selbstgef?illigen Mäinner im femen Britannien durch ihre

erbarmungswtirdige Nichtigkeit und die drollige Verbissenheit ihres Verfechten

zutiefst rühren mußte ... zu Tränen der Heiterkeit. Louis war sich der Zwiespältig-

keit seiner Wirkung vollauf bewußt.

,,Ich habe mich selbst längst zum Idioten abgestempelt, Fanny", hatte er seiner

Frau heute morgen anvertraut. ,,Die Herausgeber der Tizes und des Daily Chronicle

sind so großmütig, meine Ergüsse in vollem Umfang abzudrucken, aber ich weiß

genau, daß sie das nur aus Achtung für den bertihmten Schriftsteller tun. Sicher

fragen sie sich: Warum begrügt sich der Wirrkopf nicht mit seinen Romanen, um

Himmels willen, statt uns unsere Zeitundunseren Platzztr stehlen?"

Fanny blieb stumm. Was sollte sie darauf antworten?

,,Jeder von ihnen lacht insgeheim über die kauzige Bohnenstange auf diesem

winzigen Fleckchen Erde auf der Unterseite der wirklichen Welt - ihrer Welt.

,Dieser Stevenson hat dort unten scheinbar nur ein verdammtes Hobby', höre ichsie reden, ,einen alten Häuptling, den man von einer Kokosnußinsel auf eine an-

dere verfrachtethat. Sorgen muß der Mann haben!"'

,,Sei nicht zu streng mit dir oder mit den Verlegern." Fanny hielt es nicht l2inger

aus, Louis so verächtlich über sich selbst herziehen zu hören, obwohl der Ver-

dacht, der seine Wirkung betraf, sicher nicht unbegrtindet war. ,,Dieser Mr. Hogan

aus dem Unterhaus hat sich immerhin auch schon einmal in der Angelegenheit

Mataafa zu Wort gemeldet, wie du weißt. Er kennt Mataafa und möchte ihm hel-

fen. Wende dich doch an ihn. Er wäre wirklich der letzte Mann, der deine Absich-

ten verlachen würde ... wenn das überhaupt jemand tut, heißt das."

Louis nickte eine Zeitlangnur langsam und erwiderte dann: ,,Gute Idee. Genau

das mache ich noch heute."

Fanny suchte unterdessen krampftaft nach neuenAnsatzpunkten. Es erschien

ihr gesünder, nattirlicher, wenn Louis sich mit demjenigen Talent Befreiung und

Befriedigung verschaffie, welches ibn noch nie im Stich gelassen hatte, anstatt

sich auf das unsinnige Roden zu verlegen. Sollte er sich doch zur Zielscheibe

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Page 119: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

englischen Gespötts machen; daran waren die bornierten Engländer schuld, nie-

mand sonst.

,,Oder schreib der Times, daß sich die Lage von Grund auf geändert hat, weil

Tarnasese ohne Strafe davonkommt und kein Grund mehr besteht, Mataafa festzu-

halten, und - und sag ihnen, daß seine Leute nicht geflohen sind! Und . . ."

,,,4.usgezeichnet. Und ichbetone, daß ich seit vier Jahren pünktlich meine Steu-

ern an die samoanische Regierung zahle."

,,Nun ja ..." Das schien Fanny jetzt doch ein arg possierliches Argument; ande-

rerseits trug man vor dem britischen Unterhaus fortwährend ähnlich sachdienliche

Hinweise vor.

,rA,ußerdem werde ich in allen Einzelheiten schildern, wie die 27 M?inner im

Gefiingnis an Leib und Seele darben, daß man ihnen nichts zu essen gibt ..."

,,Aber das stimmt doch überhaupt nicht!" entfuhr es Fanny.

,,Zumindest muß es ihnen so scheußlich schmecken, daß sie die G,eschenke

ihrerVerwandten vorziehen." Louis'Phantasie jagte mittlerweile unterVollen Se-

geln dahin und ließ sich nicht mehr durch Unerheblichkeiten vom Kurs abbringen.

,,Und ich könnte die Tatsache verwerten, daß Mataafa strenggläubiger Katholik

ist. Nach seiner Befreiung tritt er womöglich freiwillig in ein Kloster ein ... etwas

in dieser Richtung."

Aber nur, wenn er all seine Frauen mitnehmen darf, dachte Fanny grimmig.

Jetzt trieb Louis es ihr endgültig zu toll.

,,Schreib ihnen lieber, daß Mataafa aus lauter Dankbarkeit zur anglikanischen

Kirche übertreten würde", stichelte sie.

,,Meinst du wirklich? Das gnge auch." Louis erwog ihren Vorschlag tatsäch-

lich! Fanny verdrehte dieAugen himmelwärts.

,,Wie dern auch sei: Eir Umstandwird ihre kalten Herzen gewiß nichtungerährt

lassen." Louis' Stimme klang unvermittelt heiser und rauh; sie war fast zu einem

Flüstern abgesunken. Alarmiert musterte ihn Fanny. Wenn Louis so sprach, hatte

er keine wohlüberlegten taktischen Schachzüge im Sinn. Er redete mit sich selbst

und, ohne es zu wissen, über sich selbst,

,,Der Unglückselige muß auf einem winzigen Eiland sein Dasein fristen", mur-

melte Louis. ,,Dieses Jaluit ist doch nicht mehr als ein erbärmliches Korallenatoll.

Dort hat er sein angestammtes Hochland nicht mehr, nur Sand und Kokosnüsse.

Kein richtiges Gras. Flaches Land. Ekles Brackwasser. Die Hölle;'Louis'Worte versetzten Fanny einen schmerzhaften Stich. So,,offen" hatte er

über seine Lage noch nie gesprochen. Eines seiner vorherrschenden Charak-

termerkmale - dasjenige, welches Fanny am meisten an ihm schätzte - bestand

darin, daß es ihm im Leben nicht eingefallen wdre, über seine Krankheit, seine

mißliche Lage, seineAbgeschiedenheit zu lamentieren. Louis ertrug je.de noch so

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Page 120: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

verzweifelte Situation klaglos, ja sogar mit einem Scherz auf den Lippen. Er konnte

sich bis zur Weißglut erhitzen, wenn er um ein Nichts, um ausgemachten Unsinn

kämpfte; sobald es aber um sein eigenes Leid ging, trug er ein heiteres, oft gar

fröhliches Wesen zur Schau und riß über sich selbst, den lächerlichen Ritter mit

der,,Haarnadelfrgur", die schonungslosesten Witze.

Wäihrend Fanny nun die steile Anhöhe nach Vailima erklomm, unter der übli-

chen Last von Leinwand und Staffelei, keuchend und schwitzend in der feuchthei-

ßen Luft, die man mit keinem Buschmesser hätte zerschneiden können, dachte sie

zum wiederholten Male an die Unsinnigkeit eines Straßenbaus. Sicher, die Pferde

würden ein wenig leichter durch den Dschungel kommen, doch bis jetzt hatten sie

das auch geschafft. Für Fußgänger konnte sich durch die komfortabelste Straße

nichts Wesentliches ändern: Der Weg würde so steil bleiben wie zuvor, die Luft

ebenso schwül und wattedick und drückend. Fanny persönlich war es völlig gleich-

gültig, ob Louis seine Straße bekam oder nicht. Zu ihrer bevorzugten Lichtung

oder anderen, noch unzugänglicheren Stellen vermochte sie sowieso nicht zu Pferde

zu gelangen ... und falls doch, was hätte sie wohl während ihrer Malstunden im

Urwald mit dern Gaul anfangen sollen? Das Schicksal Mataafas und seiner Män-

ner lag ihr also nur insofern am Herzen, als Louis'Wesen zum großen Teil in ihrer

verlorenen Sache aufging. Sie wünschte ihm jeden denkbaren Erfolg bei der Be-

freiungsaktion, doch was die Häuptlinge anschließend trieben, ließ sie ausge-

sprochen ungerührt. Und da Fanny genau wußte, daß weder Mataafanoch die27

Aufrechten wirklich,,schmachten" mußten, wünschte sie insgeheim, die Kampa-

gne möge sich noch lange, sehr lange hinziehen. Solange Louis seine Briefe schrieb,

Meisterwerke der Dicht- und Fabulierkunst wie seine Romane, ging es ihm sicher

sehr viel besser als bei der Verwirklichung seiner ominösen Rodungs- und

Kultivierungspläne.

Mit wachsender Besorgnis hatte Fanny seit dem Tage der Gerichtsverhandlung

zur Kenntnis nehmen müssen, daß Louis etliche seiner früheren geistigen Lieb-

lingskinder nicht nur vemachlässigte, sondem offen als törichte Mißgriffe ver-

warf. Zwar schlichtete er nach wie vor Streitigkeiten, doch tat er das ohne Zere-

moniell, indem er einfach Befehle erteilte. Das Element des Spielerischen war

seiner nunmehr preußisch präzisen Rechtsprechung völlig abhanden gekommen.

Fanny gegenüber hatte er aus freien Stlicken zugegeben, daß er sich nicht länger

anmaßen durfte, die Natur und das Denken der Insulaner verstehen, geschweige

denn nachvollziehen zu können. Das bedeutete mit anderen Worten: Er hatte das

Vorhaben aufgegeben, die Samoaner gemäß ihrer eigenen Weise zu zivilisieren.

Fanny bereitete das eine nicht geringe Sorge. Die Missionierung und Kultivierung

der Eingeborenen war in ihren Augen von Anfang an anm Scheitern verurteilt

gewesen, doch mit dem Versuch dazu hatte Louis immerhin ein wunderbares Stek-

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Page 121: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

kenpferd besessen, das er, was Fanny anging, ewig hätte reiten können. Seine

sanfte Spielart der Zivilisierung würde niernals der üblichen weißen Tyrannei

weichen, das war Fanny klar - aber Louis hatte das Interesse an den Samoanern

verloren. Was er noch für sie unternatrm, tat er im Grunde genommen über ihre

Köpfe hinweg, indem er ihre Probleme mit weißen Männem besprach, die imfernen Peretania lebten, nie einem ,,Wilden" begegnet waren und sich rein gar

nichts aus dern Archipel machten. Würde Upolu bei einem Vulkanausbruch imMeer versinken, gäbe es eine lapidare Randnotiz in der Times. Und dann nichts

mehr.

Jenseits der dichten, beinahe undurchdringlichen Wand des Urwäldes, durch

den sich Fannys Fußweg schlängelte, befanden sich die Dörfer Lefanga, Safaata

und Valauli, in denen Louis und Fanny kurz nach ihrem Hausbau oft zu Gast ge-

wesen waren. Fanny seufzte unwillkürlich tief auf, als sie an den schmalen Seiten-

pfaden vorbeikam, deren bloßes Vorhandensein anzeigte, daß sich an,ihrem Ende

menschliches Leben im Dschungel befinden mußte: Andernfalls gäbö es sie schon

nach wenigen Tagen nicht mehr. Der Urwald nahm ohne Zögern jede lichte Stelle

wieder in Besitz, die nicht beinahe täglich von Menschenfüßen begangen und ein-

geebnet wurde. Fanny versuchte, mit denAugen dem Verlauf der kaum zwei Fuß

breiten Pfade zu folgen, doch umsonst. Fast unmittelbar hinter den ,,Kreuzungen"mit dem Hauptweg schienen sie sich schon wieder in eine solide grüne Dschungel-

mauer zu verwandeln. Kein Wunder, daß auch Samoaner, die einzeln untenyegs

waren, weil sie es durchaus nicht hatten vermeiden können, in diesem Wirnvarroft von panischem Schrecken befallen wurden. Ihr heimatlicher Pfad war selbst

für ihr geübtes Auge nicht besser zu erkennen als eine grtine Nische in einem

riesengroßen, immergrünen Wall.

Der Pfad, dan Fanny soeben passierte und den sie als Verbindung zum Dörf-chen Valauli identifizieren zu können glaubte, weckte in ihr zugleich angenehme

Erinnerungen und ein Gefühl unwiederbringlichen Verlustes. In Valauli und den

umliegenden Siedlungen hatten Louis und Fanny vor Jabren ihr unerhörtes Unter-

fangen begonnen, die Samoaner mit der unverzichtbaren Einrichtung der Ge-

schichtsschreibung zu beglücken. Zwar hatten die Samoaner bis dahin nicht allein

auf die Niederschrift, sondern gleich auf das gesamte Feld der geschichtlichen

Überlieferung verzichtet, doch kamen sie dem tatendurstigen Louis auch diesem

Mangel entsprechend unglücklich vor. Ein richtiger Mensch konnte nach Louis'

Ansicht nur,,in der Geschichte leben", wie er es nannte. Ein Mensch ohne eigene

Historie war ein Unding - in Grunde gar kein Mensch. Das ließ Louis nicht zu.

Mit Feuereifer gab er Samoa seine Geschichte.

Dern Ph?inomen ,,samoanischer Geschichtsschreibung", das einen krassen Wi-derspruch in sich darstellte, stand Fanny von Anbeginn an skeptisch gegenüber

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Page 122: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

und wurde bald in ihren Zweifeln bestätigt. Doch die Eigenheiten, auf die Louis

und Fanny imZuge ihrer Unternehmung stießen, die lariosen Dinge, die sie bei-

läuhg - und von Louis, dem Geschichtsbesessenen, nahezu unbeachtet - erlebten,

wogen die Unsinnigkeit ihres neuen Zeitvertreibs in Fannys Augen doppelt auf.

Eines Tages hatten sie wieder einmal dem Dörfchen Valauli einen Besuch abge-

stattet, wo sie von Häuptling Laupepa persönlich auf das freundlichste bewirtet

wurden. Der Häuptling verstand nicht, weshalb der große Tusitala so viel Kunde

von ihm verlangte; er wußte ja nicht, daß alles nur zu seinem Besten geschah. Da

der mächtige Tusitala aber solch großen Wert auf seine Erzählungen zu legen schien,

trachtete der alte Mann nach Kräften danach, dem Ehrengast diesen Herzenswunsch

zu erfüllen. Indem er Hände und Füße zu Hilfe nahm, schilderte Häuptling Laupepa

alles, was Louis begehrte, während Fanny jedes Wort niederschrieb. Nur zu bald

jedoch kam Fanny das Ganze zunehmend eigenartig vor, insbesondere daruq wenn

sie ihre bei frtiherenBesuchen verfaßtenAufzeichnungen mit denen neueren Datums

verglich. Fanny war schon zu Ohren gekommen, daß die Samoaner weder eine Vor-

stellung von Zeitablauf noch Ahnenlinie,n besafJen, die sie weiter als ein Jahr ,gu-rückzuverfolgen" vermochten. Da sie zudern den schönen Brauch übten, ihre Kinder

untereinander auszutauschen, um andere Familien freundlich zu stimmen, wobei sie

l$ne Zert später oft alles über den Veöleib des eigenen Nachwuchses veqgaßen"

schien Fanny das Problem der,"A,hnenreihen" kaum zu bewältigen. Wie viele Halb-

wüchsige, so fragte sich Fanny später manchmal, mochten wohl im Kriege unwis-

sentlich ihre gesamte leibliche Familie ausgerottet und zu Trophäen verarbeitet ha-

ben, nur weil man sie als Kleinkinder an nette Besucher verschenkt hatte!

So wunderte es Fanny im Grunde nicht allzusehr, wenn sie bei näherer Betachtung

ihrer Notizen feststellen mußte, daß bei derselben Schlacht einmal 30, dann wie-

derum 300 Männer gefallen waren; daß dieselbe Schlacht einmal vor fünf Mona-

ten, ein andermal vor zehn Jahren stattgefunden hatte. Oder war es im letzten

Jatrhundert gewesen? Daß Samoaner Verwandtschaftsbeziehungen willktirlichformten, wußte sogar Louis und ignorierte diesen Umstand beharrlich. Wörter wie

,,Vater", ,,Neffe", ,,Sohn" waren absolut austauschbar; ,,Großväter" gab es keine,

was in einem Land ohne Zeit irgendwie auf der Hand lag. Ein gebeugter Greis

deutete offrnals auf einen wirzigen Knirps, der neben ihm im Schlamm spielte, und

erklärte stolz: ,,1\4ein Vater." Wohlgemerkl auf Samosnßch .. .

Louis' Begeisterung verflog aber keineswegs, sondern wuchs womöglich noch

im Zuge ihrer ,,Recherchen". Fanny brachte es nicht übers Herz, ihm von der

haarshäubenden Ungenauigkeit zu berichten, die sich vor ihrenAugen auftat, wenn

schon nicht vor Louis' Ohren. Statt dessen verlegte sie sich auf die Methode, bei

Zeit- und teilweise auch Ortsangaben einen brauchbaren, halbwegs plausiblen

Mittelwert auszurechnen.

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Im Dörfchen Lefanga, welches sie ebenfalls recht oft besuchten, hatte Häupt-

ling Mulinuu das Paar mit derselben auggesuchten Höflichkeit und Zu-vorkommenheit empfangen. Er versorgte sie natärlich mit seiner eigenen Versiongeschichtlicher Ereignisse. Längst schrieb Fanny nicht mehr jedes Wort mit, son-

dern malte Männchen auf das Papier oderbetrachtete die Dorfbewohner, während

Louis gebannt denAusführungen des Häuptlings lauschte. Zumindest seine Kennt-

nisse des Samoanischen erweiterten sich ungemein im Laufe ihrer Bemühungen.

Eines Tages hatte eine der Frauen Mulinuus ihren Sprößling vor Louis und Fanny

hingestellt und gefragt: ,,Du mögen?"

Louis öffnete den Mund und stand schon im Begnff, der Muffer des Kindes ein

knappes, aber höfliches Kompliment zu machen, als Fanny ihm atemlos zuvor-

kam: ,,Häßlich! Kind sehr häßlich! Weg damit!" Louis bekam den zur Schmeiche-

lei geöffneten Mund nur langsam wieder zu, so erstaunt war er, als er das unmög-

liche Benehmen seiner Frau mitansehen mußte. Im Gegensatz zu Fanny, die vonTamaitai vorgewarnt worden war, wußte Louis nichts über die Geste des Kinder-verschenkens an hohe, einflußreiche Persönlichkeiten. Bekundete man sein Ge-

fallen an dem betreffenden Kind, bekan man es ausgehändigt; sträubte man sich,

es auf der Stelle mitzunehmen, fand man es unweigerlich bei der Rückkehr auf der

eigenen Schwelle vor.

Im nachhinein hatte Louis sich nicht erbost gezeigt, daß Fanny ihm den neuen

Nachwuchs verwehrt halte. Zwar liebte er Kinder, ob braun, schwarz oder weiß,

doch um dieses hätte er sich wohl oder übel als Vaterinimmern müssen. So gern er

sich der Eingeborenenkinder annahm - das ging denn doch zu weit. Lieber wollteer jene Kinder vor dern Verhungern retten, die die Salomoninsulaner vor der Heim-reise zu Dutzenden auszusetzen pflegten, sofern die Eltern sie nicht einfach er-

schlugen. Daß die stolzen Samoaner, denen er die gefundenen Salomon-Kinder

anschließend zur Pflege anvertraute, die ,,kleinen schwarzen Tiere" mit ungleich

mehr Widerwillen annahmen, als Louis ihn bei Häuptling Mulinuus Nachwuchs

empfunden hätte, übersah er geflissentlich. Die Samoaner, denen er mithin die

eigentliche Last der Rettung aufbürdete, gehorchten ihrem Tusitala und zogen die

Findlinge nach besten Kräften auf; der große Tusitala sah es mit Wohlgefallen und

in der Überzeugung, daß jedennann auf eigene Weise seiner Christenpflicht Ge-

nüge tat.

Übrigens hatten sich weder Häuptling Mulinuu noch seine Frau pikiert gezeigt.

Tusitala mochte ihr Kind nicht - dafür mußte es einen triftigen Grund geben. Si-

cher war es möglich, den Kleinen einem nicht ganz so wählerischen Passanten,

der allerdings aus guter Familie zu stammen hatte, mit auf den Weg zu geben.

Fanny hatte nie herausgefunden, wie die Samoaner ohne Ahnenlinien und oft un-

ter völliger Unkenntnis, was Verbleib oder aber Herkunft von Nachwuchs betraf,

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mit solch traumwandlerischer Sicherheit zwischen ,,hohen" und ,,niederen" Sip-

pen unterscheiden konnten. Und das taten sie durchaus rigoros. Kurz nach dem

Einzug seiner Familie in das schöne neue Herrenhaus hatte Louis fürVailima eine

Büglerin eingestellt, ein nettes und anstelliges samoanisches Mädchen. Unmittel-

bar nach derAnkunft der Kleinen benahm sich die übrige Dienerschaft in höch-

stem Grade merkurärdig: Der Koch bereitete nur noch kalte Speisen zu, wenn es

ihm überhaupt einfiel, die Küche zu betreten; die Hausboys schlichen bedrückt

umher und stöhnten und seufzten dabei, als habe ihr letztes Stündlein geschlagen;

sogar Tamaitai und ihre Freundinnen bewegten sich so schleppend, als liefen sie

unter Wasser. An geregelteArbeit war demnach gar nicht zu denken. AufTusitalas

Frage nach der Ursache gaben alle bereitwilligst Auskunft. Die Büglerin war nicht

gesellschaftsfühig! Louis, der so gern gegen gesellschaftliche Mißst?inde Sturm

lief und soziale Ungerechtigkeit seit jeher mit Feuer und Schwert bekämpfte, tat

auch diesmal das einzig Konsequente und Kompromißlose, indem er das Mäd-

chen auf der Stelle wieder entließ. Fanny wußte, daß daran letztendlich kein Weg

vorbeiführte, und das arme Mädchen pflichtete der Meinung seiner Landsleute

sogar noch bei, indem es ,,gestand", aufgrund seiner schlechten Familie nicht in

den Haushalt zu passen. Fanny war jedoch über alle Maßen aufgebracht darüber,

daß Louis, störrisch wie ein Maultieq nicht zuzugeben bereit war, daß er auf die

Dauer nicht ohne warme Mahlzeiten leben und auch auf andere Bequemlichkeiten

nicht verzichten wollte, welche ihm durch die wohlgelenkte Arbeitskraft der Sa-

moaner zuteil wurden. Statt dessen hielt er eloquente Vorhäge darüber, daß er als

Europäer keinesfalls das Recht besäße, sich in das gesellschaftliche Leben einer

fremden Kultur einzumischen, geschweige denn Samoanern in dieser Hinsicht

Vorschriften machen zu wollen. Fanny gltihtevor Zom, das Mädchen verschwand,

alle waren so glücklich wie ehedem und beendeten einen Zustand, der natärlich

keinerlei entfernte Ahdichkeit mit einem Streik besessen hatte ... und Louis, der

Rebell, bekam wieder sein heißes Süppchen.

Das Ergebnis der Geschichtsschreibungsbemühungen fiel am Ende doch noch

überraschend ansehnlich aus, was nicht zuletrzt atuf zvtei grundlegende Vorschläge

von Fannys Seite zurückzuführen war. Ztm einen brachte sie vor, man könne die

geplanten,,Fußnoten" zur samoanischen Historie auf einen Zeitraum von, nun ja,

zehn Jahren begrenzen, statt eine Einteilung in Urspränge, Mittelalter und Neuzeit

vorzunehmen. Das Auftauchen der berühmten ,,peasoup-u"-Blechdose am histo-

rischen Horizont kam dabei allerdings auch für Fanny nicht in Betracht. Ztxn an-

deren überzeugte Fanny ihren Gatten, der mittlerweile über schier unüberschau-

bare Reserven von gesammelter Kunde verfügte, von der augenfülligen Tatsache,

daß man eine echt samoanische Chronik am besten mit dem ersten wirklich pro-

blematischen Aufeinanderstoßen von Insulanern und weißen Kolonialherren be-

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ginnen lassen mußte. Erstens, so dachte Fanny im stillen, wurde bloß durch das

Eingreifen derWeißen die Geschichte desArghipels wirklich interessant-zumin-dest in den Augen der britischen kser. Louis betrieb die Geschichtsschreibung

zwar für die Samoaner, ,,verkaufte" ihre Geschichte jedoch immerhin an Europäer

und Amerikaner. Zweitens konnte man, wenn man die Zeitrechnung derart ein-grenzte, weiße Zeugen der Geschichte zu Rate ziehen. So stur, bomiert, eingebildet,

rassistisch, einseitig und parteiisch diese Zeitzevgen sein mochten - abgesehen

davon, daß das läihmende Klima auch ftrer historischen Gesichtskreis erheblich

schrumpfen ließ -, sie besaßen gegenüber den Samoanern einen ungeheuren Vor-

teil, der sich im Volksmund ,,Kalender" nannte ... All das sagte Fanny nicht laut,

und auch den Hauptgrund für ihre Vorschläge gab sie nicht preis: Bei aller Zunei-

gung zu den Insulanern zog Fanny das gernütliche Beisammensein mit wetter-gegerbten Seebären, leidgeprüften Missionaren, ältlichen Fräulein und manchmal

sogar dem weißen Abschaum von Apia der Gesellschaft der Samoaner vor. Sie

schämte sich dieser,,typisch weißen" Schwäche, aber sie konnte nichts daran än-

dern.

Niemand kannte so gut wie Fanny den walnen Auslöser für Louis'besessene

Chronistentätigkeit. Die historische Grundlage und Einbettung, die Louis den Sa-

moanern schenkte, war für diese Menschen ungeführ so nützlich wie ein dritterFuß. Für Louis dagegen erwies sie sich als absolut lebenswichtig. Er wohnte aufeiner Insel ohne Zeit und Geschichte, in einem Chaos und zugleich in einem Va-

kuum. Von Kindesbeinen an nahezu zum Bersten mit schottischer Historie ange-

füllt, mit der erdachten seines Vorbildes Sir Walter Scott ebenso wie mit der tat-

sächlichen Geschichte seines eigenen Klans, därstete Louis danach, historischen

Boden unter die Ftiße zu bekommen. Der samoanische Archipel hatte offenbar

keine nennenswerten Daten und Fakten zu bieten; der Strom der Zeit floß hier

ungehindert, unkontrolliert und völlig hemmungslos dahin. Also mußte der Ro-

mancier sich ans Werk begeben, der seinen Lebensunterhalt auf der Grundlage

geschichtlicher Werke bestritt - im wahrsten, unmittelbarsten Sinne des Wortes.

Es galt sich inmitten des zeitlichen Durcheinanders, das gem?iß seinem Empfin-

den der Lage dem erstickenden Wirnvan des Dschungels mindestens ebenbürtig

erschien, ein wenig Lebensraum und Atemluft zu verschaffen. Louis mußte das

Chaos in Ordnung verwandeln, um das eigene Überleben zu sichern.

So war Louis ganz folgerichtig darangegangen, durch den Urwald der Zeit eine

Schneise zu hauen, sich eine Lichtung zu schaffen, die er roden und mit nützlichen

Gewächsen bepflanzen konnte. Daß er bei diesem Rodungs- und Kultivierungs-

feldzug allerlei Nebeneffekte in Kauf zu nehmen hatte, störte ihn nicht. Wichtig

war allein, daß er Platz für seine Schößlinge schuf, daß er sie wachsen und nach

seinem Plan gedeihen sehen durfte. Das Saatgut, das er zur Hand hatte, waren die

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oftmals falschen, stets willhirlich aufgebauschten Erztlhlungen der Häuptlinge,

die ihn freigebig und höflich mit Nachschub versorgten. In der von Louis angeleg-

ten Lichtung innerhalb der Zeit trieben diese Samen die phantastischsten, tollsten

Blüten. Auch sie taugten im Grunde zu nichts, waren bestenfalls hübsch anzuse-

hen. Was zählte, war die Tatsache, daß der von Louis angelegte bunte Blumen-

teppich sich von dem Dschungel um ihn her aufdas deutlichste unterschied - so

deutlich wie der steichholzkurze Rasen im umzäunten Herzen von Vailima. In

dieser Zeit, obgleich von ihm geschaffen, war er ebensowenig wirklich daheim

wie an diesem von ihm hervorgebrachten Ort, aber ein Mensch wie er vermochte

in beiden wenigstens ar existieren. Wenn Louis'eigene historische Wurzeln sich

auch in Schottland befanden, hatte er doch höchstpenönlich dazu beigetragen,

sich die Insulaner, seine ihm vom Schicksal aufgedräingten Nachbarn, zu ,,Zeitge-

nossen" heranzuzüchten. Nur so ließ die Gegenwart sich ertragen - auch die Ge-

genwart der Samoaner. Indem er diesen Schemen historische Gestalt verlieh, ge-

lang es ihm, sie zu beriihren und als Menschen wahrzunehmen. Der Dschungel

der Geschichtslosigkeit wich Louis' sorgsam bepflanzter Lichtung, den

ungebändigten Strom der Zeit zwZingte Louis in seinen geraden, ordentlich von

Punkt zu Punkt verlaufenden Kanal. Und in derselben Weise, wie die geographi-

sche Lage der Inseln von europäischen Kartographen nach Längen- und Breiten-

graden bestimmt worden war, stopfte nun Louis die Vergangenheit des Archipels

in ein zeitliches Koordinatensystem. Da für Louis, den Romantiker, das Wort

,,Geschichte" immer nur die Historie der Menschen beinhalten konnte, hieß das

auch, daß er Samoas Menschen gleich wilden Vögeln ein Netz überwarf, bevor

sie am Ende noch auf die Idee verfielen, seinen Emrngenschaften entwischen zu

wollen.

Doch nun, nach jahrelangen Bemühungen, hatte Louis selbst sein einstmals

liebstes geistiges Kind verstoßen. An diesem Morgen hatte er das Fanny gegen-

über bekannt.

,,Ich glaube nicht, Fanny, daß die Eingeborenen von irgendeiner meiner Phan-

tastereien wirklich zu profitieren imstande sind - geschweige denn, daIJ sie auch

nur den geringsten Anteil daran nehmen. Ich vergeude lediglich meine Zeit."

,,Als Zeitvergeudung würde ich all die Anstrengungen, die du unternommen

hast, aber nicht bezeichnen", hatte Fanny ihm daraufhin erwidert und es auch so

gemeint. Nur vertrat sie dabei dieAuffassung, daß Louis selbst mehr durch seine

zivilisatorischen Bemühungen gewann als die Nutznießer, die er im Auge zu ha-

ben glaubte. Er erhielt auf dieseArt sein inneres Gleichgewicht aufrecht, was Fanny

weitaus wichtiger erschien.

Doch Louis' Glauben an seine gottgegebene Mission wankte nicht bloß; er war

vollends dahingeschmolzen.

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,,Du willst mich nur beruhigen, Fanny", hatte er leise gesagt und traurig dazu

gelächelt. ,,Aber es stimmt leider: All die weißerrldeen, die ich diesen Menschen

aufzwingen wollte, sind für sie überflüssig bis zum Rande der Lächerlichkeit. Ju-

risprudenz, Geschichte, Politik, ja vielleicht sogar Religion - samt und sonders

abstrakte weiße Theorien, hohle Phrasen, leeres Geschwätz. Nutzlos." Plötzlich

hob Louis den Kopf und sagte mit betont fester Stimme, so als hätte er sich nach

langem Ringen endlich zu Großem entschlossen: ,,Ich werde den Menschen hier

etwas Handfesteres geben, Fanny."

Fanny hatte sofort verstanden, was Louis damit meinte, und war innbrlich ent-

setzt. Seine Rodungsarbeiten wärden jetzt also weitergehen, womöglich mit ver-

doppeltem Einsatz. Auch das Straßenbauunternehmen hatte Louis keinen Moment

lang aus denAugen verloren. Fanny vermochte nicht zu erklären, warum sie der

Gedanke an diese,,handfesteren"Vorhaben dermaßenbeängstigte - immerhin war

Louis sein Leben lang keiner von den zahllosen Schriftstellern gewesen, die sich

damit begnügten, die Feder zu schwingen, und ansonsten aufjede löibliche Betä-

tigung verzichteten. Louis hatte sich von Jugend an größten körperlichen An-

strengungen unterzogen und sich, wenn Not am Mann war, als Matrose, Bergstei-

gerund Lastenkuli abgemüht. Sein geplanterFeldzug gegen den Dschungel dieser

Insel aberjagte Fanny Angst ein. Sicher war sie unbegründet, doch das änderte

nichts an ihrer Stärke und bohrenden Behanlichkeit.

Nicht zuletzt deshalb hatte Fanny heute wieder ihren Lieblingsplatz aufgesucht,

ihre winzige Lichtung mit demAusblick auf die See und, wenn man sich ein klein

wenig verrenkte, auf den Hafen vonApia. Sie war allerdings nicht dorthin aufge-

brochen, um ihre überreizten Nerven zu beruhigen, ihre Angste zu vergessen, in-

dem sie sich in die Schönheiten der Natur vertiefte. Das Gegenteil war der Fall:

Fanny beabsichtigte, sich dem Gegner Urwald auf ihre eigene Weise zu stellen.

Während sie ihre Staffelei an jedem anderen, frtiheren Maltag so plaziert hatte,

daß sie von ihrem leinenen Faltstuhl aus das Meer sehen konnte und ihr Motiv

somit beinahe zwangsläufig eine Mischung aus Blau und Grün darstellte - näm-

lich aus Himmel, Pflanzenwelt und Wasser -, hatte sie das sperrige kleine Holzge-

rüst heute völlig anders ausgerichtet. Um exakt 180 Crrad gedreht, zurang es den

Maler fürmlich, den Dschungel und nichts als den Dschungel im Blick zu behal-

ten; und genau das war es, was Fanny bezweckte. Vergessen war heute der Hafen

von Apia. Himmel und Meer galt es zu ignorieren. Fanny behielt die undurch-

dringliche, wuchemde grtine Wand des Urwalds im Auge und bildete sie auf ihrer

Leinwand getreulich ab. Es gab keinen blauen Himmel auf Fannys Gemälde, denn

den hätte sie nur gesehen, wenn sie den Kopf in den Nacken gelegt hätte, und

keinen Erdboden, weil die Lianen des Waldes mit den bodenkriechenden Schling-

pflanzen eine verschworene, aufs innigste verflochtene Einheit bildeten, die

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menschliches Sehvermögen und menschlicher Verstand nicht auseinanderhalten

konnten. Was Fanny auf diese Weise unfehlbar wiedergab, war eine kompakte

grüne Wand, die sich vom oberen bis zum unteren Rand der Leinwand erstreckte,

ohne Lücke, ohne nennenswerte Erleichterung für den Blick des Betrachters. Gewiß

bestand die grtine Mauer aus unendlich zahlreichen Schattierungen, aus Hunderten,

nein Tausenden von unterschiedlichen Faötönen, wenn man aufrnerksam hinsatr und

sich konzentrierte. Fannyjedoch hatüe vor langer Zeit schon aufgehörl die atnende,

sich ständig verstohlen bewegende Wand vor ihr als ,,Landschaft" watrrannehmen.

Sie registrierte die Nuancen und übertug sie mit beinatre übertriebener Präzision auf

ihre Leinwand. Ihre Genauigkeit hatte allerdings nichts mit ktinstlerischer Hinge-

bung zu tun, schon gar nichts mit jener Inspiration und Leidenschaft, welche sie bei

Fontainebleau, in der Bucht von San Francisco und anfangs sogar aufdieser Insel

beseelt hatten. Fanny prtigte sich jedes Merkmal mit Verbissenheit und Ingrimm ein,

so wie man die körperlichenAttribute eines Gegners studierte, gleichgtiltig, ob man

ihn bekäimpfen oder ihm lediglich weise ausweichen wollte. Stundenlang hockte sie

vor dem grünen Wall und malte, indem sie abwechselnd zwei Pinsel benutzte. Wdh-

rend sie mit dem einen arbeitete - meist dem dickeren Borstenquast, dsn sie zum

Auflragen einer einheitlich gränen Grundschicht verwendete -, hielt sie den jeweils

anderen fest zwischen den Zähnen. Einmal, als sie sich eine kurze Pause gönnte,

bemerkte Fanny, daß der krampftrafte Griff ihrer Kiefer einen tiefen Abdruck im

Holz der beiden Stiele hinterlassen hatte. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Den

dtinneren Pinsel, mit dem sie die Feinheiten des Blattwerks, der Lianen und der Blü-

ten herausstrich, hatte sie, ohne es im geringstenzu fühlen, um ein Haar durchgebissen!

Erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr sie das Motiv ibrer Malerei verabschzute.

Während sie weitermalte, suchte sie sich Rechenschaft über dieses Gefühl der

Feindseligkeit abzulegen. Sie empfand dem Dschungel gegenüber weder die Angst

der Eingeborenen, die ihn als Geburtsstätte wie als Schlupfloch der heim-

tückischsten Dämonen betrachteten, noch den mit Furcht gepaarten Widerwillen

ihres Mannes, der den übermächtigen Gegner unter Einsatz von Waffengewalt

zum endgültigen Duell herauszufordem beabsichtigte. Fanny wünschte sich kein

zweites Schottland wie Louis. Sie pflegte nicht von Entsetzen gepeinigt durch den

Dschungel zu laufen wie die abergläubischen Samoaner. Der Urwald stellte für

Fanny sehr wohl eine Art von lebender Kreatur dar: Nur ein Blinder und Tauber

war imstande, die pulsierende Energie dieses gigantischen grünenWesens zu igno-

rieren. Wenn es denn tatsächlich Däimonen in ihm gab oder aber einen mächtigen

Geist, der gewissermaßen für den Urwald ,,ruständig" war, focht er Fanny nicht

an - er tat ihr nichts zuleide, und sie fürchtete sich nicht vor ihm.

Angst war es demnach nicht, was Fanny angesichts der grünen Mauer vor ihr

empfand. Wenn sie aber die Schlingpflanzen, die Fleischfresser und die Boden-

r3r

Page 129: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

kriecher eingehender betrachtete, deren schleimig-glitschige Oberfläche sie sogar

aus erheblicher Distanz noch ausmachen kongte, wußte sie, dalJ es der schiere

Ekel war, der sie am Hals gepackt hielt und best?indig würgte. Diese Pflanzen, die

auf der Insel so rasend schnell wuchsen, daß sie sich immerfort zu bewegen schie-

nen- ganz abgesehen von jenenArten, die sichwahrhaftig in begrenztem Maße

bewegten -, hatten Fanny auf ihren einsamen Wanderungen schon oft gestreift

und manchmal beinahe dazu gebracht, sich zu übergeben. Jede unvennutete Be-rührung ihrer schmierig-feuchten grünen Gliedmaßen löste in Fanny äußersten

körperlichen Abscheu aus, dem sie nicht zu gebieten vermochte. Also wich sie

ihnen aus, so gut es eben ging, und mit der Zeit hatte Fanny gelernt, sich von ihnen

nicht mehr derart mühelos aus der Fassung bringen zu lassen. Außerdem war sich

Fanny bewußt, daß es nicht die Pflanzen an sich waren, welche ihr dieses über-

mächtige Ekelgefühl einflößten. Nicht einmal der Schleim machte ihr im Grunde

etwas aus. Auch Schnecken waren schleimige Tiere, und in Frankrcich hatte sie

sich im Kreise ihrer schlemmenden Kifurstlerfreunde wahren Orgüen der Vertil-gung von Weinbergschnecken hingegeben. Nein, das hier war etwas anderes: das

Prinzip der unerbittlichen, unmäßigen, schranken- und gnadenlosen Fruchtbar-

keit, das hinter dem Wachstum all dieser gränen Monstrositäten stand. Sie warkeineswegs der erste Mensch, der den Dschungel so sah, noch würde sie der letzte

Mensch sein, der den Urwald als Lebensquelle begriff. Fanny hatte in ihrem Le-

ben genügend Gebiete voller tropischer Vegetation besucht, um zu wissen, daß

unglaublich vieleVölker den Dschungel als Ursprung des Wachstums betrachteten.

Doch zahlreiche Kulturen teilten in demselben Maße Fannys Widerwillen, der

demzufolge nicht einfach den Abscheu einer einzelnen zivilisierten weißen Frau

darstellen konnte. Die Samoaner beispielsweise besaßen wie jedes Volk in Poly-

nesien oder Europa ihre eigenen Fruchtbarkeitsriten, die für reichen Kindersegen

sorgen sollten - doch um keinen Preis hätte ein Samoaner sich dazu hinreißen

lassen, besagte Riten im Herzen des Dschungels zu zelebrieren ...Fanny konnte ihren Abscheu zwar nicht leugnen, doch wäre sie andererseits,

im Gegensatz zu Louis, niemals auf die Idee verfallen, den Auslöser ihres Ekel-gefühls einfach auslöschen zu wollen. Erstens schwankte die St?irke ihrer Abnei-gung von Tag nt Tag, so daß sie sie oftmals gar nicht empfand oder zumindest

nicht darüber nachgrübelte; zweitens akzeptierte sie widerspruchslos die Über-

macht des Dschungels, der immer schon dagewesen war und triumphierend aufder Insel zurückbleiben würde, wenn Louis und sie l?ingst tot und begraben waren.

Sie, Fanny, mußte sich notgedrungen anpassen, nicht der Dschungel. Es war imGrunde genornmen dasselbe Problem wie mit /oi, derAmeise: Man mochte sich

manchmal vor dem Tierchen ekeln, doch man wußte schließlich, daß man es nie

würde zur Strecke bringen können. Loi drarry durch jede Ritze, sosehr man sich

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auch bemühte, sein Heim gegen /ors unwillkommenen Besuch abzudichten und

für sich allein zu beanspruchen. Ebensowenig gelang es dem Menschen im Endef-

fekt, sich gegen den Urwald zu verbarrikadieren. Loi war winzig, der Dschungel

riesengroß; beide bezwangen den Menschen auf ihre Art.Stunde um Stunde hatte Fanny auf diese Weise an ihrem Urwald-,,Porträf'ge-

arbeitet, malend und grübelnd, Mit dem schmaleren ihrer beiden Pinsel wob sie

hier und da weiße und rote Kleckse in den grtinen Wandteppich: Orchideen, deren

gewaltige Größe und Ausprägung den Betachter an offene, stets hungrige Mün-

der erinnerten. Fanny mochte nicht behaupten, die Blumen seien ihr,,nicht geheu-

er" - das wäre denn doch eine Übertreibung gewesen, Am unmittelbaren Ort ihrer

Entstehung aber widerten auch sie Fanny an. Erst zu Hause in Vailima wärde es

ihr wieder gelingen, an den einzelnen Blüten jene exquisite Schönheit wahrzuneh-

men, die sie an den Unvaldgewächsen nicht mehr schätzen konnte. Nachdem Fanny

den letzten Farbtupfer angebracht hatte, empfand sie eine tiefe Genugtuung, näm-

lich das Gefühl, der Lösung ihres eigenen ,,Dschungelproblems" ein gutes Stäck

nähergerückt zu sein.

Während sie ihr neuestes Machwerk, das sie vielleicht sogar in ihrem Zimmer

aufzuh?ingen gedachte, vorsichtig in Bananenblätter wickelte, entsann sie sich

anderer Anlässe, mit Hilfe der Malerei persönliche Schwierigkeiten aus der Welt

zu schaffen. Nachdem aus Louis seinerzeit der große Tusitala geworden war und

aus Fanny -ja, was denn nur? -, da hatte sich Fanny kurzerhand ihre Staffelei

unter den Arm geklemmt und war in den Dschungel hinausmarschiert, um im Schut-

ze ihrer kleinen Lichtung ihr wohl verrücktestes Bild zu malen: ein Selbstporhät,

und zwar das erste und einzige seinerArt. Ein kleiner Taschenspiegel hatte ihrdabei genügen müssen. Daheim standen ihr damals alle Annehmlichkeiten zur

Verfügung, nicht zuletzt ihr großer, dreiseitiger, ausklappbarer Ankleidespiegel.

Doch ,daheiil", h Tusitalas Palast, hätte sie zu jener Zeit nicht zu malen ver-

mocht - geschweige denn herauszufinden, ob irgendeines der drei Gesichter im

Spiegel überhaupt noch ihr gehörte. Diese Frage hatte sie erst in der Einsamkeit

der Wildnis zufriedenstellend beantworten können.

Nun, mit ihrem neuen Werk im Gepäck und schweißüberströmt, mühte sich

Fanny weiter und weiter den Fußpfad nach Vailima hinauf und hoffte, daß der

Weg sie endlich an ihr Ziel bringen möge. Die Vorstellung, hier vor Erschöpfung

zusammenzubrechen und womöglich hilflos zu Boden gestreckt auf Rettung war-

ten zu müssen, flößte sogar Fanny Angst ein. Sie blieb für einen Augenblick ste-

hen und richtete sich auf, um Kraft zu sammeln. Plötzlich vernahm sie ganz in

ihrer Näihe leise Fußtritte. Noch konnte sie den Näherkommenden nicht sehen,

denn der schmale Weg beschrieb unmittelbar vor Fanny eine Biegung. Daß der

Entgegenkommende ein Eingeborener war, hörte sie art Geräusch der Schritte.

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Bedingt durch die Nähe der beiden gegenüberliegenden Dschungelwände und der

Blätterkuppel, die den Pfad bedeckte wie die Überdachung eines mittelalterlichen

Wehrganges, klang jedes Geräusch beinah unnatürlich gedämpft. Zudern hel an die-

ser Stelle nw spärliches Licht durch den grtinen Himmel, gerade genug, um bedäch-

tig einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne pausenlos über Wurzeln zu stolpern.

Die Tritte unbeschuhter Füße näiherten sich Fanny unaufhaltsam, doch in höchst

unregelmäßigem Rhythmus, so als könne der Entgegenkommende sich nicht ent-

schließen, ob er schnell oder langsam gehen solle. Fanny, die noch immer auf der

Stelle stand, um zuAtem zu kommen, fühlte die eigentämliche Unruhe in diesen

Schritten, die alle Eingeborenen an den Tag legten, wenn sie den Urwald mutter-

seelenallein durchqueren mußten.Yor Fanny fürchtete sich der andere sicher nicht;

er konnte die geräuschlos Wartende schließlich noch gar nicht wahrgenommen

haben. Fanny ihrerseits verspürte keine Angst. Nachdem der aufständische Usur-

pator Tamasese, dessen Drohungen gegen die Weißen sie nicht unbe-oindruckt ge-

lassen hatten, von den weißen Schutanächten in seine Schranken v'erwiesen wor-

den war, hielt Fanny jede weitere Aufregung für überflüssig. Zrxn Glück war es

selbst in der,,heißen" kriegerischen Phase nie zu irgendwelchenAusschreitungen

gekommen - zumindest nicht in der Umgegend von Vailima. Nun wirkte der Ur-wald in dieser Hinsicht wieder sicher wie Abrahams Schoß; und wovor sollte sich

Fanny sonst fürchten? Dämonen, die ihr derart zögerlich und am ganzen Leibverkrampft entgegenkamen wie das Exemplar jenseits der Wegbiegung, würden

ihr schwerlich ein Leid zufügen können. Ruhig harrte Fanny des Ankömmlings.

Das junge Mädchen, das wenige Sekunden später die Biegung umrundete und

plötzlich, ohne die leiseste Warnung, Fanny gegenüberstand, erstarrte au-

genblicklich vor namenlosem Entsetzen. Das Überraschungsmoment befand sich

also eindeutig auf Fannys Seite - ein ,,Vorteil", den sie weder bedacht noch imentferntesten herbeizuführen beabsichtigt hatte, denn das arme Geschöpf vor ihrvermittelte den Eindruck, als wolle es vor Grausen den Geist aufgeben. Beschwich-

tigend hob Fanny die Hände, um dem Mädchen zu verstehen zu geben, daß keine

Gefahr von ihr ausging. Gottlob beruhigte sich die junge Samoanerin bald wieder.

Die Erleichterung darüber, ein anderes menschliches Wesen angetroffen zu haben,

war dem Mädchen unschwer anzumerken. Tief hob und senkte sich ihr Brustkorb,

während sie ihren keuchenden Atem und ihren zweifellos rasenden Puls wieder

halbwegs unter Kontrolle zu bringen versuchte. Anstatt jedoch anschließend inein befreites, kindliches Kichern auszubrechen, wie es eingeborene Frauen in Si-

tuationen wie der jetzigen gewöbnlich taten, reagierte dieses Mädchen, dem Fanny

im übrigen nie zuvor in der Nä\e von Vailima begegnet war, völlig unerwartet.

Sobald sich die junge Frau notdürftig beruhigt hatte, kniffsie die Lippen zusam-

men, warf trotzig den Kopf in den Nacken und schickte sich an, hocherhobenen

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Hauptes an Fanny vorüberzurauschen. Diese auf Samoa unerhörte Unhöflichkeit,

gepaafi mit dem äußeren Erscheinungsbild der Eingeborenen, erinnerte Fanny an

einen unl?ingst vernomm!nenAusspruch. Sie musterte den ungefärbten, schmuck-

losen Lavalava des Mädchens, ihr Haar, in dem nicht eine einzige Blüte steckte,

und wußte mit einem Male, wen sie vor sich hatte.

,,Talofa, Soenga", begrtißte sie die Enteilende fast beiläufig. Langsam drehte

sie sich um und schaute der Fremden nach.

Es handelte sich in der Tat um Soenga, denn die junge Frau blieb unvermittelt

und wie angewurzelt stehen. Erst wandte sie den Kopf in Fannys Richtung, dann

nach und nach den ganzen Körper, bis sich beide FrauenAuge inAuge gegenüber-

standen. Fanny fragte sich im stillen, ob Soenga ihren GrulS erwidem würde und

ob sie ihr in diesem Falle auf Englisch zu antworten geruhte oder aber auf Samoa-

nisch. Sie hoffte, Soenga möge englisch mit ihr reden, denn Fannys Kenntnisse

des Samoanischen waren selbst jetzt, nach über vier Jahren, noch immer bekla-

genswert lückenhaft . Fanny lächelte einladend.

,,Talofa, weiße Frau", entgegnete Soehga ihr dann wirklich, wenn auch nach

einer halben Ewigkeit. Sie preßte die Worte fürrnlich zwischen den Zähnen her-

vor. Fanny fühlte sich trotzdem geehrt, denn dies war sicher mehr der Aufmerk-

samkeig als Soenga weißen Wesen im allgemeinen angedeihen ließ. ,,Woher kennst

du meinen Namen?" verlangte das Mädchen nun zu wissen.

,,Du bist eine bekannte Persönlichkeit aufUpolu, Soenga." Fanny afrnete inner-

lich auf, daß Soenga in der für sie fremden Sprache zu ihr redete, wenn das Mäd-

chen sie auch, wie es allgemein hieß, vollendet beherrschte. Ein gutes Zeichen.

,,Du gehst diesen Weg ganz allein, weiße Frau", fuhr Soenga mit heiserer Stim-

me fort. ,,Glaubst du nichto du hast allen Grund, Angst zu haben?" Ihr trotziger

Tonfall täuschte Fanny nicht dartiber hinweg, daß Soenga sich zutiefst ihrer Schwä-

che schämte, selbst so viel Furcht gezeig! zu haben - obendrein ausgerechnet vor

einer verhaßten Weißen.

,,Ich habe auf der garwen Strecke niemanden außer dir getroffen, Soenga. Bei-

nah habe ich es bis nach Hause geschaft, und nun hoffe ich von Herzen, du tust

mir hier im Wald nichts zuleide." Fanny verzog bei ihren Worten keine Miene und

senkte ihre Stimme zu einem fast unterwärfigen Wispern.

,,Warum in allerWelt sollte ich dirdenn etwas antun, weißeFrau?" fragte Soenga

gedehnt und amüsiert. Fannys Taktik zeitigte den gewünschten Erfolg: Soenga

durfte sich Fanny gegenüber gönnerhaft geben und ihren eigenen peinlichen Man-

gel an Haltung vergessen. Das hob ihre Laune; die Feindseligkeit verschwand.

Soengas Reaktion belohnte den kleinen Kunstgriff.

,,Es heißt allgemein, du seist auf weiße Menschen nicht gut zu sprechen. Ich

wußte nicht, wie weit deine Abneigung geht.'Noch immer benahm sich Fanny

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betont devot. Das fiel ihr nicht leicht, doch sie hofte, es würde sich am Ende

auszahlen.

Soenga ging auf Fannys Bemerkung nicht ein. Statt dessen zeigte sie mit einer

wegwerfenden Handbewegung auf das Bündel von Holzstangen, das Fanny vor

sich auf dem Boden abgelegt hatte. Ein herablassendes Lächeln erschien auf ih-

rem Gesicht.

,,Wolltest du damit etwa Tamaseses Männer abwehren, werul es ihnen doch

noch einfallen sollte, weißen Leuten den Kopf abzuschlagen?" Obgleich der In-

halt ihrer Bemerkung nicht eben freundlich schien, hörte Fanny deutlich, daß das

Mädchen nur scherzte. Soenga war nähergekommen; ihre nackten Zehen spielten

mit Fannys Handwerkszeug. Sie war offenbar neugierig!

,,O nein. Das wtirde mir wohl kaum gelingen", gab Fanny zurück. ,,Das da ist

nur meine Staffelei," Im selben Moment fiel ihr ein, daß Soenga mit dem Wort

watuscheinlich nicht viel anfangen konnte, und fügte hastig hinzu: ,,Das ist ein

Gerüst, auf das man eine Leinwand stellt, damit . . ."

Aber Soenga fegte Fannys Erklärungsversuch mit der linken Hand schlichtweg

beiseite. ,,Ich weiß sehr gut, was eine Staffelei ist", meinte sie trocken, und ein

leiser Hauch der alten Feindseligkeit kehrte zurück. Sei geftiUigst besser auf der

Hut, schalt Fanny sich selbst insgeheim.

,,Deine Kenntnis überrascht mich, Soenga, denn ich muß auch vielen weißen

Leuten hier manchmal lange erläutern, was es mit dem komischen Haufen Brenn-

holz auf sich hat. Die meisten lachen dann über meinen merkwürdigen Zeitrer-

treib." Das war eine glatte Lüge, was vielleicht sogar die aufgeweckte Soenga

ahnte. Nichtsdestoweniger zeigte ihrGesichtzurAbwechslung einunmißverständ-

lich freundliches Lächeln. Erstjetzt sah Fanny, was für eine bildschönejunge Frau

da vor ihr stand. Ihre Zige strahlten nach dem überstandenen Schrecken mittler-

weile Ruhe und Gelassenheit aus - aber keineswegs den üblichen ergebenen, an

Stumpfsinn grenzenden Gleichmut ihrer Geschlechtsgenossinnen auf dieser Insel.

Soengas Antlitz wirkte jugendlicher als die oft vorzeitig schlaffen Gesichter ande-

rer, weit jüngerer Mädchen. Die trotz der Schwüle hellwache Intelligenz, die in

ihrem hübschen Kopf arbeitete, spiegelte sich in ihren blitzenden Augen wider;

ihre Energie ließ es nicht zu, daß Wangen und Mundwinkel kraftlss herabfielen

wie bei vielen Insulanern, die durch den auff?illigen Mangel an Vitalität selbst im

Wachzustand eher Schlafivandlem glichen.

,,Der Pater in der französischen Mission pflegte auch immer zu malen", mein-

te Soenga spöttisch. Fanny glaubte allerdings zu bemerken, daß die Ironie in

ihrer ansonsten wohlklingenden Stimme sich gegen besagten Pater richtete,

nicht gegen Fanny. Soengas anschließender Kommentar bestätigte FannysVer-

mutung.

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,per Pater ist aber, soviel ich weiß, nicht ein einziges Mal in den Dschungel

hinausgegangen, um zu malen. So etwas wäirdihm nie in den Sinn gekommen. Erhat die Mission sowieso kaum verlassen." Fanny vermeinte aus Soengas Worten

oine Mischung aus Geringschäeung und ausgeprägtem Widenvillen herauszuhören.

Sie selbst ,,kannte" den Pater nur oberflächlich.

,,Was für Motive malt er denn dort?" fragte sie Soenga und konnte sich die

Antwort bereits denken. Was gab es innerhalb einer Missionsstation schon Inter-

essantes zu malen?

Soenga lachte laut auf. ,,Immer dasselbe. Braune M?idchen in weißen Kleidern,

die Tee servieren. Seine Kirche. Die Nonnen. Braune Mädchen, die Spit-zentaschentiicher besticken. Am liebsten mag er braune Mädchen mit Gebetbuch.

lch war sehr oft sein Modell. Watrscheinlich, weil ichsofromm aussehe ..."Unvermittelt erstarrte Soengas hübsches Gesicht zu einer undurchdringlichen

Maske. Welche Wahrheit sich hinter dieser Fassade wie auch Soengas rätselhaf-

tem letzten Satz verbergen mochte, wollte Fanny lieber nicht ergründen. Sie muß-

te daran denken, auf welch extravagante Weise manche Männer, ihr Gatte einge-

schlossen, ,,praktiziertes Christentum" deuteten, und zog es vor zu schweigen.

Aber es fröstelte sie plötzlich.

,,Manchmal, wenn ein Ordensbruderaus Frankreichbei uns ankam", fuhr Soenga

fbrt, ohne daß Fanny sie dazu auffordem mußte, ,,oder wenn es irgendeinen wei-ßen Reisenden zu uns verschlug, hat der Pater seinem Gast eines seiner scheußli-

chen Gemälde mitgegeben. Ein Bild geradewegs aus dem Paradies, zur Erbauung

für die Weißen in der Feme. Pah!" Des letzten Ausrufes hätte es gar nicht bedurft,

um Soenga ihre abgrundtiefe Verachtung anzumerken. ,,Der Pater hat nie etwas

begriffen."

Obwohl Soenga sich lediglich in Andeutungen erging, kam Fanny mehr und

mehr zu der Überzeugung, daß sie selbst die erste Person war, weiß oder farbig,

der das Mädchen seit ihrer Rückkehr aus der Zivilisation von ihren Erlebnissen

dort berichtete. Und da sie Soenga im Grunde nur einen winzigenAnstoß gegeben

und schon damit einen regelrechten Redeschwall ausgelöst hatte, lag auf der Hand,

wie dringend es die stolze, unnahbare Soenga danach verlangte, sichjemandem

zu öffnen. Daß sie unter ihren Stammesgenossen aufgrund ihrer Bildung nichtlänger einen geeigneten Menschen finden konnte, war eing traurige, aber keines-

wegs erstaunliche Wahrheit.

,,Ich fürchte, du mußt in dieserAngelegenheit nachsichtig mit uns Weißen sein",

tastete sich Fanny vorsichtig über den schmalen Grat, auf dem sie sich keinen

Fehltritt erlauben durfte, wenn sie Soengas Zutrauen nicht für alle Zeit wieder

verlieren wollte. ,,Wir sind Fremde auf deiner Insel. Fremde wissen nicht, wie sie

sich fern der eigenen Heimat verhalten sollen - und dann tun sie genau das Fal-

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sche. Was das Bilderverschenken angeht ... ich muß gestehen, daß auch ich michin der Vergangenheit dieses Verbrechens schuldig gemacht habe."

Soenga legte den Kopfschief, und ein koboldhaftes Lächeln erschien aufihremGesicht. ,,Ich glaube aber nicht, daß du im Dschungel allzu viele meiner Lands-

leute finden kannst, die dir hier geduldig Modell sitzen. Deshalb wirst du wohl

etwas anderes malen als die übrigen weißen Leute."

,,Das ist wahr", gab Fanny zurück und mußte daran denkpn, daß es in Ma-lerkreisen seit wenigen Jahren geradewegs in Mode gekommen war, auf Süd-

seeinseln nach Motiven zu jagen. Aus Europa brachen nicht viele Künstler gen

Polynesien auf- die Reise war den meisten denn doch zu beschwerlich. Allerdingshatten schon in der Kolonie von Grez nicht wenige junge Männer zumindest den

Wunsch geäußert, eines Tages ins ,,Paradies" zu pilgern, und aus dem nicht gar so

weit entfernten San Francisco hatte sich bereits so mancher fromme Wallfabrer

ein Eiland auserkoren, um dort zu malen: lnselmfulcheru unter Palmeq siEend; Insel-

mädchen, in Lagunen schwimmend; Inselmädchen in allen Lebenslagen. Wenn sie

gewußt hätten, wie wenig sie im Grunde von dem französischen Paterunterschied!

,,Ich male nur sehr selten Menschen", meinte Fanny. ,,Und wenn ich es tue, dann

auf ihren ausdrticklichen Wunsch. Aber ich bilde gem die Natur dieser lnsel ab, wieich sie in meinem Innern empfinde. Das sind dann die Bilder, die ich manchmal an

Freunde in Amerika verschicke. Diese Menschen kämen sonst nie in den Genuß,

einen Eindruck von den Schönheiten deines Landes zu erhaschen, und das ist wohl

auch die eiruige Entschuldigung, die eine Dilettantin wie ich vorweisen kann."

Soenga war sichtlich beeindruckt. Eine Weiße, die allein im Urwald spazie-

renging und Landschaften malte, schien ihr erheblich besser zu gefallen als ein

Pater, der im eigenen Gärtchen - gleichsam im ,,Schatten" seiner Kirche - braune

Schützlinge weiblichen Geschlechts zu porträtieren pflegte.

,,IJnd was hast du heute - erhascht, weiße Frau?" fragte Soenga mit einem

spitzbübischen, aber durchaus freundlichen Unterton. Sie gab es nicht zu, aber sie

brannte vor Neugier.

-Oh . . . das." Fanny schämte sich ein wenig ihrer heutigen Bemühungen; da sie

jedoch wußte, daß sie Soenga ihr Bild würde zeigen müssen, suchte sie verzwei-

felt nach einer Entschuldigung für ihr seltsames Gekleckse, das keine Überein-

stimmung mit dem Stil ihrer sonstigen Landschaftsgemälde aufwies.

,,Es ist nicht eben ansprechend ausgefallen, fürchte ich", murmelte Fanny, wdh-

rend sie die feuchte Leinwand vorsichtig und ganz langsam von der schützenden

Hülle aus Bananenblättern befreite. An den Rändern hatte sie es gewagt, das Bildmit Bindfaden lose zu venchnären, damit die Blätter nicht vemrtschten - eine

Verpackung auf typisch weiße Art, schoß es ihr unvermittelt durch den Kopf. Fanny

löste die Knoten.

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,,Wie ich schon sagte: Ich habe mich bloß hingesetzt, stundenlang in den Wald

hineingeschaut und die eigenartigen Dinge einzufangen versucht, die dort meine be-

sondere Aufinerlsamkeit erregten. Das Ganze ließ ich auf mich einwirken und sich

in meinem Inneren entwickeln wie in einerArt Gefäß, bis ich es auf die Leinwand

bannen konnte. Na ja - mehr oder weniger." Fanny wurde sich bewußt, daß das Mäd-

chen mit ihrem schwärmerischen Ktinstlergerede, das sich für vem{inftige Menschen

wie ein Kochrezept anhören mußte, nun wirklich nichts anzufangen vermochte. Sie

nestelte weiter an den Knoten herum, bis sie ihr Machwerk sclrließlich ganz aus sei-

nem Gef?ingnis befreite. Mit gemischten Gefühlen präsentierte sie es nun Soenga.

Aber auf ihre Reaktion war Fanny nicht gefaßt.

Wäihrend Soenga in dem Halbdunkel, das auf dem blätterüberwucherten Dschun-

gelpfad tagsüber herrschte, Fannys Gemälde betrachtete, veränderte sich ihr Ge-

sichtsausdruck auf dramatische Weise. Sie benötigte gcraume Zeit" vm in dem

diffrrsen Licht Einzelheiten auszumachen; doch nachdem ihr dies gelungen war,

riß sie entsetzt die Augen auf. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, den sie nur

deshalb nicht ausstieß, weil sie sich die Faust gewaltsam auf die Lippen preßte,

ihn zu unterdrücken. Was ihr am Ende entfuhr, war kaum mehr als ein Hauch - ein

flüsternd gestammelter Schwall samoanischer Wörter, von denen Fanny nur ein

einziges verstand, ein Wort fiir Dtimon. Dann war Soenga einenAugenblick lang

still, hielt sich aber nach wie vor die Faust auf den Mund gedrtickt. Wieder machte

sie den Eindruck, als stände sie kurz vor einer Ohnmacht. IhrAtem ging keuchend

und stoßweise, und sie taumelte leicht. Endlich, nach einer halben Ewigkeit, ge-

wann Soengas Verstand die Oberhand über den Körper - gewissermaßen.

,,Kel e le tongafitie!" rief sie laut aus. Diesen Ausdruck kannte Fanny weitbesser, als ihr lieb war. ,,Großer Zauber" bedeutete er, und Fanny hatte ihn imZusammenhang mit Louis'Teufelsflasche immer und immer wieder vernommen.

,,Das hat mit Zauber nichts zu tun, Soenga", suchte Fanny das hysterische Mäd-

chen zu beruhigen. ,,Das ist doch nur ein Bild. Ein Ölbild, wie du sie schon oftgesehen hast."

Soenga schüttelte so heftig den Kopf, daß ihr ganzer Körper mit in Bewegung

geriet. Sie starrte Fanny ins Gesicht.

,Nein', verHindete sie entschieden. ,,Das ist kein gewöhnliches Bild. Du bist

keine gewöhnliche Frau. Du kannst Dämonen fangen. Du gehst zu ihnen in den

Dschungel und sperrst sie in ein Gefüß in deinem Innern und bannst sie dann aufdie Leinwand. Das hast du selbst gesagt." Fanny verfluchte insgeheim ihre eigene

Nachlässigkeit. Hätte sie geahnt, wie aufmerksam die intelligente Soenga lausch-

te - nie wäre es ihr eingefallen, sich solch verfänglicher Worte zu bedienen!

,Äber nein, Soenga, wenn ich es dir doch sage: Ich fange keine Geister, ich

male nur die Natur, so wie ich sie sehe."

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Soenga bebte. Sie glaubte Fanny offenkundig nicht.

,,Und was ist dann das da?" Mit zitternden Fingern zeigte das Mädchen auf

einige hellere Flecken, die trotz der spärlichen Beleuchtung dzutlich von dem Tep-

pich aus grüner Farbe abstachen. ,,Was ist das, wenn nicht die gräßlichen weißen

Augen von Dämonen und ihre hungrigen blutoten Münder?"

Fanny erkannte plötzlich, was Soenga meinte, was sie dermaßen aus der Fas-

sung gebracht hatte. Im Zwielicht des Urwalo'o, noch dazu mitten im Herrschafts-

gebiet jener Mächte, die den Eingeborenen unweigerlich nach dem Leben trachte-

ten, haüe sie nur allzuleicht daraufverfallen können, die Orchideen und Hibiskus-

blüten in Fannys Bild für gespenstische Gliedmaßen zu halten, Im Halbdunkel

wirkten sie unheimlich genug.

,,Soenga." Fanny packte das Mädchen an beiden Schultern und sprach mit ruhi-

ger, gleichmäßiger Stimme auf sie ein. ,,Ich sage es dir noch einmal: Ich fange

keine Dämonen, aus einem einfachen Grund. Es gibt gar keine bösen Geister im

Dschungel, die dir etwas zuleide tun könnten. So glaube mir doch:"

Soenga starrte Fanny lange schweigend an. Ihre Miene verriet Ehrfrrrcht - als

wlire Fanny selbst ein höheres Wesen.

,,Du kennst nicht die Größe deiner eigenen Macht!" rief sie aus. ,,Du merkst es

nicht einmal, wenn die Geister dir in die Falle gehen. Dir können sie tatsächlich

nichts zuleide tun."

,,Ich male nur, Soenga, ich male nur dumme kleine Bilder, wie sie der Pater aus

deiner Missionsstation pinselt! Mehr tue ich nicht, und mehr kann ich auch nicht,

zum Kuckuck! Ich habe heute den verdammten Urwald gemalt, weil er nun ein-

mal da ist, weil er immer schon da war und weil er zur Landschaft gehört, auch

wenn man ihn haßt wie die Pest. Das ßt alles."

Soenga enviderte nichts, aber das war beinah schlimmer als ihre unverhoh-

lenen, unerträglichen Bekundungen der Verehrung. Mit raschen Handgriffen packte

Fanny ihr Bild wieder ein; es kürnmerte sie inzwischen nicht mehr, ob sie die

Farben auf der Leinwand in der Eile verwischte. Nachläissig schlang sie zu guter

Letzt den Bindfaden um die Bananenblätter.

,,Fessele sie gut", flüsterte Soenga, und Fanny wußte, daß das Mädchen keines-

wegs von den Bananenblättern sprach.

Nachdem Fanny ihre ,,Dämonen" ordentlich verstaut und verknotet hatte, war

Soenga augenblicklich wieder guter Dinge. Sie klatschte in die Hände wie ein

vergnügtes Kleinkind - und sie kicherte. Fanny seufzte auf.

Wenn es um die leidigen Geister ging, benahm sich also auch die gebildete,

aufgekl?irte Soenga wie all ihre eingeborenen Schwestern. Dann erinnerte sich

Fanny, daß das für Soenga nur von Nutzen sein konnte, wenn sie in Frieden auf

Samoa weiterleben wollte. Bloßer Eigennutz sprach aus Fannys heimlichem

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Page 138: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Wunsch, Soenga möge sich völlig von den andeten unterscheiden. Doch der Wunsch

war da.

,,Weiße Frau", sagte Soenga nun, ,,ich habe dich nicht nach deinem Namengcfragf und ich weiß auch nicht, wo du wohnst."

Die Tatsache, daß Soenga sich danach erkundigte, zeigte Fanny deutlich ihreBereitschaft, der weißen Frau bei Gelegenheit einen der auf Upolu üblichen Nach-barschaftsbesuche abzustatten. Das wiederum freute Farury über die Maßen.

,,Ich heiße Fanny. Mein Mann Louis und ich wohnen in Vailima. Vielleicht bist

du dort oben schon vorbeigekommen."

,,Ist das etwa derselbe Ort, wo auch der Tusitala lebt?"

Oh nein, dachte Fanny. Hat das denn niemals ein Ende?

,,Ja, das ist der Ort. Du bist herzlich eingeladen, bei uns hereinzuschauen. Dukannst jederzeit vorbeikommen."

Soenga schwieg betreten. Fanny blickte ihr in die Augen.

,,Was ist denn, Soenga? Hast du etwa keine Lust, uns zu besuchen? Liegt es

daran, daß du auf Weiße nicht gut zu sprechen bist?" Soenga preßte unwillkürlichdie Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Es dauerte eine Weile, bis sie sich

zu einerAntwort durchrang. Sie satr Fanny dabei nicht an.

,,ZweiZauberer unter einem Dach ... Vailima ist ein mächtiger Ort. Zumächtigfiir mich." Soenga schaute zu Boden.

,,Zwer Zauberer . . . " Fanny begriff langsam. Natürlich! Tusitala fing Dämonen

und hortete sie in Flaschen; nun kam zu allem Überfluß Fanny selbst daher, ver-bannte mir nichts, dir nichts Dämonen in ÖtUitOer, als sei das eine ihrer leichtesten

Übungen! Fanny stieß ein gutes Dutzend unhörbarer Flüche aus, die ihren seligen

Vater zum Erröten gebracht hätten.

,,Ob du es nun glaubst oder nicht, Soenga", sagte sie leise, indem sie sich zur Ruhe

zwang,,,wir sind keine Zauberer. Tüsitala und ich können keine Däimonen fangen.

Falls wir welche besäßen - und wir besitzen keine, sage ich dir -, wüßten wir nicht,

wie wir mit ihnen umgehen sollten. Deshalb kommen sie uns gar nicht erst ins Haus."

Vorausgeseat, wir schaffen es, uns die Viecher vom Leib n halten, dachte Fanny.

Soenga schaute zwar nach wie vor ungläubig drein, schien aber nicht mehr

BattSo ?ingstlich. Sie lächelte sogar.

,,Weißt du was, Soenga? Wenn du zu mir kommst, zeigst du mir, wie man aus

den Blättern und Blüten deiner Insel Farben herstellt. Du denkst, ich sei eine mäch-

tige Zauberin - nun, ich bin sogar zu dumm, mir meine Farben anzurühren. Ichmuß sie fix und fedig aus San Francisco bestellen!" Daß Fanny schon in Frank-

reich gelernt hatte, aus Pflanzenpigmenten, Ö1 und Terpentin alles Nötige zu mi-schen, verschwieg sie wohlweislich. Viel lieber war es ihr, wenn Soenga dem-

nächst ihren eigenen Zauber mit sich nach Vailima bringen wärde.

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Page 139: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

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Es wnn rnüHrsrnn Morgen, beinahe noch Schlafenszeit, als Louis seine Truppen

formierte und sie in die verschiedenen Kriegsgebiete entsandte, die der Feldherr

auf seiner Generalstabskarte für ihre Einsätze markiert hatte. Der Befehlshaber

persönlich würde ihnen bald schon zu Pferde folgen, um seinen jungenAdjutanten

abzulösen und flir seinen Tatendrang, mehr noch aber für seine nie erlahmende

Wachsamkeit zu belobigen. Schon bei fräheren Gelegenheiten hatte Louis den

kleinen Austin seinen ,,Aufseher" genannt, und in der Tat nahm der Junge es mit

den ihm übertragenen Pflichten außerordentlich genau. So manches Mal warAustin

mit einem guten Dutzend Eingeborener und vier bis fünf Packpferden hinunter

nach Apia aufgebrochen, um Vorräte aller Art nach Vailima zu transportieren und

streng darauf zu achten, daß die für gutes Geld erworbene Ware richtig verschnärt

und auf dem Rücken der Pferde befestigt wurde. ,,Der Junge fühlt sich,dabei gar:z

und gar wie der Herr der Insel, Fanny", pflegte Louis dann zu sagen, und Fanny

pflichtete ihm grimmig nickend bei. Wäihrend der Kleine, selbst hoch zu Roß, den vor

sich herlaufenden Boys Anweisungen zurief - und viele der ,,Boys" hatten immerhin

schon dasAltervon Großvätem! -, war seine schmächtigeBrustvor Stolz geschwellt.

Das Hen-der-Insel-Spiel schienbei weitem aufregender zu sein als jeder andere Zeit-

vertreib; Austins Vorbild Louis hatte das schließlich längst herausgefunden.

Bereits in Friedenszeiten also hatte Austin eine elementare Rolle gespielt. Nun

aber, im Zuge des Großen Rodungsfeldzuges, war er zu einer echten Respektsper-

son avanciert und strebte best?indig danach, sich des in ihn gesetzten Vertrauens

würdig zu erweisen. Daß General Hoskyns strenggenommen zumAdjutanten de-

gradiert worden war, störte ihn nicht, solange er nur Louis, dem Herrn aller Her-

ren, unmittelbar unterstellt blieb. Für ein Lob aus Louis' Munde tat er alles.

Das einzige Detail, welches den kleinen Reitersmann jetzt noch wesentlich von

seinem Meister unterschied, waren - einmal abgesehen von der Barttracht des

letzteren - die fehlenden Sporen. Fanny hatte sich schon immer gefragt, zu wel-

chem absonderlichen Zweck Louis als einziger Reiter auf Upolu Sporen tragen zu

müssen glaubte, während sich die meisten Weißen klaglos mit den kleinen, unbe-

schlagenen Inselponies zufriedengaben. Nun durfte sie zudem darübernachgrübeln,

mit welcher aufsehenerregenden Heldentat Jung-Austin sich seine Sporen wohl

dereinst verdienen mochte ...

Kaum zehn Minuten waren vergangen, seit die Armee hinaus in die Wildnis

gestapft wur - zlorar nicht im Gleichschritt, doch zumindest in wohlgeordnetem

Gänsemarsch. Schon vernahm man innerhalb des Zaunes all j ene Arten von Lärm,

die mit intensiver Urbarmachung einhergingen. Die Geräusche wurden durch die

Einfriedung gedämpft; trotzdem drang genug an Fannys Ohren, um sie in Unruhe

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Page 140: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

m versetzen. Seit einigen Tagen schickte Louis seine mit Axten und Buschmes-

sern bewehrten Rodungskompanien in den Urwald hinaus, und ein Ende war kei-neswegs in Sicht - im Gegenteil, Louis hatte sein Werk gerade erst wirklich be-

gonnen. Davon, daß er es bis zum bitteren Ende fortzuführen gedachte, war sogar

Fanny inzwischen felsenfest überzeugt. An demselben Täge nämlich, als Louis mitdem systematischen Kultivieren jener Teile Vailimas begonnen hatte, die außerhalb

des Zaunes und abseits derbestehenden Plantagen lagen, war ihrn morgens zu Ohren

gekommeq daIS die samoanische Regierung die 27 Häuptlinge bereits eine Woche

zuvor entlassen hatte. Der Zusammenhang lag auf der Hand. Anstatt dem Tusitala

schnurstracks ihre Aufinartung zu machen, wie es ihre Schuldigkeit gewesen wäre,

besalJen die Häuptlinge die Frechheit, sich zuerst ausgiebig im Kreise ihrer Frauen,

Kinder und übrigen Stammesgenossen von den Stapazen des Schmachtens in jenem

,,hnsteren Kerket'' von Apia zu erholen - der immerhin einzig durch Louis' literari-

sche Bernühungen einen regelrechten Legendenstatus erreicht hatte!

Entgegen allen Gesetzen der Logik schien Louis dem Glauben anzuhängen,

daß es letztendlich auch seine wiederholten Aufrufe gewesen waren, welche die

Freilassung der Häftlinge bewirkt hatten. Ein simples Rechenexempel, das jedoch

nur Fanny anstellte, machte solchem Wunschdenken schnell den Garaus. Zwi-schen dem Verfassen seiner leidenschaftlichsten Appelle an die Menschlichkeit,

die in der Times vnd im Chronicle veröffentlicht werden sollten, und der Befrei-ung der Häuptlinge waren nur wenige Wochen vergangen. Diese Zeitspanne be-

nötigte allein das Postschiff, um die Strecke nach Großbritannien zurückzulegen -Louis aber redete sich allen Ernstes ein, seine eloquenten Beschwörungen hätten

die Runde im Unter- wie im Oberhaus gemacht und dort wie eine Bombe einge-

schlagen. Fanny wäre kaum erstaunter gewesen, hätte Louis der Überzeugung

Ausdruck verliehen, Königin Victoria höchstpersönlich könne heimlich ihr Siegel

unter sein Gnadengesuch gesetzt haben. Für Fanny löste sich das Rätsel schneller

und weitaus prosaischer: Die 27 Häuptlinge waren unnütze Esser, längst nichtmehr auf der Höhe der politischen Aktudität - und sie nahmen, schlicht und er-

greifend, zuviel Platz weg.

Injedem Falle aber litt Louis darunter, daß seine Schützlinge, für deren Freiheit

er ohne Unterlaß vehement kämpfte, sich recht undankbar gezeigl hatten. Trotzigbegann er mit dem Roden ... fürs erste aufeigene Faust und aufeigenem Land.

Tag für Tag wtirde er von nun an seine Gefolgsleute ins Hochland von Vailimahinausschicken, um Tusitalas Territorium in eine einzige große Lichtung zu ver-

wandeln. Selbstverständlich legte Louis in eigener Person Hand an. Zum einen

gedachte er für die Kämpen, die seine gute Sache vertraten, ein bewunderungs-

würdiges Vorbild abzugeben; zum anderen wollte er es sich nicht nehmen lassen,

derjenige zu sein, der die dicksten Stämme jungfräulichen Waldes zum Stärzen

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Page 141: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

brachte, nachdem die Untertanen die nötige Vorarbeit geleistet hatten, Louis war,

so oft es ging, bei ihnen, entweder körperlich anwesend oder vertreten durch sei-

nen getreuenAdjutantenAustin. Tusitalas Geist aber schwebte beständig über den

Häuptern der Arbeitenden, spornte sie zu Leistungen an, wie sie kein deutscher

Kolonialhen bei einem Samoaner je für möglich gehalten hätte.

Fanny stand stets zur selben Zeit auf wie Louis, obwohl die beiden in getrenn-

ten Zimmem schliefen. Sie wußte, daß nur wenige Minuten später an Schlummer

sowieso nicht mehr zu denken war. Den morgendlichen Appell gestaltete ihr Gatte

so leise wie möglich, doch der Lärm der Axthiebe fast unmittelbar darauf been-

dete die Nachtnrhe unwidemrflich. Allerdings schien es mehr als fraglich, ob Fanny

ihre Ruhe wärde wiederfinden können, sobald die Rodungsarbeiten erst einmal so

weit fortgeschritten waren, daß man sie vom Haupthaus aus nicht mehr verneh-

men konnte. Daran aber wollte Fanny nicht denken.

Wtihrend sie nun über die Veranda schlenderte und in tiefen Zügen die erste

Zigarette des Tages genoß, ließ sie ihren Blick über den weiten Rasen schweifen,

der so grotesk kurz wirkte, als würde er inzwischen nicht mehr mit Sensen und

Sicheln, sondem mit der Nagelschere getrimmt. Fanny seufzte und betrachtete

ifue Zigarette. Auch das Rauchen hatte Louis beinahe ganz aufgegeben, ebenso

wie das Flageolettspiel. Obwohl ihm dieses für Lungenkranke ansonsten recht

unübliche Vergnügen überaus gut bekam, vergafi er es nun regelrecht in seinem

allgemeinen Übereifer - er, der immer betonte, ohne Fleisch und Brot, doch nie-

mals, nur über seine Leiche, ohne seinen innigstgeliebten Tabak leben zu wollen!Als Fanny am weitgeöffneten Bibliotheksfenster vorbeikam, hörte sie drinnen

erregte Stimmen. Sie war erstaunt darüber, daß Louis noch keine Anstalten mach-

te, sich auf Patrouillenrrtt nr begeben, und blieb stehen, um herauszufinden, mitwem er sich so lautstark unterhielt. Es war Lloyd. Fanny spitzte die Ohren. Sie

hatte nicht die Absicht die beiden zu belauschen - ganz sl cher ntcht! -, aber schließ-

lich konnte sie ihre Zigarette rauchen, wo es ihr beliebte, und im Moment beliebte

es ihr direkt vor dem offenen Fenster.

,,. . . habe ichApa Loto und die anderen zu den Dörfern der 27 restlichen Häuptlin-

ge geschickt. Dort solle,n sie ihnen erklären, was ich in den leEten Monaten alles fürdie undankbare Bande untemommen habe - natürlich so höflich'und diplomatisch

wie möglich. Ich bezweifle inzwischen aber, ob selbst Apa Loto und seine beiden

Begleiter emsthaft willens sind, ihr heiliges Versprechen einzulösen."

Fanny hörte darauftrin Lloyds Stimme, konnte jedoch nur Gemurmel wahmeh-

men. Sofort nahm Louis wieder den Faden auf.

,,Ja, das meine ich auch", fuhr er fort. ,,,{pa Loto wird ihnen erläutern, daJS es

meine Intenrention in Per,etania ge\rresen sein muß, die ihnen die ersehnte Freiheit

gebracht hat."

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Fanny schluckte versehentlich Rauch und verspürte starken Hustenreiz, den sie

nur mit größter Anstrengung unterdrückte. Dann erzähle ihnen doch gleich die

ganze ,,Wahrheit", o grotJer Tfusitala, dachte sie erzärnt. Sag ihnen, daß du, ein

armer Schiffbrüchiger, eine Flaschenpost in den unendlichen Ozean geworfen hast,

natürlich nicht aufs Geratewohl, sondern in einer deiner beliebten magischenFla-

schen, daß der Teufel in diesem verkorkten Postflakon deine Nachrichten schnel-

ler daheim hat ankommen lassen als jedes Postschiff- und daß mächtige Männer

sie dann lasen, obwohl sie dich kaum noch kennen. Weil du nämlich zu den auf

ewig Verschollenen gehörst.

Bevor Fanny sich ob dieses bösartigen Gedankens schelten konnte, hatte Louis

in der Bibliothek wieder zu sprechen angehoben. Offenbar ging es nun um ein

gänzlich anderes Thema.

,,Und was diese ... nun ja, deine ,Herzensangelegenheit' betrift, Lloyd, da laß

dir eines gesagt sein: Kämmere dich niemals um anderer Leute Vorschriften, um

Traditionen, Sitten und dergleichen mehr. Tue immer nw das, was deine Gefühle

dir eingeben, ganz gleich, ob du sie nun von ,Hetzen' kommen lassen willst oder

einfach nur deinen Gelüsten frönst, wie man so schön sagt. Upolu ist eine freie

Insel mit freien Menschen. Deine Angebetete will dich, und du begehrst sie. Ich

sehe da keine ernstlichen Schwierigkeiten auf dich zukommen."

Lloyd sprach zögerlic[ als er Louis antwortete, doch laut genug, daß auch Fanny

ihn von draußen verstehen konnte.

,,Louis, ich weiß nicht recht. Natürlich begehre ich dieses Mädchen, aber ich

hege weiß Gott nicht die Absicht, sie zu heiraten. Eine Liebelei mit ihr dürfte

einigen Arger geben. Du kennst ihre Leute. Sie w?ire durchaus gewillt, mir Ver-

gnügen zu bereiten, daran würde es nicht scheitern, aber ..."

,,... aber das ist schließlich die Hauptsache. Du bist einjunger, kerngesunder

Mann und du hast natürliche Bedürfnisse. Als ich in deinem Alter war, habe ich

mich den Teufel um solche Skrupel geschert. Wenn die Mädchen freundlich und

willig waren und selbst Spaß bei der Sache ernpfanden, fragte ich nicht lange nach

dem Urteil der Spießbürger! Sollten sie mir doch die Hölle heiß machen und mich

der ewigen Verdammnis überantworten, solange ich nur meinem rechtmäßigen

jugendlichen Vergnügen nachging! Und hier auf Samoa gibt es nicht einmal eine

,Moral', die sich mit der britischen Engstirnigkeit vergleichen ließe. Hier kannst

du deiner Sinnlichkeit freien Lauf lassen, deine Phantasien ausleben: Nutze das

aus, junger Mann! Nirgendwo sonst bietet sich dir die Chance!"

Fanny hörte einen kurzen Augenblick lang nichts mehr. Dann raffte sich Lloyd

endlich zu einer Erwiderung auf.

,,Wie du weißt, verhält es sich durchaus nicht so, daß ich nie zuvor ein Insel-

mädchen besessen hätte. Im allgemeinen bringt das ja auch keine Probleme mit

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sich, doch in diesem speziellen Fall ..." Lloyd verstummte für eine Sekunde und

fuhr dann, wie es Fanny schien, etwas schamhaft fort: ,,Ich weiß nicht, wie zum

Beispiel Mutter darauf reagieren würde."

Fanny biß sich auf die Ltppen. Sie hielt denAtem an, ohne es zu bemerken, als

drinnen in der Bibliothek Louis laut auflachte. Es war ein boshaftes und zugleich

schuldbewußtes Lachen - dieArt von Gelächter, wie Louis es anstimmte, wenn er

sich kurzfristig auf eine ausgemachte Lüge vorbereitete.

,,Du solltest dich nicht darum ktimmem, wie deine Mutter die Angelegenheit

aufnimmt", sagte er nun. Fanny wich ein wenig zur Seite, damit Louis sie nichterspähen und womöglich seinen Vortrag unterbrechen konnte. ,,Deine Mutter isteine wunderbare Frau, eine treue Gef?ihrtin und die beste Freundin, die ein Mann

sich vorzustellen vermag. Doch muß ich leider gestehen, daJJ sie eines ganzwdgar nicht verkörpert: eine leidenschaftliche Geliebte. Die sogenannten ehelichen

Pflichten sind eine Sache ... aber ungezügelte, wilde, grenzenlose Sinnlichkeit ist

eine andere, von der sie noch nie gehört zu haben scheint. Deine Mutter kann drch

also nicht verstehen."

Fanny traute ihren Ohren nicht. Um ein Haar hätte sie laut aufgeschrien. Das

Blut stieg ihr zu Kopfe, und ihre Schläfen pochten wie Dampfhämmer, Fannys

Gesicht lief dunkel an, doch mit Scharfföte hatte diese Verfiirbung nichts zu tun.

Sie kochte vor ohnmächtiger Wut. Hundesohn! brüllte sie lautlos.

Kaum war sie in der Lage, Louis'verteufelten Ammenmärchen weiter zu fol-gen. Sie z\tang sich mit letzter Kraft zur Ruhe.

,,Obwohl ich niemals - nicht einen einzigen Augenblick, das schwöre ich -bereut habe, deine Mutter geheiratet zu haben, muß ich doch gestehen, daß mich

besonders in den vergangenen Monaten des öfteren ein ganz bestimmter Gedanke

gequ?ilt hat. Daß deine Mutter keine Leidenschaft besitzt, geht ja noch an, denn

ich hatte mir vor unserer Hochzeit bereits gehörig die Hörner abgestoßen, wie der

Volksmund so treffend sagt. In dieser Hinsicht - als Mann also - mußte ich nicht

allzuviel vermissen. Was mich aber insgeheim oft martert, ist die Überzeugung,

daß Fanny mich stets, und zwar ohne mein eigenes Wissen und Erkennen, in der

Auslebung meiner künstlerischen Phantasien behindert hat. Ich schrieb nicht, wieich wollte."

Fanny begannen die Sinne zu schwinden, so tief verletzten Louis' Worte ihrInnerstes. Sie hockte sich unter dem Fenster der Bibliothek auf den Verandaboden

und starrte mit leeren Augen dumpf und teilnahmslos vor sich hin. Erst als ihre

linke Hand mit der Glut der Zigarelte, die neben ihr lag, in Bertihrung kam, brach-

te sie der Schmerz wieder zur Besinnung.

Erbarmungslos fuhr ihr Gatte drinnen fort, ihren Sohn mit den dreistesten und

gemeinsten Unwalrheiten zu vergiften.

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Page 144: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

,,Du kennst all meine Romane, Lloyd, meine Kurzgeschichten, meine Essays.

Du wirst dich möglicherweise manches Mal gewundert haben, warum ein gestan-

dener Mann davor zurückschreckt, sich in Dingen der Sexualität offener auszu-

drücken, die nackten Tatsachen bei ihren Namen zu nennen. Verglichen mit der

Art und Weise, wie ich hätte schreiben so llen,benahm ich mich prüde und zimper-

lich wie ein frommes altes Weib auf dem Weg zur Kirche! Heute kann ich dir

darauf die Antwort nennen: Ein Teil von mir mußte stets auf das Feingefühl deiner

Mutter Rücksicht nehmen, immer befand sie sich hinter meinem Rücken, unsichtbar,

unhörbar, und beeinflußte mich. Auch wenn sie einige meiner Werke nicht las,

fühlte ich mich von ihrer Moral eingezwängt, befand ich michin den liebevollen,

doch leidenschaftslosen Häinden einer Erbin puritanischer Sittenwächter!"

Fanny hielt sich entsetzt die Ohren zu, um die Worte ihres Mannes nicht mehr

vernehmen zu müssen. Sie kauerte reglos auf der Veranda und verharrte in diesem

Zustand, bis einige Zeit später Louis und Lloyd die Bibliothek verließen, ohne sie

zu bemerken, und sich zu den Ställen begaben - zweifellos, um sich den verschie-

denen Vergnügungen hinzugeben, die ein,,gestandener" Mann brauchte! Fanny

lachte kurz und bitter auf. Louis schob es aufihre, Fannys, Prüderie, daß er in

seinen Büchern die Dinge nicht,,beim Namen nannte"! Wann hatte er das denn

jemals getan? Er, der ausgerechnet während der letzten Monate, in einer Zeit see-

lischer Heimsuchung, Trost in den zahllosen albernen, weinerlichen Traktätchen

der schottischen Kirche zu finden trachtete, die er sich aus Europa senden ließ -anstatt Vergessen oder Lust oder auch beides in denArmen seiner eigenen Frau zu

suchen!

Daß Louis' Selbstdarstellung sich lückenlos in das Weltbild seines Stiefsohns

Lloyd einfügte, dessen Mittelpunkt er verkörperte, verstand sich von allein. Um

so verdammenswerter erschienen Fanny seine Worte. Sie glaubte, daß Louis nicht

einmal bewußt log, sondern daß der Jurist in ihm,,lediglich" die Wahrheit in die

Richtung verdrehte, die ihm genehmer war. Insbesondere bei seinen amourösen

,,Abenteuem" hatte er das zeitlebens so gehalten, wie Fanny aus eigener, teilweise

unfreiwillig gemachter Erfahnrng bekunden konnte. Fanny war allerdings diskret

genug gewesen, weder Lloyd noch Belle jemals davon zu erzählen, auf welch

atemberaubend sinnliche, sttirmische Weise ihr Gatte sie damals in Frankreich

,,erobert" hatte. Ein wenig von dem heroischen Glanz ihres Stiefuaters wäre im

Zuge einer solchen Enthtillung aufder Strecke geblieben ...

Nachdem sich Vetter Bob seinerzeit pflichtschuldigst vom Schlachtfeld der Liebe

- wenn schon nicht dem der Ehre - zurückgezogen hatte, riß Louis ohne zu zau-

dern das Regiment an sich. Er verrneinte nun die exklusiven Rechte an Mrs. Fanny

Osbourne zu besitzen und tat dies auch nur zu bereirwillig jedem kund, den er

kannte, ganz gleich, ob der Betreffende danach fragte oder nicht. Fanny befand

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Page 145: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

sich in jenen Tagen in einer für sie ungewohnten und äußerst untypischen Phase

derApathie, hervorgerufen durch die tiefe Enttäuschung, die der sanftmütige, aber

allzu willensschwache Bob ihr bereitet hatte. Sie ließ viele Dinge einfach gesche-

hen, die unter normalen Umständen Zorn und sofortige Gegenwehr in ihr wachge-

rufen hätten. Ihrem stets verläßlichen Freund Bob konnte sie nicht wirklich böse

sein, was ihre Lage wesentlich erschwerte: Wut auf ihn, Wut auf die gesamte schot-

tische Stevenson-Bande mit ihrem selbstemannten Klansherm Louis hätte Fanny

unweigerlich aus ihrem Zustand wachgerüttelt. So nahm sich Louis mit einer alle

Grenzen zur Impertinenz überschreitenden Selbstverständlichkeit sogar das Recht

heraus, sein offizielles Domizil in Fannys Pariser Häuschen aufzuschlagen. Inter-

essanterweise erfuhr Fanny von diesem ,,EinztJg" erst durch die Tatsache, daß

sämtliche an ihn gerichteten Briefe bei ihr eintrafen: Louis hatte seinen Freunden

ihre Adresse als Postanschrift genannt! In diese ,,leidenschaftliche Zeit" mußte

auch ihre erste Liebesnacht gefallen sein, die Louis in sentimentalen, dooh hinrei-

chend vielsagenden Briefzeilen diversen Bekannten schilderte. Fanny benahm sich

zwar recht passiv und phlegmatisch in jenem frühen Stadium, zugegeben - eine

zu zweit verbrachte Nacht jedoch hätte sich sicherlich in ihrem Gedächtnis festge-

setzt. Die Freunde, denen Louis in poetisch verbrämten, aber deutlichen Details

die Neuigkeit von ihrem intimen Verhältnis mitteilte, wußten sehr viel eher Be-

scheid darüber, daß Fanny das Kopfkissen mit Louis teilte, als Fanny selbst. Ihr

Erstaunen angesichts der Tatsache, daß sie während der gemeinsamen Nächte nie

körperlich zugegen war, ließ sich mit Worten nur schwer beschreiben. So äthe-

risch fühlte Fanny sich nicht - allen Zuneigungs-,,Beweisen" zum Trotz.

Schon bei ihrer ersten Begegnung im Gasthofzu Grez hatte Fanny geahnt, daß

Louis ein Heuchler war; nun aber begann sie bald, das ganze Ausmaß seiner Doppel-

natur zu begreifen und die schier bodenlose Kluft, welche sich zwischen Schein

und Sein auftat. Auch die Grundlagen seiner,,Moral" erkannte sie schnell. Wäh-

rend Bob, der über mangelnde Erfahrung in Liebesdingen gewiß nicht klagen konn-

te, frühere Affären nicht zu erwähnen pflegte und seine einstigen Geliebten nie in

Verlegenheit gebracht hätte, erfand Louis, der Vollblutdichter, zahlreiche sehr ro-

mantische, kunstvoll blumige und ausgesprochen kompromittierende Märchen.

Im Gegensatz zu Bob, der sich Fanny aufgrund ihrer ehelichen Bindung nicht

ungebührlich hatte nähem wollen, betrachtete Louis offensichtlich gerade diese

bestehende Bindung als zusätzlichen Anreiz.

Eine wunderbare Ironie lag in dem Umstand begründet, daß ausgerechnet Fannys

anfüngliche Passivität ihr nur wenig später das vollendete Mittel in die Hand gab,

sich bei Louis angemessen für seine unglaubliche Dreistigkeit zu revanchieren.

Von der ersten Stunde ihrer Bekanntschaft an hatte Fanny gespürt, daß ihr geisti

ger Widerstand eine übermächtige Herausforderung für Louis darstellte - viel-

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Page 146: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

leicht den ersten großen Prüfstein überhaupt für einen Mann, dem sich jedes

menschliche Wesen auf der Stelle zu Füßen warf. Ihr Unwille, sich in eine der

unztihligen Flaschen stecken zu lassen, die er aufseinen Beutezügen füllte, erreg-

te ihn, spornte seinen Jagdinstinkt an. Als ein Mann, der sich körperlich immer

neuen, für seinen schmächtigen Leib scheinbar unüberwindlichen Barrieren stell-

te, fühlte er sich nun geradezu verpflichtet, Fanny geistig zur Strecke zu bringen

und wenigstens denlnhalt ihres Kopfes in seine Trophäensammlung einzureihen.

Zumindest ebenso stark jedoch wirkte der Druck von außen: die Erwarhrngen sei-

ner Freunde, die im Gasthof naGrezZetgen seiner einstweiligen Niederlage ge-

worden waren, als dieses amerikanische Weib ihn in froher Runde düpiert hatte

wie niemand vor ihr.

Fanny machte sich in bezug auf Louis',,Liebe" nichts vor. Die Beteuerungen,

er wolle sie zu,,der Seinen" machen, hatten den lästigen Konkunenten Bob ver-

trieben, der den tieferen, bösen Sinn dieser Worte in seinerArglosigkeit gar nicht

verstand. Wenn Louis nun überall vorgab, er und Fanny seien ein Liebespaar, meinte

er damit die Hälfte seines Zieles mühelos eneicht zu haben - und er behielt recht.

Für die Boherniens und Zechkumpane, die Louis' Oberhoheit nie in Frage stellten,

schien es nicht weiter verwunderlich, daß die schöne Frau aus Amerika sich in ihn

verliebthatte. Im Vergleich zu Louis waren sie schlichte Gemüter. Die vermeintli-

che Tatsache, daß er und Fanny ein intimes Verhältnis unterhielten, bedeutete für

sie nichts anderes, als daß Fanny sich wie sie alle in den Chor derAnbeter einge-

reiht hatte. Denn welcher Zuneigungsbeweis hätte größer sein können als die kör-

perliche Hingabe einer Frau - noch dazu einer verheirateten Frau aus bürgerlichen

Verhälbrissen? Durch eine einzige wohlplazierte Lüge also schaffte es Louis, die

Außenwelt, deren Meinung ihm wichtiger war als alles andere, davon zu überzeu-

gen, daß l\drs. Osbourne sich ihm mit Haut und Haaren verschrieben hatte. Louis'

Künstler- und Schriftstellerfreunde, allesamt keine Meister der subtilen Unterschei-

dung, setzten als gegeben voraus, daß zu ,,Haut und Haaren" einer Frau sowohl ihr

Herz als auch ihr Hirn gehörte ... Louis wußte das nattirlich und wandte diese

jahrtausendealte dichterische Freiheit im vollen Vertrauen auf die bewährte Wir-

kung an. Es war ein primitiver, schäbiger kleiner Winkelzug, wie nur ein wahrer

Poet oder ein abgefeimter Philister ihn sich erlauben durfte, Der originelle Kunst-

griffhinterließ bei Fanny prompt den gebührenden Eindruck.

Die heuchlerische Fassade, das Lügengebäude, das Louis somit für seine Be-

kannten errichtet hatte, verhalf ihm in Windeseile zu dem Teil des Erfolges, des-

sen Erlangung ihm dringlicher erschienen war: derWiederherstellung seines Rufes.

Lediglich er und Fanny kannten die Wahrheit. Selbstverständlich waren ihm die

Risiken seiner Vorgehensweise vollauf bewußt. Zum einen erwartete er von einer

Frau wie Fanny nichts andereq als daß sie sich voller Entrtistung gegen die unge-

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Page 147: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

rechtfertigten Behauptungen eines Mannes zur Wehr setzen mulSte, der ihre Ehre

dermaßen in den Schmutz gezogen hatte - obgleich, zugegeben, dieser Schmutz

in Künstlerkreisen nicht halb so anrüchig war wie anderswo. Zum anderen aber

würde er, nach der Anwendung seiner für jeden echten Mann unwürdigen Schli-

che, bei der nunmehr anstehenden Venvirklichung des ursprünglicheren Teils sei-

nes Planes - der tatsächlichenlnbesitznahme Fannys - auf härteren Granit beißen

dennje zuvor.

In beiden Punkten ,,enttäuschte" Fanny ihn gründlichst. Ohne ihrerseits einen

Schlachtplan für dieses lächerliche Duell entworfen zu haben, durfte sie im nach-

hinein feststellen, daß sie sich vonAnfang an nicht weiser hätte verhalten können,

wäre sie nach einer ausgeklügelten Strategie vorgegangen. Eine solche Politik

schrittweiser Berechnung aber lag nicht in Fannys Natur. DerAugenblick gab ihr

in diesen ersten Monaten der unerwänschten Gemeinsarnkeit mit Louis Stevenson

stets das Richtige ein. Später hatte Fanny sich dann des öfteren gefragtrwas pas-

siert wäre, wenn sie alle erotischenAnzüglichkeiten unverblämt vor dem gesamten

Bekanntenkreis als Lügengespinst zurückgewiesen hätte. Die Antwort lautete

schlicht: wahrscheinlich gar nichts. Niernand hätte ihr tatsächlich geglaubt, son-

dern ihre Enttamung im äußersten Falle als den Ausdruck jenes instinktiven und

doch halb koketten Selbstverteidigungszwanges gedeutet, wie er insbesondere

weiblichenAnh?ingern der Bourgeoisie nun einmal innewohnte. Louis'Worte da-

gegen standen außer Zweifel, sozusagen von allem Irdisch-Profanen enträckt. Man

durfte Gott und Gesetz in Frage stellen, ein jeder nach seiner Fasson - Louis war

unantastbar.

Und doch mußte Louis nach seinen vorangegangenen Erfahrungen mit Fanny

damit rechnen, daß sie sich nach Leibes- und Geisteskräften wehrte. Der Abgott

der Kolonie, dieser hausgemachte Zew mit den wahrhaft mystischen Proportio-

nen einersich in den Himmel rankendenBohnenstange, hatte sich derarmen Fanny

genähert, dem sterblichen Gegenstand seiner Begierde. Anders als in der Myttro-

logie hatte dieser Gott allerdings zu befürchten, daß es nicht Fanny sein würde, die

im Feuer zugrunde ging - und daß die Flammen eher einAusbruch ihrer Wut sein

wlirden, die ihm entgegenschlagen mußte. Gar nichts schlug ihm im Endeffekt

entgegen, und das war weit schlimmer.

Resignation und Trägheit, die nach der gewaltlosenAbdankung Bob Stevensons

für Wochen Fannys ständige Begleiter geworden waren, erwiesen sich ausnahms-

weise als hilfreiche Berater. Nachdem Fanny von Louis'F,inzug in ihr Haus und

insbesondere vom Beginn ihrer körperlichen Leidenschaft für Louis gehört hatte,

unternahm sie nicht das geringste. Sein Gebaren erstaunte sie nicht wirklich; es

war auf eine sch?indliche Art absolut folgerichtig - und Fanny, die sich selbst aus

weiter Ferne betrachtete wie eine völlig Außenstehende, kam zu dem Schluß, daß

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Page 148: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

sie persönlich nichts damit zu tun hatte. Sollten sich doch andere um ihre Ehre

oder Unehre balgen, solange sie selbst um den aktuellen Zustand beider wußte!

Nichts lag ihr ferner, als sich zornentbrannt und blutdüntig in ein widerwärtiges

Spiel einzumischen, das nur einem garstigen kleinen Jungen, keinem wirklichen

Mann, hatte einfallen können.

Als die ausApathie geborene Gleichgültigkeit sich langsam verabschiedete und

Fanny wieder zur Besinnung kam, sah sie mit Wohlgefallen, daß sich während

ihres geistigen Schlummers wie durch Zauberkraft alles aufs beste geregelt hatte.

Lloyd und Belle, von der baldigen und endgültigen Vereinigung ihrer Mutter mit

dem geliebten Idol überzeugt, waren überglücklich. Louis dagegen, der nicht ver-

stand, wie ihm geschah, war alles andere als glücklich: Fanny dementierte nicht,

warf ihn nicht aus dem Haus, ktimmerte sich keinen Deut um ihren guten Ruf -was in aller Welt sollte das bedeuten? Denn daran, daß Fanny, fasziniert durch

seine ritterliche Freveltat, plötzlich in heißer Liebe zu ihm entflammt war, glaubte

nicht einmal der von sich selbst so über die Maßen eingenommene Mr. Louis

Stevenson. Fanny begriff, was ihr Versäumnis der Gegenwehr letäendlich be-

wirkt hatte. Jede öffentliche Brüskierung hätte Louis erwartet und pariert; ihre

Gleichgültigkeit rieb ihn auf. Seine Existenz bedeutete ihr in der Tat so unendlich

wenig, daß sie es nicht einmal fru der Mühe wert hielt, sich seiner formell zu

erwehren! Mrs. Osboume gewährte ihm Tisch und Bett - allerdings nicht ilr Bett

- in jenem kleinen Pariser Domizil, das für drei Menschen kaum genug Platz bot.

