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Lexikon der Bibelhermeneutik

(LBH)

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Lexikon

der Bibelhermeneutik

(LBH)

Herausgegeben vonOda Wischmeyer

In Verbindung mit

Emil Angehrn (Philosophie)Eve-Marie Becker (Neutestamentliche Wissenschaft)Mechthild Habermann (Deutsche Sprachwissenschaft)Ulrich H. J. Körtner (Systematische Theologie)James Alfred Loader (Alttestamentliche Wissenschaft)Christine Lubkoll (Deutsche Literaturwissenschaft)Karla Pollmann (Klassische Philologie)Marco Schöller (Islamwissenschaft)Günter Stemberger (Judaistik)Wolfgang Wischmeyer (Kirchen- und Theologiegeschichte)

Unter Mitarbeit vonStefan Scholz

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Lexikon

der Bibelhermeneutik

Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte

Herausgegeben vonOda Wischmeyer

RedaktionSusanne Luther

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Mit Unterstützung der Staedtler-Stiftung(Finanzierung der Redaktion)

1* Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Normüber Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019277-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

� Copyright 2009 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb derengen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dasgilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung undVerarbeitung in elektronischen Systemen.

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Satz: Process Media Consult GmbHEinbandgestaltung: Martin Zech, Bremen

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Vorwort

Jedes Zeitalter, ja jede Generation muss ihre eigenen Methoden und Theorien im Umgang mitkanonischen Werken ausarbeiten. In unserem Kulturkreis gilt dies in besonderem Maße für diebiblischen Texte.

Seit Origenes sind zuerst die Exegeten die professionellen Träger dieser Aufgabe. Die Ge-schichte der Exegese ist zugleich die Geschichte der Bibelhermeneutik in ihrer praktischen, aufdie Texte angewendeten Gestalt. Daneben entwickelt sich eine hochkarätige Geschichtetheoretischer Entwürfe zur Bibelhermeneutik, getragen von großen Theologen wie Augusti-nus, Luther, Schleiermacher oder Bultmann, die alle Exegeten waren, darüber hinaus aberbestimmend an den philosophisch-theologischen Debatten ihrer Zeit teilnahmen und diesemaßgeblich mit gestalteten.

Wie wollen die Exegeten in der Zeit der (Post-)Postmoderne Bibelhermeneutik betreiben?Nicht nur die klassischen exegetischen Orientierungsbegriffe von Autor, Text, Werk, Kanon,Autorenintention, Textaussage sind diffundiert, nicht nur die Möglichkeiten und die Sinn-haftigkeit historischer Rekonstruktion und Kontextualisierung werden fraglich, sondern vorallem die Hermeneutik selbst ist höchst angefochten. Dient sie lediglich der Prolongierungüberholter Herrschaftstexte und ihrer Interpretationskartelle? Sollen und können klassischeoder gar kanonische Texte (noch) als gegenwärtige Stimmen gehört werden? Sind sie (noch)jene „fremden“ Gesprächspartner, deren Stimme eine methodenbasierte Hermeneutik ver-nehmlich macht?

Exegeten werden in der Tat diesen Ansatz auch nach dem Linguistic und Cultural Turn weiterverfolgen und dazu mit allen Disziplinen zusammenarbeiten, die Texte lesen, verstehen undinterpretieren und diese Prozesse zugleich theoretisch reflektieren wollen.

Zu diesem Ziel haben wir elf Herausgeberinnen und Herausgeber aus den Bereichen derTheologie, der Philosophie und der Geistes- und Kulturwissenschaften uns zusammengefun-den, um kaleidoskopartig die Begriffe, Methoden, Theorien und Konzepte der Bibelherme-neutik aus der Perspektive der textbezogenen wissenschaftlichen Disziplinen darzustellen.Unsere konzeptionelle und praktische Zusammenarbeit war äußerst intensiv und hat zu einerüberraschenden neuen Gemeinsamkeit im wissenschaftlichen Umgang mit der Bibel und derBibelhermeneutik geführt, die bereits in einem programmatischen Sammelband dokumentiertist1.

Wir Herausgeberinnen und Herausgeber verstehen das Lexikon als Plattform und Initiatorneuer hermeneutischer Diskurse über die Bibel im Kontext anderer antiker oder modernerkanonischer, klassischer und paradigmatischer Texte und Textsammlungen2. Wir möchtenzugleich einen nachhaltigen Impuls zur Diskussion nicht nur um eine Bibelhermeneutik,sondern um eine interdisziplinär verantwortete Hermeneutik klassischer Texte nach derPostmoderne geben.

An erster Stelle danken wir dem De Gruyter-Verlag für die mehrjährige sehr vertrauensvolleund hervorragende Zusammenarbeit, die uns immer wieder inspiriert hat und die alles mög-lich machte, was uns notwendig erschien. Stellvertretend nennen wir die Namen von Herrn

1 Vgl. O. Wischmeyer/S. Scholz (Hgg.), Die Bibel als Text, Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 14,Tübingen/Basel 2008.

2 Vgl. E.-M. Becker/L. Scornaienchi (Hgg.), Religiöse und literarische Kanonisierungs- und Dekanoni-sierungsprozesse als hermeneutisches Problem, 2010.

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Cheflektor Dr. Albrecht Döhnert und Frau Angelika Hermann. Wir danken sehr herzlich denzahlreichen Beiträgerinnen und Beiträgern, die mit ihren Artikeln unserem Lexikon zunächstVertrauen geschenkt und dann nach und nach Leben gegeben haben. Unser ganz besondererDank gilt der Leiterin der Lexikonredaktion und dem Herzen des Projekts, der Wissenschaft-lichen Mitarbeiterin Susanne Luther M.A., und ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sowieWiss. Ass. Dr. Stefan Scholz, die gemeinsam mit unendlicher Geduld und Fachkompetenz dasLexikon in die Form gebracht haben, in der es jetzt vorliegt.

Erlangen, 24. 3. 2009 Im Namen des HerausgebergremiumsOda Wischmeyer

Vorwort VI

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

Das Lexikon: Allgemeine Vorstellung – Forschungsstand – Idee –Positionierung – Realisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

Die Bibel: Texte – Kanones – Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . XXX

Lemmata (nach Kategorien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLII

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLVI

Artikelverzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . LIII

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LX

Artikel A – Z . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

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S

Sache/SachkritikI. NeutestamentlichDas deutsche Wort S. fungiert in der Rechts-wissenschaft, in der Philosophie und in derAlltagssprache als Oberbegriff, mit dem ma-terielle und immaterielle Gegenstände be-zeichnet werden, die sich handhaben und er-klären lassen. Sein Gegenbegriff ist Person.In der Hermeneutik werden S. und !Texteinander gegenübergestellt. Der Begriffrührt damit an eine erkenntnistheoretischeGrundfrage, die bereits Plato stellt, wenn erfragt, ob die S.en (pq²clata, emta) so, wie siescheinen (va¸metai), oder in ihrem wesen-haften Sein (oqs¸a) von der Sprache erreichtwerden (Cra. 411 BC). Die Linguistik erfasstdie Beziehung von Sprache und Wirklich-keit im Begriff frame. Sie bezeichnet damitstabile konzeptuelle Erfahrungszusam-menhänge, die eine effiziente Kommunika-tion ermöglichen (U. Detges, 36).

Die Methode der Sachkritik überprüft dieSachaussagen der antiken Texte an den sach-lichen und technischen Voraussetzungen (H.Delbrück). Die theologische Sachkritik fragt be-deutungsorientiert, ob der Text die von ihmgemeinte S. adäquat zur Sprache bringt (R.Bultmann). Die theologische Sachkritik bi-blischer Texte ist bis heute umstritten. A. Jü-licher führt den Begriff S. im Rahmen seinerGleichnistheorie in die ntl. Wissenschaft ein.

In der existenzphilosophischen Herme-neutik steht S. für einen sprachlich vermit-telten extratextualen Gegenstand, durch densich gewichtige Bedeutungen erschließen. M.Heidegger möchte „über den sprachlichenAusdruck zurück zur Sache“ gelangen (5). H.-G. Gadamer definiert als Ziel des hermeneu-tischen Prozesses das „Einverständnis in derSache“ (276). Für das NT entwickelt R. Bult-mann das Konzept einer theologischen !

Exegese als Sachexegese. In deren Vollzug sol-len die Beziehung von Text und S. sowie dieBeziehung von Interpret und S. näher be-stimmt werden. Diese Sachexegese soll „dieS. selbst“ erreichen, die „Wahrheitsfrage“stellen und schließlich theologischeSachkritik üben (17 – 19). J. Derrida wendetsich gegen diesen Sachbezug der existenz-philosophischen Hermeneutik und fordertden „Bruch des Bezuges“ als Voraussetzungeiner textgemäßen Interpretation (J. Derrida/H.-G. Gadamer, 51 – 54).

In der biblischen Exegese dominiert einmodifizierter !Historismus: Die ,Wahrheitder S.‘ wird in einem harten Kern von Faktengesehen, der zwar nur sprachlich vermitteltzugänglich ist, der aber dennoch eine extra-textuale und extrafiktionale Wirklichkeit er-schließt (S. Byrskog, 306).Bibliographie: R. Bultmann, Das Problem einertheologischen Exegese, in: Ders., Das Neue Testa-ment und christliche Existenz, Tübingen 2002, 13 –38. – S. Byrskog, Story as history – history as story,Tübingen 2000. – H. Delbrück, Geschichte derKriegskunst, Berlin 1964. – J. Derrida/H.-G. Gada-mer, Der ununterbrochene Dialog, Frankfurta. M. 2004. – U. Detges, Grammatikalisierung, Tü-bingen 2001. – A. Eckl, Logos, Name und Sache imKratylos, Würzburg 2003. – H.-G. Gadamer,Wahrheit und Methode, Tübingen 1975. – M. Hei-degger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1976. –A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, Darmstadt1963. Lukas Bormann

II. Systematisch-theologischMit der Frage nach der ,S.‘ geht die Suche nach!Wahrheit einher. Kritisches Bewusstseinüberprüft eine Bezeichnung auf ihre Richtig-keit an dem, was sie bezeichnet (vgl. das kor-respondenztheoretische Wahrheitsverständ-nis mit seinem Insistieren auf Übereinstim-mung von Aussage und S.). I. Kant proble-

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matisiert jenen immer noch naiv-optimisti-schen Realismus durch seine Infragestellungder Überzeugung, das „Ding an sich“ alssubjektunabhängiges Kriterium wahrneh-men zu können. Erkenntnis gebe es nur inder Verknüpfung von sinnlicher Anschau-ung und kategorialer Verstandesleistung.Dagegen will E. Husserls Phänomenologie„auf die ,Sachen selbst‘ zurückgehen“ (10).Aus dem Blickwinkel der !Semiotik wirdjedoch der Sachbezug von Zeichen wiederzum Problem, insofern der unendliche Pro-zess des Weiterverweisens zwischen !Zei-chen und !Bedeutung die referentielle Veri-fikation vernachlässigen kann (unbegrenzteSemiose). Nicht erst vom Dialogischen Perso-nalismus des 20. Jh.s wird der Unterschiedzwischen S. und Person eingeschärft.

In die Problementwicklung ist auch dieTheologie involviert. Einen Brennpunkt bil-det hier das Schriftverständnis. In welchemMaße ist die S. des biblischen Textes vom !Verstehen und !Auslegen der Rezipientenabhängig, ohne dabei die kritische Autoritätgegenüber denselben (z. B. in Gestalt vonTradition und kirchlichem Lehramt) einzu-büßen? Diese Frage spitzt sich unter der his-torischen Kritik der !Exegese zu. Im Über-bietungsgestus ihr gegenüber fordert K. Barthdas kritische „Messen“ der biblischen Textean ihrer „Sache“ ein (XVIII f.), „bis das Ge-spräch zwischen Urkunde und Leser ganz aufdie Sache (die hier und dort keine verschiedenesein kann! ) konzentriert ist“ (XVII). Barthspneumatologische Erklärung hierzu liefertdas Grundmuster für hermeneutische Kon-zepte im Horizont des dritten Credo-Artikels.R. Bultmann hingegen thematisiert „das vor-gängige Lebensverhältnis zu der Sache, die im Textdirekt oder indirekt zu Worte kommt und diedas Woraufhin der Befragung leitet“ (227).Über die Wirkung seiner !existentialen In-terpretation hinaus weist er damit den Wegfür das methodologische Problembewusstseinder theologischen Hermeneutik im 20. Jh.Diese sucht zunehmend das Gespräch mit Li-teraturwissenschaft, Sprachphilosophie, Lin-guistik und Semiotik. Dabei verschiebt sichdas Interesse auf die Frage nach dem !Sinndes Textes. Zugleich tritt der personale An-rede-Charakter als Grundstruktur des bibli-

schen !Kerygmas in den Vordergrund, auchwenn sich in den Texten beider Testamentebereits die notwendige ,Versachlichung‘ vonden impliziten Performativen in der pluralenSprache der religiösen Lebenswelt zu denKonstativen der Glaubensreflexion vollzieht,jedoch für die Auslegung die darin artiku-lierte Sachwahrheit auf die zugrunde liegendeBegegnungswahrheit rückführbar bleibenmuss.

Bibliographie: K. Barth, Der Römerbrief (1922),Zürich 151999. – R. Bultmann, Das Problem derHermeneutik, in: Ders., Glauben und Verstehen II,Tübingen 1968, 211 – 235. – E. Husserl, LogischeUntersuchungen II/1, hg. v. U. Panzer, HusserlianaXIX/1, Den Haag 1984. – M. Petzoldt, Wahrheit alsBegegnung, in: Ders., Christsein angefragt, Leipzig1998, 25 – 40. Matthias Petzoldt

SatzI. AltphilologischS. (engl. sentence; frz. phrase) bezeichnet einesyntaktisch-semantische Beschreibungsein-heit, die sich auf ein Wort/eine Wortgruppeoder auch auf einen Text/Diskurs beziehenkann. Die aus der Philosophie und Rhetorikübernommene antike Terminologie für S.(griech. kºcor, k´nir, lat. oratio, sententia) hatteein weites Bedeutungsspektrum: Diskurs,Artikulation, Äußerung, Proposition, Aussa-ge, Sprichwort, Formulierung usw. Die anti-ken Autoren geben keine linguistisch befrie-digende Definition von S. Während z. T.durchaus formale Aspekte der Satzkonstruk-tion einbezogen wurden (z. B. im Zusam-menhang mit Konjunktionen, Kasus, Modiund Tempora oder in der Analyse para- undhypotaktischer Sätze), nehmen antike Auto-ren den S. entweder (1) aus rhetorischer Per-spektive in den Blick (Prosodie, Rhythmik,verschiedene Illokutionstypen, vgl. z. B. Ari-stoteles’ Rhetorica und Dionysius von Hali-karnass’ De compositione verborum; die stilis-tisch unangemessene Konstruktion eines S.eswurde Teil der rhetorisch-puristischen !Grammatik, nämlich in der Lehre vom Hel-lenismos und Latinismus/latinitas) oder (2) ausphilosophischer Perspektive (formal-logischeAnalyse der!Propositionen, die Wahres oderFalsches aussagen).

Satz 514

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Der S. wurde in der Antike niemals Ge-genstand einer genuin grammatischen Ana-lyse, z. B. bezüglich seiner morphosyntakti-schen Struktur. Daher wurde eine Anzahl vonEinsichten nie systematisch integriert: (1)Plato (Sph. 262a-c) definierte kºcor als die Zu-sammenfügung (sulpkoj¶) eines Substantivs(in Subjektposition) und eines ,rhematischen‘(prädikativen) Elements; dies wurde derAusgangspunkt für die Analyse assertiverPropositionen als ,Subjekt‘ und ,Prädikat‘. (2)Unter dem Einfluss der stoischen Theorie vonvollständigen und unvollständigen kejt² (!Semantik) vertraten die antiken Grammatikerdie Auffassung, der S. drücke einen vollstän-digen Gedanken aus (kºcor aqtotek¶r; oratio/sententia perfecta). Dieser Gedanke, in der T´wmgcqallatij¶ des Dionysius Thrax dargelegt,wurde in Apollonius Dyscolus’ Peq· sumt²neyr(Synt.) weiterentwickelt und von lateinischenGrammatikern wie Diomedes, Charisius,Marius Victorinus und Priscian übernommen(vgl. Keil, Grammatici Latini I 300; II 53; II 432;III 116; VI 5).

Der (begrenzte) Beitrag, den die antikeGrammatik zur Definition des S.es leistet,liegt in der Erkenntnis, dass der S. das Re-sultat eines (grammatisch eingeschränkten)Prozesses der Zusammensetzung ist, der aufBuchstabenebene beginnt und zum S. führt.Griechische Autoren beziehen sich auf diesenProzess allgemein mit den Termini s¼m¢esir(Dionysius Thrax, § 11) und s¼mtanir (Apollo-nius Dyscolus, Peq· sumt²neyr, A § 2); lateini-sche Autoren bedienen sich der Termini com-positio, ordinatio oder constructio. Eine synthe-tische Definition von S. findet sich bei Dio-medes (Grammatici Latini II 300: compositiodictionum consummans sententiam remque perfec-tam significans, ,eine Zusammensetzung vonWörtern, welche eine Bezeichnung erfülltund etwas Vollendetes bedeutet‘).

Bibliographie: R. Amacker, Sur la théorie de laphrase chez les grammairiens latins, in: Actes dutroisième colloque régional de linguistique, Stras-bourg 1989, 17 – 41. – M. Baratin, La naissance de lasyntaxe à Rome, Paris 1989. – P. Büttgen et al.(Hgg.), Théories de la phrase et de la proposition dePlaton à Averroès, Paris 1999. – F. Charpin, L’idéede phrase grammaticale et son expression en latin,Paris/Lille 1977. – Ders., La notion de phrase:

l’héritage des anciens, in: I. Rosier (Hg.), L’héritagedes grammairiens latins de l’Antiquité auxLumières, Paris/Louvain 1988, 57 – 68. – G. Nu-chelmans, Theories of the proposition, Amsterdam1973. – S. Schad, A Lexicon of Latin grammaticalterminology, Pisa/Rom 2007. – J. Stéfanini, Sur lanotion de phrase et son histoire, in: Recherches surle français parlé 3 (1981), 7 – 18.

Pierre Swiggers/Alfons Wouters

II. TextlinguistischSätze sind sprachliche Einheiten, die relativselbständig und abgeschlossen sind. Ein ein-facher S. besteht aus einem finiten Verb undden vom Verb geforderten Satzgliedern (vgl.Duden, Bd. 4, 2005, 772). Die Grenze zwi-schen einem einfachen und einem komplexenS. wird dann überschritten, wenn eine Satz-reihe (Hauptsatz + Hauptsatz) oder ein Satz-gefüge (Hauptsatz + Nebensatz) vorliegt. InSatzreihen stehen einzelne, in der Regelselbständig vorkommende Sätze in einer ne-bengeordneten Relation. Man spricht in die-sem Zusammenhang von Parataxe – im Ge-gensatz zur Hypotaxe, womit die Unterord-nung von Sätzen in Satzgefügen bezeichnetwird. Ein Satzgefüge besteht aus einemHauptsatz und einem oder mehreren Neben-sätzen, die diesem Hauptsatz untergeordnetsind und nicht selbständig vorkommen kön-nen. Die Nebensätze lassen sich weiter klassi-fizieren nach ihrem Einleitewort (z. B. alsKonjunktionalsatz), aber auch nach ihrer se-mantischen Beziehung zum übergeordneten S.(z. B. als Kausal-, Temporal- oder Konditio-nalsatz). Eine weitere Subklassifikation nimmtBezug auf die syntaktische Funktion, die dieNebensätze im Satzgefüge übernehmen. Sobesteht der komplexe S.: Er arbeitete, bis es fünfUhr schlug aus einem Haupt- und einem Ne-bensatz, wobei der Nebensatz ein Konjunk-tionalsatz ist (denn er wird durch die Kon-junktion bis eingeleitet) und in der syntakti-schen Funktion eines temporalen Adverbialsauftritt.

Jeder S., ob einfach oder komplex, lässtsich einer Satzart zuordnen (auch Satztyp/Satzmodus genannt). In einigen Grammati-ken des Deutschen werden fünf Satzartenunterschieden: Aussagesatz (Deklarativsatz),Fragesatz (Interrogativsatz), Aufforderungs-

Satz515

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satz (Imperativsatz), Wunschsatz (Desidera-tivsatz) und Ausrufesatz (Exklamativsatz); inanderen werden der Exklamativsatz und derDesiderativsatz unter die anderen Satzartensubsumiert. Im prototypischen Fall nimmtdie Einteilung in Satzarten Bezug auf dieModalität des S.es, also auf die Art und Weise,wie der Sprecher seine Einstellung zu dem imS. geäußerten Sachverhalt ausdrückt, ob eralso etwas mitteilen, eine Frage stellen oderzu einer Handlung auffordern möchte. Letz-ten Endes geben aber formale Kriterien denAusschlag. Beispielsweise ist ein prototypi-scher Aussagesatz daran zu erkennen, dass dasfinite Verb im Indikativ steht und die zweitesyntaktische Position im S. besetzt. Eben diestrifft aber nicht nur auf einen Aussagesatzwie: Ich lese ein Buch zu, sondern auch aufÄußerungen vom Typ: Ich fordere dich auf, jetztzu gehen. Dabei handelt es sich formal-syn-taktisch um einen Aussagesatz, auch wenndamit eine Aufforderungshandlung verbun-den wird.Bibliographie : Duden, Bd. 4, Die Grammatik,Mannheim u. a. 72005. – C. Dürscheid, Syntax,Göttingen 42007. – P. Eisenberg, Grundriss derdeutschen Grammatik, Bd. 2, Stuttgart/Weimar32006. Christa Dürscheid

Schreiben !Schrift/Schreiben/Schreiber

Schreiber !Schrift/Schreiben/Schreiber

Schrift/Schreiben/SchreiberI. AlttestamentlichS. nennen wir Systeme graphischer Notationvon !Sprache. S.en sind unabhängig von-einander in verschiedenen Kulturkreisen derErde entstanden, und zwar im Zusammen-hang der Urbanisierung und Staatenbildung,die eine Kontrolle und Speicherung der an-fallenden, keinem !Gedächtnis anzuver-trauenden Fülle administrativer und wirt-schaftlicher Daten erforderte. In Mesopota-mien geht ihre Entstehung bis ins 4. Jt. zurückmit langem Vorlauf in ,Zählsteinen‘, einemvorschriftlichen Notationssystem für Warenund Zahlen. In Ägypten entsteht die S. ohne

erkennbare Vorstufen zugleich mit dem Staatund dient von Anfang an neben der ökono-mischen Registratur auch der Repräsentationdes Königtums und seiner Staatsaktionen.Dieser Doppelfunktion entsprechend entwi-ckeln die Ägypter die ,hieroglyphische‘ Mo-numentalschrift, die ihre Bildlichkeit unein-geschränkt beibehält, und eine ,hieratische‘,weitgehend abstrakte Kursivschrift. Wie dieKeilschrift und die chinesische S. kodiert dieägyptische S. neben phonetischen auch se-mantische Informationen, ist also eine kom-binierte Laut- und Sinn-Schrift. Den Schrittzur reinen Lautschrift vollzieht erst die (seitca. 1800 v. Chr. bezeugte) protosinaitische S.,die von Nomaden aus ägyptischen Hierogly-phen entwickelt, zur Grundlage des phönizi-schen, hebräischen und aramäischen Alpha-bets und damit auch unserer S. geworden ist.Die Verwendung der S. hat sich im Laufe des 3.Jt.s in Ägypten und Mesopotamien von ihrenKernbereichen ausgehend auch auf anderekulturelle Gebiete ausgedehnt, wobei inÄgypten v. a. die Beschriftung der Gräber mitTotentexten (Pyramidentexte) und biogra-phischen Inschriften und in Mesopotamiendie Kodifizierung von Wissen (insbesondereWortlisten und Omina) der Aufzeichnung imengeren Sinne literarischer Texte, also derVerschriftung des ,kulturellen Gedächtnisses‘vorangehen. Anders als in Indien und bei denKelten, wo die kanonischen religiösen !Texte nicht verschriftet werden durften, son-dern auswendig gelernt werden mussten(damit sie nicht Unbefugten in die Händefielen, ein Vorbehalt gegen die S., den nochPlato teilt), dient im Alten Orient die S. geradeauch zur Fixierung der heiligen Texte. Mitder Kunst des Schreibens verbindet sich indiesen Kulturen daher ein hohes Prestige po-litischer (Beamte=Schreiber) und religiöser(Priester=Schreiber) Natur.

Der Erwerb der S. bedeutet einen Evoluti-onsschritt gleichen Ranges wie der Erwerb derSprache. Wie die Sprache das Leben in Ge-meinschaft, so fundiert die S. das Leben inStaaten und ermöglicht durch die Befreiungvom Wiederholungszwang der rituellen !Kommunikation und die Entlastung des Ge-dächtnisses eine Evolution des Wissens, dieallerdings je nach gesellschaftlichem, politi-

Schreiben 516

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schem und kulturellem Kontext in ganz ver-schiedene Richtungen führen kann. V. a. dasmit dem Theorem der ,Achsenzeit‘ verbun-dene Aufkommen theoretischer und religiö-ser Diskurse mit universalem Geltungsan-spruch in Ost (China: Konfuzius, Menzius,Laotse; Indien: Buddha; Persien: Zarathustra)und West (Israel: Propheten; Griechenland:Philosophie) wäre ohne S. nicht denkbar. Imfernen und vorderen Orient entstehen hoch-verbindliche Sammlungen!heiliger S.en (!,Kanon‘), in Griechenland kommt es zur Formdes wissenschaftlichen Diskurses, in dem dieTexte kritisch aufeinander aufbauen, zur,agonistischen Intertextualität‘ (H. v. Staden).

Im Kontext des biblischen Monotheismuskehrt sich das Verhältnis von Text und Kultgegenüber den altorientalischen Hochkultu-ren um. Nicht der Kult heiligt den Text, son-dern der Text den Kult. An die Stelle derprophetischen !Auslegung des göttlichenWillens tritt die S., die diesen Willen ein fürallemal kodifiziert. Dem Kultmonopol Jeru-salems entspricht das Weisungsmonopol derS., des ,Buches‘ (sefer) und seiner Tradenten,der ,Schriftgelehrten‘ (soferim). An die Stelleder Konstellation von Gott und Prophet inForm eines dynamischen und ,pneumati-schen‘ Prozesses tritt die Konstellation von S.und !Interpret. Schon Jeremia wendet sichgegen die ,Schriftgelehrten‘, die sich im ,Be-sitz‘ der Tora wähnen, weil sie das Schrift-stück in Händen halten und glauben, damitgerecht und weise zu sein (Jer 8,8). Diese Linieeiner prophetischen Schriftkritik setzt sichmit Jesus und Paulus fort. Paulus spitzt dasProblem auf die Polarität von cq²lla undpmeOla zu: der Buchstabe tötet, der Geistmacht lebendig (2 Kor 3,6). Was cq²lla hierbedeutet, erhellt aus Röm 7,6: es ist das Ge-setz, das tötet, wenn es in seiner buchstäbli-chen ,Gegebenheit‘ zum Medium mensch-lichen Selbstrechtfertigungsstrebens in-strumentalisiert und zum Heilsweg verding-licht wird. Die jüdische Lösung dieses Pro-blems bildet die Lehre von der ,mündlichenTora‘, die Mose zusammen mit der schriftli-chen auf dem Sinai empfangen hat und die inder ,Kette der Tradition‘ von Lehrer zu Schü-ler weitergegeben schließlich in Gestalt desTalmud verschriftet wurde. ,Gegeben‘ im

Sinne der schriftlichen Fixierung ist nur derText; der Sinn dagegen entfaltet sich im un-abschließbaren Prozess der Auslegung undkann nur ,dialogisch‘ (M. Buber), im ge-meinsamen Bemühen gesucht werden.

Bibliographie: E. Biser, Die Bibel als Medium,Heidelberg 1990. – C. Colpe, Art. Heilige Schriften,in: RAC 14 (1987), 184 – 223. – D. Diringer, Writing,London/New York 1962. – K. Földes-Papp, VomFelsbild zum Alphabet, Stuttgart 1966. – I.J. Gelb, Astudy of writing, Chicago 1952. – B. Gerhardsson,Memory and manuscript: oral tradition and writtentransmission in rabbinic Judaism and early Chri-stianity, Uppsala 1961. – G. Grube et al. (Hgg.),Schrift: Kulturtechnik zwischen Auge, Hand undMaschine, München 2005. – H. Haarmann, Uni-versalgeschichte der Schrift, Frankfurt 1990. – E.Havelock, Schriftlichkeit, Weinheim 1990. – W.Raible, Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Sys-temen, Heidelberg 1991. – B. Sass, The genesis ofthe alphabet and its development in the secondmillenium B.C., Wiesbaden 1988. Jan Assmann

II. NeutestamentlichDie grundsätzliche Zusammengehörigkeitvon S., Sprache und Schreiben (z. B. Hebräischmit hebräischen Buchstaben von rechts nachlinks) ist praktisch an die Kenntnisse desSchreibers gebunden. Auf der in Santa Crocein Rom aufbewahrten fragmentarischenKopie (?) des Kreuzestitulus (vgl. Joh 19,19 –20) laufen sowohl die hebräische als auch diegriechische und lateinische Inschrift vonrechts nach links, was auf die Beheimatungdes Schreibers im Hebräisch-Aramäischenschließen lässt. Die ntl. S.en wurden ur-sprünglich wohl alle auf Papyrusrollen ge-schrieben (gegen E.-M. Becker, 64 – 69; 2 Korz. B. könnte auf einer Rolle von 25 x 150 cmPlatz gefunden haben). Dass die Codex-Formvermutlich im frühen Christentum zuersteingeführt wurde, mit Sicherheit aber dortrasch Verbreitung fand, lässt sich vielleichtmit großteils ärmlichen Verhältnissen erklä-ren (bei der Codex-Form konnten die Blätterbeidseitig beschrieben werden) oder mit derMöglichkeit, eine größere Anzahl von S.en(z. B. alle vier !Evangelien) in einem Codexunterzubringen (vgl. T.C. Skeat).

Bezüglich des ,Schreibers‘ sind mindestensvier Rollenverständnisse zu unterscheiden:

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Originaldaten 

(1) Ein Berufsschreiber oder Sekretärwurde von Paulus für die Niederschrift eini-ger Briefe verwendet (bes. deutlich Röm16,22). Sein Einfluss auf Form und Inhalt istunklar. Der Sekretär hatte nicht nur die Auf-gabe, das ihm Diktierte orthographisch kor-rekt niederzuschreiben, sondern ggf. auch dasfür bestimmte Dokumenttypen relevanteFormular zu beachten oder Entwürfe auszu-formulieren. (2) Im römischen Verwaltungs-apparat begegnet der cqallate¼r als Beamterrelativ hohen Ranges, abhängig von derGröße der Verwaltungseinheit (im ägypti-schen Gau z. B. fungiert der ,königlicheSchreiber‘ als zweithöchster Beamter undStellvertreter des Strategen; in der dörflichenEinheit steht der ,Dorfschreiber‘ an obersterStelle). Dass er v. a. auch für die Finanzen zu-ständig war, entspricht dem breiten Ver-ständnis von griech. cq²vy (,schreiben, malen,einmeißeln, buchen, verrechnen‘). Der in Apg19,35 für Ephesus erwähnte cqallate¼r waroffensichtlich der ,Stadtsekretär‘, der ge-meinsam mit dem Strategen der Bürgerschaftvorstand. (3) Speziell der jüdischen Gesell-schaft zuzuordnen ist der cqallate¼r als,Schriftgelehrter‘, der seine Aufgabe darinsieht, über die ,S.‘ schlechthin (cqav¶ im Sinneder Tora der hebräischen Bibel) maßgeblichBescheid zu wissen. (4) Für die Textüberlie-ferung relevant ist auch die Rolle des Schrei-bers (Kopisten) von Handschriften.