Sie tat es mit derselben kühlen, distanzierten Freundlichkeit, die eine jede gute

Christin aufbot, welcher ihre Bibel die Aufnahme eines Obdachsuchenden aufer-

legte, auch wenn der Gast sich als unerwänscht erwies. Und Louis wußte, daß er

unerwünscht war, ein lästiges Insekt, dem Fanny wenigerAufrnerksamkeit schenkte,

als sie gemeinhin einem solchen aufdringlichen Mitbewohner zuteil werden ließ.

Doch sie ignorierte ihn auch nicht ausdrticklich, blieb stets ruhig und besonnen -und untergrub damit seine Fassung gründlich und nachhaltig.

So kam es, daß sich Louis, wenn er nicht gerade mit Lloyd und Belle ins kind-

liche Spiel versunken war, trotz seines Platzes am Kopfende des Tisches - wel-

cher dem Hausherrn, aber auch jedem gnädig aufgenommenen Fremdling zustand

- oft nicht ganz wohl in seiner Haut und Fannys Häuschen fühlte. Niemanden,

weder die Bohemiens aus Fontainebleau noch die eigenen Kinder, hatte Fanny mit

einem einzigen Wort der Richtigstellung bedacht. Sie bestätigte Louis'Lügen nicht,

hütete sich allerdings auch wohlweislich, die Phantasiegebilde und ihren Schöpfer

zu entlarven. Indem sie aus freien Stücken Spielregeln befolgte, die Louis für sich

selbst aufgestellt hatte, genoß sie bald schon Momente der exquisitesten Rache.

Stiße Augenblicke dieser Art boten sich überall und zu jeder Zeit. Wenn zum

Beispiel Mme. Arnaud, die Schankwirtin des Coq rouge in Grez, an deren Theke

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vorbei sämtliche Gerüchte der Kolonie die Runde machten - sofem sie nicht über-haupt erst dort in die Welt geset wurden -, Fanny neugierig befragte, seit wannsie denn ,,ein Paar seien", warf Fanny einen bedeutungsvollen Blick zu ihremBegleiter hin und säuselte: ,,Du hast demnach der guten Madame Amaud schonalles über uns beide erzZihlt, nicht wahr, Lieber?' Dazu schenkte sie sowohl Mme.Arnaud als auch ihrem ,,lieben Louis" das reizendste Lächeln und ließ kein Ster-benswörtchen darüber verlauten, was es mit dem ,,alles über uns" auf sich habenmochte ... und Louis litt zurAbwechslung Höllenqualen. LEingst war ihm zu Be-wußtsein gekommen, daß Fanny über eine Form von Souveräinität verfügte, dieihm persönlich, allen übrigen Talenten zum Trotz, völlig fehlte. Sie zeigte keiner-lei Abhängigkeit von der Meinung anderer. Fanny kannte ihren eigenen Stellen-wert und verzichtete dankend auf Zuspruch oder Schmeichelei von Menschen, dieihr im Grunde nicht wichtig waxen. Auch die mögliche Verdammung durch Drittenahm sie bereitwillig in Kauf. Indem sie nun an Mme. Arnauds Schanlctisch standund freundlich lächelnd darauf wartete, wie Louis seine Märchen weiterspinnenmochte, verabreichte sie ihm lässig den furchtbarsten Beweis ihrer Geringschät-zung. Sie gewährte ihm freie Hand, ließ ihn erzählen, was er wollte; ja, es wärenicht einmal verwunderlich für ihn gewesen, wenn sie in der Ölfentlichfreir Küsseoder Umarmungen zugelassen hätte, die unter vierAugen jenseits alles Denkba-ren standen! Gerade dies aber war das Zeichen ihrer Macht, welches seine Grund-festen erschütterte. Louis, der kecke Bilderstürmer, bedurfte dringend einer Fas-sade flir sein Leben. Fanny bewahrte die Fassade im Beisein von Fremden vordem Einsturz und brachte es auf diese Weise fertig, das Götzenbild sogar in desseh

eigenen Augen zu entblößen.

Wann immer Louis sich in Fannys Gegenwart seiner Ohnmacht ausgeliefertfand, die er persönlich verschuldet hatte und an der er jetzt nichts mehr ?indern

konnte, triumphierte Fanny innerlich. Sie hatte nicht vergessen, wie Louis mitBob und ihr umgesprungen war, als wären sie seine Marionetten;jetzt saß Louis inder von ihm ausgelegten Falle und verstrickte sich mit jeder neuen Notlüge tieferund tiefer. Doch wenn er Fanny nun anblickte, während er im Netz zappelte undniernand außer Fanny es bemerkte, es bemerken konnte, dräckten seine Augenetwas grundlegend anderes aus als damals in der Runde seiner Jünger. Nicht ge-

nug damit, daß ihm ein echter Hauch von Schamröte in die olivfarbenen Wangen

stieg, wenn er gegen seinen Willen fabulieren mußte -wenn erneuerdings Fannys

Blick suchte, geschah es, um einen vagen, aber verzweifelten Hilferuf an sie aus-

zusenden. Und spontan, ohne es zu wollen, empfand Fanny dann sogar Mitleidmit dern Übeltäter ... doch die Lage zu ändern, lag nicht in ihrer Macht.

Bisweilen, wenn Louis, Lloyd und Belle nach stundenlangem ausgelassenen

Herumtollen im Wald von Fontainebleau an den Mittagstisch zurückkehrten, wo

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Fanny aufdas Dreigespann wartete, bereitete ausgerechnet der kleine Lloyd Fannys

Dauergastdie schrecklichsten Schwierigkeiten. Aus Louis warlängst,,Onkel Louis"

geworden, und Lloyd hoffte auf bedeutend mehr für die nähere Zukunft. Eines

Tages, während des gemeinsamen Essens, brachte Lloyd zum ersten Male die ent-

scheidende Frage mitten auf den Tisch: ,,Wann werdet ihr beide heiraten?"

Er hatte seine Mutter gefragl, die den Schwarzen Peter sofort zum rechtnäßi-

gen Eigentümer weiterschob: ,,Da mußt du Onkel Louis fragen, Liebling. Er kann

dir das mit Sicherheit besser erklären als ich." Onkel Louis schien von einer Er-

klärung weit entfernt. Mit offenem Mund und großen Augen starrte er Lloyd an

und - war sprachlos. Zögemd fabrizierte er sein berühmtes Grinsen. Du magst jalächeln wie ein Wolf, dachte Fanny süffrsant, aber dreinschauen tust du wie ein

Schaf ... Als Fanny dana bemerken mußte, daß Louis nicht nur von Verlegenheit

gepeinigt wurde, sondern einen echten Kummer empfand, der sich nicht auf seine

bedrohlich bröckelnde Fassade bezog, verschwand ihre Genugtuung. Schließlich

wußte sie, wie sehr Lloyd seinen Onkel Louis anbetete. Louis wirkte nicht minder

glücklich in Lloyds Nähe, und auch Isobel, die sich beim Fangen oder Versteck-

spiel in Sekundenschnelle von der jungen Dame in ein kleines Mädchen zurückver-

wandelte, hatte Louis in sein Herz geschlossen. Oft beobachtete Fanny die drei im

Wald herumtobenden Gestalten von fern und sptirte dabei deutlich, daß es keine

Rangordnung in ihrem Spiel gab, daß Louis zum Kind unter Kindern geworden

war und sich keines der Vorrechte herausnahm, die sich ein befehlsgewohnter Er-

wachsener bei der Beschäftigung mit so jungen Geschöpfen mehr oder minder

unbewußt anzumaßen pflegte, War Louis mit den beiden zusrunmen, verflogen im

Nu alle Heuchelei und Affektiertheit. Sein Lachen war dann ausgelassen, selbst-

vergessen und geradezu einf?iltig. Das Vergnügen, das er selbst empfand, schenkte

er gleichermaßen den Gefährten, denn ohne den Spaß der Kinder hätte auch Louis

keinerlei Freude am Spiel gehabt. Wann immer Fanny unvermittelt Zeugin sol-

cher Szenen dreifachen Glücks wurde, ertappte sie sich dabei, daß sie den Feind

von einst nicht länger mit dem ursprünglichen Abscheu betrachtete - ja daß er

jetztim schlimmsten Falle ein Kontrahent war, den es auf Distanz zu halten galt.

Und wenn Fanny schonungslos ehdich zu sich war, gestand sie sich ein, daß Louis

zwar nicht mit einem wohlproportionierten, jedes Maler- und Frauenauge entzük-

kenden Körper wie Vetter Bob aufivarten konnte, daß aber seine grotesk langen

Gliedmaßen durchaus eigene Reize besaßen. Louis hielt sich in der Ruheposition

stets kerzengerade, und wenn er sich bewegfe,tat er das mit erstaunlicherAnmut.

Allerdings brachte Louis seine Hausherrin niemals in die Verlegenheit, ihn phy-

sisch abwehren oder sich zumindest eine dementsprechende Gewissensfrage stel-

len zu müssen. Eigentlich war Fanny diese ,,Unterlassungssünde" seitens eines

Mannes, der sich öffentlich Unversclr:jimtheiten allerArt herausnahm, schon von

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Anfang an äußerst merkwürdig vorgekommen. Louis erschien ihr zwar nicht imgeringsten wie ein Schuft, der sich körperliche Grobheiten einer Frau gegenüber

erlauben würde - doch im Zuge seiner sonstigen Dreistigkeiten häfte es Fannykaum verwundert, wenn er, sozusagen um die Lage nt erkunden, ein paar ... nunja ... Fingerübungen an ihr ausprobiert hätte. Nicht einmal zu Beginn ihrer seltsa-

men Beziehung unternahm er Versuche in dieser Richtung, und nun, nachdern sie

ihm tiefen Respekt eingeflößt hatte, waren derart plumpeAnnähemngen ganz aus-

geschlossen. Louis hatte eingesehen, daß Fanny weder körperlich noch geistig

erobert werden konnte oder wollte. Er buhlte mittlerweile geradezu um ihre Gunst,

las ihr jeden Wunsch von den Augen ab, unterwarf sich ihr unausgesprochen. Es

verlangte Louis nun nach wahrhaftiger Zuneigung, nicht Kapinrlation ihrerseits.

Er hatte sich in eine mißliche Situation hineinmanöwiert und erkannt, dal3 nur das

vorbehaltlose Eingeständnis der eigenen Sbhwäche ihn retten konnte. In einer Hin-sicht nämlich bediente er sich, obwohl er Fanny ansonsten ohne Hinterlist begeg-

nete, einer geÄellen Strategie, die auf seiner neuerdings erworbenen'Menschen-

kenntnis basierte. Er wußte, daß Fanny keinen Feind vernichten konnte, der mitgestreckten Waffen rücklings vor ihr auf dem Boden lag. Der große böse Wolf -oder war es ein langer böser Wolfl - bot ihr seine ungeschützte Kehle dar und

verließ sich darauf, daß Fannys natürliche Beißhemmung sie unfehlbar daran hin-dern würde, dem ungebetenen Quälgeist etwas zuleide zu tun.

Diese völlige Umkehr der Lage mißfiel Fanny beinahe noch mehr als die frühe-

re Feindseligkeit. Irgend etwas stimmte offenkundig nicht an der ganzen Sache,

das spürte sie überdeutlich. Fanny verabscheute Unterwerfung, sowohl die eigene

als auch die ihrer Mitmenschen. Bob Stevenson hatte sich ihr auf die rechte Artgen?ihert, ihre Freundschaft zu erwerben - die einzige Art, die in Fannys Augen

zv'teier erwachsener Menschen wtirdig war. Er hatte sich weder zu einem riesen-

haften Popanz aufgeblasen, noch war es ihm in den Sinn gekommen, sich vorFanny auf die Knie zu werfen. Seine unbefangene Liebenswürdigkeit und der völ-lige Verzicht auf die üblichen abgedroschenen, schmeichlerischen Phrasen, die

der Mehrzahl aller Frauen den Kopf verdrehten, nahmen Fanny flugs für ihn ein.

Was also war mit diesem undurchsichtigen Louis Stevenson nicht in Ordnung?

Er heischte ihre Zuneigung, erniedrigte sich, ihre Gunst zu erringen: Daß es ihmdabei aber keinesfalls um jene äußerste Gunst ging, die sie ihm in der Meinung der

Welt bereits bezeigl hatte, war mehr als nur eine Ahnung. Louis wünschte sich

eine fertige Familie, ein schützendes Heim, in dem er, die Erlaubnis der ttichtigen

Hausfrau immer vorausgesetzt, sowohl den gütigen Patriarchen als auch ... das

dritte Kind spielen durfte, je nach Lust und Laune! Sobald Fanny dieser monströ-

se Gedanke das erste Mal in den Sinn gekommen war, vermochte sie ihn nichtmehr abzuschütteln. Sah Louis etwa - eine Ersatzmutter in ihr, der reiferen Frau?

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Nur zu bald erhielt Fanny die Bestätigung ihrer Befürchtung. Nach vielen Wo-

chen dauernden Beisammenseins verwendete sie mittlerweile kaum noch Energie

darauf, Louis die obligatorische kalte Schulter nt zeigen - ntrrral sie sich insge-

heim wieder nach einer warrnen Schulter zum Anlehnen sehnte. Die Vorstellung,

sich an Louis' knochige Brust zu schmiegen, kam Fanny nicht mehr annähernd so

abstoßend vor wie zu Beginn ihrer gemeinsamen Haushaltsführung. Niemals wdre

sie bei Louis aber auf die Idee verfallen, den ersten Schritt zu tun, während sie sich

in Bobs Fall irgendwann sicher ein Heru gefaßt hätte. Ohne bewußt auf ein roman-

tisches Töte-ä-t!te zuzusteuern, hatte Fanny eines Abends, als die Kinder schon

im Bett lagen, die idealen Voraussetzungen dafür geschaffen: ein behagliches

Kaminfeuer, eine Flasche besten Burgunders, der für eine mehr als aufgeräumte

Stimmung sorgte. Es fielen einige Bemerkungen - Fanny vermochte sich an-

schließend kaum an den Wortlaut zu erinnern, wußte lediglich noch, daß das Ge-

spräch ansatzweise in erotisch verfiingliche Gefrlde geführt hatte. Das Bewußtsein,

sich mit Fanny allein in einem Raum zu befinden, ließ Louis zunehmend nenröser

werden. Fanny, leicht beschwipst, hielt seine Unruhe irrtümlich für Leidenschaft und

kam ihm langsam, behutsam immer näher. Und Louis? Louis verhielt sichztttar nach

aufien hin,wie es sich für einen Mann in einer derartigen Situation gehörte, legte den

Armum Fannyund machte gehorsamAnstalten, sie zuküssen. Dochjedeverkrampfte,

vor Schreck zu Stein erstarrte Faser seines Körpen rief ihr während der,,IJmarmung"

fürmlich zu: Hör auf, um Himmels willen, schlag mir auf die Firger, dreh den Kopf

weg, wirf mich aus dem Zinner - denn ich habe Angst vor dir!

Der Nebel in Fannys Kopf lichtete sich augenblicklich. Als ihr dämmerte, was

für ein Mann das war, der ihr Bob Stevenson genommen hatte, stieg nackte Wut in

ihr hoch. Ehe sie es sich versah, diktierte ein Teufel, ein nie gekannter Dämon aus

einem geheimen Winkel ihres Hims, Fanny den nächsten Satz.

,,Heute nacht gebe ich dir Gelegenheit, mir alles z.Jzeiger., was du den Mäd-

chen in der Lothian Road gezeigt hast. Ich bin doch schließlich auch eine recht

folgsame Christin ..."Kaum waren die Worte verklungen, erschrak Fanny über sich selbst. Ihr war

heute nacht bloß nach ein wenig Z?irtlichkeit zumute gewesen, nicht nach lüster-

nerAusschweifrrng, wie sie sie Louis,,angedroht" hatte. Louis' fortgesetztes heuch-

lerisches Treiben schien auch in ihr einen bösen Geist wachgerüttelt zu haben.

Nur um ihn zu provozieren, ihn zu bestrafen und zu demütigen, hatte sie das Bor-

dell in Edinburgh erwähnt!

Es kam, wie es kommen mußte: Louis wurde aus heiterem Himmel von einer

scheußlichen Unpäißlictrkeit überfallen - der Wein bekam ihm offenbar nicht, und

das Kaminfeuer erstiche ihn geradezu. Jedenfalls drängte es ihn schleunigst hin-

aus an die frische Luft. An diesemAbend sah Fanny ihn nicht mehr. Am nächsten

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Morgen war sie nicht erstaunt, ihn bei Reisevorbereitungen anzutreffen: Sein Va-

ter war erkrankt, gewissermaßen überNacht, und Louis mußte unverzüglich nach

Schottland aufbrechen, um nach dem armen alten Mann zu sehen. Fanny verstand

seine mißliche Lage - wie gut sie sie verstand!

Das Schlimme an der Geschichte war der Umstand, daJJ sie sich inzwischen

viel zu sehr an den Eindringling gewöhnt hatte, um über sein Verschwinden froh

sein zu können. Louis versprach ihr, so bald wie möglich zu ihr, Lloyd und Isobel

zurückzukehren. Mit gemischten Gefühlen ließ sie ihn ziehen, fest entschlossen,

ihr ursprüngliches, von keinem Stevenson getrübtes Leben in der Kolonie und in

Paris wieder aufzunehmen, als sei nie etwas geschehen. Wie konnte sie ahnen, daß

Louis seine Drohung wahrmachen und dadurch ein viele Monate währender, für

alle Beteiligten zermürbender Kreislauf von Anziehung und überstürzter Flucht

entstehen sollte! Mal hielt Louis es ein halbes Jahr bei Fanny aus, die sich wäh-

rend dieser Zeitspanne wohlweislich in Sachen ,,Leidenschaft" zurückhielt; dann

venchwand er wieder auf ebenso lange Dauer.

Oft wünschte sich Fanny, sie wdre weder Bob noch Louis je über den Weg

gelaufen. Wie friedlich hätte sich ihr Leben im schönen Frankreich gestalten kön-

nen! Nun befand sie sich in ,,festen Händen', deren Besitzer sich mit unschöner

Regelmäßigkeit in Luft auflöste; sie erfreute sich eines Hausfreundes, der tatsäch-

lich nur Freund des Hquses war. Louis hatte von Heirat gesprochen, ohne daß

Fanny ihn im geringsten dazu ermunterte, und meinte es höchstwahrscheinlich

sowieso nicht ernst mit derlei Pläinen. Sein Kommen und Gehen entnervte sie, und

wären die Kinder nicht gewesen, die seine Rückkehr voll inbrtinstiger Sehnsucht

erwarteten, hätte sie am liebsten die Koffer gepackt und sich auf den Heimweg

nach Amerika gemacht. Die Situation, in der sie sich nun befand, schien ihr

entwärdigender als die Zeit der unverschämten Belagerung; zudem kam sie ihr

auf nahezu unheimliche Weise bekannt vor. Eine Strohwitwe konnte sie auch in

San Francisco sein, inAbwesenheit ihres rechtmäßigen Gatten Samuel. Zwei Din-

ge mußte man sogar dem Nichtsnutz Samuel zugute halten: Er brachte von seinen

Beutezügen als Goldsucher genug Geld für den Unterhalt seiner Familie mit, und

er fand - geübter Spurenleser, der er war - wenigstens alle paar Jalre den Weg in

Fannys Bett. Was Fanny, bedingt durch Louis'ferne Existenz, in der Kolonie an

intimer männlicher Zuwendung genoß, war, mit Verlaub, weniger als nichts. Lou-

is' vermeintlicher Besitzanspruch wirkte nachhaltiger zu seinen Gunsten als jeder

mittelalterliche Keuschheitsgürtel. Fanny galt schlicht als unantastbar!

Trotzdem hätte Fanny das unwtirdige Spielchen womöglich bis in alle Ewigkeit

weiter mitgespielt - aus Liebe zu ihren Kindern, die in regelrechten Trübsinn ver-

fielen, wenn ihr Onkel Louis nicht bei ihnen war. Doch der Ztfiall wollte es, daß

Fanny Dinge zu Ohren kamen, die einer stolzen Frau wie ihr nun wirklich keine

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Wahl mehr ließen. Klatsch und Tratsch gehörten in der ländlichen Gemeinschaft

unausgegorener Kifurstlernaturen genauso zum täglichen Leben wie in jeder belie-

bigen Arbeiterspelunke in der Großstadt. Jedes Wort, jede unbedeutende Neuig-

keit machte unweigerlich überall die Runde. Ein Ausspruch des großen Louis

Stevenson aber galt von vomherein als Evangelium und genoß in Sachen Verbrei-

tung höchste Priorität. Da sich allerdings das Zitat, das Fanny so tiefverletzte,

unmittelbar auf ihre Person bezog, befand sie sich naturgemäß unter den anletzt

Aufgeklärten - doch als sie endlich an der Reihe war, erfuhr sie mehr als genug.

Louis hatte nicht nur einem, sondern gleich mehreren Bekannten in Briefen sein

Leid geklagt: ,,Ich werde sie heiraten. Doch - Gott helfe mir! - das Leben eines

Mannes, der die Ehe wählt, ist unwidemrflich vorbei. Sein Weg liegt vor ihm, lang

und kerzengerade und staubig, bis hin zu seinem Grabe. Keine Seitenpfade me\die er betreten darf, keine grünen Wiesen, über die er tollen könnte! Er gewährt

einem Zeugen Zutritt, der alle Handlungen überwacht und den er nicht belügen

kann. Es ist beinah so, als bäte man jenen furchtbaren Engel in sein Haus, der

Buch führt über alle Taten bis zum Tag des Jüngsten Gerichts! Ist man erst verhei-

ratet darf man sich bloß noch anstlindig benehmen - und nicht einmal der Selbst-

mord vermag einen Mann dann noch aus derNot zu retten."

Diese Bezeugung überschwenglicher Vorfreude seitens eines Mannes, der sei-

ne Heiratsabsichten in keinerlei formellen Antrag gekleidet, sondern besten- oder

schlimmstenfalls vage Drohungen ausgestoßen hatte, überstieg Fannys Begriffs-

vermögen. Vor allem aber überstieg solch schriftlich fixierter Unfug Fannys Ge-

duldmit ihrem Peiniger. Sollte der elende Kerl doch auf ewig dort bleiben, wo das

Heidekraut wuchs!

Den allerletzten Stein des Anstoßes, der in Fannys Seele die l?ingst überfüllige

Lawine auslöste, brachte ausgerechnet Vetter Bob ins Rollen. Der gute Bob hatte

inzwischen die persönliche Enttäuschung überwunden und freute sich nun ehrlich

und vorbehaltlos für die beiden ,,Brautleute". Mittlerweile gelang es ihm auch

wieder, erhobenen Hauptes mit Fanny über das Thema zu sprechen. So kam ihm

eine Offenbarung über die Lippen, die Fanny den kargen Rest Selbstbeherrschung

raubte.

,,Es ist schön, daß ihr beide euch zur Heirat entschlossen habt, Fanny. Du bist

die gam große Liebe in Louis' Leben ... na ja" wenn man einmal von Mrs. Sitwell

absieht - aber die war von vornherein völlig uneneichbar für unseren Louis."

Fanny verkrampfte sich unwillkürlich. Von einer Mrs. Sitwell hatte ihr Louis,

der ansonsten so viel und gern redete, kein Sterbenswörtchen erzählt. Fanny fühl-

te keine Eifersucht, aber irgend etwas war ihr nicht geheuer an der Unbekannten.

,,Da kamen mehrere Gründe zusammen", antwortete Bob auf ihre Frage, war-

um Louis das Herz dieser ominösen Mrs. Sitwell nicht hatte erweichen können.

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,,Erstens hatte sie zwölf Jahre mehr auf dem Buckel als er, was sie ihm ständig

vorhielt. Und zweitens zog sie ein Kind groß. Sie lebte zwar von ihrem Manngetrennt, war aber noch verheiratet ... oh, verflucht noch mal."

Bob schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Diesmal begriff sogar er,

daß er sich durch seine unbeabsichtigte Taktlosigkeit um Kopfund Kragen gere-

det hatte. Dennoch drang lediglich einAspekt derAngelegenheit in sein Bewußt-

sein. Er glaubte, Fannys Ehre sowohl als ,,ältere" wie als verheiratete Frau ge-

känkt zu haben. Schamröte stieg ihm ins Gesicht.

,,Schon gut, Bob", beruhigte Fanny ihn, indem sie ihm beschwichtigend die

Hand auf die Brust legte. Ihr gingen garu andere Dinge durch den Sinn. ,,Erzählmir mehr von ihr."

Obgleich der armen Fanny im Laufe von Bobs Bericht abwechselnd heiße und

kalte Schauerüber den Rücken liefen, ließ sie erst davon ab, ihn zum Weiterreden zu

drängen, nachdem er auch das winzigste Detail preisgegeben hatte. Schpnkte man

Bobs Darstellung Glauben - und das durfte man getrost tun -, hätte Mrs. Sitwell

Fannys Zwillingsschwester abgeben können! Frst 1873, also drei Jahre vor seiner

ersten Begegnung mit Fanny, hatte Louis sich,,unsterblich" in eine Freundin seiner

Kusine Maud verliebt: eine schöne, intelligente Frau, die mit l7 Jahren einem Mann

in die Ehe gefolgt war, der sich nur wenig später als Tunichtgut enpuppte. Zwar war

Frances-noch eineFrances!- Sitwell die Gattin einesUnholdes im Predigergewand

geworden, was der blutjungen Fanny Vandegrift im Leben nicht passiert wäre, doch

ansonsten stimmten die Lebensläufe beider Frauen fast haargenau überein.

Mrs. Sitwell, sprachlich und känstlerisch hochbegabt, betätigte sich als Über-

setzerin, Rezensentin und Sekretärin und war unter anderem an einem College am

Londoner Queen's Square beschäftigt. Demnach mußte sie eine Frau sein, die

Louis'Ansprüche in geistiger Hinsicht vollauf befriedigte. Sie sorgte für einen

kleinen Jungen von sensibler, schwächlicher Konstitution, der- zumindest in Louis'

Augen - für die Zuwendung, die Louis als älteres Kind geben konnte, einfach wiegeschaffen schien. Der Kleine war, wie Bob sagte, der reinste Engel.

Wer vermochte damals, im Grez des Jahres 1878, den furchtbaren Schicksals-

schlag vorauszuahnen, der die beiden Frauen namens Frances zusammentreffen

lassen sollte? Zwei Jahre später ki,immerten sich beide in der Schweiz, im Lungen-

sanatorium zu Davos, mit vereinten Kräften um dieselben Kranken - um Louis,

doch weit intensiver noch um Mrs. Sitwells todgeweihten Sohn, dem es genau wie

Fannys kleinem Hervey nicht vergönnt war, das Erwachsenenalter zu erreichen.

Die Mütter, die ein unbarmherziges Los zu geduldigen Krankenpflegerinnen aus-

gebildet hatte, trauerten gemeinsam um Mrs. Sitwells Kind.

Noch schrieb man jedoch das Jahr 1878, und Fanny, die der arglose und geistig

manchmal geradezu unbedarfte Bob über die,,Vorgängerin" aufklärte, schwanden

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zusehends die Sinne. Nun nämlich vermeinte Fanny die endgültige Bestätigung

für ihre langgehegteAngst zu erhalten, daß Louis sich aufder Suche nach einer

Ersatzmutter befand, die ihm in körperlicher Hinsicht nicht geftihrlich werden

würde. Frances Sitwell war, was das betraf, die vollkommene Kandidatin. Die

Gesetze im viktorianischen Britannien satren die Möglichkeit einer Scheidung nicht

vor; Prüderie und Scheinmoral verlangten, daß die gute Christin, wenn sie schon

getrennt von ihrem Ehemann lebte, zu dessen Lebzeiten unerbittlich keusch blieb.

Mrs. Sitwell galt denn auch in der Tat als Modell an Sittsamkeit und Unnahbarkeit.

Darüber hinaus existierte noch ein weiterer triftiger Grund, warum Louis keine

Angst vor der Frau haben mußte, die er voll sehnsüchtiger Leidenschaft seine

,,Madonna", seine,,Sonne" nannte. Hätte ihr Ehemann ohne Vorwarnung das Zeit-

liche gesegnet, wdre Louis, der jugendliche Held, noch lange nicht an der Reihe

gewesen - er hätte sich geduldig hinter dem Galan seiner mütterlichen Freundin

anstellen müssen! Dieser Mr. Colvin, dem es seinerseits beschieden sein sollte,

volle drei Jahrzehnte auf die körperliche Liebe seiner Angebeteten zv warterL,

erkannte in Louis folglich einen so geführlichen Rivalen, daß die beiden während

der ,,gemeinsamen" Wartezeit zu engen Freunden wurden. Louis durfte seiner Göttin

feurige Liebesbriefe schreiben, und doch konnte sich der Glückspilz unfehlbar

darauf verlassen, daß sie ihm bei jedemAnnäherungsversuch einen Klaps auf die

Finger geben würde ...

Fanny, die den letzten kümmerlichen Rest ihrer Geduld dabei aufgezehrt hatte,

Bobs Geschichte bis zum bitteren Ende zu lauschen, entschloß sich nun im Hand-

umdrehen zur Rückreise in die Vereinigten Staaten. Sie fühlte keine Eifersucht -wie hätte sie auch eifersüchtig sein können auf eine Frau, die Louis'Avancen auf

eine Art von schmachtender Madonnenliebe begrenzte und ihm gerade dadurch

mehr entgegenkam, als sie vielleicht ahnte! Die wahre Kränkung, die Fanny nicht

zu ertragen gewillt war, lag in dem Umstand begrtindet, daß sie die vergangenen

Jahre über eine bloße Notlösung für Louis dargestellt haben mußte. Während sie

sich insgeheim so manches Mal über Louis' Epigonen amüsiert hatte, über die

vielen jungen Männer, die ihn in Gestik, Mimik, Haartraclrt und Kleidung zu imi-

tieren suchten, hatte sie selbst die garueZeitnichts als eine armselige Doppelgän-

gerin für Louis' ,,Sonne" abgegeben. Wie sich die Bilder in Louis'Leben doch

wiederholten! Fanny hatte von Kindesbeinen an Gruselgeschichten gelesen, und

das Motiv des Doppelgängers, das in dieser Literatur eine so große Rolle spielte,

liebte sie über alles. Doch niemals, nicht in der schaurigsten Geschichte, war sie

auf ein Zweitwesen gestoßen, das seinem Original derart hoffnungslos unterlegen

war - ja, das sein Original nicht einmal kannte! Eine von Louis zurechtgestutzte

Kunstfigur: das war es, was Fanny nun in sich sah. Sie und ihre Kinder bildeten

eine Art Tableau, ein lebendes Bild, nach dem Louis offenbar immer und immer

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wieder suchte. Aber Fanny war lebendig, keine von seinen Puppen! Viel zu lange

schon hatte sie sich von Louis beeinflussen lassen, ohne es zu merken. Ihre Lang-

mut war erschöpft.

Und da sie sich nun endlich einmal anschickte, Nägel mit Köpfen zu machen,

beschloß Fanny, sich in dernselben Abwasch auch gleich ihres Gatten zu entledi-

gen. Ihre erste Befreiungstat nach der Rückkehr in die Staaten würde die Schei-

dung von Samuel sein. Ihr Dasein als Lückenbüßerin für Louis gedachte sie näim-

lich keinesfalls gegen ein neuerliches Leben als Samuels Strohwirwe einzutau-

schen. Kaum hatte Fanny diesen weitreichenden Entschluß gefaßt, begann sie auch

schon, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Sie packte ihre Habseligkeiten zusam-

men, griffsich ihre widerstrebenden, lauthals protestierenden Sprößlinge und be-

gab sich mit ihnen auf die lange, weite Reise nachAmerika. Dort angelangt, bezog

sie mit Lloyd und Belle Quanier bei einer freundlichen Mexikanerin im Küsten-

städtchen Monterey, unweit von San Francisco. Von diesem Stützpunkt aus, der

ihre finanziellen Mittel nicht übermäßig strapazierte, machte sie sich an die Auf-gabe, ihre Scheidung von Samuel in die gesetzm?ißigen Wege zu leiten.

Niemand aber vermochte auch nur halbwegs angemessen Fannys fassungslo-

ses Staunen zu beschreiben, als eines schönen Tages, viele Monate später, ein

abgezehrtes, klapperdürres Individuum über ihre Schwelle stolperte, das rnan nur

unter Zuhilfenahme blumigster Phantasie als Mr. Louis Stevenson identifizieren

konnte! Hatte der Unglückselige schon in Frankreich als ein Ausbund an Hager-

keit gegolten, so war sein Leib nun dermaßen geschwunden, daß außer Haut und

Knochen nichts mehr übrig zu sein schien. Das Gespensterwesen, das Fanny ins

Haus geweht kam, war überdies krank und fieberte sichtlich: Die Augen in dem

zum Totenschädel abgemagerten Gesicht glänzten so unnatürlich, daß keine ärzt-

liche Diagrrose nötig war, um das festzustellen. Zudenwar Louis bleicher als ein

Laken. Als Fanny den Überraschungsgast ins Bett verfrachtete, schlug ihr der

Geruch von Schnaps entgegen. Das Louis-Wesen bemerkte es und grinste. Es hat-

te sich zuerst ausgiebig betrunken, bevor es gewagt hatte, Fanny seine Aufivar-

tung zu machen ...Nach und nach erfuhr Fanny dann, was der verrückle Mensch alles angestellt

hatte, um zu ihr nach Kalifornien zu gelangen, nachdem ihm zu Bewußtsein ge-

kommen war, daß er es ohne seine unfreiwillige Verlobte nicht aushalten konnte.

Seine Freunde in Frankreich und auch einige Bekannte in London wußten von

seinem himverbrannten Plan, ohne einen Penny in der Tasche die Reise über den

Großen Teich anzutreten, Seine Eltern ahnten nichts davon - wie sich etwas später

herausstellte, ahnten sie nicht einmal Genaueres von Fanny! - und taugten dem-

nach kaum zur Finanzierung seiner neuesten Eskapade. Wieder einmal hatte sich

Louis statt der simplen Watrheit einer seiner Mystifikationen bedient. Seinen Freun-

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den nämlich erzählte er, die gute Fanny sei lebensbedrohlich erkrankt und verlan-

ge in ihrer hilflosen Lage per Blitztelegramm nach seiner trostreichen Gegenwart!

FannysAdresse hatte Louis sich auch zu verschaffen gewußt, und nicht nur die: Er

besaß die Postanschrift eines ihrer Malerfreunde, an die er seine Briefe sandte.

Dieser Mittelsmann, Joseph Strong, agierte allerdings eher im geheimen Auftrag

von Töchterchen Isobel, einer vielversprechenden Nachwuchsintrigantin. Von ihr

mußte Louis auch den Wohnort seiner Familie in spe erfahren haben. Als Isobel

kurzeZeit später diesen Joseph Strong heiratete, der auch für die Existenz Klein-

Austins verantwortlich zeichnen sollte, wunderte Fanny übrigens rein gar nichts

mehr.

Nun, einen oder zwei Pennies mußte Louis besessen haben, doch sicher nicht

viel mehr, denn seine Passage im hoffnungslos überfüllten Zwischendeck des

Emigrantenschiffes Devonic bot nicht ein Mindestmaß an Komfort, dafür jedoch

eine reiche Auswahl an interessantestem Ungeziefer, zwei- wie sechsbeinig. Eine

stark juckende, harträckige Hautkranltreit war die hauptsächliche Ausbeute die-

ser faszinierenden Seefahrt. In New York angekommen, genehmigte sich der be-

reits geschwächte Louis für eine Nacht den Luxus einer Pension, die es getrost mit

jedem Flohzirkus aufnehmen konnte. Dann aber ging es endgültig zur Sache. In-

mitten des Gewimmels, welches durch die gleichzeitige Ankunft von vier Aus-

wandererschiffen venrsacht wurde, schipperte Louis mit der Fähre über den Hudson

nach Jersey City, wo eine fast nicht enden wollende Odyssee quer über den

amerikanischen Kontinent begann. Unz?ihlige Male mußte Louis seine Transport-

mittel wechseln. Oft waren sie derart primitiv, daß der Zug von Council Bluffs am

Ostufer des Mississippi, eine Neueinwanderem und Glücksrittern ,,vorbehaltene"

Verbindung der Union-Pacific-Eisenbahn, sich noch als das bei weitem angenehm-

ste Vehikel erwies. Hier durfte Louis es sich immerhin auf dem Dach bequem

machen, wenn er sich gut festhielt, und war dort oben, sah man von ein paar

Menschentrauben ab, beinahe allein und ungestört. Erst als er ernstlich krank wur-

de - was ihm aber von den Reisegefdtrten nicht verübelt wurde, sondern im Ge-

genteil Anlaß zu allgemeiner Heiterkeit gab -, verließ Louis allmählich der eigene

Humor.

Bei seiner Fanny fand er ihn gottlob in Windeseile wieder, obwohl die Schwere

seiner Krankheit nicht zu unterschätzen war, wie Fanny auf den ersten Blick er-

kannte. Louis'spindeldünes Gerippe, das aufgrund vonAuszehrung und dauern-

der Erschöpfung keinerlei Widerstandskraft mehr besitzen konnte, hatte trotz alle-

dem den Weg zu ihr gefunden - zweifellos angespornt vom eisernen Willen seines

Besitzers. War Louis von einer Idee oder einem Wunsch wirklich beseelt, verlang-

te er seinem armseligen Körper stets das Letzte ab; in diesem Fall aber hatte er

seinen Leib erbarmungslos bis an die äußersten Grenzen gepeitscht, ihn ohne Gnade

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Page 159: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

den weiten Weg entlanggequält, wie er kein kerngesundes Reittier je geschunden

hätte.

Nach all den Strapazen, die Louis um Fannys willen durchliffen hatte, verstand

es sich von selbst, daß sie ihn pflegte - wenn sie ihn auch nach wie vor für einen

ausgemachten Narren hielt. Kopfschüttelnd hörte sie seinem fröhlich vorgetrage-

nen Reisebericht an, obwohl sie ihm ausnahmsweise jedes Wort glaubte. Kein

Mensch, den das Fieber beinahe verbrannte, vermochte so ausgeklügelt zu schwin-

deln! Und kopfschüttelnd sorgte sie für ihn, als derArzt ihm nach einem ausgiebi-

gen Blutsturz die Erlaubnis zum Sprechen entzog und Louis sich mit ihr nur noch

durch gekritzelte Botschaften verständigen konnte. Seine Temperatur war inzwi-

schen normal, sein Verstand so klar, wie das bei diesem verrückten Kerl überhaupt

möglich schien. Jetzt war Louis auch umgehend wieder zur Verstellung f?ihig -ausnahmsweise jedoch, wie Fanny sich verwundert eingestehen mußte, zu einer

Spielart der Täuschung, die ihr den größten Respekt einflößte. Fanny hatte - nicht

ganz unberechtigterweise - erwartet, Louis würde sich aufdem Krankenlager be-

nehmen wie die meisten Männer, nämlich wie ein verwöhntes, ohne Unterlaß jam-

memdes Kind. Louis enttäuschte sie mit seinem Verhalten gründlich. Wohl wis-

send, wie emst es um ihn stand, nahm erden eigenenZustandnichtbloß gelassenhin,

sondem riß die schonungslosesten Witze über die Krankheit und ihreAuswirkungen.

Eine Eigenschaft fehlte ihm ganz und gar: der Hang zum Selbstrnitleid. Louis ließ

jeder leidenden KreaturAnteilnahme zuteil werden, ausgenommen sich selbst.

Und so verbrachte Louis etliche Tage und Nächte damit, guten Mutes Blut zu

spucken und seine Krankheit mit trockenstem Sarkasmus herunterzuspielen, wäh-

rend jeder normale Mann geklagt und hinreichend Berechtigung zur Klage ge:

habt hätte. Louis dramatisierte seine Krankheit sehr wohl: Er gestaltete sie für

seine treusorgende Zuschauerin Fanny zur Farce. Aus Erfahrung wußte Fanny,

daß sich am Krankenbett eines Mannes - sehr viel seltener dem einer Frau! -leicht Liebesbeziehungen entwickeln konnten, die aus dem Mitleid der Pflegerin

und der Dankbarkeit des Gepflegten entsprossen. Wenn der Sieche dann mögli-

cherweise auch noch hüstelte wie die berühmte Kameliendame, die Fanny ein-

mal auf einer Pariser Bühne gesehen hatte, war es oft um Seele und Verstand der

Barmherzigen am Bettrand geschehen. Nun bemerkte Fanny deutlich, daß ihr

ähnliches zustieß - mit dem nicht geringen Unterschied, daß sie auf dem besten

Wege war, sich in einen mit dem Tode ringenden Possenreißer zu verlieben. Sie

hatte nicht damit gerechnet, es eines Tages zu erleben, aber nun bewunderte sie

Louis zutiefst.

Gut, er mochte sterbenskrank sein: doch nicht krank genug, um Fannys Schwä-

che nicht zu registrieren und Nutzen aus dem Augenblick zu ziehen. Folglich schrieb

er Farny prompt einen Heiratsantrag. ,,Bist du gewillt", kritzelte er, ,,dieses untä-

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Page 160: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

tig in deinem Bett herumliegende Knochengestell zum Ehemann zu nehmen?" Als

Fanny ihm zt larlrge mit der Antwort zögerte, fügte er erläuternd hinzu: ,,Es hat

manchmal ein wenig Husten, aber daflir schnarcht es garantiert nicht." Er überleg-

te kurz, machte dann mit dem Bleistift drei Ausrufezeichen, bevor er Fanny den

Zettel reichte. Und grinste bis zu den Ohren.

Fanny vermochte sich nicht länger zu beherrschen und gab dem absonderlichen

Geschöpf in ihrem Bett einen Kuß. Louis wich zurück, doch diesmal aus einem

anderen Grund als sonst. Er schrieb wieder. Fanny las: ,,Steck dich gefülligst nicht

bei mir an - wer sonst soll mir wohl beim Schreiben zuhören?" Die Warnung kam

leider etwas zu spät. Fanny hatte sich während der intensiven Krankenpflege längst

infiziert. Doch der Keim, der von ihr Besitz ergriffen hatte, wirkte sich weniger

auf Fannys Lunge aus als auf ihr Herz . .. denn er hieß Louis.

Warf Fanny zu ihrer eigenen Zuneigung noch die heiße Liebe ihrer beiden Kin-

der in die Waagschale, blieb ihr gar nichts anderes übrig, als Louis zu heiraten.

Leider stand ihr noch immer die Ehe mit Samuel im Wege, wenn auch genauge-

nommen nur die Dauer der legalen Prozedur. Kaum hatte Fanny Louis halbwegs

aufdie Beine zurückgeholfen, begaben sich beide nach San Francisco: Fanny im

Zuge der juristischen Formalitäten, Louis als ihr getreuer Schatten. Dann war es

geschafft, Fanny geschieden - und Louis lag erneut todkrank darnieder, weil die

berüchtigten Nebelschwaden San Franciscos ihm womöglich noch weniger beka-

men als der Dunst von Edinburgh. Die Heirat zwischen Louis und Fanny war denn

auch nicht weniger als eine Feier,,in extremis", wie sogar Louis zugab, eine Not-

hochzeit im Angesicht des drohenden Todes. Dem schottischen Presbyer, der die

zwei in seinern Heim vermählte, gab Fanny als Familienstand,yerwitwet" an. Sie

schämte sich nicht etwa ihrer just vollzogenen Scheidung, sondern war dermaßen

aufgewühlt, daß ihr aus Todesangst um Louis dieser Versprecher unterlief.

Inzwischen hatten Louis' Eltern längst alles über die Umstände erfahren, unter

denen ihr Filius verschwunden war, und zeigten sich unendlich verständnisvoller

und großzügigeq als Fanny es sich hätte träumen lassen. Von Louis'Vater reich

versorgt, konnten die Eheleute mit dem Pullman-Zugund in einer luxuriösen Ka-

bine des Dampfers City of Chester nach Großbritannien zurückkehren - wo sie ein

volles Jahr nach Louis'übersttirztem Aufbruch eintrafen. Die Stevensons hießen

Fanny herzlich willkommen, und ihre Freundlichkeit kam zweifellos von Herzen.

Bei einem Umtrunk war auch Louis'Onkel George Balfour zugegen, der Fanny in

weinseligem Zustande die artigsten Komplimente machte. ,,Du wirst Louis zätr-

men", meinte er. ,,Hab'mil selbst 'n Besen wie dich genommen und's nie bereut."

In Edinburgh lemte Fanny das ,,bürgerliche", großstädtisch zivilisierte Zen-

trum des Stevenson-Klans kennen. lm Zuge der etwas verspäteten, inoffrziellen

Hochzeitsreise, welche die beiden in die entlegensten schottischen Winkel führte,

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zeigte Louis seiner frischgebackenen Gattin das wahre Wirkungsgebiet des m?inn-

lichen Teils der Familie. Andeutungsweise hatte Fanny bereits erfahren, daß die

Stevensons eine veritable Dynastie von Ingenieuren bildeten: vier Generationen

von technischen Erbauern und Erfindern, die sich seit den bescheidenenAnf?ingen

dieser noch jungen Wissenschaft tatkräftig an deren Entwicklung beteiligt hatten.

Doch nun erst, während ihrer Exkursionen, begriff Fanny das tatsächliche Aus-

maß des Stevensonschen Schöpferdranges und Unternehmungsgeistes. Sie ver-

stand auch, dalJ Louis zwar in gewisser Hinsicht ein schwarzes Schaf darstellte,

welches seine Sippe trotzdern nicht weniger innig in ibr weiches, gutnütiges Klan-

Herz geschlossen hatte, daß er in vielen Dingen aber doch gleichzeitig ein echter

Ableger Stevensonscher Wesensart war. In demselben Maße, wie Louis'Vorfah-

ren mütterlicherseits als Prediger Licht in das heidnische Dunkel schottischer See-

len zu bringen trachteten, mühten sich SeineAhnen väterlicherseits seitjeher da-

mit ab, verirrte Seelen zu retten, indem sie ihnen gewissermaßen ein Licht ins

Fenster stellten. Die Bemühungen dieser Blutlinie von leidenschaftlichen Inge-

nieuren aber bewertete Fanny sehr viel höher als die gesammelten Predigten jener

salbadernden Pfaffen. Louis'Vater, seine Onkel, sein Großvater, Urgroßvater und

Ururgroßvater hatten Schottland treulich gedient und waren durch die Bauwerke,

die sie hinterließen, auf ewig mit dem Land verschmolzen. Häfen hatten sie er-

richtet, die den Seeleuten Schutz gaben - doch, was unendlich wichtiger war, auch

die allerersten Leuchtttirme auf den schottischen Inseln.

Selbst Louis'Vater war in seiner aktiveren Zeit-völlig aus dern Metier zurückzu-

ziehen vermochte sich zeitlebens keiner dieser Vollblut-Pioniere - ein überaus

begabter Konstrukteur und Erhnder gewesen. Ihm verdankten Leuchttürme auf

der ganzen Welt das revolutiondr neuartige System des kreisenden Blinkfeuers;

doch war es tlpisch für Thomas Stevenson, daß er nie daran gedacht hatte, ein

Patent anzumelden, und so wurde seine Idee zum Allgemeingut, ohne seinem

Namen den geringsten Ruhm einzubringen. Das aber machte diesem Mann der

Tat, den der Erfolg eines konkreten Unternehmens die größtmögliche Belohnung

seiner Mühen dünkte, entsprechend wenig aus.

Selbstredend hatte ursprünglich auch Louis die Stevensonsche Ingenieurs-

tradition fortsetzen und in die Fußstapfen jener Männer treten sollen, die das Licht

von Zivilisation und Geborgenheit in das düstere Chaos der Meere tmgen. Un-

gern, wenngleich folgsam, hatte sich Louis mit zarten 17 Jatren an der Edinburg-

her Universität eingeschrieben und Physik, Mathematik und Ingenieurswissenschaf-

ten belegt - bis sogar sein stolzer Vater merkte, daß Louis gtinzlich ungeeignet für

den Beruf des Leuchtturmbauers war. Zum einen fehlten dem jungen Mann Nei-

gung und Interesse, zum anderen begann er sich gegen die Tradition der Familie

aufzulehnen. Gutmütig, wie Thomas Stevenson stets war, hatte er den Sprößling

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Jurisprudenz studieren lassen. Juristen taugten zwar im Grunde zu nichts, erfreu-

ten sich aber immerhin einer gewissenAchtung.

Die Tatsache, daß Louis persönlich keinerlei Ambitionen verspürte, der Haupt-

richtung des Klans zu folgen, sondem sich als Dichterschaf weit von seiner Herde

entfernt hatte, verminderte durchaus nicht seinen unbändigen Stolz auf die Emrn-

genschaften der Vorfahren. So kam es, daß er Fanny nach ihrer beider Rückkehr

ausAmerika in einige derwildesten, unzugänglichsten Gebiete seines Heimatlan-

des entführte - um ihr zu demonstrieren, wozu so ein waschechter Stevenson fü-

hig war, wenn er nur wollte! Mit gemischten Gefühlen folgte Fanny der abenteu-

erlichen Route, die Louis für das Paar bestimmte, wobei sie nicht so sehr Abnei-

gung vgr Entbehrungen und Strapazen empfand als vielmehr die berechtigteAngst,

daß Louis, soeben erst halbwegs genesen, auf ihrem Wege einen weiteren Rück-

fall erleiden könne. Daß Louis die Strecke zum größten Teil aus seiner Jugendzeit

kannte, als er seinen Vater auflnspektionsreisen begleitet hafte, so wie einst Tho-

mas seinem eigenen Vater gefolgt war, flößte Fanny schwachen Trost ein. Es war

typisch für alle Stevenson-Ingenieure gewesen, einen Neubau nicht nur zu planen,

sondern auch in sämtlichen Stadien der Fertigstellung zu beaufsichtigen, nötigen-

falls selbst Hand anzulegen und sogar nach vollbrachter Tat den für die Wartung

Verantwortlichen regelmäßig Kontrollbesuche abzustatten. Sie alle mußten, um

ihrer Berufung zu genügen, das Natuell von Befehlshabem besitzen: Strenge, Zucht

und Ordnung galt es zu bewahren, damit die glücklich entzündeten Feuer nicht sofort

wieder erloschen - im wahrsten Sinne des Wortes. Die Stevensons arbeiteten für das

Wohl der Menschheit, insbesondere für das Heil aller Matrosen, die einen sicheren

Seeweg zurück in die schoftische Heimat suchten. In dieser wichtigen Funktion fühl-

ten sie sich berufen, jene widerstrebenden Leuchtturmwäder, welche die lange Ein-

samkeit abgestumpft und nachlässig ganacht hatte, zu ihren Pflichten nt zwlngen.

Als Außeher wwden alle Stevensons flugs zu strengen, doch gerechten Patiarchen,

die von Idealismus beseelt einer höheren Sache dienten und dabei die Untergebenen

lenken mußten - weil diese einfacheq primitiven kute den tieferen Sinn ihres eige-

nen Tuns oft gar nicht richtig zu erfassen imstande waren.

Louis und Fanny durchquerten im Zuge ihrer Expedition Gebiete, die noch immer

genauso wild und von Menschenhand unberührt wirkten wie 100 Jahre zuvor, als

die ersten Stevenson-Ingenieure dort ihre einsamen Bauten errichtet hatten. Wie

unaussprechlich mußten die Qualen gewesen sein, die Louis'Vorfahren freiwillig

auf sich genommen hatten, nur um ihre Reiseziele zu erreichen! Das Land, durch

das sie sich ihre Wege bahnen mußten, wies nicht die geringste Ahnlichkeit mit

den geradezu lieblichen Gestaden der englischen Südküste auf. Weniger als ein

Jahrhundert vor dem ,,Hochzeits"-Gewaltmarsch der beiden Neuvermählten hatte

es vielerorts keine Wege gegeben, von Straßen ganzru schweigen. Pferde versan-

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ken so tief im moorigen Boden, daß der entnervte Reiter lieber zu Fuß ging, als

sein erschöpftes Tier ohne Pause antreiben zu müssen. Das Land sah oft nicht bloßjungfräulich aus - vielfach war der allgegenwärtige schottische Schlamm in der

Tat noch niemals vom Stiefelabdruck eines Menschen verziertworden.Den Höhepunkt der pittoresk-eindrucksvollen Reise bildete eine Überfahrt zum

wohl berühmtesten Triumph Stevensonscher Erfindungsgabe und Hartrräckigkeif zum

Turm von Bell Rock, den Louis'Großvater ersonnen und buchstäblich selbst in die

Welt gesetzt hatte. Die Passage in dem kleinen Schiff der Leuchtturmgesellschaft,

das die Eheleute zu dem berüchtigten Riffbrachte, galt durchaus nicht als ungeführlich.

Die Shömungen und Untiefen in dieser Gegend wurden seit Urzeiten gefürchtet wieböse Geister, denn die Eingeborenen der schottischen Küste waren über die Maßen

abergläubische Menschen. Das Riffvon Bell Rock lag mitten in der See, ungeführ

auf halber Höhe zwischen den Mündungen von Tay rurd Forth, 13 Meilen von Fifeness

und elf von Arbroath entfernt. Eigentlich war es beinahe 1.500 Fuß lang; es besaß

neben vielen anderen unschönen Eigenschaften allerdings den Nachteil, daß es die

meiste Zeit des Tages und der Nacht völlig unter Wasser lag. Erst ein Teufelskerl wieLouis' Großvater hatte den Mut aufgebracht, den unter diesen Umstlinden regelrecht

dreisten Plan für einen Turmbau zu erstellen. Der Türm von Bell Rock galt dement-

sprechend als ein Meisterwerk der Ingenieurskunst. Er war der erste seinerArt, der

auf ständig wasserumspültem Gestein allen Wogen standhielt; die Konstruktion sei-

nes Fundamentes war mittlerweile seit gut 70 Jatren eine unübertroffene, ja uner-

reichte Leistung geblieben.

,,Früher gab es hier nicht einmal ein einfaches Kohlenfeuer, das den Seeleuten

hätte helfen können", erzählte Louis, nachdem sie den Turm erklommen hatten.

Die beiden Leuchtturmwärter kümmerten sich nicht um das Paar, sondern un-terhielten sich unterdessen mit den Leuten vom Boot. Der Wind trug ihre brummi-gen Seemannsstimmen ab und an bis herauf zur Spitze des Gemäuers. ,,Mein Groß-

vater hat es in seinen Aufzeichnungen nie ausdrücklich ausgesprochen, aber ichbin davon überzeugt, daß die Küstenbewohner absichtlich Irrlichter entzündeten,

um die Schiffe an ihre Gestade zu locken. Er hat damals nämlich oft mit eigenen

Augen gesehen, wie ganze Dörfermit Palisaden aus Schiffsplankenumgebenwaren.

Einmal machten die Herren und Damen Strandsucher besonders fette Beute. Einganzes Schiffvoller Weinkisten - und prompt genehmigten sich die guten Leute

zu ihrem Porridge einen gehörigen Schuß besten Clarets. Auch diese armen See-

len haben schließlich das Recht, sich wenigstens einmal im Leben von etwas Bes-

serem zu ernähren als immer nur von Hummer, Krabben und Haferschleim."

Fanny sagte nichts. Bei dem Gedanken an Leuchtfeuer, die man heimttickisch

für seine Mitmenschen auf See entfachte, um ihren Untergang heraufzubeschwö-

ren, wurde ihr speiübel.

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,gein Wrmder, daß die Einwohner so abergläubisch sind. Offenbar haben sie

allen Grund, sich vor der Rückkehr ihrer Opfer zu fürchten. Die Teufel und bösen

Geister, vor denen sie solche Angst haben, sind doch in Watrheit nur sie selbst."

,,Ich glaube, du gehst ein wenig zu streng mit ihnen um", meinte Louis darauf.

,,Weißt du, schon mein Großvater - der übrigens selbst einmal fast ihr Opfer ge-

worden wdre - vertrat die Ansicht, daß diese Menschen in verschworenen Ge-

meinschaften leben und wrs Fremde aus der Zivilisation überhaupt nicht als mensch-

liche Wesen wahrnehmen. Besonders gilt das für die Inselbewohner auf den Orkneys

oder den Shetlands. Im Grunde genommen", fügte Louis plötzlich grüblerisch hinzu,

,,waren meine Ahnen die Todfeinde dieser einfachen Leute. Ohne die regelmäßige

Ausbeute an gestrandeten Schiffen wdre so mancher Insulaner bestimmt einfach

verhungert ..."Fanny protestierte lauthals. ,,Nun übertreib nicht, mein Lieber! Dein Großvater

muß ein bewundernswerter Mann gewesen sein. Nicht umsonst nennt man ihn

schließlicb, wie mir dein Vater erzählte, den Robinson Crusoe der Ingenieurs-

kunst."

Louis nickte, blieb jedoch versonnen, ,,Vielleicht", meinte er dann, ,,hat man

ihn nicht nur seines Einfallsreichtums wegen so genannt. Wer solche Wunder voll-

bringt" - Louis machte eine ausholende Bewegung mit beiden Annen - ,,wer ei-

nen Turm auf Wasser bauen kann, ist oft ein unendlich einsaner Mann."

Fanny schwieg eine Weile. Dann fiel ihr ein, wie sie ihren grundlos betrübten

Gatten aufzuheitern vermochte.

,flinen interessanten Weggef:ihrten hatte dein Großvater zumindest - und zwar

einen Mitreisenden und Vertrauten, um den sogar du ihn dein Leben lang glühend

beneiden wirst!"

Augenblicklich hellte sich Louis' Gesicht auf, als würde es von innen heraus

beleuchtet - wie der Turm von Bell Rock.

,,Du verstehst es, mich aufzuheitern, Fanny", lachte er. ,,Aber du hast völlig

recht. Wenn auch mir der Ingenieurberuf einmal die Möglichkeit gäbe, mit dem

berühmten Sir Walter Scott kreuz und quer durchs Landzu ziehen, könnte ich mir

fast vorstellen, das Familiengewerbe doch noch zu erlernen."

Louis lehnte sich für einen Moment über das auf Hochglanz polierte Messing-

geländer. Wie es aussah, dachte er dabei an jenen Schriftsteller, der Werke wie

Ivanhoe erschaffen hatte und Louis'großes romantisches Vorbild war. Doch als er

endlich zu sprechen begann, merkte Fanny, daß ihm gäinzlich andere Dinge durch

den Kopf gegangen waren.

,,Ich habe mich von einer Familie entfernt, die Leuchttürme gebaut hat - die

besten aller denkbaren Leuchttürme. Ob das ein Fehler war, weiß ich nicht; ich

konnte ohnehin nicht anders handeln. Aber als Ausgleich ..." Louis Stimme wur-

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de leise und hörte sich plötzlich geradeza feierlich an. ,,... gleichsam als Entschä-

digung fürjeden Leuchtturm, den ich niernals errichten werde, habe ich ein Exem-

plar mit zwei Beinen gefunden, dern ich geteulich folge. Sein Licht hat mir bis

nach San Francisco gelzuchtet. Ob ich wollte oder nicht ich mußte dem Licht-strahl nachreisen. Das tue ich auch in Zukunft. Ich weiß ja, daß dieser Leuchtturm

mich vor allem Übel bewahrt."

Fanny senkte den Kopf. ,,Ich wußte gar nicht", witzelte sie dann gezwungen,

,,daß ich eine so ,.. kompahe Figur besitze." Louis' Worte rlihrten sie. Trotzdern

fragte sie: ,,Was ist mit Mrs. Sitrvell, Liebster? Werur ich nicht irre, war sie deine

Sonne. Da kann ein simples Tärmchen wie ich nicht mithalten.'t

Louis stellte sich ihrer Frage, ohne lange zu überlegen.

,,Mrs. Sitwell ist eine Sonne, Fanny.. Sie stahlt für alle, die sie kennen. Aber

was nützt schon die hellste Sonne einem verirrten Seemann, wenn er in dunklerNacht unterwegs ist?"

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,,NA, DAl.rN essN nicht!" fauchte Isobel leise in sich hinein und stürmte mit wehen-

den Röcken aus der Bibliothek, so daß sie Fanny, die in einern Korbstuhl auf der

Veranda saß, in ihrer blinden Hast fast umwarf. Isobel hielt ihren Schreibblock vordie Brust gepreßt, obwohl sie ihn in der Regel in der Bibliothek aufbewahrte. Wie

es aussah, hatte sie einen erhitzten Disput mit Louis gehabt und das Arbeitsmaterial

bei ihrem überstürzten Abgang gleich mit sich entführt. Schon seit geraumer Zeit

zeigte sich Belle ungewöhnlich gereizt und anfüllig für nenröse Ausbrüche, die so

manches bitterböse Wort mit sich bringen konnten. Der Rest der Familie behan-

delte sie mittlerweile wie ein rohes Ei und war dennoch niemals sicher vor dern

merkwtirdigen Zorn, der sie wie aus dem Nichts übermannte und gewöhnlich

Minuten später wieder verließ, als sei nichts geschehen. Ihre Wut ähnelte dem

Dämon, der vor Monaten den liebenden Ehemann Tauilo beinah zum Mord getrie-

ben hätte; gottlob aber war Isobels böser Geist schlimmstenfalls Jekalahydes al-

lerkleinster Bruder. Einerseits fühlte Fanny Erleichterung darüber, daß sie nichtlänger als nervenlranke Außenseiterin betrachtet wurde. Andererseits beurnuhig-

te es sie, daß die gesamte Familie ihr langsam, aber sicher diese zweifelhafte Do-mäne streitig zu machen suchte - jeder auf seine Art. Denn daß Fanny nicht mehr

als überspannt galt, war im Grunde lediglich auf die mangelndeAuftnerksamkeit

der anderen zurückzuführen: Jeder von ihnen schien von früh bis spät so sehr inseine eigenen verschrobenen Marotten versunken, daß Fanny in dem allgemeinen

Durcheinander gar nicht auffrel. Wenn man im Augenblick Belle betrachtete, mitdem Block vor der Brust, den sie wie einen Schild fest umklammert hielt, mitwildem Blick und wutverzerrtem Gesicht, dann konnte man ob ihres geistigen

Gleichgewichts schon ins Grtibeln geraten.

,,Was ist denn geschehen, Kind?" fragte Fanny leise und behutsam. ,,Überfor-dert dich Louis wieder einmal? Er denkt sich nichts Böses dabei, das weißt du

doch. Er redet eben oft sehr schnell und kiknmed sich nicht darum, ob man mit-halten kann,"

,,Hal Mithalten ! DaIJ ich nicht lache!" Isobel stampfte mit dem Fuß aui und füreinen Moment erinnerte sie ihre Mutter an die junge Soenga. Mit dem Unter-

schied, daß Belle sich weit weniger zivilisiert betrug ... und nicht halb so verstän-

dig.

,,Wie soll ich wohl mithalten können, Muttet'', frage jetzt Belle mit hohn-

triefender Stimme, !,wenn der hohe Hen sich nie zu entscheiden beliebt, an wel-

chem verfluchten schottischen Machwerk er sich heute wieder versuchen möch-

te? Wir arbeiten sage und schreibe - sage und schreibe, was für eine treffende

Wortwatrl übrigens! - an vier Romanen gleichzeitig und abwechselnd, oder ab-

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wechselnd gleichzeitig, wie immer man es nennen mag. Am Montag geht es um

einen adeligen schottischen Grundbesitzer, am Dienstag um einen schottischen

Richter, am Mittwoch um einen Franzosen in Edinburgh, am Donnerstag ..i',,Beruhige dich, mein Liebling", raunte Fanny ihrer Tochter zu, um die hy-

sterische Belle zu beruhigen, doch nicht ny',etzt auch um Louis' willen, der die

ganze Unterredung von drinnen sicher unfreiwillig mitanhörte. Das Schrciben fielihm in der Tat zunehmend schwerer. Fabulierkunst und Eifer litten nicht, sondern

wuchsen womöglich noch, aber er brachte kaum noch die Geduld und Selbstdiszi-

plin auf, sich länger als ein paar Tage hintereinander mit ein und demselben Werk

zu beschäftigen. Wenn er dann vollends die Lust an einem Handlungsstrang, ei-

nem Charakter oder gar einem kompletten Romanvorhaben verlor, tat er promptdas einzig Falsche: Er flüchtete sich in eine brandneue Idee, denn solche Ideen zur

Flucht gingen ihm niemals aus. Leider nützten sie ihm nicht das geringste.

,,Ach, Mutter", seufzte nun Isobel, während ihre Wut sich in Luft auflöste. Sie

hockte sich neben Fanny aufden Boden der Veranda und stützte ihreri Kopfaufdie Armlehne des Korbstuhls. ,,Louis ist doch ein dermaßen vielgereister Mann.

Er hat zahllose Länder gesehen und die interessantesten Menschen kennengelernt,

die man sich vorstellen kann - denk nur an den netten König Kalakaua auf Ha-

waii, oder Prinzessin Moe auf Tahiti, oder an diesen Henry James, der fast so gut

schreibt wie er selbst, oder ... ach, es sind viel zu viele, um sie alle aufzuzählen.

Aber worüber dichtet Louis ohne Unterlaß? Über Schottland, Schottland, Schott-

land! Manchmal wäre es mir lieber, er schriebe eine Geschichte über die Lepra-

kolonie, die er vor Jahren besucht hat, oder gleich einen gdnzen Roman! Es magpietätlos klingen, aber die armen Leprakranken sind mir lieber als all diese schot-

tischen Idioten, die ich nicht mit der knge anfassen wtirde, wenn sie mir im Le-

ben begegneten!"

Fanny mußte lächeln. Atrntictr doppelsinnig hatte sich auch Louis seinerzeit

ausgedrückt, um nach seinem einwöchigen Besuch auf der Leprainsel Molokai,die zum hawaiianischen Archipel gehörte, seine Erschütterung und Ergriffenheitzu überspielen. Er war mit den Leprakranken dort so nattirlich umgegangen, als

bemerke er ihre aufs schrecklichste entstellten Gesichter und Leiber gar nicht, und

nach kurzer Zeit auf der Insel haffe er sich in der Tat völlig an den Anblick ge-

wöhnt. Die Zuversicht und Freundlichkeit der Kranken dagegen gewannen seine

tiefempfundene Bewunderung. Mit seltsam versteinerter Miene hatte er hinterher

erkl2irt: ,,Natürlich habe ich Handschuhe getragen, Fanny, das mußte ich. Trotz-

dem war es eine überaus ... anrührende Erfahrung, wenn man so will.",,Du hast recht, Isobel", antwortete Fanny nach kurzem Zögern. ,,Louis könnte

über alles mögliche schreiben, wenn er wollte - das hat er frtiher ja auch oft genug

unter Beweis gestellt. Aber während er erzählt, lebt er in Schottland. Er braucht

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die Erinnerungen an seine Heimat, seine Jugend und seine Wurzeln. Schreib du

überAmerika, wenn du willst, nur laß ihm seine Träumerei." Mit leiserer Stimme

fügte sie hinzu: ,,Oder möchtest du ihm den ganzen Tag beim Roden helfen? Da

schwingst du wohl doch noch lieber den Stift als die Axt."Tatsächlich war Fanny inzwischen froh um jede Stunde des Tages, die Louis

der Schriftstellerei widmete, anstatt sich jenseits des Zaunes herumzutreiben und

fortwährend neue Plätze für den Kahlschlag auszusuchen. Seine Pläne nahmen

immer verrücktere Formen an, und das Schlimmste an ihnen war, daß er sie alle

verwirklichte! Nur gut, dachte Farmy nun oft, dalS Vailima selbst ihn nicht gewäh-

ren läft, es besitzt zuviel abschüssiges, unzugängliches Gelände. Felsvorsprünge,

Abgrtinde, Gebirgsschluchten und nrchtzuletzt die vier Flüsse des Fünfstromlan-

des Vailima mit ihren gigantischen Wasserftillen setzten Louis natürliche Gren-

zen, vor denen er kapitulieren mußte. Andernfalls nämlich - das hatte Fanny nun-

mehr begriffen - wäre Louis nicht mehr aufzuhalten, nicht bevor er ganz Vailimajener ,,Schatzinselkarte" gemäß umgewandelt hätte, die Isobel vor Monaten auf

seinem Schreibtisch ins Auge gefallen war. Nun gut, sollte er das Flachland noch

flacher gestalten; anschließend mußte seine Energie ganz von allein zur Schrift-

stellerei zurückkehren. Ein wenig schuldbewußt dachte Fanny an den anf?ingli-

chen Enthusiasmus, den sie selbst beim Kauf von Vailima an den Tag gelegt hatte:

Damals war sie diejenige gewesen, die mit neuem Saatgut und Stecklingen expe-

rimentiert und von riesigen Vanilleplantagen geschwärmt hatte.

Vailimatrotzte den Kultivierungsarbeiten seines Besitzers durch seine natürliche

Lage. Mit dem von Louis heißersehnten Straßenbau verhielt es sich ?ihnlich bis

auf den Unterschied, daß menschliche Wesen seinen Vorstellungen entgegentra-

ten. In diesem August, um die Mitte des Monats, hatten die betroffenen Häuptlin-

ge ^rm

ersten Mal zögerlich-veöltimt, doch absolut unmißverständlich zu erken-

nen gegeben, dal3 sie nicht beabsichtigten, die von Louis ,,erbetene" Arbeit in Angriff

zu nehmen. Jeder der Stammesfürsten hatte feierlich Boten an den großen Tusitala

entsandt, die Louis Geschenke, Segenswtinsche und die tiefste Verehrung dar-

brachten - und ihm die Botschaft übermittelten, daß ihr jeweiliger Herr und Mei-

ster dem Tusitala alle nur erdenkliche Hilfe bei seinern Unternehmen zukommen

zu lassen gewillt sei. Tusitala könne selbstverst?indlich fest darauf bauen, daß auf

seinen bloßen Wink hin Hunderte von Arbeitskräften zu seiner Verfügung stehen

wtirden: Die Häuptlinge waren notfalls bereit, ihren gesamten Stamm zurArbeit

zu schicken. Was aber den eigeptlichen Kern all dieser weihevoll überbrachten

Botschaften ausmachte, war die unausgesprochene Ankündigwrg: Der Höuptling

persönlich wird sich jeder körperlichen Anstrengung tunlichst enthalten.

Der große Tusitala zwang sich zwar jedesmal zu äußerlicher Ruhe und Höf-

lichkeit, wenn wieder ein Bote mit dieser identischen Nachricht bei ihm eintraf,

t7t

Page 169: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

doch innerlich kochte er vot Zom, Fanny verstand Louis, doch noch besser konnte

sie die durchaus nicht unehrenhaften Beweggründe der Häuptlinge nachvollzie-

hen: Sie fürchteten ihr Gesicht zu verlieren, wenn sie in eigener Person eine Arbeit

verrichteten, die ihre Untergebenen ebensogut und viel schneller zu erledigen ver-

mochten - zumal es sich obendrein um eine niedere, unwürdige, ausnehmend

schweißteibende Plackerei handelte. Hingegen wärde keiner ihrer Untertanen auch

nur einen Bruchteil seiner Ehre einbüßen, wenn er sich für Louis abplagte, denn

der direkte Befehl seitens eines Häuptlings entband den Betreffenden von jeder

Eigenverantwortung. Ausgerechnet der Umstand, daß Louis den Stammesfürsten

um jeden Preis ,,freiwilligen" Einsatz abtrotzen wollte, verbot es ihnen, seinern

Anliegen zu willfahren. Ein Häuptling arbeitete nun einmal nicht für andere Men-

schen, selbst wenn er es gewollt hätte! WZhe Tusitala der König der Insel gewesen,

ein Oberbefehlshaber, der seinen Leuten den Straßenbau barsch abverlangte -jqdann,..!

,,Danit mußtest du rechnen", hatte Fanny zu Louis gesagt, nachdern auch der

letzte der Boten unter zeremoniellern GeprZinge ein höflich verschleiertes, aber

unzweideutiges,,Nein" geäußert und sich in sein Heimatdorf zurückbegeben hat-

te. ,,Erinnere dich nur an das nackte Entsetzen, das unsere Diener packte, als du

ihnen vor Jahren erzählt hast, wie Häuptling Christus seinen zwölf Kriegern vor

dem Essen eigenhändig die Ftiße wusch ... ich habe seinerzeit allen Emstes be-

fürchtet, dieArmen wollten vor Scham den Geist aufgeben."

In diesem August hatte Louis zum ersten Male ernsthaft die Möglichkeit in

Betracht gezogen, die Wirkung der Teufelsflasche, die sich angeblich in seinem

Besitz befand, flir seinen Plan zu nutzen. ,,Zu irgend etwas muß der verdammte

Aberglaube doch taugen", hatte er gemurmelt, ,,es gilt die Sache nur behutsam

anzugehen, um die Eingeborenen nicht zu erschrecken."Auf welche Weise Louis

die Flasche ins Spiel bringen wollte, ohne die Bevölkerung augenblicklich in pa-

nische Angst zu versetzen, war Fanny schleierhaft. Louis hatte niemals zuvor mit

eigenen Worten das Gerücht bestätigt, daß er einen Dämon besaß, und auch Fanny

hütete sich peinlichst vor einem solchen Mißbrauch der imaginären Flasche. Nwzu einer einzigen Gelegenheit hatte Fanny selbst auf den Dämon angespielt, wäh-

rend der Gerichtsverhandlung gegen Tauilo näimlich. Es war ihr auch nicht gerade

wohl dabei gewesen, aus freien Stücken den Teufel in der Flasche zu beschwören,

doch der Akt geschah letzten Endes nicht mutwillig: Die samoanischen Diener

fürchteten sich dermaßen vor jenem Dämon, welcher von Tauilo Besitz ergriffen

hatte, daß sie ohne das ,,Wissen", daß Tusitala diesen Jekalatryde zu,dem ande-

ren" in die Flasche sperren wärde, nie wieder wirklich zur Ruhe gekommen wä-

ren. ImVerlaufe derVerhandlung schienen alle guterDinge, denn die Gefahrhatte

sie soeben verlassen; spätestens bei Anbruch der nächsten Nacht jedoch wäre die

172

Page 170: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Furcht hundertfach verstärkt zurückgekehrt. Fanny hatte die Flasche also fol-gerichtig eingesetzt, um den Eingeborenen ihre Angst nt nehmen - einmal abge-

sehen von dern nicht garz unerheblichen Vorteil, deß dadurch gleichzeitig der Bau

eines neuen Gesindehauses überflüssig wurde ...

Louis dagegen gedachte die Flasche eindzutig als Druckmittel zu verwenden.

Wie subtil er das auch anstellen mochte - das bloße Ansinnen machte Fanny unru-

hig, Es schien ihrnicht richtig, eine solch gewaltige Macht zu mißbrauchen, selbst

wenn man sie gar nicht besafJ: Für die Samoaner stellte sie ja eine unumstößliche

Wirklichkeit dar!

,,Und wie willst du die Sache in die Wege leiten?" hatte Fanny ibren Mann

gefragt. ,,Wie willst du diese unverschämten freien Geister zur Arbeit vor deinen

Karen spannen?"

,,Ganz einfach", hatte Louis ihr zur Antwort gegeben. ,,Ich entsende meinen

eigenen Boten. Du weißt, daß die Flaschenteufelgeschichte in einem Missio-

narsblättchen abgedruckt wurde - auf Samoanisch. Ich lasse unseren Mafulu den

Häuptlingenjene Passage vorlesen, inwelcherder Held sichvom Dämon ein Haus

erbittet. Der Wunsch erfüllt sich - aber durch Menschenwerk."

Fanny hatte unwillHirlich gestutzt, als sie das hörte. Irgend etwas stimmte nicht

gal;rz ar Louis' Behauptung. Sie rief sich den Ablauf der Geschichte ins Gedächt-

nis zurück, so gut sie es vermochte, und überlegte krampfhaft. Dann erkannte sie

Louis'Denkfehler ... vorausgesetzt, es handelte sich wüklich um ein Versehen

und nicht um hinterhältige Berechnung.

,,Wenn ich mich recht erinnere", begann sie langsam ihren Einwand, ,,wünscht

sich Keawe, der Besitzer der Flasche, ein schönes großes Haus an der Küste von

Kona. Er hat ziemlich präzise Vorstellungen, was seinen zukünftigen Palast an-

geht. Wenn du unter ,Menschenwerk' die tatkräftige Mithilfe seines Onkels ver-

stehst ..." Fanny sprach den Satz nicht zu Ende.

,,Nun ja ..." erwiderte Louis, der ihren Vorbehalt verdächtig schnell verstand,

und verstummte.

,,Nattirlich war es ausgesprochen nett von Keawes Onkel, in den letzten Tagen

seines Lebens plötzlich ungeheuer reich zu werden, und noch zuvorkommender

finde ich seine Bereitschaft, mitsamt seinem Sohn und einzigen Erben auf See zu

ertrinken und sich von den Haien fressen zu lassen, nur um Keawe das passende

Grundstück und genug Geld für Baumaterial zu hinterlassen. Ja, doch: Bei ge-

nauerer Betrachtung hat Onkelchen in der Tat sehr kräftig beim Hausbau mitge-

holfen."

Mehr brauchte Fanny nicht zu sagen, damit Louis begntr, daß sie ihn durch-

schaut hatte. Seine ach so feinsinnige und vorsichtige Botschaft an die Häuptlinge

beinhaltete im Grunde nicht weniger als eine perfide Drohung. Wenn der Tusitala,

t't3

Page 171: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

der nun Besitzer derselben Flasche war wie Keawe, seinem Dämon befahl, die

Straße zu bauen, könnte es - als unkalkulierbaren Nebeneffekt sozusagen - Opfer

unter denjenigen geben, die ihn durch ihre Sturheit zu dieser Maßnahme gezwun-

gen hatten. Tusitala und der weiße Kern seines Klans befanden sich in Sicherheit,

doch für die Unversehrtheit eines Außenstehenden konnte auch der Zauberer kei-ne Garantie mehr übernehmen, sobald er die Macht des Dämons durch den vonihm ausgesprochenen Wunsch erst einmal entfesselt hatte.

Louis fühlte sich ertappt und schaute schuldbewußt drein.

,,Ich weiß genau, wie sehr dich die Häuptlinge enttäuscht haben", meinte Fanny

sanft. ,,Nattirlich gaben sie dir damals im GefZingrris vonApia dieses dumme Ver-

sprechen, das nur Gerede war - und dessen bist du dir im Grunde deines Herzens

auch bewußt. Aber deine Schuld liegt darin, daß du diraus einer Fülle hohler

Phrasen, deren Nichtigkeit du an Ort und Stelle erkanntest, erst später eine Art . . .

eine Art Blankovollmacht zurechtgebastelt hast. Noch dazu eine religiös und dä-

monisch verbrämte! Du hegst tiefen Groll gegen dieselben Männer, für die du

dich ehrenhaft eingesetzt hast. Das gibt dir aber keineswegs das Recht, sie nun so

böse einschüchtern zu wollen." Als sie bemerkte,'wie nachhaltig ihre Vorhaltun-

gen Louis getroffen hatten, fligte sie scheinbar scherzhaft hinzu: ,,Solche Arglistliegt doch überhaupt nicht in deiner Natur. Das kann dir nur ein kleiner Teufel der

Verblendung eingegeben haben. Sieh bloß z-u, daß du diesen echt schottischen

Kobold so rasch wie möglich loswirst." Fanny lächelte ihren Gatten freundlich an,

obwohl ihr durchaus nicht nach Lächeln zumute war.

Louis hatte darauflrin angektindigt, seine Taktik abändern zu wollen, da sie

seiner, wie Fanny ihm mit Fug und Recht vorAugen gehalten hätte, alles andere

als wärdig war. Zwar sollte Mafulu nach wie vor die Häuptlinge außuchen und

Tusitalas Ehrbezeigungen überbringen; anschließend wtirde es aber sicher genü-

gen, wenn der junge Mann an einer ,passenden Stelle" des Gespräches dezent

einwürfe, daß Besitzer und Dämon es einfach ,,vorzögen", daß die Mächtigen der

Insel das Werk übernZihmen.

Diese erheblich gemilderte Version des urspränglichen Planes erschien Fanny

immer noch aggressiv genug. Man mußte nun abwarten, wie die Häuptlinge aufLouis' Shategie reagierten. Der junge Mafulu galt zv'rar als rednerisches Talent

mit enormer Überzeugungskraft, doch in Gegenwart eines Stammesoberhauptes

wtirde er sich wahrscheinlich derart ,diplomatisch" aus der unangenehmenAfflire

zu schlängeln versuchen, daß von der ihm aufgetragenen Botschaft nicht mehr

viel übrigbleiben wärde. Es war nicht einmal ausgeschlossen, daß Mafulu, der die

delikaten und überaus komplexen Feinheiten samoanischer Politik sehr gut be-

herrschte, Tusitalas Worte geschickt in ihr exaktes Gegenteil verkehrte, um nie-

mandenunangemessen zu verZirgem. Nichtumsonsthatte derjunge Mann die wich-

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tige Funktion des Türhüters am großen Zaun inne, einem Dreh- undAngelpunkt inTusitalas Reich!

Fanny nahm es ihrem Gatten nicht übel, daß er seinen samoanischen Freundengegenüber eine Kriegslist anwenden wollte. Allerdings sorgte sie sich nun um so

mehr um ihn, da sie verstand, was ihn zu seinem Erpressungsversuch verleitethatte. Der August dieses Jahres hatte sich zu einem Monat voller übler Nachrich-ten entwickelt; die Widerborstigkeit der Häuptlinge brachte das Faß lediglich zumÜberlaufen. Schon zuAnfang des Monats hatte Louis Post aus England erhalten,

die ihn grtindlichst aus der Fassung brachte. Es handelte sich um den BriefeinigerSchriftstellerkollegen, die er seit seiner Studienzeit kannte. Nattirlich war das an

sich nichts Besonderes; Louis empfing regelm?ißig GrtiIJe und Neuigkeiten, Klatsch

und Tratsch frisch aus den spitzen Federn seiner literarischen Freunde aus Schott-

land und England. Bei diesem speziellen Schreibenjedoch handelte es sich umeine Einladung des zu Unrecht berühmten Londoner Savile Club, jenes infamen

Vereins von Kleingeistern und Saufbrüdem, der sich selbst für den Nabel der

känstlerischen Welt hielt. Die meisten Mitglieder dieser Horde von Wichtigtuemwaren Fannys erklärte Todfeinde - tiefer, unversöhnlicher Haß von beiden Seiten

prägte die Beziehung zwischen Fanny und dem Club. Und dabei hatte es Fanny

vor ihrem ersten Zusammentreffen mit den Savile-Poeten für völlig unmöglichgehalten, daß sie irgendeinen Menschen auf der Welt wirklich brennend zu hassen

imstande sein könnte. Kurz nach ihrer Hochzeitsexkursion mit Louis hatte sich

wieder einmal herausgestellt, daß Louis' geliebte Heimat seine Zuneigung nichterwiderte; das Paar sah sich gezwungen, zu den SchweizerAlpen auftubrechen,um den ausgemergelten Kranken dort nachhaltig aufzupäppeln. Auf dem Wege

zum Kontinent machten die beiden Zwischenstation in London, um Louis' alte

Geführten zu treffen. Louis war geradent außer Rand und Band vor kindlicherVorfreude, und Fanny, die ihm den vermeintlich harmlosen Spaß von Herzen gönnte,

welcher ihnen im Grosvenor Hotel bevorstand, nahm sich fest vor, Louis' Freunde

zu den ihren zumachen. Das KänstlervölkchenvonFontainebleauhatte sie schließ-

lich auch liebgewonnen - lange vor Louis'Ankunft.Doch auf was für aufgeblasene, verlogene ,,Freunde" war sie dann im Gros-

venor Hotel gestoßen! Auch sie feierten,,ihren" Louis - oder R. L. S., wie sie ihnzu nennen beliebten - wie ihren ungekrönten König, das verstand sich von selbst.

Zum einen aber hatten sie dazu auch allen Grund, denn verglichen mit den Malernvon Grez handelte es sich bei den Vertetern des Savile Club um eine Ansamm-

lung von witz- und phantasielosen Gesellen, die Louis nicht annähernd das Was-

ser reichen konnten. Was ihnen an Geist fehlte, versuchten sie mit Weingeist wett-zumachen - aber auch die Geister in den zatrllosen Flaschen, die sie auf Louis'Kosten leerten, halfen ihnen kaum nennenswert aufdie Sprünge. Zum anderen

t75

Page 173: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

erwiesen sich die Freunde aus Louis' fröhlichen Junggesellentagen als erbärmli-che Schnorrer, die die angeborene Großzügigkeit des Mannes, den sie wie selbst-

verständlich in ihre Mitte nahmen, schamlos ausnutzten. Louis, der offiziell gar

nioht als Gastgeber der Festlichkeit galt, fand sich zum Schluß nichtsdestotrotz im

,,Besitz" einer Rechnung wieder, deren Höhe sogar ihn erbleichen ließ. Obwohljeder wußte, daß Louis noch immer keine Einktinfte erzielte, die ihn ohne seines

Vaters Hilfe hätten überleben lassen, h?ingten sich die Freunde liebevoll an ihnund saugten ihn aus bis auf den letzten Blutstropfen.

All das jedochhätte Fanny ihnenbereitwillig durchgehen lassenundwenigstens

an diesem einenAbend gute Miene zu ihrem bösen Spiel gemacht, zumal sie sah,

wie prächtig Louis sich mit den Kumpanen von einst amüsierte. Fanny hatte sich

vor dem Dinner vorgenonrmen, ihren ganzen Charme spielen zu lassen, um nie-

manden - schon gar nicht Louis - aufden Gedanken zu bringen, daß der Ehestand

ihn notwendigerweise sämtlicher Freuden der Jugendzeit berauben miisse. Einenguten Tropfenwußte auch Fanny stets zu schätzen, und daß manbei eiiem feucht-

fröhlichen Wiedersehen nicht immer Maß halten konnte, leuchtete ihr ein. Was

aber Louis' Freunde mit dem Kranken in ihrer Mitte anstellten, spottete jeder Be-

schreibung. Wie immer ignorierte Louis selbst sein Leiden und seinen gefiihrde-

ten körperlichen Zustand völlig, wurde statt dessen zusehends aufgekratzter, sprit-ziger und geistvoller, sehr zur Erbauung seiner stumpfsinnigen Genossen. Ein wrfr-licherFrctndjedoch hätte bemerken müssen, daß sich in Louis' glücklichem Ge-

sicht bald hektische rote Flecken zeiglen, daß seine Augen einen fiebrigen Glanzannahmen und daß sein abgemagerter Leib von immer stärker werdenden Husten-

anf?illen geschüttelt wurde !

Schon in derselben Nacht mußte Fanny notdtirftig den Schaden begrenzen, den

die Savile-Club-Halunken angerichtet hatten. Gottlob entwickelte sich aus Louis'Husten kein ernsteres Leiden wie etwa ein Blutsturz, doch das war reines Glück.

Fanny setzte durch, daß Louis so schnell wie möglich vor seinen Kameraden -diesen ,,als Freunde verkleideten Schurken", wie Fanny die Bande seitdem stets

nannte - das Weite suchte und mit ihr auf den Kontinent weiterreiste. Doch sie

merkte schnell, daß die schädlichen Verehrer ihres Mannes frtiher oder später

zwangsläufig an jedan Ort auftauchten, den sich die beiden als Kurort oder Erho-

lungsstätte erkoren hatten. Innerhalb Europas waren Louis und Fanny nirgendwo

vor ihren Überf?illen sicher - wobei Louis die Besuche nattirlich nicht als unange-

nehm empfand, weil er vor den unvermeidlichen Folgen der Heimsuchungen die

Augen fest verschloß. Fanny aber durfte das armselige Häuflein Scherben

zusammenkehren und notdtirftig kitten, das die Verbrecher von Louis übrigließen!

Als das Paarim südfranzisischenHyäeswohnte, verschlepptenHenleyundBa<ter,

die nicht einmal die Schlimmsten der Truppe waren, Louis auf einen ,,Ausflug"

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Page 174: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

nach Nizza ... und Fanny mußte den Schwerkranken ohne Unterstützung zurück

nach Hyöres bringen, wo er nicht nur wochenlang unfreiwillig schweigend

darniederlag, sondern eine dicke grüne Schutzbrille zu tagen hatte. Einzig Vetter

Bob, aufden stets Verlaß war, halfFanny aufopfernd bei der Krankenpflege. Lou-

is, wieder einmal am Rande des Todes, kritzelte unterdessen seine üblichen auf-

munternden Kommentare - doch die Bemerkung, daß sich der wunderschöne Prinz,

den Fanny geheiratet hatte, leider in den urspränglichen Frosch zurückverwandelt

hatte, konnte weder Bob noch Fanny zum Lachen bringen. Zu bedauemswert sah

das Opfer seiner trinkfesten, kerngesunden falschen Freunde aus.

Auch in Boumemouth, einem der wenigen Kurorte in England, die das Paar auf

der Suche nach Heilung ausprobierte, waren die beiden vor den Savile-Freunden

nicht sicher. Das hübsche Häuschen am Strand, das Louis'Vater seiner Schwie-

gertochter geschenkt hatte und das Fanny - eingedenk des gleichnamigen, von

Thomas gebauten Leuchtturms - auf den Namen ,,Skerryvore" taufte, wurde ihr

durch die Besuche der verhaßten Männer beinatr ganz verleidet. Der einzige Gast,

den Fanny dort immer gern sah, war der Amerikaner Henry James, ein nrhiger,

besonnener Gentleman. Wenn Mr. James hereinschaute, stimulierte seine bloße

Gegenwart Louis auf eine gesündere Art, als es jeder andere Mensch vermocht

hätte; er steigerte Louis'seelisches und körperliches Wohlbefinden, und nicht zu-

letzt deshalb hielt Fanny stets einen Platz bei Tisch für ihn bereit.

Auch Bournemouth mit seinem milden Klima verschafte Louis keine Linderung;

die Tatsache, daß dies zum großen Teil der Näihe Londons und damit den regelmä-

ßigen Besuchen des Savile Clubs zuzuschreiben war, verdrängte Louis selbstver-

ständlich völlig. Louis warf Fanny,,übertriebene Fürsorglichkeit" vor, wirre Ang-

ste, unter denen seine alten Freunde überflüssigerweise mitzuleidan hätten - ja,

die Halunken vom Club zeichneten sogar für die ersten ernsthaften Streitigkeiten

des Ehepaares verantwortlich. ,,Du bist in der Tat eine Künstlerin, Fanny", pflegte

Louis in jener Zeit zu ihr zu sagen, ,,du verstehst dich auf die seltene Kunst, aus

dem strahlendsten Feuerball am Himmel eine totale Sonnenfinsternis zu erschaf-

fen." Fanny erwiderte nichts darauf. Sie dachte an Mrs. Sitwell, die sie inzwischen

kennengelernt hatte, und wußte, daß Louis sogar ihr, seiner Sonne, in dieser Situa-

tion dasselbe Kompliment hätte machen müssen. Denn auch Mrs. Sitwell hätte

nach Kräften versucht, den falschen Freunden den Garaus zu machen.

Fanny gelangte bald zu der traurigen Gewißheit, daß Europa Louis nicht mehr

helfen konnte. England erwies sich mittlerweile als kaum weniger zuträglich für

seine Gesundheit als die Schweiz, deren sterile Gebirgssanatorien ihn bedrückten

und seiner Konstitution alles in allem mehr Schaden als Nutzen brachten. In Eng-

land war Louis zumindest seinem Vater ndher, der nach einer ganzen Reihe von

Schlaganfüllen selbst zunehmend schwächer und hinfülliger wurde. Als Thomas

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Stevenson schließlich starb, gelang es Fanny, Louis zum Aufbruch in die Verei-nigten Staaten zu bewegen, zumal Louis' Mutter Maggie die Idee sofort nach Kräf-ten untersttitzte und flugs ihren eigenen Koffer für die weite Reise packte.

Nach Amerika folgten ihnen die Savile-Kumpane nicht - ein glücklicher Um-stand, den Fanny vorausgesehen und in ihre Pltine mit einbezogen. hatte: Diese

Londoner Snobs, die nicht einmal die Energie einer älteren Lady wie lvfrs. Tho-

mas Stevenson besaßen, behaupteten einfach dreist, daß kein Schriftsteller sich

für längere Zeit aus London wegbegeben dürfe, ohne daß er einen,,sittlichen Scha-

den" davontrüge. Was Trunkenbolde wie sie unter der Bezeichnung,,sittlich" ver-standen, begehrte Fanny allerdings nicht zu wissen. Einervon ihnen, ein gewisser

Gosse, ging sogar noch einen Schritt weiter und erklärte, daßjeder Poet der engli-schen Zunge, der sich mehr als drei Meilen von Charing Cross entfemte, unwei-gerlich seiner Begabung und seiner Reputation verlustig gehen müsse. Falls Fanny

einen endgültigen Beweis dafür benötigt hätte, daß sie es mit einem Haufen aus-

gemachter Schwachköpfe zu tun hatte, so wäre dieser Ausspruch wohl das best-

mögliche Zeugnis gewesen. Es verstand sich von selbst, daß Louis'Vereinsbrüder

Fanny nach ihrer Abreise noch weit mehr haßten als je zuvor - hatte das Weib

doch den Freunden ,,ihren Louis" in die Wildnis entführt!

Aber dort, ausgerechnet in der,,Wildnis" des Staates NewYork, empfingen ihnzum ersten Male die Scharen von Zeitungsreportern und Verlegern, die Louis nach

Mr. Gosses Theorie - nämlich aufgrund seiner teulosen Abkehr vom gelobten

Lande Albion - niemals hätte zu Gesicht bekommen dürfen. Wie sich herausstell-

te, erfreute sich seine Erzählung von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die kurz zuvor inEngland publiziert worden war, in Amerika ganz besonderer Wertschätzung. Loti-is befand sich plötzlich in der glücklichen Lage, sich die günstigsten Verträge

aussuchen zu können: Er war über Nacht zu dem geworden, was man einen ge-

machten Mann nannte. Nachdem er mit dem Verlagshaus Scribner's die Überein-

kunft getroffen hatte, regelmäßige Essays und Artikel abzuliefern, widmeten er

und seine Gefolgschaft, nunmehr barjeder finanziellen Sorge, sich am Saranac-

See ausgiebig der Genesung des Klan-Oberhauptes und - des frischgebackenen

Emährers der Familie.

Auch dieser Gebirgssee, eines der bekanntesten Refugien für Lungenkranke,

die Nordamenka an bieten hatte, verschafte Louis allenfalls etwas Linderung:

Jede dauerhafte Heilung war ausgeschlossen. Fanny unternahm alles in ihrer Macht

Stehende, damit Louis den bitterkalten Winter heil überstand - sie machte sich

sogar eigens auf den Weg ins kanadische Montreal, um ihm gefütterte Indianer-

stiefel zu besorgen. Louis wußte ihre Aufrnerksamkeit gebährend zu schätzen und

äußerte, er sei nun sicher, dalJ zumindestseine Füfie gut über den Mnter kommen

würden ... für den bescheidenen Rest seines Kadavers könne er nicht garantieren.

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Das war seine spezielle Art, leise anzudeuten, daß sich wieder einmal eine Hoff-

nung aufGenesung zerschlagen hatte. Fanny wußte nun, daß es an der Zeitwar,

mitl-owsdiejenlgeReisezuunternehmeq die imRufe stand beinahejedes Lungen-

leiden zum Stillstand zu bringen. Sie baute dabei aufden Umstand, daß sich Welten-

bummler Louis dermalJenblitzartig für eine neue Reiseroute zu begeistern ver-

mochte, daß er hinterher kaum noch wußte, wer ihm die Idee eingeflößt hatte - ja

daß er in der Regel überzeug rr, er sei von ganz allein aufden Gedanken verfal-

len. So fügte es sich, daß Louis während der frostigen Wintertage am Saranac mit

wachsender Verzückung von all den pazifischen Inseln zu sprechen begann, die er

schon'sein Leben lang hatte besuchen wollen. Wie wäre es, wenn die Familie von

San Francisco aus einmal einen Abstecher in die Südsee machen würde ... wo-

möglich einen etwas ausgedehnteren? Fanny frohlockte innerlich. Louis mußte

nur diesen Winter überstehen, und der ihm untergeschobene Einfall wie auch die

durch den brandneuen Reiseplan geschtirte Hochstimmung würden ihm dabei

maßgeblich helfen!

Louis' Enthusiasmus wurde durch eine Reihe wunderbarerund in hohem Gra-

de merlo,vürdiger Z:ufdlle, die sich im Laufe der folgenden Wochen ereigneten,

noch weiter angestachelt. Sein Verleger Scribner beispielsweise trug den Vorschlag

an ihn heran, eine Serie von Reiseberichten und Essays zu verfassen, die ausge-

rechnet inder Südsee angesiedelt sein sollten. Und dem amerikanischen Verleger

und Herausgeber McClwe, der im Jahr 1884 die erste landesweite Nachrichten-

agentur eingerichtet hatte, war durch ,,Dritte" zu Ohren gekommen, daß Louis

eine Reise nach Polynesien plante. Wenn Louis der Agentur in bestimmten Ab-

ständen Zusammenfassungen seiner Eindrücke zukommen lassen wolle, meinte

Mr. McClure, solle es sein Schaden nicht sein. Louis fühlte sich geschmeichelt,

wenn er sich auch in stillen Stunden wunderte, wie schnell die unausgegorenen

Träume eines halbwegs berühmten Mannes die Runde machen konnten. Fanny

lächelte still in sich hinein: Louis mußte schließlichnicht alles über die Macht des

Zufalls wissen ...

Im Frühling machte sich Fanny dann allein auf den Weg nach San Francisco,

um sich dort nach einer passenden seetüchtigen Segeljacht umzusehen, während

Louis sich in New Jersey und New York herumtrieb, auf Mark Twain stieß und

neue literarische Kontakte knüpfte. Nach ausgiebiger Suche fand der Schoner

,,Casco" Gnade vor Fannys Augen, die unerbittlich durchdringend waren, wenn es

sich um Louis'Wohlbefinden drehte. Er selbst legte wätnend seiner Schiffsreisen

auf Luxus keinen Wert, was noch anging: Daß sein Körper aber ein Mindestmaß

ar Komfortbenötigte, wollte der sture Mensch nicht walrhaben. Fanny gratulierte

sich mit Recht zu ihrer Wahl des Schiffes, ebenso zur Auslese des Kapitäns und

der kleinen Mannschaft, die sie im Hafen von San Francisco anheuerte. Es waren

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gerade genug Matrosen an Bord, um alles problemlos unter Kontrolle zu behalten,

wenn die See friedlich blieb. Falls einmal rauhe See herrschen oder gar ein Hurri-kan aufkommen sollte - und die ,,Chancen" dafür standen im ,,Stillen Ozean"ganz hervoragend! -, würde auch Louis sich ausgiebig in der Takelage zu bewäh-ren haben, Die tatkräftige Arbeit als Seemann bekam seiner Gesundheitmerkwtirdigerweise stets ausgezeichnet, garzzrschweigen von seiner seelischen

Verfassung. Indem Fanny also nicht mehr Seeleute anheuerte als unbedingt nötig,zwar;rg sie Louis ohne dessen Wissen zu seinem Glück: Er liebte jede Form vonWagnis, doch ein richtiges Abenteuer war für ihn im Grunde nur dasjenige, inwelches man unerwartet hineinschlitterte und in welchem man sich, so gut es ging,

zurechtfinden mußte . .. oder unterging. Nun, Louis würde gewiß auf seine Kosten

kommen und den Spaß seines Lebens haben. In bezug aufihre eigene Person heg-

te Fanny gemischte Gefiihle. Sie war weiß Gott eine reiselustige Frau, freute sichunbändig aufdie Südsee - doch sie wußte um die bevorstehenden Höllenqualen

der Seekrankheit, die nur sie allein wtirde durchleiden müssen. Der forte KapitänOtis versprach ihr zwar, er habe im Bedarfsfall einige ,,unfehlbare" Mittel in petto,

doch Fanny blieb skeptisch. Kein Mensch, der noch nie bei hoher See unter Übel-keit gelitten hatte, vermochte dieses Martyrium nachzuempfinden.

So hatte Fanny also die Reise in die Wege geleitet und ihren Gatten am Ende

tatsächlich in Gefilde gelotst, die seine Krankheit zum Verstummen brachten. Aberauch die Halunken vom Savile Club behielten in gewisser Weise recht, wenn sie

Fanny vorwarfen, sie habe ihnen Louis - wie es zumindest ganz denAnscheinhatte - für immer und ewig entzogen. Dabei wußten sie nicht einmal von der

Existenz des verhaßten Sägefisches, der Louis' Spuren folgte! Fanny hatte nach

bestem Wissen und Gewissen den Weg dafür geebnet, daß Louis nun gesund undmunterwar, zumindest körperlicfu doch war sie damit gleichzeitig für sein lebens-

langes Exil, für seine furchtbare Gefangenschaft verantwortlich? Der Gedanke

drängte sich ihr unweigerlich auf, und es gelang ihr nicht, ihn abzuschütteln. Na-tärlich hatte niemand mit der ausgesprochenen Extravaganz rcchnen können, die

Louis'Krankheitsverlauf seit ihrerAnkunft in der Südsee genommen hatte ... unddoch: Hätte Fanny nicht vielleicht besser daran getan, Louis die wenigen letztenJahre in der Heimat zu versüßen, anstatt ihn zu diesem unheimlichen Quell der

Heilung zu schleifen, der Samoa hieß?

Vor ein, zwei Jahren noch hätte Fanny die Frage mit einem rigorosen, ja völligverständnislosen ,,Nein" beantwortet, und auch jetzt rang sie sich zumindest zu

einem leisen, langsamen Kopfschütteln durch. Fanny hatte viele Wochen mit Lou-is in Schottland verbracht: Nur selten wirkte er an Ort und Stelle wirklich glück-lich. Es warweniger das tatsächliche Schottland des 19. Jahrhunderts, an dem sein

Herz hing, als vielmehr das Kaledonien seiner Phantasie, seiner Ahnen, seiner

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literarischen vorbilder. Allerdings konnte er die Bilder, die in seinem Inneren leb-

ten, nur in Schottlands Burgen, Mooren und Hochlandgegenden vollkommen mitder Wirklichkeit der Gegenwart in Einklang bringen, Zu gewissen Stunden des

Tages, zumeist am fiühen Morgen und spätenAbend, wenn die Laternenanzünder

ihre Runden machten, gelang es Louis auch, das Edinburgh von einst getreulich

aus der historischen Versenkung heraufzubeschwören. Im Grunde aber lehnte er

die moderne Metropole von heute ab, soweit sie ihm nicht dazu diente, Altes zu

geistigem Leben wiederzuerwecken. Im Laufe ihrer gemeinsamen Reisen hatte

Fanny erkannt, daß Louis jeden Landstrich mit Schottland - seinem Ideal vonSchottland - verglich: Südfrankreich liebte eq weil es ihn an die Sonnentage sei-

ner im Hochland verbrachten Kindheit erinnerte. Fanny wußte nicht zu sagen, wie

so ein ,,Sonnentag" in Schottland aussehen mochte, denn sie hatte niemals einen

erlebt, aber Louis' Eltern bestätigten ihr schmunzelnd, daß das von Louis beschrie-

bene Phänomen tatsächlich ein- oder zweimal im Jahr bei ihnen auftrat. InAmeri-

ka war Louis ebenfalls auf ein Fleckchen Erde gestoßen, das größtenAnklang bei

ihm fand. Im Hochland der Adirondacks entdeckte Louis viele vertraute Einzel-

heiten wieder. Einzig die ,,henliche Farbe der Torfrnoore" fehlte zum höchsten

Glück - und natürlich das unverzichtbare Heidekraut.

Nein, auch im heutigen, modernen Schottland wäre Louis nie auf Dauer glück-

lich gewesen. Aber er hatte die Freiheit der Watrl seines Wohnortes genossen, be-

vor er Samoa betrat, und den nötigen Spielraum ntr Suche nach dem Paradies ...

ob es nun ein Eden auf Erden gab oder nicht. Samoa war gewiß nicht sein Traum-

land, doch ein böses Schicksal wollte es, daß er hier im Exil endlich sein Traum-

land,,fand". Er verwechselte jetzt das wirkliche Schottland mit dem idealen Reich

seiner Phantasie, warfbeide in einen Topf- und wußte doch nur eines ganz genau:

daß er das Land seiner Sehnsucht niemals zu Gesicht bekommen wärde, solange

er lebte. Das Paradies lag auf der anderen Seite der Welt, exakt da, wo Louis nicht

leben konnte. Vielleicht, dachte Fanny, war das ja eine Art Naturgesetz . . .