Bibliographie: P. Arzt-Grabner, Philemon, Göt-tingen 2003, 240 – 243. – E.-M. Becker, Schreibenund Verstehen, Tübingen/Basel 2002. – K. Haines-Eitzen, Guardians of letters, Oxford 2000. – A.R.Millard, Pergament und Papyrus, Tafeln und Ton,Gießen/Basel 2000. – E.R. Richards, The secretary inthe letters of Paul, Tübingen 1991. – T.C. Skeat, Theorigin of the Christian codex, in: ZPE 102 (1994),263 – 268. Peter Arzt-Grabner

III. JudaistischDie Schreibkenntnis und -tätigkeit scheint imantiken Judentum nicht allgemein vertreten,sondern auf bestimmte Kreise beschränkt ge-wesen zu sein. An erster Stelle sind hier dieberufsmäßigen Schreiber (sofer/-im) zu nen-nen, die ihrer jeweiligen Ausbildung gemäßmit der Abfassung von Briefen, Dokumenten,oder Torarollen beschäftigt waren. In der

rabbinischen Literatur begegnen solche Be-rufsliteraten auch als Kinderlehrer undtorakundige Konkurrenten der Rabbinen,werden aber von Letzteren als ihnen unterle-gen dargestellt. Nicht alle Rabbinen werdenschreibkundig gewesen sein. Die Kompetenzin der Auslegung und Anwendung der Torawird der rein technischen Befähigung zumAbschreiben derselben vorgezogen. DieseEinstellung lässt sich gut im Rahmen dergriechisch-römischen Gesellschaft verstehen,in der selbst Oberschichtsangehörige oft nichtmehr als ihre eigene Unterschrift leistenkonnten und für alle anderen Zwecke Schrei-ber zur Verfügung hatten. Bei den Rabbinen,die wohl mehrheitlich den mittleren Ständenangehörten, wird die Schreibkenntnis vonihrem jeweiligen Berufsstand und dessenAnforderungen abhängig gewesen sein.

So kann man annehmen, dass die Schreib-kenntnis insbesondere in administrativenKontexten notwendig war. Juden, die in derProvinzialadministration tätig waren, werden(zum Teil zweisprachige) Schreibkenntnissebesessen haben. Außerdem werden sich be-sonders in Städten ansässige Händler, die ge-legentlich Listen und Quittungen schreibenmussten, mehr oder weniger rudimentäreSchreibkenntnisse angeeignet haben. ReicheLandbesitzer werden wie römische Aristo-kraten Schreiber verwendet, aber gelegentlichselbst Unterschriften geleistet haben. Litera-rische Hinweise in Josephus’ S.en und derrabbinischen Literatur sowie die überliefertenPapyrusdokumente geben Aufschluss überdie jeweiligen Kontexte der Verwendung derS. im antiken Judentum. Die in der judäischenWüste gefundenen Dokumente deuten an,dass gelegentlich selbst mittelständischeHändler Ostraka verwendeten, um aufAramäisch geschäftliche Dinge handschrift-lich festzuhalten, während die meist grie-chisch verfassten Papyri von professionellenSchreibern für Oberschichtsangehörige abge-fasst worden sind. Die Schreibkenntnis jüdi-scher Frauen scheint allerdings sehr geringgewesen zu sein. Obwohl auch mit weiblichenSchreibern zu rechnen ist, konnten selbstreiche Frauen wie Babatha keine eigenenUnterschriften leisten.

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Originaldaten 

Bibliographie: M. Bar-Ilan, Writing in ancient Is-rael and early Judaism, in: M.J. Mulder (Hg.), Mikra,Assen 1988. – D. Carr, Writing on the tablet of theheart, Oxford 2005. – C. Hezser, Jewish literacy inRoman Palestine, Tübingen 2001. – M.S. Jaffee,Writing and rabbinic oral tradition: On Mishnaicnarrative, lists and mnemonics, in: JJTP 4 (1994),123 – 146. Catherine Hezser

IV. AltphilologischMit Ausnahme von Linear B, einer Silben-schrift, die im 2. Jt. v. Chr. zur Verschriftli-chung eines – höchstwahrscheinlich – frühenGriechisch verwendet wurde, bediente mansich in der griechisch-römischen Antike dervon den Phöniziern im 8. Jh. v. Chr. über-nommenen und in vielen Varianten weiter-entwickelten Alphabetschrift. Besondere Be-deutung erlangte eine ostionische Variante,die 403/402 v. Chr. anlässlich der Euklidi-schen Alphabetreform in Athen kanonisiertwurde und sich später im gesamten griechi-schen Raum verbreitete. Das für die europäi-schen Nachfolgekulturen maßgebliche latei-nische Alphabet gelangte über die Griechenund Etrusker zu den Römern. Unter denSchriftrichtungen setzte sich die rechts- vorder linksläufigen und dem beide Prinzipienvereinigenden sog. Boustrophedon durch.Wortzwischenräume, Akzente, Interpunkti-onszeichen u. ä. sind spätere, meist hellenis-tische Entwicklungen. Bereiche, in denen dieS. anfänglich besondere Anwendung fand,sind die öffentliche und private Verwaltungund Repräsentation sowie die Religion. Imgriechischen Raum diente sie auffällig frühauch der Fixierung von z. T. umfangreichenliterarischen Texten; manche Forscher mes-sen der Niederschrift des wichtigsten, derIlias, sogar eine Schlüsselrolle in der Ent-wicklung und Verbreitung des neuen Medi-ums zu. Texte mit inschriftlichem Charakterwurden vorwiegend auf Stein, Tongefäßenbzw. -scherben und Metallen festgehalten;weitere Beschreibstoffe waren Holz, Elfen-bein und Leinen, für längere Texte wurdenvornehmlich Papyrus und Pergament heran-gezogen, welche – zu Papyrusrollen oderPergamentcodices verarbeitet – die wichtigs-ten Vorstufen für das heute gebräuchliche !Buch bildeten. Erwähnung verdienen auch

die v. a. für die Korrespondenz gebrauchtenund zumeist aufklappbaren Schreibtafeln(d´ktoi oder dekt¸a bzw. pugillares oder pugilla-ria), deren Schreibfläche mit einer immerwieder erneuerbaren Wachsschicht überzo-gen war, in welche die Texte mittels einesSchreibgriffels eingeritzt wurden. Stark vonden Beschreibstoffen abhängig sind die zahl-reichen Schreibstile, unter denen v. a. den sog.Kursiven (ein oder mehrere Buchstaben wer-den in einem Zug ausgeführt) eine wichtigeBedeutung zukommt. Die Schriftzeugnisseder Frühzeit dürften ausschließlich von Di-lettanten stammen, professionelle Schreibersind eine spätere Entwicklung. Diese stam-men oft aus niederen sozialen Schichten (sogab es – nach J. Deißler allerdings nicht indem bisher angenommenen Ausmaß –Skriptorien, in denen Sklaven Bücher ver-vielfältigten); v. a. im kaiserzeitlichen Romwar mit dem Amt des scriba jedoch auch einhohes gesellschaftliches Ansehen verbunden,allerdings umfasste es nicht nur Schreibtä-tigkeiten, sondern auch verschiedene verwal-tungstechnische Operationen.

Bibliographie: H. Blanck, Das Buch in der Antike,München 1992. – P.D. Daniels/W. Bright, Theworld’s writing systems, Oxford 1996. – J. Deißler,Sklaven in der antiken Buchproduktion, in: S.Günther et al. (Hgg.), Pragmata, Wiesbaden 2007,1 – 15. – J. Latacz, Homer, München 21989.

Wolfgang Kofler

V. LiteraturwissenschaftlichZum Medium S. gehören epochen- und kul-turabhängig verschiedene Funktionen: dieSpeicherung und Tradierung von Wissensowie die Ermöglichung komplexer !Kom-munikation und symbolischer Repräsenta-tion. Für Sprach- wie Bildschriften (dazu H.Haarmann) gilt dabei gleichermaßen : S. hateinerseits Zeichencharakter, anderseits eineunauflösliche Materialität. Unter Bedin-gungen spezifischer ,Situationsabstrakt-heit‘ garantiert die Schriftgestalt des Textesexakte Wiederholbarkeit und Kontinuitätüber Raum und Zeit hinweg. Die Kultur-technik des Schreibens (ahd. scrîban, lat. scri-bere) fördert historische Distanz und Reflexi-on, zugleich ermöglicht sie den (vergleichen-den, kommentierenden, kritischen) Umgang

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mit Texten. Die Kehrseite der Situationsab-straktheit von S. ist deren Performanzdefizit.Damit ist ein hermeneutisches Problem mar-kiert: Vergangene ,Aufführung‘ von Textenist auf Dauer nur über S. zugänglich (J.-D.Müller). Ferner ist eine Frage, wie Nicht-sprachliches (z. B. Ironiesignale, oder Mimik,Gestik, Stimm-Modulation, Musik) hypothe-tisch in die Untersuchung von Schrifttextenmiteinbezogen werden kann. ,S.‘ und ,Auf-führung‘, die Praxis des Schreibens undSprechens sind dabei sowohl in historischerwie systematischer Sicht polare Gegensätze,keine strikten Alternativen.

In semioralen Gesellschaften ist S. nur eineZeichenordnung unter anderen. Im christli-chen Mittelalter ist – wie in allen monotheis-tischen Schriftoffenbarungsreligionen – derStellenwert von S. eklatant hoch. Die Identitätdes religiösen bzw. heiligen Textes ist imSpeichermedium S. gesichert, doch muss dieS. ihrerseits kontinuierlich zum Sprechengebracht (,verkündet‘) werden. Zu den Insti-tutionen der mittelalterlichen Handschrif-tenkultur und der ihr immanenten Dynamikdes Auf-, Um- und Fortschreibens von Textengehören der Schreiber (scriptor), der kompi-lierende Redaktor (compilator) und der Autorals Urheber (auctor), wobei der Akt des Ab-/Aufschreibens und der eigenschöpferischeVorgang auktorialen Textverfassens keines-wegs strikt gegeneinander ausdifferenziertsind. Erst Zug um Zug öffnet sich das bis ins12. Jh. reichende klerikale (lateinische)Schriftmonopol auch für die höfische (volks-sprachliche) Laiengesellschaft. Besondere Be-achtung findet in der Diskussion um die Ma-terialität literarischer bzw. textueller Kom-munikation der Wandel von der Handschriftzum Druck im 15. Jh. Dass auch die neuzeit-liche Literatur trotz ihrer Bindung an Druck-schrift eine Rekonstruktion der Dynamik des,Schreibens‘ für einzelne Autor-Corpora nichtausschließt, zeigen textgenetische Untersu-chungen, die seit den 1970er Jahren mittelsAutormanuskript-Analysen den Prozesscha-rakter von Literatur sichtbar machen, mitAuswirkungen auf die Interpretation undEdition der Texte (F. Hölderlin, F. Kafka,u. a.). Als medienrevolutionär gilt die Erfin-dung der Schriftdigitalisierung im 20. Jh.

Bibliographie: K. Bertau, Schrift – Macht – Hei-ligkeit in den Literaturen des jüdisch-christlich-muslimischen Mittelalters, Berlin/New York 2005.– J. Bumke/U. Peters (Hgg.), Retextualisierung inder mittelalterlichen Literatur, Sonderheft ZfdPh124 (2005). – F. Coulmas, Writing systems, Cam-bridge 2003. – H. Haarmann, Universalgeschichteder Schrift, Frankfurt a. M./New York 1990. – C.Kiening, Zwischen Körper und Schrift, Frankfurta. M. 2003. – J.-D. Müller (Hg.), ,Aufführung‘ und,Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit, Weimar1996. – M. Stingelin (Hg.), Zur Genealogie desSchreibens, 3 Bde., München 2004 – 2006.

Susanne KöbeleVI. TextlinguistischSchreiben ist eine Tätigkeit, bei der Sprach-benutzer (= Schreiber) Gedanken verschrift-lichen, also mit geeignetem Werkzeug undnach bestimmten Regeln als sichtbare Zei-chen (Schriftzeichen) auf einem materialenZeichenträger festhalten. So entstehen ausflüchtiger Sprache !Texte als fixiertesprachliche Gebilde. Dies geschieht in Pro-zessen; der Schreibprozess ist ein vorwiegendzielgerichteter, mentaler und materialer Vor-gang zum Herstellen eines geschriebenenTextes (D. Perrin et al.). Schreibende könnenindividuelle und kommunikative Ziele ver-folgen: Epistemisches Schreiben z. B. entlas-tet beim Denken, mit verschriftlichten Ge-danken kann man sich auseinandersetzen,etwa in brainstormings mit mindmaps. Beimmnemotechnischen Schreiben dient Ver-schriftlichtes als Erinnerungshilfe (s. Ein-kaufszettel). Schließlich ist ein Text aber auchanderen zugänglich, an anderen Orten zuanderen Zeiten. Kommunikatives Schreibenlöst den Gedanken vom !Autor und derProduktionssituation und ermöglicht Ver-ständigung über Zeit und Raum hinweg, mitbekannten und unbekannten !Lesern (O.Ludwig, 11 – 21).

Jeder Schreibprozess enthält Lesepro-zesse, man liest bestehende Texte als !Quellen für den neuen Text, und man liestTeile dessen nach, was man geschrieben hat.In früh verbreiteten Modellen des Text-produzierens kommen diese Leseprozessenicht ausdrücklich vor. Andere und v. a. jün-gere Ansätze betonen aber den Stellenwertund die vielfältigen Funktionen des !Lesensbeim Textproduzieren, und zwar für alle

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Ebenen der Textproduktion, von der Gra-phomotorik über Formulierungen bis hinzum Arbeiten an Textteilen und ganzenTextversionen (E.-M. Jakobs/D. Perrin). Sowird Schreiben in der Angewandten Linguis-tik modelliert als vielschichtiges Zusammen-spiel von Schreib- und Leseprozessen – ein-gebettet in übergreifende kognitive undsoziale Praktiken. Ein Schreibprozess be-ginnt mit dem Verstehen der Aufgabe undendet mit der Vermittlung des fertigen Pro-dukts. Dazwischen durchläuft der Prozessrekursive, sich überlappende Phasen derSinnfindung, Planung, Steuerung und Kon-trolle des Schreibprozesses, mit je typischemFokus der Aufmerksamkeit auf Tätigkeitenunterschiedlicher Reichweite und Komplexi-tät, vom graphomotorischen Erzeugen ein-zelner Schriftzeichen bis zum Auswechselnganzer Textversionen.

Bibliographie: E.-M. Jakobs/D. Perrin, Training ofwriting and reading, in: G. Rickheit/H. Strohner(Hgg.), Handbook of communication competence,Berlin/New York 2008, 359 – 393. – O. Ludwig,Geschichte des Schreibens, Berlin 2005. – D. Perrinet al. (Hgg.), Schreiben, Wiesbaden 2002.

Daniel PerrinVII. PhilosophischRede und S. bilden die Grundformen, indenen sich !Sprache entäußert. Die S. bildetein System von Zeichen, die auf einanderverweisen; als Sprache geht sie stets über iso-lierte Zeichen hinaus. Im Unterschied zurRede ist die Darstellung und Erkenntnisdurch S. unabhängig von den Bindungen aneine Sprecherintention, einen Adressaten unddie Kontexte der Sprechsituation. Die Bin-dungs- und Kontextfreiheit ermöglicht eineGedächtnisfunktion, die die S. vor der Redeauszeichnet. Die S. erlaubt es, auf !Bedeu-tungen in dreifacher Weise zurückzukom-men: Bedeutungen können zum Zweck fort-scheitender Analyse, !Interpretation undBefragung verfügbar gehalten werden; eben-so um ausgeschlossene, ungenutzte und ver-gessene Alternativen zu entwickeln; undschließlich um sie in kritischer Absicht inDistanz zu stellen, diskursiv zu überprüfenund zu korrigieren. Ermöglicht wird dieBindungs- und Kontextfreiheit durch dieMaterialität der S., die sich hinsichtlich ihres

atemporalen Bestands sowohl von der Flüch-tigkeit als auch der unmittelbaren Präsenz desMündlichen abhebt. Zwei unterschiedlicheWertungen dieser skripturalen Eigenschaftwerden vertreten. Gemäß der SchriftkritikPlatos verhält sich die S. zur Rede wie einEntfremdetes zum Reinen, wie ein Abgelei-tetes zum Ursprünglichen (!Mündlichkeit).Die dekonstruktive Umwertung (J. Derrida)dieser traditionellen Hierarchie dagegen er-hebt die S. zum Paradigma der Sprachlichkeitüberhaupt. Die Wiederholbarkeit (itérabilité)des Zeichens verweist darauf, dass Bedeu-tungen im einzelnen Akt ihres Mitteilens und!Verstehens nicht aufgehen, sondern dar-über hinaus unausgeschöpft, interpretati-onsbedürftig und brüchig bleiben. Das Zei-chen ist deshalb weder neutrales Gefäß nochVehikel für Bedeutungen, als seien diese vor-gegeben und nur nachzuvollziehen. Zeichensind vielmehr der ursprüngliche Ort, vor demes keine Bedeutung gibt und von dem ausdurch ihre Deutung sich Bedeutungen ersterschließen. S. setzt sich dabei nicht aus ge-gebenen Zeichen zusammen, sondern wird alsein ursprüngliches Schreiben vollzogen. Ein!Text ist deshalb erstens keine Verschriftli-chung eines Sagens, sondern die unhinter-gehbare Transkription einer ursprünglichenS., die eine Voraussetzung für Bedeutung ist.Zweitens ist diese ursprüngliche S. nicht dasErgebnis einer intentionalen Niederschrift,sondern ein objektives Sich-Schreiben,Selbsthervorbringen von S.

Bibliographie: E. Angehrn, Interpretation undDekonstruktion, Weilerswist 2003. – J. Derrida,L’écriture et la différence, Paris 21979. – Ders., De lagrammatologie, Paris 1967. – Ders., La voix et lephénomène, Paris 1967. – H. Günther/O. Ludwig(Hgg.), Schrift und Schriftlichkeit, 2 Bde., Berlin1994. 1996. Tilo Wesche

Schrift/SchriftprinzipI. AlttestamentlichDer allgemeine Begriff ,S.‘ im AT selbst decktsich mit dem Begriff!,Buch‘ (sefer) und kannsowohl ,Buchrolle‘ (Jer 25,13) als auch ,Do-kument‘ (Dtn 24,1), ,Brief‘ (2 Kön 5,7),,Schriftart‘ (Dan 1,4), aber auch !,Heilige S.‘(!Bibel) bedeuten. Im Sinne einer autorita-tiven, Heiligen S. kann zurecht von einem den

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Glauben fundierenden Schriftprinzip dieRede sein (!Hebraica veritas). Spuren davonsind bereits innerhalb der !Tora zu finden(das Buch Dtn als Novellierung des Bundes-buches Ex 20,22 – 23,33). Das Schriftprinzipwird aber auch in Texten vorausgesetzt, dieauf eine vorhandene Heilige S. verweisen, undsein Niederschlag ist in der literarischen Ge-stalt des atl. !Kanons selbst überliefert.

In Dan 9,2 ist die Rede von einer Untersu-chung ,der S.en‘, die sich auf eine Auslegungvon Jer 25,12 f. bezieht. Im prophetischenText selbst heißt es, dass Jeremias Worte ineinem Buch aufgezeichnet wurden, was of-fenbar in der hellenistischen Zeit als Teil derprophetischen Sammlung (Dan 9,6; 2 Chr36,15 – 16) aufgefasst wurde, die Daniel zurDeutung der Dauer des Exils vorlag. Hierwerden die aktuellen Umstände des 2. Jh.sv. Chr. anhand des Prinzips der bleibendenGültigkeit von prophetischen S.en erklärt.Schon früher begegnet das Schriftprinzip mitVerweis auf die Tora. Die kultische Reorga-nisation in Jerusalem wird in der persischenZeit gemäß dem ,was geschrieben steht imGesetz des Mose‘ unternommen (Esra 3,2).Esra selbst war ein ,Schriftgelehrter‘, der sichin der ,Tora des Mose‘ auskannte (Esra 7,6;Neh 12,26 – 36) und im Auftrag des Königs einExemplar mitbrachte (Esra 7,14). Diese S. wardie Grundlage seiner Untersuchungen undwurde als Lehrbuch für die Kultgemeindeverwendet (Esra 7,10). Neh 8 zeigt, dass die ,S.der Tora‘ als kultischer Lesetext (Vv.1 – 6)sowie als Unterrichtstext von Priestern undLeviten (Vv.8 – 10) verwendet wurde.

Desgleichen wird das Schriftprinzip durchdie Verschriftlichung der Prophetenbotschaftselbst vorausgesetzt. Da die Verkündigungder vorexilischen Propheten umso aktuellerwurde, als die politischen Ereignisse ihnenRecht gaben, wurden ihre Worte aufgezeich-net und wiederholt aktualisiert. Aber damitsetzt die Schriftensammlung der HinterenPropheten zugleich auch die Tora voraus (!Tanach,!Buch). Die prophetischen Gerichts-und Heilsworte gehen von den Weisungen derTora aus und korrespondieren mit den Se-gensverheißungen und Fluchandrohungender Tora. Daher hörte die Prophetie am Endedes 5. Jh.s auf, weil die Kriterien der prophe-

tischen Beurteilung des Volkslebens nunmehrals S. vorlagen und nur auslegungsbedürftigwaren. Auslegung einer schriftlichen Tradi-tion drückt ein existierendes Schriftprinzipaus und verschafft die Bedingungen für des-sen weitere Entwicklung (!Auslegung).

Die Sammlung der historischen Bücherheißt die Vorderen Propheten, weil dasSchriftprinzip auch für sie gilt. DasInterpretationsprinzip, das das Deutero-nomistische Geschichtswerk auf die Ge-schichte Israels anwendet, lag im Dtn vor.Das Prinzip manifestiert sich aber auch imdritten Teil der hebräischen Bibel (!Ka-nongeschichte), wo ebenso klar ist, dass dieTora die literarische Mitte des hebräischen ATist. Nicht nur in Chr und Esra-Neh (s. o.),sondern auch im Psalter ist das unverkennbar.Die fünf Bücher menschlicher Antworten (Pss1 – 41; 42 – 72; 73 – 89; 90 – 106; 107 – 150)fungieren als Pendant zu den fünf Büchernder göttlichen !Offenbarung in der Tora.

Das alles dient der Deutung vorliegenderheiliger S.en, die aufgrund des Prinzips ihrerdauerhaften Gültigkeit ausgelegt werden.Obwohl das Schriftprinzip in Israel noch nichtso fest umrissen war wie im späteren Juden-tum und in der frühen Kirche, hat die atl.Redaktionskritik die Wurzeln aufgedeckt, andenen sich die Hermeneutik orientierenmuss, wenn es in der Theologie um ,solascriptura‘ gehen soll.

Bibliographie: C. Dohmen/G. Stemberger, Her-meneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testa-ments, Stuttgart 1996. – O. Kaiser, Der Gott desAlten Testaments, Bd. 1, Göttingen 1993, 300 – 353.– R.G. Kratz, Innerbiblische Exegese und Redakti-onsgeschichte im Lichte empirischer Evidenz, in:M. Oeming et al. (Hgg.), Das Alte Testament und dieKultur der Moderne 8, Münster 2004, 37 – 69. – T.Söding, Mehr als ein Buch, Freiburg 1995.

James Alfred LoaderII. NeutestamentlichWenn im Urchristentum von aR cqava¸ dieRede ist, wird auf die jüdisch vorgeprägteSprachwelt rekurriert. Die singularische Ver-wendung B cqav¶ bezieht sich zwar zunächstauf eine einzelne Stelle, dann aber im NT, wieim hellenistischen Judentum, auch auf dieganze S. Durchgängig bleibt die Wendungc´cqaptai für die Kennzeichnung einzelner

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Stellen reserviert. Die Rede von der S., denS.en ist ohne nähere Eingrenzung möglich,weil Urchristentum und Judentum der !,Heiligen S.‘, den ,heiligen S.en‘ einen festenOrt innerhalb des Gottesdienstes zuwiesen.Bereits in seiner vorchristlich-synagogalenForm war die Schriftlesung eine standardi-sierte Größe. Die Kennzeichnung als ,heilig‘verleiht der S. inspiriert-exklusive Bedeutungund macht sie zur kriteriologischen Basis-norm religiösen Wirklichkeitsvollzugs (vgl.Röm 1,2 und 2 Tim 3,15). Im Prozess der !Kanonisierung wird dieser Status nachgängig(rechts-)verbindlich bestätigt. Die Vielfalt derbiblischen Überlieferungen erhält eine ei-nende Klammer.!Tora, Propheten (!prophetische Litera-

tur) und !Psalmen waren die Grundlage ur-christlicher Verkündigung und wurden alsHeilige S. mit Verbindlichkeitscharakter ein-gestuft. Mit sprachlich-textlinguistisch ver-siertem überlieferungs- und traditionsge-schichtlichem Instrumentarium lässt sich dieenge Verzahnung des frühen Christentumsmit den Vorstellungswelten des AT diachronund synchron aufweisen. Entscheidend sinddabei auch die Markierungen des Übergangsvon mündlichen Überlieferungsformen zur!Schriftlichkeit. Im NT erfolgt die Aufnah-me atl. !Zitate und Motive in unterschiedli-cher Form: durch direktes, formelhaft einge-führtes Zitat aus uneingeschränkt anerkann-ten S.en (Reflexionszitate), durch nichteinge-führte Zitate, die aber die atl. Vorlage ein-deutig erkennen lassen, sowie durch (expli-zite) Anspielungen auf bestimmte Texte,Motive, Personen. Einige Klassifizierungen,die die Aufnahme des AT im NT als !Me-thode urchristlicher Schriftauslegung näherdifferenzieren, haben sich in der theologie-und auslegungsgeschichtlichen Entwicklungherausgebildet: die allegorische, die paradig-matische und die typologische Auslegungsowie die heilsgeschichtliche Perspektive undeine Betrachtung, die dem eschatologischmotivierten Schema von Weissagung und Er-füllung folgt. Diese methodischen Zugängesetzen eine innere Einheit beider Testamentevoraus, die im Glauben nachzuvollziehen ist.Atl. und ntl. Theologie lassen sich nicht ge-geneinander ausspielen. Die Frage nach dem

AT im NT ist somit immer auch diejenigenach dem Zusammenhang von Juden- undChristentum.

Die ntl. Überlieferung ist durch eine fa-cettenreiche Vielfältigkeit geprägt, die einSpannungsnetz über den !Kanon legt. Sounterschiedlich sich die einzelnen Textegeben, so deutlich bringen sie doch eine ge-meinsame auf Christus ausgerichtete Ver-kündigungsbotschaft und ein gemeinsamesGrundbekenntnis zum Ausdruck. Darauffußen alle weiteren Entwicklungen. Die For-meln ,Kanon im Kanon‘ und !,Mitte der S.‘helfen, in der Vielfalt der Verkündigungsachliche Konvergenz zu kreieren. Entspre-chend ist es die Aufgabe der Dogmatik alshistorisch-kritisch angeleitete ,konsequenteExegese‘ (E. Jüngel) und theologische Refle-xion, den vielgestaltigen Überlieferungsbe-stand der ,Heiligen S.‘ des Urchristentumsgegenwärtig zu verorten und zu behaupten.Das im Glauben aufzunehmende eine Heils-handeln Gottes spiegelt sich so im Rückgriffauf die Tradition wider, die immer am Be-stand der als einzige normative Autoritätverstandenen S. prinzipiell zu überprüfen ist.Die lebendige Lehrentwicklung in Kirche undTheologie weiß sich demnach stets eigenerAbsolutsetzung enthoben und hat in der S.ihren ideologiekritischen Maßstab. Mit demBegriff ,Heilige S.‘ ist der besondere Ansprucherhoben, Ausdruck der!Offenbarung Gotteszu sein, wodurch den biblischen Texten eineDignität zugeschrieben wird, die im Hinblickauf Hermeneutik, Auslegung und Anwen-dung stets aufs Neue Konflikte mit der (his-torischen) Vernunft provoziert.

Bibliographie: J. Barton/M. Wolter, Die Einheitder Schrift und die Vielfalt des Kanons, Berlin/NewYork 2003. – K. Berger, Hermeneutik des NeuenTestaments, Tübingen u. a. 1999. – J.D.G. Dunn,Unity and diversity in the New Testament, London32006. – F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments,2 Bde., Tübingen 22005. Alf Christophersen

III. KirchengeschichtlichZunächst ist auf die Stellung und Form der S.im Protestantismus und im römischen Ka-tholizismus zu achten. Während die Refor-matoren mit der Lehre des ,sola scriptura‘ dieprimäre und einzige Quelle theologischer

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Aussagen in der S. fanden, ist in der römisch-katholischen Kirche ein Nebeneinander derS., der kirchlichen Tradition und des kirchli-chen Lehramts gültig, wobei in neuerer Zeitdie Priorität der S. in der römisch-katholi-schen Bibelwissenschaft oft hervorgehobenwird. Im Protestantismus werden das äußereWort (verbum externum) und das gewissma-chende innere Zeugnis (testimonium internum)unterschieden, wenn man eine historischeund kritische Bibelwissenschaft begründenwill. Diese orientiert sich an neuzeitlicher !Hermeneutik, bedarf aber für die Verkündi-gung der Realinspiration, die nicht – wie inder Verbalinspiration – die Form und denInhalt der S. als durch die Autorität des Hei-ligen Geistes inspiriert identifiziert, sonderndas Kerygma bzw. das Zeugnis als Wahrhaf-tigkeit und Wahrheit der S. heraushebt. Sokann die praedicatio verbi sowohl die kritische!Exegese als auch das kritische Zeugnishervorheben. Beide zielen auf die viva voxevangelii, welche die Gewissheit (certitudo an-stelle von securitas) der Predigt erst ermög-licht.

M. Luther gab die S. in die Hände und denVerstand des Volkes, indem er sie vollständigins Deutsche übertrug. Seine Schriftübertra-gung wurde sprachschöpferisch. Hier hat dieVolkssprache ihre theologische Bedeutung –gleichermaßen für den !Gottesdienst, diestille Schriftlektüre zu Hause und das Studi-um. „So ists um die heilige Schrift bestellt;wenn man meinet, man habe sie ausgelernt,so muß man erst anfangen“ (WA 49; 223,8 f.).

Luther legte die S. christologisch aus. Derwesentliche Inhalt der S. ist Christus. Daherist von einer doppelten Klarheit der S. zusprechen: Die claritas scripturae externa bestehtin der Eindeutigkeit ihrer wesentlichen Aus-sagen, während die claritas scripturae internaaus der Erkenntnis der biblischen Aussagenmit Hilfe des Geistes folgt. Aufgrund derKlarheit der S. gilt der Grundsatz, dass die S.sich selbst auslegt. Die S. ist „per sese certissima,facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omniumomnia probans, iudicans et illuminans“ (WA 7;97,23 f.). Lehramt, Tradition und Dogma derKirche können also nicht über die Auslegungder S. entscheiden. Auch der Kanon der bi-blischen Bücher ergibt sich einzig und allein

aus deren Christusbezogenheit und nichtetwa aus der Tradition. Luther ging es um dienicht durch kirchliche Tradition gebrocheneVerkündigung. Eine Abwehr gegnerischerAussagen muss sich auf die Bibel stützenkönnen. Die S. darf, so Luther, nicht durchihre Interpreten verfälscht werden.

H. Zwingli vertrat ein pneumatologischesSchriftprinzip (Von clarheit unnd gewüsse oderunbetrogliche des worts gottes, 1522). Er unter-schied zwischen dem äußeren Wort und demerleuchtenden Geist. Die S. verstand Zwinglinur als ein Zeichen.

Im 20. Jh. stellte K. Barth im Blick auf dieEinheit des Wortes Gottes einen „kleine[n]Schematismus von gegenseitigen Relationen“(Kirchliche Dogmatik I/1, 124) auf: offenbartes,geschriebenes und verkündigtes Wort Gottes.Bereits J. Gerhard hatte zwischen geoffen-bartem, gepredigtem und geschriebenemWort Gottes unterschieden. Gerhard hattefreilich die biblischen Autoren als Hilfskräfte(„amanuenses“: Tractatus de Legitima ScripturaeSacrae Interpretatione, 1610, 15) des HeiligenGeistes verstanden.

Bibliographie: K. Barth, KD I/1, Zollikon-Zürich1932, 89 – 128. – A. Beutel, Wort Gottes, in: Ders.(Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 362 – 371.– G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung,Tübingen 1942 [31991]. – M. Ohst, Art. Schrift,Heilige IV., in: TRE 30 (1999), 412 – 423. – J.A.Steiger, Art. Schriftprinzip, in: RGG4 7 (2004),1008 – 1010. Uta Wiggermann

IV. Systematisch-theologischErst die protestantische Theologie des 19. Jh.shat das reformatorische Schriftprinzip zueinem Formalprinzip verkürzt und ihm dieRechtfertigungslehre als Materialprinzip desProtestantismus zur Seite gestellt. Nach M.Luther ist freilich nicht die S. als solche, son-dern die Klarheit der S. das „principium“ allerTheologie (WA 7,97,26; 7,317). Erst die vonihm vorausgesetzte äußere, die !Spracheund den Sinn betreffende, wie die innere, dieBedeutung betreffende, Klarheit der S. machtseine These, die S. sei ihr eigener Interpret,plausibel.