Die schriftliche Einladung seiner Freunde vom Savile Club hatte erneut die

alte, nie vernarbte Wunde aufgerissen. Fanny mußte, wenn sie Gerechtigkeit wal-

ten ließ, einräumen, daß die Clubmitglieder Louis teils aus Unkenntnis seiner

walren Lage quälten. Ihre nachdräcklich vorgebrachte Bitte, Louis möge doch in

einigen Monaten endlich wieder einmal der englischen Hauptstadt einen Besuch

abstatten und seinenAufenthalt mit einem großen Festakt im Club verbinden, war

sicher nicht als ein Zeichen abgründiger Bosheit zu werten. Nun gut, Fanny er-

wähnten sie nicht in ihrer Einladung; andererseits mußten sie davon ausgehen,

daß Louis niemals ohne seine Gattin bei ihnen erschienen wäre. Louis' alte Freun-

de verstanden tatsächlich nicht, warum er sich so gegen die Außenwelt abschotte-

te, und wollten den kauzigen Einsiedler - der gewiß erst durch diese widerwärtige

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Page 179: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Xanthippe auf seinen Spleen verfallen war! - mit sanfter Gewalt heimholen. Zu-

dem wußten sie von früher, welch ausgedehnte Reisen Louis zu untemehmen pfleg-

te, noch dazu aus unvergleichbar nichtigeren Anlässen als einem Clubtrefen ...

schließlich war er auch dieser Fanny Osbourne hinterhergeeilt, ohne Geld, ohne

Vorbereitung, unter Einsatz seines Lebens! Die Wichtigkeit des Clubs rechtfertig-

te jeden Abstecher in das pochende Dichterherz von Albion.

Louis' Reaktion auf die Einladung stellte nur ein Symptom seiner Kranlüreit

dar, nicht die Ursache. Doch was war der Kern jenes Leidens, das nichts mit seiner

Lunge zu tun hatte? Fanny glaubte sich zumindest andeutungsweise einen Reim

darauf machen zu können. Es war ausgerechnet Louis' scbriftstellerischer Ruhm,

der seinen inneren Zwiespalt, seine schmerzliche Zerrissenheit bewirkte! Seine

Berühmtheit hatte sich ja erst gebührend einzustellen begonnen, als Louis sich

bereits auf dem Weg in die Abgeschiedenheit befand: In Europa kam er praktisch

gar nicht mehr dazu, sich seiner wachsenden, beinah explodierenden:Wichtigkeit

zu erfreuen, und auch in Amerika blieb ihm nur wenig Zeit nn persönlichen

Einheimsen der Lorbeeren. Kaum war es ihm ernsthaft gelungen, aus dem Schat-

ten seiner leuchtturmbauenden Vorväter hervorantreten und als abtünniges Ein-

zelwesen größere Bedeutung zu erlangen als alle Stevensons vor ihm - da riß ihm

ein rätselhaftes Schicksal sein Spielzeug sofort wieder aus den Händen. Es war

fast, als hätte eine höhere Macht ihm den Ruhm nur geschenkt, um ihm zu zeigen,

wie süß er schmeclte, wie berauschend er war, wenn man ihn in der Zivilisation

bis zur Neige auskosten konnte ... dann hatte dieselbe Macht ihn in der Wildnis

verschmachtend zurückgelassen. Solange er noch in der Lage gewesen war, nach

Australien zu reisen, hatte er jedesmal den Beweis erhalten, wie seine Berähmtheit

schier ins Unendliche wuchs. In Sydney wurde er von Bewunderern ftirmlich be-

lagert, man warf sich ihm zu Ftißen, betete ihn ungehemmt an. Doch aus Sydney

rief ihn die Insel jedesmal unerbittlich zurück, als ob sie seinen nur scheinbar

erholten Lungen den Befehl gab zu bluten, sobald er die Früchte seines Ruhmes

zu ungeträbt genoß.

Wäre Louis ein unbekannter Hungerleider von einem Poeten geblieben, der

nach und nach das väterliche Erbe aufgezehrt hätte und danach in der Südsee

seinen bescheidenen Lebensunterhalt als Besitzer einer winzigen Plantage hätte

verdienen müssen, ginge es dem Armsten nun vielleicht sehr viel besser. Aber

Louis war wohlhabend - so reich, daß er seinen Klan oft scherzhaft die

,,MacRichies" nannte - und, was Fanny schlimmer erschien, weltberähmt. Jeder

beliebige schiffbrüchige Matrose, auf einer fruchtbaren Insel gestrandet, wäre sich

zweifellos wie der größte Glückspilz vorgekommen, wenn er sich durch sein er-

zälrlerisches Geschick, mit einwenig Seemannsgarn, zu der Position eines Tusitala

hätte aufschwingen können. Auch ein unbekannter, garz und gar unbedeutender

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Louis hätte womöglich auf diese Art seine Erfüllung finden dürfen! Ein Dichter,

von seinen eigenen Fähigkeiten zwarüberzeugt, doch im Heimatland ständig ver-

nachlässigt, wenn nicht totgeschwiegen, hätte das Los preisen müssen, welches

ihn aufgrund seiner Künste zu einem überirdischen Wesen erhob. Der Dichter-

Olymp von Samoa lag nicht in der Wiege der Zivilisation, zugegeben, doch er war

ein ausnehmend hoher Berg für jeden, dern in seinem femen Herkunftsland nicht

die geringste Anerkennung zuteil wurde. In Europa - soviel stand fest - wäre

selbst Louis niemals zu einer so mächtigen Respektsperson geworden wie dem

Tusitala, der er hier war: Europäer wie Samoaner schätzten gute Fabulierer, doch

was die einen lediglich als einen begabten Freudenspender verehrten, beteten die

anderen an wie eine beinah göttergleiche Kreatur.

Louis' launisches, bösartiges Schicksal aber trieb den makabren Scherz bis zum

äußersten. Nicht genug darnit, daß es dem aus dem Gesichtskreis der zivilisierten

Welt Entschwindenden unmittelbar vor dem Abschied noch schnell eine Kostpro-

be höchsten Glücks verabreichte, um seinen Seelenfrieden dauerhaft zu erschüt-

tern. O nein. Louis' Ruhm war vor seiner Abfährt auf die schnelle so stark ange-

wachsen, daß seine anschließende rätselhafte Abwesenheit, seine nebulöse Exi-

stenz aufjener unwirklichen Südseeinsel, eine ansonsten,,normale" Berühmtheit

im Schoße Albions plötzlich zu einer mystischen Angelegenheit hochstilisierte.

Nun wurden Louis sogar in der Heimat göttergleiche Züge zugeschrieben! Jener

fremdartige Mann, dem die Literatur so eigenttimliche Werke wie die Erz?ihlung

von Dr. Jekyll und Mr. Hyde zu verdanken hatte, war wie ein Stern am Himmel

aufgetaucht, um dann die Welt, die den Dichter-Messias aus irgendeinem unbe-

kannten Grunde sicherlich dringend brauchte, umgehend im Stich und in Düster-

nis zurückzulassen. Daß das der reinste Unsinn war, schien niemanden beim We-

ben dieser einzigartigen Legende zu stören. Als man in der Heimat des verloren-

gegangenen Leitstems auch noch des Umstandes gewahr wurde, dalS derselbe Mann

sich unumschränkterAnbetung seitens fremder Kulturen erfreute, kannte die Begei-

sterung in Peretania keine Grenzen mehr. Der Südseezauber Tusitalas schwappte

buchstäblich bis an die Gestade seiner Heimat zurück. ,,R. L. S.* erhob sich nun

auch in Britannien über jeden gewöhnlichen Sterblichen - denn er war nicht an-

wesend.

Man konnte allerdings nicht behaupten, daß Louis in seinem Gefüngnis völlig

abgeschnitten von der anderen Seite der Erde lebte. Seine Korrespondenz war

äußerst umfangreich, und er emphng Scharen von weißen Besuchern aus aller

Herren Länder. Doch Fanny erkannte bald, daß diese Kontakte Louis'innere Zer-

rissenheit nur noch verstärkten, anstatt ihn nachhaltig zu erfreuen. Die ,,wirkli-che" Welt hatte ihn nicht vergessen, sie würde ihn niemqls vergessen - aber wer

eigentlich war jener Mann Stevenson, an den sie sich mit solcher Verklärung zu

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erinnern glaubte? Es gab zwei Arten von weißen Besuchern: Die einen reagierten

?ihnlich wie Mr. Clayborne, der Postschiff-Kapitän, der bei Louis'letzter Geburts-

tagsfeier zugegen gewesen war. Sam Clayborne hatte den Mann Louis gekannt,

bevor er merkte, daß Lnuis der Stevenson war - und er schämte sich. Auch der

zweiten Gruppe von Besuchern gelang es in der Regel nicht, die Sagengestalt und

den Menschen unter einen Hut zu bringen. Pilger aus vielen Teilen des Erdballs

suchten Louis in seiner Einsiedelei auf, um ihm ihre Ehrerbietung zu erweisen.

Meist kamen diese Leute natürlich nicht speziell seinetwegen in die Südsee ge-

reist, das verstand sich von selbst - aber es hatte sich gewissermaßen eingebtir-

gert, daß jedermann, den Geschäft oder Vergnügen in die Inselwelt brachten, ei-

nen Abstecher nach Upolu machte. Samoa hatte um Louis' willen Berühmtheit

erlangt, so wie anfangs Louis'Bertihmtheit durch seinen pazifischen Wohnsitz

gesteigert worden war!

Wann immer Vertreter der letzteren Gruppe auf Upolu eintrafen, lqdylouis sie

ein und behandelte sie mit ausgesuchter Zuvorkommenheit und Gastfreundschaft.

Fanny und Louis zeigten den Leuten ihre ,,Klause", die offenbar etwas luxuriöser

geraten war, als die meisten sich das vorgestellt hatten. Oft jedoch merkte man den

Besuchern eine eigenartige Beklommenheit an, die man bei Weltenbummlern wie

ihnen schwerlich auf Scheu zurückführen konnte. Fanny benötigte eine geraume

Weile, um zu bestimmen, worin diese beinah ängstliche Zurückhaltung bestand:

Louis galt als Legende; Legendengestalten aber pflegtan von Rechts wegen tot zu

sein; diese Legende vor ihnen sah putzmunter aus - wie also sollte man ihn ein-

ordnen?

Louis unterhielt sich immer außerordentlich angeregt mit seinen Gästen. Aufseine Frau wirkte er zu diesen Gelegenheiten fast unnattirlich aufgekratzt. Er sprühte

wie eine Wunderkerze! Tat er das, um seine Gäste davon zu überzeugen, daß der

Gastgeber wirklich lebte und mehr war als ein Traumbild? Daß er sich ehrlich

überjeden Besuch freute, erklärte viel, aber nicht alles. Louis war doppelt so geist-

reich, dreimal so liebenswürdig wie sonst, weil er es mit einem übermächtigen

Rivalen aufnehmen mußte ... seinem anderen Ich, das auf der gegenüberliegen-

den Seite der Erdkugel lebte. Oft warf er mitten im Gespräch mitNeuankömmlin-

gen einen Blick zu Fanny hinüber, die sich zwar auch charmant an der Unterhal-

tung beteiligte, aber nicht annähernd so viel redete wie der Herr von Vailima.

Louis' Blicke strahlten im allgemeinen heitere Zufriedenheit aus. Bisweilen je-

doch beschlich Fanny das unheimliche Gefühl, Louis brauche den Augenkontakt

zu seiner Vertrauten, um eine Bestätigung für seine eigene Existenz zu erhalten.

Manchmal, wenn es sogar Louis bei der unangebrachten Verehrung seiner Gäste

insgeheim schauderte, schien er sie fragen zu wollen: Gibt es mich wirklich? Oder

bin ich nur ein Gespenst, Fanny?

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Ein einziges Mal hatte Louis Fanny gegenüber seinen seelischen Zwiespalt zu

beschreiben versucht. Damals hatten die beiden soeben einen anglikanischen Pfarrer

aus Liverpool mitsamt Gattin und zwei Söhnen verabschiedet und in Begleitung

zweier Eingeborener nach Apia hinuntergeschickt. Obgleich Louis sich anschei-

nend recht munter mit dem Geistlichen die Zeit vertrieben hatte, seufzte er ab-

grundtief auf, als die Gruppe jenseits des Zaunes verschwunden war.

,,Weißt du, wer ich wirklich bin, Fanny?" fragte er dann. Und als Fanny ihn

bloß anstarrte, gab er selbst die Antwort. ,,Ich bin nichts weiter als der dunkle

Schatten jener Lichtgestalt, die auf der anderen Seite der Welt lebt. Ich habe mich

mit dem Reverend ausgiebig über Dr. Jekyll und Mr. Hyde unterhalten - und nun

sehe ich, daß ich mein eigenes Werk verkörpere, nicht mehr und nicht weniger. So

einfach ist das."

,,Aha. So einfach also." Fanny wartete auf die Erklärung.

,,In der Tat. Diese Erleuchtung wurde mir zwar nicht durch den Reverend zuteil

- der gute Mann l's/ n?imlictr, mit Verlaub, keine allzu große Leuchte. Trotzdem

weiß ich jetzt Bescheid."

,,Tust du das." Fannys Bemerkung war keine Frage.

,,Als ich die Geschichte von Dr. Jekyll scbrieb, die mich endgültig berühmt

machte, habe ich damit, ohne es zu wissen, einen Doppelgänger von mir in die

Welt gesetzt - in die Welt hinausgesandt, vrr genau zu sein. Mein anderes Ich

wohnt jetzt in allen Bibliotheken und feinen Salons Großbritanniens. Es ist in

vornehmstes Leder gebunden und trägt Blattgold an der Seite, während ich hier

umherstapfe wie ein alter Seeräuber. Mein anderes Ich ist durch und durch gesell-

schaftsfähig."

,,Und das [ch, das gerade vor mir steht, scheint mir durch und durch betrunken.

Du und der gute Reverend, ihr habt ein bißchen zuviel vom Portwein genippt,

möchte ich behaupten."

,,Nicht betrunken genug", murmelte Louis. ,,Weißt du, Fanny, es ist schon in-

teressant: Mein Abbild auf der anderen Seite des Spiegels ist ein Wesen aus Zuk-

kerguß, eine süßliche Erfindung, die nichts mit mir zu tun hat. Doch obwohl der

Kerl nur aufleinenbuchdeckeln existiert, scheint er lebendiger zu sein als ich.

Wie ist das möglich? Bei den Figuren meiner Geschichte wußte ich immer, wer

das Original war - Jekyll war schließlich zuerst da. Aber wer von zns beiden ist

das Original, wer die Fälschung? Ich war zwar zuerst auf der Welt ... doch ich bin

es, der sich ewig verstecken muß. Das Elixier muß erst noch erfunden werden, das

Louis Hyde befreien kann!"

Obwohl Louis, der tatsächlich zuviel getrunken hatte, nach diesen seinen Wor-

ten scheinbar herzlich lachte, zog sich Fannys Brust schmerzhaft zusammen. Sie

war den Tr?inen nahe, als sie ihn so ungewohnt offen reden hörte. Weit davon

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entfemt, sich bei einer anderen Menschenseele zu beklagen, hatte Louis seine Er-kenntnisse in einen Scherz verpack! doch dieser IJlk ließ das Blut in Fannys Aderngefrieren. Er hatte ja vollkommen recht mit seiner Einschätanng der Lage! Louiswar jetzt der dunkle Bruder, der eingesperrt auf der Unterseite der Erde lebte undder immer nur dann seinen Kopf zur Türe herausstreckte, wenn auf der anderen

Hälfte des Globus, wo alle ordentlichen Menschen wohnten, finsterste Nachtherrschte!

Unwillkürlich mußte Fanny an das allgemeine Hunagebrüll zurückdenken, das

der Klan auf dem Dampfschiff Ludgate Hill angestimmt hatte, als sich kurz vorNew York herausstellte, daß der Hafenlotse kurioserweise auf den Namen Hydehörte ... Was für ein besonders gutes Omen schien das zu sein! Alle stießen darauf

mit dem Champagner an, den Henry James seinem Freund Louis mit auf den Weggeschickt hatte, und niemand von ihnen ahnte, daß es für das Oberhaupt des Klans

keine Rückkehr geben wärde. Im nachhinein betrachtet schien der Lotse ein recht

hinterhältiger Steuerrnann gewesen zu sein, ein trägerisches Leitzeichen aufihrerReise. War es möglich, dachte Fanny und erschrak ob ihres blasphemischen Ge-

dankengangs, daf Mn Hyde kein Zufall gewesen war, sondem der böse Scherz

eines Gottes, der den allmächtigen Romqncier gespielt hatte? Es stimmte zwar,

daß die Erzählung von Dr. Jekyll und seinem bösen Pendant kurz nach ihrern Er-

scheinen zahlreiche Kirchenmtinner zu Begeisterungsstürmen hingerissen hatte -sie wurde enthusiastisch zur Grundlage von Kanzelpredigten benutzt, in Dutzen-

den von religiösen Zeitschriften nachgedruckt und überall heftigst erörtert. Doch

wenn die Geschichte auch aus der Feder eines Mannes stammte, der es an Heu-

chelei manchmal mit seinen ,,Helden" auftrehmen konnte, war das selbst für den

unbarmherzigsten Gott noch lange kein Grund, den Verfasser des Werkes derart

grausam zu bestrafen ...Wenn Louis sich dazu verstieg zu behaupten, daß er seine eigenen literarischen

Werke verkörperte, schien die ,,Übereinstimmung" sogar Fanny nicht gZinzlich

aus der Luft gegriffen. Als Louis die Einladung des Savile Club zu Gesicht be-

kommen hatte, vermochte Fanny aus seinem gequälten Gesichtsausdruck die alte

Angst zu lesen: Bin ich endgültig tot und begraben? Seine Sauf- und Debattier-

kumpane von einst, die lZingst eingesehen hatten, daß Mr. Gosses Prognose sichnicht bewahrheitete, verlangten nach seiner Gesellschaft, um den großen Erzähler

zu feiern. Sie würden es ohne ihn tun müssen. Der Louis, den sie kannten, warnicht tot, aber lebendig begraben ohne Hoffnung auf Wiederkehr. Die Tatsache,

daß die Genossen den Meister zu ,,Lebzeiten" getroffen hatten, nützte nur den

Daheimgebliebenen. Sie durften den Ruhm genießen, der Louis gehörte, konnten

sich noch in seinem Schatten sonnen! Der Goldjäger persönlich hatte einen Lage-

plan seines Schatzes für die Nachwelt aufgezeichnet ... und war gewissermaßen

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erst dadurch fündig geworden. Aber nun hockte er aufeiner Schatzinsel fest, die er

nicht erschaffen und nicht gewollt hatte!

So mußte also Louis der fernen Kameraden gedenken, die gewiß auch ohne

ihn, die Hauptperson, aufs ausgelassenste seine wunderschöne Leichenfeier zu

zelebrieren imstande waren. ,,,A.uf abwesende Freunde!" würde ihr Trinkspruch

lauten. Louis, die quicklebendige Leiche, konnte dem Begtingnis leider nicht bei-

wohnen ... doch das machte seinen Freunden sicher nicht viel aus. Fanny mußte

an die Schatzinsel denken und daran, daß inzwischen sogar zahlreichen Söhnen

im Kindesalter die Lekttire dieses Buches von ihren Vätem erlaubt, gar ans Herz

gelegt wurde, sofern die Erzeuger ihre Sprößlinge für,,Manns genug" hielten. Die

Hyänen vom Savile Club zählten mehr als ,,15 auf des toten Mannes Kiste", wie es

im Lied der Piraten hieß. Doch Käpt'n Louis Flint, ihr Wohltäter, hinterließ ihnen

seinen Schatz, und sie würden ihn hochleben lassen. Johoo ... und 'ne Buddel mit

Rum - ob Louis nun tot war oder nicht.

Wäihrend Fanny noch angestrengt darüber nachgrübelte, was der August an

weiteren unliebsamenÜberaschungen für sie und Louis bereithalten mochte, ver-

nahm sie unvermittelt Rufe aus der Richtung des Eingangstores. Wie auf ihr Stich-

wort! Fanny vermutete ohne zu zögern etwas Übles und schalt sich selbst, weil sie

durch die schwarzen Gedanken, die sie seit Monaten hegte und pflegte, das Unan-

genehme geradezu magisch anzvziehen schien. Als ihr dann bewußt wurde, daß

diese letzte Idee die düsterste und unsinnigste von allen war, nahm sie sich vor,

das Denken lieber ganz aufzugeben. Wenigstens für heute.

Dann gelang es Fanny, den Rufen, die seltsam verhalten und fast ehrfürchtig

klangen, ein einzigesWortzu enfirehmen, das sie augenblicklich fröhlich stimmte.

Sie hatte den Namen ,,Soenga" gehört! Demnach mußte sich Soenga auf dem

Dschungelpfad befinden, der zum Tor herauffiihrte. Und da es sich bei dem Mäd-

chen um eine ganz besondere Persönlichkeit handelte, die sich dem Anwesen nä-

herte, war die Nachricht von ihrem bevorstehenden Erscheinen ihr vorausgeeilt

wie ein Lauffeuer. Aufgeregt lief die samoanische Dienerschaft zusammen und

bildete unten am Tor einen wirren Halbkreis. Jeder versuchte, den besten Platz nrergattern, um einAuge oder besser noch zwei aufdie sagenhafte Soenga werfen

zu können, sobald sie Tusitalas Garten betrat. Von der Veranda aus ähnelten Mafulu

und die anderen einem wilden Bienenschwarm; weder das erregte Summen noch

das ständige Umeinanderkreisen der Beteiligten hätten für den Uneingeweihten

einen Sinn ergeben. Doch Fanny wußte, daß ihre Freundin Soenga kam, daß sich

diejunge Frau nach so langer Zeit doch noch zum Besuch entschlossen hatte, und

dieser Umstand erkläirte einfach alles.

Gerade machte sie sich auf den Weg quer über den Rasen, um Soenga gleich

am Tor persönlich willkommen zu heißen, als sie mit Isobel zusammenstieß, die

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allem Anschein nach schon wieder einer ihrer finsteren, bitterbösen Launen frön-

te.

,,Was will dieses unselige Weib hier, Mutter?" begann Belle sogleich, und ihre

Stimme überschlug sich vor Zorn. Auch sie hatte also inzwischen die Botschaft

vernommen. ,,Du willst ihr doch wohl nicht gestatten, unseren Grund und Boden

zu betreten, oder? Wenn wir abgerichtete Hunde besäßen, könnten wir sie jetzt

wenigstens auf sie hetzen! Was denkt sich das Luder dabei, sich bei uns einschlei-

chen zu wollen?"

Belle schrie diese Worte nicht bloß, sie kreischte wie eine Besessene. Hätte

Fanny nicht gewußt, daß der Wutausbruch nicht von Dauer sein und Belle an-

schließend ihr unmögliches Betragen bereuen wärde, wäre sie der Tochter über

den Mund gefatren. So sagte sie nur: ,,Ich habe Soenga eingeladen."

Isobels Kinnlade klappte vor Entsetzen herunter. Zuerst war sie zu keiner Envi-

derung fühig; die Sprache versagte ihr den Dienst. Als Fanny ernstlich.einen hy-

sterischenAnfall befürchtete, beruhigte sich ihre Tochter gottlob wieder, schüttel-

te nur resignierend den Kopf und murmelte tonlos: ,,Du bist ja endgültig von allen

guten Geistern verlassen, Mutter", bevor sie sich in die Küche nxickzog. Fanny

atmete auf.

,,Danke, gleichfalls", flüsterte sie, bevor sie ihren Weg zum Tor ohne weitere

Belästigung fortsetzte. Als sie unten im Kreise ihrer Dienerschaft ankam, machte

man ihr sofort unaufgefordert Platz. Stille senkte sich über die Anwesenden, die

nicht wissen konnten, wie Fanny die Begeisterung ihrer Untergebenen für die be-

rüchtigte Soenga wohl aufrrehmen mochte. Einige der Mädchen kicherten nervös

und wichen ein paar Schritte zurück. Fanny trat über die Schwelle in den Urwald

hinaus und wartete mit wachsender Ungeduld. Aus den Augenwinkeln bemerkte

sie, wie die Diener einander ratlose Blicke zuwarfen.

Da kam sie endlich! Allen Rodungsaöeiüen zum Trotz begann der dichte Dschun-

gel nach wie vor schon wenige Fußbreit vor dem Tor, so daß Soenga buchstäblich

erst im letzten Moment vor ihrerAnkunft vom Garten aus zu sehen war. Die junge

Frau trug wie immer schlichte, ungefiirbte Kleidung und hatte sogar auf die Blü-

ten im Haar verzichtet, die alle Samoaner, Männer wie Frauen, bei wichtigen Be-

suchen zu tragen pflegten. Ihre Kleidung strahlte jene vornehme Einfachheit aus,

die sonst nur Häuptlinge an den Tag legten, und auch ihr majestätischer Gang

erinnerte Fanny lebhaft an den Besuch der Stammesfürsten zu Louis' letztern Ge-

burtstag. Die gute Soenga war sich durchaus ihrer Wirkung bewußt, wie Fanny

bemerkte. Doch noch eine weitere Regung vermochte sie aus Soengas Gesicht

abzulesen: Die junge Frau verspürte eine Angst, die sie krampftraft zu verschlei-

ern suchte. Den Urwald mit seinen Dämonen hatte sie glücklich hinter sich gelas-

sen; dannach konnte es nur Tusitalas Reich mit den dortbeheimateten Dämonen

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sein, welches ihr angst machte. Wahrscheinlich war es diese Furcht gewesen, die

Soenga so lange von einem Anstandsbesuch abgehalten hatte.

Ohne viele Umstände lief Fanny ihr entgegen, nahm sie bei der Hand und führ-

te sie hinter sich her durch das Tor in das Herzstäck von Vailima hinein. ,,Will-

kommen, Soenga", begrüßte sie das Mädchen, doch nicht bevor sie gemeinsam

die weite Rasenfläche betreten hatten. Unter der Dienerschaft erhob sich ein viel-

stimmiges Raunen der Verwunderung. Die deutlichsten Ausrufe des Erstaunens

jedoch entfuhren unwillkürlich Soenga, dem neuen Gast. Im Gegensatz zu den

meisten Eingeborenen um sie her war sie seinerzeit nicht Zeugin der zeitrauben-

den, nur ganz allmählich vorangetriebenen Urbarmachung der riesigen Lichtung

gewesen, noch hatte sie die mühsame Enichtung des Haupthauses in all ihren

Phasen, mit sämtlichenAn- und Umbauten, erlebt. Deshalb empfand Soenga nun

dasselbe Gefühl, welches Fanny neuerdings manchmal ergriff, wenn sie in einem

Zustand leichter geistiger Verwimrng nach Hause kam. Ein regelrechtes Schwin-

delgefühl erfaßte Soenga angesichts der urplötzlichen kere, in die sie nach dem

langen, bedrtickendenMarsch durch das Dschungeldickicht ohne Vorwarnung ein-

tauchte. Das Mädchen schwankte - nicht vor Erschöpfung, sondern weil ihr Kör-

per, ihr Gleichgewichtssinn sich der ungewohnten Umgebung nicht schnell genug

anzupassen vermochte. Unvermittelt mußte Fanny an eine Unterhaltung zwischen

Louis undAustin zurückdenken, als Louis - der übrigens auch das Tiefseetauchen

in diesen unheimlichen, neumodischen Anzägen selbst ausprobiert hatte - dern

Jungen von den merkwürdigen Fischkreaturen am Meeresgrunde erzählte. Man

sagte, es gäbe Fische dort unten, die niemals das Licht zu sehen bekämen und

trotzdem existieren könnten; bleiche, durchscheinende Tiere, die nur durch den

unglaublich starken Druck zusammengehalten würden, der in der Tiefe auf ihnen

lastete. Zöge man solche Geschöpfe ans Licht hinaul müßten sie unweigerlich

zerplatzen. Sie brauchten die Finsternis und die Bedrückung, sonst verlören sie

zuerst die Orientierung und dann gar das Leben ...

Was für ein dummer Gedanke hatte Fanny da wieder überfallen! Schon war

Soenga völlig erholt, als sei nichts gewesen - und es warja schließlich auch nichts

passiert. Allerdings gelang es Soenga nur mit äußersterAnstrengung, nicht zuviel

von dem überwältigenden Erstaunen zu verraten, welches sie beim Anblick des

Hauses ergriff. Sie riß die Augen weit auf, und ihr hübscher Mund formte ein

lautloses, aber kreisrundes ,,O". Fanny merkte, daß Soenga weniger der Gastgebe-

rin als den umstehenden samoanischen Landsleuten gegenüber ihre wahren Emp-

findungen zu verbergen bemüht war. Also packte sie Soenga kurzerhand am Arm

und zog das Mädchen weiter mit sich, um sie den Blicken und Kommentaren der

Dienerschaft zu entreißen. Kaum befanden sie sich außer Hörweite, überschüttete

Soenga sie mit einem ganzen Strauß ernstgemeinter Komplimente.

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,,Was für ein Palast!" sprudelte sie begeistert hervor und schien sich dabei gar

nicht mehr an ihreAbneigung gegen die Bauten derWeißen Zu erinnern. Tusitalas

großes Haus unterschied sich in der Tat grundlegend von dem zu allen Seiten

offenen, palmwedelgedeckten fole, dertypischenHütte der Beqgbewohner. Das ein-

zige Element, das in beiden Gebäudearten gleichermaßen vorherrschte, hatte mitAr-

chitektur nichts zu tun: Es war die peinliche Sauberkeit der jeweiligen Bewohner.

Dann kniffSoenga plötzlich dieAugen zusammen und warf einen skeptischen

Blick auf die steile Erhebung hinter dern Wohnhaus. Das war der Berg Vaea, der

das Gelände, auf dem das Haus stand, um etliche Fuß übenagte und in das wohl

dichteste Urwaldgestrüpp gehüllt war, das es auf der gesamten Insel zu finden

gab. Soenga betrachtete den Berg und dann Fanny.

,,Hast du keine Angst", fragte sie dann, ,,daß der Berg eines Tages wieder Flam-

men speien könnte? Du wohnst sehr nah an der Gefahr. Aber", fuhr sie fort und

gab sich selbst die Antwort auf ihre Frage, ,,der Tusitala braucht sich jd nicht zu

fürchten. Den Feueöerg dort kann er sicher auch bezwingen."

Fanny erwiderte nichts. Sie hatte sich mittlerweile an die Nachbarschaft des

Vulkans gewöhnt, der sich angeblich schon seit vielen Jahrzehnten so benahm,

wie sich jeder freundliche Nachbar betagen sollte: still und unauffällig. Fanny

suchte ihn gewöhnlich aus ihrern Gedächtnis zu verbannen; sie dachte ungern an

den Berg Yaea, garu im Gegensatz zu Louis, der andauernd von ihm sprach. Er

hatte besondere Pl?ine für ihn ... und dieser letztendliche ,,Verwendungszweck"

gefiel Fanny absolut nicht. Ilr Unbehagen hatte aber nichts mit dem Bewußtsein

ständiger Gefahr zu tun. Sicher, Louis würde im - zugegebenermaßen unwahr-

scheinlichen - Ernstfall eines Ausbruchsversuches den Berg genausowenig mit

einem Korken verstopfen können wie seine phantastische D?imonenflasche. Doch

im Laufe ihres Lebens hatte Fanny sich mit entaunlich vielen Naturencheinun-

gen abgefunden, einschließlich der Erdbeben, die hier auf Upolu an der Tagesord-

nung waren und nur Gäste von anderen Inseln manchmal ein wenig aus der Fas-

sung brachten.

,,Komm mit, Soenga, ich zeige dir unser Haus." Fanny ließ Soengas Hand kei-

ne Sekunde lang los, obwohl es dem von all der Pracht wie verzauberten Mädchen

gar nicht einfiel zu widerstreben. Fanny machte es einfach Spaß, mit ihrer Besu-

cherin durch das Anwesen zu tollen, als sei sie selbst noch ein junges Ding und

sehe die Wunder von Vailima zum ersten Mal.

Fanny traute ihren Augen kaum, als unvermittelt Lloyd auf der Veranda auf-

tauchte. Seit Tagen hatte sie ihren Sohn nicht gesehen, der wie ein verliebter Kater

in der Landschaft umherstreunte. Auf Lloyd war in letzter Zeit weit weniger Ver-

laß gewesen als auf Maud und Henry, die beiden Lieblingskatzen ihres Mannes,

die Louis abends von der Hängematte aus mit seinen fast fingerlangen Zehen aus-

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giebig zu kraulen pflegte. Doch da stand nun Lloyd in voller Lebensgröße, ziern-

lich verwildert obendrein - was ihm gar nicht so schlecht stand, wie Farury im

atillen fand. Er warf Soenga bewundernde Blicke nt, aber er zeige kaum noch

otwas von jener linkischen Unsicherheit, die er noch vor Monaten im Umgang mit

Frauen an den Tag gelegt hatte ... zum leisen Vergnügen von Schwester und Mut-

ter. Wie und wo er sich zu seinem Vorteil verändert hatte, wußte Fanny nicht zu

sagen. Nach dem Gespräch über,,Liebesdinge", welches er und sein Stiefvater

damals hinter Fannys Rücken geführt hatten, bekam sie ihnja nur noch selten zu

Cesicht. Und ausgerechnetjetzt pflanzte sich Lloyd vor den Frauen aufder Veran-

da aufund drohte Fanny den Tagan vergällen!

Gottlob tat Lloyd nichts dergleichen. Er widmete Soenga einen artigen Gruß,

hängte ein wohlgelungenes Kompliment an und machte schon wiederAnstalten,

sich zu entfernen. Selbstverständlich nahm Lloyd Soengas Schönheit zur Kennt-

nis; nicht einmal ein Lloyd Osbourne ohne seine Brille konnte ihre außergewöhn-

licheAnmutübersehen. Aberderjunge Gentleman versuchte diesmal keineswegs,

um jeden Preis die Bekanntschaft der Schönen zu machen. Es gab nur eine Erklä-

rung: Sein Herz war endgültig vergeben, und er widmete seine ungeteilte Auf-

merksamkeit einem anderen weiblichen Wesen auf der Insel.

,,Lloyd, Lieber, wärdest du uns einen Gefallen tun?" fragte Fanny ihren Sohn,

nachdem die lormliche Vorstellung beendet war. ,,Geh und bitte Belle um zwei

Gläser ihrer wunderbarenLimonade. Und sag ihr, sie möchte mehr Zucker hinein-

geben als sonst. Belle wirkt immer so säuerlich, wenn sie zuviel davon trinkt."

Lloyd, der schon im Davoneilen begriffen war, wandte sich erst ein wenig wider-

strebend um. Dann aber lachte er und nickte. Wie jedem guten Bruder bereitete es

auch ihm Vergnügen, seine Schwester zu piesacken - selbst wenn das bei Isobel

seit kurzem mit akuter Lebensgefahr verbunden schien.

Wer immer das geheimnisvolle Mädchen sein mag, dachte Fanny begeistert, sie

hat bei Lloyd wahre Wunder baoirkt.

Ohne auf Lloyds Rückkehr zu warten, zog Fanny Soenga mit sich ins Haus. Ihr

Sohn wärde sie mit Sicherheit finden: Das Haus war groß, doch das Erdgeschoß

bestand beinah ausschließlich aus dem großen Ballsaal, wie Fanny den riesigen

Raum nannte, wo Louis prächtige Empfiinge für weiße Würdenträger zu veran-

stalten pflegte. Er maß 60 mal 40 Fuß, und sowohl W?inde als auch Decke waren

mit dern Holz kalifornischer Mammutbäume getäfelt. Hierwar es auch, wo Louis

in festlichernAufzug, mit einer Samt-und-Seiden-Fanny an seiner Seite, das böse

Dreigespann willkommen geheißen hatte ... Jawohl, Louis' ,,Erzfeinde" hatten

hier nach seiner Musik getanzt, der deutsche, derbritische und der amerikanische

Konsul - nur eben nicht gleichzeitig. Und sie hatten sich, jeder ,privat", mit dem

Gastgeber zusammen aufs prächtigste amüsiert.

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Soenga kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie tanzte ganz allein und

ohne musikalische Untermalung durch den leeren Saal, wo die Schritte ihrEr

unbeschuhten Füße eigenartig widerhallten. Nachdem sie sich so wild ausgetobt

hatte, daß Fanny schon durch den bloßenAnblick schwindlig zumute wurde, blieb

sie abrupt stehen. Soengas bronzefarbene Haut glänzte, doch ob und wie stark das

Mädchen schwitzte, war nicht zu erkennen. Der Schimmer konnte ebensogut von

dem Kokosöl henäfuen, welches Soenga wie alle Frauen der Insel benutzte.

Alle Henlichkeiten des Hauses zeigte Fanny ihrer Besucherin, und sie ver-

mochte sich nicht zu erinnern, wann sie das letzte Mal solches Vergnügen dabei

empfunden hatte. Spontan schenkte sie Soenga einen kunstvoll verzierten Silber-

spiegel, der noch aus ihrern Häuschen Skerryvore in Bournemouth stammte. Das

ganze Herrenhaus von Vailima war mit den Kostbarkeiten angefüllt, die Lloyd

eigens aus Skerryvore und aus Louis'Vaterhaus in der Heriot Row herbeigeschafü

hatte, sobald allen klar wurde, daß es kein Zurück mehr geben wünde. Soenga

bekam sogar den einzigen gemauerten Kamin des gesamtenArchipel's zu Gesicht!

Wie tief sie von den Piranesi-Radierungen beeindruckt war, die Louis so liebte,

konnte Fanny nicht ermessen; was Soenga von dern verschlossenen Waffenschrank

mit dem knappen Dutzend Colt-Gewehren darin halten mochte,wollte Fanny lie-

ber nicht wissen. Auch ein Tusitala, der mit einer Dämonenflasche gesegnet war,

verließ sich im Ernstfall - welcher gottlob niemals eingetreten war, nicht einmal

zu Tamaseses aufständischenZeiten - doch weit besser auf sein Gewehr.

Plötzlich, als Fanny sich gerade anschickte, dem Gast das obere Stockwerk zu

zeigen, zupfte Soenga sie an einem Zipfel ihrer Baumwollbluse. Das Mädchen

sah aus, als wolle es gleich vor Neugier platzen, doch gleichzeitig schien es Angst

davor zu haben, die Frage auszusprechen, die ihm aufder Seele lag.

Endlich rang sich Soenga zu einer Bitte durch. ,,Wo ... wo ist denn die Fla-

sche?" raunte sie fast unhörbar, am ganzen Leib zitternd. ,,Zeigst du sie mir ein-

mal?"

Natürlich hatte Fanny zu irgendeinem Zeitpunkt mit dieser speziellen Frage

gerechnet. Bei einer wißbegierigen Frau wie Soenga war das Thema früher oder

später wohl unvermeidbar.

,,Alles, was ich dir zeigen kann, Soenga", erklärte Fanny lächelnd, ,,ist unser

Weinkeller. Er ist recht ordentlich mit Flaschen aller Art bestückt - aber eine

Dämonenflasche wirst du in diesem Hause nicht finden. Das sagte ich dir bereits."

Soengas Gesichtsausdruck offenbarte eine Mischung aus Enttäuschung und

Erleichterung ... und ein wenig Unglauben.

Bevor Fanny zu einer umfassenderen Erklärung auszuholen vermochte, wurde

sie von einem Geräusch unterbrochen, das sie lange nicht mehr vernommen hatte.

Sie hatte ihn vermißt, diesen Lärm, doch just in diesem Augenblick verwänschte

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sie ihn aus dem Grunde ihres Herzens. Der Klang von Louis' Flageolett drang zur

Abwechslung nicht aus der Bibliothek, sondern aus seinem winzigen verschlag-

ähnlichen,,Arbeitszimmer", das er zu benutzen vorzog, wenn er mit eigener Hand

schrieb. Louis, so musikliebend wie unmusikalisch, spielte heute eine der höch-

stens drei Melodien, die er wirklich vollendet behenschte. Dcl er sie beherrschte,

daß dies in der Tat die einzigen Musikstücke waren, die den bezaubernden Klang

des Flageoletts sogar trotz Louis' unsachgemäßer Behandlung des armen Instru-

ments ausnehmend gut zur Geltung brachten, hatte man Louis allerdings eigens

sagen müssen. Louis fandjeden Ton schön, auch den scbrägsten, gequältesten;

jeder Klang, der einem Musikinstrument entfuhr, war für ihn zwangsläufig Musik.

Des Abends, wenn Isobel und Lloyd, Fannys musikalische Sprößlinge, auf der

Veranda Banjo oder Gitarre spielten, dauerte es immer erst eine geraume Weile,

bis die beiden ihre Saiten gestimmt hatten. Zudem konnten sie in der feuchten,

drückenden Luft höchstens zehn Minuten musizieren, bevor es wieder an der Zeit

war, die Instrumente nachzustimmen: Die hölzernen Bestandteile verzogen sich

im tropischen Klima während des Spiels nach allen Richtungen. Louis vermochte

nicht zu unterscheiden, ob Lloyd und Belle gerade eine Melodie improvisierten

oder ob sie andere Saiten aufzogen - er applaudierte voll kindlicher Begeisterung

an den unpassendsten Stellen. Seine völlige Unf?itrigkeit zur Unterscheidung von

Tönen, gepaart mit seiner Freude am Spiel, hatte selbst Isobel einmal zu einem

Scherz auf Louis'Kosten hingerissen: ,,Louis hat das absolute Gehör. Absolut, äh

. . . vorurteilslos." Außerdem gab man dem begnadeten Flageolett-Dilettanten eine

ganze Reihe guter Ratschläge. Als Schlangenbeschwörer dürfe er getrost arbeiten,

denn Schlangen seien taub und hätten demnach unter seiner Kunst nicht so zu

leiden. Auch als Rattenfänger sei Louis mit seiner Quietschflöte zu gebrauchen;

zwar wärde er niemals ein Nagetier/angen, aber sämtliche Schäcllinge in wilder

Flucht aus dem Hause treiben, und das sei schließlich noch praktischer. Louis

nahm solche Witzeleien alles andere als übel, sondem lachte im Gegenteil herz-

lich mit. Er wußte schließlich um seinen hoftungslosen Mangel an Begabung -und quiekte fröhlich weiter. Es war offensichtlich, daß ihn sein Flageolett an Schott-

land erinnerte, das Schottland seiner Phantasie ... und es war wieder einmal ty-

pisch für Louis den Widerborstigen, daß er, ein Lungenlcanker, sich ausgerechnet

einem Instrument verschrieben hatte, welches seinen ganzenAtem verlangte. Sein

Unwille, sich Widerständen zu beugen, zeigte sich noch in den kleinsten Dingen

des täglichen Lebens.

Und nun spielte Louis nach vielen Wochen wieder auf seinem ,,Dudel ohne

Sack" - ein anderer geheimer Spitzname Fannys für das Ding: Sie durfte Louis'

Spiel nach Lust und Laune beleidigen, aber niemals das schottische National-

instrument. Warum spielte er gerade jetzt? Wieso hatte er, der auf nichts und nie-

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manden in seiner Umgebung musikalische Rücksicht nahm, eine Melodie ausge-

sucht, die nicht nur erträglich, sondern geradezt unirdisch berückend klang?

Soenga, die gebannt neben Fanny stehengeblieben war und mit verzücktem Ge-

sichtsausdruck lauschte, gab ihrer Gastgeberin unwissentlich die Antwort.

,,Was sind denn das für magische Töne? Ist das der Tusitala, der diesen Zauber-

kl?ingen befiehlt?" Soenga flüsterte andächtig, wie um den Wohllaut nicht zu ent-

weihen.

,,Ja, das ist unverkennbar mein Mann Louis." Fanny wurde unruhig. ,,Er besitzt

ein Blasinstrument, das in den Ländem, aus denen die Weißen stammen, jedes

Kind zu spielen versteht, viel besser als Louis. Mich wundert, daß du es nichtkennst. Der Pater in deiner Mission hat sicher auch so ein Ding."

Fannys verzweifelter Versuch, Soenga von Louis' Spiel abzulenken, schlug fehl.

Nicht einmal die Bemerkung über den verhaßten französischen Priester riß das

Mädchen aus seinerAndacht, denn sie nahm Fannys Worte gar nicht zpr Kenntnis.

Fanny ergriff sie wieder bei der Hand, um sie von der Quelle der Musik wegatzie-hen, doch Soenga sträubte sich sdnft, aber bestimmt. Mit offenem Mund lauschte

sie der Melodie, welche aus Louis'Arbeitsverschlag an ihr Ohr drang. Soengas

Verhalten gab Fanny die Erklärung dafür, warum Louis gerade jetzt und hier und

ausgerechnet diese Melodie spielte: Er wußte um Soengas Ankunft, die ihm inAnbetracht des allgemeinen Durcheinanders in der Dienerschaft auch kaum hätte

verborgenbleibenkönnen, und erwollte denGast aus irgendeinem obskuren Grunde

flir sich gewinnen. Fanny konnte sich beim allerbesten Willen nicht vorstellen,

wieso er sich für das Mädchen interessieren sollte. Aber die Tatsachö, daß er ganz

bewußt den,,Zantber" der Musik einsetzte und die geringen ihm zu Gebote stehen-

den Kräfte aufdiesem Gebiet ausspielte, um Soenga zu becircen, sprach für sich.

Louis zog buchstäblich alle Register seines bescheidenen Könnens und präsen-

tierte dem Gast sämtliche ausgereiften Früchte jahrelanger Übung - alle drei.

,,Komm mit, Soengq wir wollen uns das obere Stockwerk anschauen", dr?ingte

Fanny und hätte am liebsten Brachialgewalt angewendet - doch es war bereits zu

spät.

Das Flageolettspiel hörte abrupt auf, und Sekunden später trat Louis durch die

Tär seines Arbeitszimmers zu den Frauen in den Korridor heraus. Als Fanny ihren

Mann erblickte, verschlug es ihr den Atem. Er hatte es wirklich und wahrhaftig

auf Soenga abgesehen! Fanny wußte, daß Louis stets mehr als nachlässig geklei-

det war, wenn er in seiner winzigen,,Lasterhöhle" hauste, die außer ihm meist

niemand betrat. Doch nun trug er Kleidung, welcher Fanny sofort ansah, daß Lou-

is sie in großer Eile speziell für dieses Zusammentreffen ausgewählt haben mußte!

Nattirlich war ihm Soengas Abneigung gegen die Sitten und Gebräuche der Weißen zu Ohren gekommen; dem hatte er Rechnung getragen, indern er einerseits

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sohlichte Garderobe zusammenstellte, andererseits die Stäcke wählte, die seine

wenigen körperlichen Vorzüge exquisit zur Geltung brachten. Louis war nicht ei-

tcl im herkömmlichen, landläufrgen Sinne, doch er besaß einen sechsten Sinn da-

lür, die perfekte äußere Hülle anzulegen, wenn es galt, andere Menschen zu beein-

drucken und für sich einzunehmen. Ging es darum, britischen Würdenträgern zu

imponieren, warf sich Louis gern in feinstes Tuch, gestdrkte Jacketts und Seiden-

hemden aus Sydney. Alles mußte für ihn maßgeschneidert sein - obschon er zu

diesemZweck lediglichseineMafeauf die ReisenachAustralien entsendenkonnte.

Wenn Louis hoch zu Roß seine Ländereien inspizierte, tat er das stets in Kleidem,

die das Element des Abenteuerlichen, das ihm ohnehin anhaftete, noch verstärkten.

Nun trug Louis ein einfaches weißes Baumwollhemd und weiße Leinenhosen,

nichts weiter. Beide Stücke verhüllten durch ihren raffrnierten Schnitt Louis'allzu

drahtigen Körper, der selbst hier auf Samoa kein Gramm Fett ansetzen wollte , und

betonten zugleich seine imposante Größe und die erstaunliche Länge seiner Glied-

maßen. Wie immer, wenn er sich daheim in Vailima befand und kein wichtiger

Gast in Sicht war, ging Louis barfuß. Heute steckte natürlich eine zusätzliche Ab-

sicht hinter dem Verzicht auf Schuhwerk: Soenga würde den Anblick nackter Füße

bei einem Weißen mit Wohlgefallen aufnehmen. Zudem bewegte sich Louis, be-

sonders wenn er keine Stiefel trug, trotz seiner eigenartigen Proportionen mit na-

hezu raubtierhafter Geschmeidigkeit und Anmut.

Obwohl Louis Erstaunen heuchelte, als er auf die beiden Frauen stieß, durch-

schaute Fanny seine Absichten sofort; nur der tiefere Sinn seiner Vorbereitungen

entging ihr. Er kannte Soenga doch gar nicht persönlich! Warum war es ihm so

wichtig, die junge Frau zu beeindrucken? Zom stieg in Fanny auf, und noch eine

andere, ungewohnte Regung verspürte sie: Eifersucht. Sie war nicht eifersüchtig

aufihren Ehemann, denn sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er sie nicht

betrog. Aber er wollte ihr Soenga entreißen, ihren Gast, ihreFreundin! Louis ver-

langte es nicht nach Soengas Körper - er wollte in den Besitz ihrer Seele gelan-

gen, nicht mehr und nicht weniger. Zu welch unseligem Zweck er sie zu mißbrau-

chen gedachte, war Fanny einerlei. Sie wollte Soenga, dieses einzigartige, maje-

stätische Wesen, nicht in einer der vielen verkorkten Flaschen wiederfinden müs-

sen, die Louis für seine Anbeter bereithielt. Doch ein Blick auf Soenga offenbarte

Fanny, daß es wahrscheinlich schon zu spät war, sie vor ihm zu reffen.

Louis brauchte kein Wort zu sagen, um ihr zu verstehen zu geben, daß er der

Tusitala war. Soenga spürte seinen ,,Zanber" auch ohne weitere Hinweise seiner-

seits. Eines mußte Fanny widerwillig zugeben: Louis wurde durch seine leibliche

Erscheinung all den Wundermärchen gerecht, die sich um seine Person rankten.

Wenn er aus seinen nachtschwarzen Augen Funken sprühen ließ, so wie ein Gott

Blitze aussandte, war es um jeden Menschen geschehen, den nicht eine Fügung

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des Schicksals - die in Fannys Fall, viele Jahre zuvor, Sam Osbourne geheißen

hatte - rechtzeitig für derartige Formen des Blitzschlags undurchdringlich mach-

te. Wie Louis'Jünger damals im Gasthof zu Grez konnte sich nun Soenga nur mitMühe zurückhalten, sich Louis zu Füßen zu werfen. Der Unterschied bestand dar-

in, daß eine solche Geste der Verehrung hier auf Samoa nicht nur als Sprichwort

existierte. Soenga blieb zwar stehen, doch ihre Augen starten gebannt auf den

weißen Zatbercr. Fanny fühlte sich um anderthalb Jahrzehnte zurückversetzt, sah

ihren einstigen Widersacher in seiner alten Wolfsgestalt ... und drohte nun Zeugin

zu werden, wie er sich auf dieses ahnungslose Lamm stürzte, das wie hypnotisiert

zwischen den Eheleuten stand. Und Fanny haffe Soenga, den freisten Geist der

Insel, direkt in die Höhle des Wolfes geführt!

Die altenZeiten waren in der Tat zurückgekehrt, und mit ihnen die Feindseligkeit,

der Kampf, den Fanny nach der Hochzeit für endgültig beendet gehalten hatte.

Die Streitaxt war jedoch keineswegs begrab en . . . Zum ersten Male seit dem Abend

im Wirtshaus von Grez und dem Nachmittag in ihrem Pariser Salon Sah sich Fanny

heute gezwungen, einen dieser abscheulichen lautlosen Zweikämpfe mit Louis

Stevenson auszutragen.

Taste mir dieses Mädchen nicht an, signalisierte sie ihm, und auch ihre Augen

sprühten Funken. Louis wußte genau, was er tat, denn sein Blick ruhte nicht län-

ger auf dem Mädchen, sondem vereinigte sich mit dem seiner Frau. Soenga be-

merkte von dem Duell der Eheleute nicht das geringste,

Fanny wiederholte ihre Botschaft, obwohl sie genau wußte, daß ihre Chancen

schlecht standen. Was vermochte schon eine bescheidene, unbedeutendeZatbein

wie sie, die obendrein ihre eigenen Kräfte ableugnete, gegen die Macht des gro-

ßen Tusitala auszurichten - in diesem widerwäirtigen Tauziehen um Soengas Frei-

heit? LalS sie in Ruhe, sonst ... Aber wie sollte die Alternative wohl aussehen, mit

der sie ihm drohen konnte?

Ich brauche das Mtidchen, ob du es verstehst oder nicht, gab Louis zurück, und

obwohl er seine Entscheidung bereits getroffen hatte und keineswegs zu widemr-

fen gedachte, las Fanny noch etwas in seinenAugen, das es früher dort nicht gege-

ben hätte. Sein Blick heischte Fannys Verständnis.

Der Kampf trug sich in Sekunden zu, noch bevor Louis ein Wort gesprochen,

noch bevor er Soenga auch nur begrü/3t hatte. Das holte er nun nach ... und als-

baldzog der Wolf mit seiner willenlosen, Fanny so leicht abgetrotzten Beute von

dannen.

Kraftlos, ihrer Niederlage bewußt, streckte Fanny noch die Hand nach dem

Mädchen aus, doch Soenga warf nicht einmal mehr einen Blick zurück auf die

Freundin. Sie folgte dem Tusitala, gezogen von den unsichtbaren Fäden seiner

magnetischen Anziehungskraft, taub und blind für alles andere um sie her.

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Fanny wußte nicht, wohin Louis Soenga mitnahm, um sich ihr auf seine ganz

porsönliche Art zu widmen. Sie ahnte aber, daß die Soenga, die frtiher oder später

zu ihr zurüclftehren würde, nach Louis'Entführung und Verführung nicht länger

dioselbe junge Frau sein würde, die sie kannte und deren selbstbewußte Gegen-

wart sie schätzte. Doch niemand außer Fanny bemerkte je solche Verwandlungen,

wie die Erfahrung es sie gelehrt hatte.

,,Mutter, wo bist du?" hörte sie plötzlich die Stimme ihrer Tochter. ,,Ich habe

dir und deinem - deinem Ehrengast Limonade zubereitet. Zuckersül|,wie die gnä-

dige Frau befohlen hat."

Schon rauschte Isobel mit einem kleinen Silbertablett herbei, bereit zum sofor-

tigen Rückzug, als sie der veränderten Situation gew?irtig wurde. Belle runzelte

die Stirn. Auch sie vermochte sich den passenden Reim auf Soengas Verschwin-

den zu machen, denn sie stellte keine Fragen. Statt dessen gesellte sie sich zu ihrer

Mutter, ergriffeines der Gläser, reichte Fanny das andere und brachte einen bitte-

ren Toast aus.

,,Auf Louis' neuen Liebling. Möge sie seine Gunst so lange genießen wie ihre

Vorgänger." Darauf stürzte sie die Limonade in einem Zug herunter, verzog das

Gesicht zu einer Grimasse und schüttelte sich. Das Geträink schien demnach doch

nicht so säß zu sein wie angeh'indi$. Auch Isobel war tief verletzt, auch sie ver-

spürte Eifersucht - doch Belle war eifersüchtig auf ihr Idol und gleichzeitig wü-

tend auf Louis, weil er ausgerechnet diese aufsässige kleine Wilde in den Kreis

seiner Vasallen aufoahm. Daß sie selbst nicht mehr als eine seiner Gefangenen

war, hatte Isobel niemals begriffen, geschweige denn sich selbst eingestanden.

Nichts auf Erden hätte sie zu der Einsicht bringen können, daß sie in Wahrheit in

einer Flasche lebte wie die vielen,,Günstlinge", über die sie so ausgiebig spottete,

weil sie für die giftigen Dämpfe ihrer Eifersucht kein geeigneteres Ventil fand.

Isobels Flasche war durchsichtig und ließ ihr die Illusion von Freiheit. Möglicher-

weise aber erfüllte sie trotzdem manchmal eine dumpfe Ahnung ihres Zustandes,

denn es war ihr von jeher ein inneres Bedürfnis, sich über die anderen

Flaschenbewohner zu erheben.

,,Kein Wunder, daß Louis sich momentan nicht auf seineArbeit konzentrieren

kann", begann Belle nun zu lästern, als sich die unerlrägliche Stille des plötzlich

louislosen Hauses auf die beiden Frauen herabsenkte. ,,Ich möchte zu gern wis-

sen, welchen Honig er ihr um den Bart schmiert."

Und ich möchtewissen, warum er dcs tut, fügte Fanny in Gedanken hinzu. Sie

und Belle hatten sich nebeneinander aufden Boden gehockt und verhelen erneut

in brütendes Schweigen. Isobel witterte in der Mutter eine Leidensgef?ihrtin und

ahnte nicht, wie sehr sie sich irrte: Sicher litten sie beide, doch die Ursachen ihres

Kummers konnten kaum gegensätzlicher sein. Vor Fannys innerem Auge tauchte

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unvermittelt die heimatliche Veranda ihres Geburtshauses in Indiana auf, wo sie

als junges Mädchen mit ihrer Schwester Nellie regelmäßig kühle Limonade ge-

schlürft und dabei ausgelassen gescherzt hatte. Sie dachte an Louis'Verführungs-künste, daran, daß ihr Vater damals zwischen räudigem Wolf und säuselndem

Prediger keinen Unterschied zu machen pflegte, weil er kurzerhand beiden ein

Loch in den Schafspelz brannte ... Trotzdem hatte ihr Vater nicht verhindern

können, daß Klein-Frances in Samuel Osbournes F?inge geriet, betört und be-

täubt von seinem Charme.

Fanny mußte für einenAugenblick eingenickt sein, denn als sie den Kopf hob,

von leisen Fußtritten aufgeschreckt, merkte sie sofort, dalJ Isobel nicht mehr ne-

ben ihr saß. Auch das Tablett und die beiden Gläser waren verschwunden.

,,Da bin ich wieder", sagte plötzlich Soenga, die still und unbemerkt vor Fanny

hingetreten war. Kein Wunder, daß Fanny ihre Rückkunft nur verschwornmen

walrgenommen haüe - Soenga schwebte buchstäblich auf Wolken. Louis war weitund breit nicht zu entdecken, was Fanny kaum erstaunte; nach vollendeter Tat hielt er

es für wenig sinnvoll, seiner erbosten Gattin zu begegnen. Daß er seine Sache gründ-

lich vorangetieben hatte, zeigte Soengas Verhalten Fanny allzu deutlich.

llie ßt es nur möglich, fragte sie sich gleichermaßen entsetzt und fasziniert,

daJ3 der Blick eines Menschen getrübt und vernebelt und zugleich voll strahlender

Sterne sein kann?

,,Der Tusitala ist wirklich ein großer Mann", flüsterte Soenga zutiefst ergriffen

und, was zumindest ihre Gastgeberin betraf, völlig überflüssigerweise. Dieser

schwärmerische Gesichtsausdruck war Fanny geläufig bis zum Überdruß!

,,Er ist überhaupt nicht wie die anderen Weißen, die immer alles besser zu wis-sen glauben und doch im Grunde gar nichts verstehen." Soenga suchte vergebens

nach Worten, die halbwegs angemessen denAufruhr ihrer Gefühle widerspiegel-

ten. ,"Er ist fast wie einer von uns. Er spricht unsere Sprache ... er drtickt die

Gefühle der Samoaner aus. Das habe ich nie zuvor erlebt."

Fanny schloß gequält dieAugen. Was hatte Louis dawieder angerichtet! Soenga,

die doch selbst längst nicht mehr zu beurteilen imstande war, wie ihre Landsleute

im Innersten dachten, fühlten oder träumten, war nun durch seinen Einfluß end-

gültig von ihrem Weg abgeirrt. Es war ohnehin schwierig genug für die junge Frau

gewesen, ihren eigenen verschlungenen Pfad zu beschreiten und seinen Windun-

genzt folgen, ohne sich im Dschungeldickicht zu verlieren.

,,Es ist, als ob der Tusitala mir ein Licht gezeigt hätte, dem ich von nun an

folgen werde", fuhr das Mädchen begeistert fort und merkte nicht, wie Fanny ob

ihrer Wortwahl besttirzt zusamrnenzuckte. ,,Er hat mir die Erkenntnis großer Wahr-

heiten gebracht, die mein ganzes Leben verändem werden."

Erkenntnis! Wahrheit! Um Gottes willen, Soenga hatte sich aus freien Stäcken

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von den Pfaffen aus der französischen Mission abgewendet - nur um jetzt von

Louis' selbstgepfl anztem Baum der,"Erkenntnis" zu kosten! Begriff dieses Mäd-

chen, dern weiße Menschen die Bilderwelt der Bibel fürmlich aufgepfropft hatten,

denn nicht den schrecklichen Doppelsinn in ihren Worten? Und welch böse Ironie

verbarg sich hinter dem ,,Lichf', das Louis in seiner privaten Bibelstunde für eine

junge Eingeborene entzündet hatte, die sich aufnächtlicher Suche befand ... Ge-

hörte etwa auch Louis zu den gewissenlosen Freibeutern, die an dunklen Gestaden

falsche Lockfeuer entfachten, ohne sich um die zerschellten Opfer ihrerTücke zu

kümmern? Fanny konnte und wollte das nicht glauben.

Aber vielleicht regte Fanny sich ja zu Unrecht so maßlos auf. Sie hatte schließlich

noch gar nicht erfahren, worin eigentlich Louis' neuartige Lehre bestand. Im Gegen-

satz zu ihren Landsleutenwar sich Soenga des Unterschiedes zwischenDichtungund

Watnheit bewußt; was konnte [,ouis' ,$unde" ihr somit schon anhaben? Mehr als

genug,hörteFanny eine Stimme in ihrem Innern raunen. Wie viele weiße Menschen

hatten in Louis' Gegenwart aufgehört klar und folgerichtig zu denken!

,,Welche . . . was für profrrnde Erkennürisse hat dir mein Mann denn in so kurzer

Zeit vermittelt?" wollte Fanny wissen und hätte vor Soengas Antwort am liebsten

die Ohren verschlossen.

,,Oh, es waren im Grunde ganz einfache Dinge", berichtete das Mädchen strah-

lend, ,,ich habe bloß nie zuvor richtig über sie nachgedacht. Nicht alles, was die

Franzosen mir beibrachten, )var Unfug - die Missionare wußten aber selbst nicht

um die tiefe Wahrheit dessen, was sie mir predigten."

,+{ha. So ist das also", sagte Fanny und hatte doch keine Ahnung, wovon Soenga

da überhaupt sprechen mochte.

,,Der Tusitala ist der einzige Mensch auf garz Samoa, der nicht nur die Bewoh-

ner der Inseln versteht, sondern die Inseln selbst! Er ist so eng mit Upolu verbun-

den, daß er weiß, was Upolu wünscht, was Upolu fühlt und was Upolu Schmerz

bereitet. Der Tusitala besitzt ein Gespür dafür, was das Land von seinen Einwoh-

nern fordert, damit alle glücklich werden!"

Langsam, aber sicher ging Fanny ein Licht auf.

,,Bestimmt rührt Tusitalas große Weisheit auch davon her, daß er hier oben

neben dem Berg wohnt, Sicher kann er mit dem Vaea sprechen, und der Vaea

antwortet nur ihm allein."

,,Hat dir das etwamein Mann erzählt?" Es war Fanny nicht möglich, noch län-

ger an sich zu halten; dieser hirnverbrannte Unsinn erschöpfte den letzten Rest

ihrer Geduld.

,,Nein, nicht direkt. Das denke ich mir so." Soenga krauste die Stim und fügte

nachdenklich hinzu: ,,Wie sonst kann ein Mensch denn allwissend sein wie der

Tusitala?"

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Diese logische Schlußfolgerung mußte Fanny wohl oder übel akzeptieren. All-mählich verlor sie den Boden unter den Füßen, körperlich wie geistig. Ihr war

schwindelig zumute.

,,Der Tusitala sagt, daß alles, lvas der lnsel Pein zufügt, auch die Menschen

schmerzt, und daß alles, was die Insel erfreut, den Menschen zum Heil gereichen

muß. Upolu hat eine göttliche und nattirliche Bestimmung, aber ohne unsere Hilfe

kann die Insel nicht an ihr vorgegebenes Ziel gelangen."

,,Und was sagt der Tusitala sonst noch Interessantes?" Fanny war es mittlerweile

völlig gleichgültig, ob das Mädchen den blanken Hohn aus ihrer Stimme heraus-

hörte oder nicht.

,,Was Upolu ganz besondere Schmerzen bereitet, ist der Urwald. Upolu möchte

gern die Gewächse hervorbringen, die seiner Bestimmung gemäß sind - nützliche

Pflanzen, die wir Menschen essen können. Die Insel ist den Menschen freundlich

gesonnen und will ihnen helfen. In der Bibel erschaffi Gott die Inseln, indem er

das dunkle Durcheinander beseitigt und Licht in die Welt bringt. Er vörnichtet den

Dschungel und schaft Freiräume, die Lichtungen heißen. Erst dadurch wird die

Welt wirklich zur Schöpfung! Aber Upolu ist noch nicht fertig."

Fanny mußte sich an der Wand abstützen, um dem Evangelium nach Louis

weiter lauschen zu können. Sie schloß die Augen.

,,Gott liebt die Inselmenschen", fuhr Soenga unerbittlich fort, ,,und er würde

gern überall das Licht henschen lassen. Aber der Teufel, sein alter Feind, läßt den

Urwald wuchern, der die Bewohner der Inseln quält und verängstigt. Dir Teufel

liebt das Dunkel, die Fleischfresser und Schlingpflanzen. Der Tusitala sagt, die

Schlingpflanzen sind Fallstricke des Bösen und die Bodenkriecher das gräne Ab-

bild der Schlange aus dem Paradies. Der Urwald selbst ist die Brutstäfte der Dä-

monen! Vieles von alledem war mir vorher nicht bewußt, doch daß im Dschungel

Dämonen hausen - das wissen a//e Inselmenschen."

,,Und was verlangt die Insel von ihren Bewohnern?" fragte Fanny, obwohl sie

die Antwort bereits kannte.

,,Wir müssen ihr helfen, indem wir Gottes Gebot befolgen. Der Urwald macht

sichüberall breitundweicht nicht von der Stelle, wenn der Mensch nichtnachhilft

und ihn vemichtet. Gott will nicht alle Arbeit allein tun müssen, Wir können die

Insel und uns selbst nur von den bösen Dämonen befreien, wenn wir die Schling-

pflanzen, die Upolu bedrücken, mit Stumpf und Stiel ausrotten. Wir müssen urbar

machen, roden ..."Da fiel endlich das erwartete Stichwort. O ja, Louis hatte Soenga walrlich

meisterhaft pr?ipariert! Nun alrnte Fanny auch recht deutlich, warum Louis es der-

art nachdrticklich aufihren Gast abgesehen hatte. Schweigend harrte Fanny der

weiteren Einzelheiten, die Soenga unfehlbar zum besten geben wüLrde. Den Pfer-

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defuß an Louis' erweiterter Schöpfungsgeschichte erahnte sie längst ... und da

kam er auch schon.

,,Der Tusitala hat mir auch von der Straße erzählt, die König Mataafas Häupt-

linge für ihn bauen möchten. Der T\rsitala ist betrübt. Er befürchtet, die Häuptlin-

gc hätten vielleicht etwas zuviel Angst vor seiner Macht. Sie brennen darauf, ihm

seinen Wunsch zu erfüllen, aber anscheinend scheuen sie davor zurück, sich den

Weg zu seinem Reich zu balrnen. Dabei haben sie wirklich gar keinen Grund zur

Sorge. Deshalb habe ich dern Tusitala angeboten, mit ihnen zu reden. Ich kann

nämlich sehr gut reden!" Die letzten Worte sprudelte Soenga formlich hervor, und

der Stolz, der in ihnen mitschwang, war unüberhööar. Soengas nicht unerhebli-

cher Einfluß auf eine genzs fteifie von Häuptlingen bildete immerhin schon seit

geraumer Zeit ein Hauptthema in den Gesprächen der weißen Siedler.

Auch die Flasche, in der Soenga nun lebte, war durchsichtig, und das Mfichenglaubte nach wie vor, Herrin ihrer Entscheidungen zu sein. Sle hatte dern Tusitala

Hilfe angeboten! Wäire Louis'Berechnung nicht so abscheulich gewesen, hätte

Fanny laut aufgelacht. Sein Plan hatte perfekl funktioniert.

,,Zum Dank hat mir der Tusitala diesen henlichen Stoff geschenkt", jauchzte

Soenga, die doch sonst nur ungef?irbte Gewänder trug. ,,Schau!" Schaudernd satr

Fanny das Tuch in ihren Händen: Es war das königliche Tartan-Muster des Stuart-

Klans.

20t

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MnrsN rN osn Nacht wachte Fanny schweißgebadet auf. Sie fuhr abrupt mit dem

Oberkörper in die Höhe und warf dabei beideAnne so wild durch die Luft, daß sie

sich in dem Moskitonetz verfing, welches über ihrem Bett aufgespannt hing. Im

ersten Augenblick wußte sie nicht, wo sie sich befand; das feine Netzgewebe, das

aufsie herabfiel und sich wie Spinnenfaden um sie legte, versetzte sie deshalb in

helle Panik.

Langsam fand sich Fanny wieder zurecht, erinnerte sich, daß sie auf Samoa

lebte und nicht in einem jener Länder, in denen das Märchen, das ihrem Alptraum

zugrunde lag, jedem kleinen Kind geläufig war. Was flir ein verrückter Traum war

das gewesen! Sieben Zwerge hatte Fanny gesehen, verwachsene, höckrige Krea-

turen mit uralten Gesichtem, und in ihrer Mitte lag ein junges, bildschönes Mäd-

chen, welches die winzigen Wesen argwöhnisch und wachsam zu bescfl'titzen schie-

nen. ,,Schneewittchen und die sieben Zwerge" - das hatte Fanny angesichts dieser

Versammlung sogar im Traum amüsiert gedacht. Doch als Fanny die Gruppe dann

aus nächster Nähe betrachtete, wobei sie selbst offenbar unentdeckt oder unbe-

merkt blieb, verstand sie schnell, daß etwas an dem Märchen nicht stimmte. Die

sieben Zwerge hoben ein lautes Jammergeschrei an, das sich auf das unbewegli-

che Mädchen in ihrer Mitte bezog; aber die junge Schöne lag in keinem gläsernen

Sarg, war von keiner bösen Stiefinutter mit einem Apfel vergiftet worden: Ihre

strahlenden Augen standen weit offen, und ihre Lippen öffireten sich zu einem

glücklichen Lächeln. Und doch lag sie in einem gläsernen Behältnis! Sie vermochte

in dem engen Gefängnis ihre Gliedernicht zubewegen und schien trotzdem durch-

aus nicht beunruhigt. Fanny bemerkte voller Ehrfurcht, wie bezaubernd schön das

Mädchen war. Sie besaß die ebenmäßigsten Proportionen, die Fannys Malerblick

je untergekommen waren, eine samtene, bronzefarbene Haut, makellose, perlwei-

ße Zähne und goldenes langes Haar, das ihr wie eine Krone hochgesteckt worden

war. Um ihren reglosen Leib trug sie drei übereinandergewickelte Matten aus

Pandanu-Borke, die vor Alter bereits ganz grau waren, und an ihrem Hals erblick-

te Fanny eine Halskette aus Walzähnen. Drei Zähne waren es, Prachtexemplare

allesamt, deren Kostbarkeit Schneewittchen wahrhaftig als echte Königstochter

auswies. Sie lächelte, doch nicht in Fannys Richtung, auch nicht zu den beküm-

merten, mißtrauischen Gesichtern der Zwerge hinauf. Sie sah freudig einem Neu-

ankömmling entgegen.

Es war merkwürdig - und dann auch wieder nicht, denn Fanny befand sich

schließlich in einem Traum: Während sie das Mädchen und ihre Begleiter in allen

Einzelheiten wahrzunehmen imstande war, erhaschte sie von dem Fremden nur

schemenhafte Eindrücke. Dieser Mann war es, der Fanny beängstigte. Sein schwar-

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tor Schattenumriß erinnerte sie an jemanden, den sie sehr gut kannte. Er schien

dom Mädchen in seinem Gefiingnis keinerlei Furcht einzuflößen; sie strahlte ihn

m, hätte gewiß beideArme nach ihm ausgestreckt, wenn ihr die geringste Bewe-

gung möglich gewesen wäre. Und doch sptirte Fanny instinktiv, daß dieser Mann

dcm Mädchen zum Verhängnis werden würde.

Sosehr sie sich anstrengte, ihn genauer zu Gesicht zu bekommen, mußte sie

rich doch mit seinem Umriß begnügen. Der Fremde war hochgewachsen, besaß

ausgeprägt lange Gliedmaßen und war sehr schlank - nicht grotesk mager wie

Louis, aber mit ?ihnlichen Körpermaßen gesegnet. Seinem Schatten nach zu urtei-

lcn, mochte es sichum Louis'Doppelg2ingerhandeln, um einenZwilling,derzttar

such kein Fett, dagegen wenigstens en bi/3chen Fleisch auf den Rippen zu haben

rchien.

Seine schemenhafte Gestalt bewegte sich langsam und unaufhaltsam auf die

erwartungsvoll daliegende Schöne zu. Als die Zwerge seiner gewahr wurden, ver-

stummte das Jammem sofort, um einem zornigen Warnruf aus sieben Kehlen zu

weichen. Die Buckligen kannten den Mann, daran bestand kein Zweifel; und es

sah ganz danach aus, als hätte Schneewittchen die Gefangenschaft im gläsernen

,,Sarg" ihrem geliebten Prinzen zu verdanken. Aber nur dieZwerge beklagten ih-

ren erbarmungswärdigen Zustand! Sowohl die bronzehäutige Schönheit als auch

ihr Galan störten sich nicht an dem Behältnis. Der Prinz mit den langen Armen

und Beinen, dessen Funktion es im Märchen doch stets war, der bedrängten Jung-

fer zu Hilfe zu eilen, machte keinerlei diesbezüglicheAnstalten - ganz im Gegen-

teil. Bevor die Kleinen es sich versahen, hatte der Fremdling auch schon den glä-

sernen Kerker seiner Geliebten ergriffen und begonnen, ihn seelenruhig hinter

sich herzuschleifen, wie ein Höhlenbewohner der Steinzeit sein Wild heim-

geschleppt haben mochte ...

Schreiend und schier verzweifelnd sttirzten sich die Zwerge auf ihn, hängten

sich an jedes seiner langen Glieder und versuchten mit letzten Kräften, den Ent-

führer aufzuhalten. Der Mann lachte nur laut und schüttelte die winzigen Wesen

ohne Anstrengung ab, als habe er es lediglich mit lästigen Insekten zu schaffen.

Dann sah Fanny jene eine Einzelheit, die sie augenblicklich aus ihrem Alptraum

auffahren ließ: Das gläserne Ding mit der Prinzessin darin war in der Tat kein Sarg

wie im Märchen - es verjüngte sich deutlich an jener Seite, die der Mann ergriffen

hatte. Dort befanden sich die Füße der Gefangenen; dort befand sich auch der

Korken der riesigen Flasche, in der die Wehr- und Arglose steckte .,.

Nachdem Fanny aus diesem wirren Durcheinander aufgewacht war, fegte sie

jede Hoffnung auf neuerlichen Schlaf beiseite. Sie entwirrte das Moskitonetz,mit

dem sie den wilden Zweikampf im Dunkeln ausgetragen hatte, und stand auf, um

sich in der Küche eine Tasse Tee zu bereiten. Sie mußte unbedingt ihre Nerven

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beruhigen; ihr Herz pochte noch immer wild, und der kalte Schweiß stand aufihrer Stirn, aller nächtlichen Schwüle ann Trotz. Mit bloßen Ftißen tappte sie

durch den Raum in Richtung Treppe und fat prompt auf irgendein glitschiges

Etwas, von dem sie hofte, es möge sich im nachhinein als nicht allzu giftig erwei-

sen. Es war nicht möglich, das Ungeziefer aus dern schönsten Haus auf Samoa ztr

verbannen, also galt es, sich mit allen Arten zu anangieren. Nie hätte Fanny ge-

ahnt, daß es ihr einmal beschieden sein würde, mit Ratten im selben Haus zu leben

und dies als völlig natürlich und absolut unab?inderlich akzeptieren zu müssen!

Louismochte soviel edlenChampagnerin seinem Kellerbeherbergen, wie erwollte;sogar als feinster Mann auf Upolu litt man ständig unter derAnwesenheit ungebe-

tener Hausgenossen, die noch der bitterZirmste Mann in Schottland mit ein wenig

Mühe verjagen konnte.

Auf dem Weg zur Küche entztindete Fanny dann doch eine Petoleumlampe.

Sie bereitete sich eine Tasse Tee, nahm Milch nach Art der Briten, lchüttete aus

der Dose ein wenig Zucker hinzu, wartete einige Sekunden und fiSchte dann mitdem Löffel die Ameisen heraus, die mit dem Zuckerstrahl zusammen in die Tasse

zu wandern pflegten. Es war unmöglich, ,,loi" auf Dauer aus dem Zuckertopf zu

entfernen; also ließ man ,,loi" einfach ertrinken und barg zuerst die Leichen, um

alsdann das Getränk zu genießen. Schaben besaßen zumindest die Freundlichkeit,

sich möglichst unauffiillig über die Vorräte heranmachen. Die kleinen Rüsselkäfer

in Getreide und Mehl benahmen sich weniger dezent und entgegenkommend. Doch

hier auf Samoa gewöhnte man sich an alles - oder verhungerte im Überfluß.

Während Fanny in der Küche stand und langsam ihren heißen Tee schlürfte,

ließ sie sich den Inhalt ihres verrückten Alptraums durch den Kopf gehen. AlleFiguren in diesem Phantasiegebilde, mitAusnahme des ,,Prinzen", waren ihr der-

art klar und detailliert erschienen, daß sie beinahe an einen Wahrtraum hätte glau-

ben können, wenn sie diese Möglichkeit nicht ihr Leben lang verworfen hätte. Es

gab keine Träume, die den Menschen die Zukunft oder zumindest einen Schlüssel

zu unbekannten Wahrheiten enthüllten - wenigstens nicht für Fanny, eine Frau aus

Indiana, deren beide Beine fest auf dem Boden standen. Sie war schließlich keine

abergläubische Schottin! In Schottland, das hatte sie bei ihren Besuchen zur Kennt-

nis genommen, lebten Gnome, Elfen, Kobolde und ähnliche Plagegeister in Hülleund Fülle, und besonden im Hochland und in den entlegenen Inselgruppen wie

Orkney und Shetland trieb derAberglauben die ausgefallensten Blüten. Louis blieb

weitestgehend davon verschont, denn er war als Stadtmensch aufgewachsen und

besaß neben seiner überdurchschnittlichen Einbildungskraft eine ordentliche Por-

tion ,,gesunden Ingenieursverstand", wie er ihn gern nannte, der seinen Hirnge-

spinsten die nötigen Zigel ar;Jegen vermochte. Und wenn schon ihr schotti-

scher Fabulierer nicht abergläubisch war, wamm sollte dann ausgerechnet Fanny,

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lln echtes Präriegewächs, sich wie ein Waschweib aufführen? Vorahnungen wa-

ron ctwas für übernervöse Blümchen-rühr-mich-nicht-an. Dieser Gedanke berühr-

lo Fanny höchst unangenehm ... wurde nicht ausgerechnet sie selbst in den

vorgangenen Monaten wie ein solches PflZinzchen behandelt?

Wahrscheinlich, räsonierte Fanny, bezog sich jener dumme Traum auf das böse

Erlobnis mit Soenga, die Louis mit seiner hausgemachten Religion völlig konfus

gomacht hatte. Aber die meisten Elernente des Nachtnalrs paßten nicht in die

Thcorie. Fannys Traum verquickte das alte Märchen von Schneewittchen mit eini-

gen überaus wirklichen Fakten samoanischen Lebens, wo sogar die sieben Zwer-

ge ihren rechtmtißigen Platz beanspruchen durften! Es existierte auf Samoa durch-

aus ein Zusammenhang zwischen Buckligen, Kleinwüchsigen und holden Jung-

fiauen, obwohl den weißen Siedlem die fraglichen Jungfrauen oft alles andere als

hold erschienen. Allerdings entsprachen auch die Zwerge nicht ganz der herkömmli-

chen ,,weißen" Märchenvorstellung, denn die kleinen Samoaner, die sich um besagte

Jungfern scharterq waren sarnt und sonders weiblichen Geschlechts. Samoaner wie

Weiße mochten Zwergen nicht viel Körperkraft zutauen ... doch die Möglichkeit,

daß eine unberährte Samoanerin auch durch einen männlichen Zwerg thre Jungfem-

schaft verlieren konnte, hatten sie in ihre Bräuche weise mit einbezogen.

Fast alle Tapos auf Samoa - zumindest alle Ehrenjungfrauen auf Upolu, die

Fanny je gesehen hatte - wurden Tag für Tag von früh bis spät von einer Gruppe

buckliger kleiner Frauen umgeben und begleitet, ob die betreffende Tapo deren

Allgegenwart zr schälzet wußte oder nicht. Die gesellschaftliche Stellung einer

Tapo war außerordentlich hoch, und alle Eltern rissen sich um das Privileg, ihre

Tochter eines Tages als Thpo sehen zu därfen. ln der Regel erfreute sichjedes Dorf

einer Ehrenjungfrau, die schon kurz nach der Geburt für das Amt auserkoren wur-

de; meist handelte es sich um die Tochter des Häuptlings oder ein anderes Mäd-

chen vomehmster Herkunft. Von verkriippelten Kleinwüchsigen gab es auf den

Inseln eine erstaunliche Vielzahl - eine Besonderheit, welche die paradiesgläubigen

Weißen in Europa und Amerika natürlich nicht erahnten. Schon bei den ersten

Schritten wurde der weibliche Tapo-Säugling von den Zwerginnen eskortiert, da-

mit sich der kleine Wurm rechtzeitig daran gewöhnte, nie für sich sein zu därfen.

Sobald darur später die Geschlechtsreife einsetzte, wuchs die Wachsamkeit der

winzigenAnstandsdamennochbeträchflich: Nunhatten die Zwerginnen nichtmehr

nw die Aufgabe, mit Palmwedeln und Fliegenklatschen hinter der Tapo herzuei-

len, um sie vor Sonneneinstrahlung und lästigem Ungeziefer zu beschützen. Jene

aufdringlichen Wesen, die sich - was zugegeben selten vorkam - an das Mädchen

heranmachen wollten, gingen auf zwei Beinen und waren männlichen Geschlechts,

und es bedurfte des Höchsünaßes zwergischer Schläue, ihnen den Gegenstand

ihrer Begierde dauerhaft voranenthalten. Mit dem Heranwachsen der Tapo wurde

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auch derAbstand größer, den die durchaus diskreten Verfolgerinnen zwischen sich

und ihrem Augapfel einhielten, aber wenn sie auch bewußt still im Hintergrund

blieben, mußten sie doch immer und überall das Mädchen im Blickfeld behalten.

Eine wirklich schlaue Tapo versuchte niemals, ihren Gesellschafterinnen zu ent-

wischen, denn durch einen solchen Akt unüberlegter Auflehnung hätte sie sich

unweigerlich tief ins eigene Fleisch geschnitten. Diejenigen Tapos, die sich dumm

genug anstellten, auch nur für einen Moment seitwärts ins Gebüsch zu huschen -womöglich bloß, um den Kleinen einen Streich zu spielen -, gingen in aller Regel

ihres Titels und ihres immensenAnsehens für immerverlustig. Eine wichtigeAuf-gabe der Zwerginnen bestand nämlich darin, notfalls als Garanten für die Keusch-

heit der Tapo aufzutreten; sie waren die einzigen Entlastungszeugen des Mäd-

chens, falls es von eifersüchtigen Müttem anderer geeigneter Jungfrauen verleumdet

wurde - eine weitaus alltäglichere Notsituation als das tatsächliche Herannahen

der,,männlichen" Gefahr. iDieübenv?iltigendeMehrzahl derTapos fand sichmit dieserEskoite sehrscbnell

ab; die meisten bemerhen die Gegenwart der kleinen Frauen nach Kirzester Frist

überhaupt nicht mehr. ,,Das sind so kleine Dinger", hatte einmal eine frtihere Tapo,

die inzwischen verheiratet war, Fanny gegenüber geäußert, ,,es ist ganz leicht, sie

zu übersehen. Zwerge zählen nicht." Und da die gesellschaftliche Position der

Ehrenjungfrau über die Maßen geachtet wie begehrt war, nahmen die Glücklichen

solch winzige zweibeinige Unannehmlichkeiten gern in Kauf.

Als Fanny das erste Mal einer großen Versammlung mehrerer Inselstämme bei-

gewohnt hatte, war ihr sofort aufgefallen, daß die Tapos sich von ihren Verwand-

ten entfemten und sich zu ,,ihresgleichen" gesellten, den Tapos der anderen Stäm-

me, um sich vom gemeinen Pöbel tunlichst abzuheben. Sie stolzierten hoch-

erhobenen Hauptes umher, so arrogant und eingebildet, daß sie wie Karikaturen

ihrer selbst ausschauten. Obwohl sie auf diese Weise eine elitäre Gruppe bildeten,

blieb doch eine jede im Grunde für sich, denn untereinander wechselten die verzo-

genen Gören kaum ein Wort. Die Tapo des Stammes war es, die stets die Festlich-

keiten anführte, ob es sich um Kriegszüge oder kulinarische Völlereien handelte.

Bei den politischen Gesprächsrunden der Häuptlinge und Stammesältesten, die

Fanny für sich nur,,Schwatzfeiem" nannte, durfte die Tapo als einziges weibli-

ches Wesen zugegen sein und sogar an der Kava-Bier-Zerernonie teilnehmen.

Strenggenommen hätte es ohne Tapo allerdings auch gar kein Kava-Bier gegeben,

denn die Zubereitung des Getränks, die mindestens so kompliziert und langrruierig

war wie jede japanische Teezeremonie, oblag zur Gänze der Ehrenmaid. Die Tat-

sache, daß während Louis' Geburtstagsfeier weiße und eingeborene Frauen ihr

Schälchen Kava-Bier bekommen hatten, lag zum großen Teil daran, daß man beim

,,Häuptling" Tusitala die Etikette ein wenig lascher auszulegen pflegte.

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"Ia, dachte Fanny nun, als sie sich jeneAlptraumgestalt in der gläsernen Flasche

vergegenwärtig3e, das war eindeutig eine Tapo. Keine andere fofine hätte solch

wundervolle uralte Matten ihr eigen nennen können, das sorgsam gehütete Erbe

etlicher Generationen - ganz zu schweigen von jenen prächtigen Walzähnen. Die

Matten, die von bestimmten Frauen eines Stammes in gemeinsamer monatelan-

ger, manchmal jatrelanger mühseliger Arbeit geflochten wurden, galten als wich-

tigster Besitz und Bestandteil der Aussteuer. Was die Fertigung und die traditio-

nelle Weitergabe betraf, mochte man sie mit den Quiltdecken vergleichen, welche

Fanny aus ihrem heimatlichen Indiana kannte; auf weiße Betrachter wirkten diese

Matten zwar kunstvoll, doch erheblich weniger anziehend. Je grauer sie waren,

desto wertvoller für die Stammesmitglieder, und eine Matte mit frischer grüner

Farbe mußte gewissermaßen ordentlich,,nachreifen", Walzähne waren auf Samoa

ebenso heiß begehrt wie auf fast allen Archipelen Polynesiens. Der Empftinger

eines geschenkten Zahnes hatte dem Schenkenden nichtjeden Wunsch zu erfüllen

wie etwa auf Fidschi, aber wer auf Samoa einen Walzahn aus den Händen des

Besitzers erhielt, durfte sich dessen tiefster Zuneigung und Wertschätzung gewiß

sein. Samoaner wurden zu Recht als ein ausgesucht großzügiges und freigebiges

Volk betrachtet - von Matten oder Walz'ähnen allerdings trennte man sich zumeist

nur über seine Leiche.

Die Tapo im Glas war mit beidem gut versorgt gewesen, fand Fanny, und auch

ihre Frisur ließ erkennen, daß sie sich für einen hohen Festtag geschmückt hatte.

YielefoJines liebten es, sich zu besonderen Anl?issen das dicke, leicht drahtige

Haar golden zu tönen und es mit Hilfe einerArt Leimpaste in die unmöglichsten

Richtungen zu verbiegen. Die Natur dieses Festtages konnte Fanny dem verrück-

ten Traum unschwer entnehmen: Es ging um die Verbindung des Mädchens mit

dem unbekannten Mann. Die Art und Weise, wie der Mann sie verschleppte, legte

es jedoch nahe, daß der Fremde nichts Gutes im Schilde führte und dem Mädchen

großes Unheil bringen würde.

Es war leicht, den guten Ruf einer Tapo zu ruinieren, wenn man sie ihren Zwer-

ginnen enhiß. Unter Umständen konnte es frr einen Mann ebenso einfach sein,

den Tod des Mädchens heraufzubeschwören - wenn er charmant genug war und

die Tapo freiwillig nicht von ihm lassen wollte, schritten die Dorf?iltesten und

,,weisen Männer" ein, brachten das Mädchen in ihre Gewalt und hielten es in ei-

nem nur ihnen bekannten Versteck mitten im Dschungel gefangen, bis es sich dem

Willen der Alten beugte . . . oder auch nicht. Die Strenge, mit der die weisen Män-

ner vorgingen, variierte von Dorf zu Dorf; in vielen Stämmen hatten sie die Ge-

walt über Leben und Tod inne und durften sogar über die Tochter des Häuptlings

richten. Selten war es einer Tapo vergönnt, den Jüngling ihrer Wahl zu ehelichen,

denn die Weisen trachteten danach, ihre wertvolle Ehrenjungfrau möglichst mit

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einem mächtigen Fürsten zu verheiraten, der dann in Kriegszeiten ihrVerbändetcr

sein würde. Nun, in gewisser Weise war es im Europa der Feudalzeit dasselbo

gewesen; nur hatte man in Europa widerspenstige Heiratskandidatinnen ins Klo.ster gesperrt und sie nicht wie auf Samoa über die Klinge springen lassen. Es kam

nämlich nicht eben selten vor, daß eine allzu eigensinnige Tapo nie mehr aus dem

Urwald zurückkehrte. Was Fanny bei solchen Gelegenheiten den größtenAbscheu

einflößte, war nicht einmal die selbsthenliche Anmaßung der alten Männer, son-

dern das Verhalten der Verwandten der Verschollenen. Sie verzichteten dardufi,

nach dem Verbleib der Tapo zt frageg weniger aus Angst denn aus dumpfer Träg-

heit, und fanden sich innerhalb von Tagen mit dem Verlust von Tochter oder Schwe-

ster ab. Bei der Hitze war langes Trauem einfach zu anstrengend und das Gedächt-

nis ausgesprochen kurz.

Fanny spann diese Gedanken hauptsächlich aus Langeweile, während sie in der

Küche ihren Tee schltirfte. Sie selbst hatte nie engeren Kontakt 4r einer Tapo

unterhalten, kannte die Ehrenmädchen nur als Grußbekanntschaftön, mit denen

man ein lautes, oberflächlich herzliches ,,Talofa" austauschte, wenn man einander

auf den Dschungelpfaden begegnete. Da Fanny also mit keinem der Mädchen

befreundet war, gab es für sie auch keinerlei Anlaß, sich über das Schicksal ir-

gendeiner von ihnen den Kopf zu zerbrechen. Außerdem hatte sie nur geträumtl,

Als sie einen Blick nach draußen warf, merkte Fanny, daß die Sonne bald auf-

gehen wärde. Morgen- und Abenddämmerung waren auf den polynesischen In-

seln dermaßen kurz, daß man fast den Eindruck bekam, der Feuerball tauche in

Sekundenschnelle auf und unter; die Zeit des Zwielichts verging wie im Fluge.

Fanny löschte die Lampe und sah bereits genug, um sich ihren Weg zurück ins

Schlafzimmer bahnen zu können. An ein Wiedereinschlafen war allerdings kaum

zu denken, denn mit der Sonne kamen augenblicklich s?imtliche Bedienstete aus

ihren Nachtquadieren, und obwohl die samoanischen Diener ein recht häges Völk-

chen abgaben, galten Langschläfer bei ihnen als fragwtirdige, wenn nicht gar an-

rüchige Gestalten. Es war wei"ß Gott nicht immer einfach, seiner Dienerschaft

alles recht zu machen, dachte Fanny lächelnd und spülte ihre Teetasse aus, bevor

sie sich auf den Weg zur Treppe nach oben begab.

Als sie draußen auf der Veranda Fußtritte hörte, blieb sie verdutzt stehen. Die

Schritte waren leise, doch Fanny stellte sofort fest, daß der Unbekannte Stiefel

trug. Fanny lauschte ein wenig lZinger und gelangte bald zu der Gewißheit, daß es

sich nicht um einen Fremden handelte, sondern um Lloyd, den Streuner. Ihr vaga-

bundierender Sprößling machte jedoch keineAnstalten, ins Haus zu kommen, son-

dem drehte einsame Runden auf der Veranda. Vielleicht haüe er das bereits seit

geranmer ZeiI getzr., ohne daß Fanny ihn gehört hatte. Unvermittelt kam Lloyd

zum Stillstand, und Fanny beschloß, sich zu ihrem Sohn zu gesellen, den sie seit

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gcraumer Zeit allzuselten zu Gesicht bekam. Mit bloßen Füßen trat sie hinaus auf

die Veranda. Ihre Schritte waren leise, und Lloyd, ganzin den Anblick eines Ge-

genstandes in seinen H?inden vertieft, nahm die plötzliche Anwesenheit seiner

Mutter gar nicht wahr.

,,Talofa, du Herumtreiber", begrüßte Fanny ihn leise, um den offenbar tief in

Oedanken Versunkenen nicht über Gebühr zu erschrecken. ,,Ich hoffe, du sprichst

überhaupt noch unsere Sprache, mein Sohn." Lloyd war sicher wie immer in Liebes-

dingen unterwegs gewesen, deren, nun ja, Dinglichlceit ihn dazu veranlaßte, so-

gar in stockfinsterer Nacht den Dschungel zu durchqueren. Die Tatsac_he, daß er

von seinen Ausflügen stets recht abgerissen heimkehrte, bedeutete, daß seine An-

gebetete wohl kaum eine Weiße sein konnte. Die wenigen weißen Damen, die

längere Zeit auf Samoa lebten, machten zwar nach wenigen Wochen jeden noch

so gefährlichen Zeitvertreib der Eingeborenen mit, oft aus purer Langeweile,

manchmal aus Verzweiflung; doch wenn sie mit einem Mann anbandelten, woll-

ten sie früher oder später geheiratet werden - eine Idee, mit der Lloyd sich nun gar

nicht anfreunden konnte. Es war einfacher, eine Britin dazvntbewegen, sich mit

ihrem Galan in die überaus beliebten Wasserfälle von Papaseia hinunteranstürzen

- wo man beim geringsten Fehltritt leicht den Kopf mitsamt Inhalt verlieren konn-

te, im Erfolgsfall aber großen Spaß hatte -, als sie zum allerkleinsten erotischen

Abenteuer zu überreden.

Trotz der Rücksicht, die Fanny auf den Tagträumer genommen hatte, zuckte

Lloyd entsetzt zusammen. Mit zitternden Fingem nestelte er an dem Gegenstand

herum, den er in Häinden hielt, und indem er durch eine schnelle seitliche Drehung

Fanny den Rücken zukehrte, versuchte er möglichst unauff?illig, das Ding in sei-

nem Hemd verschwinden zu lassen. Wenn sich Lloyd jedoch durch eine Eigen-

schaft nicht auszeichnete, war dies Geschicklichkeit. Er wollte zweifellos eine

blitzartige Bewegung ausführen, doch seine nervösen Finger waren ihm dabei wie

immer das größte Hindernis. Fanny hatte ausreichend Zeit nt bemerken, daß der

Gegenstand recht groß war, mindestens viereinhalb Zoll,spitz zulaufend und von

gelblicher Tönung. Auch ein paar purpurne Sprenkel meinte Fanny zu erkennen,

doch noch war die Sonne nicht ganz aufgegangen, und so mochte das Farbenspiel

sie täuschen. Bei der Bestimmung des spitzen Objekts selbst gab es allerdings

keinen Intum, und als Fanny zudem noch sah, daß Lloyd einen dünnen Lederstreifen

um den Hals geschlungen tug, an dem das Ding befestigt war, wußte sie mit letzter

Gewißheit, wonrm es sich handelte. Ihr Sohn Lloyd besaß einen kostbaren Walzahn,

von dessen Exisüenz niemand etwas erfahren sollte! Wer in drei Teufels Namen hatte

ihm den Zahn verehrt? So etwas fand man doch nicht im Urwald!

,,Was hast du denn da Interessantes, Lloyd?* fragte Fanny scharf und wußte im

voraus, daß Lloyd sie belügen würde.

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,,Gar nichts, Mutter", gab er prompt zurück, wohl wissend, daß seine Mutter

ihn sowieso durchschaute. Doch sie konnte ihren erwachsenen Sohn wohl schwer-

lich durchsuchen, und Lloyd verließ sich darauf, daß Fanny dieAngelegenheit

mangels Beweissttick wärde auf sich beruhen lassen müssen. Trotzdem war ihm

ganz und gar nicht wohl in seiner Haut. Lloyds schlechtes Gewissen stand ihm ins

Gesicht geschrieben, und da war noch eine weitere Regung: Besorgnis. Da Lloyd,

der Verhaute des Tusitala, von niemandem auf Upolu etwas zu befürchten hatte,

empfand er also zwangsläufig Angst um einen anderen Menschen.

Einen weiblichen Menschen, oder ich will verdammt sein. Es paßte alles zu-

sammen: Lloyds Ausflüge, sein enorm gestiegenes Selbstbewußtsein, das kostba-

re Geschenk - seine Auserwählte mußte in der Tat aus allerbestem Hause stam-

men. Aber weshalb nun diese ängstliche Unruhe in seinem Blick? Was hatte er vor

der Mutter zu verbergen? Das Gespräch mit Louis vor kurzem ...

,,Mutter, ich warte hier lediglich auf deinen Mann. Dann muß icii gleich wieder

fort. Hast du Louis schon gesehen?"

Natürlich. Gespräche unter Männern. Fanny fühlte den Zom in sich hochsteigen,

den sie empfunden hatte, als sie Monate zuvor Zeugin ihrer eigenen Verunglimp-

fung geworden war.

,,Ich muß dich enttäuschen", gab sie bissig zurück, ,,aber es hat sich in diesem

fale htzvtischen eingebtirgert, daß niemand mehr weiß, wo ein anderes Mitglied

des Haushalts steckt. Vielleicht befindet sich Louis im Haus - das w:ire allerdings

unwalnscheinlich. Am besten suchst du ihn irgendwo im dichten Dschungel. Vailima

erstreckt sich schließlich nur über 314 Morgen ... und einen halben. Viel Glück

also."

Lloyd öffnete den Mund, als wolle er Fanny noch etwas sagen, besann sich

jedoch eines Besseren - oder auch Schlechteren, je nachdem. Sein Blick zumindest

bat sie um Verzeihung, und das war immerhin freundlicher als nichts. Fanny stell-

te behoffen fest, wie unglaublich bescheiden sie in dieser Hinsicht im Umgang

mit dem eigenen Sohn geworden war.

Lloyd schlich betrübt von dannen, gebeugt unter der Last seiner zweieinhalb

Jahrzehnte, und bestieg das Pferd, mit dem er vor weniger als einer halben Stunde

angekommen sein mußte: Er hatte das müde Tier, noch immer gesattelt und ge-

zäumt, neben dem Stall angebunden, um nach der erhofften Unterredung mit Lou-

is ohne VerschnauSause wieder aufbrechen zu können. Was wühlte ihn so auf,

daß er sich keine Minute Ruhe gönnte?

Fanny beschloß, Lloyds Verhauten, den Drahtzieher hinter allen heimlichen

Machenschaften in und um Vailima, persönlich zur Rede zu stellen. Wo aber mochte

Louis stecken? Fanny hatte Lloyd die passendeAuskunft erteilt, was den Verbleib

ihres Gatten betraf: Keiner konnte mehr mit Sicherheit sagen, wo sich Louis zu

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oiner bestimmten Tageszeit auftrielt. Früher waren seine Schreib- und sonstigen

Arbeitsgewohnheiten stets klar umrissen gewesen, Orte und Zeiten allen geläufig

- doch das schien endgültig vorbei. Fanny nahm sich vor, zu Pferde die Gegend

nach ihm abzusuchen. Allerdings wartete Vailima mit entrnutigend viel ,,Gegend"

aut und es wärde sich als einfacher erweisen, eine Nadel im Heuhaufen aufzustö-

bern . . . zumindest als weniger anstrengend. Fanny seufzte tief auf.

Als sie sich für den Ausritt ankleiden wollte, kam ihr vom oberen Stockwerk

Austin entgegen, ausgeschlafen und schon in sämtlichen Kleidern, die er füLr die

stilvoll-wtirdige Ausübung seines Aufseheramtes zu benötigen glaubte. Fanny zeigte

sich überrascht, ihn bereits so fräh morgens hier unten zu sehen-

,,Guten Morgen, Großmutter", begrüßte Austin sie und machte Anstalten, um-

gehend das Haus zu verlassen. Hatte Vailima sich nun etwa endgültig in einen

Taubenschlag verwandelt? Fanny verstand die Welt nicht mehr. Sogar Austin, ein

halbes Kind, das sich vor nicht allzu langer Zeitmit einem Steckenpferd begnügt

hatte, wurde von der ungesunden Betriebsamkeit befallen, jener beinahe unheim-

lichen Unrast, welche mittlerweile alle Klan-Mitglieder außer Fanny an den Tag

legten.

,,Verlangt dein Onkel Louis nun etwajeden Morgen von dir, dalS du die Rodungs-

arbeiten beaufsichtigst? Was treibt er selber denn so während der gar.a;en Zeit?

Wirst du es nicht leid, immer alles allein machen zu müssen? Du bist doch noch

ein Junge, sicher möchtest du wieder spielen wie früher ..."Fanny hielt inne. Die völlige Verständnislosigkeit in Austins Augen ließ sie

verstummen. Sie satr nichts Kindliches in diesem Blick, nichts Verspieltes. Austin

nahm die ihm durch Louis überfagenen Aufgaben über die Maßen emst, und so-

wohl seinAuftreten als auch seine Haltung trugen unverkennbar militärische Züge.

Nicht seine Kleidung verriet den geborenen Soldaten, sondern die Aura von Diszi-plin und strenger Selbstzucht, welche Jung-Austin trotz der als Kind genossenen

Freiheiten plötzlich umgab. Sein Streben nach getreuer Pflichterfüllung stand au-

ßer Frage. Die seiner,farriere" innewohnende Ironie bestand darin, daß Austin

einen echteren Soldaten vorstellte als derAusbilder dieses kleinen Rekruten. Lou-

is sagte häufig halb im Scherz, wie schrecklich gern er ein Soldat geworden w2ire,

weil er das Kampfgetümmel liebte - doch seien Schlachten stets mit dem unange-

nehmen Nebeneffekt behaftet, daß jeder K?impfer Feinde hatte. Das wiederum

widersprach Louis' ausgeprägtem Harmoniebedtirfnis, seinem Wunsch, von je-

dermann geliebt zu werden. Er war schon ein seltsamer Heiliger!

,,Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Großmutter", bestätigte Austin Fannys

Verdacht, ,,was ich tue, tue ich freiwillig, weil es getan werden mul|. Es wäre

natärlich schöner, wenn Onkel Louis mir öfter Gesellschaft leisten könnte, doch

er hat nun mal Wichtigeres zu tun. Daran l?Et sich nichts ändern."

2tt

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Austin sprach so schnörkellos und vernünftig, daß es Fanny angst machte. Hät-

te Austin sich pompös und aufgeblasen angehört wie früheg wäre dies ein beruhi-gendes Zeichen seiner altersgemäßen Unreife gewesen ... aber in seinem Auftre-ten lag kein Funken vonArroganz, nur eine ungeheure Zielstrebigkeit. Da Fanny

nicht wußte, wo das angestrebte Ziel liegen mochte, befiel sie ein übermächtiges

Gefühl von Verlassenheit. Ihr Klan schien Fanny mehr und mehr wie eine Kara-

wane, die auf Nachztigler wie sie keine Rücksicht nehmen und sie irgendwann innicht allzu ferner Zukunft völlig abgehängt haben wtirde.

,,Und was hat dein Onkel Louis so Wichtiges zu tun?" fragte Fanny ihren En-

kel, weil sie im stillen hoffte, nebenbei Louis'Aufenthaltsort von dem Jungen zu

erfahren.

Austin zögerte für einen Sekundenbruchteil und verzog das Gesicht. ,,Das kann

ich dir gar nicht genau sagen, Großmutter. Er tut eigenartige Dinge - oder eigent-

lich gar nichts. Jeden Tag reitet er in den Urwald, sucht sich eine bestimmte Stelle

aus und steht einfach dort. Stundenlang! Manchmal bleibt er auf Jack sitzen, re-gungslos, dann sieht er fast aus wie ein Reiterstandbild oder wie ein Zinnsoldat

aus seiner Sammlung. Meistens steigt er ab, bindet Jack an und starrt in die Land-

schaft. Er hat ein Notizbuch dabei und kritzelt öfter hinein. Irgend etwas beobach-

tet er, aber ich weiß nicht, was es ist."Austins Beschreibung brachte eine Saite in Fanny zum Erklingen. Die Worte

des Jungen mochten jeden anderen Menschen unverständlich anmuten, doch Fanny

erahnte ihre Bedeutung.