Die Konkordienformel (1577) hat das sog. re-formatorische Schriftprinzip folgenderma-ßen zusammengefasst: „Solchergestalt wird

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der Unterschied zwischen der Heiligen SchriftAlten und Neuen Testamentes und allen an-dern Schriften erhalten, und bleibt allein dieHeilige Schrift der einig Richter, Regel undRichtschnur, nach welcher als dem einigenProbierstein sollen und müssen alle Lehre er-kannt und geurteilt werden, ob sie gut oderbös, recht oder unrecht sein. Die andereSymbola aber und angezogene Schriften sindnicht Richter wie die Heilige Schrift, sondernallein Zeugnis und Erklärung des Glaubens,wie jederzeit die Heilige Schrift in streitigenArtikuln in der Kirchen Gottes von den da-mals Lebenden vorstanden und ausgeleget,und derselben widerwärtige Lehr vorworfenund vordambt worden“ (BSLK 769,19 – 35).Gegenüber Luthers Verständnis der claritasscripturae als Ausgangspunkt und Grund (pri-mum principium) aller Theologie beschränktsich das so formulierte Schriftprinzip aller-dings auf die kriteriologische Funktion der S.

Aufklärung und historische Kritik habennicht nur die theoretischen Voraussetzungenreformatorischer Schriftauslegung, sondernden dogmatisch-normativen Begriff der S. alssolchen in Frage gestellt. Anders als der de-skriptiv-literaturgeschichtliche Begriff,Bibel‘ impliziert derjenige der S. Singula-rität, Normativität, Autorität und Kohä-renz, welche nicht etwa in historischenEntwicklungen und kirchlichen Entschei-dungen, sondern in Gott als dem eigentli-chen !Autor ihren Grund haben. Per defi-nitionem aber kann die nachaufklärerischeGeschichtswissenschaft nicht Gott selbst,sondern lediglich das sich sprachlich äu-ßernde Gottesbewusstsein, nicht das RedenGottes, sondern lediglich die Rede von Gottund den Gottesbegriff zum Gegenstand derUntersuchung machen. Eine der histori-schen Methode verpflichtete Theologiegerät freilich in die Aporie, dass sich der vonder biblischen S. intendierte Gegenstand alssolcher – d. h. so, wie er beschrieben wirdbzw. vorgeblich sich selbst beschreibt – derhistorischen Erkenntnis grundsätzlich ent-zieht.

Rezeptionsorientierte Texttheorien ge-statten eine kritische Reinterpretation desreformatorischen Schriftprinzips, kann doch„noch dem ungläubigsten Leser [...] nichts

Besseres geraten werden als dem, der seinenHomer lesen möchte und nicht von störenderVielverfasserschaft Notiz nehmen sollte: DasGanze so zu lesen, als ob es nur den einenAutor hätte und der sich an jeder Stelle durchalle anderen Stellen erläutern und sinnberei-chern ließe“ (H. Blumenberg, 21 f.). Die An-schlussfähigkeit, die Theologie und !Exe-gese durch die Übernahme der genanntenTexttheorien vorderhand gewinnt, birgt dieGefahr in sich, die Theologie in Literaturwis-senschaft aufzulösen. Als !Heilige S. gelesensind die biblischen Texte im Christentumnicht nur klassische, sondern autoritative undnormative Texte, die zudem als Medium ge-genwärtiger Gotteserfahrung gelten. Hinterdem vieldeutigen Begriff einer ,nachkriti-schen Schriftauslegung‘ stehen recht dispa-rate Ansätze, in denen die Aporie von histo-rischer und dogmatischer !Methode wie-derkehrt, sofern die Wahrheitsfrage nichtpreisgegeben wird.

Bibliographie: H. Blumenberg, Matthäuspassion,Frankfurt a. M. 1988. – K. Huizing, Homo legens,Berlin/New York 1996. – H. Kirchner, Wort Gottes,Schrift und Tradition, Göttingen 1998. – U.H.J.Körtner, Einführung in die theologische Herme-neutik, Darmstadt 2006, 75 – 105. – J. Lauster,Prinzip und Methode, Tübingen 2004. – R. Leon-hardt, Skeptizismus und Protestantismus, Tübin-gen 2003. – B. Rothen, Die Klarheit der Schrift,2 Teile, Göttingen 1990. Ulrich H.J. Körtner

V. JudaistischDie Unterscheidung von schriftlicher undmündlicher !Tora ist für das rabbinische Ju-dentum zentral. Gott selbst hat die ersten Ta-feln geschrieben (Ex 31,18) und dies auch fürdie zweiten Tafeln zugesagt (34,1), auch wenndann Mose die Tafeln beschreibt (34,27 f.).Beim Einzug in das gelobte Land bringt Josuaauf den Steinen des Altars eine Abschrift desGesetzes Moses an, bevor er es öffentlich ver-liest (Jos 24,26 ff.?). Die Rabbinen unterstrei-chen die damit betonte wesentliche !Schrift-lichkeit der Tora durch die Aussage, dass amAbend des letzten Schöpfungstages auch,Buchstaben, Schrift und Tafeln‘ erschaffenwurden (mAv 5,6); die schriftliche Form ist Teilder Offenbarung vom Sinai, darin inbegriffendie besonderen Formen der Buchstaben k, m, n,

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ts, p und q am Wortende (yMeg 1,11,71d). WaR19,1 sieht in Hld 5,11, ,Seine Locken sind Ris-pen‘, auch schon die Linierung der Torarolleund die Zierstriche auf den Buchstaben ange-deutet; Gott selbst verziert laut bMen 29b dieBuchstaben der Tora mit ,Kronen‘, und einAusleger wie Aqiva kann jedes einzelne Häk-chen der Buchstaben der Tora für die Ausle-gung verwerten.

Zum wahren Verständnis der Tora gelangtman nur über die S. Als Israel sündigte, wurdedie Schriftform geändert und war damit dieTora nicht mehr voll verständlich. Erst Esra hatdie ursprüngliche ,assyrische‘ (Quadrat-)S.wieder eingeführt und so den Zugang zumwahren Sinn der Tora wieder ermöglicht (tSan4,7). Wer wie die Samaritaner dagegen an derfrüheren (paläohebräischen) Schreibweise fest-hält, hat zwar die Tora, kann sie aber nicht vollverstehen. Die Rückkehr zur ursprünglichen S.betrifft nicht nur die graphische Gestalt desTextes; sie gibt dem Text eine Bedeutungs-ebene zurück, die nur in dieser S. entschlüsseltwerden kann. In der Kabbala wurde späterdieses Thema so weiter entwickelt, dass auchdie jetzige hebräische S. nicht vollkommen demOriginal entspricht, die Suche nach dem tiefs-ten Sinn der Tora die Suche nach der ur-sprünglichen Idealform der Buchstaben im-pliziert, die jedoch erst am Ende der Zeitenwieder erlangt wird. Diese grundlegendeVerbindung von Schriftform und Offenba-rungsgehalt schlägt sich in den höchst detail-lierten Anweisungen für das Schreiben der li-turgisch verwendbaren Torarolle nieder, dieauch die Verzierung einzelner Buchstaben unddie Raumaufteilung genauestens regelt, jedochkeine Vokalisierung erlaubt, da diese schonAuslegung, damit Teil der ,mündlichen Tora‘ist. Dabei geht es um Tora im engen Sinn, alsoum den Pentateuch, auf den sich das Judentumbevorzugt in Fragen von Halakha und Lehreberuft.

Dieser schriftliche unvokalisierte Text ist dieGrundlage jeder !Auslegung und des wahrenVerständnisses der S. Zwar haben auch andere,v. a. Christen, die schriftliche Tora übernom-men, sie auch in andere Sprachen übersetzt.Doch ist der Vollsinn der S. nur in Hebräischund richtiger Schreibweise zugänglich; dazukommt die ebenfalls schon am Sinai gegebe-

ne und Israel allein vorbehaltene ,mündlicheTora‘, die deshalb auch als die wertvollere derbeiden Torot gelten kann (yPea 2,6,17a), unddie erst den wahren Sinn des Schrifttextes zuverstehen ermöglicht. Somit ist zwar dieschriftliche Tora die einmalige und letztgültigegöttliche!Offenbarung, deren voller Sinn sichaber nur dem erschließt, der sie über die rich-tige Schriftform und im Licht der mündlichenTora zu verstehen lernt.

Wie sehr die hebräische Schriftform das tra-ditionelle jüdische Verständnis zur !Bibel be-stimmt, ist auch daran zu sehen, dass auchdann, als die Tora in andere Sprachen wie Ara-bisch oder Jiddisch, ja sogar ins Deutsche (M.Mendelssohn) übersetzt wurde, man die he-bräische S. als die heilige und allein der Toraadäquate S. beibehielt. S. ist hier nicht nurMedium zur Bewahrung und Weitergabe desTextes, sondern hat in sich selbst Teil an Inhaltund Qualität der Offenbarung.

Bibliographie: J. Dan, Art. Sprache/Sprachwis-senschaft/Sprachphilosophie, in: TRE 31 (2000),760 – 765. – C. Dohmen/G. Stemberger, Herme-neutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testa-ments, Stuttgart 1996. – J. Müller, Masechet Sofe-rim, Leipzig 1878. – D.F. Sawyer, Midrash AlephBeth, Atlanta 1993. Günter Stemberger

VI. IslamwissenschaftlichDer !Koran gilt seit langem als sprichwört-liches Beispiel einer heiligen S. Das schriftli-che Offenbarungszeugnis – al-kitab (,die S.‘) –,welches der Koran selbst ist, begründet undbestätigt zugleich das ProphetentumMuÎammads (vgl. 2:89); allein ,die S.‘ kanndie Menschen zum Glauben führen (Q 17:93).Grundlegend für das koranische Verständnisist, dass eine S. nicht über Gottes Offenbarungberichtet, sondern diese – als sprachlicheEpiphanie Gottes – selbst ist ; in diesem Sinndeutet der Koran auch die biblischen S.en (!Bibel). Zutreffend ist auch, wenn man hin-sichtlich des Korans von ,Inlibration‘ (,Buch-werdung‘) spricht, denn die Rolle der islami-schen S. ist aufgrund der ihr zugesprochenen,göttlichen Wesenhaftigkeit‘ nicht den bibli-schen S.en analog, sondern dem inkarniertenGott-Christus; J. Wyclifs Diktum von Christusals „liber vitæ“ kann diese Analogie veran-schaulichen.

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Notorisch schwierig ist die Verwendungdes Begriffs al-kitab im Koran: Einerseits be-zeichnet er die !Tora (Q 2:53, 11:110, 28:43u. ö.) bzw. in einem weiteren Sinn die Bibel(vgl. Q 3:184, 35:25), so auch in ahl al-kitab,,die Leute der S.‘ (d. h. Juden und Christen).Andererseits benennt al-kitab selbstreferenti-ell die koranische Offenbarung, wobei diesevon einer ,himmlischen Urschrift‘ (umm al-kitab, Q 3:7, 13:39, 43:4) abhängig gedacht ist.Es ist nicht geklärt, ob mit dieser Urschriftder ,himmlische Archetyp‘ der Offenba-rungsschrift oder ein ,Schicksalsbuch‘, in demdas Weltgeschehen verzeichnet ist, gemeintist; zahlreiche Verse im Koran besagen, dassDinge in einer ,S.‘ (kitab) festgehalten – undsomit vorherbestimmt – sind (Q 10:61, 11:6,35:11 u. ö.); nach Q 3:7 enthält der Koranmehr als diese ,Urschrift‘. Die koranischenHinweise auf ein ,(bei Gott) verwahrtes Buch‘(kitab maknun, Q 56:78) sowie die ,wohlver-wahrte Tafel‘ (lauÎ maÎfuÛ, Q 85:22), welcheden Koran enthalte, werden üblicherweise aufdie ,Urschrift‘ bezogen. Problematisch istauch der Ausdruck ,die S. und die Weisheit (?)‘(al-kitab wa-l-Îikma: Q 2:129, 3:48, 4:54, 113,5:110 u. ö.), in welchem al-kitab eine nichtnäher bestimmte S. bezeichnet – jedenfallsnicht an allen Stellen den Koran.

Die spätere islamische Tradition unter-scheidet zwischen dem Koran als ,S.‘ – d. h.der ,im Original‘ bei Gott befindlichen ,Ur-schrift ‘ – und als ,Codex‘ (muÒÎaf), d. h. derauf Erden vorhandenen ,Abschrift‘, womitkonkret alle Koranexemplare gemeint sind:„Der Koran als Gotteswort nimmt die irdischeForm einer heiligen S. an“ (W.A. Graham). Daskoranische Schriftverständnis wird im Islamflankiert durch eine quasi-mystische Über-höhung des !Schreibens und des Schreib-rohrs (qalam, vgl. Q 68:1, 96:4 f.), wobei letz-teres die Fähigkeit des Menschen, zu Wissenzu gelangen, symbolisiert. Nicht zuletzt dieislamische Kunst ist in ihrem ornamentalenCharakter bis in die Neuzeit von der Bedeu-tung des Schreibens geprägt.

Die zentrale Rolle des Korans als S., ,diealles enthält‘ – vgl. Q 6:38 („Wir [d. h. Gott]haben in der S. nichts übergangen“) und16:89 („Wir haben die S. auf dich [d.h. denPropheten] niedergesandt, um jegliche Sache

deutlich zu machen“) –, hat im Islam zueinem sehr spezifischen Schriftprinzip ge-führt: Der Koran ist idealiter stets Ausgangs-punkt, nicht jedoch Endpunkt des menschli-chen Nachdenkens und Wissens über Gottund die Welt. Obwohl allumfassend, ,ein-deutig-klar‘ (Q 5:15, 12:1) und ,ohne Zwei-felhaftigkeit‘ (vgl. Q 2:2), spricht der Koranaufgrund seiner sprachlich komplexen, sti-listisch variablen und inhaltlich oft knappenAusdrucksweise nicht ausreichend aus sichselbst, weshalb er als scriptura nicht nur ,aus-gelegte‘, sondern immer auch kommentierteS. ist (!Auslegung). Die in der Moderne ver-breiteten Slogans ,Der Koran ist unsere Ver-fassung‘ oder ,Wer einen Beweis benötigt,dem ist der Koran Genüge‘ (so der Titel einesBuchs des populären ägyptischen PredigersKisk) besagen nicht, dass der Koran alleinGrundlage des Glaubens oder der Gesell-schaftsverfassung ist; sie besagen, dass nichtsohne Bezug zum Koran behandelt werdenkann oder soll. Die grundsätzliche Ausle-gungsbedürftigkeit des Korans bewirkt imGegenteil, dass das Schriftprinzip oft nurfunktional aufrechterhalten bleibt, weil einbestehender Textbezug keineswegs garan-tiert, dass Auslegung oder Kommentar denmöglichen Sinnhorizont des Korans nichtüberschreiten.

Bibliographie: Al-Kitâb. La sacralité du texte dansle monde de l’islam, Brüssel/Leuven 2004. – K.Cragg, The event of the QurÞan, Oxford 21994. – W.A.Graham, Das Schriftprinzip in vergleichender Sicht,in: A. Giese/J.C. Bürgel (Hgg.), Gott ist schön, FS A.Schimmel, Bern 1994, 209 – 226. – Ders., Art.Scripture and the QurÞan, in: EI 4 (2004), 558 – 569.– A. Jeffery, The QurÞan as Scripture, New York1952. – D. Madigan, The Qur’ân’s self-image,Princeton 2001. – Ders., Art. Book, in: EQ 1 (2001),242 – 251. – F. Rosenthal, Significant uses of Arabicwriting, in: Ders., Four essays on art and literaturein Islam, Leiden 1971, 50 – 62. – S. Wild (Hg.), TheQurÞan as text, Leiden 1996. – Ders. (Hg.), Self-re-ferentiality in the QurÞan, Wiesbaden 2006.

Marco SchöllerVII. Altphilologisch!Schrift/Schreiben/Schreiber

VIII. Textlinguistisch!Schrift/Schreiben/Schreiber

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SchriftlichkeitI. AlttestamentlichS. steht im Gegensatz zur !Mündlichkeitund bezeichnet in einem bestimmten Zei-chensystem (z. B. Keilschrift, phönizische Al-phabetschrift, Hieroglyphen) fixierte Äuße-rungen. S. setzt besondere Medien (Schreib-werkzeug, Schriftträger) voraus, die alssolche Gegenstand der Schriftforschungsind. Schriftentwicklung und -duktus semi-tischer bzw. griechischer !Schrift behandeltdie Epigraphik; !Stilistik und Form der S.untersuchen Stil- und Gattungsforschung. ImRahmen des grundsätzlich sekundären Cha-rakters der S. gegenüber Mündlichkeit in an-tiken Kulturen bleibt es bei einem Neben-einander. Die spezifische Eigenständigkeitvon S. und Mündlichkeit prägt sich form- undkontextabhängig, kulturspezifisch und his-torisch unterschiedlich aus. Der S. als Über-lieferungsform im engeren Sinne liegen un-terschiedliche Ursachen zugrunde. Der Drangzur S. kann begründet sein (1) in der Text-pragmatik, z. B. bei (vertrags-)rechtlicher Re-levanz eines Schriftstücks, im diplomatischenVerkehr, bei Siegeln, Münzen, (2) in derWirkabsicht, z. B. bei der herrschaftslegi-timatorischen oder dokumentarischenFunktion von (Bau-)Inschriften, (3) in derreligiösen Relevanz (z. B. Omina, Magie,Prophetenworte), (4) in der Intention derSammlung oder Kodifikation (z. B. vonSentenzen, Rechtssätzen) als Form der Spei-cherung oder Verfügbarkeit von Wissen, (5) inder Schulung und Erlernung der Schrift (z. B.Übungstexte).

Trotz meist textpragmatischer Funktionensetzt S. in der Antike zwingend weder!Lesernoch Lesekundigkeit potentieller Rezipientenvoraus; eine textpragmatische Funktion fehltetwa in der durch ihre Höhe dem Betrachterentzogenen Inschrift des Darius in Behistun/Bisutun.

S. in der Bibel muss auf dem Hintergrundverschiedener altorientalischer, ägyptischerbzw. griechisch-ägäischer Schriftkulturen er-klärt werden, wobei die Relevanz der S. alsÜberlieferungsform in verschiedenen Kultur-und Traditionsbereichen des fruchtbarenHalbmondes sowie in Anatolien und Grie-

chenland variiert. Zeugnisse der S. (z. B. Bau-,Weih-, Grabinschriften, !Briefe) finden sichaus dem bronze- und eisenzeitlichen Palästi-na, z. B. Mescha-Stele; Bileam-Inschrift;Ostraka aus Arad, Lachisch, Samaria; TellDan-Inschrift; Kuntillet Ajrud; Siloah-Tun-nel-Inschrift Jerusalem. Zeugnisse für S. las-sen sich zudem noch in weitere Kategorieneinteilen: formal in Prosa/Poesie, nach Träg-ergruppe bzw. Traditionsbereichen: Prophe-ten, Priester, Königshof, Weisheitslehrer,bzw. nach ihrem literargeschichtlichen Statusz. B. als !Quelle, Fortschreibung, Kommen-tierung (!Kommentar), Glosse.

Gegenwärtige Entwürfe (S. Niditch, D.Carr) nehmen eine Interdependenz vonMündlichkeit und S. (oral-written interface) anund betonen die Schnittstelle zwischen bei-den in mnemotechnischer und in kulturver-mittelnder Hinsicht. Dem entspricht die Prä-valenz des mündlichen Vortrags in epischerund dramatischer Dichtung im Griechenlanddes 5./4. Jh.s, wobei S. weitgehend die Funk-tion des Korrektivs der Mündlichkeit zu-kommt.

Bibliographie: D. Carr, Writing on the tablet of theheart: origins of scripture and literature, Oxford2005. – S. Niditch, Oral world and written word,Louisville 1996. – O.H. Steck, Exegese des AltenTestaments (1971), Neukirchen-Vluyn 121989, 62 –74. Klaus-Peter Adam

II. NeutestamentlichWie schon das Judentum gehört das Chris-tentum zu den großen Schriftreligionen, ba-siert also wesentlich auf S. (!Septuaginta als,Bibel‘ des frühen Christentums), der aber imEntstehungsprozess der ntl. !Evangelien,der Apg und zumindest einzelner Briefteile(z. B. 1 Kor 11,23 – 25) und der Offb !Mündlichkeit vorausgeht. Zugleich ist S. einewesentliche Voraussetzung für die Entste-hung des ntl. Schriftencorpus.

Die textlinguistischen Grundsätze, dass S.Informationsweitergaben an räumlich ent-fernte Rezipienten ermöglicht und eine viellängere Dauer als Mündlichkeit garantiert,erweisen sich z. B. anhand ntl. Briefe, die denräumlich abwesenden !Autor vertreten sol-len und deren exakte Textrezeption am

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Empfangsort und darüber hinaus beliebigwiederholbar und zeitlich nicht begrenzt ist.Die räumliche Verbreitung über den ur-sprünglichen Empfängerort hinaus kann be-reits durch den Schreiber intendiert sein (Kol4,16), wird aber durch Aktivitäten auf derEmpfängerseite (evtl. auch gegen die Absichtdes Schreibers) konkret bestimmt (Lesen, Ko-pieren, Weitergeben). Darauf basiert wesent-lich die Kanonbildung als Ausdruck undFolge der besonderen Wertschätzung ausge-wählter !Texte.

S. zielt nicht nur – wie Mündlichkeit auch –auf ein!Verstehen, sondern bedarf des (Vor-)!Lesens (!macim¾sjy) als Voraussetzung des(!Hörens und) Verstehens ([1pi]cim¾sjy ; be-achte Apg 8,30). Bereits die Paulusmissionbasiert neben der Mündlichkeit der Verkün-digung wesentlich auf dem DreischrittSchreiben – Lesen – Verstehen (vgl. 2 Kor1,13).

Das gegenüber der Mündlichkeit bedeu-tend höhere Maß an Dauerhaftigkeit er-schwert gleichzeitig eine nachträgliche Än-derung des schriftlichen !Textes (finanziell,psychologisch usw.; vgl. Joh 19,22). So lässt S.ein höheres Maß an Verstehbarkeit (auchhinsichtlich Orthographie und Syntax) sinn-voll, wenn nicht sogar notwendig erscheinen,als dies bei Mündlichkeit der Fall ist. DieKlärung von Konflikten und !Miss-verständnissen allein auf schriftliche Weisegestaltet sich aufgrund der zeitlichen undräumlichen Distanz sowie der Zwischenräu-me zwischen den einzelnen Beiträgen derbeteiligten Parteien (auch aufgrund der Kos-ten für Schreibmaterial und Boten) aufwen-diger und komplizierter, so dass in solchenFällen die S. der Mündlichkeit eindeutig un-terlegen ist und nur bedingt einen Ersatzbietet (vgl. insgesamt 1 und 2 Kor; bes. 1 Kor5,3; 2 Kor 10,1. 11; 13,2. 10).

Bibliographie: E.-M. Becker, Schreiben und Ver-stehen, Tübingen/Basel 2002, 104 – 117. – S. Lü-cking, „Die vielen Buchstaben treiben dich in denWahnsinn“ (Apg 26,24), in: A. Leinhäupl-Wilke/S.Lücking (Hgg.), Fremde Zeichen, Münster 1998,115 – 130. – G. Sellin/F. Vouga (Hgg.), Logos undBuchstabe, Tübingen 1997. Peter Arzt-Grabner

III. AltphilologischVon Erkenntnissen zur frühgriechischenKultur ausgehend stellen in der zweitenHälfte des 20. Jh.s Kulturanthropologie,Medienwissenschaften und Klassische Phi-lologie weitreichende Konsequenzen derEinführung von S. in einer mündlichenGesellschaft fest. Der Übergang von !Mündlichkeit zu S. gilt als Triebfeder ge-sellschaftlicher Prozesse, da S. Objektivie-rung, Fixierung und Akkumulation vonWissen für Zeiten und Räume jenseits vondessen ursprünglicher Entstehungssituati-on erlaubt und dadurch zur Entwicklung vonLogik, Kritik und Theorie führt. Altertums-wissenschaftliche Forschungen neuesten Da-tums bringen Differenzierungen in der Be-wertung der Bedeutung von S. an. Spezifikader griechischen Gesellschaft, nicht nur dieKommunikationstechnologie, sind als Vor-aussetzung für die intellektuelle Entwicklungzu beachten. Die Einführung der !Schriftverbindet sich mit weiteren Faktoren, die sichwechselseitig bedingen und verstärken (wiepolitischer Pluralismus, agonistische Adels-gesellschaft, Brüche in der Ausbildung einerPolisgesellschaft, Ausweitung des geographi-schen Horizonts, Fehlen von Deutungsmo-nopolen über Texte). Große Bedeutungkommt der S. für die griechische Ethnogenesezu. Besonderes Interesse widmet die Klassi-sche Philologie den literarischen Konsequen-zen der S. Infolge der S. entsteht durch dieVorsokratiker im 6. Jh. v. Chr. das Prosabuch.Die !Texte sind zum langsamen Lesen ge-schrieben, nicht mehr zur auralen Aufnahme.Ein seinen Stoff ordnender und abwägenderErzähler tritt zurück (Thukydides). Das Po-tenzial der Schrift, Wissen zu akkumulierenund dadurch weiteren Wissensfortschritt inGang zu bringen, führt ab dem späten 4. Jh.mit Aristoteles und seiner Schule zur Ent-wicklung der Wissenschaft (Aufblühen vonPhilologie, Naturwissenschaft, Medizin, Ge-schichtsschreibung, Philosophie). Die poeti-sche Literatur wird von der Darbietungssi-tuation getrennt. Die Schrift erlaubt bishernicht erreichtes Raffinement und größere,respondierende Gebilde. Feinsinnige Kom-position und Anspielungsreichtum der helle-nistischen Dichtung sind nur durch schriftli-

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che !Rezeption denkbar. Damit einher gehtdie Entstehung einer wissenschaftlichen Be-schäftigung mit Texten (Philologie). S. be-wirkt besonders im Lateinischen eine Aus-einanderentwicklung von schriftlicher Lite-ratursprache und mündlicher Alltagssprache.Die Rekonstruktion einer Umgangsspracheerweist sich heute als schwierig, handelt essich doch bereits bei der der Mündlichkeit amnächsten stehenden Sprache der Komödie umliterarische Formung umgangssprachlicherElemente.

Bibliographie: Ø. Andersen, Mündlichkeit undSchriftlichkeit im frühen Griechentum, in: Antikeund Abendland 39 (1987), 29 – 44. – J. Assmann, Daskulturelle Gedächtnis, München 52005. – A. Bag-ordo, Beobachtungen zur Sprache des Terenz, Göt-tingen 2001. – E.A. Havelock, Als die Muse schrei-ben lernte, Berlin 2007 [engl. New Haven/London1986]. – J. Latacz (Hg.), Homers Ilias, München/Leipzig 2000. Jochen Schultheiß

IV. LiteraturwissenschaftlichS., der Effekt von Schriftgebrauch, gehört inkommunikationstheoretischer Sicht zu denHandlungen !,Schreiben/!Lesen‘ (im Kon-trast zu !,Sprechen/!Hören‘). Forschungs-geschichtlich zentral wird seit den 1970erJahren die medientheoretische Perspektivie-rung von S. Die jüngere Mediendiskussiongeht davon aus, dass ,S.‘ und !,Mündlich-keit‘ weder systematisch noch historisch ein-fache Alternativen darstellen, sondern einSpannungsfeld markieren, das mit jeweilsverschiedenen Funktionen besetzt ist. Neue-ren sprach- und literaturwissenschaftlichenAnalysen zufolge garantiert das Speicher-medium Schrift exakte Wiederholbarkeitund Kontinuität über Raum und Zeit hin-weg (A. Assmann et al.) ; Schriftgebrauchfördert darüber hinaus historische Reflexi-on und ermöglicht den (kommentierenden,historisch kritischen) Umgang mit anderenTexten und Textaussagen. Zugleich inter-essiert die Situationsabstraktheit von S. alsein Ermöglichungsgrund für Fiktionalität(W. Haug) bzw. in einem ganz allgemeinenSinn als Spezifikum von !Textualität. Insoziologischer Perspektive ist ein wesentli-cher Aspekt von S. Gruppenkohäsion (In-

klusion oder Exklusion, aufgrund derWertbesetzung von S.).

Die Frage nach der Überlieferung von !Texten im Spannungsfeld von Mündlichkeitund S. ist ein zentrales Problemfeld vormo-derner Kulturen. Bereits die griechische An-tike denkt über spezifische Funktionen undWertimplikationen von S. nach. Insbesonderesemiorale Kulturen kennzeichnet ein kom-plexes Nebeneinander verschiedener Schrift-lichkeits- und Mündlichkeitstypen. So gehenv. a. im europäischen Mittelalter mediale S.(,Verschriftung‘) und konzeptionelle S. (,Ver-schriftlichung‘; C. Ehler/U. Schaefer) inein-ander über, wie auch genuine und sekundäre(,stilisierte‘) Mündlichkeit ineinandergreifen.Für diese Fälle sind differenzierte Modellenötig, um einerseits den komplexen Funk-tionen von !Schrift(lichkeit) gerecht zuwerden (Repräsentation, !Kommunikation,Memoria, etc.), anderseits auch nicht-sprachliche Zeichenordnungen ,aufgeführ-ter‘ Texte (Mimik, Gestik, Musik, Heraldik,etc.) mit einbeziehen zu können. Einewichtige forschungsgeschichtliche Folgesolch medialer Pluralität ist die Revision desText-Begriffs angesichts schwer einzu-schätzender Gebrauchssphären der über-lieferten Texte zwischen mündlicher Va-riabilität und schriftlicher Fixierung. Die(Hand-)Schriftlichkeit von schriftlich ent-standenen, aber mündlich vorgetragenenTexten vormoderner Kulturen besitzt nichtdie Systemhaftigkeit und Selbstverständ-lichkeit von (Druck-)Schriftlichkeit in derNeuzeit, mit Auswirkungen auf den Literari-zitäts- und Fiktionalitätsstatus der Texte.

Bibliographie: A. Assmann et al. (Hgg.), Schriftund Gedächtnis, München 1983. – C. Ehler/U.Schaefer (Hgg.), Verschriftung und Verschriftli-chung, Tübingen 1998. – B. Frank (Hg.), Gattungenmittelalterlicher Schriftlichkeit, Tübingen 1997. –W. Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelal-ter, Darmstadt 1985. – F.J. Holznagel, Wege in dieSchriftlichkeit, Tübingen, Basel 1995. – U. Ned-dermeyer, Von der Handschrift zum gedrucktenBuch, 2 Bde., Wiesbaden 1998. – D.R. Olson, Theworld on paper, Cambridge 1996. – U. Schaefer,Vokalität, Tübingen 1992. Susanne Köbele

Schriftlichkeit 530

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Originaldaten 

V. TextlinguistischDie viermal unabhängig voneinander er-fundenen Schriftsysteme sind als ikonischeZeichen entstanden und haben sich unter-schiedlich entwickelt, manche zu einer Sil-ben- (Keilschrift, !Schrift der Maya) oderBuchstabenschrift (phönizisches, altgrie-chisches Alphabet als erste voll-phonema-tische Schrift). In allen Schriftkulturenhaben S. und !Mündlichkeit unterschied-liche Domänen ; es gibt nur wenige !Textsorten, die sowohl schriftlich wiemündlich produziert werden. Mündlich-keit bestimmt die !Kommunikation imAlltag ; S. ist für kulturell hoch bewerteteund sozial wichtige !Texte reserviert undoft auf die Zwecke der Information, derLehre und der Sicherung kultureller !Tradition eingeschränkt. In bestimmtenEpochen werden öffentliche Texte mehrgeschrieben- bzw. mehr gesprochensprach-lich stilisiert (Letzteres z. B. in Flugschrif-ten der Reformation, gegenwärtig in allenMassenmedien).

Schriftliche Texte können an räumlichentfernte Rezipienten transportiert werden.Die räumliche Fixierung ermöglicht demTextproduzenten Korrektur und stilistischeÜberarbeitung, dem Rezipienten ein wieder-holtes !Lesen. Schriftliche Texte dauern solange wie ihre materiellen Träger, überstei-gen also weit die nur zwei bis drei Sekundendes Arbeitsgedächtnisses beim !Hören. MitAbschreiben und Buchdruck wird diese Dauerverlängert und ein größeres Publikum er-reicht.