,,Großmutter", fuhrAustin fort und klang auf einmal etwas zögerlicher als zu-

vor, ,,glaubst du, Onkel Louis rechnet mit einem Überfall?" Mit gerunzelter Stirn

sah der Junge sie an.

,,Wie in aller Welt kommst du denn auf die Idee, Austin?" gab Fanny völligüberrascht zurück.

,,Nun ja", druckste Austin herum, ,,Onkel Louis steht jetzt oft so lange im Ur-wald herum, ohne sich zu rühren, daß ich an eine Schildwache denken muß, wenn

ich zufüllig an ihm vorbeikomme. Aa Wachtposten wie die in seinen Soldaten-

büchern. Gibt es bald einen Krieg hier? Erwartet er einen Eindringling?"

,,Aber nein, mein Liebling", beruhigte Fanny ihren Enkel, der durchaus ein

wenig besorgt schien. ,,Ich glaube, ich kenne den Grund für Onkel Louis'Verhal-

ten. Hab keineAngst."

,,Ich habe keine Angst", antwortete Austin so seelenruhig, daß Fanny ihm ohne

Zögem Glauben schenkte. ,,Ich möchte nur wissen, womit ich es zu tun habe ...im Falle eines Falles."

Er klingt wirklich wie ein kleiner Soldat, dachte Fanny und wußte nicht, ob sie

traurig oder froh darüber sein sollte. Die Welt brauchte gute Soldaten, aberAustin

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Page 210: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

war noch so jung! Auch ihr Enkel hatte sich wie der Rest der Familie innerhalb

kuner Zeit dramatisch verändert. Den kleinen Jungen mit dem Holzpferd wtirde

Fanny wohl nicht mehr wiedersehen.

,,Weißt du, wo Onkel Louis heute morgen stecken könnte, Austin? Ich möchte

lhn nämlich dort draußen besuchen."

,,Gestern hat er den ganzenTag beim großen Wasserfall verbracht, neben dem

Felsvorsprung, am Rand der Vanilleplantage. Dort ist er heute bestimmt auch noch,

denke ich mir."

Fanny wußte Bescheid. Für die Tätigkeit, die Louis nach Fannys Dafürhalten

dieser Tage zu zelebrieren pflegte, schien ihr der Wasserfall der richtige Aussichts-

und Ausgangspunkt.

Austin machte inzwischen emsthafteAnstalten, zu seinen Mannen aufzubrechen.

Seine Großmutter hatte ihn offenkundig schon lange genug von seinen Pflichten

abgehalten, doch als Nachwuchskavalier durfte man so etwas einer Dame gegen-

über nur sehr vage zum Ausdruck bringen. Austin scharte also nur sehr vage mit

den Hufen und warfununterbrochen ebenso vcge Blicke nach draußen - bis Fanny

ihn endlich entließ.

,,Ich muß wirklich dringend nach meinen Boys sehen, Großmutter", sagte er

beim Hinauseilen entschuldigend, ,,sie sind andauemd zu irgendwelchern kindi-

schen Unfug aufgelegt."

Seine Boys! Fanny hätte gern darüber gelacht, wie altklug ihr Enkelsohn sich

auszudräcken beliebte - aber da war nichts Frühreif-Gekänsteltes in seinem Aus-

spruch gewesen. Austin spielte keine Spiele mehr; er war inzwischen älter als

Lloyd!

Kopfschüttelnd machte sich Fanny auf den Weg zu den Stallungen und gab dort

dern kleinen Stallburschen LauliiAnweisungen, eines der drahtigen, vor Sehnigkeit

fast dtiur wirkenden Inselpferdchen zu safteln. Louis' Lieblingspferd Jack war auch

recht mager und paßte insofern gut zu seinem Herrn, aber Jack überragte die nor-

malen Inseltiere um etliche Zoll. Zudem hatte man Louis' Hengst beschlagen,

obwohl Hufeisen sich auf Upolu nicht als sonderlich praktisch erwiesen. Die Pfer-

de auf der Insel kannten die,pormalen" Gangarten ihrerArtgenossen im Rest der

Welt kaum: Ein ordentlicher gestreckter Galopp, wie ihn jeder Reiter von Zeit ztt

Zertschätzte,wurde durch das extrem unebene Gel?inde unmöglich gernacht; selbst

ein Kanter von nur wenigen Sekunden Dauer, welcher den passionierten Reiter

nicht zufriedenstellte, sondem höchstens durch die Kürze des Vergnügens quälte,

ließ sich einzig auf einem handtuchbreiten Stück Strand nahe Apia ausführen.

Zwei Jahre zuvor hatte der britische Konsul, Mr. Cusack-Smith, sich verzweifelt

nach irgendeiner Lichtung umgesehen, welche ihm und seiner Gattin genügend

Platz für ihr heißgeliebtes Polo bot. Man suchte in der Ntihe des Konsulats, man

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sah sich auf der gesamten Insel um und war willens, den Poloplatz notfalls aus

dem Dschungelboden zu stampfen. Upolu erwies sich jedoch als zu gebirgig für

alle Versuche der hohen Herrschaften. Letztendlich nahmen die armen Cusack-

Smiths zu einer wahrhaft erbärmlichen Lösung Zuflucht. In der Nähe des Flüß-

chens Fuisa stieß man auf ein Stückchen Sandstrand, welches immerhin nuei ge-

schlagene Stunden des Tages nicht unter Wasser stand! Beide Eheleute waren dar-

ob unsagbar glücklich, so wie fast alle auf Samoa lebenden Weißen unendlich

einfach zu beglücken waren, sofern sie es nicht vorzogen, im Garten Eden zu

ausgemachten Säufern zu werden. Nicht jeder Weiße vertrug das Paradies.

Nun trottete Fanny auf ihrem Pferdchen durch den Urwald und war wieder

einmal froh, daß ihr Reittier sich seinen Weg selbst zu suchen vermochte. In der

Dunkelheit des Dschungelpfades, inmitten all der Bodenkriecher, des gigantischen

Wurzelwerks und der schlüpfrigen Felsen, hätte ein ,,zivilisiertes" britisches Roß

sich und seinem Reiter bald Beine oder Hals gebrochen. Nicht _sp die Inseltiere.

Sie zeichneten sich durch eine ungeheure Behendigkeit aus, diö an Bergziegen

gemahnte, und wußten stets ihre Hufe auf die einzig begehbare Stelle zwischen

den Hunderten von Fußangeln zu setzen. Wenn der Weg sich selbst für sie beson-

ders schwierig gestaltete, ertasteten die Pferde sich fürmlich jeden Schritt; wurde

es dann etwas leichteq verhelen sie in ihre schnellste Fortbewegungsart - einen

bequemen Paßgang. Ja, die Tiere stellten durchaus eine Besonderheit dar, auch der

große Jack, den seine Hufeisen bei der Pfadfinderei nur behindem konnten. Louis

mußte natürlich ein beschlagenes Pferd besitzen - aber einem Mann mit Sporen

war schließlich alles zuzutrauen ... Nun ja, dachte Fanny nicht ganz bar jeder

Schadenfreude, zur Strafe muJJ sich Louß der Lulatsch besonders tief zu Jack

hinunterbeugen. Anders nämlich schaffie man es nicht, den herabhängenden Lianen

und querwachsenden Asten zu entgehen. Einen stolzen, aufrechten Reitersmann

gab es im Dschungel nicht!

Nach einer knappen Stunde gelangte Fanny zu der von Austin bezeichneten

Stelle. Tatsächlich, dort stand Louis, beim großen Wasserfall, welchen Strom Num-

mer eins bildete, sobald er über das große Felsplateau neben der Vanilleplantage

hinabschoß, Eigentlich war es merkwtirdig, daß Louis, ein Mann von solch ausge-

prägter Phantasie, den Flüssen auf seinem Grund und Boden niemals Namen ge-

geben hatte. Sein Samoanisch hätte ausgereicht, sie zumindest in der Landesspra-

che durchzunumerieren.,,Vai" hieß ,,Wasser", ,,lima" bedeutete ,,fünf'- und von

eins bis vier konnte Louis doch auch längst zählen ...

Fanny stieg vom Pferd und band die Zijgel an den nächstbesten Baum. Louis,

der im allgemeinen ein gutes Gehör besaI3, war offenbar derart in seine Betrach-

tungen versunken, daß er Fannys Ankunft gar nicht zur Kenntnis nahm. Fanny

musterte ihren Mann, der völlig reglos in der Gegend stand, wie Austin ihn ge-

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Page 212: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

rchildert hatte. Von Zeit zu Zeit griffer nach einem kleinen ausziehbaren Fernrohr

in der linken Hosentasche, sah minutenlang hindurch und kritzelte dann mit dem

Bleistift Notizen in ein winziges Heft, das er in der rechten Gesäßtasche aufbe-

wahrte. Austin gegenüber hatte Fanny geäußert, sie kenne den Grund für Louis'

Verhalten, und obwohl sie ihn noch nie zuvor bei ?ihnlichen Tätigkeiten gesehen

hatte, war sie sich völlig sicher, daß sie die Situation richtig einschätzte.

Louis wirkte aufs Haar genauso, wie er noch vor kurzem den eigenen Vater

beschrieben hatte: Wenn der Leuchtturmingenieur Thomas Stevenson das Terrain

fi,ir zukünftige Bauwerke erkundete, pflegte er zu diesem Zweck stundenlang be-

wegungslos die Landschaft zu studieren. Er hatte ohne Unterlaß den Strand er-

fbrscht, den Wechsel und die Stärke der Gezeiten, Untiefen und Sandbänke, Priele

und Dünen, Flora und Fauna. Als Thomas mit seinem Sohn die große Inspektions-

reise unternahm, standen die Türme bereits, und Louis studierte. Doch Thomas

hatte den Sprößling schon als kleinen Jungen mit sich hinaus in die Natur genom-

men, hatte dort fasziniert, ja seltsam beglückt jeden Stock und jeden Stein unter-

sucht, während Klein-Louis den Vater an den Rockschößen zog und vor verständ-

licher Ungeduld quengelte. Louis war nur ein Kind gewesen, das nichts von der

Schönheit der Natur hören, sie nicht zu schätzen wissenwollte, wenn eine Stunde

Fußmarsch entfemt eine Brause winlcte!

Es hatte über 30 Jatue gedauert, bis der nunmehr etwas reifere Knabe Louis

endlich die wahre Bedeutung der für den Eetrachter des Betrachters so langweili-

gen Feldforschungen angemessen zu würdigen wußte. Louis hatte sich schon im-

mer mit seinen Leuchtturmvorfahren gebrüstet, doch sein Stolz galt dem guten

Namen aller Stevensons, den steinernen Zeugen ihres Mutes, ihrer Tatlraft und

crusoegleichen Erfindungsgabe. Es war eine Art pauschaler Stolz gewesen, den

jeder Sproß der Sippe mit der Mutterrrilch einsog. Die unendlich vielen kleinen,

unbedeutenden und unspektakulären Dinge, mit denen sein Vater es in seinem

Berufsleben zu tun gehabt hatte, ohne die er jedoch nie zu einem so genialen

Leuchtturmbauer herangereift wäre, interessierten den Romantiker Louis nicht.

Das änderte sich schlagartig auf Samoa. Seit Louis auf der Insel lebte, dachte er

immer häufiger an seinen Vater zurück, an ihre gemeinsamen Exkursionen, die er

als Kind nicht hatte ausstehen können und die er durch seine ununterbrochene

Nörgelei jedesmal auch dem begeisterten Thomas vergällte. Louis' Vater hatte

seinen Beruf derart innig, j a zärtlich geliebt, daß Fanny sich sehr lebendig vorzu-

stellen vermochte, wie er seineAugen die schottischen Küsten hinauf- und hinab-

wandem ließ, von kindlicherer Freude beseelt als der zappelige Filius an seiner

Seite. Farury hatte Thomas liebgehabt, vielleicht noch lieber als Louis' Mutter

Maggie, und das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. So bullig und b?irbeißig Louis'

Vater bei flüchtiger Bekanntschaft wirken mochte, so sanft und zartfühlend konn-

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Page 213: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

te er sein. Seine Gattin trug er auf Händen, und dem Sprößling verzieh er nach

kurzem Donnergrollen alle Sünden.

Doch nun war Thomas Stevenson schon sieben Jahre tot. Möglichenrreise hätte

Louis sich leichter mit dem Verlust des Vaters abfinden können, wenn das Schick-sal ihm nicht auch in dieser Beziehung einen bösen Streich gespielt hätte.rFanny

und Louis waren immerhin eigens nach Bournernouth gezogen, um Louis'Vaternäher zu sein, mit dessen Gesundheit es nicht zum besten stand. Doch als Thomas

dann sterbenskrank darniederlag und sein Sohn sofort zu ihm eilte, kam er trotz-dem zu spät, ihn noch lebend anzutreffen. Um Louis'Kummer die Krone aufzu-

setzen, befiel den bauernden Sohn eine böse Erkältung, die ihn ans Bett fesselte

und ihm nicht einmal erlaubte, Thomas'Beerdigung beizuwohnen! Wochenlang

durfte Louis das Vaterhaus in der Heriot Row nicht verlassen. Alles in allem hatte

Louis das Grab nicht öfter als ein-, zweimal besuchen können, denn drei Monate

später schon trat er seine Reise in die Feme an, nicht ahnend, daß ir keine Rück-

fahrkarte besaß. Diese Form der Trennung, unvermittelt und verheerend wie ein

Blitzstrahl, hatte sich als zu grausam für Louis erwiesen.

Hier auf Samoa dachte Louis oft an den Vater zurüclg obgleich er selten über ihnsprach. Wie sehnlich Louis sich in seinem weltabgeschiedenen Exil in die Ntihe sei-

nes Vaters, ja all seiner Vorväter zurückwtinschte, entnahm Fanny allerdings der blo-

ßen Tatsache, daß er erst aufUpoludenDrangverspürthatüe, eine detaillief,te FamilierF

chronik zu erstellen. Lloyd hatte aus Schottland Unmengen von Papieren mitbringen

müssen, darunter das Reisetagebuch des berühmten Großvaters und zahllose Briefe

und Aufzeichnungen anderer lngenieursvorfähren. Als Fanny mithalf, das literari-

sche Dwcheinanderzu ordnen, welches drei Generationenvon Stevensons hinterlas-

sen hatten, war sie erstaunt gewesen: Jeder von Louis'Verwandten bekundete imNachlaß ein Körnchen jenes schriftstellerischen Talents, das Fanny vorher als Louis'alleiniges Besitztum angesehen hatte, alsjeneleuchmrrmhoheÜberlegenheit, die sei-

ne willkürliche Abkehr von der Berußtradition rechtfertigte.

Insbesondere Louis' Großvater - unbestritten bedeutendster unter sämtlichen

Stevenson-Pionieren, alldieweil er nichts als Neuland betrat und zudem über Jahr-

zehnte hinweg der einzige vom ,,Nordlichter-Amt" angestellte Ingenieur blieb -hatte eine große Neigung zur Literatur besessen. Sein ,,Tagebuch" umfaßte eine

schiere Unmenge von minutiös geschilderten Einzelheiten, die sich teils auf seine

Arbeit, teils auf seine Abenteuer bezogen; die Mehrzahl der Details verriet dage-

gen, daß das eine vom anderen kaum deutlich zu trennen war. Robert Stevenson

der Altere beschrieb in seinem riesigen Werk, dessen Inhaltsangabe allein mehre-

re Dutzend Seiten umfaßte und das sogar einen Index enthielt, die überall lauern-

den Unwägbarkeiten und Gefahren für Leib und Leben, mit denen es ein

Leuchtturmingenieur tagein, tagaus ohne nennenswerte Atempause aufzunehmen

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Page 214: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

hltte. Louis' Großvater und Namensvetter legte in seinen Erzählungen nicht nur

tttflliche Stilsicherheit und einen für diesen Mann der Tat außerordentlich ge-

lchickten Umgang mit der Schreibfeder an den Tag. Er stellte zudem einen ausge-

prägten Sinn für effelctvolle Dramaturgie zur Schau; obwohl er sich und seine

Loistungen niemals über Gebühr in den Vordergrund hob, wußte er doch die von

lhm durchlebtenAbenteuer greifbar und packend ins Bild zu setzen. Mehrere Male

war es vorgekommen, daß Louis'Großvater zumindest für kurze Zeit atsgesetzt

rufeiner kargen, öden Insel gelebt hatte, weil das Segelschiff, welches ihn dort zu

Erkundungszwecken auf eigenen Wunsch zurückgelassen hatte, unmittelbar dar-

auf mit Mann und Maus unterging! Robert wäre vielleicht nie wieder lebend vonjenen Eilanden entkommen, wenn das Nordlichter-Amt nicht über seine Pläne

informiert gewesen wäre und ihm - wohlgernerkt mit erheblicher Verzögerung -cin weiteres Schiffzur Rettung nachgesandt hätte. Sein Wunsch, Leuchttürme inder gottverlassensten Einöde zu errichten, hätte Robert Stevenson oftmals um ein

Haar das Leben gekostet. Schon beim bloßen Überfliegen seinerAufzeichnungen

crgriffFanny damals ein Gedanke, der sie nicht wieder loslassen sollte. Was Lou-is' Großvater erlebt hatte, der doch fast nie sein Heimatland verließ und lediglichzur eigenen beruflichen Weiterbildung Leuchttlirme in England und an der euro-

päischen Nordseektiste besuchte, war unendlich aufregender und abenteuerlicher

als alle von Fanny und Louis unternommenen Weltreisen! Allein das ständige

Umherschippern zwischen den schottischen Inseln erforderte ebensoviel Mut und

Selbstüberwindung wie die Umsegelung Kap Hoorns, obwohl die zurückgelegten

Strecken jeweils nur,,wenige" Seemeilen umfaßten. Doch diese wenigen Meilenbargen grausige Fallen - im Vergleich zu denen sich Odysseus' klassische Gegen-

spieler Scylla und Charybdis, Felsenriff und Strudel in der Straße von Messina,

bestenfalls als Übungshindernisse für Segelanfünger entpuppten.

Robert Stevenson galt im Klan als die große Patriarchengestalt, die niemand

übertreffen konnte, und doch erwiesen sich sämtliche Söhne seiner würdig. Tho-

mas' Bruder David setzte nicht nur den Leuchtturmbau, sondern auch die schrift-stellerische Linie fort, indem er dem Vater ein literarisches Denkmal in Buchform

errichtete. Thomas hingegen, ein bescheidenerer und trotz seiner profunden Bil-dung einfacherer Mann, ,,begnügte" sich damit, großartige Erfindungen zu ma-

chen, die die Leuchtturmentwicklung international zu höchster Blüte trieben -obgleich Thomas selbst kaum schottischen Boden verließ. Erst als Fanny mithalf,

etwas Ordnung in das papierne Chaos zu bringen, welches nicht weniger als die

gesamte Stevenson-Tradition darstellte, begriff sie ganz langsam, warum Louis

sein Leben lang Thomas gegenüber eine eigenartige Scheu verspürt hatte. Sein

Erzeuger war doch watrlich kein Tyrann gewesen, der den Sohn unterdrückte

oder den Erst- und Einziggeborenen gar wegen seiner Kränklictrkeit verabscheu-

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Page 215: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

te, wie es schließlich bei ,,gestandenen" Männern nur zu oft der Fall zu sein pfleg-

te. Im Gegenteil hatte Thomas während der zahllosen Wochen der Bettlägerigkeit

seines kleinen Smout fast ebensooft am Krankenlager gesessen wie Maggie, hatte

ihn zum Fabulieren ermutigt und endlose Spiele mit ihm gespielt. Louis liebte

seinen Vater stets von ganzem Heruen, und doch schien er ihn aus hgendeinem

Grunde zu fürchten. Seine Bekannten und Freunde, besonders jene in Frankreich,

die Thomas nicht kannten, mußten den abwesenden Vater für ein selbstgefülliges

und knauseriges Scheusal halten, das den Sohn nur finanziell untersttitzte, wenn

dieser brav nach seiner Pfeife tanzte. Und selbst die Freunde, die regelmtißig in

der Heriot Row zu Gast waren und Thomas'Großzügigkeit kennengelernt hatten,

glaubten vorbehaltlos Louis'Befürchtung, der Vater würde die Verbindung mit

der dlteren Fanny unter keinen Umständen dulden.

Doch wie ,,schrecklich" konnte wohl ein Vater sein, der dem ungeratenen Spröß-

ling nach fastvier Jahren fruchtlosen Ingenieursstudiums verzieh, daß der Junge

alles hinwerfen wollte! Was für ein Monstrum verbarg sich hintet einem Mann,

der dem schwarzen Schaf dann eigens einen Abschiedsvortrag schrieb, mit dem

Sohnemann vor der Königlich-Schottischen Gesellschaft der Känste trotz fehlen-

den Examens noch einmal gehörigen Eindruck schinden konnte! Louis glänzte bei

seinem Auftritt so außerordentlich, daß man ihm gleich eine Silbermedaille ver-

lieh . .. Daß Louis sich mit den Ergüssen aus einer fremden Feder schmückte, weil

er zumindest vor,,den Leuten" nicht als völliger Versager dastehen wollte, ahnte

man nur, wenn man Thomas' Spezialgebiet kannte. ,,Louis" hatte einen Essay über

eine neuartige Weiterentwicklung des kreisenden Blinkfeuers geschrieben! Trotz

seiner auf diese Weise für jedermann erkennbaren Begabung zog der vielverspre-

chendejunge Ingenieur es dann vor, die Jurisprudenz zu,,erlernen" - um dann

keinen einzigen Fall behandeln zu müssen. Ein gnädiger Gott bewahrte ihn von

Anfang an vor Klienten. Louis besaß eine wunderschöne Anwaltsrobe und, was

noch besser war, er hatte seine Ruhe.

All das warf ihm Thomas niemals ernstlich vor. Der gute Mann konnte manch-

mal sehr streng sein, doch er wur um Louis' Gesundheit stets besorgt wie eine

Glucke um ihr Küken. Hatte zwischen den beiden eine Auseinandersetzung statt-

gefunden und wurde Louis zuf?illig zvtei Monate später krank, gab sich der un-

tröstliche Thomas gleich selbst die Schuld daran - hatte er doch die Nerven des

Sohnes übersfrapaziert und der Krankheit Vorschub geleistet, dem Siechtum Tür

und Tor geöffnet! Er akzeptierte auch - wie übrigens jedermann - bereitwillig den

im Grunde recht merkwürdigen Umstand, daIJ Louis' körperliche Konstitution ei-

nerseits viel zu zart für jene Reisen war, die das Leuchtturmbauertum mit sich

brachte, andererseits hervorragend geeignet für alle Gewaltmärsche und Expedi-

tionen in die rauhe Wildnis, welche Louis freiwillig unternatrm ...

2t8

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Erst während der Lektüre der Schriften, die das Fundament der von Louis ge-

planten Familienchronik bilden sollten, verstand Fanny. Louis hatte seinen Vater

nicht wirklich gefürchtet und wußte insgeheim, daß dazu auch nie der geringste

Anlaß bestanden hatte. Louis schämte sich im tiefsten Innem, die Tradition des

Leuchtturmbaus und damit zugleich die Großtaten aller Stevensons verraten zu

haben. Er fühlte sich wie ein Fahnenflüchtiger, dem der Klan die Desertion nach-

rah, da er nun einmal anders war als die übrigen Stevensons. Aber im femen Sa-

moawollte Louis plötzlich nicht mehr,,anders" sein!

Als Louis vor rund anderthalb Jahren seinen Roman David Balfuur beendet

und seinem Werk eine Widmung an Savile-Freund Baxter vorangesetzt hatte, traute

Fanny zwar ihren Augen, jedoch keineswegs den Worten, die Louis darin benutzt

hatte. Er brachte zum Ausdruck, wie er Baxter darum beneide, nach wie vor die

Stadt ihrer gemeinsan verbrachten Jugend durchstreifen zu können. So weit, so

gut oder zumindest glaubhaft. Der Roman zeichnete sich schließlich durch seinen

betont schottischen Inhalt aus;natürlichbeneidete LouisBaxtn glühen4 und dies

war eine der seltenen Gelegenheiten, seiner wahren Sehnsucht Worte zu verleihen

- Louis hätte sich nämlich normalerweise eher die Zunge abgebissen, bevor er vor

anderen Menschen zugegeben hätte, daß er im Kreise seiner geliebten Samoaner

nicht immerzu überschwenglich, ja unverschämt glücklich war. ,,Ich sehe wie in

einer Vision die Jugend meines Vaters, seines Vaters, den ganzen langen Strom

von Menschenleben, der dort im fernen Norden fließt, der Gelächter und Tränen

mit sich führtund derwie nach einerplötzlichen Sturzflut schließlich mich an die

Gestade dieser entfemtesten aller Inseln geworfen hat." Oh, auch das glaubte Fanny

ihrem Louis noch, denn da jedermann dachte, Louis sei durch besagten Strom

geradewegs ins Paradies katapultiert worden, blieb der Inhalt doppeldeutig genug,

um ihn nicht zu kompromittieren. Louis war vom schottischen, vom Steversonschen

Lebensstrom auf ewig abgeschnitten und versptirte nun die berechtigte Angst, im

Boden dieser fremden Insel einsam zu versickern.

,,Und ich bewundere den romantischen Zauber des Schicksals und beuge mein

Haupt." Das war eine glatte Lüge. Vielleicht glaubte Louis das, um seinen Kum-

mer Hinstlerisch verbrämen zu können, doch Fanny wußte, daß er in diesem Fall

sein Haupt allenfalls beugte, um dem Schlag des Schicksals auszuweichen. Er

hatte in seinem Leben schon manche Widrigkeit standhaft ertragen, das hielt Fanny

ihm zugute - doch die ewige Verbannung einfach hinzunehmen und obendrein die

unbarmherzige Vorsehung oder eine grausame höhere Macht dafür zu preisen, fiel

ihm gar nicht ein. Louis fand sich in der Regel atemberaubend schnell mit Mißge-

schicken ab, die er für unab2inderlich hielt. Der Aufenthalt auf der Insel gehörte

zwar grundsätzlich in diese Kategorie, aber nur auf den allerersten Blick, wenn es

nach Louis ging. Sollte es einem Stevenson etwa nicht möglich sein, einen Aus-

2t9

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weg aus dem Dilemma zu finden, sich geschickt zu ducken und so den Hals aus

der Schlinge zu ziehen, die das ,,romantische Schicksal" wie ein Lasso über seinen

Kopf geworfen hatte? Ein Stevenson verkörperte in der wirklichen Welt all das,

was ein Crusoe in der Phantasie darstellte, und hatte sein Großvater Robert, hatte

etwa Robinson Crusoe bis zu seinem Tode auf einer vermaledeiten Insel ausharen

müssen? All seine Vorfahren hatten Wunder vollbracht, indem sie sich die einzig-

artige Stevensonsche Kombination von Phantasie und Tatkraft ntrrutze machten,

von hehrer Vision und schlauer Berechnung. Zuletzt wtirde der schöpferische Ver-

stand den Sieg über die scheinbare Unvermeidlichkeit der Lage davontragen!

Fanny beobachtete Louis, der sie noch immer nicht bemerkt hatte, und sah ver-

wundert, wie er ein größeres Stück Schreibpapier zusammenzufalten begann. Er

ging methodisch dabei vor, mit flinken Fingern, und bald war aus dem Briefbogen

ein Gegenstand geworden, den Fanriy aus ihrer Position allerdings nicht garz deut-

lich wahrnehmen konnte. Was hatte er mit dem Papiergebilde vor?Louis machte

eine ganze Reihe gemessener Schritte nach links, gegen den Flußlaul und ent-

fernte sich auf dieseArt eine behächtliche Strecke von dem Wasserfall. Dann ließ

er den Gegenstand zu Wasser. Fanny machte große Augen. Es war ein Papier-

schiffchen! Sobald Louis das zierliche Wasserfahrzeug vom Stapel gelassen hatte,

blickte er ihm aufmerksam nach und zählte - Fanny sah es an seinen Lippen-

bewegungen und an den zehn ausgestreckten Fingern, die er einen nach dem ande-

ren einknickte. Er benötigte die gesamte linke Hand sowie Daumen und Zeigefin-

ger der rechten, bevor das zartePapiergebilde vom Fluß über den Felsvorsprung

mitgerissen wurde. Sieben Sekunden hatte der ganze Vorgang also gedauert. Lou-

is holte seinNotizbüchlein aus derHosentascheundkritzeltemitbefriedigterMiene

seine Erkenntnisse nieder.

In füiheren Zeiten hätte sich Fanny sicher über die drollige Operation amüsiert.

Es würde den Uneingeweihten zweifellos seltsam anmuten, wie dieser ausgewach-

sene Mann seine Berechnungen anstellte. Daß er jedoch ausgerechnet ein Papier-

schiffchen benutzt hatte ... Fanny mußte an einen Tag zurückdenken, als Louis

gerade miffen in der Aufzeichnung der Familienchronik steckte. Er wirkte über-

nervös und verschlossen und bereit, jeden Augenblick zu explodieren. Als Fanny

so unaufdringlich wie möglich seine Lasterhöhle im Erdgeschoß betrat, zerknüllte

Louis wütend ein halbes Dutzend beschriebener Seiten, schleuderte sie in eine

Ecke des winzigen Gelasses und tobte: ,,Meine Vorfahren waren allesamt richtige

Männer, und was tue ich? Ich sitze hier warm und trocken und sicher und, Herr-

gott noch mal , ich spiele mit Papierl Ist das nicht reinweg zum Totlachen?" Fanny

schwieg dazu und ließ ihren Mann weiterreden, bis sich der ärgste Knoten in sei-

ner Brust löste. ,,Wenn ich es recht bedenke", fuhr er fort, ,,kann ich ebensogut

versuchen, mir Schiffchen zu basteln - aus dem einzigen Material, mit dem ich

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wlrklich umzugehen verstehe! Wer weiß, vielleicht schaffe ich es auf die Art, jene

Strecken zurückzulegen, die ich sonst niemals bewältigen würde!" Fanny begriff

natfulich, daß Louis die Fatrt nach Schottland im Sinn hatte, wenn er von,jenen

Strecken" redete; er wollte es bloß nicht unumwunden aussprechen. Nun, er be-

gntigte sich mittlerweile offenkundig nicht mehr damit, Papier zum ,,Spielen" zu

vcrwenden, wie er seine schriffstellerische Tätigkeit verächtlich genannt hatte.

Schiffchen waren es zwar noch immer, doch jetzt dienten sie der Mathematik, der

Physik, waren zu Vehikeln ernsthafter, ja ernstzunehmender wissenschaftlicher

Forschung herangereift! Fanny war eher zum Weinen denn zum Lachen zumute.

Sie dachte an das winzige Wasserfahrzeug, welches der Strömung des übermäch-

tigen Flusses und den Unbilden seines Schicksals exakt sieben Sekunden getrotzt

hatte, bevor die Kaskade es mit sich riß und es über den Rand des Felsvorsprungs

in sein Verderben hinabpurzelte. In früheren Jatrhunderten hatten Seeleute stets

die Befürchtung gehegt, an den äußersten Rand der Welt zu stoßen und über ihn

hinweg in die tödlichen Tiefen zu stärzen ... Allerdings wußte damals noch nie-

mand, daß es eine Unterseite der Welt gab und daß man dort leben kowfie. Doch

wöre ihnen die Exßtenz einer solchen anderen Seite auch nur vage bekannt gewe-

.ren, so begriffFanny blitzartig, hötten die Mafiosen sie sicher ,,Hölle" genennt ...

Fanny taumelte leicht und stolperte über das Wurzelwerk, das sie an diesem

Aussichtspunkt umgab wie überall im Urwald. Louis hörte endlich das Geräusch

ihrer Tritte und wandte sich zu ihr um. Er winkte ihr, näher an den Fluß heranzu-

kommen.

,,Ist das nicht wundervoll?" fragte er und breitete die Arme aus. Fanny hatte

keine Ahnung, was er wohl meinen mochte. ,,Früher, in meiner ungestümen und

gedankenlosen Jugend, habe ich mich nie ernsthaft mit den Naturwissenschaften

auseinandergesetzt, wie du weißt. Wenn man mich gefragt hätte, ob ich denn kei-

nen Funken Begabung für den Ingenieurberuf besäße, wäre meine Antwod wohl

nur ein gleichgültiges Achselzucken gewesen. Ich hätte das Vorhandensein eines

solchen Talents bei mirbezweifelt-und es hätte mich nicht im geringsten geküm-

mert, geschweige denn betrübt. Doch jetzt weiß ich, daß waschechtes Stevenson-

Blut in mir fließt!" Louis strahlte.

,,Was hätte wohl auch sonst in deinen Adem fließen sollen, Lieber?" fragte

Fanny mit ironischem Unterton.

Louis grinste schief. ,N4 was schon - Tinte natärlich!"

Fanny wurde augenblicklich ernst. Es gefiel ihr nicht, wie geringschätzig Louis

manchmal über seinen Beruf, seine Berufung redete. ,,Du warst dein ganzes Le-

ben lang ein Mann der Tat", entgegnete sie ihm. ,,Du bist weit gereist, hast zatrllo-

se Abenteuer bestanden und bist nie vor einer Gefahr zurückgeschreckt. Wie viele

Mäinner können das von sich behaupten? Dein Pech besteht darin, daß du einem

22r

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Klan von beinahe übermenschlichen Wesen entstammst. Auf deine Art bist auch

du ein Titan - ein schwachbrüstiger Riese, zugegeben, aber zweifelsohne der

Stevenson mit dem allerdicksten Kopf der Sippe!"

Louis lachte laut. Er war ohnehin bester Laune, und Fannys Worte steigerten

noch seine Heiterkeit. ,,Heute habe ich ihn ganz deutlich gespürt!" rief er aus, und

wäre er eine Frau gewesen, hätte wohl jedermann gleich gedacht, dem schwange-

ren Louis habe das ungeborene Kind in seinem Leib soeben die ersten Fußtritte

versetzt. ,,Wen oder was hast du gespürt?" erkundigte sich Fanny vorsichtig bei

ihrem Gatten.

,,Na, den transzendentalen Koeffizienten, mein Schatz!"

Fanny mußte hart mit sich ringen, um sich das Lachen zu verbeißen. Diesen

von Louis geprägtenAusdruck kannte sie bereits, sonst hätte wohl ihre Besorgnis

die Oberhand gewonnen.

,,Soso. Ich dachte schon, es sei etwas Schlimmes. Ich werde,tlich zu Hause

sofort ins Bett packen und Ratatui Bescheid geben. Der Gute wird'dir eine kräftige

Hühnerbrühe zubereiten, du schläfst ein bißchen, und du sollst sehen: Danach bist

du deinen Koeffrzienten im Handumdrehen wieder los."

,,Oh, Fanny, du bist eine gat:'z und gar unmögliche Person", stöhnte Louis laut

auf und lachte dann abermals glücklich.

,,Hat es dich heute arg gebissen, das transzendentale kleine Luder?" Louis wtir-

de ihr nun sicher einen Vortrag halten, aber das schien ihr nach all den Tagen, an

denen sie ihn kaum zu Gesicht bekommen hatte, ein geradezu verlockender Ge-

danke.

,,,{llerdings", gab Louis stolz zur Antwort. ,,Die Kunst des Ingenieurwesens,

die so lange in mir brachlag, beginnt jetzt endlich zu keimen und zu sprießen -und wird hoffentlich bald die ersehnten Früchte bringen. Es ist auch höchste Zeit.

Für die Pläne, die ich in naher Zukunft ausführen möchte, bedarfes eines echten

Künstlers, nicht eines blutigur Dilettanten."

,,Und ich Dummchen dachte immer, ich hätte einen Ktinstler geheiratef',ver-

setzte Fanny spitz. Was sollte dieses Gerede?

Louis ging nicht auf ihren Einwand ein. Er wanderte Fluß Nummer eins ent-

lang, stromauf und stromab, und holte zu einer weitschweifigen Erklärung aus.

Fanny fügte sich in ihr Los.

,,Dir ist bekannt, daß ich früher wie die meisten Ignoranten die Ingenieurskunst

für eine strenge, absolut exakte Wissenschaft hielt, die auf Daten, Fakten, Maßen,

Zallen und Gewichten beruht und damit in Hülle und Fülle aufivartet. All diese

scheinbar unbeugsamen Fakten langweilten mich, ödeten mich unsagbar an. Ich

hatte noch nicht erkannt, daß ein guter Ingenieur nur im Notfall zu ihnen Zuflucht

nehmen muß."

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Fanny, die mit dem Großen Reisetagebuch vertraut war, Louis'zweiter Bibel,

rchwieg still und wartete.

,,Erst als ich mich ohne das Vorurteil der Jugend in die Arbeit meiner Väter

vertiefte, begann ich zrr verstehen."

,,Und was genau begriff der weise, uralte Louis jählings, nachdem er die Tor-

heit der Jugend endlich abgestreift hatte?' stichelte Fanny belustigt. ,,Als du ein

Kind warst, redetest du wie ein Kind, o großer Louis", fuhr sie fort, gat:.z gegen

ihre Gewohnheit von der Lust ergriffen, die Bibel so frei zu zitieren, wie Louis es

gewöhnlich tat. ,,Aber nun, da ein großer Junge aus dir ward, sprichst du erst

wahrhafi kindßch."

Louis schüttelte stumm den Kopf, doch er war alles andere als verärgert. Auch

cr unterdrückte gewaltsam einen Heiterkeitsausbruch. Nichts schien seine gute

Laune heute trüben zu können, was Fanny im übrigen keineswegs beabsichtigte;

von Zeit nt Zeit erwies es sich allerdings als wichtig, Louis an seinen langen

Beinen auf den Erdboden zurückzuziehen.

,,Du kannst ein rechtes Ekel sein, Fanny, und das Schlimmste daran ist, daß du

mir andauernd die Wahrheit ins Gesicht schleuderst. Von einer liebenden Gattin

sollte man erwarten dürfen, daß sie ihren Herrn und Meister überzeugend zu belü-

gen versteht. Als ich dir vor langa Zeit diese Ode verehrte, ,Meine Gernahlin',

muß ich's schon geahnt haben. ,Treu wie Statrl' und ,gerade wie eine Klinge' hat

der Große Erfrnder meine Gefährtin erschaffen. Wie wahr, wie allzu wahr!"

,Nun, Gott ist eben auch ein recht guter Ingenieur, mein Schatz." Fanny verzog

keine Miene. ,,Vielleicht nicht so genial wie ein Stevenson, aber immerhin. Doch

nun erzähl mir von deinem brennenden Dornbusch oder deiner qualmenden

Bananenstaude und von dem, was sie dir offenbart haben. Um so schneller hab'

ich's hinter mir." Insgeheim war Fanny über die Frivolität der Worte schockiert,

die da aus ihrem Munde kamen.

,,Eigentlich habe ich es wohl mein Leben lang geahnt, daß meine Vorfahren die

größten, wahrhaftigsten Künstler waren, die man sich überhaupt vorstellen kann",

begann Louis. ,,Die technische Seite ihres Berufes hat mich jedoch stets darüber

hinweggetäuscht, daß sie derart vollendete Poeten darstellten. Ich meine damit

nicht ihre schriftstellerischen Leistungen - Großvater Robert besaß zwar eine

Menge Talent, pflegte sich aber in unwichtigen Kleinigkeiten zu verzetteln. Of-

fengestanden habe ich bei der Lekttire seines Buches an vielen Stellen im dunkeln

getappt oder gegtihnt, oder beides."

,,Was war dann das Entscheidende?" fragle Fanny.

,,Meine ach so technisch bewanderten, naturwissenschaftlich belasteten Alt-

vorderen haben ganz nebenbei - ohne es auch nur zu ahnen - die erlesenste aller

möglichen Künste ausgeübt. Es ist kaum zu glauben! Sie schaften das, was nur

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Page 221: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Auserwählte zustande bringen, Leonardo da Vinci vielleicht und eine Handvollandere. Sie brachten Dichtung und Wirklichkeit in perfekten Einklang miteinan-

der, machten ihre verrücktesten Ideen wahr, schufen einzigartige Schönheit, die

zu allem Überfluß unschätzbaren Nutzwert für die Menschheit in sich trägt!"Fanny verstand Louis' Begeisterung und teilte sie vorbehaltlos. Nicht der Beruf

des Ingenieurs im allgemeinen war es, der Louis faszinierte, weit gefehlt. Alleinjener Tätigkeitsbereich, der den Stevensons als Privileg und heißgeliebte Bürde

vorbehalten geblieben war, versetzte ihn nahezu in Ekstase. Eirzig das priester-

gleicheAmt, Leuchttürme zu errichten, und zwar Leuchfürme inSchottland,vereinigte die Merkmale in sich, die Louis soeben angesprochen hatte. Fanny hatte

mit eigenen Augen den König aller Ttirme erblickt, das Wunder von Bell Rock,

und fand sich überwältigt angesichts seiner grandiosen Schönheit. Der Turm warnichts Geringeres als steingewordene Poesie, eine,,unmögliche" Vision, die sich

allen menschlichen Erfahrungen zum Trotz in greifbare Materie verwandelt hatte.

Daß die Stevenson-Ingenieure die Herzen von Dichtern besaßen, wußte Fanny

seit der Begegnung mit Thomas; kurios war der Umstand, daß weder Thomas

noch die anderen erkamten, was für Phantasten und Träumematuren in ihren har-

ten Schädeln steckten. Die Erklärung mochte darin zu finden sein, daß die Phanta-

sien und Träume nicht lange in ihnen dahindämmerten, sondern durch Arbeit zu

Eigenleben erweckt wurden. Diese Arbeit jedoch war stets derart schweißtreibend

und knochenbrecherisch, daß die braven, redlichen Leute überhaupt nicht darauf

kamen, sie könnten es mit,,Kunst" zu tun haben!

Nur Schottland vergönnte einem Leuchtturmbauer vom Kaliber eines Stevensons

die wahre Erfüllung, die seinen ungeheuren Fähigkeiten entsprach. Gebäude wiedie ihren waren überall auf der Erde schön anzusehen, wirkten an jedem Ort male-

risch und prächtig. Dazv, daß die hohen, schlanken, blendendweißen Bauten aufden einsamen Inseln oder an den steilen Küsten Schottlands noch erhabener aus-

sahen als anderswo, trugen die Stevensons nichts bei - zugegeben. Die zerklüfte-

ten grauen Felsen, welche den eindrucksvollen Hintergrund für ihre Werke bilde-ten, hatten sie nicht erschaffen. Daß die nattirliche Schönheit gleichzeitig mit Ge-

fahr verbunden war und höchste Anforderungen an den Stevensonschen Genius

stellte, kam den Männem allerdings sehr viel gelegener, als sie selbst sich das je

eingestanden hätten. Diese Draufg2inger liebten das Abenteuer und die Herausfor-

derung - denn weshalb sonst hätten sie ausgerechnet den Leuchtturm- und Hafen-

bau allen harmloseren Zweigen ihrer Profession vorziehen sollen? Im Grunde,

räsonierte Fanny weiter, waren sämtliche Stevensons verkappte Herumtreiber und

Bohemiens gewesen. Sie erkannten es selbst nicht, denn die ,,Entschuldigung"war so brillant, daß sie ihren Ruf der Wohlanständigkeit noch steigerte, statt ihn

anzutasten. Die guten Bürger errichteten Bauwerke für das Gemeinwohl, keine

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,,Kunst"; sie segelten nicht in der Weltgeschichte herum wie nichtsnutzige Vagabun-

don, sondem Eotzten lediglich den Widrigkeiten, welche die rauhe Natur ihrer ge-

llobten Heimat ilnen gottlob in den Weg stellte! Ihe abenteuerlichen Reisen unter-

nahmen Louis'Vorfahren unter dem wehenden Banner von Heimatverbundenheit

und Bodenständigkeit. Welche Symbole vermochten diese Eigenschaften wohl glor-

rcicher zu verkörpem als ausgerechnet Lzuchtturm und Hafen?

Eine Besonderheit, die Fanny schon an Louis' sagenhaftem Großvater zu s chätzen

Sclemt hatte, war dessen Flihigkeit gewesen, die Gewalt der Elemente möglichst in

roine Pläne mit einzubeziehen, ohne gegen sie zu kämpfen. Er erkannte die Oberho-

heit derNaturkräfte bedingugslos an, und obwohl er ab und anZufluchtza Spreng-

rtoffen nahm, zog er es bei weitern vor, sich mit der Wldnis zu verbünden, statt sich

reinen Weg gewaltsam ,,freizuschieß!n" und seinen Bau gewissermaßen auf den

Ruinen einsünals unberührter Landschaft zu errichten. Wirklich glücklich war er erst,

wenn sein Turm maj estätisch dastand, während in der Umgebung des Gebäudes nichts

verriet, daIJ überhaupt ein Mensch am Werk gewesen war. Sein Motiv, so vermutete

Fanny heimlich, war eine seltsame Mischung aus tiefer Ehrfurcht rmd fast blasphe-

mischer Arroganz: Robert wollte wie Gott Vollkommenheit erschaffen und, gleich-

falls wie Gott, keinerlei Spur seinerAnstengung auf Erden hinterlassen.

,,In den fiihigen Händen meiner Vorfahren gedieh der Ingenieurberuf zu einer

lebendigen Kunst", hörte Fanny wie von fern Louis' Stimme an ihr Ohr dringen.

Sie wußte nicht zu sagen, ob er die ganze Zeit über zu ihr gesprochen, sie ihm

nicht zugehört - oder ob ihre Gedankenkette sich möglicherweise innerhalb von

Sekundenbruchteilen abgespult hatte. Fanny tauchte sofort wieder auf, zurück an

die Oberfläche des Gesprächs.

,,Und wie bei jeder Kunst ist es nicht möglich, die Grundlagen zu erlernen,

wenn man nicht Talent und Gefühl dafür bereits in sich trägt. Gleich meinem Groß-

vater und Vater besitze auch ich die Fähigkeit, in einem wilden, im Urzustand

befindlichen Sttick Land das fertige Werk zu erspdhen und dementsprechend alle

nötigen Veränderungen vorauszuberechnen. Im Grunde ist es ähnlich wie bei der

Bildhauerei - in einem unbehauenen Stück Stein sieht der Künstler eine Gestalt

und bemüht sich, dieses Bild, das in seinem Kopf schon fertig vorhanden ist, aus

dem Stein herauszuhauen. Nun hat er es mit den Widrigkeiten des Materials auf-

zunehmen, mit Festigkeit, Härte, Bruchrichtung, mit Dutzenden von Faktoren.

Wenn er einen der Faktoren nicht angemessen berücksichtigt, zerstört er den Stein

... und mit ihm die Gestalt, die darin wohnt."

,,Du meinst die Gestalt, die in seinem Kopf wohnt", korrigierte Fanny ihn, ob-

wohl sie nicht dles verstanden hatte.

Louis stutzte und überlegte kurz. ,,Verwirr mich doch bitte nicht so", bat er

dann und fuhr fort: ,,Du hast recht: Das Bild in meinem Kopf wäre natürlich im-

Page 223: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

mer noch da, und ich würde es wahrscheinlich ein weiteres Mal versuchen. Aberdas ist nicht der Punkt. Es rührt sicher von der Blutsverwandtschaft her, daß ichnur wenige Dinge kenne, die aufregender sind als das Vorausahnen eines fertigenLeuchtturmes inmitten einer Wüste aus Moor, Heidekraut und leerer Luft."

,,Das hast du seinerzeit aber nicht so gesehen, als du mit deinem Vater un-terwegs warst", gab Fanny trocken zurück.

,,Nun ja ... ich muß es wohl verdrängt haben", druckste Louis herum. ,,Was ichsagen will, ist dies: Großvater Robert war ein großartiger Neugestaher der Natur.Wenn er eine Brücke schlug, wenn er eine Straße baute, wenn er einen Fluß umlei-tete und ein völlig neues Bett für ihn zu entwerfen hatte ..."

,,, , . was er aber nur im äußersten Notfall tat, wenn kein Weg an solchen Verän-derungen vorbeiführte", unterbrach Fanny.

,,Wie auch immer", fuhr Louis unbeirrt fort. ,,Jedenfalls pflegte er vor der ei-gentlichenAusführung dieser Projekte das Land und die See zu studibren, mit demNotizbuch in der Hand, wie es ein ordentlicher Ktinstler stets tut. Abör er berechnetedie Naturgewalten nicht auf der Grundlage vorgegebener Werte, sondern ließ dieLandschaft auf sich einwirken. Er war vollkommen eins mit dern Land - auf einermystischen Ebene, sonst hätte er seine Werke nie erschaffen können."

,,Der transzendentale Koefhzient", murmelte Fanny.,,Eben dieser. Die MalJe und Daten, welche die Universität dern Ingenieur mit auf

den Weg gibt, entbehren selbstverständlich nicht aller Bedeutung. Sie sind allerdingsauch nichts weiter als grobe mathematische Hilfsmittel, eine zwar solide, doch unzu-längliche Grundlage für die Höhenflüge echten Schöpfergeistes. Die Kräfte derNa-tur sind unberechenbar im wahrsten Sirure des Wortes, ihre Auswirkungen auf diePläne des Ingenieurs mannigfaltig und geheimnisvoll. Der Ingenieur muß das Unvor-hersehbare vorhersehen können. Noch ist sein Werk nicht im Bau befindlich, undschon hat er Spekulationen anzustellen, wie Regen, Wind und Wellen die Konstruk-tion zu beeinflussen vermögen. Er muß sich vorAugen halten können, wie das fertigeGebäude den Gezeitenstrom bricht, Wellen vergrößert, Regenwasser eindämmt oderBlitze anzieht. All das gilt es noch vor Baubeginn zu enträtseln. Den Spärsinn für dieGeheimnisse der Natur aber kann man nicht erlemen. Er ist angeboren. Keine Akade-mie der Welt vermittelt das nötige Wissen. Dagegen ist es Ingenieuren mit der Ftihig-keit, sich auf dem Schachbrett lebendiger Naturkräfte zu behaupten, durchaus mög-lich, die Barrieren vonZeit und Raum zu durchbrechen."

Dann hättest du wohl besser rechtzeitig versuchen sollen, Bergbauingenieur zuwerden, dachte Fanny bei sich, als sie sich vorstellte, auf welche Weise Louis dennZeit und Raum durchbrechen wollle. Als Minenfachmann und geborener Stevensonwäre es dir sicher gelungen, dir einen Fluchttunnel durch den Erdkern zu grabenund in Edinbutgh wieder herauszukommen.

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,,Du hast doch nicht etwa vor, hier im Mittelpunkt von Vailima einen Leucht-

turm zu errichten", scherzte Fanny. ,,Unser Haus ist schon jetzt das einzige, das

noch aus enonner Entfemung von vorbeifalrenden Schiffen aus zu sehen ist, wie

du weißt, Unser leuchtendrotes Dach füllt allen Seeleuten insAuge, undder Union

Jack, denduimmer am großen Flaggenmast auf dem Rasen hißt, zeigt jedem noch

ro dummen MaEosen, daß er sich in der Nähe von Upolu befindet."

Louis grinste sein Wolfsgrinsen. ,,Du hast wieder einmal vollkommen recht,

Mrs. Louis Stevenson. Ein Leuchtturm wäre wohl für unser schönes Eiland eine

höchst überflüssige Einrichtung. Im übrigen erinnere ich mich dunkel, dir an ge-

eigneter Stelle einmal anvertraut zu haben, daß ich als Mann von Welt meinen

privaten Leuchtturm stets mit mir zu führen pflege. Das Privileg habe ich gottlob

meinen Vorfahren voraus. "Fanny begann, schweigend am Rande des Flusses entlangzuwandern. Warum

nur hatte Louis damit begonnen, physikalische, nein: metaphysische Spielchen zu

npielen? Wollte er lediglich prüfen, ob auch er tatsächlich die geheimnisvolle, über-

irdische Gabe der Stevensons besaß? Um ein Sttick Land zu roden, sogar ein so

unebenes und von Hindernissen durchzogenes wie Vailima" brauchte man doch

keinen sechsten Sinn!

,,Wieso hast du dein Schiffchen fahren lassen?" fragte sie.

Louis grinste noch breiter. ,,Ich beabsichtige, diesen Fluß umzuleiten - den

Lauf unserer vier Ströme zu korrigieren."

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Page 225: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

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Me,ruLu, psn TonwÄcgtrn, und sein bester Freund Sao waren die ersten aus dor

Dienerschaft, die die langsam herannahende Prozession erspähten. Aufgeregt eil-ten sie zum Haupthaus.

,,Häuptling Misifolo kommt hierher zu uns mit vielen Kriegern!" verkündete

Mafulu, während Sao, den er abwechselnd seinen Vater, Onkel oder Sohn nannte

und der tatsächlich aus einem ganz anderen Dorf stammte, bekräftigend zu Mafulus

Worten nickte. ,,Viele Krieger!" wiederholte Sao zur Sicherheit.

Fanny befand sich im Haus, als die Nachricht eintraf, und tat nun neugierig aufdie Türschwelle hinaus. Häuptling Misifolo, der wZihrend des Gashnahls an Lou-

is' letztem Geburtstag den unglücklichen Übersetzer hatte spielen müssen, kam

selten zu Besuch, und falls doch, dann niemals ohne Vorankündigung. Wenn er

Tusitala eine Höflichkeitsvisite abstattete, hatte er von seinem Dqrfchen Nuutua

bis nach Vailima einen recht beschwerlichen Weg zurückzulegeh: Das Dorf lag

auf der gleichnamigen Insel im Südosten, und Misifolo ließ sich zuörst in seinem

Prunkboot an die Küste von Upolu rudern, um sodann mit der Dorf-Tapo und

seinen Mannen zu Fuß hinauf nach Vailima zu marschieren. Ihre Pferde hatten die

Reisenden zu ihrem Leidwesen daheim auf Nuutua zurücklassen müssen.

Heute aberkamen Msifolound sein Gefolge ohne vorherige Benachrichtigung,

was Fanny sehr wunderte. Doch fast noch erstaunlicher schien ihr die Tatsache,

daß ausgerechnet an diesem Nachmittag Louis und Lloyd sich fortw?ihrend in un-

mittelbarer Nähe des Hauses aufhielten, statt ihren üblichen Zeitvertreiben nach-

zugehen. Den ganzen Tag über hatten sie auf der Veranda herumgelungert oder

waren, tiefin Gespräche versunken, über den Rasen geschlendert. Ihre zur Schau

getragene Lässigkeit täuschte Fanny nicht. Sie wälzten ein schwieriges Problem,

und Lloyd schaute alle paar Augenblicke gehetzt um sich, als fühle er sich von

einem wilden Tier verfolgt. Lloyd wirkte nicht nur besorgt, sondern ausgespro-

chen ängstlich.

Wen oder was envartete Lloyd, und Louis mit ihm? Waren es etwa Häuptling

Misifolo und sein Gefolge? Fanny kannte aluf garu' Samoa keinen freundlicheren

und zuvorkommenderen Mann als Misifolo - vor ihm Angst zu haben, schien

schlechterdings unmöglich. Lloyd teilte Fannys Einschätzung der Lage offenbar

nicht im geringsten; als Mafulu die unverzügliche Ankunft des Häuptlings ange-

kündigt hafte, war der junge Mann in blinder Panik ins Haus geeilt, seinem be-

stärzten Blick nach zu urteilen jedeneit bereit, sich drinnen zu verbarrikadieren

und sowohl Haut als auch Kopf so teuer wie möglich zu verkaufen.

Fanny wollte ihm nacheilen, um ihn unnachgiebig zu verhören, doch dann hielt

ein einziger Satz aus Louis' Munde sie wie gebannt auf der Türschwelle fest.

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,,Mafulu", fragte Louis seinen Torhüter ruhig und betont gleichgültig, ,,hast du

erkennen kömen, ob Misifolos Krieger schwarze Gesichter haben?" Fanny stock-

te der Atem. Auch Mafulu war großes Erstaunen anzumerken. Während der ver-

gangenen Tage hatte Louis ihn recht schroffbehandelt, beinahe barsch, weil Mafuluin seiner Funktion als Nachrichtenübermittler so kläglich versagt hatte - ebenso

wie Louis' Sonderbotschafterin Soenga. Keiner von beiden hatte bei König Mataafas

Leuten etwas ausrichten können. Die Häuptlinge stellten sich dumm, zeigten sich

höflich ,,, und blieben verstockt. Und nun fragte Tusitala seinen Diener zu allem

Überfluß nach Männern mit geschwärzten Gesichtem! Was war davon zu halten?

Das Auftragen schwarzer Farbe bedeutete nicht exakt dasselbe wie indianische

Kriegsbemalung, doch ein Samoaner, der sein Antlitz auf diese Art verzierte, tat

damitjedem kund, daß er größte Lust verspürte, dem Nächstbesten den KopfvomRumpf zu schlagen, der ihn zureizen wagte. Nun wußte Mafulu einerseits, daß

der mächtige Tusitala angesichts solcher Lappalien keineAngst zu verspüren pfleg-

te. Andererseits glaubte der arme Kerl sicher, durch seine schlechte Diplomatie

und fehlgeleitete Redekunst zum Auslöser für Zwistigkeiten geworden zu sein -und Mafulu, weit weniger tapfer als sein Herr, hätte seinen Kopf nur äußerst un-

gern eingebüßt. Schlotternd stand er vor Tusitala und machte riesige, kugelrunde

Augen, bis sein Freund Sao, der Mafulus Qualen nicht zu bemerken schien, fröh-

lich an seiner Statt antwortete: ,,Keine schwarzen Gesichter, Tusitala."

Mafulu atmete hörbar auf und tat sofort, als beträfe dieAngelegenheit ihn nicht

weiter. Fanny, die von der Türschwelle aus jedes Wort urrd jede Regung mitbe-

kommen hatte, fragte sich nun erst recht, was Louis' Bemerkung bedeuten sollte.

Wie konnte Louis es für erwägenswert halten, daß ausgerechnet Misifolos Man-

ttcn ihm und seinem Klan etwas antun wollten?

Doch bevor sie Gelegenheit bekam, den einen oder anderen der Verschwörer in

ihrer Familie zur Rede zu stellen, sah sie bereits Häuptling Misifolo mitsamt Ge-

lirlge über den Rasen auf das Haus zustapfen. Der Aufmarsch der Männer von

Nuutua wirkte keineswegs bedrohlich, wie sie schnell feststellte. Feierlich, ja ge-

tnächlich bewegten sich die Krieger im Gänsemarsch aufTusitala und seinen Stamm

zu, Bald konnte man mit bloßem Auge erkennen, daß sie Geschenke mit sich tru-

gcn, wahre Berge von Mitbringseln aller An. Großzügigkeit war stets MisifolosItorausragendste Eigenschaft gewesen. Er bekundete sie auch jetzt - wie nur hatte

Louis auf den verrückten Gedanken verfallen können, dieserHäuptling wolle ihm

ctwas zuleide tun? Und Lloyds panischer Schrecken war noch unbegreiflicher ...

Es dauerte seine Zeit, bis Häuptling Misifolo oben am Haus angelangt war,

rlenn er gehörte nicht mehr zu den Jüngsten. Gemessenen Schrittes ging er seiner'l'ruppe voran und bemühte sich, seine Erschöpfung nach dem steilen Marsch zu

vcrbergen. Fanny fiel auf, daß die lange Schlange nicht wie sonst üblich von der

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Dorf-Tapo angeftihrt wurde. Bei Tusitalas Geburtstagsfeier hatte die schöne

Misiluenga, Zierde ihres Dorfes und ihres Vaters geliebter Augapfel, zwar eben-

falls gefehlt, doch waren an jenem Abend überhaupt keine Tapos zugegen gewe-

sen. Lediglich die Gattinnen der Häuptlinge hatten sich das Recht auf Ehrerbie-

tung und Schweinsbraten nicht nehmen lassen. Zu anderen Gelegenheiten aber

verzichtete Misifolo niemals auf die Anwesenheit seiner Tochter, und der Vater-

stolz stand ihm ins strahlende Gesicht geschrieben, wenn er das hochgewachsene,

zartgliedige Mädchen betrachtete. Misiluenga maß fast sechs Fuß, was eine enor-

me Größe für weiße Frauen darstellte, doch auf Samoa nicht ganz und gar unge-

wöhnlich war. Ihr Körper, schlank und biegsam wie frischer junger Bambus, glich

durch das Ebenmaß der Proportionen die fehlenden Fettschichten aus, welche bei

samoanischen Betrachtern eigentlich al-s eine wesentliche Vorbedingung für voll-

endete Schönheit galten. Seit ihrer frühesten Kindheit hatte Misiluenga sämtli-

che Pflichten einer Tapo erfüllt und schon als halber Säugling ilU Dorf in die

Schlacht geführt; daß sie zu einer ansehnlichen Jungfrau erblüht war, erhöhte

noch den Wert, den sie fiir das Dorf und den Häuptling besaß. Wo aber war die

Tapo heute?

Plötzlich erstarrte Fanny. Dort hinten ging ja Misiluenga, ganz an Ende der

langen Reihe von Kriegern! Eine Tapo schritt doch stets majestätisch vorneweg.

Warum schlich das Mädchen nun hinterdrein, mit gesenktem Kopf, hängenden

Schultem, ohne Blütenschmuck - schlicht gekleidet wie füiher nur Soenga? Et-

was Vergleichbares hatte Famy noch nie erlebt, und sie war gespannt, ob sie auf

sich allein gestellt des Rätsels Lösung hnden würde. Immer näher rückte die Pro-

zession, und Fanny, deren scharfer Blick die Gesichtszüge der Tapo deutlicher zu

erkennen vermochte, las nun dieselbe Trawigkeit in Misiluengas ZiJtgen, welche

auch aus der Haltung des Mädchens sprach. In dem Maße jedoch, wie derAbstand

zwischen ihr und dem Haus sich verringerte, erwachte neben der Niedergeschla-

genheit ein leiser Funken Hoffnung. Fanny sah es an der Art, wie ihre Augen,

züchtig unter halbgesenkten Lidern auf den Boden gerichtet, sich in regelmäßigen

Abständen weit öffneten und blitzschnell hin und her fuhren, als suchten sie nach

etwas ganz Bestimmtem, um sich dann ebenso unvermittelt wieder zu einem Spalt

zu schließen. Misiluenga bildete die Nachhut der Truppe, konnte also damit rech-

nen, bei ihren versteckten Nachforschungen zumindest von den eigenen Leuten

nicht ertappt zu werden. Wen oder was sie suchte, blieb ein Geheimnis. Niemand

aus der bunt aus allen Dörfern der Insel zusammengewürfelten Dienerschaft stamm-

te vom Eiland Nuutua. Jeder einflußreiche Samoaner empfand es als Ehre, seinen

Nachwuchs zum Zwecke des letzten Feinschliffs würdevollerErziehung zuTusitala

in die ,,Lehre" entsenden zu dürfen, doch im Augenblick lebte keiner von Häupt-

ling Misifolos Untertanen in Vailima.

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Einfach alles am heutigen Ablauf der zeremoniellen Begrüßung schien Fanny

flalsch, verzerrt ... und ebenso unbegreiflich wie unheilschwanger. Auf die Frage,

worauf ein Samoaner den größten Wert legte, hätte Fanny wie aus der Pistole

geschossen geantwortet: Etikette! Makellose Höflictrkeit! Ausgesuchteste Manie-

ren, sinnentleert und zu bloßen Floskeln erstarrt, doch unendlich wichtig in einer

Kultur, wo niemand arbeitete und ein Mann von Inselwelt den Tag mit Volksreden

vcrbrachte. Oh, Häuptling Misifolo hielt seinenAnteilar'derZeremonie in Ehren

- an seinerHöflichkeit gab es nicht das geringste auszusetzen. Aber Louis, der die

Bedeutung eines jeden Rituals kannte wie kein Weißer neben ihm, zu dem die

Häuptlinge Upolus und manchmal sogar Savaiis strömten, um seinen weisen Rat

in allen Lebenslagen zu erbitten - Louis benahm sich heute schlechterdings un-

möglich. Es waren bloß subtile Kleinigkeiten, durch die sich sein unartiges Beka-

gen ausdrückte; allerdings schien Fanny derAffront, welcher sich in ihnen wider-

spiegelte, dadurch nur noch größer. Louis war sich bewußt, daß nicht allein ein

samoanischer Häuptling, sondern sein gesamter Hofstaat zur Kenntnis nehmen

würde, wie stark er von den ungeschriebenen Regeln flir angemessene Umgangs-

tbrmen abwich. Dem Häuptling verbot seine eigene gute Erziehung jedwede

Erwiderung von Ungezogenheit; er mußte vor allerAugen lächelnd die Schmach

ertragen und durfte sich auch später nicht zu Vergeltungsmaßnahmen hinreißen

lassen. Ein höflicher Samoaner hatte diese Dinge geflissentlich zu übersehen.

Es begann damit, daß Louis gar nicht daran dachte, Misifolo entgegenzugehen,

um ihn auf halbem Wege zu begrüßen und zu einem Ehrenplatz zu geleiten. Wäh-

rend der Häuptling sich die schiefe Ebene des Rasenplatzes hinaufarbeitete, blieb

Fannys Göttergatte seelenruhig sitzen und wartete ab, bis die lange Reihe mit

Misifolo an der Spitze vor der Veranda haltmachte. Dann endlich bequemte er

sich, langsam aufzustehen und den Gast ehrerbietig willkommen zu heißen. Doch

Louis blieb weiterhin auf der Veranda; Misifolo mußte notgedrungen neben ihm

Platz nehmen. Seine Krieger hockten sich indes auf den Rasen nieder, einen Halb-

keis um die beiden bildend. Im nächsten Moment klatschte Louis in die Hände

und befahl dem herbeieilenden Ratatui, einen großen Topf mit Kava-Bier zu ho-

len, um die vielen Gäste zu bewirten. Von ihrem Platz an der Schwelle hörte Fanny

den Koch seinem Herrn betreten zuraunen: ,,Holen? Nur holen?" Was einen völlig

Fremden wie spontane gastfreundliche Bewirtung angemutet hätte, konnte nicht

einmal mehr einen Weißen täuschen, der länger als drei Tage auf Upolu verbracht

hatte. Das Nationalgetränk, welches Insulaner zu jeder Gelegenheit und den gan-

zenTag über zu sich zu nehmen pflegten, mußte - so verlangte es die Etikette -unbedingt vor den Augen des Gastes frisch zubereitet werden. Nur in seiner Ge-

genwart durften die Wurzeln zerrieben und zerstampft werden, nicht etwa hinter

dem Haus; der Gipfel schlechten Geschmacks bestand jedoch darin, dem Ankömm-

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ling Kava-Bier anzubieten, das schon geraume Zeit fertig war. Ratatuis Entsetzen

schien Fanny demnach verständlich und unter den gegebenen Umständen sogar

durchaus gerechtfertigt. Durch den Türspalt erhaschte Fanny einen Blick auf

Mafulu und seinen Freund Sao, die sich sichtlich unbehaglich fühlten, weil sie

die Lage mittlerweile überhaupt nicht mehr einzuschätzen vermochten. Sicher

dachte Mafulu im stillen, wie wundervoll es doch war, dalS Tusitala ihn für Misifolo

nicht als Dolmetscher benötigte; vielleicht würde es ihm im Endeffekt ja ver-

gönnt sein, seinen Kopf noch eine Weile auf den Schultern zu tragen, wo er hin-

gehörte.

Eine innere Stimme flüsterte Fanny zu, es sei besser, in ihrer strategischen Po-

sition zwischen Veranda und Hausinnerem zu verharren. Sie fiihlte keine Furcht,

aber sie wollte alles sehen, ohne gesehen zu werden, und gleichzeitig jedes Wort

mit anhören, welches draußen gesprochen wurde. Doch ausschlaggebend für ih-

ren Entschluß, bei der Zeremonie zu fehlen, war ihr instinktives Wissen, daß ir-gendwo im Hause Lloyd dasselbe tat wie Fanny: Just in diesem Moment stand er

an einem anderen offenen Fenster, zusammengekauert, und lauschte gebawrt. Und

wer weit3, schoß es Fanny urplötzlich durch den Sinn, ob Louis nicht genau aus

diesem Grunde den Gast aufdie Veranda gezwungen hat? Je mehr sie darüber

nachdachte, desto plausibler kam ihr diese Idee vor. Lloyd sollte aufdem laufen-

den bleiben, ohne von den Kriegem erspäht zu werden ...

Die Kava-Zeremonie wurde ungebührlich formlos abgehalten, wie nunmehr

nicht anders zu erwarten. Mit aufgesetzt fröhlichen Mienen nahmen Häuptling

und Krieger ihre Schalen entgegen, tauschten mit dem Hausherrn abwechselnd

ein recht lustloses ,,Ia manuia" und ,,Soi fua" aus und brachten den Verzehr des

alten Kava-Bieres so schnell wie möglich hinter sich. Gegen Ende des Rituals

winkte Misifolo seine Tochter zu sich heran, die bis dahin schweigend vor sich

hingestarrt hatte, nachdem sie den Gegenstand ihrer anfünglichen Suche offenbar

nirgends hatte entdecken können. Misiluenga kroch näher.

,,Sei gegrüßt, schöne Tapo", sagte Louis zu dem Mädchen und reichte ihr einen

Napf mit Kava. Misiluenga schüttelte wortlos den Kopf und wies das Gefiiß dan-

kend zurück. Louis entzog ihr den Napf, ohne zu fragen, ja ohne für den Bruchteil

einer Sekunde nr zögerr., fast als hätte er ihre Reaktion vorausgeahnt. Warum nur

erstaunt mich dqs nicht? fragte sich Fanny, während ihr Unbehagen stetig wuchs.

Ihre Nackenhaare sträubten sich, doch Fanny vermochte sich über diese Eigenwil-

ligkeit ihres Körpers keinerlei Rechenschaft abzulegen.

,,Misiluenga ist nicht mehr Tapo unseres Dorfes", erklärte nun Misifolo und

hatte, für alle Weißen hörbar, dabei größte Mühe, die rechte Wortrvahl zu treffen.

Seine Ausdrucksschwierigkeiten waren allerdings kaum auf fehlende Englisch-

kenntnisse zurückzuführen. Misifolo galt als gewandter Redner sowohl in seiner

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Muttersprache als auch der in Peretania üblichen Zwrye. Misifolos Sprachlosig-

koit beruhte auf Scham.

,,Was soll das bedeuten, nicht mehr eure Tapo?" hakte Louis nach, und Fanny

hörte, daß erUnwissenheit heuchelte. ,,Bist du denn inzwischen vermählt worden,

Schöne, ohne daß es mir zu Ohren kam? Welcher Häuptling ist dein glücklicher(Jemahl?" Louis wandte sich mit einschmeichelnder Z?irtlichkeit in der Stimme an

das Mädchen, das noch immer vor ihm hockte. Nie zuvor in ihrem ganzen Leben

hatte sich Fanny dermaßen stark an den großen bösen Wolf aus dern Märchen

orinnert gefühlt.

Widerstrebend antwortete Misifolo anstelle seiner Tochter. Seine Krieger ver-

rtanden nicht annähernd genug Englisch, um dem Gespräch folgen zu können,

nber Mafulu, Sao, Ratatui und ein halbes Dutzend anderer Bediensteter, die sich in

cler Zwischenzeit natre der Veranda eingefunden hatten, machten keinen Hehl aus

der Neugier, mit der sie den Worten des Häuptlings lauschten. Neugier galt auf

Samoa zwar nicht als Zier, aber andererseits auch nicht als Laster; sie stellte eine

liigenschaft dar, die ebenso ausgeprägt und übermächtig war wie die Dämonen-

tbrcht. Samoaner mußten ständig alles wissen oder zumindest glauben dürfen,

ulles zu wissen, und so spitzten sie ununterbrochen die Ohren. Tusitalas Torwäch-

tcr mitsamt Freundeskreis schloß sich bei dieser hochinteressanten Gelegenheit

selbstverstiindlich nicht freiwillig aus. Es brach Fanny beinahe das Herz, als sie

die flehentlichen Blicke sah, mit denen Misifolo seinen Gastgeber beschwor, sei-

ne wissensdurstige Dienerschaft fortzuschicken. Was immer der Häuptling zu sa-

gen hatte, bedurfte seiner Ansicht nach gewiß keiner Zeugen! Doch Louis, dem

die inbrünstige Bitte nicht entging, nicht entgehenkonnte, stellte sichverständnis-

los. Die Diener blieben.

,,Meine geliebte Tochter ist nicht länger Tapo unseres Dorfes, weil sie sich

mehrere Male ohne Aufsicht der Zwerginnen im Dschungel aufgehalten hat."

Misifolo schluckte und fuhr fort. ,,Die Buckligen versuchten, ihr zu folgen. Doch

meine Tochter ist groß, ihre Beine sind lang, sie mag nicht immer auf ihre Beglei-

tcrinnen warten. Sie ist zu leichtfüßig, zu unachtsam! Nur so konnte es geschehen,

tlaß mehrere Frauen aus Nuutua sie verleumdeten! Sie haben selbst Töchter, und

ihre Zungen sind so pelzig und giftig und schnell wie das Tier mit hundert Beinen.

Aber die Kleinen verloren Misiluenga aus den Augen und wußten nicht, wo sie

war. Ich mußte mich beugen."

Louis schien dies erst langsam erfassen und überdenken zu müssen. Etwa eine

Minute schwieg er. Im Hintergrund hörte man das nicht eben dezente Getuschel

Mafrrlus und seiner Genossen.

,,Es tut mir aus tiefstem Herzen weh, das zu hören, Misifolo", hob Louis nach

seiner Kunstpause wieder an. Seine Stimme klang vor,,Trauef' ganz belegt, so als

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Page 231: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

habe auch er heute einen giftigen Tausendfüßler im Mund statt einer Zwge.

,,Misiluenga war stets eine Zierde für ihr Dorf, hat ihre Pflichten treu und tapfer

erfüllt wie keine zweite Tapo außer ihr - wie nur konnte so etwas passieren? Es ist

verständlich, daß die Zwerge nicht mit ihr mitzuhalten vermochten ... Aber wenn

ich ganz ehrlich sein soll, Misifolo, war unsere wunderschöne Misiluenga nicht

nur leichtJüfiig, sondern ebenso leichts innig."

Auf diese Worte aus Tusitalas Munde hin ließ der arme Misifolo den Kopf

hängen und sah aus wie ein geprügelter Hund. Fannys Eingeweide verlrampften

sich schmerzhaft, als sie den sonst so stolzen, freundlichen Mann nun betrachtete.

Mu/|te Louis mit seiner unnützen Gardinenpredigt unbedingt zusätzliches Salz in

die Wunde reiben? AtchMisiluenga schaute tiefbetrübt zu Boden, aufrichtig zer-

knirscht, und wagte vor Scham den Blick gar nicht mehr zu heben.

,,Doch wenn ich deine Tochter ansehe, Misifolo", fuhr Louis mit weitaus fröh-

licherer Stimme fort, ,,weiß ich, daß ihre Unschuld für jedermann erpichtlich sein

muß. Was immer die bösen Frauen behaupten mögen, es entspricht nie und nim-

mer der Wahrheit - und dessen sind sich im Grunde alle Bewohner deines Dorfes

bewußt. Eine reine, unverdorbene Knospe wie deine Misiluenga gibt es auf genz

Upolu nicht ein zweites Mal. Ich persönlich würde mich für ihre Unversehrtheit

verbürgen!"

Misifolo zuckte unter der Wucht dieses vermeintlichen Trostes zusammen wie

unter einem Peitschenschlag. Seiner Misiluenga, der heimlich die ersten Tränen in

die Augen gestiegen waren, entfuhr ein kaum unterdräcktes Schluchzen. Zwei

große Tropfen, schwer wie tropischer Regen, fielen vor ihr auf den Boden. Dabei

stöhnte das Mädchen auf, als wolle es in einem der nächstenAugenblicke seinen

allerletzten Seufzer tun.

Was um Gottes willen hatte sich Louis bei seinem Ausspruch nur gedacht?

Dewrda/3 er etwas bezweckte, war Fanny klar; sie kannte Louis lange genug, um

zu wissen, daß er niemals gedankenlos daherplapperte. Wenn er Unsinn redete,

war der Unsinn wohl durchdacht - zumindest Louis'Ansicht nach. Niemals aber

ließ er achtlos Bemerkungen fallen, ohne sich darum zu klimmern, was für einen

Schaden seine Außerungen in den Seelen anderer Menschen anrichten mochten.

Louis war ein Mann vieler Worte, doch legte er ein jedes von ihnen auf die Gold-

waage. Und nun dieser hirnverbrannte Unsinn, er wolle sich notfalls als Garant für

Misiluengas Unberührtheit aufspielen! Erstens vermochte kein Mann diese Bürg-

schaft zu übernehmen; zweitens hätte ein solches ,,Urteil" vom samoanischen König

höchstpersönlich stammen können und trotzdem nicht das geringste ausgerichtet.

Hier war man auf Samoa, nicht in der Zivilisation und schon gar nicht beim Papst,

der nach eigenem Gutdünken Frauen für unversehrt erklären durfte, an deren Rock-

zipfel sich bereits ein halbes Dutzend Sprößlinge klammerte ...

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Page 232: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Es war Louis ebenso klar wie Fanny, daß das Kind bereits in den Brunnen

gefallen und Misiluengas Taposchaft unrettbar verloren war. Auch der schlechte-

ste Jurist verstand, daß das Mfichen keinAlibi für eine Zeit besaß, während derer

sie den Anschuldigungen neidischer Frauen gemäß ihr höchstes Gut eingebäßt

hatte. Die Zwerge hätten niemals von sich aus gegen ihren ungeb?irdigen Schütz-

ling Klage erhoben, wenn die Kleine ihnen entwischte, doch den Intrigen einer

dritten Partei traten sie nur entgegen, wena sie reinen Gewissens des Mädchens

Aufenthaltsort angeben ko wrten. Ob die Tapo während der Zeit ihrer Abwesenheit

tatsächlich mit einem männlichen Wesen zusammengewesen war, erwies sich in

diesem Zusammenhang als nebensächlich, wenn nicht gar als völlig irrelevant!

,,Wie hat sich denn die leidige Geschichte bisher für dich und deine Tochter

ausgewirkt, Misifolo?" fragte Louis nun den Gast. ,,Was haben die weisen Alten

deines Dorfes zu tun beschlossen - welches Los haben sie über Misiluenga ver-

hängt?"

Jetzt vermeinte Fanny letztendlich doch eine Spur echten Interesses in Louis'

Stimme waluzunehmen. Das Schicksal des Mädchens ließ ihn offenbar nicht un-

gerührt. Die weisen M?inner des Dorfes Nuutua standen zwar nicht unbedingt in

dem Ruf unverhältnismäßiger Grausamkeit, sondern galten wie ihr Häuptling als

gemäßigt und verständnisvoll. Was die Dorf-Tapo betraf, waren allerdings sogar

ihre H?inde gebunden. Strafe mußte sein! Auch die fräheren Verdienste der Tapo

zählten nicht zu ihren Gunsten, denn schließlich hatte sie ihre gesamte Jugendzeit

über die dementsprechenden Privilegien genossen.

,,Leider ist der Vater der neuen Tapo mein schlimmster Gegenspieler im Großen

Rat", stöhnte Misifolo leise und wähnte sich des Mitgefühls seines Gastgebers sicher.

,,Misiluengas Ruf ist ruiniert. Es ist zu spät sie anrHeiatzu zwingen."

,,Nun, zumindest befindet sich deine Tochter also nicht in Gefahr, und das ist

meines Erachtens das Wichtigste." Louis gab sich jovial und zuversichtlich. In der

Tat verriet sein Tonfall Fanny, daß gerade eine innere Last von ihm abfrel.

,,Das ist wohl wahr", gab Misifolo zu, ,,und ich bin glücklich, daß meiner ge-

liebten Misiluenga nichts geschehen wird. Doch mein Ansehen ist gesunken, im

Dorf und auf dem Festland, und meine besten Tage der Macht sind vorbei.

Misiluenga muß einen unbedeutenden Mann heiraten, keinen Häuptling, wie sie

es verdient hat. Es sei denn ..." Misifolo schwieg betreten.

Louis wartete, ohne den Gast zum Weitersprechen zu ermuntern. Fanny er-

schien die Geschichte von Minute zu Minute mysteriöser. Sie fühlte mit dem be-

dauernswerten Misifolo und amüsierte sich nicht wie sonst über seine drollige

Angewohnheit, die Insel Upolu,,das Festland" zu nennen. Der Häuptling lebte

nun einmal in anderen Dimensionen, räumlich wie zeitlich, und von seiner Warte

aus betrachtet zählte die Hauptinsel seiner Welt mehr als jeder fremde Kontinent,

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Page 233: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

den er nur vom Hörensagen kannte. Jetzt war sein privates Universum zu allem

Unglück angefüllt mit persönlichem Kummer, den niemand mit ihm teilte - außer

seiner Tochter. Es rührte Fanny, daß Misifolo dem Mädchen keinerlei Vorwürfe

machte und sie statt dessen vor Tusitala verteidigte. Das kam auch beim liebevoll-

sten Vater selten vor, wenn der Enanger durch die Unvorsichtigkeit der Tochter

derart in Bedrängnis geriet.

,,Großer Tusitala" , platzte Misifolo unvermittelt heraus, ,,ich bin in meiner ein-

flußreicheren Zeit oft. zu dir gekommen, um deinen weisen Ratschlag zu erbitten.

Sag, kannst du mir nicht den Mann nennen, der Misiluengas Ehre rettet, sie zur

Frau nimmt und ihren Ruhm dadurch noch hundertfach vermehrt?"

Obwohl der Häuptling keinen Namen envähnte, begriffFanny mit einem Mal,

von wern Misifolo sprach. Louis wußte es ebenfalls, hatte es die ganze Zeitibergewußt ... schon vor dieser peinlichen Unterhaltung. Während der vielen Stun-

den, die er am heutigen Tage im Zwiegespräch mit Lloyd zugebrachthatte, waren

die beiden insgeheim bemüht gewesen, einen Ausweg aus einer verzwickten Si-

tuation zu finden. Beide Schriftsteller, der Meister wie sein Lehrling, befanden

sich nicht selten in der mißlichen Lage, einen wundervollen Handlungsstrang für

die Figuren ihrer Gedankenspielerei erfunden zu haben, aus dessen unausweichli-

chen Verwicklungen sie sich aus eigener Kraft bald nicht mehr zu befreien ver-

mochten. In solchen Fällen stand der eine Romancier dern anderen bereitwillig

mit Rat und Tat zur Seite. Gewöhnlich ließen sich die Spinnwebfüden der Enäh-

lung durch die gemeinsame Anstrengung recht schnell entwirren. Heute aber war

es nicht um Intrigen in einer erfundenen Geschichte gegangen, ebensowenig um

erdachte Personen. Das Komplott, welches die beiden Dichter in vollendeter Har-

monie miteinander geschmiedet hatten, betraf das Leben atmender, denkender,

fühlender Menschen. Auf dem Schachbrett ihrer Phantasie hatten Louis und Lloyd

die strategisch nötigen Zige geplant, um sämtliche unliebsamen Geschöpfe aus

dem Weg der Handlung zu räumen. Daß die Störenfriede aus Fleisch und Blut

gemacht waren, schien sie nicht weiter zu berühren.

Und so nannte auch Louis in seiner Erwiderung jenen Namen nicht, der sowohl

ihm als dem Gast auf der Ztngelag.

,,Misifolo, du erwartest Unmögliches von mir. Wie kann ich, ein unbedeutender

weißer Mann, mich zur Brautwerbung um deine Misiluenga äußem? Eine solche

Einmischung kommt mir als außenstehendem Fremden nicht zu - es wdre die

reineAnmaßung."

Misifolo rang sichtlich mit sich, bevor er sich entschloß, entgegen aller gebote-

nen diplomatischen Raffrnesse zum Kern seines Anliegens vorzustoßen. Seine

Stimme sank zu einem fast unhörbaren Flüstem herab, was lediglich bewirkte,

daß Mafulu und seine Freunde die Hälse noch ein Stück weiter in seine Richtung

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rcckten und ihn mit offenen Mündern erwartungsvoll anstarrten. Ihnen Einhalt zu

gobieten, fiel Louis nicht ein.

,,Die Frauen, die meine Tochter verleumdeten", wisperte Misifolo stockend,

,,gingen in ihrer Bosheit noch weiter. Misiluenga ist einern Mann in den Urwald

gofolg, der sie von den Zwergen weglockte - so sagen die Frauen. Er war oft mit

lhr zusammen, mehr als dreimal. Die bösen Weiber erzählen, es war ein wei,ßer

Mann." Misifolo schwieg, wohl in der Hoffnung, genügend Andeutungen zum

bosten gegeben zu haben. Da kannte der arme Mann Louis schlecht. Tusitala zeig-

to eich gnadenlos.

,,Diese bösen Weiber werden wohl wieder einmal einen ihrer beliebten Dä-

monen erspäht haben, denke ich", erwiderte er geringschätzig. ,,Du weißt, daß

Dtrmonen jede Gestalt annehmen."

Misifolo, am Ende seinerWeisheit angelangt,ließ alle Umschweife fahren. ,Jede

Oestalt, ja - auch die Gestalt deines Sohnes? Hältst du das für möglich, Tusitala?"

Du hast es gewutJt, schrie eine Stimme in Fannys Kopf. Auch du hqst es die

ganze Zeit über gewuft und nichts unternommen Seit dem Tag, als sie den Wal-

zahn an Lloyds Hals bemerkt hatte - nein, seit der Nacht ihres merlorürdigen

Traumes ... doch selbst das stimmte nicht. Seit jenem Morgen vor mehreren Mo-

naten, ats sie durch Zufall Zeugin des Männergespräches zwischen Louis und Lloyd

gcworden war, hatte sie über die Wahrheit Bescheid gewußt und war nicht einge-

nchritten.

Aber das würde sich ändem. Fanny hoffte inbrünstig, daß es noch nicht zu spät

war für eine Lösung des Problems, die allen Beteiligten unnötiges Leid ersparen

konnte. Sie durfte nicht l?inger den Kopf in den Sand stecken; ihre Mitschuld war

bereits groß genug. Aber was konnte sie tun? Fanny hielt sich mit beiden Händen

den schmerzenden Kopf. In ihren Schläfen begann es wieder zu pochen, lauter

denn je zuvor. Obwohl ihr der Schädel zu zerspringen drohte, mußte sie sich mit

letzter Kraft zusammenreißen, galt es doch, unverzüglich das schlimmste Unheil

abzuwenden. Fanny stürmte die Treppe zum Obergeschoß hinauf, um Lloyd zur

Rede zu stellen.

Fanny fand ihn nach kurzer Suche in Maggies leerstehender Wohnung, deren

Türen und Fenster nach vorn aufdie Rasenfläche hinauszeigten. Tatsächlich stand

der junge Mann neben einem der beiden Fenster, von dem aus er unbemerkt die

Verhandlungen auf der Veranda unter ihm mitverfolgen konnte. Im Moment aller-

dings schaute er nicht hinaus. Er lehnte mit zusammengekrümmtem Rücken an

der Wand, neben den halbgeschlossenen Blendläden, und hielt beide Handflächen

vor das Gesicht gepreßt. Fannys Eintreten schien er überhaupt nicht wahrzuneh-

men. Seine Mutter war mit dem festen Vorsatz ins Zimmer gesttirmt, dem gewis-

senlosen Verführer die Hölle heiß zu machen, ihn, falls nötig, an den Haaren die

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Treppe hinunterzuschleifen und aufdie Veranda hinaus, damit er sich dort unten

der ganzen Versammlung stellen mußte ... und seiner eigenen Schuld.

Aber just in dem Moment, als die wutentbrannte Mutter das Häufchen Elend

erblickte, das dort im Zwielicht an der Wand kauerte, entfuhr dem Missetäter ein

solch abgrundtiefer Seufzer, daß Fanny betroffen mitten im Schritt innehielt. Die-

ser Laut glich dem gequälten Schluchzen der armen Misiluenga auf fast unheimli-

che Weise. Wenn Lloyd vorhin auch aus nackter Angst das Weite gesucht hatte,

aus Unkenntnis darüber, wie die Samoaner sein verbrecherisches Verhalten ahn-

den mochten, so wurde er nun von echter Zerknirschung heimgesucht. Daß ihm

von Misifolo keine Gefatu drohte, war ihm ja nicht entgangen.

Fanny trat ans Fenster, um sich zu sammeln, bevor sie sich ihren Sprößling

vomahm. Der schluchzende Lloyd hatte die Gegenwart der Mutter noch immer

nicht bemerkt. Er verharrte in seiner gebückten Haltung und machte keineAnstal-

ten, ztr seinem Horchposten zurückzukehren. Zwischen einzelnen Stoßseufzern

murmelte er abgerissene Sätze vor sich hin, während er den Obelkörper rhyth-

misch hin und her wiegte. Fanny gelang es nur mit größterAnstrengung, die dump-

fen Grabeslaute zu verstehen, die er durch seine gespreizten Finger hervorpreßte.

,,Das habe ich nicht gewollt", glaubte Fanny ihl sagen zu hören. ,,So darf man

sie doch nicht behandeln", war die nächste halbwegs verständliche Außerung. Und

dann machte Lloyd eine Bemerkung, die Fanny bewies, daß sich Lloyd die diplo-

matische Abwicklung der Afliire durch den Stiefuater völlig anders vorgestellt

hatte . .. trotz aller geheimen Absprachen.

,,Wqrum mu/3 er sie so demütigen 2" Dieser Satz war ein Aufschrei; während

Lloyd ihn hervorstieß, riß er die Hände vom Gesicht und richtete sich kerzengera-

de auf. Seine Augen waren rotgerändert, und sein Gesicht wirkte aschfahl unter

der sonnengebräunten Haut. Als sich der Tränenschleier, der ihm noch immer die

Sicht nahm, allmtihlich auflöste, bemerkte er Fanny.

Langsam drehte sich Lloyd in ihre Richtung, hochaufgerichtet, und trat ihr ge-

genüber. Seine Miene war ausdruckslos.

,,Ich weiß, was für Vorhaltungen du mir jetzt machen wirst, Mutter", sagte er

leise, aber bestimmt. ,,,A.lles, was du mir sagen könntest, habe ich mir selbst hun-

derbnal und öfter vorgeworfen. Ich bin ein Schuft ... und dieses Mädchen muß

meinetwegen leiden. Aber nichts macht die Sache ungeschehen."

Fanny hatte mit allerleiAusflüchten gerechneg mit fadenscheinigen Vorw?inden,

Leugnen, Scheinheiligkeit ... ganz besonders aber mit kindischern Trotz. Lloyd bot

ihr nichts von alledem und nahm ihr auf diese Weise den Sturmwind aus den Segeln.

Blitz und Donner, die Fanny eben noch auf ihren Sohn hatte niedergehen lassen wol-

len, lösten sich auf und machten einer tostlosen Leere Platz. Lloyd der in die Enge

getriebene Übeltäter, stand buchstäblich mit dern Rücken zur Wand; doch ansüatt eine

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unwilrdige Flucht nach vom anzuteten, gab er unumwunden seine Schuld zu. Wie

woit mochte seine Einsicht aber reichen? Weit genug, um das Mädchen zu heiraten?

,,Ich weiß, was dir durch den Kopf geht, Mutter", sagte er mit ruhiger, fester

Stimme. Fanny beschlich in der Tat das Gefühl, Lloyd könne ihre Gedanken lesen

- or, der gewöhnlich seine sensible Ader nur dann herauskehrte, wenn er jene Art

von Schonung beanspruchte, die einer,,Ktinstlerseele" zukam.

,,Es ist möglich, daß du mich ewig dafür hassen wirst, Mutter", fuhr Lloyd fort.

,,Er ist sehr gut möglich, dall ich mich ewig dafür hassen werde. Aber ich kann und

w i I I das Mädchen nicht heiraten. Dieses Mädchen nicht und kein anderes, das auf der

lnsel lebt." Lloyd begann, langsam in Maggies Zimmer aufund ab zu wandern, wäh-

rtnd er weitersprach. Dem Blick der Mutter wich er dabei j edoch keine Sekunde lang

eus. ,,Ich habe Misiluenga sehr lieb, ob du es nun glaubst oder nicht. Natürlich hoff-

lon wir beide, daß uns niemand auf die Schliche käme - vergebens, wie du siehst. Ich

merke, daß Louis' Zauber mich recht wirksam beschützt, so wie derselbe ,Zauber'

mich wohl auch in MisiluengasAugen attaktiv erscheinen ließ. Immerhin bin ich der

Sohn des großen Tusitala!" Lloyd lachte bitter aufundblieb vor seiner Mutter stehen.

,,Misiluenga besitzt keine Magie, die sie beschützen könnte, und den Nimbus, der sie

umgab, habe ausgerechnet ich zerstört. Das tut mir unendlich leid. Trotzdem werde

ich hier nicht heiraten, keine Samoanerin, keine Weiße, niemanden. Nicht hier."

Unvermittelt begab sich Lloyd nach diesen Worten zu seinem Ausguck zurück.

l)urch den Spalt zwischen den Blendläden, der kaum größer war als die Schieß-

lcharte einer mittelalterlichen Burg, starrte er auf die Versammlung hinunter, die

aich seinetwegen hier zusammengefunden hatte. Obwohl ihn der Kummer beina-

ho übermannte, ^t{ang

er sich dazu, die Szene von seinem erhöhten Standpunkt

nus weiter zu verfolgen. Fanny gesellte sich schweigendnt ihm. Ftir denAugen-

blick war sie sprachlos, und bis sie ihre wirren Gedanken geordnet haffe, wollte

nic zumindest über den Wortlaut der Unterredung informiert sein.

,,. .. zugeben müssen, daß deruntadelige Lebenswandel meines Sohnes ihn weit

ilber jeden Zweifel erhebt. Er würde sich eher einen Arm abhacken, bevor er ein'lbbu bräche, welches dem von dir angedeuteten auch nur annähernd gleichkommt.

Wären du und ich nicht seit langem Freunde, Misifolo, müßte ich jetzt zutiefst

gekänkt sein. Aber ich vergebe dir dein Mißtrauen - in deiner momentanen Lage

ist dein Urteilsvermögen leicht zu beeinflussen. So wie die Dinge stehen, greifst

du verständlicherweise nach jedem Strohhalm, der sich dir bietet."

Von der Veranda her vemahmen weder Mutter noch Sohn eine Antwort. Misifolo

hatte es offenbar die Sprache verschlagen.

,,Warum tut Louis das, Mutter?" fragte Lloyd tonlos, ohne den Kopf zur Seite

zu drehen. ,,Ich weiß, weshalb ich Misiluenga verftihrte. Sie ist bildschön, sie ist

I'reundlich, immer fröhlich ... fast immer fröhlich. Als Louis mir anbot, die Ange-

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legenheit taktvoll zu regeln, war ich grenzenlos dankbar, aber nun ... wamm nurbeleidigt er die beiden fortwährend?"

,,Eine Heirat mit meinem Sohn - meinem wohlgemerkt unschuldigen Sohn -käme schon deswegen nie in Betracht, weil Lloyd das Sakrament der Ehe als et-

was über alle Maßen Heiliges verehrt. Obgleich er schon vor vielen Jahren das

Stadium der Mannbarkeit erreichte, hat er sich bis jetzt für seine spätere Hochzeit

aufgespart. So nennen wir Weißen es, wenn man bis zum Zeitpunkt der Eheschlie-

ßung rein und keusch wie ein katholischer Priester lebt . Womöglich sogar noch ein

wenig keuscher und unnahbarer als deine wunderschöne Tochter."

Lloyd zuckte erneut vor Schmerz zusammen, als er diese Bemerkung hörte.

,,Da siehst du, was ich meine, Mutter. Ich gebe ja zu, daIJ ich ein verantwortungsloser

Lump bin - aber Misiluenga kann doch nichts dafür. Ich weiß, daß Louis stets das

Beste für alle will, aber ich kann wirklich nicht verstehen, warum er eine solch

grausame Taktik verfolgt. Mir hat er den Fehltritt mit keinem einzigen Wort vor-geworfen .,,"

Fanny hätte ihrem Sohn bereits die passende Antwort geben können, doch sie

wollte erst hören, wie die Affüre ihrem unrühmlichen Ende entgegensteuerte. Ei-nen Ausweg aus der verfahrenen Lage sah auch sie ohnehin läingst nicht mehr.

,,Großer Tusitala", hörten die beiden Misifolo einen weiteren verzweifelten

Überredungsversuch unternehmen. ,,Es besteht eine Möglichkeit, die wir noch

nicht in Erwägung gezogen haben. Wie wäre es, wenn dein Sohn meine Misi-luenga zur Frau nimmt und sie nach zwei oder drei Wochen zu mir ins Dorf zu-

rückschickt? Das könnte unsere Ehre wiederherstellen, während dein Sohn in die-ser Zeit so keusch leben darf, wie er will - darauf kommt es ja nun nicht mehr an.

Ich hätte meine Tochter wieder und könnte sie an einen anderen mächtigen Mann

verheiraten. Dein Sohn wird sich nicht beflecken und bleibt rein bis zu seiner

nächsten Ehe ... bis zur wirklichen Hochzeit."

Als Lloyd diesen Vorschlag vernahm, schlug er sich mit der geballten Faust vordie Stirn. Fanny vermutete schon, Lloyd wolle endgültig der Verzweiflung an-

heimfallen, als er plötzlich glücklich auflachte, seine Mutter an Taille und Schul-

ter ergriff und begann, ausgelassen mit ihr durchs Zimmer nJ tanzen. Er strahlte

über das ganze Gesicht, während er die übemrmpelte Fanny wie eine Kleider-puppe hin und her schwenkte. ,,Das ist es! Das ist es!" rief er immer wieder aus

und drückte seiner Mutter nach jedem Freudenschrei einen dicken Kuß auf die

Wange. ,,Das ist die Lösung! Wie wunderbar!"

Fanny überlegte kurz und begriff, daß es stimmte: Das wäre der idealeAusweg

aus dem Dilemma, der allen Beteiligten nur Vorteile bringen würde. Eine Samoa-

nerin, die einen mächtigen Mann heiratete und irgendwann von ihm in ihr Heimat-

dorf zurückgeschickt wurde, was derAuflösung der Ehe gleichkam, war durchaus

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kcin Opfer des Spotts und der Erniedrigung - im Gegenteil. Ihr wurde ein Vielfa-ohos ihrer ursprtinglichen Aussteuer mit auf den Weg gegeben, und ihr Dorf feier-

to oin ausgelassenes Fest. Das Wichtigste nämlich, was die geschiedene Frau aufLobenszeit für sich und ihr Dorf einbehielt, war der Ruhm des Mannes, welcher

durch die Hochzeit auf sie übertragen worden war. Außerdem existierte zwischen

don Dörfern beider Eheleute trotz der Scheidung weiterhin eine unverbrüchliche

Allianz in Kriegs- wie Friedenszeiten. Daher war es nicht weiter verwunderlich,

daß Scheidungen auf Samoa beinahe ebenso freudig begräßt wurden wie Hoch-

aoiten. Misifolos Vorschlag klang wirklich verlockend für alle Parteien. An seiner'lbchter und somit an ihm selbst würde auf ewig derAbglanz jener unvergleichli-

chen Macht haftenbleiben, welche in der berühmten Flasche steckte. Lloyd müßte

keine Gewissensqualen mehr erleiden, brauchte sich nicht zu binden und dürfte

rich zudem in dem Ruhm sonnen, eines der schönsten Mädchen Samoas besessen

zu haben - und für Mr. Louis MacRichie, der seine Bediensteten an Festtagen mitGcschenken geradezu überschüttete, wäre es ein leichtes, Misiluengas Aussteuer

zu verzehnfachen.

,,Oh, Mutter, das ist zu schön, um wahr zu sein!" jubelte Lloyd. ,,Und oben-

drein eine so einfache Lösung! Da haben Louis und ich uns stundenlang die Köpfezerbrochen, was zu tun sei, und keiner von uns kam auf diese geniale Idee. Nichtoinmal dein blitzgescheiter Marur hat andeutungsweise daran gedacht!"

Fanny drängte sich ein bitterböser Verdacht a:uf. Genqu das ist es ja, was mirSorgen macht, mein Junge. Louis hat bisher noch immer an alles gedacht Plötz-

lich fröstelte es Fanny am ganzen Leib, Sie sagte nichts, als LloydAnstalten machte,

im Sturme der neuentfachten Begeisterung die Treppe hinunterzueilen. Vergessen

waren Furcht und Scham, die ihn bis jetzt in diesen unwürdigen Unterschlupfgezwungen hatten: Nun durfte er sich endlich hocherhobenen Hauptes vor die Türwagen und seiner Misiluenga mannhaft ins Auge blicken. Der Überschwang der

Gefühle verwirrte ihm offenbar nicht nur den Kopf, sondern auch die überlangen

Gliedmaßen; bevor er am oberenAbsatz der Innentreppe angelangt war, stolperte

cr über die eigenen Füße und schlug der Länge nach hin. Sofort rappelte er sich

wieder auf. Da hörten er und Fanny Louis' Erwiderung.

,,Als du mit deinen Sorgen zu mir kamst, Misifolo", sprach Louis mit lauter,

vor Empörung vibrierender Stimme, ,,wollte ich alles in meiner Macht Stehende

untemehmen, um meinem alten Freunde zu helfen. Mittlerweile habe ich den Ein-druck gewonnen, daI3 du mich und meinen Sohn zu beleidigen trachtest. Wie kannst

clu es emsthaft wagen, mirvozuschlagen, die heilige christliche Ehe in den Schmutz

zu ziehen, einen uralten Brauch der Lächerlichkeit preiszugeben? Habe icft michdenn jemals erdreistet, die geweihte Stellung der Tapo herabzuwürdigen und ihre

llrhabenheit in Frage zu stellen? Du bist doch selbst Katholik, Misifolo, und weißt,

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daß du dich nicht mir nichts, dir nichts von deinen drei Frauen trennen darfst. Indem Land, aus dem ich stamme, sind Ehescheidungen überhaupt nicht erlaubt!

Lloyd kann unmöglich in deinen Vorschlag einwilligen, ohne dabei für immerseine Ehre zu verlieren."

Lloyd, der den Worten seines Stiefraters atemlos gelauscht hatte, erbleichte.

Fassungslos sank er in sich zusammen.

,,Aber ..." Mehr brachte Lloyd nicht heraus. Der junge Mann begriffnichts vondem niederträchtigen Schauspiel, welches hier über die Bühne ging, was Fanny

ihm keineswegs verdenken oder gar verübeln konnte. Verschlagenheit war nichtLloyds Sache, und da er seinen Stiefuater vergötterte, traute er ihm nichts Übles

zu. Lloyd war zutiefst schockiert; wie Fanny ihren Sprößling allerdings einschätz-

te, glaubte er schlimmstenfalls an ein kolossales Mißverständnis.

,,Ich gehöre aber gar nicht der schottischen Kirche an", murmelte Lloyd mitversteinertem Gesicht und bestätigte Fannys Vermutung. ,,Ich bin AmBrikaner. Das

weiß Louis doch...",,Ja, das weiß er." Fannys eiskalte Empörung richtete sich nicht mehr gegen

ihren Sohn, der seine Schuld erkannt hatte und einzig durch Louis' teuflische,,Di-

plomatie" noch lange an dieser Last zu tragen haben würde. Louis, der die prekäre

Lage sehenden Auges heraufbeschworen hatte, indem er seinen Stiefsohn zum

Tabubruch ermuntede, zog weiterhin virtuos die Stränge der Handlung und die

Schicksalsf?iden seiner Marionetten. Er machte es Fanny sogar unmöglich, Lloyddazu anzustiften, den Zwischenfall persönlich zu bereinigen, nun, da eine voll-kommene Lösung schon in Reichweite lag. Jedes Mitglied des Klans wußte, daß

man dem Tusitala nicht in Gegenwart bedeutender Samoaner widersprechen durf-

te - nicht etwa, weil Louis ein Despot war, sondern weil man sein Ansehen emp-

frndlich geschmälert und damit die eigene Sicherheit aufs Spiel gesetzt hätte.

Tusitala war unantastbar und mußte es bleiben.

Von der unteren Veranda her vernahmen Fanny und Lloyd, wie Häuptling

Misifolo nach dem kläglichen Scheitern seines letzten Vorschlags das Zeichen

zumAufbruch gab. Durch den schmalen Spalt im Blendladen beobachteten Mut-

ter und Sohn gemeinsam, Wange an Wange, den traurigen Abmarsch der Besu-

cher. Misifolos Mannen begaben sich in derselben Formation zum Tor zurück, in

welcher sie gekommen waren, ein Krieger hinter dem anderen. W?ihrend die Un-

tergebenen des Häuptlings, die aus Misifolos Mienenspiel lediglich vage auf eine

mißglückte Unterhandlung hatten schließen können, stolz und aufrecht einher-

schritten, bewegte sich ihrAnführer wie ein um Jahrzehnte gealterter Mann. Mithängenden Schultem und eingezogenem Kopf sah Misifolo aus zunehmender

Entfernung bald auf frappierende Weise einer jener Buckligen ähnlich, die seine

Tochter vergeblich vor dem weißen Verführer zu schützen versucht hatten.