S. ist räumlich konstituiert, Mündlichkeitzeitlich. Die Schriftrichtung von oben nachunten, von rechts nach links und umgekehrtbzw. abwechselnd (Boustrophedon) stifteteinen textinternen Verweisraum (oben, unten).Der Raum ermöglicht die Medienkombinati-on von!Bild und Text, was es beim Sprechennur rudimentär mit malenden Gesten gibt.Rascher und vielfältiger als beim Sprechenentstehen in der S. neue Textsorten, Medien(Inschrift, Papyrus, Codex bis hin zu Handyund PC) und mediale Kommunikationsfor-men (Flugblatt, -schrift, Zeitung, Internet-Chat). S. ist stärker als Mündlichkeit ortho-graphisch und syntaktisch normiert; sie er-

laubt eine komplexere Syntax und fördert le-xikalische Differenzierung.

Bibliographie: J. Baurmann et al. (Hgg.), Schriftund Schriftlichkeit, HSK 10.1/2, Berlin/New York1994. 1995. Johannes Schwitalla

Schriftsinn, vielfacherI. KirchengeschichtlichIm frühen Christentum führen besonders dieAuseinandersetzungen mit dem Judentumsowie der Gnosis und dem Manichäismus zuReflexionen über die !Methoden derSchriftauslegung. Die !Schrift gelte nichtnur als von Gott inspiriert, sondern habe aucheinen tieferen !Sinn, der über die wörtliche!Bedeutung hinausgehe und mittels !Ty-pologie, !Allegorie, aber auch Zahlensym-bolik oder etymologischen !Erklärungengewonnen werden könne, auch wenn nichtjeder Sinn jedem zugänglich sei. Inhaltlichsteht die christologische !Interpretation imVordergrund, aber auch Kosmologie, Ekkle-siologie, Eschatologie und moralische Emp-fehlungen werden somit biblisch belegt.

Am Beginn steht die Aufgabe, gegen jüdi-sche Leugnung der Messianität Jesu die atl.Prophezeiungen als in ihm erfüllt zu erklären,da die Erzählungen der Schrift die christlicheHeilsgeschichte beschreiben, jüdische Ausle-ger aber nur deren wörtlichen Sinn erfassenwürden. Ferner erleichtert die mehrsinnigeSchriftinterpretation, den Zusammenhangzwischen !AT und !NT zu erweisen, da inbeiden das göttliche !Wort spreche, welchessich zunehmend offenbare, und das AT alschristliche Schrift zu bewahren, was in der !Argumentation gegen Marcion und die Gno-sis im Vordergrund steht. Auch die atl. An-thropomorphismen und Stellen, die im Lite-ralsinn unverständlich erscheinen, gelten alsgöttliche Aufforderung an den Menschen,nach einem tieferen Sinn zu suchen. DieRegel, dass die Schrift sich selbst auslege unddunkle Stellen mittels klareren Parallelstellenauszulegen seien, reicht Irenäus nicht ausgegen die allegorischen Spekulationen derGnostiker, so dass er zu ,externen‘ Autoritä-ten griff: Rechte Auslegung ist durch aposto-lische!Tradition legitimiert und stimmt mitder Glaubensregel überein.

Schriftsinn, vielfacher531

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Originaldaten 

Origenes übernimmt das hermeneutischeArsenal der alexandrinischen Homer- undPlatonexegese und legt die Schrift v. a. alle-gorisch aus, betont aber, dass dies nicht imWiderspruch zum Literalsinn geschehendürfe. Er benennt nach dem trichotomischenMenschenbild drei Sinne der Schrift, was zufolgenden Beziehungen führt: Leib-Literal-sinn; Seele-moralischer Sinn, Geist-geistli-cher Sinn, auch wenn Origenes meist nur einezweifachen Bedeutung (!Buchstabe undGeist) erhebt.

Problematisch erscheinen die Kriterien fürdie Allegorie, was Prophyrius dem Origenesvorwirft. Einen Gegenentwurf zur alexan-drinischen !Exegese bildet die sog. antio-chenische Schule mit Diodor von Tarsus,Theodor von Mopsuestia und Theodoretvon Cyrus, die allegorische Auslegungenzugunsten der theoria (geistiger Sinn ist ausWortsinn zu erheben) ablehnt, den Zusam-menhang (Akoluthie) und die Intention (!Skopos) der !Texte betont und nur Typolo-gie akzeptiert, sofern diese schon im NT selbstvorkommt. So wird nicht der ganze Psalter,sondern nur Pss 2, 8 und 44 christologischgedeutet und der Bruch des NT zum ATstärker betont.

Trotz aller Kritik wird die Schriftausle-gung des Origenes über!Übersetzungen desHieronymus und Rufinus dem Westen ver-mittelt. Besonders die Exegese des Ambrosiusist von Origenes geprägt und beeinflusst denfrühen Augustin, der gegen manichäische !Kritik am AT dieses mit Hilfe der Allegorieauslegt (De Genesi adversus Manichaeos). In Dedoctrina christiana beschreibt Augustin inAuseinandersetzung mit den sieben regulaemysticae des Donatisten Tyconius den Reich-tum der Schriftauslegung. Bei Augustin (vierArten von Bibeltexten: aeterna, facta, futura,agenda) und Johannes Cassian (vier Ausle-gungsmöglichkeiten: historica interpretatio, in-telligentia spiritalis: allegoria, anagoge und mora-lis) liegen die Ursprünge für den mittelalter-lichen vierfachen S.: Littera gesta docet, quidcredas allegoria, moralis quid agas, quo tendasanagogia.

Bibliographie: H. de Lubac, Typologie, Allegorie,geistiger Sinn, Einsiedeln 1999. – E. Mühlenberg,Art. Schriftauslegung III., in: TRE 30 (1999), 472 –

488. – J. Pépin, Art. Hermeneutik, in: RAC 14(1988), 722 – 771. – H. Graf Reventlow, Epochen derBibelauslegung, 4 Bde., München 1990 – 2001. – M.Sæbø (Hg.), HBOT. Hebrew Bible/Old Testament,Bd. 1/1, Göttingen 1996. – M. Simonetti, The bi-blical interpretation in the early church, Edinburgh1994. Uta Heil

II. Systematisch-theologischDie in altkirchlicher und mittelalterlicher Zeitausgebildete Lehre vom mehrfachen – zu-meist als dreifach oder vierfach bestimmten –S. hatte ein doppeltes Anliegen. Zum einenging es um die im Lichte des Christusgesche-hens vollzogene !Deutung des !AT; zumanderen ging es um die Verknüpfung des ge-samtbiblischen Zeugnisses mit den Verste-hens- und Erwartungshorizonten nachbi-blisch-christlicher Lebenswelten. Die dieserLehre entsprechende Schriftauslegung wurdein der Reformation als ein Grund für die be-anstandete kirchliche Geltung unbiblischerLehren und Praktiken identifiziert. M. Lu-thers reformatorische Einsicht verband sichfolgerichtig mit einer Absage an die geistliche!Auslegung (WA TR 1, 136,14 – 23) zuguns-ten einer (schon bei Nikolaus von Lyra prak-tizierten) Orientierung an der significatio sim-plicissima der verba divina (WA 6, 509,8 – 12; vgl.schon WA 3, 11,33 f). Das Novum seiner !Hermeneutik bestand in einer massivenchristologischen Aufladung des Literalsinnesder !Texte des AT. Damit wurde das ersteAnliegen der traditionellen Lehre aufgenom-men und durch eine christozentrischeSchriftauffassung (WA 47, 66,18 – 24) mitrechtfertigungstheologischer Pointe (WA 39II, 188,26 f.) angereichert.

Während die altprotestantische Herme-neutik an der rechtfertigungstheologischprofilierten Christologie als Schlüssel zumrechten Verständnis der gesamten Schriftfesthielt, führte die Etablierung der histo-rischen Forschung mit ihrer Kritik an jederdogmatisch gesteuerten Bibelexegese zurexklusiven Konzentration auf den sensus li-teralis historicus ; eine radikale Historisie-rung der Texte war die Folge. Zu den Ge-gentendenzen gehört eine Renaissance derLehre vom mehrfachen S. ; diese Wieder-entdeckung verbindet sich mit der neuen

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Originaldaten 

Wertschätzung einer !synchronen Bibel-lektüre und berücksichtigt rezeptionsge-schichtliche sowie rezeptionsästhetischeGesichtspunkte (!Reader-Response Criticism;!Rezeption). Dabei wird der transliterale S.nicht mehr als verborgene Sinnschicht in der!Bibel, sondern als vom (inspirierten)!Leserkonstituierte Bedeutungsebene verstanden(U.H.J. Körtner). Die zeitgenössische (spezielldie protestantische) Theologie steht vor derFrage, ob die aus diesem Zugang folgendepluralisierende Hermeneutik (O. Marquard)kultiviert oder – mit Verweis auf die norma-tive Bedeutung der Kirche als Auslegungsge-meinschaft der Bibel – dogmatisch reguliertwerden soll.

Bibliographie: H.-U. Gehring, Schriftprinzip undRezeptionsästhetik, Neukirchen-Vluyn 1999. –U.H.J. Körtner, Der inspirierte Leser, Göttingen1994. – O. Marquard, Frage nach der Frage, auf diedie Hermeneutik die Antwort ist (1979), in: Ders.,Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 117 –146. – U. Wilckens, Schriftauslegung in historisch-kritischer Forschung und geistlicher Betrachtung,in: W. Pannenberg/T. Schneider (Hgg.), Verbindli-ches Zeugnis, Bd. 2, Freiburg i. Br./Göttingen 1995,13 – 71. Rochus Leonhardt

III. JudaistischSucht der sensus literalis, den buchstäblichenS. zu bewahren, so beabsichtigt der sensusspiritualis, einen neuen S. zu deuten. DieSchlüsselfrage lautet : Ist der !Sinn dem !Text entnommen oder in ihn hineingetra-gen ? Schon die alte Kirche stritt über diesehermeneutischen Grundrichtungen undentwickelte in der alexandrinischen Theo-logenschule in Origenes Schrift peri archondie Lehre vom dreifachen S. In der !Ana-logie zur geschöpflichen Welt – „Denn wieder Mensch aus Leib, Seele und Geist be-steht, so auch die Schrift. . .“ – legitimiertOrigenes in der Dualität des sensus literalis(somatisch) und des sensus spiritualis (pneu-matisch) die !Allegorese und erweitert mitdem Bild der Seele beide um den psychi-schen (moralischen) S. Augustinus entwi-ckelt dieses Prinzip als komplementär zudem christlichen Dreiklang von !Glaube,!Liebe und !Hoffnung weiter: der Lite-ralsinn lehrt, was Christen glauben, die mo-

ralische S., was Christen lieben und übensollen, und der allegorische, was sie hoffendürfen. Dieser Dreischritt der somatischen,psychischen und pneumatischen !Exegesewurde dann durch Johannes Cassianus im 5.Jh. zur!Theorie vom vierfachen S. erweitert,die für das gesamte Mittelalter prägend war.Zum Literalsinn der Exegese tritt nun dasGlaube-Liebe-Hoffnung-Schema hinzu. Die-ser vierfache S. wird im christlichen Mittelal-ter als lectio divina zur klassischen Art derSchriftlesung.

Im Judentum vertritt schon Philo einenzumindest zweifachen S., kennt eine wörtli-che !Auslegung und die tiefere allegorische!Deutung. Die rabbinische Literatur kenntzunächst das Prinzip eines vielfachen S. Da-nach hat die Tora 70 Gesichter (Midrash Oti-yyot de-Rabbi Akiva u. ö.), denen eine Vielzahlexegetischer Auslegungsmethoden gegen-übersteht. Ein vierfacher S. kommt erst imfrühen Mittelalter auf. Ibn Esra (1089 – 1167)stellt in seinem Tora-Kommentar vier Ausle-gungswege vor, denen er seinen eigenenfünften Weg gegenüberstellt. Als exegetische,Gegner‘ gelten jene, die ihre Auslegungenmit Exkursen anreichern, die Anti-Traditio-nalisten, die auf die rabbinische Exegese ver-zichten wollen, jene, die die Bibel allegorischauslegen, sowie jene, die ausschließlich Mi-draschauslegung pflegen. R. Eleasar ben Je-huda aus Worms (1165 – 1230) kennt sogar 73,Tore der Weisheit‘, die alle in der einen oderanderen Weise der Schriftauslegung dienenund bei denen die Auslegungswege Peshat,Derash, Remez und Sod keine herausgehobeneRolle vor den anderen spielen. Der Peshat, d. h.die einfache, wörtliche!Bedeutung, die auchdie rabbinische Auslegung einschließt, meintden Literalsinn des Textes. Er kann aber auchauf eine lectio historica – im Gegenüber zur(lectio) allegorica und tropologica – hinweisen,also auf eine Auslegung im Sinne des litteragesta docet. Unter Derash versteht man die ho-miletische Bedeutung, Remez repräsentiertzumeist die allegorische Auslegung der Phi-losophen, und Sod steht für die mystische oderesoterische und/oder kabbalistische Deutung.Die vier Anfangsbuchstaben von Peshat, Derash,Remez und Sod wurden zuerst von Moses deLeon (ca. 1240 – 1305) zu dem Akronym PaR-

Schriftsinn, vielfacher533

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Originaldaten 

DeS (wörtlich: Garten) zusammengefasst. Indem in der Kabbala entwickelten Verständnisvon PaRDeS verändert sich auch die Bedeu-tung der vier Auslegungswege: Der Peshat re-präsentiert jetzt einen lediglich äußeren Be-deutungsaspekt der !Tora. Auf dem Ausle-gungsweg des Sod wird die Tora zu einemmystischen Körper, bei dem der AuslegerEinsicht in die immanente Gottheit unddamit in die verborgenen innergöttlichenProzesse der Welt der zehn sefirot zu enthüllensucht. Ein möglicher Einfluss zeitgenössi-scher christlicher Exegese auf das Konzept desPaRDeS wird noch manchmal angenommen,heute aber weitgehend verneint (van derHeide; M. Idel). Insbesondere die exegetische!Hermeneutik der sog. ,Deutschen From-men‘ kann sowohl mit Blick auf ihren An-spruch der Aufdeckung der biblischen sodotals auch auf das in vielen ihrer Schriften aus-gedeutete Motiv von der Nuss (Sod ha-Egoz) fürdas PaRDeS-Konzept – in einer möglichenVermittlung durch Ramban (Nachmanides;1194 – 1270) – Pate gestanden haben.

Bibliographie: M. Fishbane, Biblical interpretati-on in ancient Israel, Oxford 1985. – A. van derHeide, ,Pardes‘: methodological reflections on thetheory of the four senses, in: JJS 34,2 (1983), 147 –159. – M. Idel, PaRDeS: some reflections on Kab-balistic hermeneutics, in: J.J. Collins/M. Fishbane(Hgg.), Death, ecstasy, and other worldly journeys,Albany 1995, 249 – 264. – M. Sæbø (Hg.), HebrewBible/Old Testament, 3 Bde. , Göttingen 1996.2000.2008. Hanna Liss

IV. AltphilologischTheagenes von Rhegion (6. Jh. v. Chr.) soll alserster für die Homerischen Epen eine tiefereallegorische !Bedeutung angenommenhaben, die hinter der ersten unmittelbarenSinnebene verborgen liegt, nämlich Aussagenüber physikalische Phänomene oder mensch-liches Verhalten. Von den Stoikern wurde diesin ihrer kosmologischen !Allegorese dieserEpen aufgegriffen (G.W. Most, I. Ramelli).Der !Autor des Derveni-Papyrus (4. Jh.v. Chr.) interpretiert allegorisch eine orphi-sche Kosmogonie aus dem 5. Jh. v. Chr. (G.Betegh).

Auch außerhalb der Philosophie undTheologie findet sich das Bewusstsein, dass

ein !Wort oder !Text mehrere Bedeu-tungsebenen haben kann (K. Pollmann). Inder Jurisprudenz wird bei der !Auslegungeines Gesetzes oder Testaments zwischenscriptum (dem wörtlich Geschriebenen) undvoluntas (dem eigentlich Gemeinten) unter-schieden, wobei man zur voluntas als demsensus plenior (dem eigentlich intendierten !Sinn) eines Textes oft im Analogieprinzip (!Analogie) gelangt, manchmal aber auch durchdie freiere Allegorese (Lausberg § 209). In der!Grammatik kann ein Text in seinen ver-schiedenen Aspekten auf Bedeutung hinanalysiert werden (!Methode(n)): lectio (Aus-sprache, Unterteilung der einzelnen Wörter),emendatio (!Textkritik), enarratio (inhaltli-cher !Kommentar), iudicium (ästhetischeWürdigung). In der !Rhetorik wird die Iro-nie als eine Form der Allegorie betrachtet, inder die unmittelbare Textbedeutung dem ei-gentlich Gemeinten diametral entgegensteht(Lausberg §§ 893 ff.).

Generell erfolgt die Annahme eines zwei-ten oder sogar mehrerer S.e, wenn die un-mittelbare Bedeutung eines kanonischenTextes als irrational, unziemlich, obskur und/oder veraltet kritisiert wird. Die tiefere(n)Bedeutung(en) soll(en) dem Text neue Rele-vanz verleihen oder seinen tieferen bzw. ei-gentlichen Wahrheitsgehalt offenlegen. Dervielfache S. postuliert, dass ein Text eine po-tentiell unausschöpfliche Totalität aufschei-nen lässt, und ist in der Regel eine Annahmedes Rezipienten (!Auslegungsgeschichte, !Buchstabe und Geist), mit Ausnahme derje-nigen Texte, die bereits selbst explizit oderimplizit uneigentliches Sprechen signalisie-ren (!Apokalyptische Literatur, !Gleichnis,!Kontext, !Metapher, !Mythos, !Para-bel).

Bibliographie: U. Babusiaux, Id quod actum est,München 2006. – G. Betegh, The Derveni Papyrus,Cambridge 2004. – H. Lausberg, Handbuch der li-terarischen Rhetorik, München 21973. – G.W. Most,Cornutus and Stoic allegoresis: a preliminary re-port, in: ANRW II. 36. 3, Berlin/New York 1989,2014 – 2065. – K. Pollmann, Doctrina Christiana,Fribourg 1996. – I. Ramelli, Allegoria, Bd. 1, Mai-land 2004. Karla Pollmann

Schriftsinn, vielfacher 534

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V. LiteraturwissenschaftlichDie Unterscheidung zwischen ,buchstäbli-chem‘ und ,übertragenem‘!Sinn eines !Wortes oder !Textes ist grundlegend fürjede Textauslegung. Bereits die griechischeAntike nahm Homers Göttererzählungennicht wörtlich, sondern legte sie allegorischaus (griech. !kkgcoqe ?m, ,anders sagen‘), in-terpretierte sie physikalisch-kosmologischoder ethisch. Philo von Alexandria übertrugdas Verfahren auf das !AT. Vom !NT auswurde das AT auf Präfigurationen des christ-lichen Heilsgeschehens hin gedeutet. Orige-nes sah die Struktur der biblischen !Offen-barung analog zur Seinsordnung und zumWesen des Menschen: der Dreiheit von Leib,Seele und Geist entspreche die Dreigliede-rung von somatischem (buchstäblichem,historisch-litteralem), psychischem (mora-lischem) und pneumatischem (allegorisch-mystischem) S. Die triadische Stufung (histo-ria, allegoria, moralitas) wurde in der Bibelher-meneutik durch Gregor d. Gr. (,Moralia in Iob‘)wirksam. Weiteste Verbreitung fand das Vie-rerschema, wie es ein Merkvers des 13. Jh.sfesthält: Littera gesta docet, quid credas allegoria;moralis quid agas, quo tendas anagogia. („DerBuchstabensinn lehrt, was geschah, der alle-gorische, was man glauben, der moralische,was man tun, der anagogische, wohin manstreben soll.“). Die anthropologische Lehre A.Boeckhs (19. Jh.) operiert mit vier Modi des!Verstehens (grammatisch, historisch, indivi-duell, generisch).

Zeichentheoretische Überlegungen Au-gustins weiterführend, sahen die Viktoriner(12. Jh.) die eigentliche Aufgabe der christlich-spirituellen !Exegese darin, in und mit denWortzeichen die Signifikanz der bezeichnetenDinge zu erschließen, und zwar anhand dersichtbaren oder unsichtbaren proprietates derDinge: Non solum voces, sed et res significativaesunt (Richard von St. Victor). Gott habe nichtnur den Bibeltext, sondern auch das Buch derNatur verfasst und verwende, „um etwas zubezeichnen, den Lauf der Dinge selbst, dieseiner Vorsehung unterworfen sind“ (H.Meyer). Die Konkurrenz der Spiritualsinnevon Dingen und !Zeichen führte dazu, dassdie Stufung des vierfachen S.s von einer Viel-

zahl von Sinnbezügen umlagert werdenkonnte.

Mit der Reformation aus der bibelherme-neutischen Verbindlichkeit entlassen, wurdeder Grundgedanke des mehrfachen S.s zumwichtigsten Generator für die Metaphern-sprache der !Dichtung und die Sinnbild-sprache der Kunst. Er beherrschte die Em-blematik der Barockzeit. Bis ins 18. Jh. gab esallegorische Lexika, die den Bestand er-schlossener Dingbedeutungen kodifizierten(B. Hederich, Gründliches mythologisches Lexi-kon, 1748/1770).Bibliographie: E. v. Dobschütz, Vom vierfachenSchriftsinn, in: Harnack-Ehrung. Beiträge zur Kir-chengeschichte 1921, 1 – 13. – C.-M. Meier-Stau-bach, Wendepunkte der Allegorie im Mittelalter, in:R.E. Lerner (Hg.), Neue Richtungen der hoch- undspätmittelalterlichen Bibelexegese, München 1995,39 – 64. – H. Meyer, Art. Schriftsinn, mehrfacher,in: HWPh 8 (1992), 1431 – 1439. – R. Müller, Her-meneutik und Geschichte, Berlin 1987. – H.-J.Spitz, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns,München 1972. – Ders., Art. Sensus litteralis/spiri-tualis, in: RLW 3 (2003), 421 – 425. – F. Ohly, Vomgeistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, in: ZfdA89 (1958/59), 1 – 23. – J. Pépin, Mythe et allégorie,Paris 1958. Hartmut Kugler

SchriftstellerI. AlttestamentlichSeit dem 17. Jh. wird der Begriff S. als deut-sche Bezeichnung für !,Autor‘ oder ,Skri-bent‘ verwendet und meint den Verfasser von(zumeist literarischen) !Texten. Im Gegen-satz zur neuzeitlichen Auffassung von S.bleibt der biblische S. oft anonym und be-trachtet die Tradierung von !Texten bzw.die Pflege der !Überlieferung als seine ei-gentliche Aufgabe. Er ist daher in erster Linieein Bearbeiter von Texten, der sich daraufbeschränkt, allenfalls leichte Variationen an-zubringen. Es gibt hier jedoch auch Ausnah-men: Einige S. versehen ihre Texte mit einerindividuellen Diktion (z. B. Jes, Ez).

Spekulationen der ersten Jahrzehnte des20. Jh.s, die vielen Geschichten der Erzähl-blöcke der Bücher Genesis bis Könige einenmündlichen !Ursprung zuschrieben unddiesen zu rekonstruieren suchten, sind über-holt. Die moderne Literaturwissenschaft (R.Alter, L. Alonso Schökel, M. Sternberg, J.P.

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Originaldaten 

Fokkelman, F. Landy, J.L. Ska u. a.) interpre-tiert Texte im Lichte der in ihnen enthaltenenliterarischen Konventionen und hat so auf-gezeigt, wie hoch entwickelt !Stil undStruktur nahezu aller atl. Texte sind; beiProsatexten muss durchaus ein schriftlicherUrsprung angenommen werden.

Die S. von Genesis bis Kön, Esra, Chr, Dan,Est, Rut, Hld und wahrscheinlich Klgl sindunbekannt, auch die Datierung ist proble-matisch. Die Sprüche der Propheten – oft ur-sprünglich mündliche Schöpfungen –, diezusammengestellt und z. T. mit (üblicher-weise prosaischen) Rahmenerzählungen um-geben wurden, sind meist authentisch (d. h.stammen von Jes, Jer, Hos, Am etc.); jedochrichten sie das Augenmerk selten auf den S./Sprecher – Gedichte wie Jer 20,7 – 18 oderBerichte wie Ez 1 – 11 sind Ausnahmen. DieZuschreibung von Hld und Koh (in denÜberschriften) an Salomo ist pseudepigraphund intendiert, Aufmerksamkeit zu erregenund Autorität zu reklamieren. Die in 73Psalmen zu findende Überschrift ,Von David‘besagt vielleicht lediglich: ,einer Sammlungzugehörig, die wir (die kanonbildende Ge-meinschaft späterer Jahrhunderte) David zu-schreiben‘.

Die Anonymität so vieler biblischer S. darfals Herausforderung gesehen und positiv in-terpretiert werden: diese Männer achtetenweniger auf ihre persönlichen Qualitäten, ihrEgo oder ihre Originalität; sie standen imDienst ihrer Sache und Vision. C’est la force deschoses dites qui meut l’écrivain (P. Ricœur).

Bibliographie: R. Alter, The art of biblical narra-tive, New York 1995. – Ders., The art of biblicalpoetry, Edinburgh 2000. – J.P. Fokkelman, Readingbiblical narrative, Louisville 22002. – Ders., Readingbiblical poetry, Louisville 2001.

Jan P. FokkelmanII. NeutestamentlichDie 27 Schriften, die zum !,NT‘ zusam-mengestellt wurden, haben Verfasser, diezum größten Teil unbekannt sind. S. im en-geren Sinn war keiner dieser Verfasser: einbreiterer christlicher Literaturbetrieb bildetesich erst in nach-ntl. Zeit heraus. Wohl aberlassen sich bereits Paulus, eine Generationspäter dann der Verfasser des Lk und der Apg,der seinen Namen nicht nennt (Apg 1,1), und

der Prophet Johannes, der die Offb verfassthat (Offb 1,1 f. 9 f.; 22,6 – 10), auch als religiöseS. beschreiben.

Paulus schrieb sieben eigene Briefe: an dieRömer, an die Korinther (zwei), an die Gala-ter, an die Philipper, an die Thessalonicher, anPhilemon. Mindestens die Briefe an dieRömer, Korinther und Galater sind inhaltlichso bedeutend und stilistisch, argumentativund konzeptionell so durchgeformt, dass sieauf jeden Fall zur kaiserzeitlichen philoso-phisch-religiösen !Briefliteratur gehören,auch wenn Paulus sich zwar deutlich als !Autor positioniert, sich aber nur bedingt als S.verstanden wissen will (2 Kor 10,10). Paulusbenutzt die Briefe über die briefliche !Kommunikation hinaus zur Gemeindelei-tung, zur Darstellung seiner Theologie undzur Formulierung christlicher Ethik. DieBriefe stehen im Zusammenhang seiner Tä-tigkeit als !Apostel (Röm 1,1 – 7) und setzenden Maßstab für christliche theologische undkatechetische !Literatur.

Der in der kirchlichen !Tradition ,Lukas‘genannte S. hat ein erzählerisches Doppel-werk verfasst, das in seiner Verbindung vonbiblischer !Sprache (!Septuaginta) undeinfacher Episodenerzählung ein jüdisch-christliches Publikum konstituiert, das nichtnur die schon bekannte !Gattung ,Evange-lium von Jesus Christus‘ (Lk 1,1 f.) in verbes-serter Gestalt lesen möchte, sondern auch denGang der Verkündigung des !Evangeliumsbis in die Hauptstadt des imperium Romanumliterarisch nachvollziehen möchte (Apg28,16 – 31). Sein zweites Buch (kºcor Apg 1,1)war schriftstellerisch so erfolgreich, dass esdie Gattung der !apokryphen Apostelaktennach sich zog.

Der Apokalyptiker Johannes ist der einzigeS. der ntl. Zeit, der in einem deutlichen lite-rarischen Zusammenhang arbeitet: in derliterarischen Gattung der Apokalypse (!apokalyptische Literatur), die im Frühju-dentum zahlreich vertreten ist. Die Offb istein besonders kunstvoll ausgearbeitetes Bei-spiel der Gattung. Johannes schreibt wiePaulus orthonym und hat ein hoch ent-wickeltes Autoren-Selbstverständnis (Kap. 1und 22; !Autor).

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Originaldaten 

Bibliographie: H.-J. Klauck, Die antike Brieflite-ratur und das Neue Testament, München u. a. 1998.– G. Theißen, Die Entstehung des Neuen Testa-ments als literaturgeschichtliches Problem, Hei-delberg 2007. – P. Vielhauer, Geschichte der ur-christlichen Literatur, Berlin 1975.

Oda WischmeyerIII. AltphilologischDas Wort S., das seit J.C. Gottsched (Versucheiner critischen Dichtkunst vor die Deutschen,Leipzig 1730) den Ausdruck Skribent ver-drängt, bezeichnet ursprünglich denjenigen,der eine gerichtliche Schrift für einen anderenfertigt, dann für lange Zeit allgemein den !Autor, und zwar im Unterschied zum !Dichter oder Poeten den Verfasser von künst-lerisch weniger anspruchsvollen Prosaschrif-ten; seit dem 20. Jh. wird es auch für Produ-zenten jedweder Art von !Literatur ge-braucht. Neben anderen betont T. Mann(1930) die Verantwortung des S.s gegenüberden zentralen Problemen der Zeit. Hinsicht-lich der bevorzugten Verwendung für Prosa-autoren entsprechen dem Wort S. in der An-tike am ehesten succqave¼r (Pl. Phdr. 235c;D.T. 5.1 f.) und scriptor. Die Erklärung nichtallein von !Dichtungen, sondern auch vonProsaschriften wird zum ersten Mal bei Dio-nysios Thrax (2. Jh. v. Chr.) als Gegenstand derArs grammatica genannt, während Cicero spä-ter nur die pertractatio poetarum dazu rechnet(de orat. 1,187). Noch J.-P. Sartre (1947) nimmtdie Entgegensetzung von S. (écrivain) undDichter (poète) vor, während sie von T. Mann(1930) entschieden abgelehnt wird. Anders alsdie Moderne kennt die Antike wohl nicht den!Typus des autonomen, freien S.s, der seinenLebensunterhalt ausschließlich aus seinerTätigkeit zu bestreiten sucht. Zwar dekla-rierten z. B. Tibull, Properz und Martial daspoetische Schaffen als eine Form der Da-seinsgestaltung, die der Existenz des Soldatenoder Politikers ebenbürtig sei, sie lebten abervon ererbtem Vermögen oder von Zuwen-dungen anderer. Dem modernen Konzepteiner besonderen gesellschaftlichen Verant-wortung des S.s kommen in Rom, wie esscheint, Cicero, Horaz und Vergil am näch-sten : Der eine verstand sich als philosophi-scher Lehrer der Römer (z. B. Tusc. 1,1 – 6),die beiden anderen begriffen sich als Ver-

künder (vates) von Vorstellungen, die zurStiftung einer nationalen !Identität bei-tragen sollten (z. B. Verg. Aen. 6,847 – 853 ;Hor. Carm. 3,1 – 6). Eine Besonderheit dergriechischen Dichtung ist das Chorlied, dasbesonders zur Verherrlichung eines Siegs imsportlichen Wettkampf öffentlich vorgetra-gen wurde: Solche Dichtung war ihremWesen nach weniger Ausdruck einer indivi-duellen Persönlichkeit denn Gesellschafts-kunst, die Wertvorstellungen und Leitgedan-ken der gehobenen Schicht repräsentierte (H.Maehler).

Bibliographie: V. Buchheit, Vergil über die Sen-dung Roms, Heidelberg 1963. – F. Cairns, SextusPropertius, Cambridge 2006. – E. Fraenkel, Horaz,Darmstadt 1963, 308 – 339. – R. Harder, DasProoemium von Ciceros Tusculanen, in: Ders.,Kleine Schriften, München 1960, 413 – 430. – A.Kosenina, Art. Schriftsteller, in: HWPh 8 (1992),1439 – 1442. – H. Maehler, Die Auffassung desDichterberufs im frühen Griechentum bis zur ZeitPindars, Göttingen 1963. – T. Mann, Die geistigeSituation des Schriftstellers in unserer Zeit (1930),in: Ders., Gesammelte Werke 10, Frankfurta. M. 1960. – R. Perrelli, Il tema della scelta di vitanelle elegie di Tibullo, Messina 1996. – J.-P. Sartre,Qu’est-ce que la littérature?, Paris 1947. – T. Seng,Art. Autor, in: HWRh 2 (1992), 1276 – 1280.

Siegmar Döpp

IV. LiteraturwissenschaftlichS. ist die neuzeitliche Bezeichnung für denVerfasser insbesondere von literarischen !Texten. Die ältere Bedeutung im Sinne einerEindeutschung von !Autor, Skribent oderauch von concipient, der für andere rechtlicheSchreiben aufsetzt, verliert sich im 18. Jh. BeiAutoren wie J.W.L. Gleim, J.C. Gottsched oderI. Kant wird das Wort S. analog zu dem desAutors als Bezeichnung für den Verfasser li-terarischer Werke, der – wie Kant in seinerRechtslehre (1797) sagt – in seinem eigenenNamen spricht. Die enge Verbindung mit demSchreiben ästhetischer Texte bezeugt etwaJ.G. Sulzers Allgemeine Theorie der schönenKünste (1771). In dieser neuen Bedeutungwerden dann auch die klassischen Autoren zuS.n, ebenso die vorbildlichen Autoren derGegenwart, so etwa in Gottscheds DeutscherSprachkunst (1748). Die biblischen Autorengelten nicht als S., da sie keine literarischen

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Originaldaten 

bzw. ästhetischen Werke verfasst haben. Ineiner engeren Bedeutung wird S. im Unter-schied zum !,Dichter‘ und ,Poeten‘ als Ver-fasser von Prosatexten aufgefasst, daher ge-legentlich etwa bei Schiller (Über naive undsentimentalische Dichtung, 1795) auch abwer-tend gebraucht.

Die Habitualisierung des Begriffs zu einergängigen, im 19. Jh. auch auf S.innen ange-wandten Bezeichnung dehnt die Bedeutungimmer weiter aus, lässt die ästhetische Kon-notation des Begriffs verblassen und be-zeichnet dann ebenso selbstverständlich auchdie Verfasser von nicht literarischen Werkenals S., etwa ,politische S.‘ oder ,theologischeS.‘. In den weltanschaulichen Debatten umden ,Sonderweg‘ der deutschen Kultur imfrühen 20. Jh. wird S. als Gegenbegriff zumdeutschen ,Dichter‘ aufgeladen. Von denkonservativen Autoren abwertend gebraucht,nutzen moderne Autoren wie A. Döblin oderT. Mann die Bezeichnung S. als Selbstbe-zeichnung, dabei vielfach auch angelehnt andie analoge ,sachliche‘, ,republikanische‘ und,demokratische‘ Verwendungsweise des Be-griffs im Französischen oder Angloamerika-nischen.

Heute fungiert der Begriff überwiegend alsneutrale Bezeichnung des Berufs des S.s, ohneeine texttheoretische Bedeutung zu haben,wie sie etwa dem Begriff des Autors zu eigenist. Entsprechend spielt die Bezeichnung inden literaturtheoretischen Diskussionen umdie Funktion des Autors keine Rolle. Ver-knüpft mit Gattungs- und Genretypen wie,Romanschriftsteller‘, ,Kriminalschriftsteller‘ist S. eine allgemein gebrauchte, nicht mehrbegriffliche, sondern deskriptive Bezeich-nung geworden, die durch ähnliche Prägun-gen wie ,Romancier‘, ,Dramatiker‘, auch ,Ly-riker‘ oder ,Sachbuchautor‘ ersetzt werdenkann.

Bibliographie: D. Burdorf, Art. Schriftsteller, in:D. Burdorf et al. (Hgg.), Metzler Lexikon Literatur,Stuttgart/Weimar 32007, 691. – G. Grimm/C. Schärf(Hgg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld2008. – G. Jäger, Art. Autor, in: W. Killy/V. Meid(Hgg.), Literatur Lexikon, Bd. 13, Gütersloh/Mün-chen 1992, 66 – 68. – E. Kleinschmidt, Art. Autor,in: RLW 1 (1997), 176 – 180. – K. Schröter, Der

Dichter, der Schriftsteller, in: Akzente 20 (1973),168 – 190. Gerhard Lauer

SemantikI. AlttestamentlichDie Frage einer linguistischen S. in den Bi-belwissenschaften hat erstmals 1961 J. Barr inseiner Kritik am Etymologismus des ThWNTaufgeworfen; er argumentiert, dass die bibli-schen Sprachwelten nur auf der Basis einerallgemeinen, strukturalistischen Linguistiksachgemäß erforscht werden können. Was dieWortsemantik betrifft, wird dieses Postulat seitMitte der 60er Jahre in den Sprachstudien vonE. Jenni u. a. sowie den Artikeln in THAT,ThWAT, HALAT und Gesenius (18. Auflage)weitgehend berücksichtigt. Schon Barr be-tonte jedoch, dass „die wirkliche Kommuni-kation von religiösen und theologischen Ge-danken [...] durch größere Wortkombinatio-nen und nicht durch die lexikalischen Wort-einheiten [geschieht]“ (263), was in den ge-nannten Lexika durch Beschreibung der syn-taktischen Fügungskontexte der Lexeme be-rücksichtigt wird. In Abgrenzung zum Ansatzvon W. Richter, der weder die Konsubstan-tialität von ,Form‘ und ,Inhalt‘ im sprachli-chen Zeichen reflektiert noch diese Grund-begriffe näher geklärt hat, legte 1978 C.Hardmeier im Anschluss an S.J. Schmidt undunter Aufnahme des !Linguistic Turn in denSprach- und Literaturwissenschaften einenexegetischen Neuansatz vor, der nicht nur dieWort- und Satzsemantik, sondern auch dieTextsemantik und -pragmatik in den Blicknimmt. Dabei sind !Texte als Primärvor-kommen von!Sprache und im theoretischenRahmen des kommunikativen Handlungs-spiels als Artefakte der !Kommunikation zuverstehen, die funktional von !Sprechern/!Autoren auf potentielle Rezeptionsprozessehin erzeugt werden, um darin als Zeichen-folgen analog zum Produktionsprozess abge-arbeitet zu werden. Eine entsprechende In-struktionssemantik versteht sprachliche Zei-chen als Signale, die den Aufbau des Bedeu-tungs-, Sinn- und Funktionsgehalts von Tex-ten steuern und den Rezipienten in der Ab-arbeitung der Zeichenfolge komplexe Refe-renz- und Verknüpfungsleistungen abver-

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langen. Nach wie vor jedoch betrachtet dieherkömmliche S. sprachliche Zeichen als Re-präsentanten von konventionalisierten Per-sonen-, Sach- und Vorgangsgehalten (Lexeme)sowie von syntaktischen und illokutivenFunktionen (Morpheme) auf den Ebenen der!Syntax, S. und !Pragmatik. Dieser Reprä-sentationssemantik sind im Wesentlichen auchalle neueren Arbeiten zu Fragen der Textse-mantik und -pragmatik im Fach verpflichtet(z. B. A. Wagner). Demgegenüber hat Hard-meier (2003) im instruktionssemantischenKonzept der Textur und ihrer metakommu-nikativen, interaktiven, narrativen und argu-mentativen Handlungskomponenten sowieder Komponenten der temporalen und loka-len Orientierung und der thematischen Ent-faltung auch die S. der handlungsleitendenSignalgruppen umrissen, die die Rezeptions-und Sinnbildungsprozesse in der Rede- undErzählkommunikation komponentenspezi-fisch strukturieren.

Bibliographie: Hebräisches und aramäischesHandwörterbuch über das Alte Testament, hg. v. W.Gesenius et al., Berlin/Heidelberg 182008 [1810/1812. 1815]. – Hebräisches und aramäisches Lexi-kon zum Alten Testament (HALAT), hg. v. W.Baumgartner et al., Leiden 1967 – 1983. – Theolo-gisches Handwörterbuch zum Alten Testament(THAT), hg. v. E. Jenni/C. Westermann, 2 Bde.,Gütersloh 62004 [München 1971. 1976]. – Theolo-gisches Wörterbuch zum Alten Testament(ThWAT), hg. v. G. J. Botterweck/H. Ringgren, 10Bde., Stuttgart 1973 – 2000. – Theologisches Wör-terbuch zum Neuen Testament (ThWNT), hg. v. G.Kittel et al., 11 Bde., Stuttgart 1933 – 1979.

J. Barr, Bibelexegese und moderne Semantik,München 1965. – C. Hardmeier, Texttheorie undbiblische Exegese, München 1978. – Ders., Text-welten der Bibel entdecken, 2 Bde., Gütersloh 2003.2004. – W. Richter, Exegese als Literaturwissen-schaft, Göttingen 1971. – S.J. Schmidt, Texttheorie,München 21976. – A. Wagner, Sprechakte undSprechaktanalyse im Alten Testament, Berlin/NewYork 1997. Christof Hardmeier

II. NeutestamentlichDas NT ist ein Gefüge sprachlicher Zeichen,deren Bedeutungspotential in neuen rezepti-onsgeschichtlichen Kontexten je neu aktuali-siert wird – in Relation zu den jeweils aktu-ellen kulturellen Codes. Für die kritische Ar-

beit an ntl. Texten sind diese für das Zustan-dekommen sprachlicher Zeichenrelationengenerativen Bedingungen wahrzunehmen.

In der modernen Forschung zum NT die-nen semantische Untersuchungen gewöhn-lich der Rekonstruktion der historischen Be-deutung sprachlicher Formen (Wörter, Syn-tagmen) im ursprünglichen Kommunika-tionsraum des !Textes. Solchen Untersu-chungen liegen – implizit oder explizit – se-mantische Theorien historisch-philologischeroder strukturalistischer Ausprägung zugrun-de. Paradigmatisch für die historisch-philo-logische S. ist das Theologische Wörterbuch zumNeuen Testament (1933 – 1979), das eine Re-konstruktion der Bedeutung ntl. Terminolo-gie durch diachron, d. h. begriffsgeschichtlichorientierte Lexemanalysen anstrebte. Die Be-deutung eines Wortes erschloss man dabeiüber seine Etymologie und Vorgeschichte; aufdiese Weise versuchte man, den Hintergrundntl. und theologisch relevanter Begriffe her-auszuarbeiten. Damit sollte gezeigt werden,wo ntl. !Autoren ,neuen Wein in alteSchläuche‘ gefüllt haben.

Mit dem Aufkommen des Strukturalismusseit 1960 wurde diese Methode zunehmendkritisiert (vgl. J. Barr). Der strukturalistischeAnsatz ist synchron und damit nicht an derBedeutungsgeschichte eines Wortes orien-tiert, sondern an Differenz und Relation imVerhältnis zu anderen Zeichen in einem kon-kreten sprachlichen System. Dementspre-chend fokussieren z. B. aktuelle Forschungenzu ntl. Jesusbildern nicht nur auf die Vorge-schichte christologischer Hoheitstitel, son-dern befassen sich darüber hinaus mit derenFunktion in größeren semantischen Einhei-ten (Bekenntnisformeln, Hymnen, Erzählun-gen). Damit ist der Kontextbegriff in seinenverschiedenen Ausprägungen für das Ver-ständnis sprachlicher Bedeutung verstärktrelevant geworden, so dass S. sowohl in Ab-hängigkeit von der !Syntax (intratextuellerKontext) als auch von der !Pragmatik(kommunikativer Kontext) verstanden wird.Dies wird z. B. hervorgehoben in neuen text-linguistischen und diskursanalytischen Ar-beiten zur S. des NT (S.E. Porter/J.T. Reed).

Kognitive S. befindet sich, was das NT be-trifft, trotz ihres großen Einflusses in der

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Originaldaten 

neueren Linguistik weiterhin im Experimen-talstadium (z. B. B. Howe).

Bibliographie: Theologisches Wörterbuch zumNeuen Testament (ThWNT), hg. v. G. Kittel et al.,10 Bde., Stuttgart 1933 – 1979.

J. Barr, Semantics of biblical language, Oxford 1961.– B. Howe, Because you bear this name: conceptualmetaphor and the moral meaning of 1 Peter, Leiden2006. – J.P. Louw, Semantics of New TestamentGreek, Philadelphia 1982. – S.E. Porter, Studies inthe Greek New Testament: theory and practice, NewYork 1996. – Ders./J.T. Reed (Hgg.), Discourseanalysis and the New Testament, Sheffield 1999. –A.C. Thiselton, Semantics and New Testament in-terpretation, in: I.H. Marshall (Hg.), New Testa-ment interpretation, Exeter 1979, 75 – 104.

Kasper Bro Larsen

III. Systematisch-theologischSemantisch geht es um !Sinn und !Bedeu-tung von religiösen Ausdrücken, Sätzen, !Texten und Äußerungen. Dabei kommen in-haltliche und eher formale Fragestellungenzusammen. So ist z. B. im Falle der christli-chen Rede von Gott zu bestimmen, was siebedeutet (in synchroner und diachroner Hin-sicht) und zugleich, ob ,Gott‘ dabei als Name,als Begriff oder als sortaler Term fungiert.Dazu gehört eine Klärung der Referenz von,Gott‘ und der Möglichkeit, Prädikate von,Gott‘ auszusagen, sowie eine Bestimmungdes Verhältnisses von Referenz und prädika-tive Beschreibung in der christlichen Rede vonGott. Ähnlich verhält es sich bei anderenAusdrücken, die christlich-religiös verwendetwerden: Es ist zu klären, was Ausdrücke wie,Heil‘, ,Sünde‘, ,ewiges Leben‘ etc. im Lichteihrer Begriffsgeschichte heute in den Kon-texten ihres Gebrauchs bedeuten, und es istzu präzisieren, worauf sie dabei referieren,wie sie ihre Bedeutung bekommen und wiediese kommuniziert wird. Insofern ist in dergegenwärtigen systematischen Theologie dieErörterung der Probleme von Referenz, Rea-lismus/Antirealismus, !Wahrheit und !Kohärenz der !Sprache des christlichenGlaubens unverzichtbar. In der neueren sys-tematischen Theologie und Religionsphilo-sophie wird dabei aus der Sprachphilosophierezipiert, was auch die traditionelle evangeli-sche Hermeneutik (z. B. schon die clavis scrip-

turae des M. Flacius) hervorgehoben hat: DieWortsemantik steht im Horizont von satzse-mantischen, textsemantischen und äuße-rungssemantischen, d. h. pragmatischen As-pekten von Sinn und Bedeutung. Auch derchristliche Glaube artikuliert sich in Sätzen(Satzsemantik), die im weiteren Sinn auf denText der!Heiligen Schrift (!Bibel) bezogensind (Textsemantik). Zudem äußert sich derchristliche Glaube in konkreten Lebenssitua-tionen und bestimmten Lebensvollzügen (alsverbale und sakramentale SelbstmitteilungenGottes, als Bekenntnis, als Lob, Dank undKlage, als gottesdienstliche Feier), zu derenäußerungssemantischer Explikation häufigdie !Sprechakttheorie herangezogen wird.Generell ist dabei zu klären, wie religiöse Äu-ßerungen bedeuten und welche rhetorischenFormen religiöse Rede kennzeichnen (!Gleichnis, !Metapher, !Erzählung, Para-dox, etc.). Bedacht wird in der systematischenTheologie auch die !Pragmatik aller christ-lich-religiösen Äußerungen, die für einetheologische S. unverzichtbar ist: Wird dage-gen in der semantischen Analyse religiöserRede von ihrem ,Sitz im Leben‘ abgesehenund werden die religions- und konfessions-spezifischen Lebensvollzüge und Regelnnicht beachtet, dann wird theologische S. ab-strakt und sachfremd.

Bibliographie: V. Brümmer, Speaking of a perso-nal God, Cambridge 1992. – I.U. Dalferth, ReligiöseRede von Gott, München 1981. – C. Landmesser,Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicherWissenschaft, Tübingen 1999. – P. Stoellger, Art.Semantik III. IV., in: RGG4 7 (2004), 1189 – 1191.

Hans-Peter GroßhansIV. AltphilologischS. (engl. semantics, frz. sémantique; letztererTerminus wurde 1883 von Michel Bréal ge-prägt und entwickelte sich zur Bezeichnungeines neuen Bereiches linguistischer Analyse)untersucht Bedeutung in der Form linguisti-scher Zeichen von der Morphem- bis zurTextebene. Die am häufigsten gebrauchtenFormen semantischer Beschreibung sindwortorientierte oder lexikalische S. undsatzorientierte S.

In der Antike war die S. weder ein auto-nomes Wissenschaftsgebiet noch eine spezi-elle !Methode der Sprachanalyse. Eine

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Originaldaten 

,pragmatische‘ Art semantischer Analysewurde bereits von den Sophisten angewendet,die semantische Beziehungen wie Synony-mik, Polysemie und Ambiguität untersuchtenund die Möglichkeit einer effizienten !Kommunikation problematisierten. Platound Aristoteles zeigten Interesse an der Sym-bolfunktion von !Sprache, d. h., wie dermenschliche Verstand Wirklichkeit in Spracheumformt und so darstellt. Hierbei ist dieAnalyse von sprachlicher !Bedeutung un-trennbar mit der Kognitionswissenschaft undder Wissenschaft von der (Struktur der) Rea-lität verbunden (!Semiotik). Platos Sprach-philosophie (Cratylus; Parmenides; Sophistes)richtet sich auf die konventionelle oder na-türliche Verbindung zwischen Objekt undBenennung. Plato betrachtet die ,ideale‘ Be-nennung als ,wahren und richtigen‘ Ausdruckdes Wesens eines Objektes (Cra. 428e). BeiAristoteles ist die S. fast ausschließlich auf dieWortebene begrenzt: De interpretatione undCategoriae entwerfen eine ,kategorische S.‘, die(1) verschiedene Wortklassen (mit möglichenformalen Variationen; !Wort) etabliert undweitere Kategorien wie (2) Bejahung undVerneinung sowie (3) Endlich(keit) und Un-endlich(keit) aufstellt (z. B. ,Mensch‘ vs.,Nicht-Mensch‘). Die S. des Aristoteles basiertauf der Analyse von !Propositionen (!Sät-zen) und von deren Beziehungen. Die Stoikerführten die Unterscheidung zwischen Zei-chen oder bezeichnendem Element (sgla¸mom),dem bezeichneten Inhalt (sglaimºlemom) unddem Objekt (tucw²mom) ein. Der bezeichneteInhalt wurde, soweit er konzeptionell war,kejtºm genannt (,sagbar‘, lat. dicibile).

Der grundlegende Beitrag der Stoiker be-steht in der Ausarbeitung einer Theorie derPrädikat-Inhalte. Im Anschluss daran unter-schied Augustin (ab De dialectica) zwischendem (gesprochenen) Wort (verbum), seinemsemantisch-konzeptionellen Inhalt (dicibile),dem Wort in seinem konkreten Gebrauch(dictio) und dem Objekt (res). Er betonte diewirkmächtige Dimension (vis) von Bedeutung(als semiotische Relation) und legte denGrund für die Vorstellung einer inneren,mentalen Sprache (verbum interior; vox cordis),welche die ewige, göttliche Wahrheit offen-bart. Dieser Ansatz wurde von Boethius in

seinen zwei Kommentaren zu Aristoteles’ Deinterpretatione behandelt und ein Ecksteinmittelalterlicher Sprachphilosophie.

Bibliographie: E. Coseriu, Geschichte der Sprach-philosophie, bearb. v. J. Albrecht, Tübingen 2003. –D. Di Cesare, La semantica nella filosofia greca,Roma 1980. – N. Kretzmann, Semantics, in: P. Ed-wards (Hg.), The encyclopedia of philosophy 7(1967), 358 – 406. – P. Schmitter, Das sprachlicheZeichen, Münster 1987. – Ders., From Homer toPlato: language, thought, and reality in ancientGreece, in: P. Schmitter (Hg.), Essays towards a hi-story of semantics, Münster 1990, 11 – 31.

Pierre Swiggers/Alfons Wouters

V. TextlinguistischDie S. (griech. sglamtijºr, ,zum Zeichen ge-hörend‘) ist das sprachwissenschaftliche Teil-gebiet, welches sich auf die Inhaltsaspekte vonsprachlichen Einheiten und Strukturen, alsodie Bedeutung von Wörtern, Sätzen undTexten, konzentriert. Sprachliche Bedeutun-gen werden in der Regel als Denotationen,also konzeptuelle Repräsentationen, defi-niert, die konventionell an sprachliche For-men geknüpft sind. Als Zeicheninhalte spei-chern sie die wesentlichen Informationen, diefür eine erfolgreiche !Kommunikation rele-vant sind, und aufgrund ihrer referenziellenFunktion ermöglichen sie es uns, mittelsSprache Bezug auf die Welt zu nehmen. In derMerkmalssemantik beschreibt man Bedeutun-gen mittels Dekomposition, d. h. durch An-gabe elementarer Bestandteile, welche defi-nitorische Beschreibungen angeben, in demsie notwendige, konstitutive Bestandteile derBedeutungskategorie benennen (z. B. beiVogel: <Tier>, <hat Gefieder>, <kann flie-gen>, <legt Eier>). Die Prototypentheorie da-gegen beschreibt Lexembedeutungen als ty-pische Denotationen, als Konfigurationen, dienur die typischen Attribute der Kategorievereinigen. Bei aller Kritik, die spätestens seitden 80er Jahren des 20. Jh.s gegen die Merk-malstheorie vorgebracht wurde, bleibt in derS. die Zerlegung von Bedeutungen in ele-mentarere Komponenten jedenfalls dasgrundlegende Beschreibungsprinzip. Die Be-deutungsanalyse involviert unterschiedlicheEinheiten wie !Wort, !Satz, !Text, un-terschiedliche Phänomene (semantische Re-

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Originaldaten 

lationen und Felder, Vagheit, Unterspezifi-kation etc.), unterschiedliche Ebenen (lexika-lische, aktuelle, konversationale Bedeutun-gen) und unterschiedliche Einflusskompo-nenten (sprachlicher Kotext, situativer !Kontext, kognitionsinhärenter Kontext imSinne konzeptuell-enzyklopädischen Wis-sens). Traditionell grenzt sich die S. als Dis-ziplin durch ihre Konzentration auf diewörtlichen, d. h. kontextinvarianten, situa-tionsunabhängigen Bedeutungsbestandtei-le von der !Pragmatik ab, die sich mit denkontextabhängigen Äußerungsbedeutungenbeschäftigt. Die kognitive S. rückt zum einendie dynamische Komponente der semanti-schen Kompetenz, den Prozess der Bedeu-tungskonstitution, in den Vordergrund, zumanderen analysiert sie die Schnittstellen zwi-schen S. und Pragmatik sowie konzeptuellemKenntnissystem. Die kognitive Mehrebenen-semantik bezieht somit auch kontextuelleFaktoren bei der Konstruktion aktueller Be-deutungen in ihre Modelle mit ein und be-zieht die grammatischen, konzeptuellen undprozeduralen Komponenten, die zur Kon-struktion der Äußerungsbedeutungen vonWörtern, Sätzen und Texten beitragen, auf-einander.

Bibliographie: J. Lyons, Semantics, Cambridge/New York 1977 [dt. 2 Bde., München 1980. 1983]. –M. Schwarz/J. Chur, Semantik, Tübingen 52007. –Dies., Einebenen-Ansatz vs. Mehrebenen-Ansatz,in: D.A. Cruse et al. (Hgg.), Lexikologie, Berlin/NewYork 2002, 277 – 284. – M. Steinbach, Semantik, in:J. Meibauer et al. (Hgg.), Einführung in die germa-nistische Linguistik, Stuttgart 22007, 163 – 209.

Monika Schwarz-FrieselVI. PhilosophischS. (von griech. s/la ,Zeichen‘; engl. semantics,frz. sémantique). Als S. bezeichnet man dieDisziplin zur Untersuchung der Bedeutungsprachlicher Ausdrücke. Sie unterscheidetsich von der !Semiotik, welche die Bedeu-tung beliebiger Zeichen analysiert. C.W.Morris (Foundations of the theory of signs 1938)teilt die Lehre von den Zeichen in die Syn-taktik, S. und !Pragmatik ein. M.J.A. Bréal(Essai de sémantique. Science des significations1897) gebraucht den Titel für den Teil derLinguistik, welcher sich mit dem Bedeu-tungswandel der !Sprache befasst. Auch

wenn schon Plato im Dialog Cratylus Ansätzezu einer Bedeutungstheorie der Sprache ent-wickelt und die Stoiker bestimmte Aspekteder Sprache genauer untersucht haben, so hatsich doch erst mit dem Werk von G. Frege,dem Begründer der modernen (sprachanaly-tischen) Philosophie, die S. als Lehre vom !Sinn und der !Bedeutung sprachlicher Zei-chen durchgesetzt. Einen ersten Schritt dazuunternimmt Frege in seiner Begriffsschrift(1879), welche die Grundlage der modernenAussagen- und Prädikatenlogik entwickelt.Daran schließt sich besonders in Über Sinn undBedeutung (1892) die Entwicklung der moder-nen S. an.

A. Tarski entwirft in seiner grundlegendenArbeit (Der Wahrheitsbegriff in den formalisiertenSprachen 1933) eine formallogische S., welcheeine Definition des Wahrheitsbegriffs ausar-beitet. R. Carnap (Die Logische Syntax der Sprache1934, Meaning and necessity. A study in semanticsand modal logic 1947) entwickelt eine exten-sionale und eine intensionale S. W.O. Quine(Word and object 1960) unternimmt nach sei-nem Angriff auf den Bedeutungsbegriff (vgl.Two dogmas of empiricism 1951) den Versuch,eine behavioristische S. zu entwickeln.

Von der logischen S. (A. Tarski und R.Carnap), welche zur modelltheoretischen S.geführt hat, ist die sprachphilosophische S.,insbesondere als S. der Alltagssprache zu un-terscheiden. Der L. Wittgenstein der Philoso-phischen Untersuchungen hat neben G. Rylediese Art S. wesentlich gefördert. J. Austinund J. Searle (Speech acts 1969) sind Meilen-steine in der Entwicklung der sprachphiloso-phischen S. Schließlich ist die linguistische S.zu erwähnen, welche entscheidende Impulsevon N. Chomsky (Syntactic structures 1957, As-pects of the theory of syntax 1965) erhalten undzu vielfältigen Entwicklungen geführt hat.

Bibliographie: K. Bühler, Sprachtheorie, Jena1934 [31999]. – D. Davidson/G. Harmann (Hgg.),Semantics of natural language, Dordrecht 1972. –G. Frege, Kleine Schriften, hg. v. I. Angelelli,Darmstadt 1967. – H. Ineichen, Erkenntnis, Wahr-heit und Bedeutung, München 1987. – F. v. Kut-schera, Einführung in die intensionale Semantik,Berlin 1976. – J. Lyons, Introduction to theoreticallinguistics, Cambridge 1969. – A. Tarski, DerWahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen,

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Originaldaten 

Nachdruck in: K. Berka/L. Kreiser (Hgg.), LogischeTexte, Berlin 1973, 447 – 559. Hans Ineichen

SemiotikI. Systematisch-theologischChristliche Theologie hat sich in ihrer ganzenGeschichte immer wieder mit der S. als derWissenschaft von den Zeichen, Zeichensyste-men und Zeichenprozessen in Theologie undNatur beschäftigt. Beispielhaft ist hinzuwei-sen auf die Rede von den ,beiden Büchern‘,dem liber naturae und dem liber scripturae, aufAugustins Signifikationshermeneutik oderauf M. Luthers Reflexionen auf die Sprach-lichkeit und Zeichenhaftigkeit des christli-chen Glaubens. Wie in allen Religionen, sostehen auch im Christentum die religiösenZeichen für eine Wirklichkeit, die nicht selbst,sondern zeichenvermittelt in Erscheinungtritt. Das Göttliche zeigt sich, wird bezeichnetund in Zeichen kommuniziert. Entsprechendwird im Blick auf konkrete religiöse Zeichen(heilige Schriften, religiöse Kunst, Riten) undihrer Verknüpfung zu einem religiösen Codesemiotisch nach der Verbindung des Signifi-kanten (Bezeichnenden) mit dem Signifikat(Bezeichneten) gefragt. Diese zweistelligeRelation wurde erweitert durch das auf C.S.Peirce zurückgehende semiotische Dreieick:Ein Zeichen ist nicht direkt, sondern nurvermittelt durch seine Bedeutung mit demObjekt verknüpft, die ihm die Zeichenver-wender zuschreiben. Diese Einsicht ist ver-schiedentlich in der systematischen Theologierezipiert worden. Religiöse Erfahrung, wiez. B. die Erfahrung des Heiligen, ist demnachimmer in einem kulturellen Zeichensystemcodiert (Ritual, !Mythos u. a.), das durch die!Interpretation seiner Verwender lebendigist. Entsprechend diskutieren theologischeSemiotikkonzeptionen das Verhältnis vonZeichen, bezeichneter Sache und Interpre-tant. Theologisch fruchtbar gemacht wurdendiese Einsichten bisher v. a. in einer pragma-tischen Interpretation des !Schriftprinzips,in der Sakramententheologie und in der se-miotischen Explikation des trinitarischenWesens Gottes. Sakramententheologisch trittdabei eine pragmatische Unterbestimmungdes Glaubens an die sakramentale Verhei-ßung in vielen Sakramententheologien zu-

tage (M. Vetter), obwohl sich auch schon beiLuther eine semiotische Dreigliedrigkeitfindet : „Darumb müßen wir drey dingk yndem heyligen Sacrament ansehen, das zey-chen, die bedeutung und den glauben“ (WA2,727,23 ff.). V. a. H. Deuser hat versucht, dieS. nicht nur fundamentaltheologisch undmethodologisch fruchtbar zu machen, son-dern das Göttliche selbst semiotisch aufzu-fassen. S. wird zur metaphysisch und kosmo-logisch begündeten Theosemiotik.

Bibliographie: H. Deuser, Gott, Geist und Natur,Berlin/New York 1993. – C.S. Peirce, Religionsphi-losophische Schriften, hg. v. H. Deuser, Hamburg1995. – R. Posner (Hg.), Semiotik, 4 Bde., Berlin/New York 1997 – 2004. – M. Vetter, Zeichen deutenauf Gott, Marburg 1999. Hans-Peter Großhans

II. AltphilologischS., die Lehre von den Zeichen (und Zeichen-prozessen), wurde von C.S. Peirce (1839 –1914) und F. de Saussure (1857 – 1913) be-gründet; letzterer etablierte den französi-schen Terminus sémiologie (griech. sgle¸om,,Zeichen‘). Die Geschichte der S. hat ihreWurzeln in der griechischen Antike: DieWahrnehmung und !Interpretation vonZeichen war in der antiken Divination, Pro-phetie und Naturphilosophie sowie im Zu-sammenhang mit Heilungsmethoden allge-mein üblich; die griechischen Termini t¹sgleiytijºm und sgle¸ysir sind zuerst beiGalen (ca. 139 – 199 n. Chr.; Opera omnia hg. v.G.C. Kühn, Leipzig, 1821 – 1833, Bd. 14. 689,Bd. 19. 394) für das diagnostische !,Lesen‘von Krankheitssymptomen belegt.

Denker wie der Vorsokratiker Heraklitus,der Sophist Protagoras und Plato bereitetenden Weg, aber erst Aristoteles definierte dasZeichen als inferentielle Basis jeder !Argu-mentation (Rh. 1357a34 – b25; APr. 2,70b37):Ist die Basis einer Schlussfolgerung zuverläs-sig, spricht er von tejl¶qiom (,Beweis‘/,Sym-ptom‘; z. B. ,Diese Frau hat Milch, also ist sieschwanger‘); wenn nicht, dann benutzt er denTerminus sgle¸om (,Zeichen‘/,Anzeige‘ z. B.,Diese Frau ist blass, also ist sie schwanger‘). InPeri Hermeneias (16a9) behandelt Aristotelesdie Beziehung zwischen sprachlichen Zei-chen, Gedanken (oder Geisteszuständen) undRealität. Hier verwendet er den Terminus

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sgle¸om generell für ,Zeichen‘, während s¼l-bokom (,Symbol‘) für das linguistische, durchKonvention festgelegte Zeichen steht undblo¸yla (,Ähnlichkeit‘) für die bildhafte Be-ziehung zwischen mentalen Eindrücken undder äußeren Welt.