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Misiluenga bildete wie zuvor die einsame Nachhut. Sie stolperte mehr, als daß sie

llofl, und blieb alle paar Schritte stehen, um sich nach dem Geliebten umzusehen.

Das tat sie nun nicht mehr verstohlen, sondern in einem Anflug von Panik: Es war

lhre letae Gelegenheit, Lloyd noch einmal zu sehen. Den gesamten Rückweg zum

'lbr tiber versuchte das Mädchen, um jeden Preis einen Abschiedsblick zu erha-

rchen, denn sie ahnte wohl, daß ihr Liebhaber sich ganz in der Näihe befand. In

lhrcm Bemtihen, jeden Winkel des Anwesens auszuspähen, drehte sie sich, wäh-

rond sie den anderen folgte, mehrmals um die eigene Achse. Ratlos streckte sie

lmmer wieder die Arme aus, als könne sie den unsichtbaren Beobachter mit dieser

(loste zu sich locken. Sicher hätte sie laut Lloyds Namen gerufen, wenn dadurch

nlcht die lange Menschenschlange vor ihr auf sie aufrnerksam geworden wäre,

wclche nun die widerstrebende Misiluenga für immer mit sich aus Tusitalas Reich

lirrlzog.

Als die unselige Prozession l2ingst die Eingangspforte hinter sich gelassen und

Mafulu sich mit zufriedenem Grinsen an seinen Posten zurückbegeben hatte, stan-

tlon Fanny und Lloyd noch immer reglos am Fenster. Mafulu würde vorerst nie-

mandem erlauben, aus dem Garten zu entschlüpfen, und da kam ihm seine strate-

glsche Position gerade recht: Er mußte noch einige Stunden Wachdienst tun, doch

tlann wäre er der allererste von Tusitalas Bediensteten, der von Dorf zu Dorf lau-

lbn und die - in jedem Sinne des Wortes - unerhörte Kunde verbreiten durfte, daß

rler Tusitala dem Häuptling Misifolo eine furchtbare Abfuhr erteilt hatte. Es gab

nichts Aufregenderes für einen Samoaner, als neuen Klatsch in die Welt zu setzen;

tla zudem jedermann wußte, daß er es bei Mafulu mit einer leibhaftigen berufenen

Quelle zu tun hatte, mit einer Person, die man im Zeitungsjargon einen autorisier-

tcn Informanten genannt hätte, konnte sich Mafulu der ungeteiltenAuftnerksam-

keit ganz Upolus sicher sein. Fanny vermochte vom Fenster aus seinen Gesichts-

nusdruck nicht zu erkennen, doch sie war sicheq daß er mit stolzgeschwellter Brust

und trunken vor Vorfreude dort unten am Tor stand, die Arme selbstzufrieden vor

rler Brust gekreuzt und trotzdem stets auf dem Sprung, bei der ersten Gelegenheit

in den Urwald zu entwischen und seine aufregenden Neuigkeiten exklusiv unter

rlts Volk zu tragen. Um dieser einzigartigen Gelegenheit willen, so spekulierte

lianny, würde ervielleicht das Wagnis in Kauf nehmen, eine Nacht außerhalb der

I lmzäunung zu verbringen, auf einsamerWanderschaft mitten im finsteren Dschun-

gcl. Neugier und Sensationslust stellten für einen Samoaner die wohl einzige über-

rnächtige Triebfeder dar, die es an Stärke bisweilen mit der Dämonenfurcht auf-

nchmen konnte.

Fanny entfemte sich vom Fenster. Sie fühlte eine eigenartige Käilte in sich auf-

rteigen, die bis in ihr Gehirn drang, dort aber ausschließlich ihre Gefühle zu Eis

gcfrieren ließ, während ihr Verstand mit gewohnter Schärfe arbeitete. Sie betrach-

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Page 241: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

tete den Sohn, der noch immer mit wachsbleichem Gesicht am Fenster stand. WioHäuptling Misifolo schien auch Lloyd in Sekunden um Jahre gealtert zu sein. Hattedas Beisammensein mit seiner geliebten Misiluenga ihn reifer, männlicher wirkenlassen, so zeitigte die heutige Begebenheit ein gäinzlich anderes Ergebnis. Ein Pest-

hauch hatte den jungen Mann gestreift und den Krankheitskeim in ihm gesät, wel-cher seine Seele würde vor der Zeit verdorren lassen. Der Name dieses Däimons

der Vernichtung war nicht ,,Legion" wie in der Bibel. Fanny kannte seinen Namen... denn sie war mit dem Dämon verheiratet.

Mit fast klinischer Kälte beobachtete Fanny ihren Sohn - nicht etwa, weil sie

ihm, einem weiteren Opfer des großen Tusitala" noch gram gewesen wäre, son-

dern weil zumindest für den Augenblick jegliches Gefühl aus ihrem Hirn gewi-

chen war. Sie verstand Lloyds Motive, so wie sie immer alles und jeden verstan-

den hatte. In letzter Zeit aber erschien ihr diese Fähigkeit mehr und mehr wie ein

Fluch. Fanny war es leid, ihre Miünenschen so gründlich durchschauen, ja durch

sie hindurchsehen zu können, als bestünden sie selbst auch aus Glas wie die un-

sichtbaren Behältnisse, welche sie gefangenhielten. Die Worte ihres Sohnes, aus-

gestoßen weniger als Rechtfertigung denn zur KlZirung seiner Position in der gan-

zenAngelegenheit, bestätigten lediglich Fannys langgehegte Einschätzung seines

Seelenlebens. Er wolle niemanden auf dieser Insel heiraten, halle er mit einer

Bestimmtheit verkündet, die Fanny nicht in Zweifelzog. Keine Eingeborene und

keine Weifie. Nicht auf Samoc. Es verhielt sich durchaus nicht so, daß Lloyd keine

dauerhafte eheliche Bindung eingehen wollte - aber er gedachte seine Ehe keines-

falls am unteren Ende der Welt zu schließen. Lloyd gehörte Louis mit Leib und

Seele; er war Louis' Gefangener und genoß diesen Zustand sogar. Niemals würde

er Louis zu dessen Lebzeiten verlassen, auch wenn das bedeutete, dal3 er weitere

vier Jahrzehnte unbeweibt auf Upolu wtirde zubringen müssen. Lloyd war Louis'treuester Jünger, sein Adept der Künste und sein in jeder Schicksalsfügung willi-ger Sklave. Gleichzeitig besaß Lloyd - im Gegensatz zu seiner Schwester - eine

dumpfe Ahnung von dem Ausmaß der eigenen Gefangenschaft. Er war Louis aufLebenszeit verfallen, denn er liebte seinen Stiefuater über alles; da sein Herr und

Meister auf dieser Insel leben mußte, verstand es sich von selbst, daß auch der

Getreue blieb. Doch Lloyd war kein unmittelbarer Gefangener der Insel. SeinLe-ben und leibliches Wohlbefinden hingen ja nicht bedingungslos von diesem scha-

len Südseeparadies ab, wie das Überleben seines Herrn es tat. Lloyd stand der

Insel bestenfalls gleichgültig gegenüber, keineswegs bewundernd - die Phase der

anfänglichenVerzückung, die den gesamten Klan erfaßt hatte, warbald allgemei-

ner Ernüchterung gewichen - und schon gar nicht liebevoll. Unter normalen Um-ständen hätte ein junger Mann die weite Welt bereist, insbesondere ein Sprößling

Fanny und Sam Osbournes, dem die Wanderlust sozusagen in die Wiege gelegt

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Page 242: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

wordcn war, Er ,,versauerte" zwar nicht auf Samoa, doch einzig Louis' Gesell-

rohaft verhinderte dies. Der Rest der Insel, das Gebiet außerhalb Vailimas, bedeu-

t!to ihm in seiner Lage nicht mehr als der geringe Auslauf, der einem gefangenen

Penther imZoo zurVerfügung stand.

Lloyd begriffinstinktiv, daß die Hochzeit mit einer Tapo oder einer Weißen, die

hlor auf Upolu lebte, auch ihn unrettbar an die Insel gekettet hätte, Die weißen

Frauen, welche lange genug blieben, um umworben zu werden, waren in der Re-

gol zähe britische Ladies, die jedem Klima und jedem widrigen Lebensumstand

mlt Freude trotzten und gerade deshalb ihr Herz auf Dauer an die Insel verloren.

Oomeinsam mit solchen Geschöpfen hätte Lloyd das Eiland nie wieder verlassen

dürfen. Die Hochzeit mit einer Tapo hätte sich wahrscheinlich weniger schlimm

aurgewirkt, doch auch hier wäre das endgültige Resultat Lloyds dauerhafte Ge-

tbngenschaft gewesen. Samoanischen Frauen lag die Neugier im Blut, und sie

zoigten sich schnell bereit, Neuland zu erkunden. Man konnte mit ihnen also für

olnige Monate, vielleicht ein Jahr, nach Australien oder Neuseeland ziehen, bevor

das Heimweh sie mit voller Gewalt ergriff: Südseeinsulaner hatten die leidige

Angewohnheit, buchstäblich vor Sehnsucht sterben zu können. Der kleine Austin

hatte das einst erleben müssen, als sein Freund Arick, ein Salomoninsulaner sei-

nos Alters, sich nach wenigen Monaten auf Samoa zum Sterben niedergelegt hat-

te. Er habe Heimweh, antwortete der Kleine aufAustins Frage, und natürlich nahm

niemand seine Anktindigung emst, denn die Wehleidigkeit der Samoaner verleite-

te nicht nurAustin zu einer krassen Fehleiirschätzung der Lage. Arick legte sich hin -und starb tatsächlich. DerArzt konnte keinerlei Krankheitssymptome erkennen.

Die Hochzeit mit einer Tapo erwies sich demnach ebenfalls als etwas, nach

tlem nur weiße Männer streben durften, die bereits ihre geistige Heimat auf der

lnsel gefunden hatten. Es gab eine Handvoll dieser Glücklichen auf Upolu. Ja, sie

konnten sich tatsächlich glücklich preisen, wenn es ihnen gelang, eine Tapo für

die Ehe zu gewinnen. Sowohl unter den weißen Landsleuten als auch in der Insel-

bevölkerung wuchs das Ansehen jenes Freiers, dem das Unterfangen gelang, ins

I Jnermeßliche. Die Dorfültesten, die über die Verheiratung einer Tapo zu entschei-

tlen hatten, waren ausgemachte Snobs und wiesen oft reiche Weiße ab wie armse-

lige Bittsteller, wenn sie das betreffende Mädchen mit einem mächtigen Samoa-

ner verkuppeln zu können glaubten. Einen Häuptling mit zahlreichen Kriegern

und womöglich gehörigem Einfluß beim König zogen die weisen Männer eines

l)orfes unweigerlich jedem Weißen vor.

Lloyd hätte diese große Ehre zuteil werden können, nach welcher er indes ganz

und gar nicht strebte. Was nämlich sein Verhältnis zur Insel betraf, so wollte er

seine Freiheit ihr und ihren Bewohnern gegenüber niemals aufgeben. Wenn er

uuch möglicherweise sein halbes oder ganzes Leben hier fristen mußte, beabsich-

Page 243: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

tigte er doch, seine Distanz zu Upolu für die gesaffrte Dauer seiner Anwesenheit

zu wahren. Im Innersten ihres Herzens teilte Fanny Lloyds Standpunkt vollkom-

men. Auch sie hatte sich mit der Insel bestenfalls a:rangiert, doch sie wtirde hier

niemals Wurzeln schlagen, solange sie lebte. Und was Louis-Tusitala anging -auch er war nicht durch neugefaßte Wurzeln mit der Insel verbunden, sondern

durch die erstickende, unzertrennliche Liebesumarmung einer Schlingpflanze.

Doch das gab Louis noch lange nicht die Befugnis, die auf der Insel geborenen

und somit rechtmäfiigen Einwohner auf eine so unerhörteArt und Weise zu brüs-

kieren. Unter dem Deckmäntelchen des Christentums und innerhalb der Grenzen

samoanischer Etikette hatte Louis sich scheinbar angemessen verhalten, aber alle

Beteiligten, sogar Mafulu und die übrigen zum Haushalt gehörigen samoarrischen

Ohrenzeugen, erahlten den bösen Willen hinter Tusitalas Worten.

Fanny verspürte nach wie vor nichts als eine eisige Taubheit an der Stelle, wo

vorher Zorn und Mitleid erbitted miteinander gerungen hatten. E-ie unwürdige

Farce, deren unfreiwillige Zuschauerin sie soeben geworden war, hatte den Vorrat

ihrer Gefühle bis auf den Bodensatz aufgezehrt - einen Quell, der sonst nie ver-

siegte und oft wilder sprudelte, als es Fanny lieb war. Fannys Kraft war geschwun-

den, und doch wußte sie um die Pflicht, die es zu erfüllen galt. Louis durfte um

keinen Preis ungeschoren davonkommen. Zu Fannys Leidwesen existierte außer

ihr selbst niemand, der den Schurken zur Rede stellen konnte. Todmüde, mit äu-

ßerster Anstrengung um Haltung ringend, machte sie sich auf den Weg nach un-

ten, auf die Veranda. Als sie Louis erblickte, verflog ihre Erschöpfung augenblick-

lich. Ihre Kräfte kehrten zurück, doch gleichzeitig wuchs die Eisschicht in Kopf

und Herz und drohte sie zu verwandeln ... Indem sie sich kerzengerade vor Louis

aufbaute, beschlich sie insgeheim der Eindruck, sie sei soeben zu einem mensch-

lichen Eiszapfen erstarrt. Sogar ihr Kiefer war taub.

Fanny konnte kaum glauben, was sie da vor sich sah. Louis hatte sich doch

tatsächlich seelenruhig in seine Hängematte auf der Veranda geschwungen, um

diese Tageszeit - und nach einer solch verbrecherischen Tat! Das Schlimmste an

demAnblick war die Tatsache, daß Louis nicht im entferntesten nervös, geschwei-

ge denn schuldbewußt wirkte. Er frohlockte ganz offensichtlich! Er hatte dem-

nach das Böse, das er angerichtet hatte, in vollen Zügen genossen. Wie stets, wenn

er in der Hängematte lag, gesellten sich seine beiden Katzen zu ihm, und auch

heute kraulte er sie gelassen mit seinen langen Zehen. Was für ein abscheuliches

Bild von Behaglichkeit er bot! Er sah selbst aus wie ein zufriedener Kater, der

gerade eine fette Maus verspeiste, mit der er zuvor ein hinterhältiges Spielchen

getrieben haIte. O Gott, nun zwirbelte er sich gar die Schnunbarthaare ... Fanny

vergingen fast die wenigen noch verbliebenen Sinne. Sie ertappte sich bei dem

plötzlich aufflammenden Wunsch, Louis'Katzen mit einem brutalen Fußtritt kopf-

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über von der Veranda zu befürdern - doch dann schämte sie sich. Die Katzen

konnten nichts flir das Benehmen ihres Herrn.

,,Du hättest Jesuit werden sollen, Louis." Fanny gelang es kaum, ihre zu Eis

orstarrten Kiefer auseinanderzubringen.

,,Weshalb denn das, mein Herz?" entgegnete Louis, der genau wußte, worauf

Fanny anspielte. Sein Tonfall verstärkte noch den Eindruck, den er auf seine Frau

machte: Vor ihr lag ein sattes Raubtier, das sich, aufs angenehmste ermattet durch

grausame Jagd und genüßliche Einverleibung der Beute, nun wohlig in seiner be-

vorzugten Liegestatt räkelte. Die wenigen lässigen Bewegungen, die Louis mit

seinenüberlangen Gliedmaßen vollführte, um die schaukelnde Hängematte in sanf-

tem Schwung zu halten, strahlten wie immer seine ganz besondereArt vonAnmut

aus - eine nattirliche Eleganz, die Fanny nicht ertragen konnte. Nicht heute, nicht

nach all dem Leid, das er seinen nächsten Mitmenschen vorsätzlich angetan hatte.

,,Du bist wirklich ein diplomatisches Naturtalent", setzte Fanny nach. ,,Ein voll-

endeter Wortverdreher, ein Sophist, wie er im Buche steht. Ein verfluchter Heuch-

ler . . . und der mit Abstand scheinheiligste Bilderstürmer, der mir je begegnet ist.

lch dummes Frauenzimmer hatte tatsächlich zu hoffen gewagt, die schlechten al-

tcn Zeiten seien endgültig begraben."

,,Scheinheilig? Wer? Ich?" Um seinem widerwärtigen Benehmen die Krone

aufzusetzen, bedachte Louis sie mit seinem scheinheiligsten Lächeln, während er

diese amüsierte Frage stellte!

,,Diesmal sind also nicht die christlichen Werte deines Vaterlandes an der Rei-

he, von dir verfiilscht und geschmäht zu werden. O nein. Diesmal erstürmst du die

heiligen Bilder der Samoaner, deiner langmütigen Gastgeber - und benutzt dabei

dieselben feierlichen Phrasen, die du einst in Edinburgh verdammtest ... aber nur

heimlich, im engsten Freundeskreis, damit niemand dich wirklich für deine Blasphe-

mie belangen konnte. Und du, ausgerechnet du, giltst als der beste Freund Samoas!"

Während Fanny sprach, löste der Zorn den Eismantel um ihr Innerstes auf, und

cine hebrige Hitze durchströmte sie. Nach den ersten schleppenden Worten berei-

tete es ihr deshalb keine Mühe mehr, ihre schlimmen Gedanken zu artikulieren.

Dieser Umstand stellte jedoch alles andere als einen Trost dar.

,,Du bist seit deinerAnkunft hier als Verfechter der samoanischen Sache aufge-

treten", fuhr Fanny ohne innezuhalten fort. ,,Du wußtest zwar nur sehr vage, was

du dir unter solch einem Leitspruch vorstellen solltest, aber du wurdest über Nacht

lür alle zum großen Helden ... am meisten wohl für dich selbst. Die Briten ma-

chen einen Gott aus dir. Die Samoaner machen ein höheres Wesen aus dir. Bis jetzt

hat ihnen, zugegeben, dein Einsatz fift deine große Mission unter dem Strich mehr

genutzt als geschadet. Bis jetzt, sage ich. Nun allerdings zeigst du dich als ihr

Feind, der sie verachtet."

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,,Das ist nicht wahr!" platzte Louis heraus, den Fannys berechtigter Vorwurf

mittlerweile doch aufunihlte. Seinen gemütlichen Ruheplatz verließ er zwar nicht,

aber er richtete den Oberkörper aufund schaute Fanny tiefbeleidigt an.

,,Die Samoaner kämen ohne meine Intervention gar nicht ztrecht", grollte er.

,,Ich helfe ihnen in allen Lebenslagen mit Rat, Tat und gutem Willen. Sowohl in

ihren politischen als auch alltäglichen Belangen. Sie brauchen mich."

,,Ach was - sie brauchen dich nicht! Du brauchst sie viel dringender als umge-

kehrt!" Fanny glühte. Sie näiherte sich der Hängematte und beugte sich über ihren

liegenden Gatten. ,,Und weißt du, wofür die Samoaner am allerwenigsten Ver-

wendung haben? Für einen weißen Teufel, der im Licht weißer Wohlansttindigkeit

ihre Tabus bricht, weil er sie im Grunde seines Herzens verabscheut. Indem du

Lloyd auftretztest, den unwissenden Tropi hast du bewußt ein Sakrileg begangen,

welches nur des Luzifer würdig ist. Mit weniger gibst du großer Lichtbringer dich

ja nie zufrieden! Du spielst entweder Gott oder Satan!" .-;

,,Ich ... weiß nicht, was du meinst." Louis' Selbstzufriedenhdit war vollends

geschwunden. Er wirkte unsicherer denn je.

,,Bist du dir am Ende der wahren Bedeutung deiner Tat nicht bewußt?" Fanny

zog diese Möglichkeit zum ersten Mal ernsthaft in Erwägung. ,,Kennst nicht ein-

mal du den Hintersinn des Verbrechens, das du begangen hast?" Fanny blickte

Louis lange starr an und schüttelte dann verwirrt den Kopf. ,,Ich glaube fast, du

weißt wirklich nicht, was du getan hast. Dann erkläre ich es dir. Du wolltest unge-

straft eines der wenigen moralischen Gesetze brechen, die hier henschen, und

hattest es dabei auf den armen Misifolo abgesehen ... weshalb auch immer. Die

eirrzige, die größte, ja die wahrhaft volllammene Sünde - Gott helfe mir - kann

aber für einen Mann wie dich nur in der Entweihung einer Tapo bestehen. Du hast

Misiluenga als dein Opfer erkoren, denn du wolltest ihr Innerstes, während du

Lloyd ihren Leib überließest, an dern du keinerlei lnteresse hattest. Lloyd war

nichts als das ausführende Organ bei deinem Vorhaben, ein verliebter Handlanger,

den du benutztest!"

,,Was soll das, Fanny? Was spinnst du dir da zurecht?" Louis wand sich unwill-

kürlich in seiner Hängematte und machte l2ingst keinen lässigen oder gar anmuti-

gen Eindruck mehr.

,,Ich habe recht, und du erkennst es. Lloyd drang für dich in das Innerste einer

Tapo ein - du siehst, ich kann es auch drastischer formulieren! -, und durch die

unheilige Bertihrung deines Gefolgsmannes entweihtest du sie und alles, wofür

sie steht. Die Tapo aber vertritt ganz Samoa. Denn was heißt ,tapo' anderes als

,verboten', ,nicht berühren'? Auf allen pazifischen Inseln trafen wir auf Tabus

dieser oder jener Art. Hier auf Samoa heilSt das Wort eben nicht Tabu, sondern

Tapo!"

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Louis erbleichte sichtlich. Er öffnete den Mund, als wolle er etwas erwidern,

und besann sich dann eines besseren. Langsam schüttelte er den Kopf. Seine Ver-

wimrng schien echt, wie sogar Fanny fand. Wurde ihm erst jetzt alles wirklich

bcwußt?

,,Ein Mann, der eine Tapo verführt, weil die Fleischeslust ihn überwältigt, ist

halbwegs entschuldbar." Fanny sprach instinktiv leiser, sanfter. ,,Er mag das Kli-

ma nicht vertragen oder lange Enthaltsamkeit oder was auch immer. Du aber, ge-

liebter Gatte, handeltest wohlüberlegt wie stets. Dein Beweggrund war nicht un-

hezwingbare Gier. Oh, du wolltest die Tapo auf deine Art besitzen, doch nicht das

Mädchen aus Fleisch und Blut, sondem das innerste Herz, die wahrhaftige Seele des

Verbotenen! Indendu Lloyd ihren geweihten Leib schänden ließes! vollbrachtest du

dasselbe, als hättest du die Ikonen der Heiligen vom christlichenAltar gestoßen und

zerteten. Wärdest du die katholische Jungfrau Maria ebenso behandeln?"

Louis stand das nackte Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Erst durch Fannys

Vorhaltungen wurde ihm die Tragweite seiner Missetat bewußt. So gut er die christ-

liche Religion zu seinen Gulsten zu verdrehen vermochte, so tief und ernsthaft

war sie gleichzeitig in ihm, dem Vorbeter von Vailima, verwurzelt.

,,Ich habe nie etwas dergleichen beabsichtigt", erwiderte er nun leise, tastend

gleichsam, als ob er währenddessen prüfend in sich hineinhorchte. ,,Ich wollte

Misifolo bestrafen, das ist wahr. Misifolo hat an meinem Geburtstag den Häupt-

lingen König Mataafas mein Anliegen vorgetragen und es dabei vorsätzlich ver-

llilscht. Aus welchem anderen Grunde sollten die Häuptlinge es so lange versäu-

men, mir meine Bitte zu erfüllen? Die Schuld liegt eindeutig bei Misifolo - und

noiner verdammten, echt samoanischenArt, die Dinge nie beim wahren Namen zu

nennen und lieber verwickelteAusreden zu erfinden!"

Fanny traute ihren Ohren nicht. ,,Ja, merkst du denn nicht, daß du gerade dabei

bist, dich selbst und dein Handeln zu beschreiben? Nennst du die Dinge beim

wahren Namen, indem du Misifolo von der Keuschheit meines Sohnes vor-

rchwindelst und von der Unantastbarkeit der Ehe? Du bist ein Gaukler und ein

Aufschneider, doch wirst du dich aus deinen Tiefen kaum zur Heiligkeit aufschwin-

gcn wie so mancher mittelalterliche Erzsünder. Denn was dich von den anderen

rrnterscheidet, ist dein Wunsch, in der Sifurde zu verharren, statt sie womöglich

ungeschehen zu machen. Auf einem silbernen Tablett wurde dir der ideale Weg

tlurgeboten, wie du zwar deinen Tabubruch genießen, doch die armen Opfer dei-

rrcr Tat zugleich wieder glücklich machen könntest . . . Du aber willst nicht Misifolo

rlrafen, sondern dem Gott trotzen, der dich aufdiese Insel verschlug!"

,,Das ist nicht wahr!" rief Louis wutentbrannt. ,,Ich habe Misifolo eine Lektion

orteilt, nicht mehr und nicht weniger! All das lächerliche Geschwätz um Stinde

und Teufelei ... über solche Dinge hast du dir frtiher doch nicht den Kopf zerbro-

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chen. Mir scheint, du bist auf deine alten Tage unter die Frömmlerinnen gegangen.

Viel Vergnügen dabei!"

Während ihrer gesamten Ehe hatte Louis niemals so zu Fanny gesprochen. Der

Stachel saß tief und verwundete sie schwer. Gleichzeitig bewies Louis' ausfülliges

Verhalten, wie stark auch seine Grundfesten erschüttert waren. Er schlug einfach

blind um sich, um weiteren wohlverdienten Hieben zu entgehen.

,,Eine Lehion für Misifolo." Fanny spie die Worte verächtlich aus. ,,Soso. Was

die arme Misiluenga, was Lloyd dir angetan haben könnten, wage ich gar nicht

erst zu fragen. Du und deine verdirmmte Straße! Du bist ein Dorn im Fleisch die-

ses Volkes, Louis - nein, was sage ich: Du bist die schottische Dßtel in Person,

die es quält, und du bist stolz darauf."

Trotzig verschränkte Louis die Arme über der schmächtigen Brust. Er machte

keine Anstalten, Fannys Schlag zu parieren.

,,Im Grunde weißt du, daß Männer wie Misifolo dir haushoch überlegen sind.

Misifolo zeigte watre Größe, indem er zu dir kam um seiner geliebten Tochter

willen und fiirmlich vor dir auf dem Boden kroch. Das hast du genossen, nicht

walu! Du wähnst dich ihm überlegen, weil du eine unsichtbare ,Flasche' besitzt,

die erst das samoanische Volk mit Leben erfüllt hat. Vergiß nicht, wer dich zu dem

gemacht hat, was du bist! Du, mächtiger Tusitala, willst den Abglanz einer Macht,

die aus der Flasche Samoas stammt, nicht mit Misifolo teilen ... dabei hätte er

mehrAnspruch auf das verfluchte Ding als du. Und willst du noch etwas wissen?

Misifolo ist sogar ein besserer Ingenieur, als du es jemals sein wirst. Er hat dir eine

goldene Brücke zur wahrhaftigen Verständigung mit seinem Volk gebaut, ein

Monument, wie es wunderbarer dein Großvater Robert nicht hätte aus Luft er-

schaffen können. Was tatest du darauf? Du zerstörtest das feine Gespinst eines

edlen Geistes wie der roheste Kretin auf Erden, bevor es Gestalt annehmen konn-

te. Soviel zu dir und deinem erbärmlichen ,hanszendentalen Koeffrzienten'! Du

bist nicht wert, den Namen Stevenson zatragen. Deine Verbannung bewahrt den

Klan vor Schande!"

Louis fuhr mit einem wütenden Satz aus der H?ingematte. Aller angeborenen

Geschmeidigkeit zum Trotztat er einen falschen Schritt und trat seinem Lieblings-

kater Henry mit voller Wucht auf den Schwanz. Henry kreischte aus Leibeskräf-

ten auf und schlug dem geliebten Herrn eine tiefe Kratzwunde. Henrys GefZihrtin

Maud, obgleich nicht unmittelbar betroffen, eilte ihm fauchend zu Hilfe. Louis'

nackte Füße waren arg zerschunden, bevor die Tiere sich endlich beruhigten. Aus

mehreren Wunden blutend - und lautstark fluchend - setzte sich Louis zurück in

seine Matte. Sein Zorn war durch die Aufsässigkeit seiner ansonsten lammfrom-

men Haustiere nur noch weiter angewachsen. Alle Kreaturen von Vailima wende-

ten sich gegen ihn!

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Fanny, insgeheim durch den Anblick eines kopflos hin und her springenden

Louis belustigt, hatte sich davor gehütet, ihn durch Lachen zttreizen. Sie wußte,

daß sie in ihrer Rede bereits den äußersten Punkt der Herausforderung erreicht

hatte; dabei wollte sie es bewenden lassen. Die Lage war angespannt genug, auch

ohne einen Heiterkeitsausbruch ihrerseits.

Doch Louis'nächste Worte zeigten Fanny, daß sie in ihrem Unmut ltingst zu

weit gegen ihn vorgeprescht war.

,,Misifolo hat mich hintergangen, obwohl er stets auf meinen wohlgemeinten

Rat bauen durfle", flüsterte Louis tonlos. ,,Ich herrsche nicht über ihn noch über

irgend jemanden sonst. Wer das behauptet, lügt. Niemals habe ich mir angemaßt,

den Samoanern befehlen zu dtirfen. Doch sie haben mich beleidigt, indem sie mir

einen Gefallen versprachen und ihn nicht einzulösen beabsichtigen." Louis mach-

te eine Pause und fügte dann hinzu: ,,Du kennst den Sinnspruch, welcher an der

Festung meiner Geburtsstadt in Stein gemeißelt zu lesen steht. Er heißt Nemo me

impune lacessit. Niemand fordert mich ungestraft heraus. Nun, was für meine

Landsleute in Schottland gilt, wende ich auch auf meine Landsleute auf Samoa an.

Du sagst, Fanny, daß Misifolo der bessere Baumeister sei, ein Mann, der architek-

tonische Wunderwerke aus Luft zaubern könne."

Wieder hielt Louis inne, und diesmal ahnte Fanny Furchtbares. Da sich Louis

vor dem heutigen Tage nie dermaßen unvernünftig verhalten hatte, vermochte sie

seine wilden Eskapaden nicht einmal mehr andeutungsweise vorherzusehen.

,,Misifolo und seine Freunde müssen ihr Talent unverzüglich unter Beweis stel-

len. Oder ich werde die Flasche öf[nen."

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,,O tr T,tp,c.',tu i le Lagi, o mächtiger Gott im Himmel! Deine treuen Diener sagen

dir an diesem wunderbaren Morgen Dank für deine übergroße Güte! Lasse auch

weiterhin deine Sonne gnädig auf uns Unwürdige herabscheinen und gib den gu-

ten Männern dieser Insel deinen Segen, die im Schweiße ihres Angesichts dir zu

Ehren die prachtvolle Straße erbauen! Mögest du ihnen stets Mut machen bei ih-rem Unternehmen, mögest du sie anspomen und ihre Begeisterung nie versiegen

lassen auf ihran langen, mühsanen, entbebnrngsreichen Weg, auf daß sie ihreglorreiche Tat im Glar:ze deines Wohlwollens vollenden können! Gib ihnen dieKraft, o Herr, den Urwald zu besiegen und ein Land zu schaffen, welches deinemgöttlichen Auge wohlgef?illig ist. Lavea'i ia imatou ai le leaga: Erlöse uns vomBösen. Amene!"

,,Amene! Amene!" schallte es aus zwei Dutzend Kehlen zurück.ru Louis, dermit dem Dankgebet seinen morgendlichen Gottesdienst beendette. Nun, da dielangersehnte Straße endlich im Bau befindlich war, hielt er emeut die täglichenAndachten ab, die er so lange Zeit vernachlässigt hatte. Die samoanische Diener-

schaft zeigte sich begeistert vom Wiederaufleben des liebgewonnenen Rituals undbegleitete mit Feuereifer jedes Lied und jede Hymne. Wenn sie den jeweiligen

Text nicht kannten, summten sie die Melodie laut mit und wiegten sich zu ihr invollkommen harmonischem Rhythmus. Man durfte sogar so weit gehen zu be-haupten, daß Louis und seine Klan-Gemeinde den Gottesdienst nie zuvor so in-brünstig zelebriert hatten. Louis für sein Teil jedenfalls sprach die Dankgebete

nun mit aufüchtiger Rührung: Das tägliche Brot zu erhalten, war auf Upolu wahr-

lich nicht besonders schwierig; daß ihm durch höchste Vermittlung nun aber dochnoch die begehrte Straße zuteil werden sollte, machte Louis über alle Maßen glück-

lich. Seit dem Beginn des Straßenbaus gab er sich stets aufgekratzt wie ein Kind,und sein eigenes Projekt der Flußumleitung, welches er persönlich gleichzeitig

durchführte, brachte das Faß seiner Zufriedenheit mit sich und der Welt fast zum

Überfließen.

Fanny war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, daß sie sowohl den Vorfallmit Misifolo als auch den Tatbestand der Erpressung, welcher den Straßenbau erst

ermöglichte, anfangs ein wenig überbewertet hatte. Ihr Standpunkt war naturge-

mäß der einer Weißen; demnach bemaß sie die Gefühle und die Denkweise der

Samoaner wie eine Weiße - und verstand im Grunde gar nichts. Das Schlimme,

das Louis angerichtet hatte, schien sich von ganz allein in Wohlgefallen aufgelöst

zu haben: Misifolo war schließlich noch immer Häuptling seines Dorfes, derVater

der neuen Tapo schwächte seinen Einfluß nicht, und Misiluenga hatte man miteinem wohlgestalten, über sechs Fuß großen Krieger verheiratet, der bei nächster

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blutiger Gelegenheit den König sicher mit zahlreichen erbeuteten Feindesköpfen

orfreuen würde. Nach allem, was Fanny zu Ohren gekommen war, sah er Lloyd

nicht im mindesten ähnlich.

Was nun die vermeintliche Zwangsarbeit betraf, welche die Häuptlinge zum

Zwecke des Staßenbaus zu leisten hatten, so waren Fanny auch hier große Zwei-

tbl an ihrer urspränglichen Einschätzung der Lage gekommen. Sowohl Louis als

auch Fanny selbst hatten das lange ,,Zatdem" der Anhänger Mataafas ganz falsch

ausgelegt - als verbrämte Weigerung nämlich. Offenbar hatte Louis durch seinen

Wink mit der Flasche offene Türen eingerannt, eine Drohung ausgestoßen, die

oich im Endeffekt als völlig überflüssig erwies ... Ihrem eigenen Bekunden ge-

mliß hatten die Häuptlinge nämlich ltingst sämtliche Vorbereitungen zum StralJen-

bau getroffen, um Tusitala damit zu überraschen. Tatsächlich gestaltete sich jener

Tag, an welchem Louis mit Mataafas Leuten ansarnmen den Beginn des großen

Unternehmens feierte und ihnen die nötigenAnweisungen gab, überaus angenehm,

trählich und vielversprechend. Fanny, die zuerst nur widerstrebend zu dem Fest

mitgegangen war, vermeinte schnell zu erkennen, daß sämtliche Beteiligten gute

Miene machten und sogar ein wenig Vorfreude zeigfen. Die Tapos aller Häuptlin-

ge waren anwesend und kredenzten wie üblich Kava-Bier, Auf einer größeren

Lichtung, dem letzten freien, sonnenbeschienenen Ort nahe dem dichten Dschun-

gel, welcher vom nächsten Tage an den Arbeitsplatz der Würdentäger darstellen

sollte, erfreute man sich an einem üppigen Picknick. Alle waren guter Dinge.

Nur ein einzigerunangenehmer Gedanke ging Fanny an jenem Tage wiederholt

durch den Kopf: Ebenso ausgelassen lachten und Eanken die Männer und Tapos

gewöhnlich auf dem Scblachtfeld, unmittelbar bevor sie dernselben Tischnach-

barn, der so nett mit ihnen gescherzt hatte, im Kampf den Kopf abschlugen.

Die schlimmen Bedenken aber, die Fanny nach Louis'trotziger Missetat ge-

hegt hatte, schienen mir nichts, dir nichts jegliche Grundlage verloren zu haben.

Sowie Lloyd die Kunde von Misiluengas Vermählung vernahm, hörte er auf, mit

gesenktem Kopf durch die Gegend zu schleichen, und wirkte bald wieder recht

ausgeglichen - wenn er auch seine Expeditionen zu den Behausungen der Insel-

schönen seither unterließ. Und da nun sogar die Häuptlinge sich nicht mehr ,,süäub-

ten" - falls sie das jemalswirklich getan hatten, hieß das -, gedachte Fanny Louis

seine Freude nicht durch weitere Vorhaltungen zu verderben. Vielleicht nahm sie

in der Tat alles um sie herum zu ernst; vielleicht war sieja eine verbissene

F-römmlerin ... Jedenfalls hatte sie nach zwei endlos langen Tagen beiderseitigen

Schweigens und Einander-aus-dem-Weg-Gehens eingelenkt und die furchtbare

Stille zwischen den Eheleuten gebrochen. Louis, unendlich dankbar für das Frie-

densangebot, überschüttete Fanny formlich mit Aufrnerksamkeiten und las ihr je-

den Wunsch von denAugen ab. Nur eine Entschuldigung brachte er diesmal nicht

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heraus, obwohl er sonst nicht zu jenen Menschen zählte, die, für alle Argumente

taub, rechthaberisch auf einer einmal gefaßten Meinung beharrten. Der Straf3en-

bau und alles, was mit ihm zusammenhing, verblendete Louis in nie erlebtem

Ausmaß. Fanny hoffie nun, daß seine Besessenheit sich legen würde, sobald die

vermaledeite Straße erst fertig wäre.

Seit dem Tag der fröhlichen Feier, die in Europa mit einer Grundsteinlegung

oder einem ersten Spatenstich einhergegangen wäre, hatte Louis sich noch nicht

wieder bei den Häuptlingen blicken lassen. Eine ausgeprägte Scheu hielt ihn da-

von ab, zu ihnen zu reiten und sie auf diese Weise einer Behandlung zu unterzie-

hen, die man nur zu leicht als Beaufsichtigung hätte auslegen können. Das hieß

jedoch durchaus nicht, daß ihn die brennende Neugierde nicht lichterloh verzehr-

te. Louis sandte täglich Boten aus, die ihm vom Voranrücken der gegen den Ur-

wald zu Felde ziehenden Häuptlinge bbrichten mußten. Er wählte hierzu seine

unauff?illigsten, geschicktesten Spione aus, denn er wollte unbedingt den-Eindruck

vermeiden, daß Mataafas Männer bespitzelt wurden ... obgleich geriau das der

Fall war.

,,Die erste Woche ist sehr gut verlaufen", meinte er eines Mittags im Kreise der

Familie, ,,Um ganz ehrlich zu sein, hatte ich befürchtet, es könnte sich eine 2ihnli-

che Begebenheit abspielen wie vor fünf Jahren, als wir den Kern von Vailima

rodeten. Ihr wißt schon - der Mann mit den zwei Köpfen."

Isobel erschauerte. ,,Uuuuh. Erinnere uns bitte nicht daran. Das war sogar für

uns Weiße eine recht gruselige Geschichte."

,,Allerdings", pflichtete Lloyd seiner Schwester bei. ,,Ich glaube, wenn in den

ersten Tagen des Straßenbaus eine Sache wie damals passiert wäre, hätten wir das

gesamte Unterfangen vergessen können. Ein solch grausiges Omen wtirde bestimmt

der stärkste und tapferste Häuptling nicht aushalten."

,,Das meine ich auch", bestätigte Louis. ,,Deshalb bin ich so froh, daß der Be-

ginn der Arbeiten ereignislos vonstatten gegangen ist. Jemand wie unser guter

Ulupoolua, der Zweikopfrnann, hätte zweifellos alle Männer in die Flucht ge-

schlagen."

Fanny erinnerte sich gut an die Episode, auf die Louis anspielte. Als der Klan

Vailima gerade erworben und das Land noch ausschließlich aus dichtestem Dschun-

gel bestanden hatte, waren sie alle in den Urwald aufgebrochen, um mit einigen

wenigen Samoanern zusammen einen P1atz für das zukänftige Haus zu bestim-

men und die gröbsten Vorbereitungen zur Urbarmachung zu treffen. Die samoani-

schenBoys droschen aus L,eibeshäften aufGiftstauden, Lianenund Bodenkriecher

ein, die so eng miteinander verflochten und verwachsen waren, daß sie eher an die

verrottende Takelage eines Geisterschiffes gemahnten als an lebende Pflanzen.

Plötzlich stieß einer der Boys einen hohen, spitzen Schrei aus. Alle drängten in

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seine Richtung, und augenblicklich bildeten die restlichen Samoaner mit ihrem

unseligen Vordermann einen lauten Chor zu Tode entsetzter Gemüter. Louis kam

und sah sich an, was die Boys erschreckt hatte. Es handelte sich in der Tat um

cinen interessanten Fund: ein vollständig erhaltenes Skelett, welches einen weite-

ren Schädel unter dem Arm trug! Während die Samoaner noch immer schlotterten

und Isobel sich ins Gebüsch hinein übergab, fand Louis die einfache Erkl?irung für

das Phänomen. Das Gerippe mußte seit ungef?ihr einem Jalr an jener Stelle gele-

gen haben, einer Zeit, als auf der gesamten Insel ein blutiger Krieg um die Königs-

würde getobt hatte. Ein Krieger hatte offenkundig einen Feindeskopf erbeutet,

doch gleichzeitig schwere Verwundungen aus der Schlacht davongetragen. Bevor

or die schöne Trophäe voller Stolz seinem Feldherrn präsentieren konnte, ereilte

ihn das unabwendbare Schicksal mitten im Dschungel. Ermattet durch Blutverlust

und Schmerz hatte der Krieger sich hier niedergelegt, um nie wieder aufzustehen.

Den Kopf seines Feindes fest an den eigenen Leib gepreßt, war der Mann just an

dieser Stelle seinen Verletzungen erlegen, und er verfaulte hier mit dem Feind

,usammen - im Tode mit ihm vereint wie das berühmte Zwillingspaar Chang und

tsng in Siam ... nuei Köpfe, zwei Wesen, die sich einen Leib teilten.

Louis hatte vorgeschlagen, beide Menschen, das vollständige Gerippe und den

Kopfdes Feindes, gemeinsam unter einem riesigen Baum zu begraben, aufchrist-

liche Weise. So geschah es auch. Fär den Fall, daß es sich bei einem von ihnen -oder womöglich bei beiden - um einen Häuptling gehandelt hatte, erlaubte Louis

den Boys, Salutschüsse in Richtung Himmel abzufeuern. Den Himmel selbst konnte

man von unten nicht sehen.

Durch Tusitalas Erkltirung und das anschließende Begräbnis beschwichtigt,

f'uhren die samoanischen Boys mit derRodungsarbeit fort, ohne zu murren. Isobel

ging es ebenfalls bald besser. Damals war sie noch ein blutiger Neuling in der

Südsee gewesen, trotz ihrer Reisen von Archipel zu Archipel. Es bedeutete nun

cinmal etwas grundsätzlich anderes, sich vollends auf einer Insel niederzulassen.

lirst nach Jahren wurde man mit dem Leben auf einem Pazifikeiland vertraut ge-

nug, um sagen an dürfen: Ich liebe es ... oder aber: Ich hasse es.

Fanny besam sich noch gut auf den einzigen Ausspruch, den Lloyd damals

getan hatte. ,lwei Wesen, ein Körper - kurios, nicht wahr? Louis, du könntest Mr.

I lyde den Kopf von Dr. Jekyll das nächste Mal unterm Arm tragen lassen. Das hat

was."

Nun, darüber konnte man geteilter Meinung sein. Jedenfalls hatte sich beim

Straßenbau bisher kein PhZinomen wie der Zweikopfrnann gezeigt, und Fanny hofte

inständig, das Unterfangen möge ungestört und recht bald zu einem glücklichen

llnde kommen. Ein halbes Jahr würden die Häuptlinge mitsamt der handverlesenen'l'ruppe ihrer Würdenträger und hochrangigen Krieger schon benötigen, um die

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enonne Sfrecke zu bewältigen - doch nun, da sie sich erst einmal ans Werk bege-

ben hatten, war Louis sofort viel ausgeglichener und bereit, die große Stunde der

endgültigen Fertigstellung mit so etwas wie Geduld abzuwarten. Die Distanz,

welche die Dorfoberhäupter im Laufe der nächsten Monate rodenderweise zu-rückzulegen hatten, betnrg nicht nur etliche Meilen; der Weg hielt auch die hart-

näckigsten Hindernisse für die Männer bereit, die man sich vorstellen konnte.

Abgesehen davon, daß die geplante StrafJe nach Vailima steil und kerzengerade

ins Gebirge hinaufführen sollte, ohne Serpentinen, ohne Umgehungen angesichts

der gewaltigsten Barrieren, mußten die Häuptlinge es auch mit dem allgegenwär-tigen Schlamm aufnehmen. Schon nach jedem tropischen Regenguß erschwerte

die matschige, schlüpfrige Erde das Gehen ganz erheblich, doch wäihrend der ei-gentlichen Monsunzeit, die immerhin ein halbes Jahr währte, gestaltete sich die

Fortbewegung für Mensch und Tier beinahe unmöglich. Die heftigen und langanhal-

tenden Regenfülle von November bis April würden, so schätzte Fary-ry, den kör-perlich ungeübten Samoanem allein dadurch die letzten Kräfte abverlangen, daß

sie sich gegen die von Vailima herabjagenden Wassermassen stemmen mußten,

um nicht den Berg hinuntergespült zu werden. Nicht wenige Gäste hatten bisher

schon zwei bis drei Tage Quartier auf Vailimabezogen, einzig weil die Betreffen-

den bei Regen nicht in der Lage waren, uaversehrt den steilen Berg hinabzu-gelangen.

In Anbetracht dieses unwillkommenen Überangebotes an Stißwasser in einem

Landstrich, der ohnehin mit Flüssen und Wasserfällen reichlichst gesegnet war,hielt Fanny Louis' Flußumleitungsprojekt für ausgemachten Unsinn, An ihrerMeinung hielt sie nach wie vor fest, wenn sie nun auch akzeptierte, daß Louisnicht von seinem verrückten Vorhaben lassen wollte. An jenem Tage nämlich, als

Louis mit dem Papierschiffchen gespielt und ihr angektindigt hatte, er werde den

vier Strömen ihres Fünfstromlandes neue Bahnen und andere Richtungen verlei-hen, hatte er seinen Plan mit der bisher unzureichenden Bewässerung der Planta-

gen begrtindet - und das war schlicht der reine Unfug. Sogar hier oben im Gebirge

gab es Grundwasser in Hülle und Fülle ... und zumeist weit mehr Regen, als der

seelisch robusteste Mensch zu ertragen imstande war, ohne dem Trübsinn anheim-

zufallen. Abgesehen davon hüllte ein ständiger feuchtwarmer Dunst die Gebirgs-

kämme ein, der so stickig und beklemmend massiv wirkte, daß man ihn mit dem

Buschmesser dwchtrennen zu können vermeinte. Leider war das ein lrrtum: Nichts

und niemand vermochte der immens hohen Luftfeuchtigkeit die Stirn zu bieten.

Trotzdem ließ es sich auf dem Berg erheblichbesser aushalten als drunten inApia,wo der Neuankömmling zu Schiff, noch durch frische Brisen verwöhnt, unmittel-bar nach Betreten des Festlandes plötzlich gegen eine kompakte Wand aus brütend-

heißer, dampfender Luft ankämpfte.

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Tatsächlich waren die Beschaffenheit der Luft und die häufigen Platzregen, diees der menschlichen Haut nicht erlaubten, jemals auch nu für einen Moment ganz

trocken zu werden, derAuslöser für Louis' Bestreben, die Eingeborenen vom Tra-gen ,,weißer" Kleidung abzuhalten. Während die meisten Weißen ihre abgelegten

Kleider an Samoaner zu verschenken pflegten, tat Louis im Gegenteil alles inseinen Kräften Stehende, um seine eigene alte Garderobe vor der Dienerschaft so

gründlich zu verstecken, daß auch die findigsten Schatzsucher die begehrten Stük-

ke nachträglich nicht mehr aufstöbern konnten. Er hatte sich zu diesem Zweckdarauf verlegt, die betreffenden Kleiderbündel heimlich im Urwald zu vergraben.

Da die samoanischen Diener Augen und Ohren stets überall hatten, gestalteten

sich die Versuche, alle Lumpen endgültig loszuwerden, als regelrechte Expeditio-

nen, bei denen die gesamte Familie zu Späh- undAblenkungsdiensten herangezo-

gen wurde. Kapittin Flint höchstpersönlich hätte nicht vorsichtiger beim Verber-

gen seiner Piratenbeute vorgehen können - doch die Samoaner betrachteten Lou-is' Kleidung als einen wertvollen Besitz, mit dem es Golddublonen und Edelsteine

nicht aufrrehmen konnten. Manchen Besucher Vailimas, den Louis'Bemähungendrollig und unverständlich anmuteten, kläirte der Gastgeber bereitwillig über den

Hintersinn seinerAktion auf: Wenn ein Samoaner die Kleidung der Weißen mit allden komplizierten Haken und Ösen, Bändern und Schaüren trug und damit in den

tropischen Sturzregen geiet,zog er die völlig durchnäßten Sachen anschließend

nicht aus. Für Samoaner war es anstrengend genug, sich am Morgen in die schö-

nen, aber unpraktischen Kleider nt nuängen. Die Stoffe klebten den ganzen Tag

uuf ihrer Haut, ohne zu trocknen, und geführdeten ihre Lungen - so zumindest

urgumentierte Louis. Während ein Lavalava schnell gewechselt war und nackte

Haut durch die ständige Hitze geschützt wurde, befiachtete Louis die Seidenhemden

und Kordhosen der Weißen als außerordentlich gesundheitsschädigend für Insula-

ner,

Das galt selbstverständlich nicht für die weißen Dinner-Jacketts, welche die

I lausboys zu feierlichen Anlässen über ihren Schottenröcken tragen sollten ...doch wenn Louis Stevenson ein Fest gab, hatte es schließlich auch nicht zlJreg-ncn!

Aber selbst der fast allmächtige Tusitala geriet ab und an in einen Regenschauer.

Obwohl sich Louis'Gesundheitszustand auf SamoavonAnbeginn an als geradezv

bcunruhigend stabil erwiesen hatte, hielten es sowohl Fanny als auch er für ange-

lrracht, beim Bau des großen Hauses zumindest vorsichtshalber seinem früheren

l,eiden - oder neuerdings genaugenommen seiner Krankheit aulSerhalb der Gren-

:un Upolus - Rechnung zu tragen. Während der riesige Ballsaal im Erdgeschoß

einen Auswuchs von Luxus und Prestigebedürfnis darstellte, wie beide Eheleute

vor Freunden bereitwillig zugaben, erfüllte der einzige steinerne Kamin auf Sa-

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moa eine wichtige Funktion des täglichen Lebens. Man benötigte ihn natürlich

nicht zumAufheizen der Räumlichkeiten, Gott bewahre; aber um ein Kleidungs-

sti,ick aus Samt oder Kord vor dem Verrotten zu schützen, ja um es überhaupt

halbwegs trocknen zu können, kam man ohne den berühmten Kamin nicht aus.

Denn Louis gedachte nicht, bei seinen täglichen Ausritten statt der bevorangten

braunen Kordhose womöglich ein Wickelgewand im Muster des Stuart-Klans zu

tragen...

Es gab tatsächlich weit mehr Wasser auf Vailima, als ein normaler Sterblicher

es sich erträumen oder gar wünschen würde. Süßwasser im Boden, in Rinnsalen,

Flüssen, Strömen und Kaskaden. Salzwasser auf menschlicher Haut, welches eben-

sowenig versiegen wollte wie der Ozean rund um die Insel. Es rann in eigenen

Kaskaden die Leiber herunter, von den Haarwurzeln über die Brauen, seitlich am

Hals herab, es sammelte sich in den Kuhlen zwischen Hals und Schlüsselbein, bis

der Staudamm endlich überfloß und das Wasser unbeirrt weiter seinen Lauf ver-

folgte. Louis hatte es sich also zur großen Aufgabe erkoren, das Bewässerungs-

system von Vailima umzugestalten, allem gesunden Menschenverstand zum Trotz.

Fanny sah ihn in seiner Paraderolle: Don Quijote, der in den aussichtslosen Kampf

gegen die Flügel einer Mühle auszog - nun zurAbwechslung gegen das Rad einer

Wassermtihle. Sein Begehren war ebenso überflüssig wie aberwitzig; allerdings

barg es nach Fannys Ermessen keine unmittelbaren Gefahren für Louis, und so

fügte sie sich in das Unvermeidliche. EinzigdenZeitpunkt für seinVorhaben hätte

Louis nicht ungünstiger auswählen können. Die Tatsache, daß das wäßrige Baupro-

jekt mit den für die große Straße notwendigen Rodungsarbeiten zusammenfiel,

hatte eine peinliche Verknappung von Werkzeugen aller Art zur Folge. Obgleich

nämlich die Häuptlinge vor dem Straßenbaufest beteuerten, sämtliche ,,Vorberei-

tungen" für die Urbarmachung abgeschlossen zu haben, um damit den Tusitala zu

überraschen, stellte sich nur zu bald heraus, daß die Samoaner Gerätschaften wie

Axte, Sägen oder Buschmesser nicht in besagte Vorbereitungen mit einbezogen

hatten ... Diese Unterlassung sagte Wesentliches über ihr Verhältnis zur Arbeit

aus. Sie hatten nicht nur übersehen, daß sie gewisser Hilfsmittel bedürfen würden;

außer einigen wenigen Kriegern, die vor Jahren ein Auslegerboot und ein

Versammlungs-Fale zusammengezimmert hatten, besaß die überwältigende Mehr-

heit der,,Freiwilligen" nur soviel Werkzeug, wie gemeinhin nötig war, um eine

Kokosnuß zu knacken!

Die Straße ging selbstverständlich vor, und Louis stellte den eifügen Ein-

geborenen einen Großteil seiner eigenenAusrüstung zurVerfügung. Um den Man-

gel auszugleichen, erwarben Louis und der Klan in Apia jedes Utensil, das auch

nur entfemt einem Werkzeug ähnlich sah oder als solches verwendet werden konnte.

Wie die Heuschrecken fielen er selbst, Fanny, Lloyd und Belle über alle Kramlä-

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den her, die um das Halbrund des Hafenbeckens verteilt waren; nach der Heimsu-

ohung gab es im ganzen Örtchen nichts Niet- und Nagelfestes mehr zu kaufen. Amliebsten, so vermutete Fanny im stillen, hätte Louis wohl auch noch das vorAnkerliegende Postschiffgeentert und bis auf das letzte brauchbare Hilfsmittel ausge-

plündert.

Manchmal dachte Fanny bei sich, ob es nicht vielleicht angebrachter gewesen

wtire, wenn Louis sich doch noch zum Bau eines Leuchtturms entschlossen hätte.

Zwar wäre auch das eine überflüssige Untemehmung gewesen, doch wenigstens

keine ganz und gar widersinnige. Außerdem entsprach die Errichtung von Leucht-

türmen der wahren Stevenson-Tradition - im Gegensatz zu den Spielereien, die

l,ouis sich in den Kopf gesetzt hatte und angesichts derer Großvater Robert sicher

nur entrlistet die Nase gerümpft hätte. Mit einem Lächeln besann sich Fanny aufden Artikel, den Lloyd ihr erst gestern aus dem Missionarsblättchen vorgelesen

hatte. InApia existierten zwei winzige Zeitungsverlage, die alles abdruckten, was

nuf den Inseln geschah, alle Trivialitäten, welche die Einwohner von Upolu be-

wegten. Das Presseorgan der katholischen Missionare, eine geradezu anrtihrend

einfache Gazette, bestand in sprachlicher Hinsicht aus einem kunterbunten Durch-

cinander englischer, deutscher, französischer und samoanischer Texte. Das feierli-che Hochsamoanisch wurde ausschließlich zu religiösen oder wichtigen politi-schen Anlässen verwendet, und die Missionare hatten es nattirlich in Windeseile

crlernt, um stets das angemessene Vehikel für ihre frohe Botschaft zur Verfügung

zu haben. Einer der Missionare, ein guter Freund des Klans und Bewunderer des

von Louis praktizierten Christentums, schrieb in dem Blättchen von den Empfin-rlungen, die ihn nach einem mehrmonatigen Besuch auf den Gesellschafts-Inseln

hei seiner Rückkehr nach Upolu übermannt hatten. Zwar war er Franzose, doch

nannte er genau wie zahlreiche Briten den samoanischen Archipel nur die

,.Navigatorinseln". Nun, wie ein guter Navigator hatte dieser weiße Mann den

Weg zurück in seine neue Heimat gefunden, die er nach rund 20 hier verbrachten

,hhren über alles liebte und nie wieder für längere Zeit nt verlassen gedachte.

llber Geschmack ließ sich bekanntlich streiten, fand Fanny, die den guten Mann

irn übrigen charakterlich sehr schätzte. Das reizende Komplimeng welches er der

l;amilie in seinem Artikel verehrt hatte, nahm Fanny vollends für den Pater ein.

l'öre Blanvalet ging auf die Angewohnheit des Klans ein, zu nächtlicher Stunde

l'ctroleumlampen in s?imtliche Fenster des Herrenhauses zu stellen. Der gutmüti-gc Schelm wußte sicherlich, daß dies vor allen Dingen geschah, um die Dienstbo-

lcn davon zu überzzugen, daß Vailima und insbesondere das Haupthaus ,,dlimonen-

lrci" waren . . . in seinem Aufsatz jedoch verglich er das Haus, welches als einzi-

Hcs vom offenen Meer her sichtbar war, ausdrücklich mit einem Leuchthrrm. Got-

tcsfi.irchtige Leute, so schrieb er, wachten hier über ihre Mitmenschen und stellten

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für ihr Wohlergehen Lichter in die Fenster, als Leitstern und Willkommensgruß an

Heimkehrer in dunkler Nacht.

Nattirlich wußte der Pater von Louis'Vorfatren - war ihm doch das segensreiche

Vergnügen zuteil geworden, direkt aus dem Munde des Herrn vonVailima zahlrei-

che Geschichten, ja Legenden nt empfangen, welche sich um die Stevensonsche

Sippe rankten. Pöre Blanvalet flocht nun in seiner bescheidenen Schrift das Ge-

hörte zu einer eigenttimlichen Heilsbotschaft, indem er Vailima zu einem Mittel-punkt stratrlenderNächstenliebe hochstilisierte. Das Kuriosum an der Sache lag indem Umstand begründet, daß der Pater das samoanische Wort für Leuchtturm

benutzte - welches in den Köpfen der Einheimischen einen konkreten Platz ein-

nahm, obwohl es weder auf Upolu noch auf den anderen Inseln ein solches Ge-

bäude gab!Allerdings kannten die InsulanerAbbildungen. In derVitrine des Kram-

ladens hatte einst ein kitschiges Ölgemälde an fast derselben Stelle gehangen, an

welcher nun bereits seit Monaten die ,,Caledonia" in ihrem gläsernen Gefängnis

vor Anker lag. Außerdem waren mehr als einmal Darstellungen von Leuchttär-

men in der Missionarszeitung abgedruckt worden, Fotogtafien wie auch Radie-

rungen und Kupferstiche. So hatte sich sogar ohne dessen ,,körperliche" Anwe-senheit derName für das Phänomen eingebürgert. Fale malamalamahieß ein sol-

ches Gebäude, das auch in finsterer Nacht die Umgebung freundlich beleuchtete

und eine Oase des Friedens bildete. Als einfale malamalama, ein,gaus der Er-

leuchtung", galt mithin auch das Herrenhaus des Tusitala ... und war es da etwa

ein Wunder, war es nur im geringsten erstaunlich, daß malamalama gleichzeitigdas eingeborene Wort für den Begriff der weißen ,,Zivilisation" darstellte?

Das liebenswürdige Kompliment des französischen Paters war zweifellos ernst

gemeint und gewann dadurch noch an Wert. Es verstand sich von selbst, daß Louisheimlich beinah vor Stolz zerplatzt wäre, als er den Artikel des Freundes las. Ineinem gewissen Grade hatte er das Lob des Missionars auch durchaus verdient,

wie Fanny meinte: Öfter als einmal hatte Louis seine Reputation und sein gesam-

tes Vermögen aufs Spiel gesetzt, als er einfache Menschen verteidigte und im sel-

benZuge die offrzielle Institution der Kirche unverhohlen anprangerte. Da gab es

beispielsweise den verstorbenen Father Damien, für den sich Louis seinerzeit so

vehement und kompromißlos eingesetzt hatte, daß sich die Angelegenheit in Groß-

britannien wie auch in der Südsee zum regelrechten,,Fall Damien" ausweitete.

Louis hatte Father Damien nie persönlich kennengelemt; der katholische Geistli-che war zwei Monate vor seinem eigenen Eintreffen auf der Lepra-Insel Molokaiverstorben, an dem Ort, wo er lange Jatre aufopferungsvoll unter den verbannten

Kranken gelebt und gewirkt hatte. Es galt für jedermann als offenes Geheimnis,

daß der Pater ein schmutziger, bigotter, verlogener und jähzorniger Trunkenbold

gewesen war - ein durch und durch unmoralischer Zeitgenosse also, den seine

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Schäfchen jedoch mit vollem Recht liebten, respektierten und verehrten. Seino

Oroßzügigkeit und Gutherzigkeit den Leprakranken gegenüber ließenjede cha-

rakterliche Unzulänglictrkeit nichtig erscheinen, denn für sie tat er sein Leben

lang alles nur Menschenmögliche. Bei Louis, den derAufenthalt auf Molokai in-

nerlich zutiefst aufgewühlt hatte, bewirkte seine angeborene Zuneigung für mora-

lisch zerrissene Wesen ein übriges, den nie persönlich gekannten Mann inbrünstig

lieben zu lernen.

Dann plötzlich, acht Monate später, stieß Louis in einem Kirchenblatt in Syd-

ney auf eine üble Beschimpfungskanonade, die sich gegen den Toten richtete. Der

Geistliche, welcher Father Damiens Andenken in jenem Brevier auf die schänd-

lichste Weise besudelte, zogLouis' Zom auf sich - eine Wut, wie Fanny sie nie in

diesem Maße an Louis erlebt hatte, die sie selbst allerdings als gerechtfertigt er-

achtete und vorbehaltlos teilte. Louis ließ seinerseits in Sydney eine flammende

Verteidigungsrede veröffentlichen, ein Pamphlet, welches sich gleichzeitig derart

rasend gegen den Verleumder kehrte, daß Louis mit einem Beleidigungsprozeß

und - angesichts kirchlicher Macht - fest mit seinem eigenen finanziellen Ruin

rechnete. Auch im letzteren Falle hätte Louis sich der vollen Untersttitzung seitens

des Klans sicher sein dürfen. Die Beteuerungen aller Familienmitglieder, unum-

stößlich hinter ihm zu stehen, hatten feierlich geklungen wie sonst nur Treue-

gelöbnisse schottischerHochlandrecken des Mittelalters. Stolz undungebeugt ließ

derAnführer das Pamphlet alsdann in England drucken. Jener Reverend in Hono-

lulu, den Louis mit Billigung des Klans der Doppelmoral zieh, hieß übrigens - Dr.

Hyde...

Louis hatte also auf seine höchst eigenwillige Weise Licht in das Dunkel der

Südsee getragen und zusätzlich sogar die Art von ,,zivilisierter" Finsternis be-

kämpft, welche verbohrte Pfaffen vom Schlage eines Dr. Hyde sowohl unter den

beleseneren Eingeborenen als auch bei ihren weißen Landsleuten verbreiten woll-

ten. Nichts vermochte Louis'Verdienste in dieser Hinsicht zu schmälern. Das ?in-

derte leider nicht das gerinlste an der Tatsache, daß Louis'Projekte die Grenzen

des gesunden Menschenverstandes überschritten und weit hinter sich ließen, so-

bald sie sich auf die greifbare Umwelt ihres Schöpfers bezogen. An dem Tage, als

Louis' Schiffchen vom Stapel liefund den Wasserfall hinunterstärzte, hatte Fanny

unmißverständlich diese Meinung geäußert und Louis dabei nicht geschont. Nach-

dem sie nämlich seinen Plan vernommen hatte, die vier Flüsse von Vailima umzu-

leiten, war ihr das nackte Entsetzen in die Glieder gefalren. Nicht genug damit,

daß Louis ein solch gigantisches Vorhaben ins Auge faßte, das sicherlich die Land-

schaft ganz Vailimas in Mitleidenschaft ziehen würde: Diese einschneidenden

Veränderungen der Natur hatten doch überhaupt keinen Sinn oder Nutzen! Wenn

cin Bauer sein Land in wohlgeordnete Parzellen aufteilte, konnte er mit den Früchten

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seiner Bemühungen zumindest ein paar hungrige Mäuler stopfen. Es war viel-leicht manchmal traurig, sich unberührtes Land auf diese Weise untertan machen

zu müssen, doch der Zweck heiligte im Falle der Nahrungsbeschaffirng wohl alleMittel. Vailima aber brachte auch ohne Louis'neuerliches Eingreifen Nutzpflan-zen im Überfluß hervor - sogar seine geliebten ,,Thlee Castles"-Tabakstauden,

aus Amerika importiert, gediehen hier prächtig. Einige wenige Gewächse hatten

sich in der fruchtbaren Erde nicht behaupten können, was allerdings nicht am

Wassermangel lag, sondern an giftigem einheimischen Wurzelwerk.

Fanny hatte sich am Tage des ,,Stapellaufs" ins Gedächtnis gerufen, wie der

berühmte Großvater Robert über das willkürliche Verändem der natürlichen Land-

schaft zu denken pflegte. Während Robert, angeblich Louis'großes Vorbild inallen Belangen des Ingenieurwesens, unter keinen Umständen einen so haarsträu-

bend überflüssigen Eingriffan Erde, Wasser oder Vegetation vorgenommen hätte,

wollte Louis gerade durch ein unnützes Werk von gigantischendusmaßen seine

Befühigung als Baumeister unter Beweis stellen! Alle Stevenson-Ingenieure vorLouis dem Verstiegenen zeichneten sich dadurch aus, daß sie ihre wildesten Träu-me mit der konkreten Natur in harmonischen Einklang hatten bringen können. ImGegensatz zu anderen Architekten zerstörten sie nicht bereits vorhandene Schön-

heiten, nur um ihr privates Zeichen in der Welt zu hinterlassen. Die Stevensons

bauten niemals auf selbstverschuldeten Ruinen.

,,Ein Vorhaben wie das deine mag sich in Europa vemünftiger anhören als hier,

Louis", hatte Fanny zu ihrem Gatten gesagt, ,,und sicher erscheint es Europäern

auch eher bescheiden als extravagant. Trotzdem kommst du mir beinatr vor wieKublai Khan, der sich seinen wahnwitzigen Traum von einem monströsen

Vergnügungspalast erfüllen will. Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte:

Hier ist nicht Xanadu, und du bist zum Glück kein Mongolenfürst, Louis. Bleiblieber mit dem Klan in unserer bescheidenen Jurte und errichte weiter deine Spe-

zialität - einen besseren Baumeister von Luftschlössem gibt es nämlich auf der

ganzen weiten Welt nicht."Leider hatten Fannys Worte Louis nicht im mindesten beeindruckt. ,,Dann denk

doch an Roberts eigene Worte", fuhr sie fort, ,,daran, wie streng er seinen Vor-

mann ermahnte, als der einen nattirlichen Steinbruch auspländem wollte. Und er-

innere dich an Roberts oberstes Gebot: Verschandle die Insel nicht!"Während Fanny das sagte, hatte sie an Louis' eigenen Vergleich zwischen Inge-

nieur und Bildhauer zurückdenken müssen. Ein genialer Steinmetz salr bereits imunbehauenen Material das Ergebnis seiner Bemühungen gefangen und bearbeitete

seinen Werkstoff auf die angemessene Weise, um das Bild aus dem steinernen

Kerker zu befreien, welches er vor seinem inneren Auge erblickte. Ein wunder-

schönes, geradezu berauschendes Gleichnis dünkte Fanny das - sofem es sich bei

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besagtem Ingenieur zufüllig um einen Gott handelte. Ein Bildhauer, dem das sorg-

ftiltig und vorsichtig behandelte Sttick Fels kurz vor der Vollendung in hundert

Stticke auseinanderbrach, obwohl er es wie ein rohes Ei gehätschelt hatte, fiel

zumindest für den Augenblick der Verzweiflung anheim; doch dann suchte er sich

am Ende einen neuen Stein, um sein Bild doch noch ins Leben zu rufen. Was aber

wüLrde der Ingenieur Louis tun, falls die Verwandlung nicht seinem Ideal entsprach

oder einfach Ldäglich scheiterte? Er konnte sich bei etwaigem Nichtgefallen schwer-

lich eine neue Insel beschaffen, um damit zu experimentieren - denn er vermochte

.ja auf keiner anderen zu leben!

Fanny gelangte zu einer unangenehmen Schlußfolgerung, die sie vor Louis na-

türlich sorgsam zu verheimlichen gedachte: Ihr Gatte war kein echter Stevenson,

und seine Vorgehensweise widersprach der Stevensonschen Tradition aufdas hef-

tigste. Daß dies nur zum Teil seine Schuld war, änderte nichts an der grundlegen-

den Tatsache. Louis besaß zweifellos ein inneres Auge von ausgeprägter Klar-

sicht. Der Sternennebel aber, welcher seine beiden äußeren Augen inletzter Zeit

stäindig umflorte, hinderte ihn daran, die Umgebung so wahrzunehmen, wie sie

wirklich war. Trotz all seiner physikalischen Spielchen, seiner minutiösen Mes-

sungen und der wissenschaftlichenAkribie, mit denen er scheinbar zu Werke ging,

praktizierte er lediglich einen eigenwilligen Hokuspokus, der ihn selbst weit nach-

haltiger einlullte als die Menschen um ihn her. Alle Stevensons waren Phantasten

gewesen, das stimmte wohl; doch sie benutzten immerhin jenes Augenpaar aus

l.'leisch und Blut, das Gott ihnen nicht grundlos mit auf den Weg gegeben hatte.

Sie nahmen die Landschaft ihrer Heimat gebührend zur Kenntnis und ließen den

Eindruck, welchen sie von außen emphngen, mit dem Bild in ihrem Inneren ver-

schmelzen. Erst durch diese Mischung aber, die Auflösung aller Widersprüche

und Ungereimtheiten, konnten ihre Vorhaben zu den Meisterwerken heranreifen,

die den Klan so berühmt gemacht hatten. Louis dagegen war ... nun, in gewisser

Weise der erste Versager de.r Familie. Seine innere Vision hatte stets über seinen

llealitätssinn gesiegt, ihn gleichermaßen zu Don Quijote wie zum besten Roman-

cier seiner Zeit werden lassen. Jetzt, da er die übermächtige Gewalt dieser Vision

zum ersten Male in den Dienst der Stevensonschen Sache stellen wollte, wie er

uelbst glaubte, verblendete sie seinen Verstand völlig. Er besaß gar kein Auge

rnehr für die Natur der Insel und somit keinerlei Bezug zu ihr.

Man mußte Louis allerdings zugute halten, daß jeder einzelne seinerVorfahren

ihm gegenüber einen unschätzbaren Vorteil genossen hatte. Wann immer Robert

oder seine Söhne Thomas und David Bild undAbbild in Einklang zu bringen hat-

tcn, handelte es sich bei beiden Faktoren um schottisches Land - der Zwiespalt

zwischen Traum und Wirklichkeit erwies sich also als verhältnismäßig gering,

Steile Klippen, Heidekraut und Torfrnoor existierten in beiden Welten; einzig der

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zu errichtende Leuchtturm oder Hafen spielte in der Vorstellung eine verdndernde

Rolle. Daß Louis das schottische Hochland vor dem inneren Auge sah, stand fel-

senfest ... nun wollte er Schoftland wieder in natura betrachten können, statt die-

ses eklen samoanischen Hochgebirges, welches nur erschaffen worden war, um

seiner Vision im Wege zu stehen! Und erbaut hatte es derselbe unbarmherzige

Gott, der Louis vom Lebensstrom der Stevensons abgeschnitten und in einer ge-

waltigen Flutwelle auf dieses Eiland gespült hatte, unrettbar weit fort von datreim.

War es da etwa nicht nur recht und billig, dem,,großen Ingenieur", wie Louis ihn

manchmal halb scherzhaft nannte, nttrotzenund den eigenen Lebensfluß wieder

in freundlichere Bahnen zu lenken? Nein, Louis sah nicht Samoa, wenn er rodete

und baute: Er übersah es im Gegenteil geflissentlich. Er würde solange die Augen

vor dem Land verschließen, bis er auch im hellwachen Zustande endlich Schott-

land um sich her erkennen konnte. Erst dann sollte der langersehnte Einklang zu-

stande kommen, und auf die Zeit der Zerrissenheit durfte endlictr das Paradies

folgen. Ein wahres Südsee-Schottland ... ohne Samoa darin.

Nun, wenn Louis sich dann tatsächlich wieder besser fühlen und mit seinen

vier Romanfragmenten bis zum Ende fortfahren könnte, war Fanny durchaus ge-

willt, den Preis dafür nt akzeptieren. Upolu war eine große Insel, Vailima nur ein

relativ kleines Stück davon - was konnte es schon schaden, ein paar weitere Lich-tungen zu schlagen, die bald sowieso von neuem überwuchert wären, einen oder

zwei Flüsse umzuleiten, die sich schon kurz darauf wieder ihre eigene Bahn su-

chen würden? Wenn Fanny ganz ehdich sich selbst gegenüber war, mußte sie zu-

geben, daß das Herzsttick von Vailima innerhalb des Zaunes ihr weit mehr'zusagte

als die ursprüngliche samoanische Landschaft ringsumher. Der streichholzkttze

Rasen beruhigte Nerven und Gemüt, und der von Fanny persönlich angelegte

Gemüsegarten stellte im Grunde schließlich auch nichts anderes dar als ihr priva-

tes Sttick Heimat in der Fremde, ein Ort, an dem Besseres wuchs als die verhaßten

Brotfrüchte und Yamwurzeln !

Wenn alles weiterhin reibungslos verlief, würde die Straße in absehbarer Zeit

fertig sein, und Louis durfte sich seiner eigentlichen Aufgabe erneut mit voller

Hingabe widmen. Fanny war froh darüber, daß die Häuptlinge sich letztendlich

doch noch zur Arbeit aufgerafft hatten, und verspürte das dringende Bedürfnis,

ihnen etwas Gutes anzutun - wie damals inApia, als der gesamte Klan demonstra-

tiv zum Gefringnis marschiert war, um die,,schmachtenden Gefangenen" dort mitBergen von wohlschmeckenden Lebensmitteln zu verwöhnen. Als Fanny ihrer

Tochter von dem Plan erzählte, die fleißigen Häuptlinge während der Arbeit mit

einem riesigen Korb voller ,,peasoup-u" zu überraschen, zeigte sich Isobel von

dieser Idee augenblicklich hellaufbegeistert. Sofort suchten die beiden in der Vor-

ratskammer alle Konservendosen zusammen, deren Inhalt man ohne Kochen ver-

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zehren konnte, denn es würde sich für dieArbeiter als schier unmöglich erweisen,

inmitten des dichten Dschungels eine ordentliche Kochstelle zu errichten: Derbeißende Qualm hatte dort kaum Gelegenheit, nach oben zu entweichen. Die mei-sten Büchsen enthielten gottlob Leckerbissen, die man vor dem Genuß nicht auf-wärmen mußte. Fanny und Belle stießen auf eingemachte Kirschen, Pflaumen undBirnen, die es hier auch ohne den köstlichen Sirup nicht gab, in welchem die Früchte

schwammen. Büchsen mit Comed Beef fanden die beiden Schatzsucher ebenfalls,

Truthahnpastete und Schweineschmalz, Leberwurst, Spargel und - Hering inTomatensauce! Fanny und ihre Tochter plünderten fast den gesamten Hort ku-linarischer Kostbarkeiten, indem sie sich lebhaft ausmalten, wie begeistert und

hemmungslos die ehrenwerten Würdenträger sich über all die exquisiten Lecke-

reien hermachen würden. Obwohl die Blechdosen schwer waren und die Befiirde-rung sie nicht wenig Anstrengung kosten wtirde, beschlossen die Frauen, die Büch-

sen ungeöffrtet und ihren Inhalt unangetastet zu lassen. Um wieviel größer müßte

die Wonne sein, welche die Eingeborenen beseelte, wenn sie sahen, daß alle mit-gebrachten Gaumenfreuden an Ort und Stelle eigens für sie aus ihren kleinen Ge-

lilngnissen befreit wurden! ,,Wir dürfen um Himmels willen den Dosenöffrrer nichtvergessen", beschworen die Frauen einander darum immer und immer wieder,während sie ihren Korb packten.

Obwohl Fanny und Isobel wußten, daß sie eine weiüe Strecke mit dem schwe-

ren Gepäckstäck zurückzulegen hatten, bevor sie von Vailima aus auf den Bau-

trupp stoßen konnten, beschlossen sie nach kurzer Erörterung der Lage, nur zu

zweit aufzubrechen. Sicherlich waren die eingeborenen Freizeitspione von Vailimalängst über ihr Vorhaben informiert, denn gar nichts blieb hier lange geheim; for-derte man sie jedoch zum Tragen aut mußten sie ihrenAnteil bekommen, und ein

Gutteil der Beute wäre schon vor derAnkunft auf der Baustelle verzehrt, womög-

lich halb verdaut. Über solch riesige Vorräte von peasoup-z verfügte der

Stevensonsche Haushalt nun auch nicht.

Wo genau sie auf die Häuptlinge und ihr Gefolge treffen würden, wußten weder

|anny noch Belle zu sagen, doch da nur ein einziger Weg den Berg hinunter exi-stierte, konnte man die Straßenbauer kaum verfehlen. In Apia schon begann dieStraße, die letztlich auch nach Vailima führte. An ihrem Anfang, über eine Strecke

von rund einer Meile, war sie sogar verhältnismäßig komfortabel für Fußgänger

und Reiter. Sobald man die wenigen Buden am Strand hinter sich gelassen hatte,

hcschrieb die Straße eine scharfe Rechtsbiegung und führte urplötzlich steil ins(iebirge hinauf. Im Prinzip schuf der Weg eine Art Brücke zwischen dem Nord-und Südstrand von Upolu und,,teilte" die Insel in zwei grobe Hälften. Nach an-

rlerthalb Meilen schroffen Anstiegs aber war es vorbei mit der Bequemlichkeit.

l)er sorgsam festgestampfte, angenehm weiträumige Verkehrsweg wich einer kur-

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zen Etappe Graslandes und verlor dann so abrupt an Breite, daß er kaum mehr als

Steig, geschweige denn als ,,Straße" zt identiftzieren war. Und trotzdem bildete

das armselige Sttickchen Trampelpfad, welches nach Vailima hinauffiihrte, noch eine

seitliche Abzweigung des ,,offiziellen" Weges - soaßagen eine private Sackgasse.

Am obersten, äußersten Ende des Sackes lag Tusitalas Garten mit dem Berg Vaea.

Um dieses letzte Wegstück also kreisten Louis'Gedanken, seit der KlanVailimaerworben hatte; es bildete den Mittelpunkt all seiner Wunschträume von Urbar-machung, seit Fanny ihren Gatten das letzte Mal von auswärts hatte heimholen

müssen. Es handelte sich um das wohl finsterste Urwaldgebiet, in das Samoaner

und Weiße überhaupt jemals einen Fuß setzten. Weiße wie Farbige kostete es Über-windung, sich durch die Dunkelheit des Dschungels hinaufzuarbeiten, doch das

Ziel am Ende, das Herrschaftshaus mit seinen Annehmlichkeiten, seinem Luxus

und seiner Freiheit, bot den nötigenAnspom für jeden Wandereq den heißersehn-

ten Ausgleich für erlittene Mühe und Angst. Nur durch die Düsternis gelangte

man zu den Sternen, so sagte man gemeinhin, und Vailima, die leuchtende Perle

inmitten der grünen Auster des samoanischen Waldes, war sicher das ideale Bei-spiel für diesen alten Sinnspruch.

Von solch einem vor Menschenblicken versteckten Juwel aber wollte Louisnichts wissen - ausgerechnet er, der die von ihm erschaffenen Charaktere mit feu-

riger Inbrunst nach verborgenen Schätzen suchen ließ. Der sagenhafte Goldhort inseiner Schatzinsel bezog seine magnetische Anziehungskraft schließlich einzig

aus dem Umstand, daß man Leib, Leben und Seelenheil daran setzen mußte, ihnzu erringen! Nichtsdestohotz strebte Louis danach, das Paradies Vailima von eben

jener Abgeschiedenheit zu befreien, die zu seinem Reiz beitrug. Wenn Louis inZukunft Hof hielt, gedachte er seine Besucher nicht länger in dem nahezu erbärm-

lichen Zustande zu empfangen, welcher für die Pilger von Vailima bisher typisch

war. Keuchend, schwitzend, manchmal fluchend erkämpften sie sich ihren Weg

zum Tor, in samtenen, seidenen Kleidern, die von herabhängenden Gewächsen

mit scharfen Zähnen halb zerfetzt worden waren. Louis war schließlich kein schla-

fendes Dornröschen, zu dessen durch Domenhecken verbarrikadiertem Schloß der

gewöhnliche Mensch keinen ZttÄtt fand! Jedermann sollte zumindest die Gele-

genheit erhalten, bis hinauf an die Pforten des Paradieses zu gelangen - ob er

vorgelassen wurde, bestimmte Louis.

In solcherlei Behachtungen vertieft, stapfte Fanny mit Tochter Isobel den Berg

hinunter. Manchmal schritt sie neben Belle, wobei die Frauen den riesigen Korbauf gleicher Höhe zwischen sich tragen konnten. Die meiste Zeit über jedoch warFanny gezwungen, vor Isobel herzulaufen, was sich äußerst anstrengend gestalte-

te. Fanny, die sich ohnehin bei jedem einzelnen Schritt gegen den steil abfallen-

den, schlammigen Boden stemmen mußte, hatte gleichzeitig den Korb von ihrem

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Körper wegzupressen, damit das sperrige Ding ihr nicht bei unpassender Gele-

genheit einen Hieb in die Kniekehlenversetzte und sieunweigerlichzu Fall brachte.

Isobel erging es nicht viel besser; auch sie mußte sorgsam jeden Fuß vor den ande-

ren setzen und obendrein daraufachten, daß sie den nötigen Abstand wahrte, um

ihre Mutter nicht am Ende noch mit dem Kort voller Leckereien zu Boden zu

stoßen. Es gab Angenehmeres, als unter einem regelrechten Berg vonpeqsoup-u

begraben zu liegen ... wenn auch so mancher Eingeborene dieser Theorie lebhaft

widersprochen hätte. Beide Frauen wünschten sich von Herzen, die Straßenbauer

bald anzutreffen, doch das schien unmöglich: Es handelte sich bei diesem er-

bärmlichen Streifchen Fußweg zwar um eine Sackgasse, aber um ein außer-

gewöhnlich langgezogenes Exemplar der Gathrng. Fanny und Belle würden noch

Meilen brauchen, bis sie endlich bei den fleißigenArbeitern angelangt wären, um

Speise und Trank zu verteilen.

Die beiden Frauen wechselten kaum ein Wort während ihres qualvollen Ab-

stiegs. Es war nicht allein der große Korb, dessen Gewicht Fanny bedräckte; schwe-

rer noch lastete heute die völlige Stille auf ihr, welche stets im undurchdringlichen

Dschungel herrschte. Das lückenlos ineinander verflochtene Blattwerk dämpfte

hier jedes Geräusch bis zur Grenze der Unkenntlichkeit - und es gab ohnehin

nicht viele Laute in diesem Gestrtipp. Nur sehr selten traf man auf ein Tier, wel-

ches den Namen verdiente; Insekten wimmelten in Hülle und Fülle auf dem Bo-

den umher, doch sie waren stumm und bewegten sich vollkommen leise. DasZir-

pen der sonst allgegenwärtigen Grillen hörte man im dichten Dschungel nicht.

Schwarze Eidechsen huschten kreuz und quer über Erde und Wurzeln und erstar-

ten zu lebenden Zweigen, wenn sich ein frerndes Lebewesen näherte. Die kunter-

bunten Papageienarten, die alle menschlichen Neuankömmlinge im Handumdre-

hen zu bezaubem wußten, lebten zwar auf Bäumen, aber an der Außenseite des

Urwaldes - in den Wipfeln, die zum Meer zeigten, dort, wo sie Sonnenlicht und

frische Luft genießen konnten. Nur eine einzige Säugetierart war, wenn auch sehr

selten, im Dschungel anzutreffen. Die Urahnen dieserVierbeiner hatten seinerzeit

weiße Siedler oder Seeleute aufdie Insel gebracht. Es handelte sich um verwilder-

te Hausschweine, die den Urwald im wahrsten Sinne des Wortes unsicher mach-

ten. Sie waren sowohl flink als auch durchaus geführliclr, intelligent wie europäische

Wildschweine und beweglicher als alle Inselpferde. Im Gegensatz an letzteren

zeigten die Schweine auch auf Urwaldboden, wie ein echter Galopp auszusehen

hatte. Es war derart mühsam, diese schmackhaften Tiere zu jagen, daß die trägen

Insulaner sich erst gar nicht zu der Anstrengung aufzuraffen vermochten, sosehr

ihnen auch beim Anblick der gutgenährten Schweine das Wasser im Munde zu-

sammenlief. Trafen sie auf eines, zuck ten sie unter größtem Bedauem die Achseln

und - gingen weiter ihrer Wege.

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Das Geschöpf aber, welches Fanny seit dem ersten Tage auf der lnsel immer

wieder am meisüen verurundert hatte, gehörte zu Samoas Vogelwelt - obwohl Fanny

hätte schwören mögen, daß auch die hier heimische Schleiereule aus England

importiert worden war. Die Eulen im tiefen Wald von Upolu glichen in Federkleid

und ,,Gesang" so genau ihren europiüschen Verwandten, daß sie sich unmöglich

unabh?ingig von ihnen hatten entwickeln können. Nur eine unheimliche Eigenart

gab es an ihnen zu bemerken, welche sie von den fernen Vettern abgrenzte, und

diese Eigenart unterstrich das Absonderliche ihres Lebensraumes hier im pazifr-

schen Reich. Die Schleiereulen im Dschungel von Samoa flogen bei Nacht und

bei Tage, immer quicklebendig, immer hellwach. Ihr Tag währte volle 24 Stunden

- während dieser Zeitspanne war es in ihrem Revier stockdunkel.

Außer dem gelegentlichen Schreien einer Schleiereule und dem Tappen der

eigenen Füße hörten Fanny und Belle auf ihrer Verpflegungsexpedition tatsäch-

lich kein Geräusch. Um so erstaunter waren beide, als sie unvermittelt;einen Laut

vernahmen, der eindeutig tierischer Herkunft zu sein schien, doch ganz und gar

nicht in den Dschungel passen wollte. Ein ohrenbetäubendes Tock-tock-tock zer-

riß plötzlich die Grabesstille vor ihnen, ein stakkatoschnelles Klopfen und Häm-

mern, dem nach etwa einer halben Minute wieder tiefes Schweigen folgte. Ein

Riesenspecht hier im Urwald von Upolu - ausgeschlossen!

Fanny und Isobel blieben unwillkürlich auf dem Pfad stehen und setzten den

Korb auf dem weichen Boden ab, wo er fastzureiZoll tief einsank. Verdutzt blick-

ten die Frauen sich an.

,,Was zum Kuckuck ist denn das?" fragte Isobel, nachdem das Hämmem wie-

der eingesetzt hatte. ,,Etwa ein Klopfgeist?"

,Binen KTopfdämon meinst du wohl, mein Kind." Fanny horchte angestrengt.

,,I(eine Ahnung, was das ist. Hinter der n?ichsten Biegung dürfte die Antwort liegen,

dem Höllenlärm nach zu urteilen. Eines steht fest: Die Häuptlinge sind es nicht."

,,Du hast recht. Diese Höhe lönnen sie noch nicht annZihemd erreicht haben,

trotz ihrer sprichwörtlichen Arbeitswut."

Isobels Außerung klang verächtlich, doch Fanny stimmte ihr notgedrungen bei:

Die Häuptlinge würden erst in mehreren Wochen bis hierher gelangt sein - falls

sie überhaupt so lange durchhielten, hieß das natürlich. Es nützte nichts, die Er-

kundung des absonderlichen Phänomens vor ihnen weiter hinauszuzögern; es lau-

erte leider auf dem einzigen begehbaren Weg.

Mit zögerlichen, behutsamen Schritten näherten sich die Frauen der Stelle, wo

der Pfad einen scharfen Knick zur linken Seite beschrieb. Den Korb ließen sie an

seinem Standort zurück, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Zuerst galt es, das

Unbekannte zu erforschen, denn was immer es war: Es konnte an diesern ft durch-

aus eine konkrete Gefatr bedeuten.

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Kaum hatte Fanny die Biegung umrundet, als sie auch schon von einem breiten

Lichtstreifen getroffen wurde, der sie augenblicklich blendete. Verwirrt blinzelte

sie und rieb sich dieAugen, wandte aber den Blick keinen Moment von der Quelleder stahlendenHelligkeit ab. Tränen flossen ihrüberdieWangen-so plötzlich hatüe

das gleißende Licht sie aus dem Hinterhalt angegriffen. Es kam von vom, aber auch

von oben, und obwohl Fanny versuchte, die Encheinung zu verstehen, gelang es ihr

nicht einmal, sich von der Stelle zu rähren. So hilflos mußte sich ein Reh fühlen,

welches in finsterer Nacht von der Blendlateme eines Wilderers angestahlt wr.rde!

,,Was ... was ist denn das?" flüsterte sie, nachdem sie endlich die Kontrolle

über Zunge und Glieder wiedererlangt hatte. ,,Kannst du es auch sehen, Belle?

Was mag das nur sein?"

Langsam gewöhnten sich Fannys Augen an die Helligkeit, die es hier im Her-

zen des Dschungels gar nicht geben durfte. Sie zog sich als ein viele Fuß breites

leuchtendes Band quer über den dunklen Pfad, aufdem sich die Frauen befanden,

und bildete eine Kreuzung aus reinem Licht mit ihm. Eine regelrechte Wqnd aus

Licht, die der finsteren Mauer aus Dschungelgestrüpp laotrte wie ein Ritter in

schimmernder Rüstung! Fannys Augen tränten nicht länger, doch ihr Verstand er-

schien ihr noch immer verschleiert. Sie glaubte nicht an übemattirliche Erschei-

nungen, hatte es nie getan. Dennoch - was sollte dieses Wunder wohl darstellen,

wenn nicht eine pfingstliche Vision?

Wie aus weiter Ferne erreichten Belles Worte ihr Ohr, ohne bis zu ihrem um-

florten Him durchdringen zu können.

,,So weit haben sie sich also tatsächlich schon vorangearbeitet! Das istja gera-

dezu unglaublich, Mutter, findest du nicht a.och? Zugegeben, sie halten die Ab-

stände nicht ein, die Louis mit ihaen abgesprochen hat. Die Straße ist kaum drei-

ßig Fuß breit, schätze ich, sichernicht sechzig Fuß wie amAusgangspunkt. Trotz-

dem ... hättest du ihnen das zugetraut, Mutter? Sag selbst!" Schweigen kehrte

kurz ein, dann folgte neuerliches aufgeregtes Geplapper. ,,Mutter? Mut|ert. Mut-

ler! "

Fanny erwachte erst aus ihrem tranceartigen Zustand, als Isobel sie mit beiden

Iländen kräftig schüttelte. ,,Was ...?" murmelte sie undeutlich, wZihrend sie sich

nach Kräften bemühte, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Das Licht aber blieb.

,,Mutter!" Isobel klang nun nicht mehr nur ungeduldig, sondern schlechter-

dings wütend. ,"tlörst du überhaupt, was ich sage? Ich hatte gehofft, deine Geistes-

verwimrng sei zum Stillstand gekornmen, aber im Augenblick wirkst du schwach-

sinniger auf mich denn je." Zomig stemmte Isobel die Arme in die Hüften. ,,Was

ist mit dem Korb? Holen wir das Essen oder nicht?"

,,Essen?" Fanny begriff nicht. Da vom, wenige Fuß vor ihlen, existierte eine

phantastische Wand aus Licht, und Isobel schien das Wunder nicht einmal zu be-

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merken! War sie denn völlig blind? Aber noch, so erkannte Fanny plötzlich beigenauerem Hinsehen, war das Stratrlengebilde nicht ganz vollendet. Breite schwarze

Streifen zogen sich in etwa drei Fuß Abstand voneinander in Längsrichtung an

dem Fenster hinab: riesige Gitterstäbe, die das einfallende Licht zwar schwächten,

es aber nicht wärden aufhalten können. Denn innerhalb des Lichts wurde, wieFanny nun deutlich vernahm, weiter an dem Bauwerk gearbeitet! Der Durchbruch

stand unmittelbar bevor; sobald das Gitterwerk fiel, mußte das Licht endgültig

den Sieg über die ewige Dunkelheit davontragen. Wie glücklich durften sich jene

preisen, die dort drinnen ein solches Werk verrichteten!

,,Mutter! Komm zurück zu mir!" Isobels Stimme übenclrlug sich, doch zurAb-wechslung nicht vor Wut. ,,Mutter, ich bitte dich, bleib bei mir! Verlaß mich nicht!"Fanny fühlte sich barsch herumgerissen und an beiden Schultern gepackt. Isobels

Finger gruben sich so tief in Fannys Fleisch, daß der Schmerz sie unwillktirlich auf-

heulen ließ. Dieser Laut schien Isobel aus irgendeinem Grunde noch'iitiirker zu ver-

ängstigen: Mehrmals schlug die Tochter Fanny mit der flachen Hand ins Gesicht.

Fanny stockte vor Überraschung derAtem. Sie hatte der Erscheinung den Rük-

ken zugewendet und schaute in dieAugen der Tochter. Langsam vertrieb der ver-

traute Anblick den Spuk in ihrem Hirn. Vor dem dunklen Hintergrund des Dschun-gels konnte sie das bleiche Oval von Belles Gesicht wieder deutlich erkennen.

Das gleißende Licht war aus ihrem Verstand gewichen.

Belle sah sie lange prüfend an und zeigte sich von dem Ergebnis der Unter-

suchung halbwegs beruhigt. Sie seufzte tief auf und lockerte zögernd ihren Griffum Fannys Oberarme.

,,Verzeih, Mutter. Für einenAugenblick hatte ich den Eindruck, dein Geist wol-le sich von dieser Welt verabschieden. Deine Krankheit ... du weißt ..." Belle

druckste eine Weile herum und sprach dann die Wahrheit aus. ,,Immerhin liegt es

bei uns in der Familie ..." Wieder stockte Isobels Redefluß.

Fanny nickte langsam. Es stimmte ja: Sie war nahe daran gewesen, ihren Ver-

stand zu verlieren - und obendrein aus heiterem Himmel. In der letzten Zeithattesie sich verhältnism2iSig ausgeglichen gefühlt, doch nun dies ... Die Angelegen-

heit machte ihr angst, und so versuchte sie, das furchtbare Thema mit einem Scherz

auf den Lippen wegzuwischen.

,,Du bist stark wie ein Schraubstock, meine Liebe, und entsprechend, nun ja,

nvingend scheinen mir deine Argumente." IJm ihre Bemerkung zu unterstreichen,

rieb sich Fanny die schmerzenden Arme. ,,Weder mein Verstand noch ich selbst

hegen aber die Absicht, die Welt voreilig zu verlassen. Und falls mein bißchen

Grips vormirdranglaubenmuß, dannversprichmir, daßichbeiMr. Tuim Soldaten-

zimmer wohnen darf. Wir zwei Dämonen leben dann gemütlich in den Tag hinein,

und sämtlicheArbeit bleibt an meiner Lieblingstochter hängen."

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,,Ach, Mutter, du bist völlig unmöglich." Die Erleichterung in Belles Stimme war

nicht zu überhören. Wie gut, daß Isobel nicht atrnte, wie verdächtig nahe Fanny tat-

sächlich für einen kurzen Moment an den schmalen Grat des lrrsinns herangetreten

war ... Sie hattewirklich geglaubt, direkt vor ihr, nur durch eine Reihe von Gitterstä-

ben von den Frauen getennt, seien nicht etwa die Häuptlinge bei derArbeit, sondern

geheimnisvolle ,,höhere Wesen", die das Gef?ingnis des Urwaldes endlich für das

Licht der Freiheit öftren wollten! Fanny glaubte weder an Dämonen noch an Engel

und wollte es auch fortan dabei belassen. Daß Louis ihr so oft aus seinen

Missionarsblättchen vorlas, wirkte sich möglicherweise gesundheitssch'ädigend aus.

,,Dann laß uns nunmehr zrr Tat schreiten und die Herren Häuptlinge festlich

bewirten. Auf, meine Liebe!" Fanny wollte sich zu dem Korb zurückbegeben, den

sie hinter sich aufdem Pfad abgestellt hatten, als Belle sichtlich zauderte.

,,Sie benehmen sich fast so merkwürdig wie du", meinte sie zur Erklärung, als

sie Fannys fragendem Blick begegnete. ,,Ich finde, wir sollten sie erst einmal be-

obachten. Unauffällig."

,,Wovon sprichst du bloß?" verlangte Fanny zu wissen.

,,Hörst du es denn nicht?" gab Belle zurück, und just in derselben Sekunde

setzte wieder der eigentümliche Klopfrhythmus ein, der den Frauen vor geraumer

'leit aufgefallen war.

,,So arbeitet doch kein normaler Mensch." Belles Stimme war zu einem Flü-

stern herabgesunken. ,,Schon gar kein gesunder Samoaner. Bei dieser rasenden

Ceschwindigkeit müssen sie sich füiher oder später den Tod holen. Samoaner be-

wegen sich sonst keinen Deut, und auf einmal schuften sie sich fast ins Grab!"

,,Hmmm." Fanny kehrte zu jener letzten Baumreihe zurück, an welcher die

l{äuptlinge sich gerade zu schaffen machten.

,uA.ber sei leise", wies sie die Tochter an, als sie sich verstohlen den Straßenbauern

näherten. ,,Laß uns nach links ausweichen und sie von der Seite aus beobachten.

l)ort ist der Wald dichter." Auch Fanny beschlich nun das Gefühl, es sei ange-

bracht, sich noch nicht zu erkennen zu geben - doch woher diese Ahnung stamm-

tc, konnte sie sich selbst nicht erklären.

Dicht nebeneinander kauerten sich die Frauen ins Dickicht. Von der Dunkelheit

rrus war es leicht, die Gestalten der Samoaner genau auszumachen, während die

lleobachterinnen in ihrem Versteck sich mühelos zu tarnen vermochten. Dies war

schließlich nicht der Wald von Fontainebleau, wo die blutjunge Belle sich stets

tlurch ihre blütenweißen Kleider verraten hatte, auf die sie auch als Spionin nicht

hatte verzichten wollen.

Und nicht einem einzigen der zahllosen samoanischen Häuptlinge und Krieger

liel es ein, die Arbeit zu unterbrechen und in der Umgebung umherzuspazieren.

Niemand stand träge am Rande; niemand saß auf der breiten Lichtung der neu

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geschaffenen Straße. Alle, alle waren sie unablässig am Werk - als seien sie von

der ungewohnten Plackerei schlichtweg besessen.

Fanny faßte sich mit beiden Händen an die Schläfen.

Belle schaute sie starr an. Unruhe keimte von neuem in ihr auf. ,,Was ist mit dir,

Mutter? Alles in Ordnung?"

,,Nattirlich, Kind", erwiderte Fanny süß lächelnd und dachte schaudernd: Mcftts

ist in Ordnung. Gar nichts. O Gott, sie hatte schon wieder eine Vision, und dies-

mal eine weitaus klarere - mithin verrücktere! Dutzende von braunhäutigen Sa-

moanern sah sie vor sich in der blendenden Helligkeit, zusammengerottet in Hau-

fen von sechs, acht, zehn Männern, zus:rmmengeballt in Trauben, nein, in Knäu-

eln . . . Sie stebten zueinander, vonAngst und Unsicherheit getrieben; keiner wollte

von seinem Nebenmann mehr als auch nur ein paar Zoll getennt sein. Trotzdem

wagte es niemand von ihnen, dem Nächsten offen in die Augen zu blicken. Sie

suchten körperliche Geborgenheit und mieden einander doch gleichzeitig, als sei-

en sie sämtlich Verschworene in einem verbrecherischen Unterfangen: Verbiinde-

te wider Willen, gemeinsam im Begriff, ein Sakrileg zu begehen. Sie waren nicht

glücklich, für die Freiheit zu arbeiten. Und dann schoß Fanny eine einfache Wahr-

heit durch den Kopf: Was von der dunklen Seite des Waldes so ausgesehen hatte

wie eine letzte Reihe von Gitterstäben, die es zu bezwingen galt, war für diese

bedauernsweden Männer beileibe nicht das Ende ihrer Quälerei, das vermeintli-

che Tor zur Freiheit. Das mit Abstand steilste, unwegsamste und unheimlichste

Stück Urwald lag ja noch vor ihnen, in seiner ganzen kompakten Masse, grün und

glitschig und von Dämonen regelrecht verseucht. Die bösesten Geister des Dschun-

gels warteten dort oben erst noch auf die Häuptlinge und ihr Gefolge, die sich

allzu dreist aufgemachthatten, jedemtevolo, jedemti'apolo und feindseligenaga-

aga den Lebensraum zv entziehen, indem sie diesen Schattenwesen schlicht das

Blätterdach über dem Kopf wegrodeten!

Längst hatten die Häuptlinge begriffen, was für ein monströses Werk sie da

samt ihren Kriegern vorantrieben. Von Anfang an hatten sie es gewußt, seit ihrer

ersten höflichen Weigerung, die Louis geflissentlich ignorierte. Aber am Ende

hatte es für die Samoaner keine Wahl gegeben - außer der Entscheidung zwischen

den einheimischen Dämonen und dem einen übermächtigen Teufel, der in Louis'

Flasche von weither über den Ozean gekommen war. Gegen eine Sorte von Dä-

mon mußten sie zum Kampf antreten. Mit dem Rücken zur Wand, ohne Flucht-

möglichkeit, hatten sie schließlich ihre eigenen Teufel vorgezogen. Sie boten ei-

nen einzigen Vorteil: Man kannte ihre Tücke. Die Macht des ausländis chen tevolo

überstieg alle Phantasie.

Es waren weit über hundert Mann, die hier in der stickigen Hitze des Dschun-

gels schufteten, ohne sich Ruhe zu gönnen. Sie legten eine solch fieberhafte Eile

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an den Tag, daß man den Eindruck gewinnen mußte, die Ungehzuer ihrer Einbil-

dung säßen ihnen bereits im Genick, um sie bis zum bitteren Ende des Straßen-

baus zu peinigen und höchstpersönlich zu Tusitalas Tor hinaufzutreiben. Vielleicht

war es so - wer vermochte das zu sagen? Wer dwfte mit Sicherheit behaupten, daß

die Samoaner ihre inseleigenen Däimonen nicht sehen konnten, während die Wei-

ßen den Gedanken als abergläubischen Unfug verlachten?Auch Fanny hatte ihre

Visionen ... und möglicherweise war sie ja gar nicht krank - sondern lediglich

cmpfiinglicher für derlei,,Trugbilder" als all die anderen weißen Menschen hier.

Eines war Fanny nun klar: Was sie vor sich sah, waren keine vom Glück begün-

stigten Häiftlinge, die sich denWeg aus dem Gefüngrris hinausbahnen durften. Louis

hatte sie aus dem,,finsteren Kerkef'vonApia herausgeholt, wo sie allen widrigen

Umständen zum Trotz ein sorgenfreies Leben führten, und sie vom gemütlichen

Verlies der deutschen Kolonialherren aus ohne Umschweife hierher zur Fronar-

beit entsandt, Und die Arbeit an diesem Ort war für sie tatsächlich die Hölle auf

Erden. Man mußte blind sein, um die Zeichen nicht zu erkennen - die geduckte

Haltung der M?inner, ihre scheuen, furchtsamen Blicke, die fahrigen Bewegun-

gen, ihr absolutes Stillschweigen untereinander ... Wenn ein hochrangiger Sa-

moaner nicht ltinger mit seinesgleichen reden wollte, lag er gewöhnlich auf dem

Sterbelager; doch selbst dort verließ die Lust auf ein Schwätzchen die meisten

Todgeweihten als alledetztes vor dem Ende.

Fanny wußte, daß eine Sinnestäuschung sie narrte, während sie die Zwmgsar-

beiter beobachtete - und gleichzeitig begriffsie den Hintersinn der Halluzination.

Sie erkannte, daß die Leiber der Männer vor ihr ausnahmslos mit Stricken gefes-

selt waren! Von der Brust abwärts bis hinunter zu den Waden trug jeder von ihnen

ein dickes Geflecht aus verknoteten Seilen und Schntiren. Kaum ein Zoll ihrer

Haut war unbedeckt geblieben, als man sie in Bande gelegt hatte; es schien dem-

nach ein Wunder, daß sie sich überhaupt rühren konnten. Doch sie bewegten sich

angesichts ihrer Fesseln mit verblüffender Behendigkeit. Sie schwankten nicht,

drohten nicht zu stolpern und zeigten sich genaugenommen nicht im geringsten

beeindrucll von der offensichtlichen Behinderung ... Aber wie in Gottes Namen

sollte ein solches Netzwerk aus Stricken die Bewegung der Männer auch beein-

trächtigen - stellten die Fesseln doch lediglich ein passendes Himgespinst dar, zvr

Feier des Tages eigens von der nunmehr komplett verrückten Fanny ausgebrütet!

Das Bild wich nicht, sondern wurde im Gegenteil immer närrischer. Um jeden

Baum, den es zu fällen galt, sah Fanny ein gutes Dutzend Männer versammelt. Es

waren natürlich sie gewesen, die mit Axten und Buschmessem den aberwitzigen

Lärm verursachten, welcher Fanny und Isobel in der ersten Verwimrng an einen

Riesenspecht hatte denken lassen. Den jeweiligen Häuptling konnte man leicht

aus der Mitte seiner Untertanen herausfinden, auch ohne seine persönliche Be-

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kanntschaft gemacht zu haben. Zwar waren alle Männer nackt bis auf einen

Hüftschurz - und natürlich die geheimnisvollen Fesseln! -, so daß die Kleidung

keinenAnhaltspunkt ntrldentifrzierung bot. Andererseits wollte es die Tradition,

daß der höchstrangige Würdenträger niemals arbeitete und daher die schlaffsten

Muskeln, die fahlste Haut und die dicksten Fettschichten aufivies. Im Zuge der

ungewohntenAnstrengung, bei welcher die armen Häuptlinge mit gutem Beispiel

hatten vorangehen müssen, war nattirlich ein Gutteil ihres Bauchspecks verschwun-

den; dafür machten sie inzwischen jedoch einen erheblich erschöpfteren Eindruck

als ihre Untertanen. Auf den gleichzeitigen Wink der Häuptlinge hin hetzte nun

plötzlich wieder alles mit vereinten Kräften ans Werk und drosch aus Leibeskräf-

ten auf die hölzernen Urwaldriesen ein. Minutenlang h?immerten die Männer wie

entfesselt, verausgabten sich völlig, bis ihnen genauso unvermittelt ein neuerli-

ches Zeichen Einhalt gebot. Es war allerdings keine Ruhepause, welche sich die

Arbeitenden während der Zeit der Stille gönnten - ganz im Gegenleil. Ruhe und

Frieden kannten die bemitleidenswerten Getriebenen sicher seit dem ersten Tag

des Straßenbaus nicht mehr! Mit panischem Schrecken in denAugen schauten sie

sich nach allen Himmelsrichtungen um, immer gewärtig, eine Horde blutlüsterner

Dämonen auf sich zustürmen zu sehen. Sobald sie sich vergewissert hatten, daß

sie für denAugenblick davongekommen waren, weil die Dämonen sich durch den

aufreizenden Lärm noch nicht herausgefordert fühlten, stärzten die Mäinner sich

auch schon in die nächste verzweifelteAttacke. Der Zyklus wiederholte sich ohne

Unterlaß; Schweiß rann in Strömen an den nackten Leibern der Samoaner herun-

ter; niemand wagte es, sich aus dem Kreise seiner Dorfgenossen zu entfernen. Bei.

jedemAnsturm bildeten die angsterfülltenAngreifer ein Knäuel aus braunen Glie-

dern. Was Fanny aber am meisten erschreckte, war der Anblick der Fesseln, die

sich bei dieser Gelegenheit gleichsam zu einem einzigen endlosen, unauflöslichen

Band zusammenzogen ... Die Stricke, die ohnehin jeden der Männer so fest ein-

schnürten, bis sie mit seiner Hautbeinah eins zu sein schienen, vereinigten sich zu

Fannys Entsetzen zu einem Seilgewirr, aus dem es kein Entkommen mehr geben

konnte. Sie waren alle unrettbar gefangen. Fanny ließ sich nicht durch den Um-

stand täuschen, daß die Männer sich trotz ihrer Fesseln wie wild bewegten!

,,Glaubst du nicht auch, daß sie sich eigenartig benehmen, Mutter?" wisperte

Isobel an Fannys rechter Seite.

Das dumme Kind! ,,Nun, was wiirdest du davon halten, meine Liebe, wenn

man dich erst fesselte und dann in Stricken zur Arbeit schickte? Fändest du das

nicht auch - eigenartig?"

Isobel zuckte sichtlich zusammen. Schon wieder runzelte sie die Stirn und warf

einen provozierend prüfenden Blick auf Fanny. ,,Jetzt ist es aber wirklich genug,

Muffer. Laß uns unverzüglich aufbrechen. Du brauchst ein Beruhigungstonikum."

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Ach, es war natärlich ein Fehler gewesen, über ihre Vision zu sprechen, zumal

nie ihre Sinnestäuschung doch selbst als solche erkannt hatte. Die Worte waren

Itanny ohne Überlegung herausgerutscht, und nun hatte sie die Bescherung!

,,Sagte ich ,Fesseln', Kind? Ein dummer Scherz von mir. Jeder gesunde Mensch

kann doch sehen, daß sie nicht gefesselt sind. Da ist nichts. Nur Haut natürlich,glatte braune Haut."

Anstatt den Ausdruck tiefsten Argwohns zu verlieren, verdüsterte sich Belles

Miene noch um mehrere Nuancen.

,,Was ist? Was hab'ich denn gesagt? Du schaust mich an wie ein Mondkalb -habe ich etwa zwei Köpfe wie unser Ulupoolua?"

,,Wer weiß." Belle musterte sie plötzlich, als wolle sie die Mutter unter dem

Mikroskop sezieren. ,,Ich wäre schon zufrieden, wenn ich wäßte,wo du den einen

gelassen hast."

Fanny kicherte, doch Belle blieb todemst. Sie hatte ihre Bemerkung also durch-

aus nicht witzig gemeint.

,,Mutter, du hast schon öfter Häuptlingstätowierungen gesehen. Wie kannst du

das vergessen! Die hiesigen Staatsmänner laufen nicht immer nackt herum, aber

du weiJ7t, daß sie von oben bis unten mit Ornamenten bedeckt sind. ZollJür Zoll.

l,ouis sagt, daß die SamoanerdiewirkungsvollstengeometrischenTätowierungen

der gesamten Südsee zu machen verstehen. Du hast ihm beigepflichtet.Ich erinnere

mich, daIJ du selbst gemeint hast am besten gefielen dir die täuschend echten ...",,Seilmuster." Fanny stöhnte verzrveifelt auf, als die Walrheit sie wie ein Blitz

traf. ,,Und die ... verzwickten Knoten."Belle hatte ja vollkommen recht, Wie hatte Fanny dieses elementare Wissen

nur verdrängen können? Seit über fünfJatren kannte sie die Bräuche der Insel, die

speziellen Rituale, die ausschließlich hier auf Samoa praktiziert wurden - wegen

derer Samoa in der pazifischen Inselwelt Berühmtheit erlangt hatte. Wäre Fanny

ein Neuling gewesen, der bis zum heutigen Tage nichts als die primitiven, grob-

schlächtig ausgefübrten Ritzverzierungen der Salomon-Insulaner erblickt hatte oder

die nurwenig geschmackvolleren Schmucllätowierungen andererArchipele-dannhätte ihr Intum alteingesessene Kolonisten durchaus verständlich angemutet. Mehrnoch: Die ,,Eingeweihten" pflegten sich an dem Erstaunen unwissender Novizen

t,u ergötzen, deren Augen von der vollkommenen Illusion genarrt wurden. Fanny

selbst halle über verdutzte Besucher gelacht, die keinen Unterschied zwischen

Uild und Leben erahnten!

Einmal war Fanny derTäuschung erlegen. Das war fünf Jatre her. Heute war es

ihr also wieder passiert - aber warum nur?

Sie kannte dochseitlangerZeit denBrauch, diegesellschaftlicheNotwendigl<eit,

daß jeder männliche Sarnoaner aus guter Familie sich zu einem Tätowierer in

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stenge Klausur begab, sobald er das Alter der Mannbarkeit erreichte. Monatelang

bearbeitete der Tätowiermeister den seinen Händen anverhauten Körper wie eine

fleischerne Skulptur, ignorierte die Schmerzenslaute der freiwilligen Opfer und

trieb das Werk unbeirrt zur Perfektion. Mit einem breiten Spatel und einem meißel-

ähnlichen Folterinstrument bewaffnet, ritzte der Mann seine Seilmuster und stili-sierten Knoten nicht etwa in die Haut: Er grub und schnitzte an seinem lebenden

Material und kerbte die Sträinge tief ins Fleisch hinein. Zwischen den einzelnen

Linien ließ er, den komplexen Regeln von Asthetik und Überlieferung gewissen-

haft gehorchend, bisweilen ein oder zweiZoll Haut unbearbeitet. Heilte dann die

mit akribischer Sorgfalt geschundene Haut des lebenden Kunstwerks langsam ab,

entstand im Laufe des Prozesses ein geordnetes Geflecht aus Strängen, die sich als

Relief von der natürlichen Nacktheit des Tätowierten abhoben. Das solcherart

gefurchte und ,,kultivierte" rohe Fleisch verwandelte sich nicht nur nach Farbe,

sondern auch Beschaffenheit zu einem borkenähnlichen Gebilde. In Schattierung

wie Struktur glich das Ergebnis tatsächlich einem in kunstvollen Ringen um den

garzen Leib geschlungenen, mit Knoten befestigten Hanfseil - unauflösbaren

Knoten!

Waren es auch strenggenommen die Fesseln uralten Brauchtums, welche allejugendlichen Kandidaten zukünftiger Würden dazu verpflichteten, sich derart un-

menschlich quälen zu lassen - niemand von den Jungen wäre zum Verzicht bereit

gewesen, hätte man ihm die Wahl gelassen. Es gab keinen großartigerenAugen-

blick im Leben eines Samoaners als den der wohlverdienten Freisetzung, wenn

der Meister das Kunstwerk in das gesellschaftliche Leben seines Dorfes entließ!

Es war mehr als die alte Freiheit, die an dem bewußten Tage wiedererlangt wurde.

Eine neue, unendlich größere Welt eröffnete sich mit einem Male dem für Monate

Weggesperrten. Der Knabe war durch die Zeremonie der Tätowierung zum Mann

geworden, zum anerkannten Mitglied des Dorfadels. Er durfte mit den Weisen die

Tagespolitik erörtern, über Krieg und Frieden mitentscheiden, er konnte sich verhei-

raten, wenn er das wollte. Ausgestattet mit der Pracht der Tätowierung war er ein

neues Wesen. Hatte sich im Hause des Künstlers die einschneidende Wandlung

vollzogen, durfte der unbedeutende Junge von einst als stolzer Schmefferling vonBlüte zu Blüte fliegen! Nicht von seinen ,,Fesseln" wurde der Insulaner befreit -sondern durch sie ...

Rüde machte Isobel jeden Gedanken an Freiheit zunichte.

,,Laß uns heimgehen, Mutter. Ratatui wird den Korb holen. Sollte Louis fragen:

Wir haben nichts gesehen. Gar nichts."

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I2

,,Hrt oentr Murrrn. wieder nichts angerührt, Belle? Wenn ihr Zustand anhält, müs-

sen wir unbedingt etwas unternehmen. Seit Tagen sitzt sie nun schon in ihrem

Korbstuhl, spricht kein Wort, ißt nichts, starrt ins Leere ..." Es war Louis, der das

sagte. Fanny hörte ihn in einem Winkel des Raumes mit Belle flüstern. Sie ver-

nahm jedes Wort und konnte sich doch nicht aufraffen, den beiden zu verstehen zu

geben, daß ihr Verstand sich nicht ,,verabschiedet hatte", wie Isobel es so taktvoll

zu umschreiben pflegte. Ihr Geist war klarer denn je zuvor.

,,Es scheint mir fast, als habe sich ihre Vernunft in einem Winkel ihres Kopfes

verbarrikadiert", fuhr Louis leise fort. Er klang tief besorgt, ängstlich und zZirtlich

zugleich. Louis behandelte seine Gattin stets ritterlich galant, doch solch echte,

von Herzen kommende Zuwendung war Fanny im Laufe des vergangenen Jahres

eigentlich immer nur dann zuteil geworden, wenn ,,ihr Kopffrebef' sie plagte.

Seltener und seltener waren diese Anfülle aufgetreten, und Louis hatte sich unge-

stört den eigenen Beschäftigungen widmen dürfen. Nun genoß Fanny wieder sei-

ne volleAnteilnahme, und seine rührende Besorgnis bewies ihr, daß ertrotz seiner

einsamen Entschlüsse und Alleingänge durchaus nicht auf seine Gefährtin ver-

zichten konnte. Leider war das im Augenblick nur ein schwacher Trost für Fanny,

die in den Tagen jener vollkommenen Abgeschlossenheit, welche ihr Geist ihrmanchmal auferlegte, zu schlimmen Erkenntnissen gelangt war. Louis'Pflegelinderte nichts an der geführlichen Lage, in der alle Mitglieder des Klans schweb-

ten. Er mochte ihr für den Moment seine ungeteilte Aufrnerksamkeit schenken,

doch er meinte nicht wirklich ihre Person, sondem nur ihren krankhaften Zustand,

der ihn beunruhigte. Louis wtirde vorgeben, Fannys Hirngespinsten Glauben zu

schenken, um sie zu beschwichtigen - doch er würde nicht das geringste zu ihrer

aller Rettung untemehmen. Das Übel nahte mit Riesenschritten; bald schon würde

es das Anwesen umzingeln, die Familie belagem. Und - wer konnte die Mög-

lictrkeit ausschließen? - vielleicht machte sich schon jetzt, zu dieser Minute, ein

dunkles Wesen daran, aus dem Urwald herauszutreten und den hohen Zaun ntcrklimmen, während der ahnungslose Torwächter ausgelassen mit seinen Freun-

den schäkerte und von der Invasion rein gar nichts mitbekam ... Das Tor an der

Vorderfront war bloß unnützer Zienat, eitler Tand angesichts der finsteren Mäch-

te, die sich von allen Seiten auf das Anwesen zubewegten! Es stellte eine Attrappe

tlar, die an stratrlenden Sonnentagen ihren Zweck erfüllen mochte, wenn kein Unheil

tlrohte. Doch hatte die mit prachtvollem Messing beschlagene Vordertär des Va-

tcrhauses denjungen Louis Stevenson aufgehalten, wenn er von seinen nächtli-

chen Ausschweifungen zurückkehrte? Hatte die von einer vielköpfigen Diener-

*chaft bewachte Vordertür des Dr. Jekyll etwa Mr. Hyde daran gehindert, einfach

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den Weg durch die hintere Pforte zu nehmen? Nichts erschien Fanny leichter, als

sich heimlich über die Umzäunung hinwegzusetzen. Wenn ein Paradestück der

Ingenieurskunst wie die Chinesische Mauer keinem anstürmenden Heer zu trot-

zen vermochte, wie sollte da eine erbärmliche hölzerne Einfriedung Schutz ge-

währen vor ... Dämonen. Nun hatte Fanny das erste Mal gewagt, das Wort zu

denken. Laut aussprechen aber wtirde sie es nie, niemals.

Fanny wußte, was sie vier Tage zuvor gesehen hatte, als sie sich auf dem Wege

zu Louis' Bewässerungsanlage befand und dem Ziel schon gar.z nahe war. Sie

glaubte nicht, einer weiteren Sinnesläuschung erlegen zu sein. Doch selbst wenn

das der Fall war, ergab die Täuschung für Fanny durchaus einen Sinn!

,,Belle, es muß doch irgend etwas vorgefallen sein, von dem du mir nicht er-

zählt hast", hörte Fanny nun wieder Louis'Wispern. ,,Deine Mutter wirkte schon

sehr erschöpft, als ihr von eurem Versorgungsmarsch zurückkamt - obendrein

unverrichteter Dinge. lch weiß bis heute nicht, wie ihr auf den Unpinn verfallen

konntet, die Blechbüchsen allein zu tragen, und noch weniger verstehe ich, daß ihr

den Korb einfach mitten im Wald habt stehen lassen. Was hat sich an jenem Tag

ereignet?"

Belle zögerte mit der Antwort, ein Umstand, der auch Louis mit Sicherheit

nicht entging. Sie versuchte dieAngelegenheit durch eine gleichgültige Bemerkung

herunterzuspielen.

,,Wir hatten uns eben einfach zuviel vorgenommen. Wir sind nur zwei schwa-

che Frauen, und der Weg erwies sich als zu beschwerlich - das ist alles. Mehr gibt

es nicht zu berichten."

Ohne daß es ihr bewußt war, sprach Isobel sogar die Wahrheit. An dem be-

sagten Tage vor gut anderthalb Wochen hatte Fanny sich nach ihrer Rückkehr

zwar körperlich ausgelaugt gefühlt, doch einige Stunden Schlafund ein gutes Früh-

stück bewirkten, daß sie im Handumdrehen wiederhergestellt war. Weder ihr leib-

liches noch ihr seelisches Wohl schienen ihr damals nachhaltig beeinträchtigt zu

sein. Tatsächlich hatte sie keinen einzigen Gedanken mehr an ihre ,,Vision" ver-

schwendet.

,,Aber es mufi sich etwas zugetagen haben*, beharrte Louis, den Fannys Krank-

heit um so mehr bedrlickte, als er keinerlei konkreten, geistig nachvollziehbaren

Grund für ihren apathischen Zustand finden konnte. Eine blutende Lunge - dae

war etwas über die Maßen Greifbares. Ein leidendes Gehirn, eine Ehefrau, dio

sich wie eine Einsiedlerintagelang in ihre geistige Klause zurückzog-damit wußto

Louis nichts anzufangen, geschweige denn angemessen umzugehen. Doch wenn

er auchAngst vor Fannys Leiden hatte, zog er sich niemals vor ihr zurück.

,,Frag sie selbst, sobald die Dame wieder zu sprechen geruhf', gab Isobel schnip-

pisch zurück. Ihre Frechheit verbarg einen großen Teil Unsicherheit - Isobel hing

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näimlich durchaus der Überzeugung an, Fannys Anfall habe seinen Ursprung indem eigentümlichen Waldspaziergang der beiden Frauen.

,rA,llerdings mußt du auch bedenken, Louis, daß meine Mutter sich nach unse-

rer Rückkehr fast eine Woche lang unaufüillig benahm ... na ja, so unauffiillig sre

sich auffiihren kann. Und dann, aus heiterem Himmel, beginnt sie ihren heißge-

liebten Gemüsegarten zu verwüsten, bis er nicht mehr wiederzuerkennen ist, undzu allem Überfluß verbrennt sie ihre Bilder ..."

,EinBild," korrigierte Louis, dem Belles Tonfall ganz und gar nicht behagte.

,,Es hat ihr wohl nicht mehr gefallen."

,,Und ihre Tomaten undAuberginen haben ihrplötzlich auch nicht mehr gefal-

len, nicht wahr? Du weißt selbst, daß das Gemüse immer ihr Stolz und ihre größte

Freude war! Wehe dem armen Boy, der es wagte, sich an ihren Feldfrtichten zu

vergreifen - dem hielt sie ohne Zögem das spitze Ende ihrer Hacke vor die Nase.

Nun hat sie höchstpersönlich alles vernichtet."

,,Sie wird einen tiftigen Grund gehabt haben", gab Louis zu Fannys Verteidigung

zurück, doch es lag keine Überzeogong in seiner Stimme. O ja, Fanny hatte einen

triftigen Grund gehabt ... doch den durfte sie um keinen Preis verraten, wenn sie

nicht Gefatr laufen wollte, zumAuskurieren ihrer Krankheit in ein spezielles Haus

nach Sydney verfrachtet zu werden!

Wäihrend Fanny dern verhaltenen Gernurmel lauschte, welches ausschließlich

ihren neuesten Verrücktheiten galt, begann sie zu spüren, wie langsam, fast un-

merklich, Leben in ihre Gliedmaßen zurückkehrte. Nach einer Weile schaffie sie

es, den Kopf in Louis' Richtung zu drehen. Gleichzeitig fühlte sie, wie ihr BlickallmZihlich die unnattirliche Starrheit verlor.

Louis'Augen hatten offenbn die ganzeZeit über auf Fanny geruht, denn als er

die erstenAnzeichen ihres vermeintlichen Wiedererwachens watrnahm, stärzte er

unverzüglich herbei. Er kniete vor ihr nieder und ergrrtr ihre H?inde, die noch

immer wie leblos in ihrem Schoß ruhten. Kurz darauf aber war Fanny bereits inder Lage, den sanften Druck seiner Finger zu erwidern. Freudig erregt nahm Louis

dieses Zeichen der Besserung zur Kenntnis. Der liebevoll besorgte Ehemann blieb,

doch der ausgelassene kleine Junge, welcher denselben Körperbewohnte, gesellte

sich schnurstracks zu ihm und gewann sogleich die Oberhand. Fanny lächelte un-

willkürlich, als sie Louis' strahlendes Gesicht sah. Noch bereitete es Fanny einige

Schwierigkeiten, ihre Gesichtsmuskulatur zu beherrschen; derAnflug von Heiter-

keit, den ihre Zij'ge zum Ausdruck brachten, schien Louis allerdings zu genügen.

Seine Fanny war,,wieder zurücK'!

,,Willkommen zu Hause, Liebes", begrüßte er sie folglich, so als sei sie voneinem langenAusflug heimgekehrt. Er atrnte ja nicht, daß ihr Geist diesmal keine

Abstecher in phantastische Gehlde unternommen, keine ausgedehnten Erkundun-

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gen unwirklicher Welten betieben hatte. Fanny hatte sich ins Herzsttick von Vailima

zarückgezogen und geschwiegen - wenn auch nicht aus freien Stticken. Die Din-ge, welche sie vor ihrem innerenAuge erblickt hatte, mitten im trauten Heim, inder abgedunkelten Geborgenheit ihres Schlaüimmers, waren grausiger als alles,

was ihr auf bisherigen ,,Reisen" begegnet war.

Aber es hatte wenig Sinn, Louis mit ihren neugewonnenen Erkenntnissen zu

behelligen. Es war nun allein an ihr, wachsam zu sein, ständig auf der Hut vorGefahr, während die anderen sich weiterhin in Sicherheit wiegten. Höchste Zeitmithin, der teilnahmslosen Trägheit ein für allemal abzuschwören und sich der

Bedrohung zu stellen, die von außen nalrte.

,,Mein Liebling, du mutJt jetzt unbedingt einen Bissen zu dir nehmen, wenn du

nicht vollends abmagern willst." Als er dies sagte, versuchte Louis eine betont

strenge Miene aufzusetzen, was ihm kläglich mißlang: Kein Arzt der Welt ver-

mochte die Fassade besonnener Professionalität zu wahren, wenn sQgar der arme

Patient von seinem Gesicht ablesen konnte, daß der Doktor vor Ffzude über die

Genesung regelrecht aus dem Häuschen geriet! Louis'Übereifer amüsierte Fanny

königlich.

,,Keinen Blssen,mein Schatz", erwiderte sie und zweifelte ernstlich daran, daß

ihre übeneife Matronenfigur nennenswert unter der Fastenkur,,gelitten" haben

mochte. Sofort sah sie, wie Louis'Strahlen erlosch und sich neue Besorgr.is inseinen Zigen abzeichnete. Jeglichem Protest kam Fannyjedoch zuvor.

,,Ich habe einen Bärenhunger. Ein Bissen dürfte in meinem Fall nicht ausreic[en.

Man reiche mir die Speisekarte - ach was, ich nehme alles, was Ratatui mir vor-

setzt. Zufrieden?"

Louis grinste bis zu den Ohren. Das war seine Fanny, wohlbehalten, tatendurstig

und, besser noch, heißhungrig!

,,Ich sage ihm sofort Bescheid V!,rehrteste", sprudelte er fiirmlich hewor. ,peinWunsch ist uns Befehl! Wir erwarten die Herrin des Hauses auf derVeranda" sobald

das Festnatrl gerichtet ist. Ratatui macht sofort Feuer im Herd - oder ich mache ihm

verdammtnochmal Feuerunterm Hintern, wennGnäidigstemir denAusdruckgätigst

verzeihen wollen. Ich hole meine Gemahlin in einer halben Stunde vor ihrer Keme-

nate ab, falls es genehm ist.'I-ouis verbeugte sich bis hinunter zun Boden.

Fanny mußte laut auflachen, und Louis raste spornstreichs aus dem Zimmer,

nachdem er ihr schelmisch zugezwinkert hatte.

Kaum w?ihnte Fanny sich allein, hel augenblicklich alle Heiterkeit von ihr ab.

Ihre Glieder wurden wieder schwer; an ihren Lidem und Mundwinkeln schienen

Bleigewichte zu hängen.

,,Wie schön, daß es dir bessergeht, Mutter", hörte Fanny plötzlich Belle sagen.

Sie hatte ihre Tochter nicht mehr im Raum vemutet. Belle mußte ihre schnelle

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Rückverwandlung nach Louis'Verschwinden bemerkt haben - deshalb klang ihre

Bemerkung äußerst zweidzutig. Fanny zwang sich zu einem Lächeln.

,,Danke, Kind", murmelte sie unverbindlich.

,,Wie jedem verloren geglaubten Familienmitglied gebührt dir jetzt ein or-

dentliches Bankett, schätze ich. Das gehört sich wohl so. Allerdings können wirheute leider nicht mit deinen Lieblingsspeisen aufivarten ... wie Tomatensalat.

Oder Erbsptiree. Ganz zu schweigen von gedünsteten Auberginen. Nun ja - man

kann eben nicht alles haben, stimmt's?"

Fanny schwieg. Belle hatte kaum mit einerAntwort gerechnet, denn nachdem

ihre Worte verklungen uraren, rauschte sie auch schon aus dem Zimmer. Sie zeigte

Fanny überdeutlich, daß sie die IGankheit der Mutter als persönliche Beleidigung

auffaßte. Zogmanzudem die Möglichkeit in Betracht, daß auch Isobel eines Ta-

ges mit ähnlichen,,Symptomen" wärde aufirarten können, wurde ihre böse Reak-

tion als instinktive Abwehr gegen das wahrscheinlich Unvermeidliche begreif-

lich.

Mit schleppenden Bewegungen begann die nunmehr unbeobachtete Fanny, fri-sche Kleider anzulegen und ihr venvahdostes Haar zu bürsten. Jeder Handgrifffiel ihr schwer. Sie wünschte, Louis wäire bei ihr geblieben - wenn es galt, ihn zu

beruhigen, verstellte sie sich bereitwillig und merkwürdigerweise ohne größere

Anstrengung. Außerdem verstand er es nach einem Anfall in der Regel, sie zumin-

dest soweit aufzuheitem, daß ihr nicht schon das bloße Atemschöpfen zur Qualgeriet.

Die angekündigte halbe Stunde mußte wie im Fluge vergangen sein, denn Fanny

war kaum ordentlich angezoget, als ein dreifaches ungeduldiges Klopfen ertönte.

Fanny wappnete sich.

Als sie über die Schwelle in den Korridor hinaustrat, wo Louis auf sie wartete,

blinzelte sie vor unverhohlener Überraschung. Er hatte in der Tat große Angst um

sie ausgestanden und drückte seine ungeheure Erleichterung nun auf eine Weise

aus, die ihm selbst vielleicht gar nicht recht bewußt wurde.

,,Nanu!" platzte Fanny unwillktirlich heraus. ,,Kommen die drei Konsuln etwa

auch zur Feier des Tages - oder wenigstens die drei weisen Könige aus dem Mor-genland?"

,,Wenn Ihr danach verlmgt, o Gebieterin, werde ich unverzüglich zu ihnen reiten

und sie zwangseinladen. Ich schlage jedoch vor, die Gäisteliste auf einige wenige,

nun, gesittete Menschen zu bescbränken. Wie denkt Ihr, Henin des Hauses?"

Fanny prustete laut vor Lachen, was sie jederAntwort enthob. Galant bot Louis ihrseinen Arm, um sie die Treppe hinunterzugeleiten. Mein Gott, dzchte Fanny halb

erschrocken, halb begeistert, wie er sich eigens f)r mich herausstffiert hat! Das

blütenweiße Seidenhemd, welches Louis gewählt hatte, war gerade erst aus Syd-

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ney eingetroffen, ebenso wie die nach Maß gefertigten feinen Lederstiefel, die er

noch nie getragen hatte. Sie quietschten ein wenig beijedem Schritt, den er tat,

und verrieten somit deutlich ihren unbenutzten Zustand. Ein Hauch von Brillan-

tine ließ sein dunkles Haar beinah bläulich glänzen; seine schwarzenAugen blitzten

ohnehin, und ein burgunderrotes Halstuch, einziger Farbklecks inmitten von blen-

dendem Weiß, unterstrich jenen unberechenbaren Seeräubercharme, den Fanny

an ihm liebte ... heimlich, wohlgemerkt. Louis hatte sich herausgeputzt, als er-

warte er niemand Geringeren als Königin Victoria. Am unteren Ende der Welt,

auf Englands Antipoden, mußte er wohl oder übel mit Fanny vorliebnehmen.

Ohne sich ungebüMich zu schmeicheln, durfte Fanny aber voraussetzen, daß

diese Tatsache kein Opfer für ihn darstellte.

Gemeinsam haten die Eheleute auf die sonnenhelle Veranda hinaus, wo heute der

Tisch für das Abendessen gedeckt war. Nach den Tagen der Abgeschiedenheit im

dunklen Schlafzimmer benötigten Fannys Augen geraume Zeit, umqich wieder an

das Licht zu gewöhnen. Sie ließ ihren Blick in die Feme schweifen, erspähte dort

zwangsläufig den großen Zaun und frrhr erschrocken zusammen - doch glücklicher-

weise bemerkte niemand ihr unangemessenes Benehmen. Alle schienen froh, Fanny

erneut in ihrer Mitte begrtißen zu därfen. Lloyd umarmte seine Mutter und gab ihr

sogar einen Kuß: eine Geste, die wahrhaft Seltenheitswert besaß. Isobel vermochte

ihre übergroße Freude besser im Zaum zu halten, was ihre Mutter nicht verwunderte.

Austin üieb das Willkommensritual auf die Spitze, indem er der Großmutter einen

vollendeten HandkulJ verehrte . . . während sein Lehrer Louis daneben stand, zweifel-

los hin- undhergerissen zwischen Stolz und der irritierendenFrage, warum zumTeu-

felihm diese vomehme Gebärde nicht in den Sinn gekommen war!

Entgegen ihrer Versicherung hatte Fanny nicht den Anflug von Appetit, ge-

schweige denn Bäirenhunger. Trotzdem zwütg sie sich, von allen Speisen zu ko-

sten, die der Koch in kärzester Frist bereitet hatte. Sicher war das meiste davon

auf samoanisch-zeitsparende Weise gekocht -,,faa Sarnoa" -; nichtsdestoweniger

mundete es sämtlichen Anwesenden außer Fanny vorzüglich. Alle achteten dar-

auf, daß Fannys Teller nicht leer wurde, und vermehrten dadurch noch ihre Pein.

Fanny machte gute Miene zum sicherlich gutgemeinten Spiel ihrer Lieben.

Noch gab es ein ernstes Problem in der frohen Runde - das der Konversation.

Es gestaltete sich jedesmal schwierig, die ersten Worte mit einem Wesen zu wech-

seln, welches gerade erst dem blanken Wahnsinn entronnen, gleichsam im letzt-

möglichen Augenblick seinem Schmetterlingsnetz entschlüpft war!

Lloyd spielte bei der heutigen Gelegenheit den Freiwilligen. Nachdem er sicht-

lich darüber nachgegrübelt hatte, welches Thema seine kranke Mutter wohl ertra-

gen könne, ohne in einern neuerlichenAnfall noch mehrunschuldiges Gemüse zu

meucheln, kam ihm eine Idee. Erleichtert gab er seinen bescheidenen Beitrag zum

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besten. Fanny mußte dabei an einen zaghaften Pokerspieler denken, der sich nach

langem Zatdernendlich dazu überwand, seinen Einsatz zu machen.

,,Habt ihr übrigens schon gehört, daß die katholischen Missionare ein Büchlein

auf Samoanisch herausgeben wollen, welches auf Louis' Werk basiert?" Trium-

phierend schaute er in die Runde. Ihmwar ntchts vorzuwerfen; er hatte den ersten

Schritt zur fröhlichen Unterhaltung unternommen! Fannys Herz verlcampfte sich

schmerzhaft. Daß sie einen Fremdkörper darstellte, war ihr bewußt, und sie konn-

te ihrem Sohn das Gefühl der Scheu nicht verdenken oder gar verübeln. Das än-

derte unglücklicherweise nichts an dem Umstand, daß sie dem versammelten Klan

am liebsten in die Ohren gebrüllthätte: Hört doch um Himmeß willen auf, mich so

unbarmherzig zu schonen !

,,Das ist das erste, was ich über den Plan höre", antwortete nun Louis, der sich

etwas ungezwungener zu benehmen wußte als Fannys Sprößlinge. ,,Wie soll das

Büchlein denn heißen?"

,,O le motu o'oloa", erwiderte Lloyd in jenem perfekten Sanoanisch, das ihm

als einziges Andenken von seiner Afüire mit Misiluenga geblieben war. Außer

dem Walzahn natürlich.

Louis lachte. ,,Wie konnte ich auch so dumm fragen."

,,Wäre vielleicht einmal jernand freundlich genug, mich aufzuklZiren?" schmollte

Isobel, deren Sprachkenntnisse nach all den Jahren noch immer sehr zu wünschen

übrigließen.

,,Die Schqtzinsel,Matta'', sagte Austin schlicht. ,,Es gibt kein besseres Buch,

um Erwachsenen das Lesen beizubringen."

,,Dem kann ich mich nur anschließen", pflichtete Lloyd seinem Neffen bei.

,,Obwohl natürlich auch Kinder die Lektüre genießen - und ich spreche aus

pers önlichs ter Erfahrung."

Ftir Louis, der die schmerzlich vermißte Fanny nach bangen Tagen des Wartens

erneut im Kreise seiner Lieben sah, wo sie hingehörte, schien die Welt dr.rch ihre

bloße Anwesenheit bereits wieder in schönster Ordnung. Fanny aß, Fanny trank,

Fanny folgte dem Gespräch, wenn sie sich auch noch nicht daran beteiligte. Das

bedeutete, daß Louis sich nach der durch Fannys Krankheit bedingten Unterbre-

chung an seine Unternehmungen zurückbegeben durfte. Nie wäre es ihm eingefal-

len, die Tafel zu verlassen - eine solche Taktlosigkeit lag außerhalb seines höfli-

chen Naturells. Letzteres hinderte ihn allerdings nicht daran, die Konversation in

Bahnen zu lenken, die iha stäker faszinierten als die samoanische Version seiner

frtihen Werke. Zumindest in Gedanken besch?iftigte er sich abermals mit jenen

Projekten, die ihm weit mehr am Herzen lagen.

,,Fanny, ich glaube nicht, daß du die großartige Neuigkeit mitbekommen hast:

Iu ungeführ zwei Wochen, vielleicht sogar weniger, wird die Straße fertiggestellt

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sein. Ist das nicht wunderbar? Nicht einmal in meinen Hihnsten Träumen wagteich mir auszumalen, daß der Straßenbau dermaßen zügig und ohne die winzigsteStörung vonstatten gehen könnte. Die Häuptlinge geben ganz vorzüglicheAöeits-laäfte ab, wenn sie nur wollen. Sie ahnen selbst gar nichts von ihren Fähigkeiten."

Fannys Hand, die gerade ihre Gabel vom Teller zum Munde führen wollte,erstarrte mitten in der Bewegung. Gottlob befand sie sich kaum auf halbem Wege,

so daß Fanny, die lebende Statue, nicht grotesk auf die Umsitzenden wirkte .. .

denn rühren konnte sie sich beim besten Willen nicht. Wortlos stierte sie Louis an

und hofte inbrünstig, die Lähmung möge weichen.

,,IJnd es ist wohl eine Fügung des Schicksals", firhr Louis unbeirrt fort, blindfür Fannys neuerlicheAttacke, ,,daß auch mein Wasserumleitungsvorhaben unge-

fähr zur selben Zeit beendet sein wird. Es befand sich ja bereits auf gutem Wege,

als du - als deine Unpäßlichkeit dir zuzusetzen begann."

Auf gutem Wege. UnpölSlichkeit. Fanny dankte dem Himmel dafür,daß sie frühgenug erstarrt war, um nun nicht hysterisch schreien zu müssen. So fuhr sie nur

fort, Louis stumm wie ein Fisch anzuglotzen, während sich ihr Innerstes aufbäum-

te. Zwar entglitt die Gabel ihrer fühllosen Hand, doch sie fiel unbemerkt auf den

Verandaboden und verriet Fanny nicht.

In 14 Tagen schon würde die Zeit gekommen sein! Sie hatte nicht damit ge-

rechnet, daß sich die Ereignisse dermaßen übersttirzen könnten. Louis hatte so

viele Monate auf die Einlösung des von ihm eingeforderten Gefallens gewartet.

Nun war das Ergebnis fast über Nacht zum Greifen nah ... und mit ihm die tödli-che Cefahr. Schon von Anfang an hatte Fanny schlimme Gefühle gehegt, was den

Straßenbau betraf; spätestens seit ihrem letzten einsamen Streifzug durch den

Dschungel aber besaß sie die schreckliche Gewißheit, daß am Ende der Straße undam Ende aller von Louis errichteten Kanäle das Verderben lauerte. Fanny hatte

den Geist der Insel erblickt - jenen einen großen Däimon, der den Menschen inmannigfacher Gestalt zu erscheinen vermochte und dessen unumschränkte Macht

furchterregender war als die Tücke s?imtlicher biblischen Teufel. Ja, sie hatte ihntatsächlich zu Gesicht bekommen. Sie hatte die Zeichen gesehen und gedeutet,

obgleich die Warnsignale in ihrer Klarheit kaum noch einerAuslegung bedurften.

Doch waren es überhaupt Warnungen, oder handelte es sich um eine Vision der

unab?inderlichen Zukunft? In jedern Fall blieb Fanny allein mit der Wahheit: Selbst

der scheinbar geduldige Louis wtirde ihr bestenfalls Gehör, doch niemals Glauben

schenken. Sollte er sich obendrein zwischen derAusführung seinerhochfliegenden

Pl2ine und dem nackten Überleben entscheiden müssen, wußte Fanny genau, wiedie Wahl letztendlich ausfallen wtirde.

Der Dämon, welchem es oblag, um jeden Preis seine Insel zu schützen, kannte

die Natur seines menschlichen Widersachers selbstuerständlich genau. Er war Louis

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nicht immer feindlich gesonnen gewesen, dieser Däimon - er hatte den kleinensterblichen Wurm wahrscheinlich gar nicht zur Kenntnis genommen. Nun, das

hatte sich inzwischen gründlich geändert. Die Vergehen des großzügig auf der

Insel beherbergten Fremden, seine Verstöße gegen das Gastrecht, seine haarsträu-

bende Undankbarkeit und anoganteAnmaßung schrien ftirmlich nach Bestrafung.

In früheren Zeiten, bei Gelegenheiten vergleichbarer Tragweite, hatte der Schutz-

geist der Insel regelmäßig eingegriffen, wenn die Menschen es zu bunt mit dem

ihm anvertrauten Eiland trieben. Der deutsche Adler, der noch immer mit gestutz-

ten Flägeln am Strand von Apia lag, legte davon beredtes Zeugrris ab. Und noch

von einer weiteren Bigenheit des Dämons kändete der Schiffskadaver an der Kü-ste: Jeder allzu übermütige Eindringling wurde von ihm mit den eigenen Waffen

geschlagen. Der Frevel des Verbrechers kehrte wie ein Bumerang zu ihm zurück.

Der Dämon mußte nichts weiter tun, als dem jeweiligen Gegner und seinem Tun

ein Spiegelbild vorzuhalten; so trug am Ende jede Übeltat die wohlverdiente Stra-

fe in sich selbst.

DaIJ der DZimon in Louis'Fall jedoch so weit gegangen war, sich Fanny als

Doppelgänger ihres Mannes zu offenbaren, als sein leibhaftiges anderes Ich, die

dunkle, dunkelste Seite ...Der Dämon wußte, was Fanny mittlerweile erkannt hatte: daß nZimlich Louis

niemals freiwillig damit aufhören würde, nach einem Fluchrweg zu suchen, der

ihn fort von der Insel führte. Auch nach Vollendung der Shaße und Fertigstellung

des Kanalsystems würde Louis weder Ruhe finden noch Ruhe geben. Es lag inseiner rastlosen Natur, daß er sich danach ein neues Ziel suchen mußte, und noch

eines, und noch eines. Für Louis dwfte es niemals Stillstand geben, wenn das auch

bedeutete, daß er sich aufdiesem kleinen Eiland unsinnig im Kreise drehte. Zeitseines Lebens war er ein Nomade gewesen, der es nie lange an einem ft aushielt

oder aber zumindest Gewißheit haben mußte, daß er sofort der gastlichen Stätte

entfliehen konnte, wenn es ihm dort nicht länger behagte, Ein ,,Heim" war nie-

mals das Ziel gewesen, welches er sich erträumte; er fühlte sich dort wohl, wo sein

Klan lebte, und zog es deshalb vor, sich mit der Familie im Schlepptau kreuz und

quer über die Meere treiben zu lassen. Dieses lebende ,,Daheim", das er benötigte,

zwang er stets dazu, ihn auf Gedeih und Verderb zu begleiten.

Die neuartige, kompromißlos seßhafte Lebensweise, welche Louis' Ikankheitihm seit ein paar Monaten aufzwang, war seiner wanderlustigen, reisewütigenNaix

so sehr zuwider, daß sie ihn zu Kapriolen wie dem Straßenbauvorhaben und diver-

sen Rodungsexpeditionen geradezt nötigte. Er brauchte wenigstens die Illusion,sich dynamisch zu bewegen, seinen Lebensraum zu erweitern, ständig das zu tun,

was man im Volksmund,,sich verändern" nannte. Ein Mensch, der seine Kindheit

im Krankenbett verbracht und seit dem ersten selbst?indigen Schritt vor die Haus-

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tär den gesamten Erdball unsicher gemacht hatte, um seinen übermächtigen

Freiheitsdurst zu löschen, konnte sich unmöglich mit dem geringen Auslauf zu-

friedengeben, den diese lächerlich kleine Insel zu bieten hatte. Jede Faser seines

Körpers, jeder überreizte Nerv in ihm lechzte nach Bewegung, Fortbewegung.

Nur hektische Betiebsamkeit verschafüe einem solchen Mann vorübergehend einen

unzureichenden Ausgleich.

Trotz all seiner bisherigen Verstöße gegen die ungeschriebenen Gesetze des

Insellebens hatte Louis noch nicht einmal emsthaft danit begonnen, seiner im-

mensen Energie ungezügelten Lauf zu lassen. Seine Vorräte an nervösern Elan

und übersteigerter Lebhaftigkeit waren schier unerschöpflich, wie Fanny aus lang-

jlihriger Erfahrung wußte. Bisher hatte Louis sich eher vornehm zurückgehalten,

anstatt sich auch nur annähernd zu verausgaben. Die gelinde Verdrehtheit, von

welcher Straßenbau und künstliche Bewässerung zeuglen, stellte erst den ,,be-

scheidenen" Anfang einer unaufhaltsamen Entwicklung dar. Gerläugenommen

repräsentierte sein Kanalisierungsprojekt nur Louis'Versuch, sich'selbst und sei-

nen überspannten Drang im Zaumzu halten - ein bescheidenes Ventil für ihn zu

schaffen, das den gehetzten Gefangenen davor bewahrte, füiher oder später vor

unterdrückter Wanderwut einfach zu zerbersten!

Den Besuchern, welche ihm ihreAufuartung machten, spielte Louis den ruhi-

gen, friedlichen, abgeklörten Zeitgenossen vor, den er so gern verkörpert hätte -und der er in seiner privaten Einbildung womöglich wirklich war. Ausnahmslos

jeder Gast pflegte während Louis'Abwesenheit, in den Phasen täglichen Schrei-

bens, die er noch immer gewissenhaft einhielt, mit verträumter Miene davon zu

schwärrren, wie vollkommen Louis sich in das Inselleben eingefügt habe. Man

bewunderte seine F2ihigkeit, in den Sitten und Gebräuchen seiner neuen Heimat

regelrecht aufzugehen; man stellte mit Erstaunen fest, wie rigoros Louis der Zivi-

lisation entsagt hatte, bis er ihrer überhaupt nicht mehr bedurfte; man nahm mit

Entzücken zur Kenntnis, daß Louis schlicht der glücklichste Mann auf Gottes Erd-

boden war! Niemand von diesen Leuten ahnte, daß Louis nicht jener Sorte von

Schriftstellern angehörte, der es genügte, j atrzehntelang in demselben stillen Winkel

zu hocken und sich lediglich in der Phantasie, einzig durch Pegasus' Flügel geha-

gen, von Orl zu Ort zu schwingen. WZihrend des Schreibvorganges zog sich Louis

zwar fast völlig in sich zurück, doch wenn nicht alle paar Monate, zuweilen sogar

Wochen, ein radikaler Ortswechsel erfolgte, versiegte die Quelle der Inspiration

bald. Das gelobte Dichterpferd, zu dem seßhafte Gemüter Zuflucht natrmen, hatte

Louis niemals als Transporbnittel ausgereicht. W?iren da nicht seine kranken Lun-

gen gewesen, die ihn von einem vielversprechenden Kurort zum nächsten gehie-

ben und seinen Reisen den seriösenAnstrich eines GesundheitskrevzzJges verlie-

henhatten, wdre den meistenMenschenwohl eher aufgefallen, daß Louis im Grunde

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seines Wesens nur eines war: ein unruhiger, getriebener Geist - ein ewiger Wande-

rer. Nun aber, da der rastlose Geist auf der Insel gefangen war, entwickelte er sich

zu einer ernsten Bedrohung für sich selbst und seinen ungewollten Ankerplatz.

Louis war mehr als ein Seemann, er war ein fleischgewordenes Schifl das mitMacht hinaus auf die sieben Meere zurückstrebte ... doch obwohl er bestZindig

unter vollem Dampf stand, bereit zum sofortigenAufbruch, mußte er für den Rest

seiner Täge im Hafen bleiben. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der unaufhalt-

sam ansteigende Druck den Kessel endlich zum Platzen bringen würde.

Einen Landshich so nachhaltig zu kultivieren, wie Louis es aufUpolu tat, wäeihm unter normalen Umständen nicht im Traum eingefallen. Auch auf die Enich-tung eines solch hochherrschaftlichen Hauses hätte er keinen Gedanken verschwen-

det - machte er sich doch stets viel nt früh aus dem Staub, um eine Wohnung

ordentlich einzurichten oder gar ein Heim zu schaffen. Er wünschte sich ja gar

keines! Ein Haus verlangte danach, unterhalten zu werden, nötigte ihm Augen-

merk ab, engte ihn ein, kurz: Es war ein Klotz an seinen Wanderstiefeln. Hier aufder Insel blieb Louis nichts anderes übrig, als sich ein Heim zu schaffen. Undobgleich sein nunmehr umgeleiteter Wandertrieb ihn dazu veranlaßte, dieses Zu-hause ständig auszubauen und zu vergrößem, wuchs doch gleichzeitig sein Haß

auf die allerletzte Heimstatt, die er nie hatte besitzen wollen. Das von den Besu-

chern als Palast gepriesene Herrenhaus von Vailima galt ihm nicht mehr als eine

kunstvoll geschmückte Kerkerzelle! Er, der Bewohner, vergrößerte zwar in müh-

samer Kleinarbeit die Abmessungen seiner Zelle, doch irgendwann mußte er an

die Außengrenzen der Geflingnisinsel Upolu stoßen.

Dieses ominöse,,Irgendwann" wtirde schon sehrbald eintreten. Louis residierteja bereits auf der höchsten besiedelbaren Spitze des Eilandes; er hatte für eine

bequeme und geräumige Verbindung mit dem unteren Rest der Insel gesorgt. Das

Territorium von Vailima würde er im Handumdrehen verwandeln, wenn sein Tempo

anhielt - und da seine Geschwindigkeit in direkter Proportion zu dem wachsenden

Überdruck in seinem Hirn stand, durfte sie sich wohl eher steigern denn verrin-gern. Im Hintergrund all seiner Bemühungen existierte nattirlich noch der Berg

Vaea, der unwiderruflich steilste und höchste Punkt der Insel ... Auf dem Vaea

allerdings gedachte Louis nicht zu wohnen - vorläufig jedenfalls nicht. Bevor er

dort droben ankam, sollte noch eine Menge Zeit verstreichen.

Über kurz oder lang würde Louis sich sein Stück Schottland aus dem Stein-

bruch von Samoa herausgehauen haben. So riesig das verzauberte Areal dann auch

sein mochte, es konnte dem rastlosen Häftling nicht auf Dauer genügen. Selbst

wenn ihm das Unmögliche gelänge, auf dern neuen Land Heidekraut anzupflan-

zen oder gar Torfzu stechen, wärde Louis auch dieser wunderbaren Scholle späte-

stens nach ein paar Wochen überdrüssig werden. Es war schlicht unvereinbar mit

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seinem unsteten Charakter, daß er auf einem Gebiet von wenigen Hektar einge-

pfercht wohnen sollte! Hätte Louis' Gesundheit ihm das Überlebenin Schottlandgestattet - freilich immer unter der Bedingung, daß er sich auch dort auf ein win-ziges Landgut beschränkte -, wäre er wohl in panischer Flucht aus dem Gelobten

Land davongesttirmt, ohne sich noch einmal umzuschauen.

Ein Sfeuner und Nomade wie Louis war dazu geschaffen, es seinem VorbildRobert Burns gleichzutun und dem Hochlandhirschen nachn$agen, sofern er nichtgerade vollauf damit beschäftigt war, die rauhe See zu bezwingen, Auch die Büf-felherden der amerikanischen Prlirie hätten ihm als Leittiere zru Not ausgereicht.

Ja, sogar die verwilderten Hausschweine von Samoa hätten Louis' Jagdträumen

genügt, wäre nur mehr Platz gewesen, sie zu verfolgen! Was war das für ein armer

Jäger, der nicht einmal haben, geschweige denn galoppieren durfte?

Für einen unersättlichen Geist wie Louis gab es in letzter Konsequenz nur eine

logische Möglichkeit, und diesenAusweg sah der Inseldämon seit lgngem voraus.

Auch der Schutzgeist der Insel erkannte nämlich, warum das Schioksal Louis nicht

zum Leuchtturmingenieur hatte werden lassen. Louis gehörte nicht zu den

Stevensons, die festgefügte Gebäude errichteten, unverrückbare Orientierungs-

marken für Seefahrer, schützende Häfen für verlorene Seelen. Er war im Gegen-

teil einer dieser ewigen Herumtreiber, für die seine Vorfahren jene Fixpunkte über-

haupt erst konstruiert hatten! Schlimmer noch, er zählte ja nicht einmal zu den

Seefahrern, die ihrem Berufnachgingen, um Frau und Kinder zu erndhren, son-

dern zu den Weltenbummlern, die sich einzig aus einer unsinnigen Laune heraus

zum Spielball der Wogen machten. Suchte Louis einen der Häfen auf, die seine

Väter für die reisende Menschheit gebaut hatten, so gestaltete sich derAufenthalt

als bloße Stippvisite. Was konnte ein Vagabund wie Louis schon mit der Gebor-

genheit anfangen, die ein Hafen bot? Jeder sichere Port, in dem er sich zu lange

auftrielt, erschien ihm bald unweigerlich wie eine Falle. Und auch die vielgelieb-

ten Leuchttürme! Nur wenn es Louis gerade gefiel, folgte er dem Licht eines fe-

sten Turmes; ansonsten zog er bereitwillig und aus freien Stücken jedes Idichtvor, das seine Bahn kreuzte und ihn vom rechten Weg abbrachte. Darauf legte er

es geradezu an - denn es war eine Sache, die Leistungen seiner Ingenieursahnen

zu preisen, eine ganz andere aber, den leuchtenden Vorbildern zu folgen! Gab es

irgendwo eine lockende Fata Morgana, der man erliegen konnte, dann galt es, die

aufdringlich blinkenden Warnsignale gründlich zu ignorieren ... auch wenn dies

bedeutete, daß man einer tödlichen optischen Täuschung zum Opfer frel.

Die heimtückische Halluzination, welche mittlerweile Louis' gesamtes Sinnen

und Trachten in die Irre leitete, war seine Vision eines Kaledonien, das er auf dem

Landwege zu erreichen gedachte. All seine aberwitzigen Projekte liefen darauf

hinaus, daß er der Luftspiegelung des wirklichen Schottland hinterherjagte, die

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sich in seinem Verstand breitgemacht hatte. Die Stevensons galten seit jeher als

eine Familie von Magiern, denen jedes Mirakel zuzutrauen war; Louis wärde am

Ende gar noch das Wunder zustande bringen, in einem Flaschenschiffnach Schott-

land zurückzukehren, wenn ihm jede andere Spielart der Seefahrt verwehrt blieb!

Wie sein Großvater, Vater und Onkel, die treulich dem schottischen Northem-Lights-Amt gedient hatten, wollte natürlich auch Louis diesen,,Nordlichtern" nach-

streben. Unglücklicherweise bedachte er dabei nicht, daß dieselben Lichter, wel-che seinen Vorfahren als legitime Anhaltspunkte gegolten hatten, für den Bewoh-

ner einer Südseeinsel ungef?ihr soviel praktischen Wert besaßen wie Elmsfeuer. Es

war ein böser Stern, dem Louis da folgte. Wenn er sein Ziel auch erreichen moch-

te, so erwartete ihn am Ende der ,,Reise" doch zweifellos jene völlige Vernich-

tung, welche das Land seines Ursprungs nicht hatte bewerkstelligen können.

Fanny wußte, daß jede Wamung vergebens gewesen wdre. Louis'Handeln wurde

von übermächtigen Naturgesetzen bestimmt: den Gesetzen von Louis'Natur, die

sich als mindestens so unbeugsam zu erweisen pflegten wie jedes andere kosmi-

sche Zusammenspiel von Ursache und Wirkung. Daß Louis die Gefährtin mit Vor-

Iiebe seinen ,,Leuchtturm" nannte, wenn sie ihm Vorhaltungen machte, kam nichtvon ungeführ - auch Fanny wurde einfach igrroriert oder stillschweigend umrun-

det, wenn sie Louis'verrückteren Launen im Wege stand. Er gehorchte ihr nur

dann aufs Wort, wenn es ihm zuf?illig paßte. In dem Stadium der Besessenheit

aber, welches er inzwischen erreicht hatte, war er schon vernünftigenArgumenten

nicht mehr zugänglich. Wie um Himmels willen sollte Fanny ihn da vor einem

Dämon wamen?

Vielleicht, dachte Fanny plötzlich, wäre der Geist der Insel frotz aller Eskapaden

niemals so wütend auf Louis geworden, wenn der Schotte Samoa als neuen Wir-kungskreis hätte akzeptieren können. Er verzieh Louis nicht, daß dieser seine Be-

mühungen in den Dienst einer fremden, kalten, fernen Welt stellte, für die er das

gastfreundliche Samoa jederzeitztr opfern, ja zu vernichten bereit war. Daß Louisdie Menschen zurArbeit gezwungen hatte, war von Übel doch eine gewisse Macht

über die Bewohner hatte er dem Frerndling mit der Flasche selbst verliehen. Daß

Louis nicht aufhören wollte, den Urwald zu roden, war sicher noch weit schlim-

mer, aber der Fremde unr pelgfania existierte nun einmal unter anderen Vorzei-

chen als eingeborene Insulaner. Was der Dämon Louis nicht vergeben konnte, war

der Verrat an der Insel, die ihn liebte.

,,Bedenke, daß es nicht deine Insel ist, über die du gebieten kannst", hörte Fanny

ganzin ihrer Nähe eine Stimme sprechen. ,,Sie gehört dir nicht, war nie dein Ei-gentum. Ein wohlmeinender Geist hat sie dir einst als Lehen überlassen, doch in

deinem Übermut hieltest du sie für ein Geschenk. Aber kein Sterblicher darf nach

Gutdünken über sie verfügen." Dann sagte die Stimme: ,,Sie hat dir so viele Schät-

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ze geschenkt, diese Insel, und du solltest trotz allem deinem Schicksal dankbarsein. Dennoch wäre es keine Überraschung, wenn du ihr am Ende selbst den sa-

moanischen Namen nicht mehr gönnen wolltest."Fanny blickte verwundert auf, nachdem sie diese Rede vernommen hatte. Die

Stimme hatte sehr nahe geklungen, als säße ein Fremder unmittelbar neben ihr,

doch als sie sich umschaute, sah sie nur die vertrauten Gesichter der Familie. Was

sie allerdings in den Blicken ihrer Lieben lesen mußte, die ausnahmslos gebannt

auf Fanny geheftet waren, verriet ihr die traurige Wahrheil Es war Fanny selbst,

die gesprochen hatte, ohne sich dessen auch nur andeutungsweise bewußt zu sein.

,,Oh, Muttef', stöhnte Belle in theatralischem Schmerz laut auf, ,,übertreibst du

es nun nicht ein wenig? Wir bringen natürlich größtes Verständnis für deine, Zih,

Unpäißlichkeit auf, wie Louis sie zu nennen beliebt, aber alles hat doch seine Gren-zen. Wenn du hier mit tiefen Grabeslauten das Orakel von Upolu mimen möchtest,

laß bitte mich ats dem Spiel."

Brennende Schamröte stieg Fanny ins Gesicht. Sie fand keinArgrment zu ihrer

Verteidigung - wie sollte sie auch? Ausgerechnet Lloyd eilte der Mutter zu Hilfe,obgleich er die Lage völlig falsch einschätzte, wie sich bald herausstellte.

,,Du bist ein rechtes Ekel, Schwestetherz", begann er. ,,Es ist immerhin erst

eine Stunde her, daß Mutter ihr Zimmer verlassen hat. Zweifellos ist sie noch

erschöpft. Wir plaudern munter darauflos und erwarten einfach von ihr, daß sie

blitzschnell jedem unserer Gedanken folgt! Mutter hat lediglich ihre Meinung zu

der neuesten Übersetzung der Schqtzinsel ntmbesten gegeben - habe ich nichtrecht, Mutter?"

Fanny blinzelte zunächst verwird, um Lloyd dann ein zaghaftes Lächeln zu

schenken, aus dem jedermann bei Tisch eine Bejatrung herauslesen durfte, wenn

er das wollte.

,,Nun," fuhr Lloyd fort, ,,ich persönlich hnde, daß Louis die ausschließlichen

Besitzrechte an seiner Insel zustehen. Natürlich hat ein Schöpfergeist ihm die Idee

dazu eingegeben, wenn man es denn so feierlich ausdrücken möchte - und einen

winzigen Beitrag hat sogar meinebescheidene Muse geleistet. Aber ohne Louis'Niederschrift gäbe es die Insel doch überhaupt nicht! Niemand sonst auf der Welt

hätte sie erschaffen können, göttliche Inspiration hin oder her. Deshalb vertrete

ich die Meinung, daß die Insel sehr wohl Louis' alleiniges Eigentum darstellt, mitdem er machen kann, was er will. Von den Tantiemen läßt es sich gut leben, wofürwir dem Schicksal auch wirklich dankbar sein dürfen. Nur ... wie kommst du bloß

auf die Idee, Mutter, Louis könnte etwas gegen den samoanischen Titel einwen-

den? Er ist eine genaue Übersetzung, die Missionare halten sich exakt an die Vor-

lage, und Louis wäre der letzte Mensch auf Samoa, der nicht von Herzen gern

seine Werke für einen guten Zweck zur Verfügung stellte."

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Louis grinste amüsiert. ,,Das war ein brillantes Verteidigungsplädoyer, Lloyd.

Du hättest Anwalt werden sollen. Einen besseren Advokaten, als ich es bin, gäbest

du allemal ab."

Lloyd lächelte stolz in sich hinein, hocherfreut durch das Lob aus dem Munde

seines Idols. Louis wandte sich schon wieder anderen Themen zu. Fanny saß nur

still da, beide Hände im Schoß. Sie verstand nun, daß sie in einer anderen Welt

lebte.

,,Würdet ihrmichbitte entschuldigen, meine Lieben?" murmelte sie in die Runde

und erhob sich von der Tafel, ohne eine Antwort abzuwarten. ,,Ich muß - ich muß

nach dem Gemüsegarten sehen." Mit unsicheren Schritten überquerte sie die Ve-

randa. Auf den Stufen angelangt, die zum Rasen hinabführten, hörte sie hinter sich

lsobels schnippische Bemerkung.

,Dafur ist es wohl ein bil3chen spät, findet ihr nicht?"

Fanny atmete erleichtert auf, sobald sie den Klan hinter sich gelassen hatte ...

obwohl es sie zugleich traurig stimmte, daß sie den Drang verspürte, dem trauten

Kreise der eigenen Familie zu entkommen. Sie machte sich wie angekündigt auf

den Weg zu ihrem Gemüsegarten - oder besser zu der Ruine, welche von der

cinstmals umhegten und mit Adlerblick umsorgten Parzelle übriggeblieben war.

Dunkel erinnerte sich Fanny, wie sie die Veränderungen an dem umfriedeten Sttick

Land vorgenommen hatte. In ihrem Gedächtnis sah sie sich selbst wie eine zweite

Fanny, fremd und doch vertraut: dieselbe Fanny wohl, die soeben erst die Pythia

spielen zu müssen glaubte! Methodisch war sie darangegangen, die Unmengen

von Drahtgeflecht zu entfernen, welche das Gemüse stets vor den wilden Vögeln

geschützt hatten. Keine blinde Zerstörungswut hatte sie zu dem Schritt getrieben,

im Gegenteil - Fanny vermeinte während der Tat gute Gründe füLr ihr Tun zu besit-

zen. Jetzt erst, im Lichte der Erkenntnis, die ihr ausgerechnet im abgedunkelten

Schlafzimmer ntteil geworden wag begriff sie die Vergeblichkeit des Versuchs.

Sie hatte tatsächlich geglaubt, durch die ,,Freisetzung" ihres unter hölzernem Git-

terwerk und Maschendraht gefangenen Gemüses jenen Dämon besänftigen zu

können, dessen Territorium außerhalb des Zaunes im großen Stile vergewaltigt

wurde. Fürwah ein pathetischer Befreiungsakt, ebenso lächerlich wie hirnver-

brannt! Es war durchaus ein großes Opfer gewesen, das Fanny dem Geist der Insel

dargebracht hatte, doch es war zu gar nichts nutze. Indem sie die geliebten Toma-

ten den Attacken der Tiere preisgab und den Früchten sogar die Spaliere entzog,

an denen sie sich hochgerankt hatten, glaubte Fanny ihr Lieblingsfleckchen zivili-sierter Natur wieder der wohlverdienten Freiheit zu überantworten ... einen un-

uussprechlichen Frevel halbwegs gutzumachen. Alles, was sie dabei wirklich be-

werkstelligt hatte, war lediglich eine andere Spielart der Verwüstung. Sie konnte

nicht erwarten, den Dschungel dadurch zu beschwichtigen, daß sie Beete verwil-

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dern und Unkraut wachsen ließ und ihre bevorzugten Nahnrngsmittel an die Vö-gel verfütterte. Ein Signal hatte Fanny setzen wollen, welches dem Dämon bewei-

sen sollte, daß nicht sämtliche EinwohnerVailimas auf den Untergang des Urwal-des erpicht waren. Nun erkannte sie die Unsinnigkeit ihres Bestrebens.

Fanny bezweifelte nicht, daß ihre Früchte der schwarzbralrnen Ralle namens

veha vorztglich geschmeckt hatten, in deren Leib die einheimische Gottheit AliiTu wohnte. Auch der samoanische Star fuia, der dem Gott Moso seinen Körperzur Verfügung stellte, war mitsamt Untermieter sicherlich auf seine Kosten ge-

kommen, Ob das jedoch den Inselgeist beeindruckte, war unwahlscheinlich - weitabsurder erschien Fanny allerdings mittlerweile der Plan, durch die Vernichtung

ihres letzten Ölgemäldes die darin gefangenen,,kleinen" Geister freizulassen! Nach-

dem Fanny vor wenigen Tagen die Warnzeichen des Dämons erblickt hatte und invölligerAuflösung aus dem Urwald zurückgekehrt war, vernahm sie ununterbro-

chen die Worte der jungen Soenga in ihrem Kopf: Du und der ftiiitala, ihr kinntbeide Dämonen fangen ! Ohne lange nachzudenken, ergriff Fannj' schließlich das

Bild, welches Soenga damals so verängstigt hatte, und verbrannte es auf dem Ra-

sen, vor allerAugen ...Jenes feierlicheAutodaf6, das es an Walrnwitz getrost mit den,,Glaubensakten"

der mittelalterlichen Inquisition aufnehmen konnte, hatte nicht unbedingt dazu

beigetragen, Fannys angeschlagene Reputation innerhalb der Familie zu festigen.

Die Dienerschaft betrachtete das Speklakel mit Erstaunen und Ehrfurcht: Sie ver-

standen zwar nicht, doch Fanny fühlte sich wenigstens nicht bemüßigt, die rituellcHandlung mit Geschrei oder Tanz zu begleiten - was, wie Samoaner wußten, bei

den weißen Menschen nur ausgemachten Verrückten einfallen durfte.

Ach, wenn doch Louis, der eirzige Schotte in der Familie, zumindest einen

Anflug von der Sehergabe und dem angeblichen Aberglauben besessen hätte, dio

seinem Volk nach alter Tradition zugesprochen wurden! Als einziges Mitglied der

Sippe mit einem Zweiten Gesicht geplagt zu sein, noch dazu als Amerikanerin

ohne keltische Vorfahren, entpuppte sich immer mehr als untragbare Bürde. Die-

ses verfluchteZweite Gesicht war auf die Dauer einfach - ein Gesicht zuviel!Und doch vermochte Fanny an nichts anderes zu denken als an die apoka-

lyptischen Offenbarungen, welche sie Tage zuvor im Dschungel überfallen hatten,

an einem Morgen, der eigentlich ausgesprochen friedlich und harrronisch begon-

nen hatte. Nach einem festen, tiefen Schlummer und einem heiteren Frühsttick im

Kreise der Familie hatte Fanny sich wohlig entspannt gefühlt, beinahe glücklich.

Seit der Vollendung ihres letzten Gemäldes waren viele Wochen verstrichen, und

so beschloß sie kurzerhand, wieder einmal mit Farben und Staffelei in den Urwaldhinauszuwandern. Sie wollte diesmal statt der angestammten Lichtung ein ande-

res Gebiet in öl festhalten, ein Stück Land, das sie gut kannte und das alle Boys

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mit dem drollig klingendenAusdruckpalapala ulq'ula bezeichneten, was angeb-

lich nichts weiter bedeuten sollte als ,"rote Erde", In der Tat rechtfertigten Farbe

und Beschaffenheit des Bodens den Namen vollauf; der Grund zu Fannys Füßen

wies ein so intensives, durchdringendes Karmesinrot auf, daß er regelrecht von

innen zu leuchten schien. Obwohl die Gegend mit keiner echten Lichtung auf-

wartete, schätzte Fanny die Sichtverhältnisse an Ort und Stelle doch besser ein als

im dichtesten Dschungel - und das für diesen Platz typische Rot verlieh dem Halb-

dunkel einen zusätzlichen eigentiimlichen Reiz. Der Weg nt palapala ulq'ula

war beschwerlich wie stets, doch das Ziel des Ausfluges belohnte Fanny reichlich

für ihre Mühe. In Windeseile war die Staffelei aufgebaut, und Fanny überzeugte

sich mit einiger Erleichterung, daß genügend Sonnenlicht durch das Blätterdach

auf ihre Farben fiel, um sogar das menschliche Auge Nuancen unterscheiden zu

lassen. Bezeichnenderweise nisteten übrigens keine Schleiereulen an diesem Ort!

Es gab hier mehr Geräusche als im undurchdringlichen Teil des Dschungels,

und so fiel Fanny zuerst nicht das seltsame Gluckern und Glucksen auf, welches

unweit von ihr ertönte. Zudem war der Gurgellaut vollkommen gleichmäßig, ja

fast einschläfernd monoton, so daß er lange Zeit wohl gar nicht in ihr Bewußtsein

drang. Als sie ihn endlich bemerkte, versuchte sie ihn zunächst im Sitzen zu iden-

tifizieren, ohne ihm nachzugehen, denn ihre Skizze war bercits weit fortgeschrit-

ten und wollte keine Unterbrechung dulden. Sobald der beruhigende und wohl-

klingende Laut aber erst ihr Denken beschäftigte, gab es in Fannys Him bald kaum

noch Platz für einen anderen Gedanken: Sie wul3te schließlich, daß jenes charakte-

ristische Murmeln - aller Harmoni e ntmTrotz - überhaupt nicht hierher gehörte !

Entschlossen legte Fanny ihre Palette beiseite und stand auf, um die Quelle des

Geräusches ausfindig zu machen. Sie mußte nur einige wenige Schritte zurückle-

gen, über zwei oder drei Bodenkriecher und Luftwurzeln klettern, bis sie an den

Ursprung gelangte und damit an den Rand eines Phänomens stieß, das es an die-

sem Ort nicht gab ... nicht geben durftel

Oh, das unschuldige Plätschern des Baches vor ihr vermochte Fanny nicht zu

täuschen. Dieses Wasser konnte nicht harmlos sein, denn es besaß nicht das ge-

ringste Recht zu existieren. Es war eine unnatlirliche Erscheinung, eine Monstro-

sität, und selbst wenn es ausgesehen hätte wie jeder normale Wasserlauf von flinf

Fuß Breite, wäre Fanny unweigerlich eine Beute des Entsetzens geworden. Fanny

hatte im Laufe der sechs Jahre auf Vailima Gelegenheit genug gehabt, die vier

Flüsse des Fünfstromlandes kennenzulernen. Der erste und größte floß an der

Vanilleplantage vorbei und bildete dann die Kaskade, über die Louis'Papier-

schiffchen hinweggesttirzt war. Der zweite, ein bloßes Rinnsal, das nichtsdesto-

trotz nie ganz versiegte, schlängelte sich durch die Reihen von Tabakstauden im

Norden. Der dritte, ebenfalls mehr ein Bach als ein veritabler Fluß, beschrieb eine

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Biegung zwischen Kaffee und Kakao, ohne sich ganz für den einen oder anderen

zu entscheiden. Der vierte schließlich floß am Fuße des Berges Vaea entlang, doch

nicht aufder Seite des Haupthauses, sondern außerhalb der Umzäunung. Jenen

,,fünften" Fluß, der unverständlicherweise auch zu Vailimas Namensgebung bei-

trug, hatte niemals zuvor ein lebender Mensch zu Gesicht bekommen ... bis zu

diesem Tage.

Hatte es den sagenhaften fünften Fluß wirklich einmal gegeben? Sah man n?im-

lich von dem känstlichen Kanalsystem ab, mit welchem Louis die Strömung der

vier übrigen Gewässer bändigen und zähmen wollte, waren weder Weiße noch

Eingeborene jemals auf einen weiterenWasserlauf gestoßen. Die Regenfluten, die

in der Monsunzeit das Gebirge hinunterjagten, zählten nicht; sie waren so schnell

verschwunden, wie sie vom Himmel karrren. Wenn in einer früheren Zeit oder

lediglich in der Vorstellung der Insulanerje ein fünfter Fluß existiert hätte, dann

wäre Fanny sicherlich eine entsprechende geheimnisvolle Überlieferung zu Oh-

ren gekommen. Auf einer Insel, deren Einwohner genug Phantasie besaßen, aus

einem Reitunfall ein Massaker zu entwickeln und aus einem roten Schnupftuch

einen regelrechten Krieg, wäre wohl kein Fluß von Bedeutung auf die Dauer ohne

mythische Veörämung davongekommen. Außerdem galt das Gelände von palapalaula'ula keineswegs als unheimlich oder gar verboten, und es gab niemals das ge-

ringste Anzeichen von Angst unter den samoanischen Boys, wenn einer von ihnen

aus irgendeinem Grunde dorthin entsandt wurde oder das Gebiet auf seinem Weg

durchqueren mußte. Ebensowenig war nach dem Kauf des Landes verstohlenes Getu-

schel aufgekommen, als Louis und Fanny ihre Scherze über das Fehlen des fünften

Stomes gemacht hatten: ein weiteres untrtigliches Anzeichen dafür, daIJ die Einge-

borenen sich nichts aus derAnzahl der Gewdsser machten. Melleicht stimmte j4 was

Louis damals gesagt hatte - die lnsulaner hatten sich schlicht verzählt.

Aber für so dumm hielt Fanny die Samoaner beim besten Willen nicht. Wer

immer in grauer Vorzeit - was auf dieser Insel ein Jahrzehnt oder fünf Jahrhunder-

te bedeuten mochte - Vailimas Namensgeber gewesen war, hatte aus anderen

Motiven gehandelt und die Watrheit absichtlich ,,beschönigt". Die Samoaner liebten

von alters her den Wohlklang ihrer Sprache, und nicht nur eingeborene Stammes-

politiker strebten ein Leben lang danach, sich in der Rednerkunst zu vervollkomm-nen. Doch weniger die Überzeugungskraft der Argumente zählte wäbrend eines

öffentlichen Vortrages als in erster Linie der ungehemmte Fluß der Sprache, die

sich anmutig windende Satzmelodie, die perlengleiche Aneinanderreihung von

einlullenden, beinahe hypnotisierenden Wohllauten. Zog man diese Eigenart aller

Samoaner in Betracht, wurde schnell deutlich, warum es ihnen wichtiger erschien,

ein Wort von ästhetischem Reiz zu erschaffen, als sich sklavisch an die tatsächlich

vorhandenen Fakten zu halten! Der Schöpfer von,,Vailima" hatte vier Flüsse ge-

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zählt und nicht ein Rinnsal mehr; aber er wollte das Land nicht ,,Yaifa" nennen,

Vierstrom, denn der Laut, den diese Verbindung von Sinnelementen erzeugte, be-

leidigte Zunge und Ohrjedes oratorisch begabten Geschöpfes, von denen es hier

nur so wimmelte.

Das, entschied Fanny zögerlich, war eine wirklich plausible Erklärung der Un-

stimmigkeit, obschon sie natürlich das gegenwärtige Problem des ,iiberzähligen"Flusses nicht zu lösen half. Noch eine weitere Deutung des Namens von Vailima

schoß Fanny durch den Kopf- eine, die alles erhellte und Fanny damit kalte Schauer

über den Rücken jagte. Was, wenn eine prophetische Seele bei der Taufe des Lan-

des bereits vorausgeahnt hätte, daß dereinst ein fünfter Fluß der Erde dieses Stük-

kes Samoa entspringen würde? Hatte dieselbe Sehergestalt auch in Betracht gezo-

gen, daß ein verblendeter weißer Wohltäter aus dem fernen Peretania auftauchen

und versuchen würde, die Insel zu ,,ihrem eigenen Besten" umzugestalten? Denn

der flinfte Fluß vor ihr, soviel erkannte Fanny, stellte nichts anderes dar als das

Ergebnis der Kanalisierungsarbeiten ihres Gatten. Erst durch die künstliche Um-

leitung der vier übrigen Gewässer war er zustande gekommen. Louis, der Inge-

nieur - nein, mehr: Louis, der Stevenson! - hing der festen Überzeugung an, die

eigenwilligen Flüsse für die Zivilisation abgerichtet und in neue Kanäle gezwungen

zu haben. Doch diese Wasserstraßen von Menschenhand funktionierten nicht als

Ventile; sie engten die Flüsse ein, hielten sie gefangen, stauten ihre Wassennassen

auf . . . bis endlich ein fünfter entstand, welcher der Gefangennahme siegreich trotzte

und nur dem eigenen Willen folgte. Er floß hier, zu Fannys Füßen, und nichts hielt

ihn mehr auf. Er nahm sich jene Frefüeit, die den Gefährten genommen war: Die-

ses Produkt übermZißigen Aufstauens war nunmehr unberechenbar.

Fanny hatte sein täuschend friedliches Gurgeln vernommen, den Fluß selbst zu

Gesicht bekommen - doch konnten das nicht wieder einmal bloße Visionen sein,

Trugbilder, Chim?iren? Gehör wie Augenlicht spielten ihr des öfteren Streiche,

wie sie sich eingestand, und warum sollte es sich ausgerechnet heute anders ver-

halten! Gern hätte Fanny die Hand in das fließende Wasser getaucht, um sich zu

vergewissern: Immerhin hieß es doch, daß man nur dem vertrauen durfte, was

man anzufassen vermochte. Wollte sie das Wesen - oder Unwesen - des Gewäs-

sers begreifen, mußte sie es zuerst ergreifenkönnen. Allerdings wies der Wasser-

lauf eine Besonderheit auf, welche es Fanny schlechterdings unmöglich machte,

die Finger nach dem möglichen Phantom auszustrecken ... Das Wasser dieses

Flusses war tiefrot. Es strömte keinerlei Geruch aus, doch seine Farbe war die von

frischem Blut. Nichts auf der Welt konnte Fanny dazu bewegen, ihre ungeschützte

Haut mit einer solch unnatürlichen Scheußlichkeit in Berührung zu bringen.

Fanny kauerte am Rande des Gewässers und wußte nicht, was sie tun sollte.

Die unsinnigsten Gedanken verschafften sich ungebetenZutitt zu ihrem Bewußt-

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sein, während sie saß und in das vorüberziehende Naß starrte. Sie suchte ihr Spie-gelbild, doch das Wasser war zu trtib, um ihr Gesicht zu reflektieren. Konnte es

sich denn tatsächlich um Blut handeln? Plötzlich schob sich eine Erinnerung aus

dem Wirnvarr der Gedanken in den Vordergrund, Fanny rief sich willentlich ins

Gedächtnis, was Louis den Gästen an seinem Geburtstag über Moses, Häuptling

Pharao und die zehn göttlichen Plagen erzählt hatte.

Fanny wunderte sich, daß Louis nicht ein Wort über die erste Plage verlorenhatte, die im Alten Testament verzeichnet stand. Im Lichte des neuesten Ereignis-

ses erschien Fanny Louis'Auslassungs-,,Sünde" geradezu unheimlich. Reckz dei-ne Hand aus über die Wasser in Ägpten, über ihre Ströme und Kanäle und überalle Wasserstellen, auf dafi sie zu Blut werden ...

Unsinn! Das waren lediglich Himgespinste, Ausgeburten ihrer überreizten Phan-

tasie. Auch Louis trug eine gewisse Mitschuld, indem er Fanny täglich mit seinen

frommen Missionarstraktätchen quälte - schlimmer noch, trahiertel All das ge-

hörte mit zu dem Preis, den man dafür zu zallenhatte, mit einem selbsternannten

Prediger verheiratetnt sein. Schlimm nur, daß derselbe Möchtegern-Apostel aus-

gerechnet seine Ehefrau mit Vorliebe der Frömmelei zu zeihen pflegte.

Fanny riß sich mit Gewalt von derbiblischen Bilderwelt los und suchte krampf-haft nach einer rationalen Erklärung für die rote Farbe des Gewässers. Einmal, vorvier Jahren etwa, warihr etwas halbwegs Ahnliches zu Gesicht gekommen, und es

hatte sich in der Tat um Blut gehandelt - zu allem Unglück um das Herzblut eines

soeben erschlagenen Kindes. Eine Gruppe von Salomoninsulanern war an jenem

Tage gerade den Urwaldpfad nach Apia hinuntermarschiert. Fanny folgte ihnenmit etlichen Schritten Abstand, denn die schwarzen Arbeiter galten allgernein als

sehr viel temperamentvoller, aber auch reizbarer und geführlicher als die Samoa-

ner. Die Gruppe, Männer und Frauen, befand sich auf dem Weg zurAnlegestelledes Schiffes, welches sie nachAblauf ihresArbeitsvertrages zurück in die salomo-nische Heimat bringen sollte. Wie üblich in derlei Situationen tat sich nun einganz bestimmtes Problem für diejenigen Paare auf, die sich auf drei oder vierJahre verdungen und während besagter Zeit Nachwuchs geboren hatten. Die mei-sten brachten weder Geld noch Lust auf, die Schiffspassage für ein zusätzliches

Familienmitglied zu bezahlen, das sich zudem wäihrend der Überfahrt und später

in der Heimat nur als lästiger Esser erweisen würde. An Ort und Stelle, auf den

Salomonen, konnte man schließlich neue Nachkommen in Hülle und Fülle zeu-

gen, wenn einem der Sinn danach stand. Die auf Samoa geborenen Kinder emp-

fand man als über die Maßen störend für den weiteren Lebensweg; demnach galt

es, sie rechtzeitig wegzuschaffen. Sanftere Gemüter begnügten sich, den Nach-

wuchs ins Gebüsch zu legen in der Hoffnung, es möge sich ein Weißer des Säug-

lings erbarmen. Die radikalere und bevorzugte Methode bestand aber darin, die

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kleinen hungrigen Mäuler gewissermaßen endgültig zu stopfen, ihnen den Hals

umzudrehen oder sie über eine Klippe zu stoßen. Es war also nicht unbedingt ein

,,salomonisches" Urteil im biblischen Sinne, welches schwarze Mütter daztnxang,

sich von ihren Sprößlingen zu trennen. Das besorgten die in dieser Hinsicht recht

skrupellosen Kindsväter vollkommen unaufgefordert und nicht selten gegen den

Willen und Widerstand der Mütter. Auch an dern Tage, als Fanny das blutrote

Wasser sah, war dies der Fall. Eines der Paare vor Fanny blieb plötzlich hinter

dem Rest der Gruppe zurück. Als die beiden sich einander zuwandten, erkannte

Fanny, daß die Frau einen winzigen,,piccaninny" auf demArm trug, wie die Salo-

monen selbst, dem weißen Vorbild folgend, ihre Kinder nannten. Der Mann redete

barsch auf seine Gefiitrtin ein und griffnach dem Säugling, den ihm die angster-

füllte Mutter sofort entzog. Lange vermochte sie sich allerdings nicht gegen seine

Angriffe zu wehren; am Ende packte der Mann grob zu, bekam das Kind zu fassen

und lief damit zu einem nahegelegenen Felsvorsprung. Fanny erriet aus der Wucht

seiner Bewegungen, daß er den Körper des Kleinen auf dem Felsen zerschmetter-

te. Nach vollendeterTat warf er den winzigen Leichnam in den Flußlaufunterhalb

des Vorsprungs. Das Paar entfernte sich, die Mutter schluchzend, der Vater selbst-

zufrieden. Fanny überwand das Entsetzen, welches sie angesichts der Szene ge-

packt hatte, und lief zum Fluß. Der Säugling - genauer das, was von ihm übrig

war - schwamrn ganz langsam abwärts, wie eine zerbrochene Porzellanpuppe. Er

ließ einen feinen hellroten Schleier hinter sich, der sich allmählich auflöste, als

der geschundene Körper endgültig Fannys Blick entschwunden war.

All das kam Fanny nun wieder in den Sinn, während sie an dem roten Wasser

zu Vailima saß und sich fragte, was zu tun sei. Die rote Farbe in diesem Gewässer

stammte nicht von einem erschlagenen Salomonbaby, soviel war gewiß: Kein

Salomone kam hier herauf, um sein Kind zu töten" sondem erledigte das grausige

Geschäft auf dem Weg nach Apia - unmittelbar nachdem er begriffen hatte, daß ihm

das Kind auf dern Schiff eine Last sein wtirde. Außerdem hätte es, um ein solch

intensives Rot zu eueugen, sämtlicher Erstgeborenen der Salomonen bedurft ...

Nein, diese karmesinrote Farbtönung konnte kein Blut sein! Da, gänzlich un-

vermittelt, wurde Fanny des Rätsels Lösung zuteil. Es war der rote Boden, der das

Wasser mit seinen Mineralien fZirbte! Eine simple Erklärung, viel bescheidener als

die dumme Geschichte mit dem Blut und sehr viel glaubhafter! Warum wohl nannte

man das Sttick Land hier palapala ula'ula - rote Erde, wenn nicht aufgrund der

außergewöhnlichen Zusammensetzung des Bodens? Erleichtert atmete Fanny auf.

Die Entstehung des Flusses beunruhigte sie nach wie vor, doch wenigstens die

leidige Frage nach der Herkunft der Farbe fiel weg.

Fast schon wieder vergnügt machte Fanny sich auf den Rückweg zu ihrer Staf-

felei, als ein neuerlicher Gedankenfetzen sie zum Stehen brachte. Es handelte sich

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um einen Satz, der Fanny vor Jahren in einer Lesefibel der samoanischen Sprache

aufgefallen war und den ihr Pöre Blanvalet, der gerngesehene Gast, mit allerlei

Ausführungen und Randbemerkungen nähergebracht hatte. E lafulemu le palapala

o Samoa: Samoas Erde ist fruchtbar. Obwohl Fannys Sprachbegabung vor dem

Samoanischen kapituliert hatte, einem Ausdrucksmittel, welches mit bis zu 20

Bedeutungen für ein einziges Wort aufzuwarten hatte, war ihr dieser Satz im Ge-

dächtnis geblieben. Pöre Blanvalet erläuterte damals die Besonderheit des Wortes

palapala.,,Das Kuriosum an diesem Wort, meine Liebe, liegt nicht allein darin

begründet, daß es lediglich zwei Bedeutungen aufweist. Genauso wie das zweite

gebräuchliche Wort für ,Erde', ele'ele, mit dem es im übrigen gar nicht verwandt

ist, bezeichnet es zudem eine weitere, völlig andere Sache. Ich persönlich kann

mir auf den Doppelsinn keinen Reim machen. Nun ja. Jedenfalls sind beide Wör-

ter, palapala wrd ele'ele, Ausdrücke sowohl für ,Erde' als auch für ,Blut'. Son-

derbar, nicht wahr, Teuerste?" ,r-

Samoas Herzblut istfruchtbar, dachte Fanny und schüttelte sioh. O ja, das mit

dem Erdboden schien eine wunderbar einfache und einleuchtende Erkltirung für

den roten Fluß zu sein; doch wenn Samoas Erde in ihm enthalten war, führte er

demnach auch Samoas Blut mit sich. Folglich quoll Samoas Blut einzig deswegen

unaufhörlich mit dem Fluß den Berg hinunter, weil ein schrulliger weißer Mann es

in seiner Verblendung gewagt hatte, ein uraltes Netzwerk zu zerstören. Der fünfte

Fluß war nichts anderes als eine geplatzte Lebensader!

Fanny hattejegliche Lust verloren, sich noch länger an diesem vermaledeiten

Ort aufzuhalten. Hastig packte sie ihre Farben zusammen, schnürte lieblos die

Leinwand ein und nahm dabei in Kauf, die Skizze zu verwischen - sie glaubte

ohnehin nicht, daß sie je wieder zum Malen in den Wald gehen wtirde. Ihr direktes

Ziel war nun erst einmal das Haupthaus, in dem sie bei ihrer Rückkehr Louis

anzutreffen hoffte. An diesem Morgen war er wie so oft auf seinem Lieblingspferd

Jack ausgeritten und haffe verKindet, er werde vor Sonnenuntergang wieder im

Kreise seiner Lieben sein, was im Grunde gar nichts aussagte: Sein Kommen und

Gehen blieb stets unberechenbar. Er saß möglicherweise schon auf der Veranda

und rauchte. Fanny beeilte sich, denn sie wollte ihn dazu bewegen, sie umgehend

zu diesem Sttick Erde zu begleiten - oder diesem Gef?iß mit Blut. Louis sollte ihr

sagen, was er sah. Falls er etwas sah.

W?ihrend Fanny noch ihre Siebensachen verstaute, hörte sie hinter sich un-

vermutet Hufgetrappel. Das Geräusch war ebenso unerwartet wie hochwill-

kommen, denn der Laut verriet das Nahen eines beschlagenen Pferdes, und wer

sonst konnte das sein außer Louis? Nun würde sich sehr bald herausstellen, ob

Fannys Geist tatsächlich so umnachtet war, wie die Familie dachte! Ungeduldig

auf den Zehenballen wippend erwartete Fanny ihren Gatten, auf daß er ihr end-

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lich Rede undAnn:vort stehen möge. Die Lippen preßte sie vorAnspannung fest

zusammen.

Da der Wald an dieser Stelle weniger dicht war als andernorts, gelang es Fanny,

Louis schon aus geraumer Entfemung zu erspähen. Ja, das war unverkennbar Louis.

Seine spindeldürre, dabei kerzengerade Gestalt hob sich deutlich von dem Hinter-

grund des Buschwerks ab, als erAnstalten machte - an Fanny vorbeianeitent Was

in Gottes Namen sollte denn das bedeuten? Er mußte sie doch gesehen haben!

Trotzdem verlangsamte er weder den Schritt seines Pferdes, noch gab er mit ir-

gendeiner Geste zu erkennen, daß er seine Frau überhaupt wahrnahm. Wie ein

Schlafirandler verfolgte er seinen Weg; dennoch wirkte er alles andere als ziellos.

Mein Gott, wie schrecklich Louß in der letzten Tzit abgemagerl lsd ging es Fanny

unwillktirlich durch den Kopf, als es ihr walrhaftig gelang, seine unter dem geöff-

neten Hemd hervorlugenden Rippen zvzählen. Mehr denn je sah Louis heute aus

wie sein Vorbild Don Quijote, hager, fast skelettiert, dieweil seine schwarzen Au-

gen schon von weitem fiebrig gl?inzten und seine nervösen Finger unablässig mit

den Zügeln spielten. Er trug selbstverständlich keine Lanze, sondem sein Werk-

zeug, doch auch das mutete Fanny eigenttfunlich an: Was wollte Louis denn in

dieser Gegend roden? Näher und näher kam er, während sein Weg ihn folgerichtig

an seiner Frau vorüberführte, ohne daß sich ihre Pfade kreuzen würden.

,,Louis!" rief Fanny endlich, als sie ihre Verwimrng überwunden hatte. ,,Bleib

doch stehen, um Himmels willen!"

Aber Louis reagierte nicht auf ihr lautes Rufen. Noch einmal versuchte Fanny

ihr Glück, wiederum erfolglos. Eine ausgeprägte Beklommenheit hielt sie davon

ab, dem ersten Impuls zu gehorchen und Louis einfach hinterherzulaufen. Wollte

er nicht hören, konnte Fanny vielleicht den alten Jack dazu bewegen, den geistes-

abwesenden Reiter auf die wild gestikulierende Frau am Wegesrand auftnerksam

zu machen ... Schon wollte Fanny die Stimme erheben und Jacks Namen rufen,

als sie jäh erkannte, daß es sich bei Louis' Reittier gar nicht um Jack handelte.

Dieser därre Klepper dort vorn sah ebenso verhungert aus wie sein Herr - außer-

dem war er nicht braun, sondem besaß ein h2ißliches, von Ungeziefer zerfresse-

nes, gelblich-fahles Fell. Auf keinen Fall stammte die Schindmähre aus dem Stall

von Vailima! Mit vor Staunen offenem Mund starte Fanny Roß und Reiter hinter-

her, bis sie entschwunden waren.

Wenn Reiterund Pferd ein weiteres Phantomgebilde waren, dachte Fanny, wäh-

rend sich ihre Nackenhaare aufrichteten und eine Gänsehaut ihren ganzen Leib

überzog, wofür war dann die Sense des Fremden bestimmt? Was wollte er roden -oder wen?

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Fnmqv srAND voR dem großen Ankleidespiegel in ihrem Zimmer und fluchte leise

in sich hinein. Wie sie sich auch drehte und wendete, sie fand keinen Blickwinkel,

aus dem heraus sie sich auch nur annähemd passabel finden konnte, geschweige

denn attraktiv. Wo war nur die gefeierte Schönheit von einst geblieben? Sicher, die

alte Figur steckte dort irgendwo verborgen unter den herabhängenden Falten, zwi-

schen den kleinen Wülsten und Speckröllchen, die sich im Laufe der letzten Jahre

an ihr breitgemacht hatten - im walrsten Sinne des Wortes. Fanny hätte heute ein

Königreich für einen Spiegel gegeben, der sie nach Strich und Faden belog oder

ihre gedrungene Matronenfigur wenigstens in einen barmherzigen Nebel einhüll-

te. Das Exemplar vor ihr blieb unerbittlich in seiner Ehrlichkeit und zeigte eine

Fanny mit fast völlig ergrautem Haar, herabhäingenden Mundwinkeln und einem

schlaffen Kinn, welches sich in nicht allzt femer Zeit auf halbem W,ege mit ihrem

Brustbein treffen würde. Der einzige Trost, der ihr vergönnt war, hätte einen leicht

bösartigen Beigeschmack: Famys einstmals ebenso angebeteter Isobel erging es

bei diesem Klima nicht viel besser; Mutter und Tochter waren, was das Alter be-

traf, kaum noch nennenswert zu unterscheiden. Nun, Louis liebte sie beide so, wie

sie waren - aber welche Wahl blieb ihm schon?

Ausgerechnet heute hätte Fanny gern einen besonders guten Eindruck bei Lou-

is'Gästen hinterlassen. Es gab an diesem Tage gleich zwei wichtige Anlässe zu

feiem: das glückliche Ende des Straßenbaus und Louis' 44. Geburtstag, den er

kurzerhand um einige Wochen vorverlegt hatte, um beide Gelegenheiten und de-

ren aufinrendige Vorbereitungen miteinander verbinden zu können. Obwohl Fanny

die Idee nicht sonderlich behagte, Geburtstage zu einem früheren Zeitpunkt ntfeiern - ein Vorbehalt, der zugegebenermaßen bloßem Aberglauben entsprang -,zeigte sie sich diesmal mehr als einsichtig. Louis freute sich wie ein Kind über

seine neue Straße, er war seit Tagen vor wonnigerAufregung ganz außer sich und

hatte immer und immer wieder gejubelt, daß er sich vor Glück wie neugeboren

fühle. ,,Das rsf doch wie ein Geburtstag, Fannf', sagte er dann, ,das ist genauso

wie damals, als wir das erste Mal in die Südsee kamen und ich deutlich sptirte, wie

jedes einzelne Molektil in meinem armseligen Leib sich neu bildete! Die Straße ist

fertig, und nun habe ich das Gefühl, jedes verflixte kJeine Atom tanzt gerade auf

einem Galaball zu meinen Ehren!"

Solange nicht stimtlicheAtome in Louis'Gehirn gleichzeitig im Polkatakt her-

umwirbelten, bestand also noch ein Funken Hoffirung, und so unterstützte Fanny

Louis' Plan einer doppelten Festivität. Seine Begeisterung kannte keine Grenzen:

Von Natur aus ein Philanthrop, liebte Louis nun jede Kreatur auf Gottes Erdboden

so überschwenglich, daß sich die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung

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vor seinen Sympathiebekundungen kaum mehr zu retten vermochten. Am meisten

hing Louis aber an jenen Häuptlingen, die ihm ,,seine" Straße gebaut hatten. Er

erinnerte sich scheinbar weder an seine Drohung mit der Flasche noch an seinen

Arger angesichts der letztendlich fehlgeschlagenen Hinhaltetaktik - er wußte nur,

daß er diese wunderbaren, zuvorkommenden Menschen liebte, liebte, liebte!

Fanny probierte ein brokatbesetztes rotes Kleid an, das in früheren Tagen ihre

weiblichen Rundungen stets nachdrücklich zur Geltung gebracht hatte. Das tat es

nach wie vor, sehr zu Fannys Leidwesen allerdings, denn im Gegensatz zum Kleid

hatten sich ihre Leibesfornen außerordentlich ... entwickelt Fanny bemerkte in-

nerlich keinerlei ,,molekulare Neubildung" wie ihr glücklicher Gatte, und äußer-

lich kam sie sich bestenfalls vor wie eines der alten Schlachtschiffe, die manchmal

den Hafen von Apia anliefen und von denen man nicht wußte, wie lange sie der

Witterung noch standhalten würden, bevor sie mit Mann und Maus versanken.

Fanny seufzte aus dem Grunde ihrer Seele auf und mußte prompt vernehmen, wie

eine Naht am Oberteil des Kleides aus Protest gegen solch ungebührlich tiefes

Luftholen den Geist aufgab und platzte. Ftir Näharbeiten war nun keine Zeit mehr;

das rote Kleid schied aus dem Wettbewerb aus. Fanny musterte den kläglichen

Rest ihrer tragbaren Garderobe und ergriff widerstrebend ein dunkelblaues Ge-

wand. Es stand ihr zwar gut und traf durchaus ihren Geschmack, doch sie wußte

nur zu genau, daß dieses Kleid die letzte Möglicbkeit der Tarnung und damit des

Selbstbetruges darstellte. Das Kleid war - mit Verlaub - ein Sack, weit wie ein

Zirkuszelt!

Es half nichts; sie mußte sich in das Unvermeidliche fügen und sich ansonsten

mit den extravaganten indischen Seidentüchern behelfen, für die sie ihr Leben

lang eine Vorliebe gehegt hatte. ,,Ich werde immer noch besser aussehen als all die

Häuptlingsfrauen", murmelte Fanny selbstvergessen. ,,Wenn jemand zehn Bast-

matten übereinander trägt, kann niemand sagen, ob sich unter der Schicht eine

Elfe befindet oder ein Flußpferd." Irgendwann in der näheren Zukunft aber, so

befürchtete Fanny nur halb im Scherz, würde auch sie aus eben diesem Grunde

gezwungen sein, sich bei gesellschaftlichen Zusammenkiinften auf das Tragen von

Matten zu verlegen! Wieder seufzte Fanny, doch das blaue Kleid hielt wie eine

Rüstung allen Fäihrnissen tapfer stand. Plötzlich kam ihr ein recht boshafter Ge-

danke. Ob wohl Töchterlein Isobel in diesem Jalr wieder jungfüiuliches Weiß

tragen wärde wie beim letzten Mal? Und falls dem so war - wie kam sie dann

ohne Schuhlöffel hinein?

Doch dann überlegte Fanny etwas weiter und gelangte zu dem Schluß, daß es

Isobel gar nicht von Nutzen gewesen wäre, hätte sie sich heute mit Brachialgewalt

in ihr bräutliches Gewand zwängen können: Gleich bei ihrer Rückkehr würde sie

den verschwitzten Fetzen gegen ein frisches Kleidungsstäck eintauschen müssen!

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Am heutigen Tage n?imlich gestaltete sich der,,Empfang" der G?iste ein wenig

umständlicher als im Jahr zuvor, und Fanny hatte sich diesmal mit vollerAbsicht

und in weiser Voraussicht von den anderen abgesondert. Sollten ihre Lieben sich

doch ächzend und keuchend mit den Häuptlingar die Straße heraufkämpfen, um

so dem Tusitala die nötige Kulisse für seine neueste Geburtstagsaufführung zu

gewährleisten! Die lebenden Bilder, die Louis für seine Inszenierung brauchte,

würden spätestens kurz vor Vailima nur noch halbtote Bilder abgeben, aber dann

hätten sie auch längst ihren Zweck in Louis' Spiel erfüllt. Louis selbst machte der

steile Weg nichts aus, deshalb erwartete er dasselbe körperliche Durchhaltever-

mögen ohne weiteres von allen Anwesenden. Daß anderen, normalen Menschen

aufgrund von Klima und Erschöpfung gewisse natürliche Grenzen auferlegt wur-

den, vergaß er völlig. Aufdieser Insel schien ausschließlich Louis gegen die Aus-

wirkungen unmäßigerAnstrengung gefeit: Hier war eben nicht Schottland.

Louis hatte ihr bereits vor einer Woche erklärt, wie er am ,,Tage X", also dem

Feiertag der Großen Einweihung, vorangehen gedachte. Um die giroßartige Lei-

stung der samoanischen Häuptlinge angemessen zu würdigen - so Louis -, wür-

den sämtliche am Bau Beteiligten sowie deren Gattinnen, die weißen Geburtstags-

gäste und selbstverständlich der Stevenson-Klan die Straße in ihrer vollen Länge

abschreiten, Zoll für Zoll, Fuß für Fuß, Meile für Meile. Pferde waren bei dieser

Gelegenheit natürlich nicht angebracht - das hätte die wärdevolle Zeremonie nur

unnötig verkürzt! Sosehr sich Louis darauffreute, aufdern getreuen Jack,,seine"

Sfraße gen Apia hinabzusprengen und in möglichst derselben Geschwindigkeit

wieder hinaufzujagen, so sehr widerstrebte ihm der Gedanke, zur Feier der Ein-

weihung mit einer ganzen Kavalkade den Berg zu erklimmen. Entgegen all seinen

Beteuerungen gehörte die Straße nämlich Louis und niemandem sonst; es frel ihm

im Traum nicht ein, lediglich den Vorreiter in einern bunt zusammengewärfelten

Troß zu spielen. Daß er auf diese Weise seine armen Freunde und Gäste unbarm-

herzig quälte, kam ihm nicht zu Bewußtsein. Er wtirde es gar nicht bemerken,

wenn er als erster oben anlangte, frisch wie der Morgentau, während die unglück-

seligen Gestalten, welche sein Gefolge bildeten, mit heraushängenden Zwrgen,

die Köpfe beinahe über den Boden schleifend, schleppenden Ganges hinterdrein-

schnauften. Solche Details entgingen ihm einfach.

Der eigentliche Grund für das feierliche Abschreiten der neuen Straße war al-

lerdings keineswegs Louis'Wunsch, dieungeheureArbeitsleistung, welche in dem

Unternehmen steckte, auf unkonventionelle Art zu wärdigen. Bei näherer Betrach-

tung erwies sich die Zeremonie als eine Gelegenheit weit profanerer Natur. ,,Wir

machen ata,Fawry, tele qta, viele, viele Sonnenschatten! Wir holen den Fotogra-

fen aus Apia, den, der immer für die beiden Zeitungen arbeitet - er ist erstaunlich

gut für einen Provinzler. Der gute Mann wird uns auf dem Weg begleiten und muß

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alles knipsen, was ihm vor die Linse gerät! Er wird den ganzen Täg vom Nachmittag

bis spät abends bei uns bleiben und jede historische Einzelheit dokumentieren!"Historische Einzelheit, meine Güte. Keinen geringeren Wert maß Louis also

dem neugehauenen breiten Trampelpfad bei, der ein unwichtiges kleines Stück

Samoa durchzog. Dann verstand es sich von selbst, daß er Berichte über das gran-

diose Ereignis veröffentlicht sehen wollte, und zwar in sämtlichen großen eng-lischsprachigen Zeitungen der Welt, in Sydney, in San Francisco, in New York -und in London und Edinburgh. Den bescheidenen Text zu den Bildern würde Lou-is ohne Zweifelpersönlich liefern, wobei ihm jedwede Übertreibung fernlag oder

er die Sache höchstens dann ein wenig aufbauschte, wenn es sich darum drehte,

die Leistung der Eingeborenen in denAugen der femen weißen Leser gebührend

herauszustreichen. Was Louis ebenfalls mehr als einmal erwähnen würde, war dieallumfassende Liebe, die man ihm hier auf der Unterseite der zivilisierten Weltangedeihen ließ - bedeutete der Name des neuerbauten Achten Weltwunders, ,,,A.la

Loto Alofa", doch immerhin ,,Straße des liebenden Herzens"! Mehr Liebe hätten

seinerzeit, beim Bau des berühmtesten Wunders, auch die Untertanen des Pharao

ihrem Herrn kaum entgegenbringen können - jene ersten Erbauer der Pyramiden,

welche ihr Schaffen noch nicht als Fron, sondern als Gottesdienst angesehen hat-

ten. Und tatsächlich liebten die samoanischen Häuptlinge ihren Tusitala uneinge-schränkt, denn sie hatten schließlich die Feuerprobe lebend überstanden und allenDämonen erfolgreich ,,getrotzt", und so durften sie sich jetzt ihres verwirktgeglaubten und wiedergeschenkten Lebens so recht von Herzen freuen.