Aristoteles’ Peri Hermeneias (= De Interpre-tatione) war in der Antike und im Mittelalter –zusammen mit Augustins Adaptation derstoischen Zeichenlehre (doctr. chr. 2 and 3) –der autoritative Text über den semiotischenStatus der natürlichen!Sprache. Wie aus denerhaltenen (indirekten) Quellen zu entneh-men ist (Diogenes Laertius; S. E. M.), hatte diestoische Zeichenlehre ihren Ursprung in derdialektischen Analyse von Konditionalsätzen(wenn .. . , dann .. .). Die Stoiker unterschiedenin Zeichenprozessen zwischen dem Bezeich-nenden (t¹ sgla¸mom) und dem Bezeichneten (t¹sglaimºlemom); ihre Beschreibung einer aufZeichen basierenden Argumentation enthieltentscheidenderweise eine noetische Kompo-nente (t¹ kejtºm, lat. dicibile, das [in unserer,geistigen Sprache‘] ,Sagbare‘). In De magistro,De dialectica und De doctrina christiana adap-tierte und transformierte Augustin die stoi-sche Zeichentheorie zu einer dynamischerenLehre der S., in der sowohl die Rolle des Be-nutzers als auch die Ausrichtung des Zeichensauf etwas Äußerliches betont werden.

Bibliographie: G. Manetti, Le teorie del segnonell’antichità classica, Milano 1987 [engl. Theories ofthe sign in classical antiquity, Bloomington 1993]. –Ders. (Hg.), Knowledge through signs, Turnhout1996. – K. Pollmann, Doctrina Christiana, Fribourg1996. – A. Rey, Théories du signe et du sens, Paris1976. – H. Weidemann, Grundzüge der Aristoteli-schen Sprachtheorie, in: P. Schmitter (Hg.),Sprachtheorien der abendländischen Antike, Tü-bingen 1991, 170 – 192.

Pierre Swiggers/Alfons Wouters

III. LiteraturwissenschaftlichIn literaturwissenschaftlicher Perspektivekommt der S. Bedeutung zu, weil sie – inso-fern zeichenhafte Systeme, Prozesse und Äu-ßerungen ihren Analysegegenstand bilden –die basalen Voraussetzungen kommunikati-ver Zusammenhänge und damit auch von !Texten, literarischen wie nicht-literarischen,verhandelt. Wie alle Texte nehmen daher

auch biblische einen in semiotischer Hinsichtselbstreferentiellen Charakter an, sobald sieüber Zeichen sprechen, was wiederum zuweitreichenden erkenntnistheoretischen undtheologischen Konsequenzen führt, v. a.dann, wenn es um Zeichen geht, die (wie z. B.der brennende Dornbusch, Ex 2,23 – 4,18)eine Verbindung zum Bereich des Göttli-chen versprechen. Verstärktes Interesse anFragestellungen der S. fanden v. a. in derzweiten Hälfte des 20. Jh.s wirksame Strö-mungen der Literaturwissenschaften, undzwar in Folge des für Philosophie, Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaften glei-chermaßen bedeutsamen !Linguistic Turn –einer Verschiebung der wissenschaftlichenAufmerksamkeit von den Sachproblemen hinzu ihrer sprachlichen Verfasstheit oder Re-präsentation. Zu nennen sind der Struktura-lismus und eine Reihe aus ihm hervorgegan-gener oder kritisch auf ihn Bezug nehmenderSemiotiker (R. Barthes, U. Eco, J. Kristeva),außerdem methodische Paradigmen wie derrussische Formalismus (V. Sklovskij, R. Ja-kobson), die !Dekonstruktion (J. Derrida, P.de Man), die v. a. vom Denken M. Foucaultsinspirierte !Diskursanalyse sowie die in derAuseinandersetzung zunächst an den Schrif-ten S. Freuds, später J. Lacans geschulte lite-raturwissenschaftliche Psychoanalyse (!Psy-chologische Auslegung). Während diesprachwissenschaftliche Semiotik F. de Saus-sures von weitgehend stabilen oder sich sta-bilisierenden Zeichen oder Zeichenprozessenausgegangen war, teilen die jüngeren, ausunterschiedlichen disziplinären Zusammen-hängen hervorgegangenen Paradigmen einekritische Haltung gegenüber einer solchenVorstellung. Im Zentrum ihres Interessesstehen z. B. metaphysische Implikationen derZeichen und ihres Gebrauchs oder die Fragenach den dabei wirksamen Mechanismen undKräften. Eine Reihe literaturwissenschaftli-cher Tendenzen des ausgehenden 20. Jh.s hatdiese Überlegungen aufgenommen und derAnalyse von (den Bereich der !Literatur be-rührenden) Geschlechterverhältnissen, In-szenierungen/Performanzen, Ritualen, sozia-len oder kulturellen Praktiken zu Grundegelegt. Hierzu gehören von !Gender Studies

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und Queer Studies, !Cultural Studies, Kul-tursemiotik oder dem !New Historicism be-einflusste Strömungen der Literaturwissen-schaft.

Bibliographie: R. Barthes, Elemente der Semiolo-gie, Frankfurt a. M. 1979. – J. Derrida, Die Schriftund die Differenz, Frankfurt a. M. 1972. – U. Eco,Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987.– J. Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache,Frankfurt a. M. 1978. – P. de Man, Allegorien desLesens, Frankfurt a. M. 1988. – D. Mersch (Hg.),Zeichen über Zeichen, München 1998. – W. Nöth,Handbuch der Semiotik, Stuttgart/Weimar 22000. –R. Posner et al. (Hgg.), Semiotik, 4 Bde., Berlin/NewYork 1997 – 2004. Volker Mergenthaler

IV. TextlinguistischS. als Theorie und Lehre von Zeichen undZeichenprozessen in Natur und Kultur (in-dexikalische, ikonische, symbolische Zeichen)überspannt alle mit Zeichen befassten Diszi-plinen und ist daher auch für die Sprachwis-senschaft, deren Gegenstand die symboli-schen sprachlichen Zeichen und ihr Gebrauchsind, eine übergeordnete Disziplin, auf derenKategorien und Konzepte, v. a. die in der S.entwickelten Zeichentheorien (z. B. von F. deSaussure, C.S. Peirce, C.W. Morris, C.K.Ogden/I.A. Richards), sie sich bezieht. DieSprachwissenschaft setzt sich u. a. mit demZeichencharakter des !Wortes (Zeichenbe-deutung), aber auch mit !Text und Diskurs(Zeichengebrauch) unter dem Aspekt der je-weiligen Zeichenhaftigkeit auseinander.Auch Nonverbales, das mit Text/Textsorteund !Stil (als Teil des Textes) zusammen-wirkt, wird in die Betrachtung von Texten alskomplexen Zeichen einbezogen. Im Kontextder S. werden sprachliche Zeichen, die wohldas komplexeste und am besten bearbeiteteZeichensystem darstellen, gemeinhin als Zei-chen schlechthin aufgefasst, da sie allein dasSprechen über Zeichen, die metasprachlicheÄußerung, erlauben. Nach J.M. LotmansVorstellung von der ,Semiosphäre‘ (Ort derKultur und der Sprache) gehört demnach dieSprache zum Kern der Semiosphäre, währendandere Zeichensysteme sich weiter entferntdavon befinden. Angesichts der von einigen!Autoren (W. Welsch, U. Pörksen) ange-nommenen zunehmenden Dominanz bildli-

cher Zeichen, möglicherweise bedingt durchdie bessere Verfügbarkeit von Bildern in denneuen Medien, kann man Verschiebungenzwischen Kern und Peripherie zugunsten derBilder sowie stärkere Verflechtungen vonText und !Bild nicht ausschließen. Vertretervon Text- und Stiltheorie (H. Kalverkämper)vertreten ohnehin die Auffassung, dass dieBetrachtung sprachlicher Zeichen allein keinhinreichendes Bild vom Informationsangebotgeschriebener wie gesprochener Texte gibt.Der gesprochene Text ist nur im Kontext derihn mit konstituierenden mimischen undgestischen Mittel zu verstehen. Das Zeichen-angebot eines schriftlichen Textes kann nurim Zusammenhang von Typographie, Pro-portionen der Textfigur u. a. erfasst werden.Innerhalb der semiotisch orientiertenSprachwissenschaft richtet sich das Interesseauf Schwerpunkte wie Textsemiotik, Stilse-miotik, Semiotik des Ästhetischen, Kulturse-miotik, Mediensemiotik und Stadtsemiotik.Zu den wichtigsten Semiotikern, auf die sichdie Sprachwissenschaft bezieht, zählen U.Eco, J. Kristeva, R. Jakobson, J.M. Lotman, J.Mukarovsky, C.S. Peirce, F. de Saussure.

Bibliographie: U. Fix, Zugänge zu Stil als semi-otisch komplexer Einheit, in: U. Fix, Stil – einsprachliches und soziales Phänomen, Berlin 2007,179 – 192. – H. Kalverkämper, Art. Semiotik, in:HWRh 8 (2007), 733 – 826. – J.M. Lotman, Über dieSemiosphäre, in: Zeitschrift für Semiotik 5 (1990),287 – 305. – W. Nöth, Handbuch der Semiotik,Stuttgart/Weimar 22000. – U. Pörksen, Weltmarktder Bilder, Stuttgart 1997. – W. Welsch, Ästheti-sches Denken, Stuttgart 1993. Ulla Fix

SeptuagintaI. AlttestamentlichDie S. (= LXX) ist die !Übersetzung der he-bräischen Bibel ins Griechische (3. – 1. Jh.v. Chr.) – die ,Mutter‘ aller !Bibelüberset-zungen und die erste Übersetzung eines lite-rarischen Werkes überhaupt. Der Name(,siebzig‘ = LXX) bezieht sich auf eine von Ps.-Aristeas (2. Jh. v. Chr.) überlieferte Legendeüber die Übertragung der Tora durch 72Schriftgelehrte für die alexandrinische Bi-bliothek, wird aber allgemein für die ganzeSammlung – einschließlich der sog. !Apo-kryphen, von denen einige in griechischer

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Sprache abgefasst wurden – oder auch für ihreErstfassung zur Unterscheidung von rezen-sierten Textformen verwendet.

Was den Ursprung der Übersetzung an-geht, ist Ps.-Aristeas nicht als historischeQuelle anzusehen, obwohl die Datierung derersten Phase in die Zeit des Ptolemaios II.(282 – 246 v. Chr.) sowie ihre Verortung inAlexandria plausibel sind. Faktisch ist die S.selbst die einzige Quelle, die durch ihreSprache und Übersetzungsweise Hinweise aufihre Entstehung geben kann. Nach derMehrheit der Forscher wurde sie von alexan-drinischen Juden für die Bedürfnisse ihrerethnisch-religiösen Gemeinschaft übersetzt.V. a. ging es um die Bewahrung jüdischerIdentität, für die die !Tora konstitutiv war.Diese Identität war in Gefahr durch dieschnelle Assimilation mit der hellenistischenGesellschaft und Kultur, verloren zu gehen.Abgesehen von der starken hebräischen In-terferenz, die einerseits dem Ideal der Ge-nauigkeit entspringt, andererseits das Fehleneiner reflektierten Übersetzungstheorie be-zeugt, haben die Übersetzer die griechischeSprache wie Muttersprachler verwendet. Mitgroßer Wahrscheinlichkeit wurde zuerstmündlich übersetzt (vgl. Targum), und dieradikale Neuigkeit war die Verschriftung derÜbersetzung – zuerst wohl nur eine prakti-sche Entscheidung. Allmählich wurde die S.aber dem hebräischen Original gleichgesetztund für göttlich inspiriert gehalten (Philo).

Wo sich die S. vom Masoretischen Textunterscheidet, sollte differenziert werden, obdie Ursachen bei der Vorlage oder beimÜbersetzer zu finden sind. Bei der Einschät-zung der interpretativen Tätigkeit der ein-zelnen Übersetzer ist es wesentlich, zwischenTextproduktion und Textrezeption zu un-terscheiden (A. Pietersma). AtomistischeÜbersetzungsweise führt oft bei schwierigenStellen zu semantischen Verschiebungen, wasin der !Rezeption eine – vom Übersetzernicht intendierte – Neuinterpretation erge-ben kann.

Die religionshistorische Bedeutung der S.besteht v. a. darin, dass sie die hebräischeBibel für weite Kreise auch außerhalb des Ju-dentums zugänglich gemacht hat.

Bibliographie: A. Aejmelaeus, On the trail of theSeptuagint translators, Leuven 2007. – J. Barr, Thetypology of literalism in ancient biblical translation,Göttingen 1979. – S.P. Brock, Art. Bibelüberset-zungen I. 2. 1., in: TRE 6 (1980), 163 – 172. – K.Brodersen, Aristeas. Der König und die Bibel,Stuttgart 2008. – J.M. Dines, The Septuagint, Lon-don/New York 2004. – A. Pietersma, LXX and DTS:A new archimedean point for Septuagint studies?,in: BIOSCS 39 (2006), 1 – 11. – E. Tov, Die griechi-schen Bibelübersetzungen, in: ANRW II.20.1, Ber-lin/New York 1987, 121 – 189.

Anneli AejmelaeusII. NeutestamentlichSeit den ältesten christlichen Dokumenten(Paulusbriefe) ist nicht nur das GriechischeHauptsprache des Christentums, sondernauch die S. seine Bibel. Noch vor der Fixierungeines !Kanons ist sie ,die Schrift‘ (Röm 4,3usw.), einmal auch ,das Alte Testament‘ (2 Kor3,14). Als Zitierformel genügt c´cqaptai ,essteht geschrieben‘. Als Sprecher des Pen-tateuch gilt Mose (Mk 7,10 usw.), als der derPsalmen David (Apg 1,16). Auch in Jesus-Lo-gien begegnen unverkennbar Septuaginta-Formulierungen (Mk 7,6 f. par. < Jes 29,13LXX). Die Schrift gilt als inspiriert (2 Tim3,16; vgl. 2 Petr 1,20). Absichtliche Verände-rungen des Wortlauts in christlichem Sinne,wie sie v. a. im 2. Jh. vorkommen konnten(Barnabasbrief, Justin), sind im kanonischenNT nicht festzustellen. Jedoch gelten antikeZitierregeln: Anpassungen des zitiertenWortlauts an den Kontext sind selbstver-ständlich; ungewöhnlich und typisch für dasNT und die Rabbinen ist das wörtliche Zitie-ren.

Prinzipiell bleibt der hebräische Text inGeltung. Zweisprachige Autoren können sichauch des Urtextes bedienen: Paulus in 1 Kor15,54 (< Jes 25,8 hebr.); so auch Mt 8,17 (< Jes53,4 hebr.); Joh 13,18 (< Ps 41,10 hebr.) Alleanderen Autoren sind auf die S. angewiesen.Vom Dan und gelegentlich auch sonst (D.-A.Koch) wird nicht die Septuaginta-Fassung zi-tiert (so Dan 7,13 in Mk 14,62), sondern einevermutlich schon jüdische Überarbeitung; imFalle Daniels ist es jene wörtlichere Überset-zung, die man später nach Theodotion be-nannte.

Dominierend sind Gen, Jes und die Pss,also jeweils die Anfangsbücher eines Corpus

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(Nomos, Schriftpropheten, Hagiographen).Die historischen Bücher (,Frühere Propheten‘der rabbinischen Bibel) treten zurück, sindvielleicht noch nicht ganz auf Griechischgreifbar. Die Tora (Nomos) verliert den Vorzugvor den übrigen Teilen und gilt v. a. als Pro-phetie. An Stellen wie Röm 1,2; 15,3 f. oderMk 9,11 – 13; 14,21. 48 f. handelt es sich, trotzZitierformel, um Verweise auf die (christlichzu interpretierende) Schrift im Ganzen.

Es entsteht ein eigener, semitisierenderStil, syntaktisch schlicht, aber anspielungs-reich; er wird sogar zur Dichtung verwendet(Lk 1,46 – 55. 68 – 79; 2,29 – 32; Offb).

Urchristliche Lehrpraxis schuf Zusam-menstellungen von Septuaginta-Zitaten zubestimmten Themen der Lehre, insbesonderewas die Messianität Jesu betrifft. Ab wannsolche ,Florilegien‘ sich schriftlich nieder-schlugen (frühester Beleg bei Cyprian), ist eineFrage der Patristik.

Bibliographie: M. Hengel, Der vorchristlichePaulus, in: Ders./U. Heckel (Hgg.), Paulus und dasantike Judentum, Tübingen 1991. – H. Hübner,Vetus Testamentum in Novo, Bd. 1/2: Göttingen2003, Bd. 2: Göttingen 1997. – Ders., New Testa-ment interpretation of the Old Testament, in: M.Sæbø (Hg.), HBOT. Hebrew Bible/Old Testament,Bd. 1/1, Göttingen 1996, 332 – 372. – D.-A. Koch,Die Schrift als Zeuge des Evangeliums, Tübingen1986. – M. Müller, The first Bible of the church,Sheffield 1996. – F. Siegert, Zwischen HebräischerBibel und Altem Testament, 2 Bde., Münster 2001(bes. 351 – 357). Folker Siegert

III. KirchengeschichtlichDie Aristeas-Legende (!I.) beweist indirekt,dass die S. innerhalb des Judentums um-stritten war und apologetischer Stützungbedurfte. Im 1. Jh. n. Chr. betonen jüdi-scherseits Josephus (AJ 12,11 – 118) und Philov. Alexandrien (Mos. 2,29 – 41) Autorität undDignität der S.

Aufgrund ihrer hohen Verbreitung in denhellenistisch geprägten jüdischen Gemeindender Mittelmeerwelt wurde die S. bei Entste-hen des Christentums zur !Heiligen Schriftauch der Christen, die sie sogleich als argu-mentative Basis ihrer Mission nutzten. Justinsetzt die S. im 2. Jh. n. Chr. als christliches ATvoraus (dial. 137,3). Bei Origenes erfährt der

Text im 3. Jh. durch das Projekt der Hexaplaeine Revision auf Basis philologischer Ver-gleichung mit dem Hebräischen sowie mitalternativen griechischen Übersetzungen;zugleich ergibt sich nun ein relativer Ab-schluss des (christlichen) Kanonisierungspro-zesses. Auch in der lateinischen Kirche war dieS. hoch geschätzt (Aug. civ. 18,42), wenn-gleich Hieronymus seiner Übersetzung (!Vulgata) einen hebräischen Text zugrundelegte. Parallel zu der Entwicklung, dass die S.mit dem NT zur Heiligen Schrift der frühenKirche avancierte, vollzog sich auf jüdischerSeite durch die rabbinische Restauration nachder Tempelzerstörung eine Hinwendungzum hebräischen Text in Abgrenzung vomhellenistischen Judentum und zu Lasten desjüdischen Strangs der Septuaginta-Tradie-rung. Aufgrund ihrer Überlieferungsge-schichte ist die S. daher heute ein christlichgeprägtes Buch (und die offizielle Text-grundlage der griechisch-orthodoxen Kir-che); gleichwohl ist sie unter hermeneuti-schen Gesichtspunkten als eine Christentumund Judentum gemeinsame Grundlage nebender Hebräischen Bibel anzusprechen. Kultur-geschichtlich ist die Entstehung der S. alsenorme gedankliche und spirituelle Leistungder notwendigen Neuinterpretation hebräi-scher Denkformen unter den Bedingungenund in den Sprachformen des hellenistischenKulturraums zu würdigen. Es handelt sichum „die erste groß angelegte Übertragungeines orientalischen religiösen Textes insGriechische“ (S. Brock).

Bibliographie: S. Brock, Art. BibelübersetzungenI. 2, in: TRE 6 (1980), 163 – 172. – A.E. Brook et al.(Hgg.), The Old Testament in Greek, Cambridge1906 – 1940. – Göttinger Akademie der Wissen-schaften (Hgg.), Septuaginta, Göttingen 1924 ff. –M. Karrer/W. Kraus (Hgg.), Septuaginta Deutsch, 2Bde., Stuttgart 2009. – A. Rahlfs (Hgg.), Sep-tuaginta, Stuttgart 1935 ff. (editio altera R. Hanhart,Stuttgart 2006). – M. Tilly, Einführung in dieSeptuaginta, Darmstadt 2005 (Lit!). Jörg Ulrich

IV. JudaistischIm griechisch-sprachigen antiken Judentumgenoss die S. wegen der Verehrung der grie-chischen Kultur und Sprache eine hohe Stel-lung, die sie später mit dem Untergang der

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ägyptischen Diaspora im Aufstand von 115 –117 n. Chr. und der Übernahme der S. durchdas Christentum und andere „ketzerische“Strömungen verlor. Die rabbinischen Quellenüberliefern eine zusammenhängende Erzäh-lung über die S. und verweisen auch öfterepisodisch auf diese Tradition. Der Topos dersog. ,Tora für den König Talmai‘ ist in dreiFassungen erhalten, die sich auch hinsichtlichder Datierung unterscheiden (s. G. Veltri1994): In der jüngsten Fassung (Sof 1,7 undSefT 1) wird das Übersetzen der !Tora alsFolge des Präzedenzfalles der griechischenÜbersetzung verboten. Literarische Grund-elemente dieser Fassung sind die negativeBegründung, die Tora sei, in welche Spracheauch immer, nicht übersetzbar, und der Ver-gleich mit der Episode des Goldenen Kalbes.Die zweite, ältere Fassung (SofB 1,8 und Sof1,7) findet sich in Quellen, die als babylonischbetrachtet werden können. Die Erzählungbesteht aus der Initiative des Königs, derKlausur der 72 und der (aus göttlicher Ein-gebung resultierenden) Übereinstimmungihrer jeweiligen Absichten. Eine noch ältereFassung bietet keine Erzählung, sondern er-wähnt nur einige Änderungen in der Tora fürden König Ptolemaios (MekhY Bo 14; BerR8:11; 10:9; 38:7; 48:17; 63:3; 96:6 u. ö.). Be-züglich des literarischen Kontextes, in den dieTraditionstopoi integriert sind, lassen sichzwei ,Einbettungsarten‘ unterscheiden: Einemidraschartige als Erklärung einer bestimm-ten Schwierigkeit im biblischen Vers, und einehalakhische bzw. traditionsnormative miteinem Verweis auf die Regelung der Schrei-berarbeit und Aufbewahrung der Schriften,d. h. auf den Umgang mit der Bibel.

Ähnlich wie Aristeas vertraten die Rabbinender ersten Jahrhunderte n. Chr. die Meinung,die S. sei ein rein apologetisch-didaktischerText, der für den König Ptolemaios ,geändert‘wurde. Gemeint ist ein Text, den man herme-neutisch erklären, d. h. ändern muss, wenn eineautoritätsgebundene Auslegung nicht möglichist. In diesem Sinne ist die S. für die Rabbinenkristallisierte Hermeneutik.

Bibliographie: C. Dohmen/G. Stemberger, Her-meneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testa-ments, Stuttgart 1996. – M. Harl et al., La Biblegrecque des Septante, Paris 21994. – M. Hengel/H.

Löhr, Schriftauslegung im antiken Judentum undim Urchristentum, Tübingen 1994. – M. Hengel/A.M. Schwemer, Die Septuaginta zwischen Juden-tum und Christentum, Tübingen 1994. – E. Tov,The Greek and Hebrew Bible, Leiden 1999. – G.Veltri, Eine Tora für den König Talmai, Tübingen1994. – Ders., Libraries, translations, and “canonic”texts, Leiden 2006. Giuseppe Veltri

Sexualität !Gender Studies

SinnI. AlttestamentlichS. (1) als Wahrnehmungsorgan (Tastsinn, Ge-ruchssinn) ist zu unterscheiden von S. (2) alsAntwort auf die Frage nach dem innerenFunktions- und Wirkzusammenhang von Wahr-genommenem und seinem Wozu (S. einerSache) sowie von S. (3) als Fähigkeit, Wahrge-nommenes und seinen inneren S. im Rahmendes Raum-Zeitkontinuums und in seinenpersonalen und sozialen Bezügen zu erfassen(Spürsinn, Realitätssinn), in umfassendereSinnzusammenhänge einzuordnen, darübernachzudenken (sinnen) und daran sein Ver-halten auszurichten (S. haben für, Orientie-rungssinn). Insofern ist S. „der geistige Atemdes menschlichen Lebens“, der als „Inbegriffvon Selbst- und Weltdeutung [...] immer dannauf[tritt], wenn Menschen sich selbst und ihreWelt verstehen oder deuten müssen, um lebenzu können“ (J. Rüsen/K.-J. Hölkeskamp, 2).„Dieses mentale Leben vollzieht sich [...] inkonkreten sozialen Räumen und in konkretensozialen Zeiten“ und „setzt [...] ein Subjektvoraus, das um sich und seinesgleichen weiß“,„sich von anderen abgrenzt“ und dabei zu-gleich seine „personale [...] und kollektive [...]Identität [...]“ aus- und umbildet (a.a.O., 4). S.findet seinen Ausdruck in „Sinnkonzepte[n]“,die „aus Zusammenhangswissen, umfassen-den Welterklärungen, aus normativ aufgela-denen Richtungs- und Zielbestimmungenvon Handeln [...], aus der Einheit von Welt-erklärung und Absichten und [...] aus derFormierung von Identität und Differenz“bestehen (ebd.). „Grundsätzlich aber ist S.prekär, [...]“ weil er aufgrund der zeitlichenVerfasstheit menschlichen Lebens „stetigen

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Originaldaten 

Herausforderungen durch Kontingenzer-fahrungen ausgesetzt ist“ (a.a.O., 6). Diesefordern den Menschen unablässig Deutungs-leistungen ab, um sich im Lichte geltenderSinnkonzepte im Fluss der !Zeit zu orien-tieren. Dieser Deutungszwang manifestiertsich in kulturellen Praktiken der Sinnbil-dung, indem etablierte Sinnkonzepte rezi-piert, aktualisiert und in ihrer gegenwarts-und zukunftserhellenden Aneignung stetsmodifiziert, transformiert oder durch neueabgelöst werden. Sinnbildung vollzieht sichvorrangig im Medium sprachlicher !Kom-munikation und bedient sich des Lexikons,der Morphologie und Syntax von Sprachen,um textförmige Sinnträger zu erzeugen,deren Sprachgestalt den Aufbau des Textsinnsim Rezeptionsprozess lenkt. Als Sinnträgersind !Texte einerseits Artefakte der Kom-munikation bzw. Kommunikationsangebote,die andererseits im Rezeptionsprozess alsPartituren bzw. Prozeduren der Sinnbildungfungieren.

Daraus erhellt das spezifische Sinnkon-zept, das als Schriftsinn den biblischen Texteneigen ist. Darin kommen Menschen zu Wort,die „sich und ihre Welt [...] vom Gottesbezugher und im Horizont dieses Gottesbezugswahr[nehmen]“ (I.U. Dalferth 2003, 543), d. h.ambivalent konfrontiert mit Gott, der alskontingente Wirkinstanz (Ex 3,14) ihr Lebendurchdringt und mitbestimmt. Statt prekärgewordenen S. in neuen S. zu überführen,zeigen uns diese biblischen Gottesdiskursejedoch „die Welt, in der wir leben, in ihrenvielfältigen Wirklichkeits- und Möglichkeits-dimensionen“, d. h. als Welt, die „sowohldurch das gefährdet als auch in dem kreativverwurzelt“ ist, „was sich als Unverfügbaressinnvoller Strukturierung und Kontrollier-barkeit [...] entzieht, aber in seiner Unbe-stimmbarkeit als permanenter Hintergrunddes Bestimmbaren präsent ist“ (I.U. Dalferth2005, 255). Als Partituren der Sinnbildungpräsentieren sie uns Modelle, wie Menschenvon Gott als Kontingenz-Gegenüber geredetund erzählt, sich mit ihm in Beziehung ge-setzt und in Verantwortung vor ihm gelebthaben, jedoch stets im unbedingten Respektvor ihm als personal verkörperter „Appräsenzdes Sinnlosen im Sinnvollen, des Unverfüg-

baren im Verfügbaren und des Unkontrol-lierbaren im Kontrollierbaren“ (255). DasSinnpotential dieser Texte entfaltet sich pri-mär in ihrem teilnehmend verstehendenNachvollzug als Leben vor Gott.

Bibliographie: I.U. Dalferth, Die Wirklichkeit desMöglichen, Tübingen 2003. – Ders., Leben ange-sichts des Unverfügbaren, in: W. Stegmaier (Hg.),Orientierung, Frankfurt a. M. 2005, 245 – 266. – C.Hardmeier, Unterwegs zu einer performativenTheologie der Bibel, in: Ders., Erzähldiskurs undRedepragmatik im Alten Testament, Tübingen2005, 3 – 31. – J. Rüsen/K.-J. Hölkeskamp, Warumes sich lohnt, mit der Sinnfrage die Antike zu in-terpretieren, in: K.-J. Hölkeskamp et al. (Hgg.), Sinn(in) der Antike, Mainz 2003, 1 – 15. – C. Thiel, Art.Sinn, in: EEPhW 3 (1995), 810 – 812.

Christof HardmeierII. NeutestamentlichDas polysemantische Substantiv ,S.‘ wird hiernur in Differenz zu!,Bedeutung‘ behandelt.Die Differenzierung zwischen Bedeutung(meaning) und S. (sense) bezieht sich im Kontextvon !Hermeneutik auf verschiedene Mög-lichkeiten des !Verstehens von Sprache. S.bezeichnet das propositionale und pragmati-sche Potential von Texten, das die !Leserüber die historische Ausgangssituation derTexte und die !Autorenintention hinaus inden Texten konstruieren (!Reader-ResponseCriticism). Die Sinnkomponente der Sprache inihrer grammatischen, semantischen undpragmatischen Dimension ist die Basis derHermeneutik, soweit diese jenseits der strenghistorischen Rekonstruktion der Bedeutungsprachlicher Aussagen nach einem weiter-führenden und aktualisierenden Verstehensucht. Bei Texten der näheren oder fernerenVergangenheit betrifft die Frage nach dem S.der Textaussagen besonders das Verhältniszwischen historisch-philologischer Rekon-struktion der Autorenintention und den lite-raturwissenschaftlichen Kategorien der Re-zeptionsästhetik und der !Intertextualität.Je weniger die Literaturtheorie !,Autor‘ und!,Text‘ als eigenständige und präzise zu de-finierende Größen, die mit Wörtern und Sät-zen ,Bedeutung‘ sprachlicher Äußerungen ge-nerieren, verstehen will, desto stärker werdendie Textrezipienten in die Konstruktion desS.es einbezogen. Damit erweitern sich zu-

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gleich die genuin hermeneutischen Spielräu-me der !Interpretation und !Applikation.Andererseits stellt sich die Frage nach mögli-chen Grenzen der Sinnzuschreibung als Fragenach den Bedeutungs- und Sinngrenzen vonTexten und der Möglichkeit ,sachgemäßen‘oder – normativ gewendet – ,richtigen‘ Ver-stehens.

Die !Exegese der ntl. Schriften hat spä-testens seit Origenes mit Hilfe des dreifachen!Schriftsinnes unterschiedliche Sinnpoten-tiale der Texte über den Literalsinn hinauserschlossen. Die Geschichte der ntl. Herme-neutik lässt sich über die Jahrhunderte hin-weg als Geschichte der Zuschreibung je neuerSinnpotentiale der Texte des NT verstehen.Demgegenüber hat seit dem 18. Jh. die his-torisch-kritische Exegese das Verstehen ingroßer Strenge auf die philologisch-histo-rische !Methode begrenzt, zur !Dekon-struktion von S. in den Texten beigetragenund damit zugunsten der ,Bedeutung‘ votiert.Die Autorenintention und die Eigenständig-keit der einzelnen Texte haben in diesemwissenschaftlichen Paradigma einen gleich-sam normativen hermeneutischen Status.Theologisch lässt sich die Fokussierung derhistorisch-kritischen Methode auf die Auto-renintention und die Textexegese mit offen-barungstheologischen Interpretamenten (!Schrift, !Wort Gottes) verbinden. Die enga-gierten und !kontextuellen Hermeneutikender beiden letzten Generationen haben dieSuche nach aktuellen Sinnpotentialen der ntl.Texte neu belebt, ohne die ,Bedeutung‘ derTexte in ihrer historischen Situierung aufzu-geben.