Louis befand demnach den heutigen Festakt für absolut wtirdig, der interna-tionalen Presse zur Verbreitung kundgemacht zu werden, damit eine weltweiteLeserschaft die Gelegenheit erhielt, Anteil an dem moralisch erhebenden Ereignisnehmen zu dürfen. Damit auch der letzte Leser begrifl was die Samoaner fürLouis unter Aufbietung aller Kräfte untemommen hatten, gab es ein Schild miteiner langen Widmung darauf, welches dem Tusitala zuerst feierlich überreicht

werden und dann als Wegzeichen am Eingang der Straße dienen sollte. Obgleichbesagtes Schild selbstverst?indlich ein Geschenk der 22Häuptlinge darstellte, de-

ren Namen unterhalb der Widmung verewigt wurden, waren die Worteeigenttimlicherweise in Englisch verfaßt ... Nun, irgend jemand wollte augen-

scheinlich nicht das Risiko des leisesten Mißverstäindnisses eingehen und hatte infeinstem Englisch die Dankesworte der Samoaner erdacht: ,,Für die außerordent-

liche Freundlichkeit von Mr. R. L. Stevenson und seine liebevolle Anteilnahme

während unserer Zeit der Heimsuchung im Kerker". Wer immer diese blumige

Wendung gewählt hatte - und Fanny hatte bezüglich des Verfassers einen alles

andere als leisen Verdacht -, wü nun wohl beinahe wunschlos glücklich ... mitAusnatrme von zwei Kleinigkeiten vielleicht. Ein Journalist aus San Francisco

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oder besser noch ein Hausfotograf der New York Times wären dem Anlaß sicher-

lich gerechter geworden als der Dilettant aus Apia" wenngleich letzterer auch stets

sein Bestes gab. Eine Gedenküafel aus Messing oder Bronze, wie man sie in den

meisten schottischen oder englischen Kirchen sah, hätte der anonyme Schreiber

der Zeilenwohl auch passender gefunden; doch dieses Detail ließ sich immerhin

nachholen. Sobald sich herausstellte, daß die Straße von ihren Erbauern wie ver-

sprochen gepflegt und regelmäßig von Unkraut befreit wurde, konnte man eine

neue Tafel errichten: Denn wer sichntmJäten bereit fand, würde zweifellos auch

den Grünspan von der Widmung entfernen!

Mittlerweile mußte der Fotograf aus Apia seine zahlreichen Sonnenschatten

zwischen Eingang und Ende der Staße eingefangen haben, denn der Nachmitüag

schritt unerbittlich voran, und es blieb hier oben noch eine Menge für den guten

Mann zu tun. Nur gut, daß die Samoaner sich im Unterschied zu vielen anderen

Insulanern nie davor gefürchtet hatten, ihrAbbild und damit ihre,$eele" in einen

schwarzen Kasten sperren zu lassen - eine auf der gesamten Weltkugel verbreitete

Vorstellung primitiver Völker. Diesen Aberglauben jedoch teilte man hier nicht,

sondem riß sich im Gegenteil formlich um jede Gelegenheit zur Selbstdarstel-

lung. Vor dem Mann mit dem dreibeinigen Kasten und dem weiten Tuch zu posie-

ren, galt als begehrenswerteAbwechslung; neben dem Tusitala abgebildet zu wer-

den, war schlicht das höchste aller denkbaren Privilegien. Somit konnten die Sa-

moaner sich glücklich preisen, daß auch Louis sich schrecklich gern porträtieren

ließ, denn auf diese Weise gerieten viele von ihnen als prächtige Untermalung mit

auf das jeweilige Bild. Doch weil Louis nicht eitel war, achtete er immer sorgsam

darauf, daß man sämtlichen Fotografien ansah, wie ausgesprochen spontan sie

gefertigt worden waren. Auch Louis wdr za seinem Entzücken aufgefallen, daß

die Samoaner keinerlei Angst vor dem Seelenfänger mit dem schwarzen Umhang

zeiglen. Wenn kräftige, mit prächtigen Federn herausgeputzte Krieger neben Lou-

is in die Kamera starrten und dabei eine finstere und drohende Miene aufsetzten,

dann geschah das aus Imponiergehabe heraus, nicht aus Furcht. War nämlich das

Ritual beendet, legten sie sofort alle Verstellung ab und gaben sich von neuem

ihrer Hauptbeschäftigung hin: dem Schwatz. Louis fand es wundervoll, wenn die

Männer neben ihm imposant wirkten, denn die Leser daheim in Peretania konnten

daran erkennen, daß er wilde Gesellen um sich zu scharen pflegte.

,,Weißt du, Fanny," hatte er einmal zu seiner Frau gesagt, ,,ich halte es gar nicht

flir ausgeschlossen, daß so eine Kamera auf die Dauer die Seele einfüngt, mit jeder

Aufnahme ein kleines Sttickchen mehr davon. Sollte dem so sein, ist meine arme

schwarze Seele läingst in dem schwarzen Kasten gefangen."

Fanny lächelte versonnen, als sie an Louis'Worte zurückdachte. Mit langsamen,

bedächtigen Bewegungen h?ingte sie die Kleider zurück in den Schrank, welche

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sie bei der heutigen Anprobe hatte aussortieren müssen, bis endlich nur noch das

blaue Zirkuszelt übriggeblieben war. Wenn die anderen schwitzend und halbtot

hier ankamen, konnte Fanny als einzige einen halbwegs kühlen Eindruck machen.

Lloyd, das wußte sie, brachte die Sfrapaze des Aufstiegs fast ebenso nonchalant

hinter sich wie sein Vorbild Louis - doch die arme Isobel, die unter keinen Um-ständen auf einen ,,Sonnenschatten" verzichtet hätte, würde auf allen vieren ins

Haus gekrochen kommen und damit in den Augen der Gäste ein klein wenig vonihrer Grazie einbüßen ... Sofort schämte sich Fanny dieses bösen Gedankens, umgleich darauf über das Wortspiel zu kichern: Um an ihren Sonnenschatten zu ge-

langen, nahm Isobel einen meilenweiten Weg ganz ohne Schatten inmitten der

glühenden Sonne in KauflFanny begutachtete sich ein letztes Mal im Spiegel, hal3te den Anblick und

nickte ihrem Abbild trotzdem entschlossen zu. Dann machte sie sich auf den Weg

hinunter zur Veranda. Wie im vergangenen Jahr hatten die eingeborenen Mädchen

eine opulente Tafel vorbereitet, doch diesmal nicht im Inneren des Gesindehauses,

sondem auf der etliche Fuß breiten Veranda eines Nebengebäudes. Der Grund

hierfür schien einleuchtend: Der Fotograf aus Apia würde keine Schwierigkeiten

mit den Lichtverhältnissen bekommen; von allen Seiten strömte noch immer ge-

nug Helligkeit auf die ausgebreiteten Köstlichkeiten. Und noch etwas fiel Farurys

Adlerblick auf. Einen Überfluß von Speisen gab es zu sehen, einenAnschein von

Üppigkeit und Luxus, der den unwissenden Betrachter wohl oder übel erschlagen

mußte. Den unwissenden europäischen Betrachter ... Die Menge der dargebote-

nen Früchte übertraf die des Vo{ahres bei weitem. In Hülle und Fülle lagen sie

kunterbunt durcheinander, übereinander, türmten sich hoch aufund ließen nichtdas winzigste Fleckchen Verandaboden hindurchschimmem. Doch sah man ge-

nau hin, so erkannte man, daß es sich hier um eine Ausstellungsvitrine handelte,

eine reine Augenweide, aufs geschickteste angeordnet flir Menschen, denen durch

den bloßenAnblick das Wasser im Munde zusammenlaufen sollte. Natürlich wa-

ren die dem Blick dargebotenen Früchte elSbar, das verstand sich; doch sie stellten

rein gar nichts Besonderes dar auf dem mit Früchten aller Art so überreich ge-

segneten Eiland von Upolu. Ananas, Brotfrucht und Kokosnuß bestimmten das

Bild. Es gab keine ausgeklügelten Delikatessen wie im letzten Jahr, aus einem

einfachen Grunde: Jene Speisen schmeckten den Insulanern ausgezeichnet und

galten allgemein als heißbegekt - doch sie wirkten wenig ansprechend auf Foto-

grafien. Und die heutige Tafel, soviel stand felsenfest, war für einen Fotografen

gedeckt worden ... mithin für die Blicke der Leser.

Wie schön, da/3 wenigstens Louß'Freunde in Peretania kulinaisch auf ihre

Kosten kommen werden, dachte Fanny säuerlich. Nun, zumindest ein großes

Schwein würde allerdings heute serviert werden; es gab also doch einen Licht-

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blick. Fanny hatte gesehen, wie die Mädchen sich in der Küche an dem Tier zu

schaffen gemacht hatten. Es paßte nicht recht in die Kochstelle faa Samoa; das

Erdloch, welches solch ein Monstrum von Schwein zum Garen benötigte, wäre

groß wie ein Vulkankrater!

Vom Tor her ertönte Mafulus aufgeregtes Geschrei: Die Gäste kamen also -oder wenigstens die zähsten unter ihnen, die die Qualen des Aufstiegs bei sengen-

der Sonne überlebt hatten. Denn ein Nachteil des Straßenbaus hatte sich sofort

herausgestellt, von dem der Reiter Louis jedoch nichts wissen wollte: Für den

Wanderer war der Weg mühsamer denn je, weil kein verhaßter Urwald mehr da

war, ihm Schutz vor den gnadenlosen Sonnenstrahlen zu gewähren. Überall warnur glühendes Licht.

Fanny behielt recht mit ihrer Voraussage, daß Louis der Prozession voran durch

das Tor von Vailima schreiten würde, doch er hatte nicht alle seine unglückseligen

Gefährten abgehängt. Neben ihm betrat ein neuer Gast den Garten Thsitalas, je-

mand, den Fanny einmal drunten inApia getroffen und aufAnhieb gemocht hatte.

Es handelte sich um einen deutschen Kapitäin namens Larssen, der lange Zett inder Kriegsmarine seines Heimatlandes gedient hatte und später, als das militäiri-

sche Interesse der Deutschen an Samoa deutlich erlahmte, in die internationale

Handelsschiffahrt übergewechselt war. Obwohl dieser Larssen gebürtiger Ham-

burger war und so blond und blitzblauäugig, wie man es bei einem Deutschen nur

erwarten durfte, zeigen seine Umgangsformen nichts von der übergrtindlichen,

fast krankhaften Korrektheit vieler seiner Landsleute. Seine Manieren waren makel-

und tadellos, soviel stimmte nxar; doch in seinem funkelnden blauen Blick hatten

damals Schalk undVerwegenheit geglitzert,während er sich mit Fanny im Kram-

laden unterhalten hatte. Larssen entsprach bei Gott nicht der landläufigen Vorstel-

lung, welche die meisten Frauen sich von einem schmucken Mannsbild zu ma-

chen pflegten. Seine rachitisch gektirnmten Beine untershichen noch den schau-

kelnden Seemannsgang, den er gerade in diesem Augenblick wieder deutlich an

den Tag legte, als er an Louis' Seite dwchs Tor trat. Er wirkte nicht zuletzt deshalb

wesentlich kleiner als sein Nebenmann, den er im ,,gestreckten" Zustand viel-

leicht um einige Zoll überragt hätte. Larssens von Wind und Wetter gegerbtes und

von salziger Gischt zerfurchtes Gesicht tat ein übriges, ihn weitaus betagter er-

scheinen zu lassen, als er es Fannys Berechnung nach sein konnte. Trotz seiner an

Land umständlichen Fortbewegungsweise aber hatte Larssen den Marsch offen-

sichtlich ohne die geringste Anstrengung bewältigt - er unterhielt sich äußerst

aufgeräumt mit seinem Gastgeber und begleitete seine Worte, indem er mit beiden

Armen ungestüm in der Luft herumfuchtelte. Fanny konnte an der ununteöroche-

nen Bewegung seines Mundes schon von fem erkennen, daß dieser Gast ihren

Louis, der doch von Herzen gem Reden hielt, kaum eine Sekunde zu Wort kom-

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men ließ. Nichtsdestoweniger schien Louis das Geplauder außerordentlich zu be-

hagen, was Fanny gut nachzuvollziehen vermochte: Larssen war ein weitgerei-

steq vielseitig interessierter und gebildeter Zeitgenosse, dem es im übrigen nichtdarauf ankam, in seine ohnehin faszinierenden Geschichten hierund da ein Knäu-

el Seemannsgarn einzuarbeiten. Als er sich in Apia mit Fanny unterhalten hatte,

war ihr des öfteren der Gedanke gekommen, wie passend ihm Augenklappe und

Ohrring zu Gesicht gestanden hätten - womöglich noch ein Holzbein und anstelle

der Hand ein eiserner Haken! Eine höchst eigenwillige Mixtur der gegensätzlich-

sten Charakterzüge stellte dieser Deutsche dar, was sicherlich auch in Louis'Au-gen seinen Reiz ausmachte. Fanny fragte sich allerdings im stillen, ob Louis wohlden Wesenszug bemerkt hatte, der den Deutschen vor allen anderen auszeichnete:

ntimlich seine Fähigkeit zur unbestechlich präzisenAnalyse von Mensch und Ding,

eine Gabe, welche Larssen geschickt hinter Floskeln und scheinbaren Belanglo-

sigkeiten zu verbergen wußte. Fanny hatte das Talent sofort gespürt, damals imLaden; und Larssen hatte seinerseits ihr wortloses Begreifen zur Kennüris genom-

men ... weil sie beide dieselbe Gabe besaßen. Es bereitete Fanny eine kindische

Freude, mit diesem Mann beinatre hernmungslos die absurdesten Artigkeiten und

Komplimente auszutauschen - da einer des anderen Lügengespinste durchschaute,

konnte niemand das Gegenüber !äuschen, und es herrschte inmitten aller Schwinde-

lei eineAtnosphäre ungetrübterVerhautheit. Fanny schien es fasq als kenne sie die-

sen Fremd!n schon seit Ewigkeiten. Zwei geschlagene Stunden hatten sie in Jack

Gardiners Kramladen verplaudert, und nur Jack, der jedes Wort mithörte, hatte von

ZeitanZeitböse brummend den Kopf geschüttelt und sich dabei sicherlich heimlich

gefiagt wie eineklugeFrauvonFarurys Format sich dermalJenvon der Süßhotaaspelei

eines h?ißlicheru krummbeinigen Seebären,pinwickeln" lassen konnte!

All dies war Fanny in Sekundenschnelle durch den Kopf geschossen, als sie

Larssen erkannt hatte. All dies und noch mehr: Wieder einmal hatte sie es allen

guten Vorsätzen zum Trotz versäumt, Louis ein Geschenk zu besorgen! Wie imvorigen Jahr war sie schließlich einzig deswegen nach Apia hinuntergepilgert -und erneut mit leeren H?inden heimgekehrt. Dieses Mal aber lag die Schuld ein-

deutig bei ihr, denn sie hatte sich durch den harmlosen Plausch mit Herrn Larssen

von ihrern Vorhaben ablenken lassen. Und dabei wollte es die konie des Zufalls,daß ursprünglich, wie sich alsbald herausstellte, Larssen und Fanny gleichzeitig

den Laden aufsuchten, um nach dernselben ungewöhnlichen GegenstandAusschau

zu halten. Fanny suchte nach neuen Noten für ihren Gatten, bescheidenen kleinen

Melodien, die selbst ein unmusikalischer Mensch wie Louis vom Blaff abzulesen

vermochte, wenn man ihm nur Gelegenheit zum Üben ließ. Ein paar einfache

Weisen genügten ihm und seinem heißgeliebten Flageolett, dessen QuietschenFanny manchmal wie der ohnmächtige Protest eines gequälten Wesens vorkam,

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welches dem armen Instrument innewohnte. Es bestand keine große Nachfrage

nach Notenblättem auf Upolu; die wenigen Weißen, die der Hausmusik frönten,

mußten sich auf Banjo und Gitarre beschränken, denn ein Klavier, das dem schwüen

Klima Samoas auf Dauer standhalten konnte, war noch nicht erfunden worden,

Fanny zog es vor, sich von der Katzenmusik ihres Gatten und den improvisierten

Saitenklängen ihres begabteren Nachwuchses verwöhnen zu lassen, anstatt selbst

Hand an ein unschuldiges Instrument zu legen. Und da kam plötzlich dieser Herr

Larssen unmittelbar nach ihr in den Laden geschneit und erkundigte sich mir nichts,

dir nichts nach - nein, nicht etwa nach irgendwelchen Wald- und Wiesenmelodien,

sondern nach den von ihm eigens bestellten ,,Partituren". Fanny hatte erstaunt die

Ohren gespitzt. Schnell stellte sich heraus, daß Larssen ein begeisterterAnhänger

jenes berüchtigten Richard Wagner war. dessen Kompositionen angeblich die Ei-genschaft besaßen, jedwede Zuhörerschaft unfehlbar in zwei unversöhnliche La-ger aufzuspalten , , . Eine der gewünschten Partituren war tatsächlich eingetroffen,

und Fanny warf von der Seite verstohlene Blicke auf die Noten, während Larssen

seinen Schatz gleichsam auf der Stelle mit den Augen verschlang. Eine kurze

Musterung reichte aus, um Fanny zu verstehen zu geben, daß dieses Durcheinan-

der nicht flir ihren Louis taugte. Fanny war keine geübte Notenleserin, doch sie

erkannte augenblicklich, daß ein Mann wie Wagner noch aus dem Grabe heraus

ihren Gatten in Wahnsinn und Verzweiflung zu treiben vermochte - und sein ge-

treues Flageolett in den sicheren Untergang. Entweder würde Louis es in einem

Anfall von Tobsucht in der Mitte zerbrechen, oder es wtirde sich von selbst vor

Schmerz verbiegen. Doch nicht genug der absonderlichen Vorlieben, welche Ka-pitän Larssen heimlich hegte und pflegte! Auf Fannys Frage, welches Instrument

er spiele, hatte der unmögliche Mensch geantwortet, er trage sein Orchester mitsich im Kopf herum - das habe sich insbesondere bei hohem Seegang als prakti-

scher erwiesen. Er war es mithin voll und ganz ntffieden, die Partitur ausgiebig zu

studieren und dabei die Männlein in seinem Ohr zu dirigieren ... womöglich von

der Brücke seines Schiffes aus!

,,Darf ich Ihnen meine geliebte Gattin vorstellen, Kapitän Larssen?" hörte Fanny

Louis' Stimme direkt vor sich und öffnete erschrocken die Augen. Sie hatte also

schon wieder vor sich hingeträumt. Es war langsam, aber sicher zum Verzrveifeln!

,,Fanny ist in letzter Zeit ein wenig indisponiert, doch sie darf zweifellos mit

Ihrer Nachsicht rechnen." Louis klang amüsiert, als er das sagte, was Fanny ganz

erheblich verdroß.

,,Nun, Ihre Gattin zieht es offenkundig vor, allein auf die Stimme in ihrem In-

neren zu lauschen, anstattjenen Eindrticken Glauben zu schenken, welche profa-

nere Sinnesorgane den Menschen eingeben. Das ,Handfeste', wie schlichte Ge-

müter es zu nennen belieben, erweist sich allzuoft als bloße Gaukelei."

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Mit diesen Worten verbeugte sich Larssen galant vor Fanny und verehrte ihrden wohl vollendetsten Handkuß, der jemals einem weiblichen Wesen nrteil ge-

worden war. Fanny konnte sich nicht erinnern, während all der Jahre in Frankreich

etwas annfüernd Ahnhches erlebt zu haben. Die Männer dort genossen zwar den

Ruf raffrnierter Liebhaber, doch im Überschwang ergriffen sie denArm der Dame

meist wie einen Pumpenschwengel und pflanzten ihr alsdann ein feuchtes Zeichen

der Zuneigung aufden Handrücken. Vielleicht bedurfte es am Endeja ausgerech-

net deutscher Grtindlictrkeit, diesem erlesensten Ausdruck der Verehrung den letz-

ten Schliffzu verleihen?

Fanny sptirte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Verlegen wandte sie den

Blick zur Seite ... um gewahr zu werden, daß Louis nicht länger lächelte. Er run-

zelte die Stirn und kniffdie Augenbrauen zusammen; seine Körperhaltung verriet

Anspannung. Fanny staunte über die gänzlich ungewohnte VerZinderung in seinem

Benehmen, bis sie schließlich begriff: Der dumme Mensch war doch tatsächlich

ein wenig eifersüchtig geworden! Grundlos oder nicht - Fanny konnte kaum leug-

nen, daß ihr sein Unbehagen schmeichelte. Im Mittelpunkt des Interesses zweier

besonderer Männer zu stehen, behagte ihr ebenso. Sie fühlte sich beinahe wie einjunges Mädchen. Doch leider nur beinahe!

Während Louis und der Kapitän auf dem Weg zum Festmahl an Fanny vorüber-

zogen, blieb sie auf dem Rasen stehen, um die übrigen Gäste zu bewillkommnen.

Als nächste traf Isobel ein. Sie war noch rechtzeitig durchs Tor getreten, um die

vorhergehende Szene mitanzusehen. ,,Was für ein aufdringlicher, widerlicher Kerl!"zischte sie giftig, ohne bei ihrer Mutter zu verweilen. Sie konnte Larssen nichtausstehen, wie es aussah; ob das allerdings an ihrer eigenen Eifersucht lag oder an

der Tatsache, dalS der wackere Kapitän Louis' ohnehin erbarmungsloses Marschtem-

po womöglich noch beschleunigt hatte, vermochte Fanny nicht zu bestimmen. Die

gute Belle satrjedenfalls genauso aus, wie Fanny sie sich nach der Strapaze vorge-

stellt hatte. Noch gönnte sich Isobel jedoch keine Ruhe: Sie wollte um jeden Preis als

erste das Haupthaus erreichen, um sich in ihrem gegenwärtigen erbärmlichen Zu-

stand nicht lZinger als unbedingt nötig den Blicken der Gäste aussetzen zu müssen.

Fanny wartete artig ab, bis alle 22 Häuptlinge samt Frauen, drei weiße Gäste

und ganz zum Schluß der schwerbepackte Fotograf an ihr vorüberdefiliert waren.

Dann erst schloß sie sich der Schar an. Die }Iäuptlinge, fand sie, hielten sich prächtig

unter den gegebenen Umstlinden: Das wochenlange harteArbeiten in der schwü-

len Hitze hatte sie nattirlich entsprechend gest?ihlt. Leibesübungen zatrlten sich

zuweilen eben doch aus, dachte Fanny und kicherte heimlich. Durch die unge-

wohnte Ertüchtigung waren die Häuptlinge nun sogar in der glücklichen Lage, ihre

dicken Frauen abstützen zu können, die sich gefiitrlich natr am Rande der Ohnmacht

befanden. Alles in allern versprach das Fest demnach recht nett zu werden!

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Ohne dazu aufgefordert werden zu müssen, hatten die Häuptlingsfrauen sich

heute von ihren weißgekleideten Gatten getrennt, um den Platz einzunehmen, der

ihnen rechtm?ißig zukam: Er durfte überall sein, nur nicht in der Mitte der Mäinner.

An diesem Ehrentage gedachten Tusitala und seine Tafelrunde aufrechter Recken

unter sich zu bleiben, was natürlich rein gar nichts damit zu tun hatte, daß Louis

aufdem Sonnenschatten den Eindruck eines gepflegten Kaffeekränzchens unbe-

dingt vermeiden wollte. Nun, zumindest Fanny saß wie stets zu seiner Rechten;

aber Fanny galt schließlich nicht als Frau, sondem als Tusitalas Gef?ihrtin - die

Sonderbehandlung fiel also kaum nennenswert ins Gewicht. Mit Entzücken natrm

Fanny zur Kenntnis, daß Kapitäin Larssen sich ohne viel Aufhebens eigenmächtig

neben sie plaziert und damit Lloyd zur Seite abgedrängt hatte ... immer höflich

und gesittet, das verstand sich. Belle, das zweite mit Daseinsberechtigung ausge-

stattete weibliche Wesen, war noch nicht eingetroffen. Ohne Zweifel durchwühlte

sie gerade ihren Kleiderschrank mit derselben wachsenden Ratloqigkeit, welche

kurz zuvor ihre Mutter gequält haIte. Zu Louis' linker Seite saß der gute Kapitän

Clayborne, der schon im vergangenen Jahr die Feier durch seine Anwesenheit

hatte bereichem helfen. Die beiden Herren neben ihm hatten sich Fanny zwar

höflich vorgestellt, doch ihre Namen waren im allgemeinen Stöhnen und Keuchen

der Erschöpfung buchstäblich sang- und klanglos untergegangen. Fanny fiel plötz-

lich auf, daß eine wichtige Person bei ,,Tische" fehlte, jemand, der eigentlich auf

Claybornes Platz hätte sitzen müssen, um zu dolmetschen und die Kava-Zeremo-

nie zu leiten: Häuptling Misifolo! Es herrschte vollkommenes Einvernehmen zwi-

schen dem Häuptling und Tusitala, und trotz des Vorfalls mit Misiluenga war nie

einAnflug von Bitterkeit oder Groll gegen Louis aufgekommen. Da erinnede sich

Fanny, heute morgen vemommen zu haben, daß den Worten seines Boten gemäß

Misifolo durch Stammesgeschäfte aufgehalten werde, sich aber nach besten Kräf-

ten bemühen wolle, rechtzeitig zum großen Fest einzutreffen. Hoffentlich kam er

nochnv Zeit, denn sein Weg war äußerst beschwerlich. Fär denAugenblick muß-

te man sich wohl oder übel ohne Kava-Bier behelfen, denn wurde das Bier zu

einem Anlaß wie diesem nicht feierlich I'redenzt, erschien es immer noch ange-

brachter, ganz auf den Genuß zu verzichten. An die unbestreitbare Hauptsache

hatte Louis jedenfalls schon seit Wochen gedacht, n?imlich an seine unvermeidli-

che Predigt. Er hielt mehrere eng beschriebene Blätter in Händen, deren Inhalt

niemand außer ihm kannte - keiner außer ihm und den Missionaren, die seine

Rede in erlesenstes Hochsamoanisch übersetzt hatten.

Zuerst jedoch mußten die Fotos geschossen werden. Umstäindlich baute der

Mann aus Apia sein Stativ auf und traf alle Vorbereitungen. Angestrengt hielten

die lebenden Motive den Anschein von wärdiger Lässigkeit aufrecht, der dem

Anlaß entsprach. Das Zauberwort des Fotogtafen, mit welchem er die Gesellschaft

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zu einem feinen Lächeln überreden wollte - hier hieß es statt ,,cheese" leicht ver-

fremdet ,,sisi" -, half leider überhaupt nicht. Endlich kamen doch noch drei Auf-

nahmen zustande. Der Fotograf packte schon befriedigt seine Siebensachen zu-

sammen, um sich zu Tisch zu begeben, als vom Haupthaus her lautes Rufen ertön-

te, welches sich schleunig näherte. Man hatte bei der Herstellung der Sonnen-

schatten die gute Isobel völlig vergessen! So schnell sie nun auch rannte, für die

Fotografie war es zu spät. Gleichzeitig nachAtem und die Hände ringend, lief sie

auf die versammelte Mannschaft zu und machte sich zum heimlichen Gespött der

Häuptlinge, denen erst jetzt ein zauberhaftes ,,sisi"-Lächeln auf die Lippen trat.

Indem er sich den edelsten aller möglichen Vorwände ntnvtze machte und der

bitter enttäuschten Isobel den Sitzplatz zu seiner Rechten anbot, ergriffKapitän

Larssen die willkommene Gelegenheit, Fanny so nah als irgend schicklich auf den

Leib zu rücken. Isobel wirkte alles andere als erfreut über die Geste; sie mochte

den Deutschen nicht und noch weniger seine unmittelbare körperliche Nachbar-

schaft. Andererseits konnte sie die Artigkeit des Gastes kaum ablehnen, ohne daß

eine so grundlose Brüskierung Louis aufgefallen wäre. Ftir sie gestaltete sich der

Tag wahrlich nicht sehr angenehm! Mit einem anmutigen Plumps landete Isobel

innerhalb der winzigen Lücke, welche sich zwischen Larssen und einem der Häupt-

linge aufgetan hatte, wobei sie es offenkundig lieber in Kauf nahm, mit ihrem

Hinterteil vorübergehend aufden Schoß des Häuptlings at geraten, als den ver-

haßten Deutschen auch nur zu streifen. Fanny hielt sich rechtzeitig die geballte

Faust vor den Mund, um nicht vor Schadenfreude laut loszuprusten.

,,Ich habe nun leider doch kein Geschenk für meinen Gatten besorgt, Herr Lars-

sen", vertraute sie ihrem Nebenmann unvermittelt an, nachdem sie sich beruhigt

hatte. Sie flüsterte die Worte, und Larssen fühlte sich bemüßigt, ebenso

verschwörerisch zurückzuraunen: ,,Ich bekenne mich derselben Unterlassung schul-

dig, gnädige Frau. Noch auf halbem Wege hel mir heute morgen dieses Versäum-

nis ein und ließ mich vor Scham fast in den Boden versinken. Ich versuchte auf

der Stelle, einem Samoaner ein religiöses Artefakt abzuhandeln, da ich weiß, wie

sehr Ihr Gatte solcherlei Dinge schätzt - besonders von Eingeborenenhand gefer-

tigte. Zt meinem Verdruß mußte ich feststellen, daß besagtes Kunstwerk, ein

Weihwasserbecken für den Hausgebrauch, leider obendrein von Eingeborenen-

schödel gemacht war. Nun dtirfte eine Himschale zwar grundsätzlich denselben

Zweck erfüllen wie eine Kokosnuß, doch erschien mir der, äh, Werkstoffdoch ein

wenig geschmacklos für solch ein Gefäß ausgesprochener Frömmigkeit. Pflichten

Sie mir in diesem Punkt nicht augenblicklich bei, verehrte Frau Stevenson?"

,,Selbstverständlich haben Sie richtig gehandelt, als Siejenen Gegenstand der

Pietätlosigkeit verschmähten", erwiderte Fanny übertrieben gravitätisch und fühl-

te sich dabei ein wenig schuldig. Sowohl Larssen als auch sie selbst trieben ihren

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verborgenen Scherz mit der Religion wie mit Louis'salcralen Vorlieben ... Fannyerinnerte sich gut, daß sie Lloyd bei ähnlicher Gelegenheit einst recht zomig ge-

maßregelt hatte.

,,Du hegst doch hoffentlich nicht die Absicht, deine Rede vor dem Essen zuhalten, Louis?" wandte sich Fanny an ihren Gatten, teils aus dem Wunsch heraus,

vom vorhergehenden Thema abzulenken, teils aus echter Besorgnis um denAppe-tit der Gäste. Insbesondere die zu Tisch geladenen Eingeborenen sollten nicht wiederunter Louis' oratorischer Besessenheit zu leiden haben wie das letzte Mal; dieWeißen würden von dem Hochsamoanisch ja ohnehin nur einige wenige Brockenaufschnappen.

,,Doch, genau das habe ich vor", bestätigte Louis den bösen Verdacht. ,,Wiesoauch nicht? Misifolo ist zwar noch nicht da, aber ich brauche doch heute eigent-lich gar keinen Übersetzer. Es steht alles hier auf dem Papier, schwarz auf weiß."

Damit schien Louis sich selbst das benötigte Stichwort gegeben zuhaben, denn

er räusperte sich ohne weitere Umschweife so laut, daß alle Umsitzenden ihm ihre

ungeteilteAufrnerksamkeit schenkten. Feierlich hob er zu sprechen an, langsam

und bedächtig, um seiner moralischen Botschaft den gebührenden Nachdruck zu

verleihen. Weil er die Worte so überdeutlich artikulierte, vermochte auch Fannyeinen großen Teil der Rede zu verstehen. Nach einigen Dankesfloskeln, welchesich auf den Straßenbau und die an ihm beteiligten Anwesenden bezogen, widme-te sich Louis dem für ihn neuerdings wichtigsten Anliegen: Mit Fleiß und'mitBeharrlichkeit, so Louis, sollte aus Samoa, Gottes liebstem Paradies, ein Nutzgar-ten von Menschenhand erschaffen werden, der dem Herrn wohlgefüllig sein müs-

se. Reine Zierde sei nattirlich eine schöneAngelegenheit- doch ganz abgesehen

davon, daß der Urwald noch immer viele Quadratmeilen fruchtbaren Bodens ver-schandele und regelrecht an der von Gott gewünschten Nutzbarwerdung hindere,

sei es die Pflicht jedes Menschen, sein Brot im Schweiße seines Angesichtes zu

essen! Das fand Fanny hochinteressant und ebenso beunruhigend. Waren die Sa-

moaner dieser Definition zufolge etwa keine richtigen Menschen, nur weil sie aus

einem offenkundigen Irrtum der Natur heraus nicht für ihr Essen arbeiten mußten?

Was war über Nacht mit le lili o le laufanua geschehen, den Lilien auf dem Felde,

die nicht säten und nicht ernteten und trotzdem keineswegs derVerdammung an-

heimfielen?

Gottlob mäßigte sich Louis im Laufe seiner Rede etwas und ließ sie nach rund

zehn Minuten versöhnlich ausklingen, indem er allen Gästen einen gesegneten

Appetit wünschte. Die Häuptlinge waren guter Dinge geblieben: Sie faßten Tusitalas

Worte wohl eher als vage Empfehlung auf denn als heißen Ansporn für eine ar-

beitsame Zukunft. Die Straße hatten sie pflichtschuldigst errichtet, da sie einst den

dummen Fehler begangen hatten, einem Weißen ins Blaue hinein eine Gunst zu

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versprechen. Demselben Irrhrm würden sie nicht ein zweites Mal aufsitzen und

daher sicher auch für niemanden mehr arbeiten müssen.

Vier der Hausboys trugen mit vereinten Kräften das riesige Schwein auf die

Veranda, das soeben gar geworden war, und nun kannte die allgemeine Freude

keine Grenzen mehr. Sosehr man Tusitalas Geschichten liebte - ein Schwein warnoch besser!

,,Zu seinem letzten Geburtstag", erzählte Fanny dem Kapitän leise, ,,hat Louis

es tatsächlich fertiggebracht, den hungrigen Häuptlingen den Braten sozusagen

auszureden, indem er ihnen von der alttestamentarischen Schweineplage erzähl-

te.t'

Larssen wiegte den Kopf und überlegte. ,,Von dieser Plage habe ich noch nicht

gehört", meinte er dann versonnen. ,,Ich sollte wahrscheinlich weit öfter die Bibel

studieren, als ich es die vergangenen Jahrzehnte über getan habe. Woran ich mich

erinnere, ist die Geschichte, wie Christus, der damals allgemein üblichen Praxis

folgend, eine Horde Dämonen in eine Herde Säue fahren und diese dann imSchweinsgalopp in einen Abgrund stürzen ließ. Das fand ich äußerst beeindruk-

kend.'Mit gespieltem Entsetzen legte Fanny sofort den Zeigefinger an die Lippen, um

ihrem Tischnachbarn Stillschweigen zu bedeuten. ,,(Jm Himmels willen", sagte

sie dann, ,"hoffentlich versteht niemand in der Nähe ein Wort Englisch! Dämonen

und Schweine in einemAtemzug zu nennen, wärde sonst sämtliche Insulanerdazu

verurteilen, von einem Tag auf den anderen in unglückliche Vegetarier verwandelt

zu werden!"

,,Da gebe ich Ihnen natürlich recht, liebe gnädige Frau." Übermannt von eben-

falls geheuchelter Zerknirschung senkte der Kapitän reuig den Kopf. ,,Die Samoa-

ner lieben ihre Schweine, und ich respektiere ihre philosophische Grundeinstel-

lung in dieser Hinsicht vollkommen. Mehr noch: Ich bewundere sie. In derAlten

Welt ist die Liebe eines Menschen zu seinem Schwein doch seit alters her miteinem unverständlich schlechten Rufbehaftet! Schon Homer scheint etwas gegen

diese ehrenwerten Tiere gehabt zu haben. Doch seien Sie versichert: Wäre ich

Odysseus, nach langer Irrfahrt an den Gestaden Eurer Insel gestrandet, o Zauberin.

Circe, dann sträubte ich mich sicher nicht, mich in Euer Lieblingsschwein ver-

wandeln zu lassen!"

Fanny mußte sich mit letzter Kraft zurückhalten, nach diesem wundervollen

Kompliment nicht in einen regelrechten Lachkrampf zu verfallen. Kaum hatte sie

sich etwas beruhigt, frel ihr Blick auf Isobel, die zu sagen schien: Was wdre denn

dann an dem Mann noch großartig zu vennandeln? - und schon prustete sie von

nzuern los. Tränen schossen ihr aus denAugen, und ihr Zwenchfell schmerzte. So laut

und ausgiebig hatte Fanny sich seit einer halben Ewigkeit nicht mehr amüsiert!

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Natürlich begann Louis, der sich bis jetzt mit Claybome unterhalten hatte, sei-

ne Aufrnerksamkeit auf die Seite seiner Frau zu richten, noch dazu mit einem

Ausdruck von Argwohn im Gesicht, welcher ihm sonst gänzlich wesensfremd war.

,,Diirfte ich wissen, welcher Gesprächsstoffdie Herrschaften derart erheited?"

fragte er, und Fanny spürte leisen Arger. Louis witterte den Rivalen - nicht einen

Nebenbuhler um Fannys Herzensgunst, den es im übrigen nach Bob niemals ge-

geben hatte, sondern einen Konkurrenten aufdem Gebiet der Unterhaltungskunst.

Normalerweise stellte eq der Tusitala, den unumstrittenen Mittelpunkt jeder Run-

de dar. Er konnte sich nicht jedem gleichzeitig widmen, doch bis ein Gast an die

Reihe kam, wartete dieser geduldig ab und wagte es nicht etwa frivol, sich auf

eigene Faust prächtig zu zerstreuen - und den Gastgeber darüber am Ende ganz

aus dem Sinn zu verlieren!

,,Wir unterhielten uns über die Seefahrt, über Zauberer und ihre geheimnis-

vollen Reiche", erklärte Larssen wahrheitsgemtiß und meinte sog4r nach Fannys

Dafürhalten seine Worte plötzlich sehr ernst. ,,Als Sie vorhin in.Ihrer Rede den

Paradiesgarten Samoa erwähnten, den man nach Menschenbild umgestalten müs-

se, war ich tief erschüttert. Eine großartige Rede, ganz ohne Zweifel. Ich nehme

an, daß in nicht aTlzvfemer Zukunft ganz Samoa Ihrem Zatbergartenvon Vailima

gleichen wird."

Louis nahm das Lob seines Gastes mit freundlichem Kopfnicken zur Kenntnis.

Er lächelte besänftigt und zufrieden. Fanny konnte nicht umhin zu befürchten, daß

sich hinter dem Kompliment des Kapitäns etwas anderes verbarg als eine Nettig-

keit. Der Kapitän mochte Louis von Heruen gem, doch in diesem speziellen Fall

erschien Fanny seine Antwod recht doppeldeutig.

,,Dann gefüllt Ihnen Vailima also?" Louis'Frage war rhetorisch gemeint, denn

er vermochte sich nicht vorzustellen, daß einer eirzigen lebenden Seele Vailima

nicht gefallen könne.

,,Oh, durchaus, verehrter Herr Stevenson, durchaus." Larssen betonte diese

Bekräftigungjedoch sehr eigenartig. ,,Ihr Land, insbesondere das Stück innerhalb

des Zaunes, hat sogar einen alten Herumtreiber und Weltenbummler wie mich

sprachlos vor Erstaunen gemacht. Niemand erwadet im entferntesten, auf einem

pazifischen Eiland etwas Derartiges zu Gesicht zu bekommen. Diese Einfriedung

ist tatsächlich nichts Geringeres als das Imperium eines Magiers ... Mir füllt nichts

Vergleichbares ein - außer vielleicht Klingsors Zatbergarten."

,,Klingsor? Wer ist denn das?" fragte Louis erstaunt.

Larssen zögerte mit der Antwort, und Fanny glaubte für einen Moment zu er-

kennen, daß der Kapitän die Erwähnung dieses Namens bereits bereute. ,,Ach, das

ist im Grunde gar nichts. Ein Märchen, eine Erfindung aus der Feder meines

Lieblingskomponisten, der sich manchmal noch überspannter zu geb2irden pflegte

3t4

Page 312: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

als ich. Ichwollte mitmeinerBemerkung lediglich aufrichtige Bewunderung aus-

dräcken. Der Zaubercr Klingsor besaß einen atemberaubend prächtigen Garten,

und in ihm wohnten die berückendsten weiblichen Wesen, die je ein Mann erblik-ken durfte. Mit anderen Worten: Ganz wie Vailima und diese zwei entztickenden

Damen des Reiches, die sich heute so gütig zeigen, mich Unwürdigen von beiden

Seiten zu umrahmen."

Sowohl Fanny als auch Louis lächelten, aber Fanny maß dem Kompliment weitgeringeren Wert zu als ihr Gatte, der vor Besitzerstolz fast zerbarst. Isobel rümpfte

nur die Nase.

,,Dann hatte Klingsor exquisiten Geschmack", meinte Louis, ,,wenn seine Mäd-

chen so hübsch waren wie die hier anwesenden."

,,Das kann man wohl sagen." Larssen blickte direkt in Fannys Gesicht, als er

fortfuhr. ,,Seine Geschöpfe waren wie Blüten in seinem verzauberten Garten, köst-

lich duftende Gewächse voller Frische und Anmut. Und Sie, meine Teuerste",

hauchte Larssen fürmlich, während erFannys Hand ergrifl,,wirken in Ihremblauen

Kleid auf mich wie die erlesenste aller Blumen, das Sinnbild der Suche nach voll-kommener Schönheit. Frau Stevenson, Sie verkörpern für mich - die blaue Blume

der Romantik." Damit klißte er der verblüfften Fanny wiederum die Hand.

Aus den Augenwinkeln heraus nahm Fanny wahr, wie Isobel den Mund zu

einer spöttischen Grimasse vefizog. Ihr gesprochener Kommentar ließ ebenfalls

nicht lange auf sich warten.

,,Finden Sie nicht, daß Sie sich da in eine etwas aus dem Leim gegangene Blu-

me vergafft haben, HerrLarssen? Die Romantik scheint auch nicht mehr so tau-

frisch zu sein wie ehedem."

Larssen blieb allem äußeren Anschein nach seelenruhig. Er wandte sich sehr

langsam zu Isobel um, lächelte sie freundlich, beinahe gütig an und verkändete

heiter: ,,Seien Sie unbesorgt, meine Dame: Wahre Schönheit vergeht niemals. Die

Romantik ist unsterblich - obgleich rohen Gemütern unkenntlich. Ein sanftes Wesen

wie Sie wird sie jedoch stets erkennen."

,,Pah", machte Isobel auf diese Bemerkung hin nur.

,,Ihre Schwester ist, wie ich sehe, mit einem überschäumenden Temperament

gesegnet", v!rtraute Larssen Fanny an.

,,schwester? Ich hör'wohl nicht recht!" keifte Belle. ,,Das ist von all Ihren

Sprüchen der mit Abstand abgeschmackteste!"

Larssen ließ auf diesenAusbruch hin beschäimt den Kopf auf die Brust sinken.

Er seufzte tief auf und verharrte in seiner Position, als wage er nicht, den Damen

noch einmal in dieAugen zu sehen. Fanny, wachsam wie immer in Larssens Ge-

genwart, bemerkte ohne eine Spur von Überraschung, wie er mit gesenktem Haupt

still und teuflisch vergnügt in sich hineingrinste.

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,,Ach, Sie haben ja so recht, meine verehrte Dame. Ich bin und bleibe ein unver-

besserlicher Schwätzer. Da halte ich Ihnen eine langatnige Rede über die Zeitlo-

sigkeit wahrer Schönheit und begehe gleich darauf diesen schrecklichen Mißgriff.

Sie können mir nun leider nicht mehr glauben, daß ich durchaus nicht log, als ich

die Romantik unverg?inglich nannte. Wie sollte die Schönheit meiner armseligen

Schmeichelei bedürfen, wenn sie doch in sich selbst ruht?" Larssen seufzte noch

einmal tief aut bevor er zum Kern seinerAusführungen vorstieß. ,,Ich bin leider

doch nur ein gewöhnlicher Seemann, der sich in erbärmlichen Platittiden ergeht.

Als ich vor meinem Besuch erfuhr, daß in Vailima zutei weiße Damen wohnen,

Mutter und Tochter, nahm ich mir fest vor, besonders takwoll aufzutreten. Doch

eines müssen Sie mir glauben, meine Liebe, obwohl Sie über jedes Lob erhaben

sind: Sie sehen tatsächlich nicht um ein einziges Jahr älter aus als Ihre Tochter."

Isobel benötigte eine Weile, bis der Sinn hinter Larssens weitschweifigem Vor-

trag in ihren Verstand einsickerte. Als sie endlich die ungeheure Iinpertinenz er-

faßte, die sich der Deutsche ihr gegenüber herausnahm, klappte'ihr Unterkiefer

abrupt nach unten. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, das nun weißer schien als

ihr frisch angelegtes Kleid. ,,I[utter!" wax die einzige halbwegs vernünftige Au-

ßerung, die Belle einhel.

,,Nanu!" meinte Larssen ohne eine Spur von Erbarmen. ,,Habe ich das am Ende

verwechselt? Ich wäre schier untröstlich ..."

,,Sie - Sie ..." lsobel rang sowohl nach Fassung wie auch einern Ausdruck,

welcher ihrer gerechten Empörung angemessen Luft verschaffen konnte. ,,Sie un-

gehobelter Flegel, Sie!" Belle rafte schon ihre Röcke zusammen, um wutent-

brannt den Ort derVerunglimpfung zu verlassen, als Louis in das allgemeine Ge-

lächter einfiel, das sich nach Larssens Bemerkung erhoben hatte. Wenn sie nun

dem Festmahl entfloh, das wußte Belle allem blinden Zomntm Trotz, hätte sie

sich damit endgültig selbst zum Ziel der Lächerlichkeit und zum Opfer lang an-

haltenden Spotts gemacht. Widerwillig natrm sie ihren alten Platz ein und lächelte

gequäilt, indem sie innerlich tobte und wütete, wie Fanny sie einschätzte, und sämt-

lichen Anwesenden die Pest an den Hals wtinschte. Stocksteif saß sie neben dem

Deutschen. Sie wärde sich für den Rest des Tages vermutlich in den schaurigsten

Einzelheiten ausmalen, wie Herr Larssen zur wehrlosen Beute eines einheimi-

schen Kopfiägers wurde ...

,,Um auf die Blumenmädchen im Zaubergarten zurückzukommen", meinte nun

der Kapitän ungerührt, ,,wärde ich Ihnen empfehlen, Herr und Frau Stevenson,

sich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit eine Auffiihrung meines verehrten

Lieblingskomponisten Wagner zu Gemüte zu führen. Ich bezweifle zwar sehr, daß

man ihn in einem kulturell unterentwickelten Land wie Australien innerhalb der

nächsten Jahrzehnte zu würdigen lemt, doch wenn Sie wieder einmal nach Europa

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Page 314: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

kommen, sollten Sie die Möglichkeit eines Ausfluges nach Bayreuth keinesfalls

ungenutzt an sich vorüberziehen lassen."

Fanny erstarrte zur Salzsäule.Ausnahmsweise hatte Larssen nicht im Mutwillen

geredet, sondem lediglich in Unkenntnis; doch der Schaden, den er damit anrich-

tete, war mit Sicherheit unvergleichlich größer. Fanny warf einen zaghaften Blick

auf Louis, und ihr schlimmer Verdacht bestätigte sich sofort. Die bloße Erwäih-

nung des europiüschen Kontinents mit seinen unzäihligen Freiheiten und Möglich-

keiten hatte Louis augenblicklich erbleichen lassen. Und dazu die Andeutung ei-

ner Stippvisite! Vor wenigen Jahren hätte eine solche Reise um die Welt für Louis

in der Tat nicht viel mehr dargestellt als einen Vergnügungsstreifzug. Noch heute

unternahm Louis'eigene Mutter Seereisen dieser Größenordnung, um bei Ver-

wandten ,,vorbeizuschauen", als bedeute das rein gar nichts für die alte Dame!

Wäihrenddessen mußte Louis auf seiner Insel ausharren und sich mit Wunschtäu-

men zufriedengeben. Von alledem wußte Kapitän Larssen nichts, denn niemals

hätte er sich sonst zu einer Bemerkung wie der letzten hinreißen lassen, die keine

willkürliche Ironie an Grausamkeit zu übertreffen vermochte.

,,Ich bezweifle, daß mir in nächster Zeit die Gelegenheit zuteil wird, nach Euro-

pa zu segeln", meinte Louis tonlos und mit wächsernem Gesicht. ,,Ich habe sehr

viel zu En. Zahlreiche Angelegenheiten auf Samoa erfordern meine ständige An-

wesenheit. Nicht zu vergessen die Schreiberei ..."

,,Louis widmet sich tagtäglich seinem neuesten Roman", fuhr Fanny hastig

dazwischen. ,,Er steht schon um fünf Uhr in der Frühe auf und ,fabuliert', wie er

es nennt. Um die Kunst in fruchtbare Bahnen zu lenken, braucht er einen geregel-

ten Tagesablauf - die Herumfeiberei wäre da reines Gift für ihn."

Larssen akzeptierte die Erkldrung vorbehaltlos, ohne eine Spur von Unglauben.

,,Ich mache immer wieder den Fehler, von mir selbst auf andere zu schließen",

erklärte erbeinahe entschuldigend. ,,Sehen Sie, Herr Stevenson, ich bin ein altern-

der Vagabund, habe keine Familie und kein Heim und keinen festen Wohnsitz.

Das Meer ist mein Zuhause. Mit den Jahren wird ein Mann wie ich wunderlich im

Kopf: Er kann sich nicht vorstellen, daß es Glücklichere gibt als ihn, Männer, die

sich ein Heim wie dieses hier erschaffen haben und denen es inmitten eines sol-

chen Paradieses natürlich gar nicht mehr in den Sinn kommt, ihr Reich je wieder

zu verlassen - und sei es nur für einen Abstecher nach draußen. Ich persönlich

gleiche, wie ich zuweilen glaube, mehr und mehr dem traurigen Helden meines

Meisters Wagner, dem Fliegenden Holländer. Stets treibt es mich auf den Welt-

meeren umher, und gehe ich alle Jubeljahre einmal an Land, um nach einer Braut

Ausschau zu halten, ist die Dame meines Herzens lZingst glücklich verheiratet.

Mit einer Landratte obendrein, pardon, will sagen, einem durch und durch seßhaf-

ten Glückspilz wie Ihnen, verehrter Herr Stevenson. Mit Ihrem zur Legende ge-

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Page 315: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

wordenen Gutsbesitz kann meine armselige Kapitänskajüte eben nicht konkurrie-

ren.t'

Mit jedem seiner zurAbwechslung ernstgemeinten Komplimente gelang es dem

unglückseligen Larssen, mehr und mehr Salz in Louis'alte, offene Wunde ntrci-ben. Louis - seßhaft! Eine Landratte noch dazu! Hätte man Louis prophezeit, daß

man ihn dereinst so nennen würde, wdre er vor Gelächter zerspnrngen. Nun aber

saß er still da, vom Donner gerührt, und sagte kein Wort. Seine sonst braune

Gesichtshaut wirkte fahl, fast grünlich, und das Lächeln, welches er sich mit letz-

ter Kraft abrang, sprach der Eingeweihten von solch abgrundtiefer Trauer, daß es

Fanny das Herz brach. Endlich fand Louis eineAntwort.

,,Ganz so leicht, wie Sie zu glauben scheinen, Herr Larssen, ist mir der Ab-

schied von der Seefahrt nicht gefallen", sagte er mit belegter Stimme. ,,Doch in

einem Punkt stimme ich mit Ihnen überein - das Schicksal hat mir die beste Ehe-

frau geschenkt, die ein Mann sich wünschen kann. Ich wäre niemafi gezwungen,

einsam und ziellos umherzustreifen wie der bertihmte Holländer, denn Fanny würde

mich treu auf allen Irrfahrten begleiten ... so wie sie jetzt mit mir in meinem

Garten lebt."

,,Das ist ... das ist sehr schön." Nun war die Reihe an Kapitän Larssen, mit

belegter Stimme zu sprechen. Wenn Fanny sich nicht gewaltig täuschte, hatte sie

soeben einen verdächtigen feuchten Schimmer in denAugen ihres Nebenmannes

entdeckt. Nein, sie irrte sich nicht. Larssen war tatsächlich sprachlos vor Rührung.

Wie entsetzlich traurig, dachte Fanny bei sich. Hier saßen zwei der außergewöhn-

lichsten M2inner, die sie je getroffen hatte, tatkräftig, untemehmungslustig und

wagemutig, undjeder von beiden hing der felsenfesten (Jberzeugung an, nur der

jeweils andere habe das wahre Glück gefunden!

,,Nun ja, da Sie nicht gewillt scheinen, Ihr wunderbares Vailima zu verlassen,"

hob Larssen zumZwecke schnellstmöglichen Themenwechsels wieder an, ,,kön-

nen Sie sich doch wenigstens darauf freuen, Wagners Musik in nicht allzu ferner

Zeithier zu hören, an Ort und Stelle. In ein paar Jahren ..."

,,Wie denn das?" mischte sichunvermittelt Kapitlin Clayborne in das Gespräch

ein, dem das Bankett ohne Louis'Zuwendung offenbar recht fade geworden war.

Statt sich den ,,namenlosen" Herren neben sich zu widmen, spitzte er lieber die

Ohren, um herauszubekommen, was den Gastgeber derart fesselte.

,,Wie Sie sicher alle wissen, wurde vor einiger Zeit der sogenannte, äh . . . Pho-

nograph erfunden. Und kurz darauf, fast unmittelbar vor Herm Stevensons An-

kunft auf Samoa, hat es doch tatsächlich ein Mordskerl von Tüftler geschaffi, Musik

in Platten zu pressen! Stellen Sie sich das einmal vor!"

,,Ich habe davon gelesen", meinte Louis leise. Ach, das war noch so ein Thema,

an das man besser nicht gerührt hätte! Wie konnte Larssen auch ahnen, daß Louis

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zwar musikalisch völlig unbegabt, doch mindestens ebenso besessen und begierig

auf Musik war wie der Opementhusiast? Sein sehnlicher Wunsch war es, einmal

einen dieser neuartigen Phonographen zu besitzen, die innerhalb der kommenden

Jahrzehnte, vielleicht schon Jahre, den ganzen Erdball mit wunderbarer Musik

erfüllen würden! Oder vielleicht doch nicht die gesamte Welt ... Auf der Untersei-

te der Kugel funktionierten die Maschinen möglicherweise gar nicht. Es hieß, daß

die Platten, welche die Töne konservierten, aus einer Art Wachs hergestellt wor-

den waren - wie sollte man sie dann hier abspielen und aufbewahren, auf dem

schwülen Archipel von Samoa, dessen mörderisches Klima schon weiße Men-

schen frrmlich zerfließen ließ!

Fanny gönnte ihrem Gatten einen solchen Phonographenvon Herzen, undwenn

es einen Weg der Beschaffirng gab, gedachte sie ihn zu gehen, selbst wenn sie

dafür persönlich nach Amerika hätte segeln müssen. Schließlich hatte sie einst den

Weg nach Kanada angetreten, um Louis ein Paar ordentliche Winterstiefel zu be-

sorgen, als er noch in den Adirondacks hauste. Der Phonograph schien ihr für sein

Seelenheil weit wichtiger, als es die gefütterten Stiefel für seine Füße gewesen

waren. Andererseits versuchte sie sich auszumalen, wie ein weiterer ,,Zavber"-

Gegenstand auf die samoanischen Eingeborenen wirken mußte. Wie würden sie

reagieren, wenn sie nicht länger nur Geschichten üöer Dämonen, sondem die ^Srin

-

me eines gefangenen D?imons hörten? Wahrscheinlich wärden sie sich wundern,

daß der von Louis solcherart verwahrte Geist auch in Gefangenschaft fröhlich zu

singen imstande war! Ebenso schien es möglich, daß die Samoaner sich ohne grö-

ßere Scheu an ihn gewöhnten, ungeführ so, wie sie sich mit der Idee der Sonnen-

schatten angefreundet hatten. Was sie nicht so bald erkennen dürften, war der

Zusammenhang zwischen Maschine und Schallplatte. Der Dämon wohnte im Gedt,

das verstand sich von selbst. Die Platten - gleich welches Material - stellten kon-

servierte Musik dar. Würden folglich auch sie amBnde peasoup-uheißen?

Laute Schreie der Begeisterung unterbrachen Fannys Gedankenkette. Zwei der

Boys kamen aufgeregt aufdie versammelte hohe Gesellschaft zugesttirmtundplap-

perten wild durcheinander, als Louis nach Aufldärung verlangte. Sao, Torwächter

Mafulus Intimus, und Laulii, der kleine Stallbursche, waren die Boten, welche

nun im Dueff verkündeten, daß Häuptling Misifolo leider nicht mehr rechtzeitig

würde eintreffen können, daß er dem Tusitala aber als Geschenk und gleichzeiti

gen Beweis seiner Hochachtung einen Beitrag zum großen Festmahl schicke. Er

hoffe, daß zumindest sein bescheidenes Präsent noch nicht zu spät komme, um

alle Anwesenden kulinarisch zu erfreuen!

,,Was ist es denn?" fragte Louis interessiert.

,,Sa 'ula" , wiederholten Sao und Laulii immer wieder freudig und erzdhlten dann,

wie der mysteriöse sa'ula - Fanny konnte mit dern Wort nichts anfangen - vor

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weniger als einer halben Stunde drunten in der Bucht vonApia eingefangen wor-den war. Daraus schloß Fanny messerscharf, daß es sich um ein Meerestier han-

deln mußte. Da die Kreatur zudem angeblich über l8 Fuß maß, konnte sie nur ein

Prachtexemplar von einem Hai oder Thunfisch sein. Die Läinge hatten die Boys

sicher wahrheitsgefeu geschildert: Sao und Laulii liebten zwar im allgemeinen

die Übertreibung über alles, doch schon in ein paar Minuten würde ihre Aussage

der Wirklichkeit standhalten müssen, wenn alle den Fisch inAugenschein nehmen

durften. Außerdem hatte nicht einmal ein samoanischer Fisch Gelegenheit, inner-

halb einer halben Snnde durch Flüsterpropaganda auf das Doppelte seiner wah-

ren Größe anzuwachsen. Und Misifolo würde dem Tirsitala wohl kaum eine kleineMakrele zum Festnahl heraufschicken - man taute Louis eine Menge zu, doch

die wunderbare Fischvermehnrng zählte nicht zu diesen Kunststücken. Fanny wargespannt auf das angeHindigte Monstrum von Fisch.

Mit wehenden Schotten-Lavalavas machten sich Sao und Laulii'auf den Weg

zurück zum Tor, um die ordnungsgemäiß gemeldeten Boten direkt zum Tusitala zu

führen. Fanny hatte aus den Bemerkungen der beiden entnehmen können, daß die

Männer, welche nun zu Pferde denRiesenfischbringenwürden, nicht zu MisifolosKriegern gehörten: Misifolo war vom Strand aus Zeuge ihres beachtlichen Fanges

geworden, hatte den Fischem das Tier abgehandelt - oder kraft seiner Autoritäteinfach abgenommen, was wahrscheinlicher war - und sie beauftragt, es schleu-

nigst den Berg hinaufzutransportieren. Was für ein unglaublich glückliches Zu-sammenüeffen, daIJ nun die neue Straße existierte! Innerhalb der Stunden, welche

man sonst für den Aufstieg benötigt hätte, wäre der Fisch, frisch gefangen oder

nicht, unweigerlich verdorben. Doch jetzt war es Reitern möglich, sozusagen imExpreßtempo Waren in Vailima abzuliefern. Louis betrachtete diese Entwicklung

wahrscheinlich mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Kaum war die

Straße fertig, bewies sie bereitsjedem ihre Existenzberechtigung; andererseits konn-

te nun jedermann auf ihr reiten, dem es beliebte. Und Louis war es zu seinem Leid-

wesen versagt geblieben, serne ShaIJe persönlich mit dern alten Jack einzuweihen.

Der Fisch stellte demnach das erste Wesen dar, welches ohne die Sfaße Vailima

niemals hätte ,,betreten" können. Fanny schaute wie die übrigen Teilnehmer des

Banketts ungeduldig den Reitern entgegen. Sie sprengten hurtig dahin aufihrenInselpferdchen, obwohl sie die gesarnte Strecke über daraufachten mußten, sich

auf gleicher Höhe zu bewegen. Den Fisch trugen sie nämlich zwischen sich, seine

Last auf die Rücken beider Reittiere verteilt. Fanny erkannte, daß das Tier tatsäch-

lich ein Riesenexemplar darstellte, das in ausgestrecktem Zustand womöglich die

Straße zur Breite eingenommen hätte.

Noch war der sagenhafte Fisch, um dessentwillen Häuptling Misifolo eigens

Boten entsandt hatte, von Kopf bis Schwanz in Bananenblätter gehüllt. Dies ver-

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lieh denAnkömmlingen ein eigentümliches Aussehen, fand Fanny. Vor einer Stunde

noch hatten sie mit Köder und Schlinge im Auslegerboot gefischt - nur von einem

solchen Kanu aus konnte man einen großen Hai oder gigantischen Bonito-Thun-

fisch bezwingen, wtihrend Meerestiere von bescheidenerenAusmaßen in der Re-

gel mit dem Speer aufgespießt wurden. Nun näherten sich die Fischer der Ver-

sammlung zu Pferde, doch der Fisch als Bindeglied zwischen ihnen wollte es, daß

das kleinere Reittier wie der Ausleger des größeren Artgenossen wirkte! Fanny

lächelte amüsiert. Ungerufen war ihr eine samoanische Redensart in den Sinn ge-

kommen, eine von vielen, die samt und sonders bewiesen, welchen Stellenwert

das Auslegerboot in der Vorstellungswelt der Insulaner besaß. Nicht genug damit,

daß ,,Bootsrumpf' und ,,Ausleger" auf Samoa dasselbe bezeichneten, was andere

seefahrende Völker ,,Steuerbord" und ,,Backbort' nt nennen beliebten. Wollte

man hier zum Ausdruck bringen, daß jemand die gebannte Aufrnerksamkeit einer

ganzen Runde genoß, was geradejetzt den beiden Fischem gelang, hieß es wort-

wörtlich: ,,Die Angelschnur zur Auslegerseite und die Angelschnur zur Rumpf-

seite sind zamZeneißen gespannt." Was in der Tat besagte, daß der Redner einen

schmackhaften Köder ausgelegt hatte, der alle Zuhörer links und rechts vor Neu-

gier an seiner Leine zappeln ließ. Wollte man andererseits ausdrticken, daß je-

mand links liegengelassen wurde, dem man weder Respekt noch Interesse zollte,

wandte man dern Beteffenden, statt ihm die englische ,,kalte Schulter" zv zeigen,

einfach die ,yA,uslegerseite" zu. Doch wer von den Fischem da vorn auch das größere

Pferd ritt - heute wurde Rumpf and AuslegerAufrnerksamkeit im Überfluß zuteil.

Vor Tusitalas Veranda angekommen, sprangen die beiden Männer von ihren

Pferden, einer links, einer rechts, und hoben vorsichtig den Fisch herunter. Er

konnte unmöglich sehr fleischig sein, dieser Meeresbewohner - sonst wären die

Boten unter seinem Gewicht sicher zusammengebrochen. Das wie eine Mumie

eingewickelte Präsent des Häuptlings Misifolo legten sie dem Tusitala zu Füßen,

nachdem sie ihm ein ehrfrirchtiges,,Talofa" entboten hatten. Louis nahm das Ge-

schenk mit Kopfnicken und Lächeln entgegen, überlegte einen Moment und fand

dann eine passende Floskel: ,,Ou te le fiu e sula le fa'aaloalo." Ein kurzes, knappes

Dankeswort - ,,Niemals werde ich darin erlahmen, mich für die mir erbrachten

Ehrbezeigungen erkenntlich zu erweisen." Ein fast,,einsilbiget'' Dank für Samoaner!

Als Louis das lange Paket auswickelte, Bananenblatt für Bananenblatt, und

Fanny von nahem die körperlichen Eigenarlen des Fisches erkennen konnte, stutzte

sie sehr bald. Das war auf keinen Fall ein Thunfisch, und es war bestimmt auch

kein Hai. Mager war dieses Vieh, als bestünde es nur aus Haut und Klorpel! Es

äihnelte vielmehr einem Rochen .. . und die Anordnung der beiden Rückenflossen

ließ Fanny ebenfalls die Stirn runzeln. Die breiten, zeltartigen Seitenflossen - und

der fast vier Fuß langeAuswuchs am Kopf! Kein Zweifel. Das da war -

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,,Ein Sägefisch!" rief Louis erfreut. ,,Sa'ulaheißt demnach ,Sägefisch'. Da ha-

benwirwieder etwas hinzugelernt, nichtwahr, mein Mädchen?" Erschenkte Fanny

sein strahlendstes Lächeln und merkte nicht, daß ihr derweil die Sinne schwinden

wollten. Misifolo hatte Louis einen Sägefisch gesandt, obendrein das mitAbstandriesigste Exemplar, von welchem Fanny je gehört hatte. Gleichgültig, wie man das

Ding auch nannte, es war und blieb ,,sawfish-u", der Große Sägefisch, Louis'er-bitterter Feind. Sein Name Zinderte nichts am Sachverhalt!

Warum in Gottes Namen beruhigte sie dann das Offensichtliche nicht, nämlich

die Tatsache, daß der Erzfeind mausetot zu Louis'Füßen lag? Gekrämmt, dürr,

mit erstarrtem Blick ruhte der erschlagene Gegner vor Louis auf dem Veranda-

boden. Schon zu Lebzeiten war dieser Fisch unirdisch lang und mager gewesen,

bleich und fahl wie ein Gespenst; nun machte er wirklich den Eindruck, als sei er

ein Geisterwesen. Aber er war tot, tot; tot! Bedeutete das nicht, daß die Gefahr

vorüber war? '!

Ganz im Gegenteil, raunte eine innere Stimme in Fannys Gehirn. Über viele

Jahre hinweg hatte der Große Sägefisch Louis verfolgt, ihn eingekreist, ihm jeden

Wasserweg abgeschnitten, bis Louis schließlich auf der Insel gefangen war. Doch

er war ein sicherer Gefangener gewesen, solange er nicht dem Hafenbecken vonApia zu entrinnen versuchte und sich auf hohe See begab. Draußen im Meer lauer-

te der Fisch, aber er blieb ohnmZichtig, weil ihm der Landweg zu seinem auserko-

renen Opfer versperrt war. Nur eine Unvorsichtigkeit von Louis' Seite, der Leicht-sinn des Belagerten konnte ihm Zutritt und Zugriffverschaffen. Das war nunmehr

geschehen. Der Fisch hatte sein angestammtes Gewässer verlassen und bis heräuf

nach Vailima gelangen können. Er hatte sogar das steile Gebirge erklommen -dank der neuerbauten Straße. Was vorher eine uneinnehmbare Festung gewesen

war, vemgochte den Feind nicht l2inger aufzuhalten. Bis hierher, bis zu der von

Louis bewohnten Ebene von Vailima, war der Fisch vorgestoßen. Jetzt gab es nur

noch eine einzige Erhebung aufder Insel, zu welcher er noch nicht hinaufgedrungen

war. Der höchste Punkt des Eilandes aber, der Berg Vaea, war weit davon entfemt,

als Bergfried zu taugen. Auf dem Berg wohnte niemand ... und wenn Louis erst

einmal dort droben eingezogen wäre, würde er sein unwidemrflich letztes Domi-zil erreicht haben. Von da oben gab es kein Zurück mehr.

,,Eigenartig, daß Misifolo mir ausgerechnet einen Sägefisch verehrt hat", mein-

te Louis leise lachend. ,,,{n dem Vieh ist kaum ein Fetzchen Fleisch zu finden, von

Fett ganz zu schweigen. Sicheq die Säge wird sich an der Wand ganz entzückend

ausnehmen, könnte ich mir vorstellen - aber daß Misifolo diesen Hungerleider als

Spende zum Fesünahl geschickt hat . . . Da könnte man ebensogut den alten Tusitala

höchstpersönlich in die Pfanne hauen. An mir wollte sich bisher allerdings noch

kein Kannibale vergreifen, was ich niemandem verübeln kann."

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Fanny erinnerte sich daran, wie vor fast genau einem Jahr Lloyd davon ge-

sprochen hatte, daß man in der christlichen Religion gewissermaßen den Haus-

herrn zu verspeisen pflegte. Ihr wurde übel. Sosehr sie sich auch bemtihte, sie

konnte den unangenehmen Gedanken nicht abschütteln. ,,Wirf den Fisch weg",

hauchte sie mit letzter Kraft. ,,Er ßt nicht eJlbar."

,,.{ber das ist doch nur der Gemeine Sägefisch, Fanny", gab Louis verwundert

zurück. ,,Er mag nicht gerade schmackhaft für unser beider Gaumen aussehen,

doch unsere Gäste schauen recht erwartungsvoll drein. Für sie stellt der Bursche

wohl eine Delikatesse dar. Und ich habe heute so gute Laune, Schatz. Ich fühle

mich wie neugeboren - da mag ich niemandern einen Happen von diesem armen

Skelett hier verweigern!"

O ja, ein hundsgemeiner Sägehsch war das, soviel stand fest. Und der edle

Spenderverfolgte möglichenveise auch garz eigene, hinterhäiltige Ziele, hatte Louis

vielleicht gar mit vollerAbsicht einen trojanischen Fisch zum Geschenk gemacht!

Aber nein, das war ausgeschlossen. Keine Menschenseele außer Fanny kannte die

walre Natur von,,sawfish-u". Oder doch? Was würde geschehen, wenn sämtliche

zum Gastnahl Geladenen von ihm aßen? Könnte dieses abendliche Bankett arn

Ende ihr letztes Mahl sein? Fanny ermahnte sich zur Ruhe. Misifolo war ein auf-

rechter, braver Mann, seine Absichten lauter, und selbst wenn er einen geheimen

Groll gegen den Tusitala gehegt hätte, wäre er bei derAusfühnrng seiner Rache-

plZine niemals auf etwas so Unehrenhaftes wie einen Giftanschlag verfallen!

,,Nun, verehrter Gastgeber", meldete sich Kapitän Larssen zu Wort, ,,gedenken

Sie das lange Elend von Fisch zum Verzehr freizugeben, oder warten Sie noch die

Ankunft des Hammerhais ab, der Ihre Werkzeugsammlung komplettieren soll?"

Allgemeines Gelächter belohnte ihn für das Bonmot.

,,Wir müssen ihn zuerst einmal zubereiten lassen, schätze ich", erwiderte Louis

grinsend,,pattvlich foa Somoa."

,Nicht nötig", meinte Larssen. ,,Machen wir es doch wie die Japaner und essen

die Häppchen ungekocht. Ich habe auf Samoa schon rohe Würmer verspeisen dür-

fen - da wird es wohl auf etwas rohen Fisch kaum groß ankommen, nicht wahr?"

,,Stimmt", nickte Louis zustimmend und verlangte nach einem Messer, um das

Tier zu seinen Füßen nr zerteilen.

,,Ich schlage vor, den Kameraden mit seiner eigenen Säge zu franchieren", scherz-

te Larssen, ,,zu welchem Zweck sollte er das sperrige Utensil sonst mit sich her-

umtragen!" Wiederum folgte aufgeräumtes Gelächter, in das Fanny beim besten

Willen nicht mit einstimmen konnte. Entsetzt sah sie, wie Louis das Tier schließ-

lich doch mit einem Messer zerschnitt und in Portionen aufteilte, die er anschlie-

ßend feierlichjedern einzelnen Häuptling vorsetzen ließ. Ihrern Appetit nach zu

urteilen waren die Gäste mit derArt der,,Zubereitung" vollauf zufüeden; im Nu

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verschwand der Sägefisch in ihren Mägen, und nur Kopf samt Säge und nattirlich

das Skelett blieben übrig.

Fanny rührte ihre eigene sp?irliche Ration nicht an. Von Abscheu geschüttelt

sah sie zu, wie Louis seine Portion zum Munde führte. DerAkt mutete sie ausge-

sprochen widernatürlich an, so sehr sie sich darum bemühen mochte, Aberglau-

ben, mystische Vorahnungen und sonstige ,,irrationale" Phänomene aus ihrem ge-

quälten Hirn zu verbannen. Der Ekel blieb, ebenso wie die Angst. Sie hegte nur

eine Hoffhung: Wenn dieser Sägefisch sich als ein ganz prosaischer, sozusagen

,,hergelaufener" Sägefisch entpuppte, der keinerlei Wirkung zeitigte, dann müßte

sich das Mysterium um ,,sawfish-u" von selbst in Luft auflösen. Falls alle Gäste

unbeschadet von dannen zögen und auch Louis das Abendmahl überlebte, hätte

der dumme Fisch ein für allemal die ihm von Fanny angedichteten Kräfte einge-

büßt!

Es galt abzuwarten. ,.

Und so verbrachte Fanny die restlichen zwei Stunden des Febtes damit, auf-

merksam injedem Gesicht nach verräterischen erstenAnzeichen zu forschen, nach

Symptomen, welche ihr zu erkennen gaben, ob das Geburtstagsgelage sich zu

schlechter Letzt in eine Totenfeier verwandeln wtirde. Sie fand keine Ruhe, bevor

nicht s?imtliche Häuptlinge das Grundsttick verlassen und Louis und sie selbst

sich zu Bett begeben hatten. Doch auch dann brauchte Fanny noch Stunden, um in

einen unruhigen Schlaf zu versinken, der ihr keine Erquickung schenkte.

In dieser Nacht träumte Fanny wieder von Häuptling Pharao. Seine Untertanen

hatten inzwischen nicht nur den Turm fertiggestellt, sondern auchjene größte und

schönste aller Pyramiden. Der Häuptling saß nicht länger majestätisch zu Pferde,

und den ihm zu Ehren errichteten Prachtbau konnte er nicht mehr bewundern: Er

lag mit Tüchern zugedeckt auf einer Bahre. Seine braunhäutigen Untertanen tru-

gen ihn weinend und wehklagend zur Pyramide, doch nicht in die Gewölbe hinab,

sondern hinaufbis zur äußersten Spitze. Quader für Quader erklommen sie, bis sie

ihn auf dem obersten Stein zur Ruhe betteten.

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Page 322: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

I4

,,NntoleoN nrsnss pmss Flasche, und mit ihr wurde er zum König der Welt. Captain

Cook besaß diese Flasche, und mit ihr fand er den Weg zu vielen Inseln ... Wenn

ein Mann nicht zufrieden ist mit dem, was er hat kommt das Böse über ihn."

Fanny saß in ihrem Lieblingskorbstuhl auf der Veranda und las in der Geschichte

vom Flaschenteufel. Die Passage, in der die prominentesten Vorbesitzer des Gefü-

ßes aufgelistet standen, ging ihr nicht aus dem Kopf; ebensowenig gelang es ihr,

dieZeilenntüberspringen und zum Kem der Geschichte vorzustoßen. Der Zeige-

finger, mit dessen Hilfe sie raschere Fortschritte hafte machen wollen, schafte es

nicht, die verflixte Stelle zu verlassen, so als klebe er am Papier fest.

Seit Tagen plagte Fanny nun schon wieder sich selbst und den Rest der Familie

mit bösen Vorahnungen. Obwohl auch diese schlimmen Befürchhrngen weder Hand

noch Fuß hatten, riefen sie die mit Abstand qualvollsten Angstzustände in Fanny

hervoq an die sie sich überhaupt zu erinnern vermochte. Undjede einzelne ihrer

Sorgen drehte sich allein um Louis und sein Wohlbeflrnden, obschon er doch guter

Dinge, bester Laune, körperlich und geistig putzmunter war. Er täuschte ihr in

dieser Hinsicht nichts vor; gerade während der vergangenen Tage hatte er sich

ganzhewonagend gefühlt. Tatsächlich verbrachte er den größten Teil seiner kost-

barcrlZeit damit, seine kranke Frau aufzuheitern, indem er mit ihr Karten spielte,

aus dem Stegreif witzige Anekdoten erfand und allabendlich geduldig mit ihr den

Sonnenuntergang betrachtete, dem er sonst längst keine Aufmerksamkeit mehr

schenkte. Wie dem Naturschauspiel erging es wohl jeder Schönheit, die mit be-

währter Regelmäßigkeit wiederkehrte, ohne den Liebhaber je zu enttäuschen!

Schon schrieb man den 3. Dezember, das Jahr war fast vorüber, und die

Weihnachtsvorbereitungen nahmen die Familie voll in Anspruch. Die schwie-

rigste Aufgabe, die rechtzeitige Beschaffung der Geschenke für die vielköpfige

Dienerschaft, war gestern mit Erfolg bewältigt worden; nun durfte man sich ein

wenig Ruhe vor dem Fest gönnen, bis die Luft um den 20. Dezember herum

wieder vor hektischer Betriebsamkeit vibrierte. ,,Kilisimasi", wie die Samoaner

den Feiertag nannten, wobei der englische Ursprung des Wortes kaum zu überhö-

ren war, gestaltete sich immer laut, läirmend und aufregend. Gestern war mit dem

Postschiffdie Mehrzahl jener Gegenstände eingetroffen, die Louis in weiserVor-

aussicht schon Monate zuvor für das Weihnachtsfest bestellt hatte. Louis hatte

seine lethargische Ehefrau, die sich lieber im Bett verkrochen hätte, kurzerhand

zu ihrem Glück gezwungen und mit sich hinunter nach Apia geschleift. Unten

angekommen, nahmen die beiden zunächst die im Kramladen für sie hinterlegten

Waren in Empfang und verstauten sie sorgfältig auf dem großen, von vier Insel-

pferden gezogenen Karren. Sodann überraschte Louis die Dame seines Herzens

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damit, daß er sie feierlich ,,zum Essen ausführte". In Apia gab es nämlich ein

echtes Restaurant!

Das Etablissement des kleinen Chinesen Kai Sue, berühmt auf ganz Upolu,

hätte man in jeder zivilisierten Hafenstadt der Welt eine erb?irmliche Spelunke

geschimpft - mit Fug und Recht obendrein. Die Bretterbude des Küchenchefs

drohte schon seit der Enichtung mit sofortigem Einsturz und hatte trotzdem bei-

nahe zwei Jalrzehnte den F?ihrnissen tropischerWinde standgehalten. Das schiefe

Gebäude wartete mit einem einzigenwinzigen,,Speiseraum" auf, einem überdach-

ten Plankenboden, dessen Stirnseite keine Wand besaß und daher freien Blick auf

den Korallenstrand bot. Vom Eßtisch aus - es existierte nur einer - konnte man die

funkelnde blaue See um die Korallenbänke spielen sehen; je nach Wetterlage spielte

das Meerwasser sogarum die Füße der Speisenden, was alle mit stoischem Gleich-

mut ertrugen, Man zog sich in diesem Fall nur die Schuhe aus und stellte sie neben

sich auf den Tisch. .n

Die weißen Gäste, die mangels Auswahl an Speiselokalen Kai Sues Bruchbude

regelm?ißig besuchten, galten als die erklärten Favoriten des Chinesen. Betraten

,,Herrschaften" das Eßzimmer, ließ Kai Sue jeden noch so friedlichen Vorgänger,

dessen Haut nicht durch und durch weiß war, erbarmungslos hinauswerfen - und

zwar mitsamt Tischdecke und Speisen. Kais Faktotum Ulla, dem das Entfernen

farbiger Subjekte oblag, erklärte den von solch rüdem Benehmen erschreckten

Weißen dann jedesmal: ,,Boß sagen zu mir, Herren kommen - raus mit Abfall.

Ulla werfen raus. Verstehn?" Niemand mochte Ulla ernsthaft widersprechen, je-

nem dünnen, doch außerordentlich energischen Mäinnlein u ngewisser Herkunft

undAbstammung. Nachdem die Lage solcherart gekl?irt war, kam Ulla in Sekun-

denschnelle mit einem blendendweißenTischtuchzurückund deckte neu ein, wobei

er sogar Servietten nicht vergaß. Dann stellte Ulla die wichtige, nur scheinbar

harmlose Frage, deren korrekte Beantwortung gewissermaßen über Gedeih und

Verderb des Gastes entschied: ,,Was wollen essen?" Der Eingeweihte entgegnete

in einem inselspezifischen Geheimcode: ,,Was hätte Bully Hayes heute bestellt?"

Der gute Kai Sue durfte sich nämlich mit dreierlei Vorzügen brüsten. Einen

davon stellte sein erstaunlich gutes Lagerbier dar - Louis beispielsweise erklärte,

er habe nirgendwo auf der Welt so exquisites Bier zu hinken bekommen, und er

blieb bei seiner Behauptung auch dann noch, wenn Kai Sue und Ulla bereits den

Raum verlassen hatten. Der zweite Vorang bestand in Kai Sues nicht unbedeuten-

der Kochkunst. Die dritte Eigenttimlichkeit aber, um derentwillen man zwar nicht

den Chinesen, doch seine Geschichten über alles liebte, war die Tatsache, daß er

zwei Jahre lang der Schiffskoch des berüchtigten Piraten Bully Hayes gewesen

war ... und sowohl den riskanten Posten als auch seinen gefürchteten Vorgesetz-

ten überlebt hatte. Bully Hayes' verwöhnter Gaumen genoß einen fast ebenso le-

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gendären Ruf in diesem Teil der Südsee wie die Brutalität des Freibeuters. Kai

Sue, der keineswegs freiwillig in Bullys Dienste getreten, sondern genaugenom-

men getreten worden war, hätte sich an Bord des Schonen vor dem Zorn des

unzufriedenen Essers niemals retten können. Der Chinese war ein gekrämmtes,

stets wieselndes Kerlchen, das sich aus fastjeder Lage zu befreien verstand, doch

auf einem Schiff gab es selbst für einen Schlangenmenschen wie ihn kein Ent-

kommen. So stand für jedermann fest, daß Kai Sue den ungeliebten Herrn ausge-

zeichnet bekocht haben mußte. Schließlich lebte er noch!

Es verstand sich von selbst, daß ein Gast, der sich nach Bully Hayes'Vorlieben

erkundigte, Kai Sues Vorschlag ohne zu überlegen akzeptierte. Die Belohnung

folgte auf dem Fuße: ein üppiges Mahl und zum Nachtisch eine gelungene Mi-

schung aus Kai Sues ganz persönlichan Vorrat an Piratengeschichten. Nun, mit

einem Charakter wie Long John Silver hätte sich Kai Sue sicherlich nicht messen

können, doch er kannte seinen erdachten ,Berufskollegen" nicht. Der Chinese

genügte sich selbst so, wie er war, und Fanny beschlich manchmal das Gefühl, daß

Louis einem echten Kai Sue, Koch der Kaschemme zu Apia, bei weitem den Vor-

zug vor jedem seiner schillernden Geschöpfe gab. Das Leben mochte erheblich

bescheidener wirken als Louis' unerschöpflich wuchernde Phantasie, doch in Louis'

Gunst stand die Wirklictrkeit, mithin das ,,echto"Abenteuer, seit ehedem weit hö-

her als die Blüten der eigenen Fabulierkunst.

Am gestrigen Tage, nach dem großen Weihnachtseinkauf, hatte Kai Sues Fak-

totum Ulla zwar niemanden am Kragen packen und mit Brachialgewalt hinaus-

beftirdern müssen, um Platz für die Weißen zu schaffen; trotzdem ereipete sich

ein amüsantes Intermezzo. Während der Küchenchef eine seiner Lieblings-

anekdoten zum besten gab, die Louis trotz regelmäßiger Wiederholung niemals

fade wurde, platzte Ulla in die Dreiemrnde bei Tisch und fuchtelte aufgeregt mit

den Armen. ,,Pepe kaputt! Pepe kaputt!" rief er immer wieder und bedeutete Lou-

is, er möge ihn nach draußen begleiten. Louis und Fanny satren einander ratlos an:

Sie kannten keinen,,Pq)e", und das samoanische Wortpepebedeutete,,Säugling"

... Dem energischen Ulla dauerte ihr Zaudern zu lange. Er erweiterte seine Erklä-

rung. ,,Pepe fallen von Wagen. Kopf ab!" Nun begab sich Louis sofort vor die Tür

des Lokals, doch keineswegs aufgeregt. Er zwinkerte Fanny zu und grinste spitz-

bübisch. Offenbar erriet er bereits des Rätsels Lösung, dieweil Fanny, deren Apa-

thie den gan:zenTag anhielt, in ihrem umnebelten Zustand die Lage nicht erfaßte.

Binnen einer Minute kehrten Kai Sue, Ulla und Louis zurück; Louis hatte einen

winzigen rosafarbenen Körper im linkenArm und hielt mit der Rechten den Kopf

der kleinen Gestalt in die Höhe. ,,Meine arme Fanny", begann er in klagendem

Tonfall, ,du wirst unföstlich sein zu hören, daß einer unserer geliebten Zwölflinge

soeben das Zeitliche gesegnet hat." Damit legte er den Kopf vor Fanny auf den

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Tisch. Mittlerweile wußte Fanny, was sich draußen ereignet haben mußte. Schick-

salsergeben betrachtete sie den sauber abgehennten Kopf und meinte: ,,Nur gut,

d"ß wirnoch elf kleine Engel haben, die wirverschenken können." Spätestens zu

diesem Zeitpunkt hatte auch der voreilige, doch begriffsstutzige Ulla verstanden,

daß es sich bei dem zerbrochenen Säugling um eine Porzellanputte handelte!

Zl dq Wagenladung voller Geschenke, welche draußen vor dem Etablisse-

ment des Chinesen abgestellt stand, gehörte nämlich unter anderem ein Dutzend

der kitschigsten geflügelten Knäblein, die man für Geld erwerben konnte. Eine

dieserAmoretten aus Keramik hatte beim vorigen Weihnachtsfest für helle Begei-

sterung gesorgt. In Ermangelung eines Stemes oder einer anderen" herkömmlicheren

Art von Verzierung war Louis beim Schmücken des riesigen Jakarandabaumes

auf eine Notlösung verfallen: Er fand die scheußliche Figur in einem Winkel des

Hauses und beschloß, daIJ alles, was Flügel besaß, kurzerhand zum Engel erkl?irt

werden und einen Platz auf der Spitze des Baumes beanspruchen durfte! Der mit

Blumen, Schleifen und Päckchen auf das prächtigste herausstaffiertb Weihnachts-

baum erhielt solcherart den krönenden Höhepunkt. Als dann die allgerneine Be-

scherung erfolgte, stellte sich heraus, daß hotz der schönen Geschenke für die

Dienenchaft jedermanns Blicke begehrlich auf der Putte haften blieben. Niemand

widmete seinem eigenen Präsent besondereAufrnerksamkeit, abgesehen von den

notwendigsten Dankes- und Höflichkeitsfloskeln nattirlich. Vergessen waren die

neuen Jacken, die ansonsten heißbegehrten Regenschirme, die Bilderbücher und

das mit Mustern bedruckte Briefpapier; jeder wtinschte sich nur noch eines: die

überirdisch wundervolle Geschmacklosigkeit auf dem Baumwipfel. Louis verehr-

te die Figru schließlich Ratatuis Mutter, die sich einen neuen Mann zu nehmen

gedachte und mit Hilfe des weißen Porzellankindes sicherlich einen guten Fang

würde machen können ... An jenern Abend hatte sich Louis fest vorgenommen,

die schrecklichen Putten demnächst im Dutzend zu bestellen.

Doch nun waren nur noch deren elfübrig, denn das kopflose Exemplar konnte

man wahrscheinlich kaum mehr kitten. Obgleich Fanny die Amoretten ordentlich

verpackt und auf dem offenen Wagen verstaut hatte, war eine,,heruntergefallen" -zweifellos gab es draußen ein paar Mischlinge oder Salomoninsulaner, die der

Versuchung erlegen waren und beschlossen hatten, die Einzelposten des allseits

berähmten und begehrten Stevensonschen Weihnachtssortiments ein wenig ein-

gehender zu untersuchen. Als dann im Eifer des Gefechts das Kind den Kopf ver-

loren hatte, schlossen sie sich dem Beispiel augenblicklich an und ergriffen die

Flucht. Schon bald würde es sicher wieder ein neues Gerücht über den Tusitala geben

und über die merkwärdigen Dinge, die er auf seinem Wagen mit sich führte!

Fanny lächelte versonnen in sich hinein, als sie an den gestrigen Ausflug zu-

rückdachte. Doch kaum kehrte sie in die Gegenwart zurück, aufdie Veranda von

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Page 326: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Vailima, fiel von neuem die nackteAngst über sie her. Sie spürte deutlich, unmiß-

verst2indlich wie nie zuvor, daß sich Louis'Leben in Gefahr befand. Sowohl die

Bedrohung als auch Fannys Furcht hatten neue Dimensionen angenommen. Was

noch vor Wochen eine vergleichsweise vage, wenngleich nicht enden wollende

Befürchtung gewesen war, die sich als ein stetes schmerzhaftes Bohren und Zie-

hen in ihren Gedanken ausgedrtickt hatte, spitzte sich seit etwa drei Tagen zu einer

furchtbaren Gewißheit zu. Louis würde sterben. Nicht in einigen Jahren, nicht in

wenigen Monaten, sondem viel, viel eher: innerhalb der nächsten Stunden.

Und Fanny konnte nichts dagegen unternehmen. Sollte sie den alten englischen

Arzt aus Apia kommen lassen? Er würde nicht das geringste Symptom bei Louis

finden, dessen war sie sich absolut sicher, ohne der medizinischen Kunst des Bri-

ten zu mißtrauen. Die Patientin, welcher der geduldige Mann nach eingehender

Untersuchung ein Medikament verabreichen wärde, wäire die verrückte Fanny. Es

half auch nicht, Louis zu beschwören, er möge sich schonen: Genau das tat er

doch gerade! Genaugenommen sagte Fannys Vorahnung - trotz aller Klarheit dar-

iüber, datiLouis etwas zustoßen würde - nichts von einer Gefalr im Inneren seines

Körpers, einer schleichenden Krankheit etwa, die kurz vor dem tödlichen Aus-

bruch stand. Louis machte einen überaus gesunden, ja blühenden Eindruck. Er

befand sich im Vollbesitz jener physischen F?ihigkeiten, von denen er in seiner

Jugendzeit nur hatte träumen dürfen. Nach wie vor bestand er aus nicht viel mehr

als Haut und Knochen, doch fleischiger war er zeitlebens nie gewesen, und so-

wohl Haut als auch Knochen waren intakt und funktionierten tadellos. Louis' Lunge

stellte ebenfalls keinen Grund zur Besorgnis dar; er röchelte nicht, hustete nicht

einmal, und an den letzten bescheidenen Blutauswurf vermochte sich Fanny nicht

einmal genau zu erinnern. Seit Louis ununterbrochen auf Upolu weilte, erfreute er

sich einer fast unverschämt guten Konstitution, um die ihn Fanny nicht selten

beneidete.

Demnach mußte die Gefahrvon außen kommen. Doch wie sollte sie aussehen?

Würde Louis ein Unfall zustoßen - hier auf der heimatlichen Veranda etwa? Fannys

Angste konzentrierten sich allein auf ihren Gatten, demnach war nur er es, der die

Welt binnen kthzester Frist verlassen würde ... Wenn es dem alten Vaea gefiele,

plötzlich seine Kruste zu durchstoßen und seine Lavamassen auf Vailima herab-

regnen zu lassen, wäiren alle Mitglieder des Klans betroffen. Falls es einem Dä-

mon gelänge, in einen der Diener zu fatren und ihn zu Bluttaten anzustiften, be-

fünde sich Louis mit Sicherheit als letzter in Bedrängnis, denn die bösen Geister

dieser Gegend beschränkten sich in der Regel daraul Ehegatten gegeneinander

aufzuhetzen. Welcher Dämon trachtete wohl ausgerechnet Louis nach dem Leben,

nun, da der Gemeine Sägefisch endgültig tot und in den Mägen von zwei Dutzend

Häuptlingen begraben worden war?

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Mit fahrigen Fingern drehte sich Fanny eine nele Zigarelle und zündete sie

sogleich an. Während der letzten beiden Tage rauchte sie mitAusnahme derNacht-

stunden ohne Unterlaß, und sogar nachts kam es mehrmals voq daß sie schweiß-

gebadet aufinachte und sich mit Tabak beruhigen mußte. Louis fand nichts dabei

und machte keinerlei Bemerkungen - schließlich war er ein großer Freund des

blauen Dunstes. Er selbst überschritt sein übliches Quantum nicht, zeigte auch

sonst keine VerZinderung seiner Lebensgewohnheiten oder Vorlieben. Fanny zün-

dete sich eine Zigarette nach der anderen an, zitterte wie Espenlaub und gedachte

erst mit dem Rauchen aufzuhören, sobald derVorrat an,,Three Castles'lTabak bis

auf den letzten Krtimel verbraucht war. Danach würde sie wohl oder übel auf

ihren selbstgebrauten Likör zurückgreifen und zum guten Schluß den Weinkeller

ausplündem müssen. Doch die Zeit der ewigen Angst neigte sich unweigerlich

dem Ende zu. Was sie nach der Ungewißheit erwartete, war allerdings keineswegs

Erleichterung, sondern der schwarze Abgrund trostlosester Trauer.. ,r

Fanny schlug sich wütend mit der Faust auf den Oberschenkel. Sie schalt sich

ein törichtes Frauenzimmer - nicht wegen ihrer Vorahnungen, die sie zu Recht

ernst nahm, sondern wegen der unsinnigenArt, wie sie mit ihrem Wissen umging.

Höchstwahrscheinlich gab es für sie keine Möglichkeit, Louis'Tod zu verhindem,

wenn er schließlich kam ... aber entschuldigte das die Tatsache, daß Fanny ihren

Ehemann in Gedanken schon begrub, während er noch munter und aufgekratzt

vor ihr auf und ab schritt und mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln versuch-

te, dieses düstere Orakel von Gattin aufzuheitern?

Nein, einen vernünftigen Grund für ihre ständige Grübelei wußte selbst Fanny

nicht zu nennen. Existiertewirklich kein Dämon, der Louis nach dem Leben trqch-

tete? Emeut stellte sie sich diese Frage, zum mittlerweile wohl hundertsten Male.

Natürlich nicht, erwiderte sie darauflautlos, aber energisch und wußte dabei doch

ganz genau, daß sie sich selbst schamlos belog. Wie oft schon hatte sie in ihren

Tagträumen das Phantom erblickt, welches sie der Einfachheit halber nur den

,,Anderen" nannte - jenes kleine, verwachsene, häßliche Wesen mit den biegsa-

men und affenartig langen Gliedmaßen, das sich regelmäßig unerlaubten Zufrttzum Garteninneren verschaffte! Es kletterte mühelos über den hohen Zaun, wenn

ihm danach zumute war, und machte sich über die Menschen innerhalb der Ein-

friedung lustig, die sich in ihrerArroganz vollkommen sicherwähnten. Selbstver-

ständlich konnte nur Fanny es sehen, denn es warja die Ausgeburt ihrer eigenen

überhitzten Phantasie. Manchmal baute sich das Wesen direkt vor Louis auf, die

Arme herausfordemd in die Seiten gestemmt. Einmal hatte es sogar zu ihm ge-

sprochen. Du hast mich in den schwarzen Urwald verbannt, Zours, hatte es bei

dieser Gelegenheit zu ihm gesagt, ohne daß Louis das geringste wahrnahm. 1cfr

rnulS mich im Dschungel verstecken und so meinem Namen gerecht werden, wöh-

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rend du im Tageslicht lebst. Seib drum, fuhr das Lebewesen fort und kicherte

hämisch, ich wqr die Teilung zufrieden, solange du über dein Reich hetschtestund ich über meines. Nun aber beschneidest du mein Dunkel, breitest deine Lich-tungen aus wie helle Lepraflecken. Du setzt dich über die Trennung hinweg undbeanspruchst mein Hoheitsgebiet: Nun will ich dich und deinen Garten in meine

Gewalt bringen. All das hatte nur Fanny gehört und gleichzeitig gewußt, daß sie

einer Sinnestäuschung zum Opfer fiel. Der Tagtraum gestaltete sich jedoch derart

lebendig, das Phantom schien ihr so greifbar nah, daß Fanny es am liebsten mitbeiden Htinden gepackt hätte, um Louis vor dieser,,fleischgewordenen" Bedro-hung zu warnen!

Natürlich hielt sichFanny bei solchen Gelegenheitenmit letzterKraft im Zaum.

Sie sah, zittefte ... und schwieg. Welchen Stellenwert hätte Louis wohl einem

mißgestalteten Affenwesen beigemessen, das er weder sehen noch hören noch

berühren konnte - und das allzu offensichtlich Louis'eigener Feder entsprungen

war! Daß Fanny seinen Mr. Hyde nun schon in sämtlichen Ecken und Winkelnvon Vailima zu erspähen glaubte, ihm zu allem Überfluß unverstZindlich wirres

Zeug tn den Mund legte, hätte Hydes Schöpfer zuerst verärgert, dann aber der

tiefsten Zerknirschung preisgegeben. Immerhin war es ja seine Kreatur, die Figurseiner Gruselgeschichte, welche der armen Fanny, dieser ohnehin labilen Frau,

solch nachhaltiges Grauen einjagte. Fanny kannte die Konsequenzen für den Fall,

daß sie sich verplapperte: Louis würde sich vor Selbstvorwürfen zerfleischen, viel-leicht gar so weit gehen, seine gesammelten Schriften zu verbrennen, um Fannyjede Gelegenheit zu nehmen, weiterhin das geistige Gift aufzusaugen, welches er

aus Unkenntnis der zerstörerischen Natur weltweit verbreitet hatte. Eine derartig

übertriebene Reaktion seinerseits, die durchaus im Bereich sowohl des Möglichen

als auch seines Temperaments lag, konnte die gegenwärtige Lage nur noch ver-

schlimmern.

Also saß Fanny schweigend da, den geöffneten Band derlnselnächte aufdemSchoß, der unter anderem die Erzäihlung vom ,,Flaschenteufel" enthielt. Sie stieß

mehr beißenden Qualm aus als der Berg Vaea in seinen besten Tagen und wartete,

scheinbar ergeben, auf das Unvermeidliche. Auch unter ihrer Oberfläche aber bro-

delte und rumorte es, während Louis heiteren Gemüts an Fanny vorbei die Veran-

da entlangschritt und ihr von seinem neuesten Vorhaben erzählte. Sein Monologdauerte mittlerweile schon fast zehn Minuten, und Fanny mußte zu ihrer Schande

gestehen, daß sie ihm überhaupt nicht zugehört hatte.

,,... bin ich felsenfest davon überzeugt, daß die Samoaner aus ihrern Archipelein reiches, ein steinreiches Land machen können. Sobald sie erst einmal völligepolitische Unabhängigkeit erlangt haben, wird es nichts mehr geben, was sie noch

aufzuhalten vermag. Außer ihrer etwas phlegmatischen Lebensweise nattirlich.

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Doch in diesem Punkt kann man leichtAbhilfe schaffen - das Staßenbauprojekt

gibt ein hervoragendes Beispiel ab. Wie geschickt und eifrig sie arbeiten, wenn

sie ein echtes Ziel vor Augen haben! Du hast es ja selbst miterlebt, Fanny. Die

Samoaner schaffen alles,wenn sie nurwollenl"

,,Vielleicht wünschen sie sich aber garkein steinreiches Land", murmelte Fanny,

ohne ernstlich ein Argument vorbringen zu wollen. ,,Vielleicht sind sie mit dem

zufrieden, was ihnen jetzt schon gehört - mit einer Insel, die sie alle ernährt."

Ungeduldig wedelte Louis mit der Rechten ihren vermeintlichen Widerspruch

beiseite. Er hatte sich warmgeredet und ertrug in dieser Phase seiner Ausführun-

gen nur schlecht entgegengesetzte Meinungen. ,,Man muß sich denAnforderun-

gen seiner Epoche stellen, Fannf', erklärte er. ,,Der Fortschritt ist nicht aufzuhal-

ten, und wenn man verantwortungsbewußt und verständig mit ihm umgeht, hat

das dwchaus seine Ordnung. Wichtig erscheint mir in erster Linie, daIS die Samoaner

sich die Emrngenschaften dieses weltweiten Fortschritts selbst aneignim. Kein dzut-

scher Sklavenfreiber soll sie zumAufbau von Industrien zwingen dürfen, während er

doch stets nur sein eigenes Wohl, Profit, Macht und Expansion im Sinne hat."

Fanny kannte solche flamrnenden Reden zur Genüge. In ihrem augenblicklichen

Zustand verspürte sie nicht die geringste Lust, sich aufeine Debatte einzulassen,

aber die passenden Entgegnungen entfuhren ihrem Mund beinahe ungewollt. ,piese

,Sklavenfieiber', wie du sie nennst, haben noch nie einen Samoaner zur Arbeit

gezwungen", sagte sie langsam, ,,und die Salomoninsulaner, die sie in den Planta-

gen beschäftigen, werden keineswegs schanghait, gepreßt oder sonstwie betro-

gen. Sie erhalten nicht viel Geld, das gebe ich zu. Doch sie wissen, was auf sie

zukommt, wenn sie auf ihren Heimatinseln den Arbeitsvsrtrag untemchreiben.

Niemand mißhandelt sie, niemand übervorteilt sie schamlos ... die Deutschen je-

denfalls nicht. Für das, was betrügerische Bootsbesitzer w2ihrend der Passage mit

ihnen anstellen, kann man die Deutschen nicht zurverantwortung ziehen." Fanny

hielt inne, bis ihr ein weiterer Umstand einfiel. ,,Im übrigen gehören die Plantagen

hier auf Upolu zum großen Teil Engländern - oder Schotten wie dir."

,,Wie dem auch immer sei", fuhr Louis ungertihrt fort, ohne auf Fannys Darle-

gung einzugehen, ,die Samoaner müssen selbst ihr Schicksal in beide H?inde neh-

men. ,Fleiß' ist das Zauberwort, das alle Einwohner glücklich machen kann und

wird. Wenn die Technik Einzug hält, sollen die Samoaner sie willkommen heißen

und das Beste aus den Möglichkeiten machen, die sich ihnen für eine strahlende

Zukunft auftun. Kein Weißer darf sie dabei beeinflussen. Sobald die Kolonialher-

ren erst abgeschüttelt sind wie lästige Insekten, werden die Insulaner in der Lage

sein, den arroganten Weißen auf der anderen Seite der Erdkugel zu zeigen, was

Zivilisation wirklich bedeutet. Denk doch nur an König Kalakaua und seine Er-

rungenschaften!"

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Gequält schloß Fanny dieAugen. Kalakaua, Herrscher über Hawaii, schien ihrpersönlich das abschreckendste Gegenbeispiel zu Louis'Thesen zu verkörpern,

das man sich vorstellen konnte. W?ihrend der Monate, die der Klan seinerzeit inWaikiki verbracht hatte, waren der König und Louis zu engen Freunden geworden

- zumindest beteuerten sie einander ihre Zuneigung von morgens bis abends.

Kalakaua und Louis bestritten jede Unterhaltung nur zu zweit; die Familie blieb

zum Zuhören verurteilt. Bezeichnendenreise war es ausschließlich Isobels dama-

liger Ehemann Joe Stong gewesen, Jung-Austins Erzeuger, der den König fast

ebenso zu fesseln vermochte wie Louis. Joe war ein Windhund, Vagabund und

Nichtsnutz, ein Phantast und Schmarotzer, dem das ungerechte Schicksal eine

Portion Charme mit auf den krummen Lebensweg gegeben hatte, die fast jenem

Charisma gleichkam, welches Louis auszeichnete. Drei verwandte Seelen üafen

sich mithin auf Hawaii, drei Männer, welche Schwärmerei, Leichtsinn und Grö-

ßenwahn zu echten ,,Freunden" machten. Und Kalakaua war der Schlimmste un-

ter ihnen - denn er verfügte über Herrschergewalt. Fanny hatte Louis niemals

gesagt, was sie wirklich von dem König hielt. Kalakaua, fettleibig wie viele

Hawaiianer, doch westlich elegant gekleidet, machte auf Fanny den Eindruck ei-

nes Mannes, der über Leichen zu gehen bereit war, um seine neumodischen Ideen

durchzusetzen. Seine Intelligenz war bemerkenswert, ebenso seine rascheAuffas-

sungsgabe; nichtsdestofotz erweckten sein unheimlich firnkelnder, stechender Blick

und seine jähen, unerkl?irlichen Zornesausbrüche bei Fanny insgeheim den Ver-

dacht, es bei dem König mit einem Syphilitiker in fortgeschrittenem Stadium zu

tun zu haben. Seine Fortschrittsüeen, denen Louis so begeistert lauschte, erhärte-

ten Fannys Argwohn. Sicher, Kalakaua hatte viel Gutes für sein Land getan: Es

waren Wohlfahrtseinrichtungen für Bedürftige entstanden, Geflingnisse und

Besserungsheime für schwererziehbare Jugendliche und dergleichen mehr. Doch

der Plan, ganz Honolulu in absehbarer Zukunft mit elektrischen Laternen zu be-

leuchten oder Straßenbahnen dwch die Gtißchen gondeln zu lassen, erschien Fanny

- gelinde ausgedrückt - extravagant. Nicht einmal in Europa gab es ähnliches,

und Kalakaua verfocht eben diese Zielemit Nachdruck.