Bibliographie: O. Wischmeyer, Hermeneutik desNeuen Testaments, Tübingen/Basel 2004. – Dies.,Texte, Text und Rezeption, in: Dies./S. Scholz(Hgg.), Die Bibel als Text, Tübingen/Basel 2008,155 – 192. Oda Wischmeyer

III. Systematisch-theologischJedes Aufstehen am Morgen ist ein Aufschei-nen von S., nämlich die Erfahrung undselbstverständliche Annahme des Daseins derWelt und unserer selbst in ihr als in einemkontinuierlichen Zusammenhang des Ganz-seins, das alle Lebensvollzüge umschließt.Diese Erfahrung geht jeder Begrifflichkeit

voraus, die sie erfassen will; insofern ist S.durchaus vom Gebrauch des Begriffs ,S.‘ zuunterscheiden. Diese Konstellation drücktsich in der Formulierung aus, dass S. als ,ge-geben‘ gedacht werden muss und nicht alserzeugt verstanden werden kann. Allerdingserschließt sich der S. auch wiederum nur imUmgang mit ihm, also in Akten des Bestim-mens der Welt, der humanen Orientierung inder Welt, des intersubjektiven Handelns aufdie Welt hin. Darin kommt zum Ausdruck,dass dieser sinnhafte Umgang nicht aus derWelt selbst hergeleitet werden kann.

Das ,Gegebensein‘ von S. ist nur für Sin-neswesen mit Sinnkompetenz gegeben. Dieunwillkürliche Verknüpfung unseres Daseinsmit den Sinnstrukturen der Welt geht auf dasEingebundensein unserer Sinnlichkeit in diePhänomene der Welt zurück; nur was wirüber unsere Sinnesorgane sinnlich rezipieren,kann zum Sinnträger werden. Dass sich je-doch Sinneseindrücke zu S. verstetigen unddamit begreifbar machen, setzt voraus, dass esSinnstrukturen eigener Art im menschlichenLeben gibt, von denen im Prozess des !Ver-stehens und !Deutens Gebrauch gemachtwird. Weil sich das eine nicht aus dem ande-ren ergibt, verlangt die Analyse von S. eineSymbolisierung der Sinnkompetenz von ei-gener Art.

Diese Deutung von Sinnkompetenz kannnur als ein Anwesen von S. in jedem indivi-duellen Sinnwesen selbst verstanden werden.Diese Sinngegenwart muss so gedeutet wer-den, dass sie selbst das Finden von S. unddamit das Gebrauchmachen von S. verknüpft:Wir wissen uns als Menschen in der Welt mitder Fähigkeit zu !Rezeption und Ausdruckvon S. in der Welt begabt. Dass wir über dieseBegabung verfügen, haben wir nicht selbsterzeugt; denn selbst als fiktive Erzeugerkönnten wir uns nur verstehen, wenn wirdieses Erzeugen mit S. verbinden könnten.Das aber ist selbstwidersprüchlich. Insofernsind Deutungen erforderlich, die die spezifi-sche Einheit von Sinngegebensein und Sinn-ergreifen verständlich machen.

Alle entsprechenden Deutungen erfüllenstrukturell die Funktion von Religion, obdieser Ausdruck gebraucht wird oder nicht.Denn sie müssen auf eine dem sinnhaften

Sinn 550

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Handlungszusammenhang entnommeneWeise den Sachverhalt des vorwillentlichenDaseins und bewussten Erschlossenseins vonS. symbolisieren. Das können sie selbst nur inder Weise tun, dass sie sich in der Gestaltsinnlicher (insofern: symbolischer) Deutun-gen des Sinngrundes präsentieren. In dieserBetrachtung stehen Symbolisierungsfix-punkte wie ,Natur‘ und ,Gott‘ vor denselbenmethodischen Ansprüchen. Die explizit(christlich-) religiöse Deutung zeichnet sichdadurch aus, dass sie das Anwesen von S. inden Menschen als Sinneswesen im Umfeldeiner sinnvollen Welt von Gott her versteht,der als der Schöpfer der Welt zugleich denMenschen dadurch zum Sinnwesen werdenlässt, dass er selbst Mensch wird, also unend-lichen, letzten S. unter weltlichen Bedingun-gen aufscheinen lässt. Damit wird der Modusdes Sinnvollzuges selbst zur Bedingung derSinngegenwart. Zugleich wird durch dieAufnahme des Sinnvollzuges in den Sinnge-danken allerdings auch die Abwesenheit vonS. zum Moment von S. überhaupt. Daher lässtsich auch die religiöse Begründung von S. nurals fortlaufender Prozess von Sinnkommuni-kation verstehen. Dieser Prozess ist, wie dasVerstehen selbst, strukturell alternativlos,aber empirisch stets gefährdet.

Bibliographie: W. Gräb, Sinnfragen, Gütersloh2006. – D. Korsch/L. Charbonnier (Hgg.), Der ver-borgene Sinn, Göttingen 2008. – N. Luhmann, Sinnals Grundbegriff der Soziologie, in: Ders./J. Ha-bermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtech-nologie, Frankfurt a. M. 1972, 25 – 100. – A. Schütz,Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Frankfurta. M. 1981. – P. Tillich, Sein und Sinn, Stuttgart1969. Dietrich Korsch

IV. AltphilologischFür die antike !Hermeneutik ergibt sich einterminologisches Problem, insofern der Be-griff S. zum einen nicht streng von dem der!Bedeutung und zum anderen häufig auchnicht von seinem subjektiven Korrelat, dem!Verstehen, zu trennen ist; ferner gibt es eineAnzahl griechischer und lateinischer Äquiva-lente für den Ausdruck S. (!Buchstabe undGeist). Die Frage nach dem S. des Bibeltextesist für die patristische Hermeneutik unlösbarmit der Frage nach der !Wahrheit der bibli-

schen Aussagen verbunden. Origenes fasst S.subjektiv, dynamisch als ,Einsicht‘ in denText (princ. 4,2,3. 9 moOr). Der S. entsprichtandererseits den ,Gedanken‘ der personifi-zierten!Schrift bzw. der vom Heiligen Geistinspirierten biblischen !Autoren. Die Am-bivalenz wird methodisch greifbar in derTheorie vom mehrfachen !Schriftsinn, fürdie Origenes zwei Einteilungsschemata lie-fert. Auf das unterschiedliche Fassungsver-mögen der !Leser beziehen sich die durchLeib, Seele und Geist symbolisierten Ausle-gungsebenen der !Bibel (princ. 4,2,4). ImGrunde unterscheidet Origenes aber nur zweiAbsichten des inspirierenden Geistes undentsprechend zwei Ebenen der Schriftaus-sage, den Wortsinn und den pneumatischenS. (princ. 4,2,7. 9). Damit verbunden ist dieÜberzeugung, dass der eigentliche S. derBibel, d. h. die heilbringende Lehre Christi,hinter dem Wortlaut zu suchen ist. Auf den imBibeltext enthaltenen objektiven S. zielt Ori-genes, wenn er den historischen, den geistli-chen und den moralischen S. unterscheidet(hom. in Gen. 2,6).

Augustin stellt Reflexionen an über dasVerhältnis von Autor, !Interpret und Wahr-heit des Textes (util. cred. 10 – 13; Gn.litt. 1,19,38). Vor neuplatonischem Hinter-grund unterscheidet er die beabsichtigteMeinung des Autors von der Auffassung desLesers von dieser Meinung und beide wie-derum von der objektiven Wahrheit. Bei der!Auslegung des Schöpfungsberichts formu-liert Augustin beispielhaft die doppelteSinnfrage nach der Wahrheit der berichtetenDinge und nach der Meinung des Berichter-statters (conf. 12,23,32). Während die Wahr-heit des Berichteten vorausgesetzt wird imBekenntnis zu Gott als Schöpfer, nimmt Au-gustin gegenüber der !Interpretation derAutormeinung eine distanzierte Haltung ein.Der Widerspruch findet seine Auflösung inder signa-Lehre. Entsprechend der Polyvalenzder !Zeichen sind grundsätzlich mehrereverschiedene Interpretationen des Textesmöglich (doctr. chr. 3,27,38,84), ja sogar vombiblischen Autor intendiert (Gn. litt. 1,19,38).Auf der Annahme der Zeichenhaftigkeit der!Bibel beruht auch die augustinische Un-terscheidung von Literal- und Spiritualsinn.

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Obwohl der Bibeltext grundsätzlich auf einehöhere ontologische, d. h. spirituelle Realitätverweist, ergibt manchmal schon die Ober-fläche der Zeichen einen ethisch und dogma-tisch sinnvollen Zusammenhang. Erst wennder literale S. nicht genügt, gilt es, den figu-ralen S. zu suchen, ein Prinzip, dem schon derSokrates-Schüler Antisthenes bei der Ausle-gung der homerischen Epen folgte.

Der kanonische Anspruch der Bibel führtandererseits zu einer genaueren Festlegungdes Textsinns durch die patristische Herme-neutik. Vor dem Hintergrund der Verbalin-spiration der Bibel liegt für Augustin das Zielder Bibellektüre im Auffinden ,der Gedankenund der Intention der biblischen Autoren‘und damit im Aufspüren des Willens Gottes(doctr. chr. 2,5,6). Doctr. chr. 2,9,14 wird der S.des ganzen Bibeltextes inhaltlich bestimmtals Glaubensregeln und Vorschriften zur Le-bensführung (vgl. auch doctr. chr. 3,10,14). Inder Psalmenexegese rekurriert Augustin aufden figurativen Schriftsinn, um den christo-logischen S. der Psalmen zu erweisen. DerExeget darf nicht beim vordergründigenVerständnis stehen bleiben, sondern mussden inneren, tieferen S. suchen (z. B. en.Ps. 18,2,4; 34,3,3; 103,1,12; 104,35), was derEntdeckung Christi gleichkommt (en. Ps.96,1 f.; c. Faust. 12,27).

Bibliographie: M. Fiedrowicz, Psalmus vox totiusChristi, Freiburg 1997. – Ders., Prinzipien derSchriftauslegung in der Alten Kirche, Bernu. a. 1998. – F. van Fleteren/F.C. Schnaubelt (Hgg.),Augustine, New York 2001. – H. Görgemanns/H.Karpp, Origenes : Vier Bücher von den Prinzipien,Darmstadt 21985. – R. Laurenti, L’iponoia diAntistene, in: Rivista di storia della filosofia 17(1962), 123 – 132. – B. Neuschäfer, Origenes alsPhilologe, 2 Bde., Basel 1987. – K. Pollmann,Doctrina Christiana, Fribourg 1996. – Dies., Exe-gese ohne Grenzen – Augustins Genesisauslegun-gen im Kontext, in: T. Fuhrer (Hg.), Die christlich-philosophischen Diskurse der Spätantike, Stuttgart2008, 99 – 111. – C. Schäublin, Augustin, ,De utili-tate credendi‘, in: VigChr 43 (1989), 53 – 68.

Maria BeckerV. LiteraturwissenschaftlichDie Abgrenzung zum Begriff!Bedeutung istliteraturwissenschaftlich vielfältig. In sprach-und literaturgeschichtlicher Hinsicht stelltdie Tatsache, dass S. die Aspekte ,Vorstellung‘

und ,Richtung‘ verbindet, den wichtigstenUnterschied zu Bedeutung dar. Diese Kom-bination findet sich bereits im Althochdeut-schen, aber auch in zahlreichen Ableitungenvon lateinisch ,sensus‘. Die sich daraus ausfal-tende Bedeutungsbreite von S. ist bereits anden Psalmenübersetzungen und -kommenta-ren Notkers III. von St. Gallen abzulesen undhat durch M. Luthers !Bibelübersetzungbreiten Eingang in den Wortschatz der Bibe-lexegese gefunden.

S. bezieht Lehnbedeutungen aus ,sensus‘ inden Theorien der Seelenfähigkeiten (Arist. deAn. 2 – 3 und De sensu et sensato und De memoriaet reminiscentia ; rezipiert von Avicenna, Aver-roes, Thomas v. Aquin), welche lange diegrundlegende Erklärung ästhetischer Erfah-rung bilden (vgl. G. Reisch, Margarita Philoso-phica, Basel 1508, Bücher X und XI; Zedler,Bd. 37, 1691 – 99; A.G. Baumgarten, Aesthetica§§ 30 und 423). Auch noch nach der Ablösungder Theorie der Seelenfähigkeiten durch dieErfahrungsseelenkunde (K.P. Moritz) bzw.Psychologie und durch die Neurologie blei-ben diese Bedeutungen im literarischenWortschatz (z. T. nur noch verblasst in Rede-wendungen) bestehen. Thomas v. Aquin(Summa theologiae I q. 78 a. 4. c.) unterscheidetbei den inneren S.en das ,wahrnehmungsbe-zogene Bewusstsein‘ (,sensus communis‘, vgl.,bei S.en‘), das Erinnerungs- (,memoria‘, vgl.,im S. behalten‘), das Vorstellungs- (,imagina-tio‘, ,phantasia‘, vgl. ,ersinnen‘) sowie das,Denkvermögen‘ als Eigenschaft des Men-schen, das ihn als solchen auszeichnet (,vis co-gitativa‘, vgl. ,ohne S. und Verstand‘, ,nach-sinnen‘). Die äußeren fünf S.e genießen inaugustinischer Tradition als unterste Stufeder Gotteserkenntnis (Aug. an. quant.1,33,70 – 35,79, vgl. ,übersinnlich‘) langewenig Ansehen, werden aber von der Phy-sikotheologie des 18. Jh.s deutlich aufgewer-tet (B.H. Brockes, Die fünf Sinne, in: IrdischesVergnügen in Gott II, 1740, 322 – 376).

Den wichtigen richtungsbezogenen, dannv. a. intentionalen Aspekt kann S. sowohl alshabituelle Eigenschaft (,Einstellung‘, ,Nei-gung‘, ,Charakter‘; ,in deinem S.e‘) als auchals aktuelle Handlung (,Wille‘, ,Absicht‘,,Verlangen‘, ,Lust‘; ,im S. haben‘, ,der S. derSache‘, ,Sinnlichkeit‘) ausdrücken. Größere

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Originaldaten 

literaturwissenschaftliche Tragweite gewinntdie Möglichkeit, S. als Handlungsdimensionauf Gedanken und Äußerungen zu beziehenals ,Meinung‘, ,Tendenz‘ oder ,Illokution‘(sententia; ,der tiefere S.‘, ,der S. dahinter‘).Der verborgene S., den die Kunst der Bibel-exegese zu entschlüsseln verspricht (Aug.doctr. chr. Prologus 9, vielfacher!Schriftsinn),ist gleichbedeutend mit dem ,Geist‘ als Ge-gensatz zum Wortsinn (!Buchstabe undGeist). Entsprechend heißen die vier Büchermit aus der Bibelexegese gewonnenen Lehr-sätzen des Petrus Lombardus auf Deutsch„buch der hohen sinn“ (Codex germanicus mo-nacensis [Cgm] 263, Bl. 118a). Die Vorstellung,dass ein Text (zumal die !Bibel!) je nachBetrachtungsweise verschiedene S.e hat, prägtdie abendländische Tradition des !Lesensund der Literaturwissenschaft, im 20. Jh. v. a.über die Phänomenologie vermittelt, bis indie jüngsten Theorien. Den dadurch hervor-gebrachten sinnsuchenden Leser beanspru-chen sowohl das Epigramm (deutsch seit dem17. Jh.: ,Sinngedicht‘; Zedler Bd. 37, 1700 – 2)als auch die besonders im 17. Jh. beliebtemultimediale Form des Emblems (,Sinnbild‘,vgl. G.P. Harsdörffer, Frauenzimmer Gespräch-spiele (1641), Nachdruck Tübingen 1968, Nr.CLXV und CCLVI; Zedler Bd. 37, Sp. 1690 f.),das (auch biblische) Text- und Bildexegeseverbindet. Weil die jüngere literaturwissen-schaftliche !Hermeneutik einer Veranke-rung des Textsinnes in der Intention einestranszendenten oder irdischen !Autors kri-tisch gegenübersteht und stattdessen die imLesevorgang hergestellten semantischen Be-züge hervorhebt (P. Ricœur, 76), spricht siestatt von Textsinn vorzugsweise von Textbe-deutung. Die Systemtheorie verallgemeinertden phänomenologischen Ansatz, dass S.immer von einem Bewusstsein abhänge,indem sie S. sehr weit, als ,Aufmerksamkeit‘,fasst (N. Luhmann 1984, 93).

Bibliographie: A.G. Baumgarten, Aesthetica, 2Bde., Frankfurt a. O. 1750/1758 [Nachdruck Hil-desheim 1961]. – N. Luhmann, Der Sinn alsGrundbegriff der Soziologie, in: Ders./J. Habermas,Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie,Frankfurt a. M. 1971, 25 – 100. – Ders., SozialeSysteme, Frankfurt a. M. 1984. – F. Ohly, Vomgeistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, in: ZdA 89

(1958/9), 1 – 23. – P. Ricœur, Interpretation theory,Fort Worth, 41976. – C. Roder, Sinnlichkeit undSinn, Königstein/Taunus 2008. – R.A. Tellkamp,Der Wahrnehmungsapparat, in: Ders., Sinne, Ge-genstände und Sensibilia, Leiden u. a. 1999, 187 –294. – J.H. Zedler, Grosses vollständiges Univer-sallexicon aller Wissenschafften und Künste, 68Bde., Leipzig 1731 – 1754. Ursula Kundert

VI. TextlinguistischDer Ausdruck S. ist von einer schwer auflös-baren semantischen Mehrdeutigkeit, die sichin der sprachlichen Form so niederschlägt,dass der Ausdruck in der einen ,Bedeutung‘(Sinn1) pluralisierbar ist (die S.e), in der an-deren (Sinn2) hingegen nicht, der Ausdruckvon (Sinn2) also ein singulare tantum darstellt(vgl. Grimm, 1103 – 1152). Sinn1 bezeichnetdie verschiedenen Dimensionen desmenschlichen Wahrnehmungsapparats.Sinn2 bezeichnet sowohl den Zweck einerHandlung wie eine spezifische semantisch-kognitive Struktur. Etymologisch sind Sinn1

und Sinn2 im lateinischen sensus zusammen-gefügt. Diese Zusammenfügung findet sichim Griechischen noch nicht, wo aUs¢gsir undmoOr allererst in eine kognitive Kombinationgebracht werden mussten (Aristoteles). Diedeutsche Polysemie von S. ist durch die latei-nische überformt. Die komplexe semantischeKonfiguration von S. stattet den Ausdruck miteiner Diffusität aus, die in seinen verschiede-nen theoretischen Inanspruchnahmen je spe-zifisch genutzt wird (vgl. D. Thürnau; A.Messmann).

Das Verständnis von S. als Handlungs-zweck unterstellt, dass menschliches Handelnin sich abschließbar und damit zugleich plan-und initiierbar ist. (Diese Auffassung ist in dasindoeuropäische Sprachsystem in der Kate-gorie des Verbs und seiner verschiedenenUntertypen mit Handlungsverben wie etwastun und Verben für die verschiedenen Hand-lungsphasen wie beginnen oder beenden bzw.mit entsprechenden Morphemen wie denslawischen Aspekten sprachlich substanzielleingeschrieben). S. kommt menschlichenHandlungen (anders als nicht-menschlichenEreignissen) wesentlich zu. Diese Charakteris-tik wird mental in der Handlungsplanunggenutzt und in der sprachlichen Realisierung

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Originaldaten 

antizipierend wie referierend umgesetzt. BeiKonzentration auf das sprachliche Handelnwird S. so geradezu zu dessen Inbegriff (vgl.niederländisch zin als Ausdruck für den Satz).S. kann auf die unterschiedlichen Erschei-nungsformen sprachlichen Handelns bezo-gen werden. So können alle sprachlichenEinheiten jenseits der phonischen als sinnhaftverstanden werden: Morpheme, !Wörter,Phrasen, !Sätze, Diskurse, !Texte. Die un-terschiedlichen linguistischen Inanspruch-nahmen des Sinnkonzeptes schreiben S. un-terschiedlichen sprachlichen Einheiten zu.Besonders herausgehobene Sinnkonzeptio-nen finden sich etwa bei dem MathematikerG. Frege und den an Frege anschließendenlogisch-positivistischen Positionen. Fregeunterscheidet den S. des Einzelzeichens vonseiner !Bedeutung und entwickelt eine diffe-renzierte Konzeption vom S. des Satzes, den erin dem durch ihn ausgedrückten ,Gedanken‘sieht. Unterschiedliche wort- bzw. zeichen-bezogene Auffassungen finden sich insbe-sondere in der!Semantik, wobei der S. einesAusdrucks häufig von den Denotaten bzw.,Referenten‘ des Ausdrucks unterschiedenwird, sozusagen als sein inneres, intensiona-les (R. Carnap), durch wechselseitige Bezügekonstituiertes Konstrukt, das je nach zu-grunde liegender Sprachauffassung unter-schiedlich verortet wird, wobei sich die psy-chologischen wie linguistischen Problemeeiner Theorie des Mentalen verunklärendauswirken. Das Sinnkonzept wird auch inBezug auf Texte eingesetzt. Insbesondere dasAuffinden eines S.es jenseits der unmittelbarersichtlichen ,Bedeutung‘ eines Textes eröff-net einen vielfältigen und breiten Raum vonAuslegung als je spezifischer Sinnstrukturie-rung bzw. Sinnkonstituierung.

Die Sinnhaftigkeit sowohl menschlichenHandelns wie der verschiedenen sprachlichenStrukturen ist die Grundlage für die mentaleTätigkeit des !Verstehens, die auf die Rekon-struktion von S. hin orientiert ist – und sol-chen S. auch dann unterstellt bzw. ersatzweisekonstruiert, wenn Handeln oder – im selte-neren Fall – sprachliches Handeln sich derSinnhaftigkeit entziehen.

Es kann derzeit weder linguistisch nochpsychologisch noch philosophisch oder so-

ziologisch davon gesprochen werden, dassdem Ausdruck ,S.‘ ein einigermaßen verall-gemeinerter S. zukäme. Vielmehr bietet er inseiner Diffusität einerseits, angesichts seineranthropologischen Wichtigkeit andererseitsvielfältigen Anlass für weitere Klärungsbe-mühungen.

Bibliographie: R. Carnap, Meaning and necessity,Chicago 1947. – G. Frege, Über Sinn und Bedeu-tung, in: Zeitschrift für Philosophie und philoso-phische Kritik NF 100 (1892), 25 – 50. – J. und W.Grimm, Art. Sinn, in: Deutsches Wörterbuch,Zehnten Bandes erste Abtheilung, bearb. v. M.Heyne et al., Leipzig 1905, 1103 – 1152. – A. Mess-mann, Art. Sinn II, in: EEPhW 4 (1990), 289 – 292. –D. Thürnau, Art. Sinn I., in: EEPhW 4 (1990), 283 –289. Konrad Ehlich

VII. PhilosophischDer Begriff des ,S.s‘ wird in unterschiedlichenBedeutungen verwendet, unter denen sichdrei Hauptbedeutungen hervorheben lassen:S. als Sinnesorgan und Wahrnehmungsfä-higkeit, als verstehbare Bedeutung, als Wertund Zweck.

(1) Zum einen sprechen wir vom S. als sen-sus und sensorium. In engerer Verwendungbezieht sich der Terminus auf die fünf Sinnebzw. die Sinnlichkeit als Organ unseresWeltbezugs (Tastsinn, Hörsinn etc.); in wei-terer Bedeutung können wir vom ,S. füretwas‘ (für Humor, für Kunst, für Gerechtig-keit) sprechen. S. meint hier eine Fähigkeitdes Wahrnehmens und Aufnehmens bzw.eine Zuwendung des Interesses: Ohne solchensubjektiven S. sind uns die Gegenstände nichtin ihrem Gehalt und ihrer !Bedeutung er-schließbar. Ohne moralische Sensibilität sindwir für moralische Konflikte blind, ohneSchönheitssinn bleibt uns die Schönheit derDinge verschlossen.

(2) Die zweite Bedeutung meint den se-mantischen und hermeneutischen S.: den S.als das Verstehbare – den S. eines !Zeichens,einer Vorschrift, eines Rituals. Diese Be-griffsverwendung ist die in der !Herme-neutik primäre; mit ihr verbindet sich in derTheorie der Geistes- und Kulturwissenschaf-ten die Dichotomie zwischen sinnhaften undnichtsinnhaften, genuin verstehbaren undnur äußerlich beschreibbaren Gegenständen.

Sinn 554

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Originaldaten 

In Frage stehen die Grenzen solcher Sinnhaf-tigkeit ebenso wie die vielfältigen Modalitä-ten des Bildens, !Verstehens, !Interpretie-rens und Dekonstruierens von S. Ein para-digmatisches Modell ist die !Sprache, die inihren unterschiedlichen Gestalten (Ausdruck,Gespräch, !Schrift, !Text) als ursprüngli-cher Ort von S. und Verstehen gilt; darüberhinaus wird S. in ganz verschiedenen Formenund Medien artikuliert und rezipiert (in Bild,Musik, Tanz, in Gesten und Emotionen, inHandlungen, künstlerischen Werken, Insti-tutionen, kulturellen Praktiken und Lebens-formen).

(3) Als Drittes ist der normativ-wertendeSinnbegriff zu nennen, der dasjenige be-zeichnet, was den Wert oder Zweck einerSache – einer Handlung, einer Maßnahme –ausmacht. Dieser Begriff kommt ins Spiel,wenn wir nach dem S. des Lebens oder desLeidens fragen oder uns über die Sinnlosig-keit der Existenz oder eines Opfers beklagen.S. meint hier die Antwort auf eine Wozu-Frage. Es ist ein moderner Begriff, der inFormulierungen wie ,Sinnfrage‘, ,Sinnsuche‘,,Sinnlosigkeit‘ zwar der Alltagssprache ver-traut, in der philosophischen Begriffsge-schichte gegenüber den beiden anderen !Bedeutungen – sensus, significatio – später undwohl erst mit F. Nietzsche terminologischzentral geworden ist. In Frage steht, wodurchund wieweit etwas gerechtfertigt und bejah-bar ist.

Ersichtlich bestehen zwischen den unter-schiedlichen Bedeutungen von ,S.‘, die allemit dem verstehenden Selbst- und Weltbezugdes Menschen zu tun haben, Querbeziehun-gen und fließende Übergänge. Die normativeSinnhaftigkeit kann die Verständlichkeit be-gründen. Eine Handlung kann dadurchsinnhaft verstehbar sein, dass sie in sich selbstals ,sinnvoll‘ wahrgenommen wird; nachG. W. F. Hegel ist die Weltgeschichte rationalbegreifbar, sofern sie einen vernünftigenZweck verfolgt. Für die Phänomenologie desLeibes ist der S. – des Verhaltens, des Aus-drucks, des Verstehens – in der Sinnlichkeitleiblichen Erlebens und Kommunizierensbegründet. Wichtig ist die Eigenständigkeitder hermeneutischen Dimension. Das Sinn-bedürfnis, dem die Bemühung des Verstehens

gilt, zielt zunächst auf die Verstehbarkeit –die Erzählbarkeit einer Geschichte, die Les-barkeit eines Symbols – als solche und istnicht notwendig auf überschwängliche Sinn-und Zweckpostulate angewiesen (die von derKritik teils als säkularisierte Heilsvisionenzurückgewiesen worden sind und zur Dis-kreditierung der Sinnfrage selbst geführthaben).

Bibliographie: E. Angehrn, Interpretation undDekonstruktion, Weilerswist 2003. – C. Fehige et al.(Hgg.), Der Sinn des Lebens, München 2000. – U.Wolf, Die Philosophie und die Frage nach demguten Leben, Reinbek 1999. Emil Angehrn

SkoposIm Altgriechischen bedeutet sjopºr einer-

seits den ,Wächter/Kundschafter‘ und ande-rerseits das ,Ziel‘ in konkreter (Ziel desSchützen) und übertragener (Ziel des Lebens,der Rede) Bedeutung; letztere wird für den (1)ethischen und rhetorischen, (2) hermeneuti-schen und (3) praktisch-theologischen Ge-brauch des Begriffs entscheidend.

(1) Bereits bei Plato und Aristoteles begeg-net S. als Terminus für das Ziel der Lebens-führung. Diese Verwendung findet sich auchin der Stoa und in christologischer undeschatologischer Konturierung im einzigenntl. Beleg (Phil 3,13 f.). In der antiken !Rhetorik wird mit dem S. die Frage nach demZiel einer Rede verhandelt.

(2) Die beiden Linien einer material-ethi-schen bzw. formal-hermeneutischen Ver-wendung des Begriffs setzen sich in der AltenKirche fort. Ethisch kann S. das christlicheLebensziel bezeichnen, hermeneutisch für dieAussage eines biblischen Textes stehen. ImRingen um das rechte Bibelverständnis in derReformationszeit wird die Frage nach dem S.kontrovers diskutiert. M. Luther verwendet S.einerseits als fundamentalhermeneutischeKategorie und erkennt den ,generalis scopus‘der ganzen Schrift (aus AT und NT!) imChristusereignis (WA 36,180; „Christumpredigen vnd treiben“, WA DB 7,385 u. ö.).Andererseits gebraucht er S. auch als hand-werklichen Begriff: Jeder (Schrift-)Text muss,um verstanden zu werden, durch philologi-sche Arbeit und Untersuchung des Kontextsauf seinen Sinn hin erschlossen werden.

Skopos555

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Originaldaten 

Seit der altprotestantischen Orthodoxie(vgl. bereits M. Flacius, Clavis Scripturae Sacrae,1567) zeigt sich das Problem einer dogmati-schen Arretierung der Dynamik der christo-zentrischen Hermeneutik Luthers. War der,generalis scopus‘ für Luther im Christusereig-nis loziert, das sich immer wieder im anre-denden Wort Gottes und in der Antwort desMenschen vollzieht, so wurde daraus diekorrekte dogmatische Formulierung der,Schriftaussage‘. Diese ,logozentrische‘ Ab-straktionshermeneutik verwandelt die Schriftletztlich in eine Sammlung von Kernsätzenund in vermeintlich zeitlos gültige ,doctrina‘.

(3) Diese Problematik spiegelt sich auch inder Auseinandersetzung, die um die beson-ders in der Homiletik und Pädagogik ein-flussreiche ,Skoposmethode‘ geführt wurde.Hatte noch die Liberale Theologie um dieWende vom 19. zum 20. Jh. (F. Niebergallu. a.) auf die Ermittlung des S. als allgemeingültiger Textaussage in homiletischer unddidaktischer Perspektive Wert gelegt, someldete etwa K. Barth heftigen Widerspruchan. Um der Dynamik des je neuen RedensGottes willen sei eine thematische oder in-tentionale Fixierung der Textaussage alsproblematischer menschlicher Vorgriff aufGottes Handeln abzulehnen. Spätestens seitden 1960er Jahren (I. Baldermann u. a.) stehtneben dieser genuin theologischen eine äs-thetische Begründungslinie: Die Idee der Er-mittlung eines S. bedeute die Gefahr derTrennung von letztlich bedeutungsloserForm und eigentlich entscheidendem Inhalt.Zudem vermeine eine Skoposhermeneutikpotentiell, die intentio operis ermitteln zu kön-nen unter Absehung von der rezeptionsäs-thetischen Vielfalt der Wahrnehmung (G.M.Martin unter Rückgriff auf U. Eco, M. Nicol).

In der jüngeren Diskussion wird derSkoposbegriff (praktisch-)theologischdaher kaum noch verwendet. Seit einigenJahren rekurrieren die Übersetzungswissen-schaften aber vermehrt auf ihn. Bei H.J. Ver-meer steht er für die Kommunikationsab-sicht, die es gelte, durch die Übersetzung ineine neue Situation zu übertragen. Damitist ein pragmatischer sowie performativerSkoposbegriff im Blick, der die berechtigte

Zurückhaltung der neueren Homiletik undDidaktik überwinden und sich auch bibel-hermeneutisch als fruchtbar erweisen könnte.