In der Hauptsache waren es jedoch die politischen Bestrebungen gewesen, die

Louis mit Leib und Seele für den König einnatrmen. Ausgerechnef, dachte Fanny

grimmig. Es verstand sich von selbst, daß der König, den keine Kolonialmacht

piesackte, die übrigen polynesischen Archipele befreien wollte. Jedermann ver-

folgte schließlich die Absicht, Polynesien zu befreien, und Kalakaua gedachte sich

bei dem großen Unternehmen nicht im Hintergrund zu halten. Was allerdings

schmähliche Unterdrückung, blutige OLkupationund schlimmstenTerror darstellte,

wenn europäische oder arnerikanische Mächte beteiligt waren, mußte sich als Se-

gen für die gesamte Südsee erweisen, wenn ein Insulaner es unternahm, seine

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Page 331: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

naturgegebenen Brüder und Schwestern aus weißer Knechtschaft zu erlösen. Nur

dem Bewohner eines Paradieses kam es nt, alle anderen Gärten Eden zu einem

riesigen Wolkenkuckucksheim zu vereinigen und alleArchipele gnadenlos zu be-

glücken! Das einzige Hindemis, welches König Kalakaua seines wohlverdienten

politischen Erfolges beraubte, waren die vermaledeiten weißen Besatzungsmäch-

te. Immerhin ließ es sich Kalakaua nicht nehmen, auf anderen Inselgruppen,,Bot-

schaften" einzurichten, wobei er den jeweiligen hawaiianischen Würdenträgern -zumZeichen ihrer,,Würde" - Kanonenboote zur Begleitung gab, bemannt mit der

Elite jener Gef?ingnisinsassen, welche Kalakaua in seinern aufklärerischen Geiste

hatte umerziehen lassen ... Mittlerweile dachte Louis ein wenig anders über Kala-

kauas Befreiungsdiplomatie; damals hatte er den König schlicht für den Heils-

boten der pazifischen Welt gehalten. Auch nach Samoa entsandte Kalakaua einen

Botschafter und scheiterte. Louis hatte wie gewöhnlich hitzig gegen die weiße

Einmischung protestiert. Ein Samoa, welches von lauter freundlichen Lilawaiianern

annektiert wwde, war schließlich - Gott bewahre! - keine Kolonie 1..

,,Denkst du, eine Straßenbahn würde sich auf Samoa ebensogut ausnehmen wie

auf Hawaii?" forschte Fanny, wohl wissend, daß Kalakauas technische Vorhaben

nach wie vor Louis'uneingeschränkten Beifall fanden. ,,Die Bucht vonApia sollte

unbedingt so ein Wunderding bekommen. Die zwei Meilen Stand zwischen Maliata

und Mulinuu sind ansonsten kaum zu bewältigen." Fanny machte aus ihrem Ab-

scheu für Kalakauas aberwitzige Pläne kein Hehl. ,,Allerdings muß man früh ge-

nug darangehen, die entsprechenden Bahnhöfe zu bauen. Mit elektrischer Beleuch-

tung selbstverständlich. Sagen wir mal, einen bei Gardiners Kramladen ... einen

vor Kai Sues Restaurant ..."

,,Ach, Fanny!" Louis warf in gespielter Unduldsamkeit die langen Arme in die

Höhe. ,,Was soll ich nur mit dir anstellen? Du empfindest keinerlei Respekt fürjene M?inner, die den großen Herausforderungen ihres Zeitalters mutig, sogarbegie-

rig ins Auge blicken. Diese vergleichsweise wenigen Menschen sind in der heutigen

Zert die letzten wirklichen Abenteurer! Zugegeben, sie verrennen sich des öfteren in

ihrem Eifer ... doch ist das nicht besser, als gäbe es gar keine Pioniere - und alles

bliebe auf immer und ewig beim alten? Fräher, noch vor wenigen Jahreq wie du

selbst aus schmerzlicher Erfahrung gelernt hast, bedeutete eine Reise quer über den

amerikanischen Kontinent eine monatelange Strapaze. Aber mittlerweile? Innerhalb

von ein paar Tagen hat man dank der neuen Eisenbatrnverbindungen dieselbe Stecke

zurückgelegt, ohne Anstengung! Eine Reise um die Welt ist längst nicht mehr der

Prüfstein, an dem echter Wagemut gemessen werden kann - bedenke nur einmal, daß

in derselben öden Wildnis, in der Großvater Robert seine einsamen Tärme errichtete

und die wir beide noch unbehelligt durchstreifen durften, ein grauses Gespenst Ein-

zug gehalten hat. Man nennt es gemeinhin ,Tourismus'!"

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Page 332: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Fanny vermochte sich zwar nicht vorzustellen, daß irgend jemand außerhalb

des Stevenson-Klans den Drang verspärte, aufRoberts Spuren zu wandeln; doch

falls jener neuartige, ,,Tourist" genannte Menschenschlag in Schottland einfiel,

dann gelang ihm das nur, weil fehlgeleitete Pioniere ihm mit ,,Straßenbahnen"

odervergleichbarem Unsinn den Weg geebnet hatten. Louis'Großvater jedenfalls

hatte unbewußt dafür gesorgt, .lrß ihm niemand durch das Moorland folgte und

kein Unbefugter auf die Idee kam, die Leuchtturminseln mit Ausflugszielen zu

verwechseln! Der bloße Gedanke an eine solche Möglichkeit hätte dern alten Rauh-

bein sicher den Magen umgedreht.

Doch Louis' Rede machte Fanny noch einen weiteren Umstand überdeutlich.

Ein Teil von Louis begrüfite ungeniert die Tatsache, daß das Reisen von Tag zu

Tag einfacher, schneller und weniger beschwerlich vonstatten ging. Auf den er-

sten Blick schien das widersinnig ... doch dachte man länger darüber nach, fand

man dieAntwort. Louis, dem Gefangenen, mußte eigentlich das Herz bluten, wenn

er sich vor Augen hielt, wie geschwind er mittlerweile Europa hätte erreichen

können - als gesunder Mann, wohlgemerkt. Aber der Wandertrieb in Louis war,

abgesehen von seiner angeborenen inneren Unrast, stets durch zwei weitere Wur-

zeln genährt worden: von Abenteuerlust und Durst nach Selbstbestätigung. Nun

konnte zumindest eine Hälfte von Louis mit Genugtuung beobachten, wie das

Reisen unaufhaltsam die nahezu mystische Bedeutung einbüßte, die es einst be-

sessen hatte, jene Aura von Geheimnis und Gefatr, die zaghaftere Gemüter er-

schauemd in sicheren heimischen Gefilden zurückbleiben ließ. ,flinter dem Ofen",

wie Seeleute mit Vorliebe zu sagen pflegten, wäihrend ihre Leiber vom Sturmwind

gepeitscht wurden. Mochte nun der armseligste Wicht umheneisen, jedermann

außer Louis: Echte Abenteuer würde er kaum noch erleben!

,Nein, das Reisen hat im Grunde jeglichen Reiz verloren", sagte Louis laut,

fast trotzig, und seine Worte schienen Fannys Gedanken zu bestätigen. Allerdings

übertrieb er mit dieserAussage schamlos. Louis, der auf die Insel Upolu Verbann-

te, erinnerte Fanny an den Fuchs aus der Fabel: Er vermochte nicht an die Trauben

heranzureichen, die ihn aus höchsten Höhen anlockten, und entschied daraufhin

kurzentschlossen, sie seien ihm sowieso viel zu sauer. Dabei hätte jede,,Reise" in

einer bescheidenen Edinburgher Pferdedroschke ihn mit schier unermeßlichem

Entzücken erfüllt ... auch ganz ohne ,,.{benteuer".

,,Es gibt eigentlich nur noch eine kleine Gruppe, der es vergönnt bleibt, wahren

Pioniergeist zu zeigen und Neuland zu erobern." Louis räusperte sich. ,,Ich meine

uns Ingenieure."

Fanny traute ihren Ohren nicht. Uns Ingenieure! Das gab also derselbe Mann

von sich, der das Studium nach vier Jatren lust- und erfolglos abgebrochen und

dem nur sein weichherziger Vater dazu verholfen hatte, vor aller Welt das Gesicht

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Page 333: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

- oder besser die Maske - zu wahren. Noch zu Beginn seines Wasserbauprojektes

sah Louis sich selbst lediglich als begabten Laien, dessen beklagenswerter Man-

gel an höheren akademischen Weihen durch das Stevensonsche Erbe, den sagen-

haften ,,tanszendentalen Koeffizienten", mehr schlecht als recht ausgeglichen

wurde. Was hatte den einstigen Zauberlehding inzwischen zum veritablen Hexen-

meister heranreifen lassen?

,,[ch habe im Laufe meiner Entwicklung mehr Lehrgeld zahlen müssen, als dir

bewußt sein därfte, Fanny", sagte Louis und schien damit zum wiederholten Male

auf Fannys Gedanken einzugehen, als habe sie sie laut ausgesprochen. ,,Nehmen

wir beispielsweise das Wasserbauprojekt. Ich fand bis heute nicht den Mut, es dir

einzugestehen, Fanny, aber die Bewässerungsgeschichte war vonAnfang bis Ende

völlig sinn- und nutzlos. Das soll nun durchaus nicht heißen, daß der Bau des

Kanalisierungssystems an sich kein Erfolg war: Vom Standpunkt der rein techni-

schen Ausführung klappte alles ganz hervorragend. Ich habe die Flu;don der vier

Gewässer exakt berechnet und kompensiert. Eind?immung und Umleitung frrnk-

tionierten auf den l-Punkt gem?iß meinen Kalkulationen. Trotz des komplexen

und weitverzweigten künstlichen Netzes ging nicht ein einziger Tropfen Wasser

verloren. Mein Gedankengebäude war fehlerlos."

Fanny dachte an den fünften Shom im Land der Roten Erde, den es vorher

nicht gegeben hatte, und schwieg betreten.

,,Nichtsdestotrotz benahm ich mich die ganze Zeit über wie verblendet. Ich satr

nicht das Offensichtliche: Wer zum Teufel braucht zusätzliches Wasser auf einem

Stück Land, das jedes Jalr monatelang aus Morast besteht und wZihrend der übri-

genZeit auch nicht viel trockener ist? Natürlich niemand. Heute glaube ich, daß

ich zurar etwas Unsinniges gebaut habe, doch zugleich durch den Bau selbst er-

heblich reifer geworden bin."

Fanny verbiß sich die Worte, die ihr auf der Zwryelagen: Das alles hätte ich dirvorher sagen kiinnen. Sie lächelte.

,,Und nun, da ich mich aufgrund meiner Einsicht endlich für halbwegs wtirdig

halte, werde ich mich völlig anderen Projekten widmen. Die Phase der Kinder-

spiele ist endgültig vorbei. Ich habe handwerklich und planerisch eine Menge hin-

zugelenrt; auch meine Berechnung der Strömungsstärken wird mir bald von größ-

tem Nutzen sein. Insofern entbehrte nicht jede meiner Bemühungen eines gewis-

sen Wertes für zuktinftige Entwicklungen."

Fanny hielt den Atem an. Was für eine unheilschwangere Ouvertüre war nun

dies schon wieder? Fanny wurde es müde, ohne Schonfrist von einerAufregung in

die nächste zu stolpern.

Ohne auf eine ausdrückliche Aufforderung zu warten, begann Louis - der neue,

,,Gift" Louis - mit seinen Ausführungen.

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,,Irdir geht seit unsererAnkunft auf Sanoa eine Sache nicht mehr aus dem Kopf',begann er. ,,Entsinnst du dich, was ich damals über den üppigen Baumbestand im

Dschungelgebiet sagte? ,Man könnte ungeheures Kapital aus diesem Urwald schla-

gen', waren meine Worte. ,Falls sich die Insulaner jemals dazu aufraffen könnten,

die riesigen Waldbestlinde abzuholzen, wärde sie das auf einen Schlag zum reich-

sten Volk im gesamten Pazif,rk machen.' Die Insel birgt einen wahren Goldschatz!

Du erinnerst dich, wie lästig es uns war, das Mammutbaumholz für unser Haus

extra aus Kalifomien kommen zu lassen - dieweil der Urwald nebenan so viele

Edelhölzer enthielt, daß sie einander Luft und Sonne nahmen und im Wachstum

behinderten. Jakaranda Palisander, Fustik, Teak, Limbo, Mahagoni ... Die Welt

wartet darauf, diesen Überfluß zu erwerben. Die Samoaner sollten endlich Nutzen

aus ihrer Schatzinsel ziehen. Für sie sind die Bäume eine überflüssige Pest - so-

lange sie stehen."

,,Louis", fragte Fanny mit wachsender Besttirzung, ,,was hast du vor? Du hast

deine Straße, du besitzt Plantagen ...",,Aber das sind Dinge, die in erster Linie mir nutzen", gab Louis zurück. ,,Ich

muß dir im Zuge meines Anfalls ungezügelter Ehrlichkeit noch etwas anvertrau-

en: Die StralJe wollte ich im Grunde ausschließlich fürmich selbst. Die Plantagen

gehören sowieso mir. Jetzt erkenne ich nicht nur die Unsinnigkeit meines

Wasserbauprojektes, sondern auch meine furchtbare Eigensucht. Ich will mich

bessern. Von nun an baue ich nur noch frr die Samoaner. Ich will sie reich und

glücklich sehen."

,,Sie sind bereits reich und glücklich."

,,Ach was", meinte Louis geringschätzig, ,,ich rede nicht von Bastrnatten und

Walz?ihnen. Ich meine Reichtum im großen Stil. Wer so reich ist, wie es die Sa-

moaner werden könnten, der kann sich jeden weißen Unterdrücker vom Halse

schaffen.'q

,,Du glaubst also, daß Reichtum frei macht?" fragte Fanny.

,,In der Tat, Fanny, genau das ist meine Vorstellung. Wir verstehen einander,

wie ich sehe. Was mich nicht verwundert."

,pichhat der Reichtum aber keineswegs befreit", gab Fanny zu bedenken. Der

Einwand schien ihr grausam und dennoch notwendig. ,,Obwohl du genug Geld für

ein eigenes Schiff hast!"

Doch Louis überhörte diese Worte geflissentlich. Er war durch nichts mehr von

seinem neuen Plan abzubringen, gleichgültig, wie er aussehen mochte. ,,Ich wer-

de mein Ingenieurstalent für sie einsetzen, ohne mich selbst zu bereichern, denn

die Insel gehört einzig den Samoanern. Und wenn du dich einverstanden erkldrst,

Fanny, werde ich den größten Teil von Vailima den Samoanern schenken, damit

sie - nur sie allein - den Urwald roden und die Edelhölzer verkaufen können. Ich

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werde sie lehren, die Sägemütrle zu bedienen, die ich bauen will, sobald ich erst die

vier Ströme zu einem einzigen großen Strom zusammengeführt und vereinigt habe."

,,Das ist doch unmöglich!" Fanny sprang auf wie vomatualoa gestochen, dem

samoanischen Tausendfüßler.Die Inselnächte, die atfgeschlagen aufFannys Schoß

gelegen hatten, flogen in hohem Bogen durch die Luft und landeten aufdem Ra-

sen vor der Veranda. ,,Du bist - du bist vollkommen übergeschnappt!"

,,Das hat man von Robert zuerst auch behauptet, möchte ich wetten", grinste

Louis. Aber er meinte es todernst, und Fanny erkannte, daß ihn tatsächlich der

Größenwahn gepackt hatte. SeinAusspruch ließ im nachhinein das ach so demü-

tige Eingeständnis vergangener Fehler um so verwerflicher erscheinen.

,,Ich werde meine Aufzeichnungen benutzen und von vorn anfangen. Was ein-

mal perfekt funktioniert hat, klappt auch ein zweites Mal. Bei derVanilleplantage,

am großen Wasserfall, werden sich die vier Flüsse feffen. Dort soll die Sägemüh-

le stehen. Das ist der günstigste Punkt sowohl für die Zerkleinerung 4e1läume als

auch für die Weiterbeörderung ins Tal."

Das ist der Punh, an dem schon dein Papierschiffüber den Rand der Weltfiel.

Fanny schüttelte nur wieder und wieder den Kopf, unfähig, einen Laut hervorzu-

bringen, während ihre Gedanken im Sturmwind durcheinanderwirbelten. Louis,

alias Don Quijote, war also erwachsen geworden und verständig. Er nahm seine

Waffen zur Hand :ulrtd- baute sich jetzt eine Mtihle!

,,Was sollüe dann dein Gesdrwätz vorhin?" fragte Fanny nach einer halbe4 Ewig-

keit. ,,Dein Glaubensbekenntnis, derngemäß die Insulaner selbst den Fortschritt in die

Hand nehmen müssen, ohne Einfluß von außen? Samt und sonders hohle Phrasen!"

Sobald er erkannte, daß Fanny seine Begeisterung absolut nicht teilen wollte,

klang Louis'Stimme um einige Grade kälter, beinahe eisig. ,,Die Eingeborenen

können wohl kaum etwas in die Hand nehmen, was ihnen rue jemmd gezeigtlnt.

Dieser Jemand bin eben ich. Gehst du so weit zu behaupten, ich, ausgerechnet ich,

Tamali'i Tusitala, sei ein Einfluß von außen?"

Fanny antwortete nicht. Es hatte keinen Zweck. Soeben hatte Louis gewagt,

sich selber den ,,hochwohlgeborenen Tusitala" zu nennen. Eq der sich vor Gästen

gem bescheiden gab, ohne allerdings sein Lichtje unter dem Scheffel verschwin-

den nt lassen, hatte in Wahrheit eine solch hohe Meinung von sich! Doch nein" das

stimmte nicht. Gerechterweise mußte Fanny zugeben, daß Louis' Unverschämt-

heit dem Augenblick entsprang.

Louis, ein Einfluß von außen? Mitnichten! Wie durfte man das einem Mann an

den Kopf werfen, der daraufbestand, daß seine,,Boys" königliche Kleider trugen,

wenngleich schottische? Die Deutschen kämen nie auf die Idee, den Samoanern

die Funktion von Sägemühlen zu erklären; genausowenig zwangen sie ihre

eingeborenen Milizen zum Tragen von Pickelhauben ...

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,,GutenAbend, verehrte Herrschaften!" ließ sich plötzlich wie aus dem Nichts

Lloyds Stimme vemehmen. Fanny wie auch Louis schauten überrascht in die Rich-

tung, aus der die Worte erklungen waren. Keiner von beiden hatte Lloyds Ankunft

auf dem Anwesen bemerkt, obwohl er doch zu Pferde unterwegs gewesen war.

Entweder hatten sich die Eheleute zu sehr in ihr Gespräch vertieft, oder Lloyd, der

sich spätestens seit der unglücklichen Eskapade mit Misiluenga im Anschleichen

recht geschickt anstellte, hatte in der Tat keine Vorwarnung gegeben.

,,Gottlob!" rief Louis erfreut aus. ,,Die amerikanische Kavallerie kommt getreu

ihrem Ruf wie immer rechtzeitig den Unterdrückten zu Hilfe! Lloyd, mein wacke-

rer Freund, deine Mutter beliebte mich soeben, unmittelbar vor deiner Rückkehr,

einen Schwätzer, Phrasendrescher und - der Himmel steh' mir bei - einen ,Ein-

fluß von außen' zu titulieren. Was sagst du dazu, Beschützer der Witwen und ge-

knechteten Weisen?"

Gegen ihren Willen brachte Louis Fanny zum Lachen. Es war zum Haareraufen:

Eine einzige spaßige Bemerkung seinerseits genügte oft, ihren Groll im Keim zu

ersticken. Vielleicht lag es daran, daIS Louis'Witze in Wahrheit verschleierte Ver-

suche darstellten, Fannys Verzeihung zu heischen, ohne ausdrücklich darum bit-

ten zu müssen. Er blieb eben doch ein großes Kind.

Lloyd trat gemessenen Schrittes zu den beiden auf die Verandq blieb dort ste-

hen und richtete, scheinbar in tiefstes Gräbeln versunken, den Blick in die Ferne.

,,Hmmm", meinte er, als überdenke er angestrengt die von Louis gestellte Frage.

Um die komödiantische Einlage auf die Spitze zu treiben, hob er den Kopf, seufz-

te und kratzte sich ausgiebig das Kinn.

,,Nun, was ist?" fragte Louis ungeduldig. ,,Unterstützt das Gekratze den Denk-

prozeß, oder hast du Flöhe,junger Mann?"

Unvermittelt ließ sich Lloyd rücklings in eine der Hängematten fallen, wo er es

sich sichtlich bequem machte und gelassen hin und her schaukelte. Er grinste spitz-

bübisch, und zum allerersten Mal bemerkte Fanny heute, daß das Grinsen ihres

Sohnes nicht l2inger eine mißlungene Imitation war, sondem Lloyds ureigener,

unverfälschter und erstaunlich einnehmender Gesichtsausdruck. Lloyd würde sich

nie ganz von seinem Vorbild lösen, doch er begann nun endlich, aus Louis' lan-

gern, dürren Schatten herauszutreten und ein Eigenleben zu führen.

,,Wenn ich dich vor deiner Gattin beschützen soll, Louis", tadelte er den Stief-

vater milde, ,,tätest du besser daran, mir keine Parasiten, dh ... an den Hals oder

andere Körperteile zu dichten. Zufällig befinde ich mich nämlich in der glückli-

chen Lage, euch die alleinseligmachende, folglich nicht anfechtbareAntwort auf

die brennende Frage geben zu können: Ist Louis Stevenson ein Einfluß von au-

ßen? Sie lautet schlicht: ein Einfluf - ganz ohne Zweifel, anwesende Damen und

Herren. Kam er einst von außen? Auch das ist wahr. Doch noch vor einer Stunde

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hörte ich die höchste Instanz involler Inbrunst fluchen: ,Dieser Stevenson ist ein

verdammter Eingeborener! "'Fanny verstand kein Wort von dem Gerede ihres Sohnes. Louis zeigte sich

eigenartigerweise hochgradig entztickt von dem Urteil, welches irgendein Frem-

der über ihn abgegeben hatte. ,,Da hörst du es, Fanny!" triumphierte er lauthals.

,,Ich und ein Fremdkölper - die Idee ist wirklich lachhaft. Dieser Reverend

Thistlethwaite erschien mir zwar bisher wie ein ausgemachter Schwachkopf, ein

Engländer der verbohrtesten Sorte. Aber wenn er mich dermaßen treffend einzu-

schätzen weiß ..."Endlich dämmerte Fanny ansatzweise, worum das scherzhafte Geplänkel sich ei-

gentlich drehte. Lloyd hatte der Familie eines neuen englischen Siedlers denAntritts-

besuch abgestattet, zu dem Louis und Fanny sich nicht hatten aufraffen können. Un-geführ drei Wochen zuvor - es mußte nach der Shaßenbaufeier gewesen sein, sonst

hätte Louis die Neuankömmlinge sicher dazu eingeladen - warpn Nathaniel

Thistlethwaite, anglikanischer Geistlicher mitAussicht auf Befürderung zum Bischof,

und seine Gemahlin Penelope nebst drei fast erwachsenen Kindern auf Upolu einge-

troffen. Sobald Louis den Namen des Mannes vemalrm, brach er in helles Gelächter

aus und bemerkte, nicht in seinen kühnsten literarischen Träumen habe er jemals

einenNamen gefirnden, dem ein vergleichbares,,Übermaß an dramatischern Potent!

al" innewohnte. Nun, für den eigenen Taufrtamen war der Reverend kaum verant-

wortlich zu machen, wohl aber flir diejenigen seiner SprößlingeAneurin, Basil und

Winifred. Louis bedauerte die Kinder kurz, aber herzlich, um sodann zum Tages-

geschäft zurückzukehren und den Geistlichen geflissentlich zu vergessen. Leider konn-

te man den Höflichkeitsbesuch nicht ewig hinauszögem; heute hatte sich Lloyd sei-

nes Klans erbarmt und das Kreuz freiwillig auf die Schultern genommen.

,,Also, wenn es nach dem Reverend geht", fuhr Lloyd fort, ,,dann steckst du mitden Samoanern unter einer Decke und vergißt darüber deine weißen Landsleute.

Du bist ,gefährlich'.","{h! Ich liebe den Mann!" rief Louis aus. ,,Er ist bomiert und engstirnig, aber

er hat den Kern meiries Wesens erkannt."

,,Deine Zuneigung zu den Eingeborenen sei so groß, sagt er, daß sie ihm vom

streng christlichen Standpunkt aus kaum noch vertretbar scheine. Thistlethwaite

meint, die Nächstenliebe muß spätestens dann aufhören, wenn ein Weißer beginnt,

im Namen seiner Samoaner die gesamte Insel kahlzufressen wie eine Ein-Mann-

Heuschreckenplage. Der gute Reverend ist alles in allem ein gemütvoller Fleischer-

hund. Trotzdem recht amüsant."

Merhuürdig, dalfun Mldfremder über Louis'Pläne Bescheid weilS! dachte

Fanny, bis sie eines Besseren belehrt wurde.

,,Ich verstehe wohl nicht recht", sprach ihr Louis aus dem Herzen. ,,Ist der

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Reverend etwa kahlköpfig, weil ich ihm die Haare vom Kopf gefressen habe? Was

will der Mann von mir?"

,,Er hat sich bei mir darüber beschwert - auf höfliche Art selbstverständlich -, daß du in deinem Bestreben, die Diener zu erfreuen, den beweglichen Inhalt

sämtlicher Kramläden und Bretterbuden, ja sogar eine halbe Schiffsladung mir

nichts, dir nichts aufgekauft hast. Und zwar mit Stumpf und Stiel, ohne den ande-

ren Siedlern auch nur den Hauch einer Chance zu lassen. Die Thistlethwaites

wollten ihren Leuten von den Salomonen ebenfalls etwas Gutes zu Weihnachten

tun - sie kamen zu spät, die Armsten. Auf ihre Frage hin erklärte der alte Gar-

diner lakonisch: Nein, hier hat kein Hurrikan gewütet. Das war der Stevenson,

mit dem mu,ß man um diese Jahreszeit rechnen. Mrs. T. hielt dich nämlich zuerst

auch für einen Sturm."

Louis fühlte sich sichtlich geschmeichelt, sogar unter den Weißen von Upolu

mittlerweile als eine Art Naturgewalt gehandelt zu werden. So und nicht anders

gefiel es ihm. Fanny ihrerseits wußte nicht, ob sie nun Erleichterung oder Enttäu-

schung empfinden sollte angesichts des Umstandes, daß der Reverend gar nicht

auf Louis' Sägemähle hatte anspielen kiinnen.

,,Mrs. T. hat überhaupt keine geistigen Getränke mehr für ihren geistlichen Mann

ergattert", seufzte Lloyd. ,,Sie klagte mir ihr Leid - leise und ganz dezent natlir-

lich. Die Thistlethwaites sind ohle Ausnahme schrecklich zurückhaltend. Ich

brauchte 30 Sekunden, bis sie in diesem Punkt zutraulich wurde. Du Schurke hast

ihren Eierpunsch auf dem Gewissen!"

,,Dafür werde ich wohl in der Hölle schmoren ..." Louis grübelte. Er verstand

das Problem: Nichts hielt je seine Kaufivut auf. Was er nach einem Besuch inApia

hinterließ, war große Leere, eine öde Schneise, wo vorher reger Handel geherrscht

hatte - und Mangel sogar unter denen, die Geld besaßen. Daß er die allermeisten

Dinge großzügig weiterverschenkte, interessierte die enttäuschten Kunden von

Apia nicht sonderlich.

,,Erinnere mich daran, Lloyd, den guten Leuten bei Gelegenheit zwei oder drei

Kisten ,Dry Monopold zu schicken. Wenn sie mir dann noch fluchen sollten,

könnten sie es zumindest nur noch sehr undeutlich tun. Wegen all der

Blubberbläschen."

Das war wieder einmal typisch für Louis. Er war Fannys Information nach der

einzige Mann auf Upolu, der kistenweise Champagner in seinem Keller hortete; in

gewisser Weise hatte er das Monopol an ,,Dry Monopole" inne. Doch ebenso selbst-

verständlich erschien es ihm, auch Fremde mit seinen edelsten Tropfen zu bewir-

ten. Wichtig war letzten Endes, daß die Geschenke aus seinem Keller stammten -und möglichst aus keinem anderen. Persönlich machte sich Louis nicht das ge-

ringste aus Champagner.Er zog Kai Sues Lagerbier dem Blubberwasser vor.

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,,,{ber nun erzähl uns doch erst einmal, was du bei Familie Thistlethwaite ge-

trieben hast", forderte Fanny Lloyd auf. Sie merkte, daß LloydsAnwesenheit ihrguttat und beruhigender auf ihre Nerven einwirkte als das Kartenspiel mit Louis -von seinem Vorhag über Holzabbau ganz zu schweigen.

Lloyd streckte sich der Länge nach in seiner Hängematte aus und begann be-

reitwillig zu berichten. ,,In Ermangelung von stärkeren Getränken gab es tatsäch-

lich ti ntm Tee, dazu keke. Ich hätte auch kofe oder sokolate haben können ...

aber nein, danke. Dann reichte Mrs. T. ihre leckeren Dreieckssanzrsi - weiß der

Teufel, wo sie die Brunnenkresse dafür hergenommen hat. Von den scnzrsi - aus

Weißbrot! - hatte sie vorher die Kruste abgeschnitten. Furchtbare Snobs, nicht

wahl?"

Lloyd gähnte, als er daran zurückdachte. Plötzlich grinste er. ,,!tber dannV,am

der wirklich aufregende Teil des Nachmittags. Winifred brachte mir kiikitibei.Sie sagt, dem kirikiti gehöre die Zukunft auf Samoa. Bald wird jedgr es tun, von

morgens bis abends. Es ist einfach stemberaubend."

,,Was tvrr?" fragte Fanny alarmiert. Sie kannte diesen Reverend Wie-auch-im-

mer nicht persönlich; trotzdem haßte sie den Gedanken, Lloyd könnte ausgerech-

net mit seiner Winifred ...

,,Cricket natürlich, Mutter!" platzte Lloyd lachend heraus. ,,Gott, es war so grau-

enhaft, ihr habt ja keine Ahnung. Diese Engländer mit Pedigree sind einfach nicht

auszuhalten. Ich mußte mir fortwährend das Lachen verbeißen - manchmal auch

das Weinen. Nach dem Tee mit den Steinkuchen ließ mich der Reverend mit

Winifred mutterseelenallein. Bei derBegräßung haffe er schon dezenteAndeutun-

gen gemacht. ,Meine Winifred - sie ist noch nicht verheiratet.' Wenn ihr mich

fragt, sollte sie beim kirikitibleiben. Dashat wenigstens Zukunft."

,,Oh, Lloyd, du bist furchtbar!" schalt Fanny ibren Sohn, doch insgeheim atne-

te sie auf. Winifred interessierte ihn absolut nicht, dessen konnte sie sicher sein.

Sandwiches, Brunnenkresse, Cricket, ein zuHinftiger Bischof in der Familie: Was

für ein schrecklicherAlptraum hätte das werden können!

,,Dank sei dir, o Gott", meinte Louis etwas unverbltirnter. ,,Dieser Kelch mit

Namen Thistlethwaite ging an uns vorüber."

,,Nun, der Kelch war ohnehin schon ziemlich ausgetrocknet", meinte Lloyd

ein wenig boshaft, ,,obwohl die liebe Winnie eine ganz nefte Person ist. Sie hat

mich doch tatsächlich gefrag!., was ,wir Schotten' hier oben ,im Hochland' für

Sportarten betreiben. Ich berichtete wahrheitsgemäß, daß wir Schotten zu unse-

rern Leidwesen nicht mehr Golf spielen können, seit unsere eingeborenen Cad-

dies vom Berg gestärzt sind, und daß es um das Curling auch ziemlich schlecht

bestellt sei, weil das Eis hier so schnell schmila. Die Antwort schien ihr zu genü-

gen."

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Louis und Fanny prusteten daraufhin beide vor Lachen. Fanny mußte sich noch

eine Weile die schmerzende Seite halten, nachdem der Heiterkeitsanfall l?ingst

abgeklungen war.

,,Du bist furchtbar, Lloyd", wiederholte Fanny ihre Worte von vorhin, weil ihrnichts Besseres einfiel und irgendeine Form von Ermahnung angebracht erschien.Für alle Fälle.

,,Ich fürchte, du hast recht, Mutter", pflichtete Lloyd ihr bei. ,,Man muß Winifredntimlich eines zugute halten: Ein Mann wie ich taut in iker wohltuenden Gegen-

wart garrz und gar auf. Ich fühlte mich so - wie soll ich sagen? - vorurteilslosakzeptiert. Mein Gott, dem Mädchen konnte man alles erzählen."

,,IJnd was hast du erzählt, du Nichtsnutz?" fragle Fanny. ,,Bedenke, daß deinBenehmen auf uns alle zurückfällt."

Lloyd streckte wohlig seine langen Glieder und bemerkte knochentrocken:

,,Nicht auf uns, Mutter, sei unbesorgt ... wir sind doch lediglich - ja, was sind wireigentlich? Naturalisierte amerikanische Schotten mit samoanischem Einschlag?

Karierte Samoaner mit Stuart-Muster? Winifred hat mir vielleicht doch den Kopfverdreht; ich weiß nicht mehr, was ich bin. Na, jedenfalls sagte Winnie im Brust-

ton der Überzeugung: ,Ich habe gehört, daß Ihr Vater außerordentlich zivilisiert istfür einen Schotten.' Ich schluckte nattirlich erst einmal nach so einer Bemerkung.

Louis - und zivilisiert!"

,,Stimmt, mein Junge", gab Louis gleichmütig zurück, doch Fanny sah, wieseine Augen sich zu wütenden Schlitzen zusammenzogen. Es existierte kein Ge-

schöpf auf Erden, welches er so inbrünstig und unversöhnlich haßte wie diese

aufgeblasene, arrogante Horde von nichtswürdigen ... Lowlandern!

,,Folglich habe ich Winnie über deine wilde, düstere, also echt schottische Seite

aufgeklärt. Daß du beispielsweise deinen Haggis nur mit zerschnittenem Schafs-

hoden zu dir nimmst."

,,Wie bitte?" erkundigte sich Fanny angewided. Sie kannte das schottische

Gericht aus Schafseingeweiden gottlob nur vom Hörensagen. Louis hatte es ihres

Wissens noch nie gekostet.

,,Winifred die Unbemannte hatte genau denselbenAusdruck im Gesicht wie du

eben, Mutter. Nur bezweifle ich, ob sie das H-Wort jemals laut aussprechen wür-de, ohne tot umzufallen."

,,Wieso?" grinste Louis. ,,Was ist an ,Haggis' so schlimm?"

Diesmal lachten alle drei aus voller Brust.

,,LJnd dann", fuhr Lloyd fod und machte dabei den Eindruck, als reibe er sich inGedanken vor Schadenfreude die Hände, ,,schilderte ich Winifred dein geheimes

Nachtleben, Louis."

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Louis spitzte die Ohren und neigte den Oberkörper vor, in Lloyds Richtung.

,pas interessiert mich allerdings brennend. Mein Nachtleben ist so geheim, daß

nicht einmal ich es kenne. Bin ich etwa ein Schlafivandler, ein Mondsüchtiger?"

,,Schlimmer. Du bist ein Schotte." Lloyd setzte eine unergründliche Miene auf

und wartete einen kurzen Moment, um die dramatische Wirkung seiner Worte zu

steigern. ,,Wenn der Mond sich über die Dächer von Vailima erhebt", deklamierte

er mit versteinertem Anllitz,,,erwacht auch der wahre, der nächtliche Louis, um

das Land unsicher zu machen. Er betört die unschuldigen Seelen friedvoll schlum-

memder Samoaner mit einer gar schaurig quiekenden Flöte, die an einen verwun-

schenen Geisterdudelsack gemahnt. Gleich dem barbarischen Heidengott Pan

durchsteift er sein dunkles Urwaldrevier, mit nichts als Fell auf der nackten Haut

- denn er trägt nicht etwa einen ganzen Kilt, bloß einen Teil desselben, das ...

Accessoire nämlich, welches jeder Hochlandhäuptling an recht vorwitziger, ins

Auge springender Stelle mplazierenpflegt ..." !

,,Jetzt wird's spannend", meinte Louis und reckte den Hals noch ein Stück nach

vom. ,,Was trägt der wilde Louis denn?"

,,Nur das Notdtirftigste. Seinen Sporran und sonsl nichts."

,,Aber natürlich!" Louis lachte schallend. Fanny hatte sich schon immer ge-

fragt, was es mit dein Beutel aus Pelz flireinemysteriöse Bewandtris haben mochte.

Lloyds freizügige Schilderung enthielt allerdings wohl kaum die rechteAntwort!

,,Ich glaube nicht, daß es richtig war, die arme Winifred rnit der Walrheit über

Louis zu konfrontieren", schalt Fanny ihren Sohn, ohne die Miene ntverziehen,

,,Wir, die wir seinem Klan angehören, haben im Laufe der Jahre gelernt, mit sei-

nen Eigenheiten umzugehen. Ein Fremder whd ihn nie begreifen."

Lloyd seufzte. ,,Ich fürchte, ich muß dir recht geben, was das betrifft", räumte

er ein. ,,Winifred wurde plötzlich ganz bleich um die Nase und verfehlte ihr kinkifi-Tor um mehr als zwei Fußbreit. Als sie mich dann anguckte, sah sie auß Haar aus

wie Königin Victoria, wenn sie nicht amüsiert ist."

,,Du kannst von Glück reden, daß sie dir nicht den Schläger zu kosten gegeben

hat", sagte Fanny. ,,Verdient hättest du's. Und was, wenn Winnie zu ihrem bigot-

ten Herrn Papa eilt und der Reverend einen katholischen Amtskollegen hinzu-

zieht, um an Louis einen Exorzismus durchzuführen? Daß er den Teufel im Leib

und den Schalk im Nacken hat, wissen wir immerhin schon lange. Wenn dann ein

Pfaffe Louis'Dämon austreiben möchte, vertreibt er am Ende im Eifer des Ge-

fechts Louis gleich mit."

Louis schien diese Möglichkeit kurz zu erwägen, verwarf sie jedoch gleich

darauf mit einer abschätzigen Handbewegung.

,,Niemand holt mich von diesem Gebirge herunter, Liebste. Weder Men-

schenwerk noch Gottesurteil, wederTod nochTeufel vermögen das Kunststückzu

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Page 342: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

vollbringen. Wenn ich meinen Platz hier räume, dann nur, um noch weiter aufztr-

steigen!" Lachend erhob sich Louis von seinem Sitz. ,,Nun besorge ich das schäu-

mende Naß fifu Mr. T. - und ein Tr<ipfchen Burgunder für uns."

Louis'Ausspruch war nichts gewesen als eine seiner unzähligen frivolen An-

spielungen aufdas unvermeidliche Schicksal, von dem auch er wußte, daß es ihn

einmal ereilen würde. Doch wie jeder Mensch, der, obschon grundsätzlich sterb-

lich, seit langem von körperlichem Schmerz und Behinderung verschont geblie-

ben war, sprach er über den Tod wie über ein Ereignis in der fernen, ungewissen

Zukunft. Louis spielte häufig auf den Vaea an - er kokettierte gleichsam mit dem

großen Nachbarn, welcher über Vailima und seinen Bewohnern thronte. Er hatte

dem Berg eine stumme Rolle in dem von ihm inszenierten Sttick zugedacht. Der

Berg sollte gef?illigst geduldig warten, bis der Prophet, rechtschaffen müde ge-

worden, ihn am Ende seiner ordnungsgemäß abgelaufenen Lebensspanae aufzu-

suchen geruhte.

Fanny wußte, daß der Berg nicht so lange auf Louis warten würde. Der Vaea

war meht als nur eine prächtige Kulisse ...Bevor sie tiefer in Grübelei versinken konnte, nahm Fanny wieder die 1ns elnächte

zur Hand und versuchte emeut, über jene Passage hinauszukommen, welche sich

mit den Vorbesitzern der Teufelsflasche beschäftigte. In wenigen Augenblicken

würde Louis mit dem Wein zurückkehren; diese kurze Frist galt es zu überbrük-

ken. Das konnte doch nicht so schwer sein.

Napoleon und Captain Cook hatten die Flasche besessen, deren zwiespältige

Kraft letztendlich Untergang und Tod dieser beiden großen Männer bewirkte ...

Fanny überlegte angestrengt; sie glaubte plötzlich, aufeine grundlegende, ja aus-

schlaggebende Übereinstimmung gestoßen zu sein, welche die literarischen Vor-

g?inger mit Louis, dem jetzigen Besitzer aus Fleisch und Blut, verband. Doch noch

besaß der Gedanke keine klar umrissenen Konturen, sondern verharrte wie eine

wabernde Nebelgestalt auf der Schwelle zu Fannys bewußtem Verstand. Krampf-

haft versuchte Fanny, jene ominöse Gemeinsamkeit zu finden.

Welche Charakterzüge konnten schon ihren Louis mit Napoleon verbinden?

Louis wollte gewiß nicht Herr der Welt werden, schon gar nicht auf kriegerischem

Wege; die zahlreichen einsamen Feldztige, die er unternahm, ähnelten eher denen

eines Don Quijote und brachten ihm oft mehr Spott ein als Ruhm und Ehre. Und

was verknüpfte Louis' Geschick mit dem Cooks, des vielleicht größten Entdek-

kers? Sicher, Louis hatte es stets geliebt, ferne Gestade zu besuchen und fremde

L?inder zu erkunden - aber nie hatte er sich traurig darüber gezeig3, daß nicht er

der Entdecker jener Länder gewesen war. Außerdem war er der letzte Mensch aufErden, der die von ihm entdeckten Welten wie Geschenke seinem Monarchen zu

Ftißen legen wollte!

Page 343: Leuchtturm im Dschungel: Roman über das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevenson

Der Mann, dem Louis schon von Kindesbeinen an nachgestrebt hatte, war aus

anderem Holz geschnitzt. Sein Vorbild Robinson Crusoe besaß die F?ihigkeit, die

furchtbaren Schicksalsschläge auszuhalten, die ihn heimsuchten, und inmitten der

trostlosen Umgebung, in welche sie ihn verschlagen hatten, Wunderwerke mensch-

lichen Erfindungsgeistes zu erschaffen. Louis'Großvater Robert, den man seiner-

zeit den Crusoe der Ingenieurskunst genannt hatte, trug diesen Ehrentitel verdien-

termaßen: Er gehörte demselben Schlage an wie der Romanheld. Crusoe war za

gtterLetztseinem Gefüngnis entronnen, genau wie sein reales Vorbild, der schot-

tische Matrose Selkirk. Großvater Robert, gleich zweimal auf Inseln gestrandet,

hatte ebenfalls entkommen können. Was die Flucht betraf, vermochte Louis all

jenen Vorbildern nicht zu folgen. Er mußte bis zum Ende ausharren.

Da, plötzlich, hatte Fanny das verbindende Element gefunden. Louis wcr Na-

poleon - Napoleon starb auf einer Insel, von welcher er nicht mehr zurückkehren

konnte. Vergeblich hatte der große Mann sich gegen dieses Schicksalaufgebäumt,

indem er von Elba zum Festland floh: Ein noch winzigeres Eiland war die Beloh-

nung. Bis zum Tode währte das Exil auf der verhaßten Insel, welche ihm sein

eigener Sägefisch übriggelassen hatle. Und auch Captain Cookwar auf einer In-

sel gestorben Seine hawaiianischen Freunde, die sich leider nicht immer gleich-

bleibend freundlich zeigten,hatten ihn schließlich erschlagen, nachdem sie seiner

Person überdrüssig geworden waren.

Nun wär die Reihe an Louis, dem Schöpfer der Flasche. Es bestand nicht der

geringste Zweifel daran, daß er auf Upolu sterben würde, denn nur der Tod konnte

seinem Inselexil ein Ende setzen. Die Frage, die sich stellte, hieß: Wann? Napole-

on und Cook waren am Ende unvorsichtig geworden, hatten die Macht der Fla-

sche falsch eingeschätzt und mißbraucht. Die Rache folgte auf dem Fuße. Wie

verhielt es sich mit Louis?

In fiebriger Hast suchte Fanny in den geschriebenen Zeilen nach einem Hin-

weis. Sie war sich bewußt, daß ihr Tun nichts mit vernünftigem Handeln zu tun

hatte, doch sie fühlte, daß die Lösung des großen Rätsels irgendwie und irgendwo

inmitten des Büchstabengewirrs verborgen sein mußte - als eine weitere Spielad

des transzendentalen Koeffizienten gewissermaßen.

Wie sah das Teufelsding aus? ,,Eine rundbauchige Flasche", las Fanny leise

vor, indem sie mit dem Zeigefinger über die betreffenden Zeilen strich, ,,mit ei-

nem langen Hals ,.. ihr Glas war weiß wie Milch . .. im Innem bewegte sich un-

deutlich etwas, wie ein Schatten und ein Feuer ..." Fanny suchte weiter, vertiefte

sich so sehr, daß sie Louis' Schritte nicht hörte.

,,Schaut einmal her, ihr Lieben!" forderte er seine Familie fröhlich auf, indem

er triumphierend eine Burgunderflasche schwenkte, ,,Dieses alte Prachtstück hat

sich jahrelang in einem abgelegenen Winkel des Weinkellers verborgen, um mei-

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nem Genießergaumen zu entgehen! Ich entdeckte sie rein zufiillig hinter den Ki-sten für den Reverend. Ihrem Aussehen nach muß die Gute zu den allerersten

Pionierflaschen gehören" die wir seinerzeit mit nach Samoa brachten. EinAmeri-

kaner würde wohl behaupten, sie sei noch an Bord der Mayflower über den Gro-

ßen Teich geschippert. Seht nur - der Staub hat durch die feuchte Luft im Keller

eine solide weiße Schicht gebildet. Dick und fest wie eingeätzt; man kann sie

kaum ankratzen."

Fanny und Lloyd betrachteten die Flasche in Louis' Händen. Lloyd wiegte skep-

tisch das Haupt. ,,Ist das Gesöff überhaupt noch genießbar nach all der Zeit in

diesem Klima?'

Fannys Gedanken gingen in eine andere Richtung.

Ihr Glas war weitJ wie Milch.

Im Innern bewegte sich undeutlich etwas, wie ein Schatten und ein Feuer ...

waren alle Burgunderflaschen so dickbauchig, hatten alle Burgunderflaschen ei-

nen so langen Hals?

,,Aber natürlich kann man diesen edlen roten Tropfen noch trinken, mein

Freund", entgegnete Louis auflloyds Frage und suchte nach einem Gegenstand,

mit dessen Hilfe er den Korken herausziehen konnte. ,,Mein Wunderelixier hat

bisher noch jeden Zweifler zu einem neuen Menschen gemacht. Was mich ein

wenig erstaunt", murmelte % halb durch die Suche abgelenkt, ,,ist der lJmstand,

daß diese Flasche so viele Jahre heil überstehen konnte. Wir holen uns regelmäßig

unsere Ration aus dem Keller, schieben dabei Kisten und Kästen hin und her ... In

dem Durcheinander hätte der ungehobene rotgoldene Schatz hier den Gesetzen

der Logik zufolge ltingst zu Bruch gehen müssen."

,,Praktisch, daß du ihn zur rechten Zeit ausgegraben hast", erwiderte Lloyd und

machte sich auf, drei Gläser zu holen.

,Jq das ist ein wahrhaft formidabler Fund, möchte ich sagen. Dieser Zaubertrank

versetzt die Lebensgeister in stärkere Wallung als so ein profaner Champagner!"

Louis fand keinen Korkenzieher und versuchte sein Glück mit dem Taschenmes-

ser.

Da nahm Keawe die Flasche, las Fanny währenddessen, und schleuderle sie

mit voller Wucht auf den Boden. Aber dre Flasche zerbrach nicht, sie prallte ab wie

ein Gummiball! War sie denn nicht aus Glas gemacht? Allerdings besteht sie aus

Glas ... doch ihr Glas wurde in den Flqmmen der Hölle gehärtet.

,,Louis ..." Das Blut rauschte in Fannys Ohren, pochte laut in ihren Schläfen. Sie

flüsterte, weil es ihrnicht gelang, die Stimme zu erheben. Louis hörte nicht. Er suchte

das Problern des Flaschenkorkens zu bew?iltigen und war taub für alles andere um

sich her. Je verzweifelter sie sich anstrengte, zu Louis durchzudringen, desto hartnäk-

kiger stäubten sich Zunge und Lippen, bis ihr derAtem gänzlich stockte.

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,,Vermaledeites Ding!" fluchte Louis, als er auch mit seinem Taschenmesser

nichts auszurichten vermochte. Einen Moment darauf erhellte sich seine Miene.

,,Ich hab's!" meinte er und begab sich ins Haus. ,,Bin gleich wieder zurück."

Auf der Türschwelle prallte er beinahe mit Lloyd ansammen, der sein Tablett

mit Weingläsern gerade noch rechtzeitig vor ihm in Sicherheit bringen konnte. Als

Lloyd das Geschirr abstellte, fiel sein Blick auf das Gesicht der Mutter.

,,Was ist mit dir, Mutter?" Lloyds Nachfrage klang nicht sonderlich besorgt,

eher wie eine höfliche Formsache: Allzuoft pflegte Fanny seit vielen Monaten

Unkenrufe auszustoßen, die sich dann mit schöner Regelm2ißigkeit als Ausgebur-

ten ihrer kranken Phantasie entpuppten. Kein Grund zur Besorgnis.

,,Louis ..." Langsam fand Fanny ibre Stimme wieder. ,,Er soll diese Flasche

nicht öffiren. Sag ihm das bitte!" Die letzten Worte hatte Fanny so hysterisch her-

vorgepreßt, daß Lloyd instinktiv vor ihr zurückwich. Sie merkte es sofort: Durch

die eigeneAufregung hatte sie jede noch so geringe Chance auf Lloyds Unterstüt-

zung vertan. Er nahm ihre Angst nicht ernst.

,,Er darf dieseFlasche nicht öffiren!" versuchte Fanny es noch einmal und wuß-

te doch um die Vergeblichkeit der Warnung.

,,Schon gut, Mutter. Reg dich bitte nicht auf." Der herablassend-wohlwollende

Tonfall verriet nur zu deutlich Lloyds wahre Gedanken. Trotzdem suchte er die

Mutter so gut wie möglich zu beschwichtigen. ,,Mach dir keine Sorgen um den

Wein. Erstens bekommt Louis die alte Flasche watrscheinlich sowieso nicht auf.

Zweitens kann er sofort am Geruch erkennen, ob der lnhalt verdorben ist. Und um

dir deine Angst um Louis' Wohlergehen Eanz zv nehmen, werde ich gleich mit

Todesverachtung persönlich den Vorkoster spielen. Na, ist das ein Angebot?"

Fanny sagte nichts mehr, bemühte sich auch nicht mehr. Sie konnte nichts tun.

Was immer geschehen sollte, wärde nun geschehen; das Verhäingnis war nicht

aufzuhalten. Stumm saß sie in ihrem Korbstuhl, die Inselnächle im Schoß, und

wartete.

Louis trat erneut zu ihnen heraus aufdie Veranda, sichtlich verärgert und zu-

gleich bemtiht, seinen Mißmut hinter Humor zu verbergen. Die Flasche war noch

immer ungeöffnet, das sah Fanny auf den ersten Blick. Louis sah abgekämpft aus.

,,Es ist doch nicht zu fassen, wieviel Gegenwehr dieses alte Ding mir leistet!"

sagte er grinsend. Es war das seit Jatr und Tag bekannte Wolfsgrinsen, welches er

aufgesetzt hatte - doch Fanny vermochte nicht zu bestimmen, ob sein Mienen-

spiel einen Ausdruck sauren Amäsements darstellte. Es schien ihr im Gegenteil,

als hätten sich seine Züge durch die körperliche Anstrengung verkrampft. Die

Flasche wehrte sich tatsächlich.

,,Der Pfropfen sitzt dermaßen fest im Hals, daß sogar der Korkenzieher nichts

ausgerichtet hat", rechtfertigte er die Tatsache, daß er es war, der nichts hatte aus-

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richten können. ,,Aber das hält mich nicht auf. Zur Not wird es auch dieses Hilfs-

mittel tun, diese segensreiche Erfindung zivilisierter Trinket welche hier auf Sa-

moa wahrlich nicht ihren ursprünglichen Zweck erfüllen kann. Nur gut, daß du sie

damals aus unserem Häuschen Skerryvore mitgebracht hast, Lloyd. Menschlicher

Erfindungsgabe muß die Flasche sich beugen, wenn man nur seine Instrumente

richtig zu gebrauchen versteht."

Mit diesen Worten zückte er den langen Eispickel, den er in der Küche ge-

funden hatte, und schwang ihn wie ein Florett. ,,En garde,meine alte französische

Freundin", drohte er der Flasche, die er in der anderen Hand schwenkte, ,deineTage sind nunmehr gezählt. Isch werde bobren durch deine 'als eine Loch, tout

simplementl Du warst eine gute Geführtin, une trös bonne amie, aber 'eute 'abe

isch vor, dir den Garaus zu machen. 'üte disch!" Louis holte zum entscheidenden

Schlag aus, indem er begann, den Pickel tiefin den weichen Korken zu bohren.

Fanny, zu deren Erbauung Louis dieses Theater auffiihrte, saß wie versteinert

auf ihrem Stuhl. Louis merkte nicht, wie sehr er seine Zuschauerin quälte, die

einem Matador dabei zuzusehen glaubte, wie er sich selbst den Todesstoß versetz-

te. Lloyd dagegen lachte aus vollem Halse über Louis' Kapriolen.

,,Louis, du verrückter Hund, was sollen wir denn mit einem Loch im Korken

anfangen?" fragte er johlend und schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel.

,,Glaubst du, wir können den Inhalt dann durch einen Strohhalm aufsaugen?"

Louis ließ sich nicht beirren. Unermüdlich bearbeitete er die Flasche, die er auf

dem Tisch abgesetzt hatte. Der Korken widersetzte sich zwar erfolgreich der Ent-

fernung, doch schien er weich genug, das Eindringen des Pickels zu ermöglichen.

,,Für wen hältst du mich, vorwitziger junger Spund?" fragte er mit geheuchelter

Entrüstung, ohne in der Bewegung innezuhalten. ,,Ich schaffe dem Weingeist zu-

nächst einmal ein Luftloch! Wie jeder echte Gourmet wissen sollte, muß alter

Wein atmen können, bevor Kretins wie du ihn schließlich ohne Sinn und Verstand

hinuntersttirzen." Ein plötzlicher Ruck, mit dem rechtenArm vollführt, zeigte den

Umsitzenden an, daß Louis zu guter Letzt der Durchbruch gelungen war. Grin-

send zog er den Eispickel aus dem Korken und schnupperte dann genüßlich am

Flaschenhals. ,,Exzellent!" Louis schnalzte mit der Zunge.

Lloyd klatschte laut Beifall. Fanny saß stocksteif da. ,,Nun, Louis, merkst du

bereits, wie der Geist des Weines dich umschmeichelt? Du wirkst so ..." Abrupt

schwieg Lloyd, ohne den Satz an beenden. Famy starrte ihn stumm an; Lloyd

starrte auflouis. Louis hatte die Flasche ordentlich abgesetzt. Den Eispickel jedoch

hatte er einfach zu Boden fallen lassen. Jetzt stand er reglos da wie eine Statue, die

Augen ins Le!re gerichte! als lausche er gebannt auf eine innere Stimme.

,,Louis?" Lloyd klang nun besorgt - wirklich besorgt. Louis scherzte nicht mit

Krankheitsanfüllen . . . nicht auf diese Art!

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Louis preßte beide Fäuste gegen die Schläfen und verharrte einige Momente in

dieser Stellung. Er machte drei Schritte auf Fanny zu. Die Hände hielt er noch

immer auf die Schläfen gedrückt. Louis atmete mühsam, keuchend. Er war voller

Angst.

,,Fannf', murmelte er fast unhörbar. ,,Fanny, sieht mein Gesicht verändert aus?"

Er ließ sich neben Fanny auf die Knie fallen und - stierte sie an, mit einem stupi-

den, verständnislosen Ausdruck, wie Fanny ihn nie anvor an ihm gesehen hatte.

Sekunden später kippte er lautlos vornüber und blieb mit dem Gesicht nach unten

auf dem Verandaboden liegen.

Fanny natrm kaum zur Kenntnis, wie der fassungslose Lloyd jeden nurmögli-

chen Versuch untemahm, Louis ins Leben zurückzunrfen. Sie wußte, daß es zu

spät war. Louis war tot.

,,Die Flasche ist noch verschlossen", raunte sie. Sie heftete den Blick auf den

Burgunder, w?ihrend ihr Geist entfloh.

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,,HERRJE, so spÄr schon!" Wie aus weiter Ferne drang Isobels Stimme an Fannys

Ohr. ,,Wir müssen uns sputen. Die Sonne geht gleich unter, Mutter, und im Dun-

keln schaffen wir den steilenAbstieg nicht mehr. Wir wollen schließlich nicht hieroben übernachten, nicht wahr?" Die letzte Frage, obgleich typisch für die schnip-pische Belle, war nicht barsch gemeint. Seit Louis'Tod benatrm sich die Tochternur noch selten grob zu Fanny. Mit Louis, der von allen geliebt worden war und

der alle vereint hatte, schien auch ein Zankapfel entschwunden zu sein, der die

Menschen untereinander entzweit hatte.

,,Ich komme schon." Fanny und Belle fühlten sich nach dem gemeinsam aufdem Vaea verbrachten Nachmittag rechtschaffen erschöpft.Zwarhattensie nur an

Louis' Grab gesessen, doch in der unbarmherzigen Sonne, welche auf die Spitze

des Berges fiel, ohne Schatten und bei fast völliger Windstille, stellte schon auf-

rechtes Sitzen einen Akt dar, zv dem man ein ordentliches Maß an Überwindung

aufbringen mußte. Heute nacht, so hofte Fanny wenigstens, würde sie todmüde inihr Bett sinken und zum ersten Mal seit langer Zeit wieder traumlos schlafen.

Kurz nach Louis'Tod hatte Fanny damit begonnen, einmal am Tage den Berg-gipfel zu erklimmen und seinem Grab einen Besuch abzustatten. Zunächst exi-

stierte nur der frisch aufgeworfene Erdhügel; doch seit ungefähr einer Woche ruh-

te Louis nun unter einer quadratischen, gat ztrei Fuß hohen Betonplatte. Sowohl

dieser mächtige Unterbau als auch das Grabmal selbst, das von der äußeren Form

her einem einfachen kleinen Haus mit Walmdach ähnelte, waren das Werk briti-scher Fachleute. Zwei bronzene Gedenktafeln schmückten das ansonsten schlich-

te Bauwerk. Stets fand Fanny das Grab über und über mit Blumen bedeckt, nach-

dem sie mit letzter Kraft denAufstieg bewältigt hatte und oben neben ihrem toten

Gatten Atem schöpfen konntel Die Samoaner pflegten die unmittelbare Umge-

bung der Stätte mit echter, der Zuneigung zu Tusitala entsprungener Hingabe . Daß

Louis zu seinen Lebzeiten die auf der Insel wild wuchemden Orchideen geradezv

gehaßt hatte, wußte keiner von ihnen. Fanny brachte ihm ebenfalls regelmäßig

fuga, doch sie wfülte Magnolien, Hibiskus- und Mangoblüten - niemals Orchide-

en. Ihre lebenden Vertreter erinnerten Fanny bereits in unangenehmer Weise an

menschliches Fleisch. Sterbende Orchideen ließen sie spätestens jetzt unweiger-

lich an Moder und Verwesung denken, und diese Vorstellung ertrug sie nicht. Fanny

war froh, daß Louis unter der dicken Betonschicht verborgen lag.

Langsam richtete Fanny sich auf, um nicht von dem Schwindelgefühl überwäl-

tigl nt werden, welches sie bei dieser Gelegenheit jedesmal erfaßte. Sie warf ei-

nen letzten Blick auf die nach Osten weisende Bronzetafel, runzelte irritiert die

Stim - wie immer, wenn sie die Platte betrachtete - und sah dann aufs Meer hin-

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unter. Von hier aus, dem höchsten Punkt des Vaea, konnte man zu jeder Seite den

Ozean erblicken.

Es stimmte, was Belle gesagthatte: Es warhöchsteZeit,denAbstieg anzuteten.Innerhalb der nächsten Minuten würde Finsternis hereinbrechen, und der Weg den

Berg hinunter war entsetzlich steil. Wie leicht konnte man sich den Hals brechen,

wenn man die Hand vorAugen nicht mehr erkannte! Fanny folgte ihrer Tochterund entfernte sich von dern riesigen Quader auf der Spitze des kegelförrrigenBerges, wo der mächtige Häuptling Tusitala seine letzte Ruhestätte gefunden hat-

te.

Ua lagomau Tusitala i Vaea: ,,Der Tusitala ruht auf dem Vaea." Diesen Satz

hörte man seit kurzem allerorten. Die Samoaner kannten viele Bezeichnungen für,,Grab", doch das Wort lagomaublieb nur den höchsten und einflußreichsten Wür-denträgem vorbehalten. Und einflußreich war Louis nach wie vor, seinem leibli-chen Tode ntmTrotz. Seine Macht hatte überlebt. ',

Wäihrend sich Fanny auf die halsbrecherische Wanderung gen Vailima begab,

wanderten ihre Gedanken wie so oft auf eigenen Pfaden. Wieder einmal ging ihrdurch den Sinn, wie souverdn, ja bewundernswert würdevoll Lloyd sich an jenem

Todesabend verhalten hatte, nachdem die anfüngliche Panik von ihm gewichen

war. Als all seine Wiederbelebungsversuche scheiterten, sah er ein, daß er Louisnicht zu retten verrrochte. Zwarlebte Louis nach dem Zusammenbruch noch eine

Stunde, doch ohne zu erwachen oder auch nur im bewußtlosen Zustande zu stöh-

nen. Er lag wie tot; dann, ohne Übergang, atmete er nicht mehr.

In jener kurzen Zeitspawre zwischen Louis'Anfall und Tod hatte Lloyd selbst-

verständlich flugs nach dem einzigen Arzt von Apia geschiclt. Die Ironie wolltees, daß der alte englische Doktor dank der neuerbauten SEaße mit .shiq rrnglaub-

licher Schnelligkeit das Anwesen erreichen konnte - daran, daß Louis' Leben ver-wirkt war, änderte dieser Umstand nicht das geringste. Es blieb dem Arzt nichts zu

tun übrig, als den Totenschein auszustellen. Nachdem er Louis' Gesicht unter-

sucht und zudem erfahren hatte, daß der Verblichene beim Öffnen einer alten

Weinflasche gestorben war, schien ihm ,der Fall" völlig klar zu sein: Er trug seine

Diagnose in das Formular ein, die auf ,,Schlagfluß" lautete ... Das Blut habe sichwahrscheinlich schon lange in Louis' Gehirn gestaut, erklärte der Engländer Fanny,

die seine Worte nur undeutlich watrnahm. Die Wand einerAder, sagte er sinnge-

mäß, habe sich durch ständige Übeöelastung abgenutzt, geweitet und zuletzt ganz

dern Druck nachgegeben, indem sie einfach geplalzt sei. Eine scheinbar harrnlose

Anstrengung wie das Öffnen eines Gefäßes hatte ausgereicht, um dem solcherart

Geftihrdeten den Garaus zu machen. Fanny hörte sich die Deutung des Mediziners

reglos an. Sogar in denAugen eines Fremden stellte also die ominöse Flasche den

verhänpisvollen Auslöser der Katastrophe dar! Als Lloyd zudem erwäihnte, daß

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bereits Louis'Vater einem Schlaganfall erlegen war, galt jeglicher Zweifel als restlosausgeräumt. So war demnach Louis zeit seines Lebens von einem Lungenleiden ge-

quät, durch diese oft unsichtbare Kranlcheit gefangengesetzt, ja versHavt worden,

um dann - an einem schadhaften Blutgefäß zu sterben! Das Schicksal hatte einen

Scherz mit Louis getrieben, über den selbst er kaum hätte lachen mögen.

,,Mein aufrichtiges Beileid, Ma'am", hatte derArzt Fanny gegenüber geäußert,

,,doch zu Ihrem Trost darfich sagen, daß Ihr Gatte sicher nicht lange gelitten hat

... wenn überhaupt."

Was wußte der Mann schon! Wie konnte er sich anmaßen, ein solches Urteilüber Louis' Leidensweg abzugeben? Louis'Ader mochte im Bruchteil eines Au-genblicks zerplatzt sein, als sie dem unerträglichen Druck aufgestauter Empfin-dungen hatte weichen müssen - doch wie lange hatte es gedauert, diese lebensge-

frihrliche Spannung anwachsen zu lassen, welche letztendlich das Gefüß zum Über-laufen gebracht hatte? Der Arzt war freundlich, nichtsdestoweniger ein Ignorant.Nicht viel tfeffender schätzte Louis' alter Freund Henry James die Situation ein,

der in einem Beileidstelegramm vom,,Tod in seiner glücklichsten Form" gespro-

chen hatte, vom ,,zielsicheren, blitzschnellen Strahl der Götter". Was für Göttermochten es sein, die sich Louis derart gewogen zeigten? Waren es am Ende diesel-

ben grausamen Wesen, die Louis einst- ebenso blitzesschnell und zielsicher- aufseine üppig bewachsene, prächtige Gef?ingnisinsel geschleudert hatten? Und trotz-dem hätte sich Louis für ihr allerletztes Geschenk vielleicht aufrichtig bedankt ...

Der samoanischen Dienerschaft, die an jenem verhängnisvollen Abend des 3.

Dezember in Windeseile zuszrmmengeströmt kam, mußte man bei ihrer Ankunftkeineswegs ausdrücklich bestätigen, daß ihr geliebter Tusitala sie verlassen hatte.

Noch bevor der Arzt eintraf und das Dokument unterzeichnete, dessen weiße

Menschen im Fall von Geburt und Tod dringend bedurften, kannten Louis'Be-dienstete die Tragweite der Lage. Genaugenommen wußten sie bereits Bescheid,

als Louis, immer noch schwach atmend, von Frau und Stiefsohn auf sein Lagergebettet wurde - oder aber sie befürchteten ,,folgerichtig", gemäß samoanischer

Logik, das Argste in einer Situation wie dieser. Auf Samoa war man stets kernge-

sund; lag man gegen alle ungeschriebenen Gesetze darnieder, rechneten sowohl

der Kranke als auch seine Sippe mit dem unverzüglichen Ableben des Betroffe-nen. Was Louis anging, bewatrheiteten sich dieAhnungen zum Schluß allerdings.

Doch der Umstand, daß die ihn umringende Menschentraube, welche ihn fast be-

deckte, ihm die letzteAtemluft nahm und Lloyd und Fanny sogar daran hinderte,

zu ihm durchzudringen, den Todgeweihten schonjetzt laut beklagte, erwies sich

als zusätzliche Tortur für die Familie. Alle weinten und schluchzten heuzerrei-ßend. Männer, Frauen und Kinder suchten einander in der Zurschaustellung un-

stillbaren Schmerzes zu übertreffen, wobei Lautst'ärke und Tonhöhe die bevorzugten

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Ausdrucksmittel darstellten. Gottlob bewies Lloyd inmitten dieses Pandämoniums

Geistesgegenwart und Takt. Fanny nämlich litt entsetzlich unter den nicht enden

wollenden Trauerbezeigungen, die für so manchen ihrer Diener keinen anderen

Stellenwert besaßen als das übliche Wettsingen während derAndacht. Die Diener-

schaft trauerte, schön - doch es war samoanische Trauer, die nie länger vorhielt

als ein paar Stunden. Das Wehklagen, tagi lotulotu, erfreute im Grunde die Sän-

ger, die sich schon bald mehr aufdas eigene Geschrei konzentrierten als aufden

leblosen Gegenstand in ihrer Mitte, den es zu betrauern galt. An jenem Abend

verspürte Fanny nur den Wunsch nach Stille und Einsamkeit; sie hätte die jaulen-

den Gestalten am liebsten mit Fäusten aus dem Schlafzimmer vertrieben. Erst

später kam ihr zu Bewußtsein, daß die Samoaner lediglich mit den bestenAbsich-

ten ihrer Tradition gefolgt waren: Das Wort lotulotu beinhaltete nun einmal, daß

man einer Tätigkeit ausdauernd, hartnäckig und ohne jegliche Rücksicht auf Ver-

luste nachging. Genau das hatten sie getan und sich dabei obendrein vcillig veraus-

gabt. Im nachhinein taten Fanny die bösen Gedanken leid, die sie'iv2ihrend der

ersten unerträglichen Tage nach Louis'Tod gegen die Einheimischen gehegt hatte.

Seine Diener liebten Louis - so zärtlich, tief und aufrichtig die Samoaner über-

haupt ein menschliches Wesen zu lieben imstande waren.

Im übrigen durfte man keinesfalls die Tatsache außer acht lassen, daß Louis

ohne die tatkräftige Unterstützung seiner samoanischen Freunde niemals die letz-

te Ruhestätte hätte erreichen können, die er sich zu Lebzeiten auserkoren hatte. Er

wollte dereinst auf dem Berge Vaeabegraben sein, nur soviel stand für ihn fest; da

aber der Ingenieur Louis dieses feme Luftschloß durchaus noch nicht in seine

konlcreten Pl?ine mit einbezogen hatte, mußten seine Hinterbliebenen noch am

Abend in Windeseile eine Möglichkeit finden, Louis den Berg hinaufzuschaffen.

Das bedeutete unglücklicherweise, daß auch Lloyd, Belle und Fanny ihre eigene

Spielart der Pietätlosigkeit beizusteuem gezwungen waren. Tote mußten auf Sa-

moa aufgrund des Klimas binnen weniger Stunden beerdigt werden. Louis' Grab

war nicht ausgehoben - seine Grabstelle war noch richt erreichbar.Um die nöti-

gen Maßnahmen in'die Wege zu leiten, durfte man mithin nicht einmal das Erkal-

ten des Leichnams abwarten!

Unter den gegebenen Bedingungen schien es jedermanns geringste Sorge zu

sein, ob man Louis' Mutter Maggie rechtzeitig zum Begräbnis herholen konnte.

Diese Frage erledigte sich gewissermaßen von selbst, so daß niemand sie über-

haupt laut stellen mußte. Maggie mochte in fliegender Hast aus dem fernen Peretania

herbeisegeln - und das würde sie zweifellos -, doch das ?inderte nichts daran, daß

sie bei ihrem Eintreffen nur die betonierte Grabstätte ihres einzigen Sohnes vor-

finden würde. Vielleicht wären die Plantagen von Vailima zu diesem Zeitpunkt in

der Zukunft schon halb überwuchert, weil niemand sich mehr emsthaft bemähte,

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dem Urwald Einhalt zu gebieten. Daß der Dschungel sich sein angestammtes Reichzurückerobern würde, sobald er auf keinerlei Gegenwehr stieß, stand felsenfest.

Wenn man das Pflanzenchaos nicht jeden Tag auß neue bekJimpfte, benötigte der

Widersacher nur wenige Wochen, um die ursprünglichen Machtverhältnisse wie-derherzustellen.

Widersacher. Macht. Wie konnte Fanny nur auf die Idee verfallen, sich Louis'wirre Don-Quijote-Allüren zu eigen machen zu wollen? Der Kampf gegen den

Dschungel war Louis' Kampf gewesen, demnach auch der ihre, solange Louis

lebte. Nunjedoch hatte sich Fannys Gatte von ihr getrennt, sich durch den Tod von

ihr geschieden, und zusrülmen mit seinem Leib begrub man seine aberwitzigen

Pläne. Den aussichtslosen Wettsfreit mit dem Urwald unnütz zu verlängern, ge-

hörte nicht zu seinem Vermächtris - nicht m demwahren Testament, das zu voll-strecken Fanny sich nach besten Kräften bernühen würde.

Lloyd und Belle hatten Louis nach der offrziellen Bestätigung seines Ablebensgleich dort aufgebahrt, wo der Bewußtlose anfangs geruht hatte, auf einem Kana-pee in der Bibliothek. Während Lloyd vermittels nie gekannter Überredungskunst

und sanfter Gewalt die noch immer lautstark klagenden Diener hinausbe6rdert

hatte, war Belle bereits daran gegangen, das Totenbett des Verstorbenen zu schmük-

ken. Auch Isobel hielt sich bewundernswert tapfeq fand Fanny anerkennend. Sie

schöpfte aus der Selbstbeherrschung der Kinder Erleichterung in ihrer vermeint-

lich schwersten Stunde. Den Gedanken daran, daß weit schlimmere Zeitenfolgenwürden, verdrängte Fanny geflissentlich. Sie saß in einem Sessel neben den Bü-cherregalen und beobachtete Isobel, die mit flinken Fingern das provisorische Lager

in jenen prachtvollen Anblick verwandelte, von dem die Familie wußte, er würde

am nächsten Morgen für den Fotografen bereitstehen müssen. Die Welt brauchte

einAbschiedsfoto von Louis; dieser Notwendigkeit hatte man sich widerspruchs-

los zu beugen. Isobel breitete ein riesiges, blütenweißes Laken unter Louis' leblo-

sem Körper aus, den sie zu diesem Zweck mehrmals zur Seite drehte. Seinen toten

Leib zu berühren, machte ihr nicht das geringste aus, und Fanny natrm mit Wohl-gefallen und stiller Rührung zur Kenntnis, wie Isobel während einer kurzen Ver-

schnaufoause die Gelegenheit nutzte, Louis einen hauchzarten Kuß auf die Stirn

zu dräcken. Für mehr als eine sehr oberflächliche Leichenwäsche war keine Zeitübrig, und auch Louis' Kleider beließ Belle ihm: Er hatte den ganzen Tag ein

shahlendweißes Hemd getragen und eine fast ebenso weiße Hose. Wenn Fanny

sich nicht täuschte, waren dies die identischen Kleidungsstücke, in denen Louis

vor gut einem Jabr, zu seinem Geburtstag, den samoanischen Häuptlingen eben-

bürtig - mehr noch - als Erster unter Gleichen gegenübergetreten war.

Belle verließ für wenige Momente das Zimmer, um schwerbeladen wie ein

Maultier zurückzukehren. Sie hatte in der kurzen Zeit alle verfügbaren Wand-

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. teppiche ansammengerafft, zudem sämtliche Bastmatten, welche Louis im Laufe

der letzten Jahre von den Eingeborenen als Ehrengaben ernpfangen hatte. Jede der

Matten wies die Zeichen hochebrwärdigenAlters auf, das charakteristische Grau

und die abgewetzten Kniffe, die auf lange und sorgfiiltige, wenn auch unsachge-

mäße Lagerung schließen ließen. Nur die kostbarsten Exemplare hatte derTusitala

erhalten, und es verstand sich, daß die Samoaner zum Anlaß seines Todes sehen

mußten, welcher Stellenwert ihrenGeschenkenw?ihrend derBeisetzungszeremonie

zugemessen wurde.

Auf Blumenschmuck verschwendete Isobel keine Überlegung -jetzt noch nicht,

hieß das. Am Morgen würden riesigc taufrische Girlanden Louis'Leichnam be-

decken, unter ihnen Orchideen in Hülle und Fülle. Fürs erste aber blieb Louisverschont. Ein einziges Element fehlte noch, eines, das sich Louis wohl wirklichgewänscht hätte. Fanny brauchte ihrer Tochter keinen leisen Wink zu geben; Isobel

dachte an diesemAbend ganz von sich aus an jede Einzelheit. Sie war schlichtweg

erstaunlich! Beinahe wirkte sie, als habe sie Louis in Gedanken schon unzählige

Male aufgebalrt, so flüssig und geübt muteüen ihre Handgriffe Fanny an ... AlsBelle nach längererAbwesenheit plötzlich mit der großen roten Flagge des Scho-

ners ,,Casco" in die Bibliothek trat, mußte Fanny an sich halten, um nicht in hem-

mungsloses Weinen auszubrechen. Die ,,Casco", jenes Schiff, das den Klan zum

ersten Mal in die Südsee gebracht hatte ... jenes Wasserfahrzeug, dessen Besitz

Louis nicht dazu hatte verhelfen können, die Insel seines Exils hinter sich zu las-

sen. Isobel breitete die Flagge auf Louis'Brust aus, strich das Tuch glatt und tat

dann einen Schritt zurück, um den Eindruck einer Prüfung zu unterziehen. Sie

wirkte zufrieden.

Fanny war die optische Wirkung dieses Stäckes Stoffherzlich gleichgultig. Fürsie zählte allein der Umstand, daß man dem so lange Zeit verhinderten Seemann

das stolze Emblem seines Schiffes wenigstens mit auf den letztenlandgang gab.

Der Anblick erwies sich als derart überwältigend, daß Fanny die Augen ab-

wandte. Doch wie groß waren ihr Erstaunen und ihre Bestürzung, als sie aus dem

Fenster schaute undAustin erkannte, der sich gerade im Begriffbefand, den Uni-on Jack auf dem Rasen vor dem Haus auf Halbmast zu setzen! Nie hatte jemand

anders als Louis höchstpersönlich die Flagge gehißt. Es war dieser Akt noch vor

allen übrigen, welcher Fanny die Veränderlichkeit menschlichen Seins gnadenlos

vorAugen führte. Ein junger Mann, der nicht Louis'Verwandter war, übernahm

die angestammte Rolle des Hausherrn, und obwohlAustin die selbsterwählteAuf-

gabe mit aller angemessenen Feierlichkeit ausführte, versetzte er Fanny damit ei-

nen tiefen Stich. Es war natürlich nichtAustins Schuld, daß Fanny just in diesem

Moment die volle Tragweite ihres Verlustes begriff. Sie hatte nicht allein Louisverloren - das vergangene Jalr hatte aus dem Enkel, der kurz zuvor mit Steckerr

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pferden umherantoben pflegte, einen jungen Mann gemacht, den sie kaum mehrkannte. Fanny beobachtete Austin, der die Zeremonie, das Rituol, mit exakt abgc-

zirkelten Bewegungen vollführte. Unwillkürlich mußte sie daran zurückdenken,

wie er mit seinem ,,Onkel" Louis noch vor lächerlich wenigen Monaten eine ganz

andere Art von Flagge gehißt hatte. Das armselige Fetzengebilde, welches dicmittlerweile verwaiste Hütte im Dschungel damals markiert und verziert hatte,

stellte das Lieblingsspielzeug zweier ausgelassener Kinder dar. Eines von ihnen

war nun tot, das andere spielte nicht länger ... und beide, jedes auf seine eigene

Weise, schienen für Fanny endgültig verloren.

,,Du möchtest sicher ein wenig ausruhen, Mutter", sprach Belle sie unvermittelt

an. Ihr Ton war sanft, fast zärtlich. ,,Das alles übenteigt deine Kräfte. Falls es dirrecht ist, könntest du allein mit der Totenwache beginnen. Lloyd und ich werden

dir natürlich später Gesellschaft leisten, sobald die Umstände es erlauben." Isobel

wandte sich bei diesen letzten Worten bereits wieder zum Gehen, und Fanny be-

eilte sich, der Tochter die Frage zu stellen, welche ihr auf dem Herzen lag.

,,Was wird denn nun aus dem Vaea?" erkundigte sie sich in banger Erwartung.

Louis'Verlangen, aufdem Berg begraben zu liegen, mußte unbedingt respektiert

und befolgt werden. Er hatte im Verlaufe seines letzten Lebensjahres zatrlreiche

Wünsche geäußert, vernünftige wie vollkommen unsinnige; die Lage seines

Begräbnisortes hatte Fanny jedoch niemals in Frage gestellt. Der Vaea erschien

ihr als die einzig logische Wahl.

,,Unser Lloyd hat schon längst alle nötigen Schritte eingeleitef', beruhigte Bel-le die Mutter. Auch Isobel empfand zur Abwechslung große Achtung vor dem

kleinen Bruder, der in diesem Augenblick der Bew2ihnurg alle Zügel in der Hand

behielt. ,,Er hat 40 Häuptlinge aw der ntichsten Umgebung von Vailima durch Boten

hiertrer bestellt und ihnen folgendes ausrichten lassen: Der steöende Tusitala habe

trnmittelbar vor seinem Tode verkündet, er möchte von seinen engsten Freunden aufden Berg geleitet werden. 20 Häuptlinge Mataafas hätten ihm einst die ,Staße des

liebenden Herzens' gebaut und nun sei es an den 40, ihrem guten Frzund den ,Pfbddes trauernden Herzens' zu ebnen. Das sei eine noch größere Ehre."

Fanny nickte anerkennend. ,,Und hat Lloyds Idee schon etwas bewirkt?" fragte

sie dann, nachträglich von neuem besorgt.

,,Und ob!" platzte Isobel heraus und senkte ihre Stimme sofort wieder, dern

Emst der Stunde gehorchend. ,tloyds perfektes Samoanisch und seine Eloquenz

- von der ich nicht einmal andeutungsweise etwas ahnte! - haben uns bereits die

Ankunft von 14 Mann samt Gefolge beschert, und es kommen immer mehr. Sol-

che Überredungskunst hätte ich ihm nie zugetraut!"

Fanny lächelte ve$onnen. Es stimmte, was lsobel da sagte. Sein Leben lang

hatte Lloyd alles Menschenmögliche versucht, an sein geliebtes Vorbild Louis

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heranzureichen, ihm zumindest näherzukommen, und war mehr oder minder kläg-

lich gescheitert. Nun offenbarte er ein oratorisches Talent, welches man sogar als

Charisma bezeichnen durfte, und Lloyd war sich seiner Fähigkeit nicht einmal

bewußt. Gerade dieses Unwissen aber beglückte Fanny. Louis, der große Verfüh-

rer zum Guten wie zum Schlechten, hatte stets das riesige Ausmaß seiner Macht

genau gekannt und eingedenk dieser Stärke gehandelt. Was Lloyd nun tat, ge-

schah nicht um seinetwillen, sondern aus der Liebe zu Louis heraus, welche ihm

heute abend Qualitäten,,einzugeben" schien, die im Grunde schon immer in ihm

geschlummert hatten.

Die Häuptlinge würden sicherlich ohne Ausnahme kommen, alle 40. Die Zu-

neigung zu ihrem Sohn machte Fanny allerdings keineswegs blind für die Tatsa-

che, daß es noch andere, sehr viel ,,handfestere" Gründe für das pänktliche Er-

scheinen der Wtirdenträger gab. Zum einen wußten die Häuptlinge der Umge-

bung, daß die mächtigsten Männer der Inseln, Mataafas unmittelbarp Gefolgsleute,

dem Tusitala eine Straße gebaut hatten. Wenn selbst diese höchst ehrenwerten

Edlen sich zu den Niederungen der körperlichenArbeit herablassen konnten, war

es wohl kaum an ihnen, den bescheidenen Unterhäuptlingen, den Bau eines ver-

gleichsweise winzigen Trampelpfades in Frage zu stellen. Wie beleidigend hätte

solch eine Weigerung von ihrer Seite auf die wirklich Mächtigen gewirkl!

Selbstverständlich stellte die Liebe zu Tusitala eine bedeutende Triebfeder dar.

Nur - der Tusitala war tot. Andererseits existierte ein Teil von ihm weiter, dessen

Einfluß man keinesfalls außer acht lassen durfte, zumindest nicht, bis er sicher

unter der Erde lag. Es handelte sich um die Flasche.

Während Fanny einsam in der Bibliothek hockte, wo einzig der tote Gatte ihr

Gesellschaft leistete, schweifte ihr Blick unermüdlich zwischen Bahre und Bü-

cherregalen hin und her. Daß Louis einen geradezu lebendigen Eindruck auf die

Totenwächterin machte, erstaunte sie nicht. Sein Gesicht zeigte keine Spur langen

Leidens, es war weder verzerrt noch verunstaltet. Louis' Miene wirkte im Gegen-

teil gelöst und friedlich, so als schlafe er bloß. Sein Leib war nur um wenige Grade

abgekählt, und eiskalt würde er dank des samoanischen Klimas vor der Beerdi-

gung gar nicht erst werden. Fannys medizinische Kenntnisse wiesen erhebliche

Lücken auf, und doch wagte sie es, die g?inzlich fehlende Leichenblässe auf die

Art seines Todes zurückzuführen. Louis'Gesicht hatte auch zu Lebzeiüen niemals

einen wirklich rosigen Schimmer besessen; vielleicht bewirkte die in seinem Kopf

zerborstene Ader nun, daß sein olivfarbenes Antlitz rötlicher schien als je zuvor ...

Fanny wußte, daß Louis zwar gestorben, doch beileibe nicht tot war. Ihr Wissen

beruhte keineswegs auf dem in jeder Kultur üblichenAberglauben oder etwa auf

Gespensterfurcht, gatrz zu schweigen von der inselüblichen Dämonenpanik. Na-

türlich empfand sie keineAngst, wenn sie den still daliegenden Louis betrachtete.

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Der Anblick beruhigte und tröstete sie eher. Ilu Bewußtsein, daß er noch lebte, ja

gleichsam lebendiger war als vor seinem Tode, festigte sich mit jedem eirzclnon

Bliclq den sie auf die Regale warf, welche ihn zu allen Seiten umgaben. Inmittcn

ganzer Reihen weltberühmter Werke, die seiner Feder entstammten, lag ihr Schöpfer

aufgebatrt, der nun die unsichtbare Krone seiner Laufbatrn trug. Existierte er in

den Gehirnen der Landsleute schon seit sieben Jahren als ,,Legende der Südsee",

so hatte er heute den Gipfel erreicht: absolute Unsterblichkeit als Künstler und als

,,rnenschliche" Ikone.

Rund drei Stunden nach Fannys Wachantritt - Fanny war unterdessen mehr als

einmal sanft eingenickt - traten Lloyd und Isobel zu ihr ins Zimmer und vervoll-

st?indigten die Runde. Austin hatte sich widerstrebend auf sein Zimmer zurückgo-

zogen, nachdem man ihm die Teilnatrme an der Wache verweigert hatte. Fanny

verstand Isobels Beweggrände nicht recht; schließlich waren sichAustin und Louie

stets herzlich rugetan gewesen, und der Junge enchien ihr längst alt genug, eino

Nacht hindurch bei einem geliebten Toten auszuharren. Nun, Belle als seine Mut-

ter war zu Fehlentscheidungen berechtigt, und Fanny verlor kein Wort über die

Angelegenheit. Lloyd teilte ihr gezwungen beiläufrg mit, daß die Häuptlinge sich

auf dem Rasen versammelt hätten, wo sie die Nacht über kampieren wollten; mit

dem Pfad könne man erst bei Morgengrauen beginnen, doch stünde der, ähem,

pusabereits zur Verfügung ... Fanny fragte nicht weiter nach. Lloyd hatte damit

verschämt verkündet, daß ausgerechnet der Sarg, den die Samoaner wörtlich über-

setzt ,,Kasten für tote Menschen" nannten, als allererstes von den Ankömmlingen

gezimmert worden war. Dieser Sachverhalt schien ebenso vielsagend wie vorher-

sehbar. Die Samoaner, die vor der Besiedlung durch die Weißen nie etwas herme-

tisch abzuschließen pflegten, hatten die Erfindung des Sarges mit einer etwas unpas-

send anmutenden Begeistenrng aufgenommen, die derjenigen für ,,peasoup-u"

kaum nennenswert nachstand. Von allein waren sie nämlich nicht auf die ldee

gekommen, ihre Toten gründlich genug einzuspenen, um sie an der Rückkehr zu

hindem! Daß die Geister derAngehörigen nach dem Tod des Körpers weiterlebten,

galt als unglückselige und unveränderliche Tatsache. Durch den Bau eines prua

tagata oti üer konnte man buchstäblich jeder Heimsuchung durch tote Verwandto

vorbeugen und sie daran hindern, wie Dtimonen mit Inselkindern baden zu gehcnl

Lloyd klang demnach nicht etwa deswegen so kleinlaut, weil er den Begriff

,,Sarg" in Gegenwart der trauernden Witwe nicht verwenden wollte. Er wußte, daß

seine Meldung einen Sachverhalt bestätigte, den alle im Grunde lZingst kannten.

Tusitala war gestorben, und man fürchtete sich vor der Leiche, die - besonderE

angesichts der ungeheuren Macht des Lebenden - nur allzuleicht zu einem Dämon

werden korurte, wenn man sie nicht rechtzeitig in den Kasten steckte. Die wundor-

bare Eile, welche Tusitalas 40 Freunde an den Tag legten, hatte leider auch sohr

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viel mit dem Wunsch zu tun, den geliebten Menschen so schleunig wie möglich

unter die Erde zu bringen .,.

Noch vor Morgengrauen versammelten sich die Häuptlinge wie versprochen

am Fuße des Berges Vaea, hinter dem Haupthaus. Vielleicht fühlten sie sich zu

ihrem Arbeitseinsatz weniger durch klimatische Erwägungen oder die Schnellig-

keit menschlicher Verwesung angespornt denn durch den Umstand, daß Louis'

Klan noch gar nicht darm gedachl hatte, Tusitala in den Kasten zu sperren. Wie

dem auch sein mochte - die Häuptlinge samt Gefolge begaben sich mit Feuereifer

an die Rodung des steilen Pfades, allen Fährnissen des Geländes zum Trotz. Die

Familie schaute zu, FaruryundAustin eingeschlossen, während Lloyd den Samoa-

nern dezente, wenngleich nachdrticklicheAnweisungen gab. DieArbeit gestaltete

sich entsetzlich mühselig. Schon eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang brannte

der Feuerball so unbarmherzig auf die sich abplagenden Männer herab, daß nicht

wenige zwischendurch vor Anstrengung das Bewußtsein verloren. Stgckenweise

betrug die Steigung des Berges an die 60, 65 Grad. Dieser schlechterditigs unglaub-

lich schroffe Anstieg barg schon allein genügend Beschwernis in sich - doch aus-

gerechnet in der Nacht war ein Wolkenbruch niedergegangen, der alles in glitschi-

gen Schlamm verwandelte. So mußten die Arbeiter ihre ungeteilte Aufrnerksam-

keit darauf verwenden, nicht den Halt zu verlieren und die Mtinner über oder unter

sich zu verletzen - ansonsten hieben sie blind aufden Dschungel ein, der aufdem

gottverfluchten Vaea noch weit dichter schien als an irgendeinem anderen Punkt

der Insel. Es war eine furchtbare Plackerei und ein ebenso furchtbarerAnblick für

Fanny, die unwillkürlich an ihre Vision jener mit Stricken gefesselten Männer

unten auf der Straße zurückdenken mußte. Der Schweiß floß in Strömen über die

Leiber der halbnackten Häuptlinge, deren Tätowierungen dadurch ebenso klar und

reliefartig hervortraten wie die ihrer Leidensgefährten vor wenigen Wochen. Ei-

nen Moment lang glaubte Fanny eine aus Menschen gefertigte monumentale Skulp-

tur vor sich zu sehen, eine riesige Plastik aus ineinander verschlungenen Leibem.

Dieser Eindruck wurde zusätzlich durch den Umstand verstärkt, daß die Truppe

äxte- und sensenschwingender Eingeborener sich bestenfalls zollweise von der

Stelle zu rühren vermochte, oft jedoch gänzlich in derAufivärtsbewegung stockte.

Bis zum frtihen Nachmittag dauerte diese schreckliche Fron. Fast acht Stunden

hatten die Häuptlinge geaöeitet, ohne eine eir.zige l?ingere Ruhepause einzule-

gen. Nun waren ihre Kräfte dermaßen erschöpft, daß Fanny befrrchtete, einige

von ihnen könnten womöglich an der eigentlichen Beisetzungszeremonie garnicht

mehr teilnehmen. Gottlob erholten sie sich schnell wieder, nachdem Belle, Fanny

und die Hausmädchen sie mit eilends zubereiteten Köstlichkeiten und natürlich

Kava-Bier versorgt hatten. Einige wenige M2inneq die ausdauerndsten aller Krie-

ger, stapften unterdes den neuerbauten Pfad hinauf, indem sie sich an dem verblie-

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benen Gestriipp zu beiden Seiten hochhangelten, um nicht abzurutschen. Wäh-

rend man unten in Vailima die letzten Vorbereitungen traf hoben sie das Grab aus.

An jenem ersten Tage nach Louis'Tod, vor der feierlichen Beerdigung, die

mittlerweile schon Wochen zurücklag, hatte Fanny noch an etwas anderes denken

müssen als an menschliche Skulpturen. BeimAnblick der Samoaner, die sich den

Berg Vaea hinaufklimpften, entsann sich Fanny ihrer Träume vom Häuptling Pha-

rao. Sie waren letzten Endes in Erfüllung gegangen, kein Zweifel. Zwar trugen die

bronzehäutigen Mannen des Verstorbenen nicht das Tartan-Muster des Stuart-Klans,

doch ansonsten stimmte jede Einzelheit: Der Pfa4 welchen die Eingeborenen in

den Vaea hineintrieben, entsprach den Stufen, die sie in Fannys Traum erklommen

hatten, um den toten Pharao auf dem obersten Quader zur Ruhe zu betten. Wie der

gottgleiche Pharao erreichte auch Louis-Tusitala den Zenit seines Lebens im Tode,

durch denTod. Der Vaea war sein Göttersitz, und erst der Aufstieg bescherte ihm

endgültige Unsterblichkeit. Doch wie einst die Pharaonen konnte auch Louis nicht

mehr zurückkehren, nachdem er den Höhepunkt erreicht hatte. Er blieb in dem

von ihm ersonnenen Bauwerk gefangen, auf der Spitze eines walten, zugeschütte-

ten und überwachsenen Vulkankegels - für ewige Zeiten. Im Unterschied zu Häupt-

ling Pharao mußte Louis mutterseelenallein auf seine Wiedergeburt warten, falls

es denn überhaupt eine geben sollte: Seine Gattin war ihm treu gewesen, doch

nicht ergeben genug, ihm ins Grabmal zu folgen oder gar ins Feuer, wie es indi-

sche Witwen noch heute verbotenerweise zu tun pflegten. Louis'Klan hatte das

Oberhaupt frag- und klaglos auf die stiirmischste See hinausbegleitet, hatte ohne

Murren Schiffbruch und Inselhaft mit ihm geteilt. Daß seine Leute ihm aber in die

Pyramide hinein folgten, lag in niemandes Absicht - am allerwenigsten in Louis'

eigener.

War Louß'Seelejefzt endlichfrei? Bei dieser Frage ertappte Fanny sich seit

dem Begräbnis jeden Tag mehrmals.

Wie die meisten Christen, welche Gott nicht mit blindem Glauben gesegnet

hatte, besaß Fanny keine rechte Vorstellung von der Seele oder von dem Ort, an

den sie sich vermeintlich nach dem Tode eines Menschen begab. Zumindest glaubte

sie an die ,Ens tenz einer Seele; doch ob sie den Leib verließ, weiter in ihm wohnen

blieb, sich in Luft oder im Ather auflöste, hätte Fanny nicht zu bestimmen gewagt.

Zum wiederholten Male kam ihr eine Begebenheit in den Sinn, die sich kurz vor

der Beerdigung abgespielt hatte, als man sich anschickte, am Fuße des Berges

Tusitalas Sarg endgültig zu versiegeln.

Der zehnjährige Matavai, Sohn des Häuptlings Fuful4 welcher bei der Enichtung

des Pfades mit von der Partie gewesen war, schaute sich wie die anderen ringsum-

her lange und feierlich das tote Gesicht des Tusitala an, bevor der Deckel sich über

der Leiche schließen sollte. Matavai gehörte zu den wenigen Knaben, die in der

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katholischen Mission efizogen wurden. Selbstventändlich hatte er ausgiebigen

Religionsunterricht genossen, derprompt die entsprechenden Früchte zeitigte. Bei

dem Anblick des Toten vor ihm legte der Junge das Gesicht in tiefe Grübelfalten,

bis er nachgerade grctesk aussah. Mit zugleich vor Beklommenheit und Neugier

zitternder Stimme stellte er seinem Vater eine Frage, die er nur bei den Katholiken

aufgeschnappt haben konnte. ,,O le tino lenei, tarna, 'a'o fea le agaga a Tusitala?"

Fanny vermochte sich noch exakt auf den Wortlaut zu besinnen, denn Matavai

hatte so langsarn und eindringlich gesprochen, daß sie ihn ohne Lloyds Hilfe ver-

stehen konnte. ,,Dies hier ist der Leib, Vater, aber wo ist Tusitalas Seele?" bedeu-

tete die graviüitische Frage. Fufula, der stolze Erzeuger des wißbegierigen Kna-

ben, stutzte und kratzte sich verlegen am Kopf. Wenn sein Sohn ncht wußte, wo

weiße Seelen wohnten, wie sollte dann er sich mit der Materie auskennen?

,,E ola pea le agaga i le pusa tagata oti", antwortete er schließlich, nach langer

Überlegung. Dabei blickte er keines der weißen Familienmitglieder an, do als schä-

me er sich seines Unwissens auf christlichem Gebiet. Isobel, die in der'Näihe stand

und es nicht ertrug, kein Wort zu verstehen, sprach ihn ohne Umschweife auf die

Bedeutung seiner Worte an.

,,Sohn fragen, ,Wo Geist von Tusitala?"' wiederholte Fufula nach besten Kiäften

die Konversation, ,,und ich sagen, ,Geist leben weiter, weiter, in toten Mannes Kiste.'

Erst Loch, dann sima drauf. Geist leben unter sima, in toten Mannes Kiste."

Daraufhin runzelte Isobel nur verständnislos die Stirn - die Übersetzung nützte

ihr kaum mehr als die samoanische Urfassung. Fanny aber lief es unterdessen

eiskalt den Rücken hinunter. Nicht genug damit, daß gemäß Fufulas Überzeugung

Louis' arme Seele auf ewig unter dem Beton begraben bleiben mußte - er hatte,

ohne es auch nur zu ahnen, den Wortlaut des Piratenliedes aus der Schatzinsel

zitiert! Natürlich war das nur ein dummer, makabrer Zufall, doch er machte Fanny

erbeben wie Espenlaub. Einen kritischen Moment lang mußte sie sich auf die Schul-

ter der Tochter stützen, um nicht umzusinken.

Zu ihrem Glück begann um Punkt ein Uhr nachmittags die offizielle Be-gräbniszeremonie, welche Fanny allerweiteren Grübelei fürs erste enthob. Es war

ein imposanterAnblick, der sich den Beteiligten bot: Acht samoanische Häuptlin-

ge trugen den mit der Flagge der,,Casco" bedeckten Sarg des Tusitala, doch nicht

auf Händen, sondern auf den Spitzen ihrer Speere. Auf diese Weise gewährleiste-

ten sie, daß der Sarg während des Aufstiegs seine horizontale Position beibehielt,

ganz gleich, wie steil der Weg sich auch immer gestalten mochte. Dies war, so

fand Fanny, das vornehmste Zeichen der Huldigung, welches Menschen dem to-

ten weißen Häuptling darzubringen vermochten.

Es war ein würdevolles Fest gewesen, dieses Begräbnis, das nun schon mehre-

re Wochen hinter Fanny lag. Der sima, von dem Häuptling Fufula gesprochen

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hafte, war aufgeschichtet worden und gehocknet, und längst lcönte das hausähnliche

Grabmal die Stätte. Wie jeden Tag, wie bei jedem Besuch oben auf dem Vaea,

hatte Fanny auch heute wieder mißbilligend die Mundwinkel vetzogen, als sie die

nach Osten weisende Bronzetafel erblickte. Die Inscbrift auf dieser Platte stamm-

te aus Louis' eigener Feder, einem Gedicht mit Namen ,,Requiem". Louis hatte

das Poem niedergeschrieben, als er noch keinen Fuß auf Samoa gesetzt, keinen

Gedanken an die Südsee verschwendet hatte. Vor sehr langer Zeit schon hatte der

ewig kränkelnde Wanderer beschlossen, daß die Zeilen irgendwann auf seinem

Grabstein stehen sollten - und zwar in seiner Heimat ...

,,Diese Verse ritzt für mich ein: / Er liegt, wo stets er hat wollen sein / Heim

kehrt' der Seemann, heim vom Meer / Und der Jäger heim aus den Bergen."

, Was für ein unvorstellbarer Hohn sprach nachtäglich aus diesen seinen Wor-

ten, die schließlich beileibe nicht seine letzten gewesen waren! Während er sie

dichtete, hatten sein Geist, seine Seele, sein innerster Kern in Schottland geweilt

und nirgendwo sonst auf der Welt. Die Gestalt des Jägers, der müde, aber glück-

lich von der Jagd im Hochland zurückkehrte, stellte zugleich eine Ehrung und

Louis'ureigene Fortführung der Verse des großen Robert Burns dar. Burns, des-

sen Herz im Hochland lebte, nicht hier; Bums, dessen Herz auf immerdar dem

Hochlandhirschen nachjagte! Auf Samoa konnte Louis keinem anderen Wild hin-

terherjagen als dem Schatten Schottlands ...

Und, schlimmer noch, die gnadenlose lronie, welche in den Worten über den

heimgekehrten Matrosen steckte! Natürlich gab es auf Samoa einen festen Hafen

flir Louis, den Seemann - doch wie verhaßt war ihm der Ort aufgezwungener Rast

stets geblieben! Die Tatsache, daß er totz aller widrigen Geschehnisse die Grab-

inschrift bis zuletzt beibehalten hatle, zeugle nicht etwa von einer stillen, insge-

heim gehegten Hoffnung auf Rückke\ die er keinem Familienmitglied eingeste-

hen wollte. Die Tafel war nichts als eine einzige riesige Maskerade für jene Men-

schen, die ihn nicht kannten - seine ,,Freunde" im fernen Peretania. Louis lag

keineswegs dort, wo or ,,stets hatte sein wollen", sondern ungef?ihr so weit von

dem besungenen Ort des Glücks entfernt, wie man es sich nur vorzustellen ver-

mochte. Sein Leben lang hatte er es verstanden, aus Schwarz Weiß zu kreieren,

aus Bösem Gutes ... aus dem Gefiingrris das Paradies. Er lebte auf derNachtseite

der Erde, und doch gelang es ihm bisweilen" sich vorzugaukeln, er existiere am

Nabel derWelt.

Samoa, die schöne Geliebte, welche ihn einst freundlich an ihren Gestaden

aufgenommen hatte, besaß nun für alle Zeit den Leib ihres Gastes. Sie konnte ihn

im Laufe der Jahre langsam in sich aufoehmen, Faser für Faser, Knochen um Kno-

chen, bis sie ihn ganz und gar absorbiert hatte. Louis'Leib gehörte ihr, und Fanny

erkannte eine gewisse Logik und Gerechtigkeit in dem Vorgang der völligen Ver-

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einnahmung, welcher seit dem Tage der Beerdigung unaufhaltsam vonstatten ging.

Samoa durfte seinen Leib ruhig behalten, denn die Insel hatte ihn auch konser-

viert, wäihrend er lebte. Sie hatte seinen Leib gesund gemacht und in der besten für

ihn möglichen Form erhalten.

Doch jeden Tag, wenn Fanny die Inschrift las, betete sie inständig. Sie flehte

ein höheres Wesen an - welches, konnte sie nicht einmal sagen -, um Himmels

willen nicht zu gestatten, daß auch Louis' Seele eingesperrt blieb. Sie betete dar-

um, daß Louis' Seele nicht in des toten Mannes Kiste wohnen mußte. Sie erbat

sich sehnlichst, Louis' Geist möge nicht in der Flasche eines großen Dämons stek-

ken - oder aber der eines grausamen Gottes. Sie beschwor alle ihr bekannten himm-

lischen Mächte, ihrem Gatten die Freiheit zuzugestehen, sich in jenen Ewigen

Jagdgründen tummeln zu dürfen, die Fanny aus der Kindheit in Indiana kannte.

Wenn das höhere Wesen ihr Flehen erhörte und diese letzte Bitte erfüllte, konnte

Louis ungestört bis ans Ende aller Zeiten den schottischen Hochhndhirsch jagen

... und dann, erst dann, wäre er tatsächlich daheim.

Doch falls Fannys Bitten sich als fruchtlos erwiesen, weil Louis' Seele wirklich

in des toten Mannes Kiste eingesperrt war, existierte noch eine Möglichkeit - die

buchstäblich allerletzte. Wenn sich am Tage des Jüngsten Gerichts die Gräber öff-

neten, wlirde auch der lang erkaltete Berg Vaea den Pfropfen ausspeien, welcher

seinen Hals verschloß, und die Betonplatte über Louis'Leichnam mit Elementar-

gewalt zersprengen.

Wenn Fanny an diesem unabänderlichen Punkt des täglichen Gebetes ange-

langt war, verwandte sie den kläglichen Rest ihrer Energie auf die Fürbitte für ihre

lebendige Familie. Sie waren jetzt freie Menschen, Lloyd und Isobel und sie selbst;

aber wie Käfrgvögel, denen man ohne Vorwarnung die Tür öffnete, waren alle drei

verwirrt, verängstigt und geftihrdet. Sie würden die Insel verlassen, die sie nicht

liebten, wo nichts sie zurückhielt - außer einer Betonplatte. Lloyd würde endlich

heiraten können. Vielleicht fand sogar Belle einen Mann, der es halbwegs mit

Louis aufnehmen konnte. Austin wtirde das erste Mal Himbeeren sehen - und

Paradiese mit Apfelbäumen.

Und Fanny? Auch sie gedachte die Insel so bald wie möglich zu verlassen. Das

wenige Licht, das sie noch in sich spürte, hatte dem verblendeten Louis nicht mehr

helfen können. Den käirglichen Rest aber brauchte sie für sich selbst und ihre dunkle

Reise in die Zukunft, bevor der Funken ganz verglühte.

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