Bibliographie: K. Barth, Homiletik, Zürich 31986.– G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung,Tübingen 31991. – E. Fuchs, Art. sjopºr jtk. , in:ThWNT 7 (1964), 415 – 419. – T.W. Gillespie, Thescope of biblical interpretation in the reformedtradition, in: M. Welker/C.A. Jarvis (Hgg.), LovingGod with our minds, Grand Rapids 2004, 283 – 290.– K. Holl, Luthers Bedeutung für den Fortschritt derAuslegungskunst (1920), in: Ders., GesammelteAufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1, Tübingen71948, 544 – 582. – K. Reiß/H.J. Vermeer, Grundle-gung einer allgemeinen Translationstheorie, Tü-bingen 21991. – G. Roth, Der Skopus eines Textes inPredigt und Unterricht, in: ZThK 62 (1965),217 – 229. – P. Stoellger, Art. Skopus, in: HWPh 8(2007), 946 – 952 (Lit.!). – J. Zovko, Die Bibelinter-pretation bei Flacius (1520 – 1575) und ihre Bedeu-tung für die moderne Hermeneutik, in: ThLZ 132(2007), 1169 – 1180. Alexander Deeg

Sola Scriptura !Schrift/Schriftprinzip

Sozialgeschichtliche AuslegungI. NeutestamentlichDie s. A. biblischer Texte weitet ihremSelbstverständnis nach den einseitig auftheologische Ideen und herausragende Indi-viduen verengten Fokus der traditionellenhistorisch-kritischen !Exegese aus. Sie wid-met sich gezielt den sozialen, ökonomischen,politischen und kulturellen Faktoren, welchedie Welt der biblischen !Texte sowie deren!Autoren und Rezipienten maßgeblichprägten, um diese adäquater zu verstehen.Wegbereiter waren Anfang des 20. Jh.s For-schungen zur antiken Volkskultur und Pa-lästinakunde, zur Ausbreitung und sozialenDynamik des Frühchristentums (A. Deiß-mann, J. Jeremias, A. v. Harnack, E. Lohmey-er), ferner die Formgeschichte mit ihremKonzept des ,Sitzes im Leben‘ und Studien derChicago School (S.J. Case, S. Matthews). DerSiegeszug der Dialektischen Theologie ver-hinderte die konsequente Fortentwicklungdieser Ansätze. Die s. A. setzte sich daher erstab den 1970er Jahren auf breiterer Ebenedurch (G. Theißen, W. Stegemann, L. Schott-

Sola Scriptura 556

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roff, J. Gager, W.A. Meeks, B.J. Malina). ZweiGrundausrichtungen lassen sich unterschei-den: zum einen sozialdeskriptive Ansätze, dieeine theorieferne Beschreibung der sozialhis-torischen Gegebenheiten offerieren, zum an-deren sozialwissenschaftliche Ansätze, die zur!Interpretation der historischen Daten sys-tematisch soziologische Theorien und Mo-delle heranziehen. Beide Ausrichtungen wer-den z. T. durch ideologiekritische Impulse ausden Bereichen der Befreiungstheologie, derfeministischen Theologie und des jüdisch-christlichen Dialogs angereichert. In jüngererZeit ist eine verstärkte Berücksichtigung kul-turanthropologischer Themen und Theorienzu beobachten. Zentrale Inhalte der ntl. sozi-algeschichtlichen Forschung sind u. a. die so-ziale Schichtung in den frühchristlichen Ge-meinden, soziale Spannungen ebendort,Phänomene von Statusinkonsistenz, Devianzund (Selbst-)Stigmatisierung, das Auftretencharismatischer Figuren (Wanderradikale)und millenarischer Gruppen/Sekten, die Be-deutung sozialer Konventionen (Reziprozi-tät), Beziehungen (Freundschaft, Patron –Klient, Herr – Sklave, Geschlechterrollen,Ethnizität) und Werte bzw. symbolischerOrdnungen (Ehre/Schande; Reinheit/Unrein-heit), die Funktion von Ritualen und Körper-lichkeit sowie die Relevanz sozialer Sphären(Familie, Haus, Öffentlichkeit), ökonomi-scher Faktoren (Arbeits-, Lohn-, Steuerstruk-turen) sowie politischer und religiöser Insti-tutionen (Königtum, Tempel).

Bibliographie: A.J. Blasi et al. (Hgg.), Handbook ofearly Christianity, Walnut Creek 2002. – J.H. Elliott,What is social-scientific criticism?, Minneapolis1993. – R. Hochschild, Sozialgeschichtliche Exege-se, Fribourg/Göttingen 1999. – B. Holmberg, So-ciology and the New Testament, Minneapolis 1990.– E.W. Stegemann/W. Stegemann, UrchristlicheSozialgeschichte, Stuttgart u. a. 21997. – C. Strecker,Die liminale Theologie des Paulus, Göttingen 1999.– G. Theißen, Studien zur Soziologie des Urchris-tentums, Tübingen 31989. – Ders., Die Jesusbewe-gung, Gütersloh 2004. Christian Strecker

II. LiteraturwissenschaftlichAls ,sozialgeschichtliche Interpretation‘ be-zeichnet man in der Literaturwissenschaft dasVerfahren, literarische Stoffe und Motive oder

auch Figurenkonstellationen, Verhaltens-schemata bis hin zu Argumentations-, Stil-und Gattungsmustern auf außerliterarische!Kontexte der Zeit zu beziehen. LiterarischeTexte sollen dadurch als (mehr oder minderverdeckte) Stellungnahmen zu zeitgenössi-schen, v. a. sozialen Konfliktlagen und Dis-kursen verständlich gemacht werden.

Bemühungen um einen Konnex zwischenliterarischen Symbolstrukturen und den So-zialstrukturen der Entstehungszeit habenmethodengeschichtlich eine lange Traditi-on. Hatte die positivistische (Literatur-)Geschichtsschreibung des 19. Jh.s literari-sche Texte häufig als unmittelbare Quellenfür gesellschaftshistorische Sachverhalte her-angezogen und damit die bewusste Geformt-heit und den Fiktionalitätsstatus ihrer Ge-genstände verkannt, so versuchte die mate-rialistische (bzw. marxistische) Literatur-theorie in ähnlicher Einseitigkeit, literarischeProdukte direkt aus dem Stand der Produk-tionsverhältnisse und den daraus resultie-renden ,Klassenkonflikten‘ abzuleiten undideologiekritisch zu bewerten. V. a. seit den1970er Jahren bauten sozialhistorische Zu-gänge darauf und auf älteren literatursozio-logischen Ansätzen (etwa L. Schücking, N.Elias) auf. Sie differenzierten das Instrumen-tarium aber erheblich, indem sie sich um dieErforschung der Spielräume und Rahmenbe-dingungen bemühten, in denen Literaturentsteht, distribuiert und rezipiert wird, unddabei !Autor, Werk und !Leser gleicher-maßen in den Blick nahmen. Als unbefriedi-gend erweist sich allerdings weiterhin diemethodische Verbindung zwischen philolo-gischer Textanalyse, systemimmanenter Ge-schichte und sozioökonomischem Panorama.

Erweitert wurde die lange dominante Fo-kussierung des analytischen Blicks auf ge-sellschaftliche und institutionelle Rahmen-bedingungen in jüngerer Zeit durch das Pos-tulat einer ,polykontexturalen‘ Einbettungliterarischer !Texte unter kulturwissen-schaftlicher Perspektive. Die Einbeziehungetwa der Volkskunde, der historischen Reali-enforschung und der Mentalitätengeschichte,der Kunst-, Musik- und Medienwissenschaft,der Wissens-, Denk- und Diskursgeschichte

Sozialgeschichtliche Auslegung557

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Originaldaten 

liefert Daten, die nicht nur für das Verständ-nis des ,literarischen Feldes‘, sondern auch fürdie !Interpretation von Texten relevantsind. Dabei gilt es, auch die literaturinter-nen !Traditionen und Normen (!Rheto-rik, Poetik, Gattungsnormen, Sprach- undBildkonventionen etc.) nicht aus den Augenzu verlieren, um die literarischen Texte nichtlediglich zu ,Quellen‘ kulturphilosophischerSpekulation zu degradieren. Problematischund anachronismusverdächtig bleiben dieErgebnisse rekontextualisierender Ansätzedort, wo sie im Dienste weltanschaulicherInstrumentalisierung oder pädagogischerAktualisierung vorschnell synthetisiert undvereindeutigt werden.

Bibliographie: R. v. Heydebrand et al., Zur theo-retischen Grundlegung einer Sozialgeschichte derLiteratur, Tübingen 1988. – M. Huber/G. Lauer(Hgg.), Nach der Sozialgeschichte, Tübingen 2000.– M. Joch/N.C. Wolf, Feldtheorie als Provokationder Literaturwissenschaft, in: Diess. (Hgg.), Textund Feld, Tübingen 2005, 1 – 24. – InternationalesArchiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur(seit 1976). Werner Wilhelm Schnabel

Spirale, hermeneutische !Hermeneu-tik, !Hermeneutischer Zirkel

Sprache/Sprechen/SprecherI. AlttestamentlichS./Sprechen ist eine zentrale Kategorie atl. !Texte, da Sprechen darin die wichtigsteKommunikationsform zwischen Gott undMensch darstellt. Menschliche S. als Sprach-verschiedenheit der Völker reflektiert nebenGen 10,5. 20. 31 v. a. Gen 11,1 – 9: die Erzäh-lung vom Turmbau zu Babylon, deren End-gestalt eine Ätiologie der Sprachenvielfaltbietet. Sonst klingen Verständigungsschwie-rigkeiten, die auf verschiedenen S.n beruhen,kaum an (vgl. Gen 42,23, Josef bedient sicheines Dolmetschers; Ez 3,5 f. als Paradox). Ri12,4b – 6 basiert auf unterschiedlichem Dia-lekt. Moses Einwand, wegen schweren Mun-des und schwerer Zunge (Stottern? Schwer-fälliges Reden?) seiner Sprecheraufgabe nichtgewachsen zu sein (Ex 4,10), lässt die Frageder Sprachfertigkeit aufscheinen.

Neben der Wiedergabe von vielfältigenDialogen zwischen Sprechern in direktemGegenüber (z. B. Gen 3,1 – 5; Gen 27) steht dieÜbermittlung der Aussage eines Sprechersdurch Gesandte. Diese übermitteln das Spre-chen ihres Auftraggebers in der Gestalt, wie erdie Worte gesprochen hat, so dass sie den ab-wesenden Auftraggeber vertreten, als stündedieser persönlich vor dem Adressaten (2 Sam3,12 – 15; 1 Kön 2,1 – 12; Neh 6,1 – 4).

S. kann man bewusst als Mittel zur Mani-pulation einsetzen. Sein Gegenüber zu täu-schen, zu lügen, ist verwerflich (Spr 12,6. 22)und führt zu Unheil (Spr 14,3; 19,5). Weis-heitstexte warnen deshalb vor Gefahren desvielen, unüberlegten Sprechens (Spr 10,19 f.;17,27 f.). Sprechen vermag Schaden anzu-richten, v. a. als Falschaussage vor Gericht(1 Kön 21,13; Ex 20,16; Spr 12,17; 14,25;25,18).

Während menschliches Sprechen stets dieMöglichkeit des Täuschens birgt, spricht Gottimmer wahrhaftig (Num 23,19). Für das ATist es selbstverständlich, dass Gott sich denMenschen durch Sprechen mitteilt. Da GottesSprechen menschlicher Vermittlung durcheigens dazu ausersehene Personen – meistprophetische Gestalten – bedarf, ist dieserBereich besonders sensibel. In Erzähltextenverweist der anonyme, allwissende !Erzäh-ler auf den göttlichen Sprecher (2 Sam 7,4 –16; 1 Kön 19,9 – 18). Jer 28 thematisiertdemgegenüber das Problem der angemaßten,falschen Prophetie. In schriftprophetischenBüchern kennzeichnet (wenn auch nichtdurchgehend und systematisch) geprägtesFormelgut (z. B. ,so spricht Jhwh‘, ,SpruchJhwh‘) göttliches Sprechen (v. a. in Jer, Ez) undweist damit den Propheten als Gott vertre-tenden Sprecher aus.

Der Mensch antwortet auf Gottes Sprechenim Gebet (!Psalmen) in einer eigens ge-prägten S., die zugleich wechselnde Sprech-erhaltungen einschließt: Das Ich eines Spre-chenden bzw. das Wir der Sprechenden ruftund redet Gott an. Im Lob und Bekenntnisspricht man in 3. Person über Gott (mit derGebetsgemeinschaft als Hörenden und Mit-sprechenden rechnend) und zugleich indirektauch zu ihm. Solches Sprechen über Gott ge-schieht oft in metaphorischer Weise.

Spirale, hermeneutische 558

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Originaldaten 

Bibliographie: J. Hausmann, Studien zum Men-schenbild der älteren Weisheit, Tübingen 1995,186 – 213. – S.A. Meier, Speaking of speaking, Lei-den 1992. – C. Uehlinger, Weltreich und „eineRede“, Fribourg/Göttingen 1990. – A. Wagner,Prophetie als Theologie, Göttingen 2004.

Karin SchöpflinII. NeutestamentlichEin Verstehen der ntl. !Texte zielt auf derenSprachpotential. Dieses lässt sich bestimmenhinsichtlich der Struktur, !Semantik, !Pragmatik,!Wirkung und !Ästhetik, wobeijede Sprachebene niemals isoliert, sondernimmer nur im!Kontext der anderen Ebenenbetrachtet werden kann.

Die Notwendigkeit einer Analyse derStruktur ntl. Texte ist bei hymnischen Textenleicht einsichtig zu machen. Die dort etwa zuidentifizierenden Parallelismen erinnern andie S. der !Psalmen. Aber auch die Strukturder Einzelperikopen wie der Aufbau der !Evangelien und !Briefe mit ihren Struktur-merkmalen lassen die Gestaltung der ntl.Texte erkennen. Mit der Strukturanalyse trittdie synchrone Leserperspektive, also dertextliche Gesamtzusammenhang in den Blick.

Das semantische Potential erfasst denUmfang dessen, was ein Text mittels seiner!Propositionen von der Welt zu erkennengeben will. Auch die ntl. Texte behaupten,mittels dieser Weltsprachlichkeit einen ange-messenen Weltbezug herzustellen, mit demsich auch die je gegenwärtige !Exegese aus-einanderzusetzen hat. Das Intelligibilitäts-potential des NT ist demnach von den dort zuidentifizierenden und nicht notwendig ein-heitlichen Wahrheitsansprüchen abhängig.Diese werden im NT aus der Perspektive desGlaubens an Jesus Christus formuliert, siesind mit einem christologischen Präferenz-kriterium verbunden (vgl. C. Landmesser1999, 437 – 496).

Mit dem pragmatischen Potential kommenauch die Sprecher in den Blick. Jeder !Satzsetzt den Vollzug des Sprechens, also einen!Sprechakt voraus. Das Handlungspotential istin den Evangelien dort von besonderer Be-deutung, wo Jesus als Sprecher Sündenver-gebung zuspricht oder Naturgewalten be-siegt, was den Vorwurf der Blasphemie unddie Frage nach der Person Jesu provoziert. Es

ist entscheidend, wer diese Sätze formuliert,denn beides ist nur Gott möglich.

Das Wirkungspotential etwa der Sätze Jesuentfaltet sich im Fortgang der Jesusgeschich-te, die in Passion und Auferstehung mündet.Die Wirkung der ntl. Texte umfasst aber auchdie!Rezeption des NT bis in die Gegenwart.

Mit dem ästhetischen Potential rücken !Gattung, !Stil und Qualität der ntl. Textesowie deren die Anschauung formende Kraftin den Blick (vgl. O. Wischmeyer, 159 – 171).

S./Sprechen/Sprecher lassen mit Blick aufdie ntl. Texte die Exegese als niemals abge-schlossen und in je aktuellen Kontextenimmer wieder neu zu leistende Aufgabe er-scheinen.

Bibliographie: C. Landmesser, Wahrheit alsGrundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft,Tübingen 1999. – Ders., Neutestamentliche Wis-senschaft und Weltbezug, in: O. Wischmeyer (Hg.),Herkunft und Zukunft der neutestamentlichenWissenschaft, Tübingen/Basel 2003, 185 – 206. – O.Wischmeyer, Hermeneutik des Neuen Testaments,Tübingen/Basel 2004. Christof Landmesser

III. Systematisch-theologischZentral für das jüdisch-christliche Denken istdie Vorstellung von Gott als einem Redenden.Gott wird hier verstanden als einer, der durchsein !Wort die Welt und den Menschen er-schuf, durch Propheten Menschen konkretangesprochen hat und schließlich in JesusChristus als von sich selbst in menschlicher S.Redender zur Welt gekommen ist. Damitwird der S. eine zentrale Funktion in der Be-zogenheit Gottes auf Mensch und Welt zuer-kannt. Diese Bezogenheit ist falsch verstan-den, wenn sie als ,nur sprachlich‘ beschriebenwird; Gottes !Reden konstituiert schöpfe-risch !Wirklichkeit (Gen 1; Jes 5,10 f.; Joh1,3), ist also ein performativer !Sprechakt,der vollzieht, was er benennt. Die ähnlicheBeschaffenheit menschlicher S. zeigt sichdarin, dass auch dem Menschen erst S. seineWelt konstituiert und zuhanden macht (Gen2,19 f.).

Gottes Reden wird genauer beschrieben alsein die Welt zurechtbringendes und beja-hendes Wort. Menschliches Sprechen zu undvon Gott entspringt aus dem !Hören diesesWortes. Sprechen zu Gott, d. h. Beten, wendet

Sprache/Sprechen/Sprecher559

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sich diesem Gott explizit zu, im Vertrauendarauf, dass es nicht ungehört verhallt. Spre-chen von Gott kann verschiedene Gestalthaben, in !Bibel, Theologie, Bekenntnisoder !Predigt.

Die biblischen !Texte selbst sprechenunterschiedlich von Gott: Sie erzählen vonihm, sie argumentieren, oder sie reden inGestalt von !Gleichnissen so, dass derMensch selbst in die Geschichte Gottes mitder Welt hineingezogen wird. Gleichzeitigbringen die biblischen Texte das aus der Be-gegnung mit dem redenden Gott gewonneneSelbstverständnis der Schreibenden zumAusdruck. Dieses und damit das Sprechen derbiblischen !Autoren ist nicht zeitlos, son-dern durch deren jeweiligen soziokulturellenKontext bestimmt. Dass diese Texte dennoch,den ,garstigen breiten Graben‘ der Geschichteüberwindend, auch heute Menschen Selbst-verständnis eröffnen können, weil hier Mög-lichkeiten eigener Existenz thematisiert wer-den, hat besonders die !existentiale Inter-pretation R. Bultmanns hervorgehoben. Dassder!Sinn von Texten erst durch den!Leserkonstituiert werde, ist für rezeptionsästheti-sche Ansätze Grund dafür, dass auch biblischeTexte heute ,sprechend‘ werden können (!Reader-Response Criticism). Andere sehen dasÜberbrückende in der immer wahren Gegen-wart Gottes (I.U. Dalferth).

Die biblischen Texte als Reden oder !Wort Gottes zu bezeichnen ist Ausdruck des-sen, dass Menschen im Gebrauch der Textedie Erfahrung machen, dass das, wovon dieTexte reden, die !Wahrheit über Gott, dieWelt und sie selbst ist und dass sie sich dieseWahrheit nicht selbst haben sagen können.

Bibliographie: R. Bultmann, Welchen Sinn hat es,von Gott zu reden?, in: Ders., Glauben und Ver-stehen I, Tübingen 91993, 26 – 37. – G. Ebeling,Einführung in die theologische Sprachlehre, Tü-bingen 1971. – A. Grözinger, Die Sprache desMenschen, München 1991. – U.H.J. Körtner,Theologie des Wortes Gottes, Göttingen 2001.

Christiane TietzIV. AltphilologischDie im frühgriechischen Epos vorliegenden,von der Einheit von !Wort und !Sacheausgehenden Spekulationen über die S. gel-ten überwiegend der etymologisierenden,

auf Wesenserfassung abzielenden Namen-Deutung sowie der auf bestimmte Einzel-wörter bezogenen Differenzierung von Göt-ter- und Menschensprache. Bereits in dervorsokratischen Philosophie tritt indes einsprachkritisches, außersprachliche Wahr-heitsinstanzen, wie den weltgesetzlichenLogos (Heraklit) oder das nur noetisch fass-bare Seiende (Parmenides), begründendesDenken hervor.

Erfolgt die Sprachanalyse der Sophistikunter dem Aspekt der Pragmatik, so unter-sucht Plato die S. unter epistemologischemGesichtspunkt: im Cratylus die ,Richtigkeitder Wörter‘ in der Gegenüberstellung vonnatürlicher und auf Konvention beruhenderRichtigkeit ; im Sophistes, der mit der Defi-nition des Denkens als eines lautlosen Ge-sprächs der Seele mit sich selbst (263e 3 – 5)zugleich für die Theorie einer unphoneti-schen S. des Geistes bedeutsam ist, dieGrundlagen des Urteils (251a – 264b), wo-durch die Frage des Wahrheits- und Er-kenntniswertes der S. vom Einzelwort auf dieAussage verlagert wird.

Aristoteles unterscheidet Tier- und Men-schensprache, untersucht die Konstituenten,die organisch-psychischen Grundlagen unddie politisch-soziale Funktion der S. sowie diestilistischen Normen des angemessenenSprachgebrauchs. Er analysiert den Aussage-satz und entwirft ein das Verhältnis vonsprachlichem Zeichen, !Bedeutung undSache bestimmendes Zeichenmodell (Int.1,16a 3 – 8). Die nacharistotelische paganeSprachtheorie wird weithin – auch im latei-nischen Bereich – von den Stoikern bestimmt.Ihr Logosbegriff wird für die christlicheTheologie wichtig; ihre Lehre von den Wort-arten, Kasus und Tempora findet Eingang indie !Grammatik.

Die im Wort Gottes gründende christlicheOffenbarungsreligion eröffnet der Sprachbe-trachtung neue Aspekte. Repräsentativ für diefrühchristliche Sprachphilosophie, themati-siert Augustin, ausgehend von der ontologi-schen Differenz zwischen Gott und Menschund der daraus gefolgerten typologischenDifferenz zwischen Gottes- und Menschen-sprache, das Problem, dass dem von Verän-derlichkeit und Zeitlichkeit bestimmten

Sprache/Sprechen/Sprecher 560

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Menschen Gottes unmittelbares und eigentli-ches Sprechen per suam substantiam (Gn.litt. 8,27,49) nicht vernehmlich ist, im Ge-gensatz zu Gottes mittelbarem Sprechendurch die Schöpfung, wozu die !Bibel zählt(conf. 11,8,10). Deren eigentliche Bedeutunggilt es zu erschließen, wofür Augustin eine!Hermeneutik entwickelt, die er auf die um-fassendste und differenzierteste Zeichen-(signa-) Theorie der Antike gründet (doctr.chr. 2 und 3). Die traditionsreiche ,S. desGeistes‘ überformt Augustin zum ,innerenWort‘, das, allen sprachlichen Kategorienvorausliegend und dem Gotteswort ähnlich,seine trinitarisch-christologischen Spekula-tionen veranschaulicht (trin. 15,17 – 20).

Bibliographie: W. Ax, Laut, Stimme und Sprache,Göttingen 1986. – D. Lau, Wie sprach Gott: „Eswerde Licht!“?, Frankfurt a. M. 2003. – Ders., Me-taphertheorien der Antike und ihre philosophi-schen Prinzipien, Frankfurt a. M. 2006. – K. Poll-mann, Doctrina Christiana, Fribourg 1996. – H.Steinthal, Geschichte der Sprachwissenschaft beiden Griechen und Römern, 2 Bde., Berlin 21890/91[Nachdruck Hildesheim 1971]. Dieter Lau

V. TextlinguistischDas menschliche Sprachvermögen (F. deSaussure: langage) wurde oft in Abgrenzungzur !Kommunikation von Tieren mit fol-genden Merkmalen definiert: Arbitraritätder sprachlichen !Zeichen; doppelte Arti-kulation (bedeutungslose Phoneme und be-deutungstragende Morpheme); eine großeAnzahl von Zeichen (Vögel haben nur ca. 20,Menschen mehrere Zigtausend, passiv bisüber 100.000); die Fähigkeit, neue Zeichenund nie gehörte !Sätze zu bilden und überdie S. zu reflektieren; Situationsunabhän-gigkeit; Lernabhängigkeit. Alle diese Merk-male haben ihre Probleme (R. Harris, 23 ff.)und manche auch Entsprechungen bei Tie-ren (Affen, Ameisen, Bienen), deren Kom-munikation ebenfalls arbiträr und sogarmehrpropositional sein kann (bei Bienenz. B. über die Mitteilung der Wegstrecke).Wegen der Arbitrarität hat man sprachlicheLaute oft als irrelevant erklärt. Heute wirdgerade die auditive Medialität hervorgeho-ben (Lautstärke, Melodie, Akzent, Rhyth-mus; L. Jäger). Umstritten ist, ob S. nur im

Vollzug von !Sprechakten existiert (somanche Sprachphilosophen in der TraditionL. Wittgensteins) oder ob das Sprechen aufeiner (unbewussten) Anwendung von inter-nalisierten Regeln der Phonologie, der Mor-phologie, der Lexik und der!Syntax beruht(dazu S. Krämer/E. König). Umstritten istauch die Frage, wie man beim Spracherwerbdas Verhältnis zwischen angeborenen Funk-tionsleistungen und dem sprachlichen,Input‘ gewichten soll.

Seit Aristoteles sah man das Wesentlicheder S. darin, Objekte benennen und Aussagenüber !Ereignisse machen zu können, ver-mittelt über die Fähigkeit, aus Sinneswahr-nehmungen allgemeine Begriffe zu gewinnen(J. Locke). Vernachlässigt wurde dabei dieFrage, wozu S. kommunikativ dient. Erst im20. Jh. (K. Bühler, J.L. Austin) hat man S. alsHandlung gesehen (z. B. Auffordern, Begrü-ßen, Verbieten, Erzählen, Streiten). Die So-ziolinguistik betont die soziale !Identitätund Abgrenzung (!Alterität) beim gemein-samen Sprechen.

Psycholinguistisch gesehen ist Sprechender Vorgang der Sprachproduktion, von derMitteilungsintention über die einzelnen psy-chischen Instanzen der Wortwahl, der Syntax,der Phonologie bis zu den artikulierten Lau-ten (W.J.M. Levelt). Im Dialog kann indivi-duelles Sprechen durch das MitformulierenAnderer begleitet werden (,primärer‘, ,se-kundärer‘ Sprecher; U. Quasthoff) und sichbis zum kollektiven Sprechen steigern (J.Schwitalla).

Ein Sprecher ist derjenige, der die Spre-cherrolle innehat und dabei einen oder meh-rere!Hörer adressiert, wenn er nicht nur vorsich hin spricht. Sprecherrollen können da-nach differenziert werden, wer für den!Textverantwortlich ist (principal), wer ihn formu-liert hat (author) oder nur seine Stimme dazuleiht (animator; E. Goffman, 144; S. Levinson,170 ff.).

Bibliographie: J.L. Austin, How to do things withwords, Oxford 1962 [dt. Stuttgart 1972]. – K. Büh-ler, Sprachtheorie, Jena 1934 [Stuttgart/New York31982]. – E. Goffman, Forms of talk, Oxford 1981. –R. Harris, The Language-Makers, Worcester/Lon-don 1982. – L. Jäger, Die Sprachvergessenheit derMedientheorie, in: W. Kallmeyer (Hg.), Sprache und

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Originaldaten 

neue Medien, Berlin/New York 2000, 9 – 30. – S.Krämer/E. König (Hgg.), Gibt es eine Sprache hinterdem Sprechen?, Frankfurt a. M. 2002. – W.J.M. Le-velt, Speaking, Cambridge/London 2003. – S. Le-vinson, Putting linguistics on a proper footing, in:P. Drew/A. Wootton (Hgg.), Erving Goffman,Cambridge 1988, 161 – 227. – U. Quasthoff, DasPrinzip des primären Sprechers, in: K. Ehlich (Hg.),Medizinische und therapeutische Kommunikation,Opladen 1990, 66 – 81. – J. Schwitalla, Über einigeWeisen des gemeinsamen Sprechens, in: Zeitschriftfür Sprachwissenschaft 11 (1992), 68 – 98.

Johannes SchwitallaVI. PhilosophischEine S. ist ein System von !Wörtern, das ineiner prinzipiell unendlichen Reihe einzelner!Sprechakte eines oder mehrer Sprechermanifestiert werden kann. Das Verhältniszwischen S., Sprechen und Sprecher kanndabei auf zwei verschiedene Weisen näherbestimmt werden. Aus der Perspektive derformalen!Semantik ist eine S. ein abstraktesObjekt, das sich durch das Angeben einer Listevon syntaktischen Typen, Regeln für derenVerkettung sowie einer Funktion, die jederwohlgeformten Verkettungen einen semanti-schen Wert zuordnet, definieren lässt. DieExistenz eines solchen abstrakten semanti-schen Systems ist unabhängig von der Exis-tenz von Sprechern und mithin von Sprech-akten, die jene syntaktischen Typen manifes-tieren. Eine natürliche S. hingegen existiertnur als die S. eines Sprechers oder einer Ge-meinschaft von Sprechern. Um diesem Um-stand Rechnung zu tragen, muss die formaleSemantik durch eine Theorie des Sprachver-stehens ergänzt werden. In der Folge von L.Wittgensteins Privatsprachenargument wirdgemeinhin angenommen, dass eine S. prin-zipiell für mehr als einen Sprecher verständ-lich sein muss. Umstritten ist hingegen, obder Begriff des Idiolekts (D. Davidson) oderder Begriff einer von mehreren Sprecherngeteilten S. fundamental ist (M. Dummett).

Mit dem!Linguistic Turn ist die Frage nachder angemessen Form einer Bedeu-tungstheorie ins Zentrum der philosophi-schen Reflexion gerückt. Eine der zentralenStreitpunkte betrifft die Beziehung zwi-schen S. und Denken. Ist Denken vorgängigzu und unabhängig von Sprachbeherr-schung, so kann die Bedeutung eines

Sprechakts durch den Verweis auf die kom-munikativen Intentionen und das Regelwis-sen des Sprechers erklärt werden (P. Grice, D.Lewis). Dies ist jedoch nur möglich, wenn S.allein ein Mittel der !Kommunikation undnicht auch ein Vehikel des Denkens ist. Er-weist sich nämlich Denken, wie der späteWittgenstein behauptet, als sprachabhängig,so muss der Begriff geistigen Gehalts zugleichmit dem Bedeutungsbegriff geklärt werden.Dies wirft die Frage auf, ob überhaupt eine!Erklärung des Bedeutungsbegriffs möglichist, die nicht ihrerseits semantische Begriffe(wie z. B. !Wahrheit) in Anspruch nimmt.Während sich der Behaviorismus auf die Be-schreibung von beobachtbaren Regelmäßig-keiten im Verhalten von Sprechern be-schränkt, wird in neueren Ansätzen versucht,mit einem basalen normativen Vokabularauszukommen (R. Brandom, M. Dummett).Eine dritte Reaktion besteht darin, das Projekteiner nicht-zirkulären Erklärung von Bedeu-tung als reduktionistisch zurückzuweisen (D.Davidson, J. McDowell).

Bibliographie: R. Brandom, Making it explicit,Cambridge 1994. – D. Davidson, Inquiries intotruth and interpretation, Oxford 1984. – M. Dum-mett, What is a theory of meaning (II), in: Ders., Theseas of language, Oxford 1993, 1 – 34. – P. Grice,Meaning, in: Ders., Studies in the ways of words,Cambridge 1989, 283 – 303. – D. Lewis, Languageand languages, in: Ders., Philosophical papers,Bd. 1, Oxford 1983, 163 – 188. – J. McDowell, Indefence of modesty, in: Ders., Meaning, knowledge,and reality, Cambridge 1998, 87 – 107. – L. Witt-genstein, Philosophische Untersuchungen, Frank-furt a. M. 1984. Matthias Haase

SprachkritikI. Systematisch-theologischDie Frage, wie !Sprache in Bezug auf Gött-liches angemessen verwandt werden kann,hat seit jeher philosophische wie theologischeDenker beschäftigt. Für manche hat das Lei-den in dieser Welt und die unzureichendeAdäquatheit des Handelns derjenigen, dievon Gott sprechen, das Reden vom Göttlichengrundsätzlich problematisiert. Wird dennochdie Möglichkeit (und Notwendigkeit, Apg4,20) des Redens von Gott zugestanden, sobleibt als Frage, inwiefern der weltjenseitige

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Gott überhaupt durch menschliche Sprachegetroffen werden kann. Schon Plato mahnte,nicht unbedarft vom Göttlichen zu reden,sondern bestimmte Sprachregeln zu beherzi-gen. In der christlichen Theologie wurden fürdie angemessene Rede von Gott verschiedeneKriterien vorgeschlagen. Die sog. NegativeTheologie meinte, man dürfe von Gott nursagen, was er nicht ist, bzw. müsse bei jederpositiven Bestimmung Gottes mitsagen, dassGott dadurch letztlich nicht getroffen werde.Auch wurden Modelle ,analoger Rede‘ vonGott entwickelt: Weil Gott der Ursprung desgeschöpflichen Gutseins ist, darf der weltli-che Begriff des Gutseins durch eine sog.analogia attributionis auf Gott angewandtwerden (Thomas von Aquin). Andere mein-ten, man dürfe nicht Gott selbst, könne aberseine Beziehung zur Welt beschreiben, undzwar durch eine sog. analogia relationis: Wiesich ein Schiff zum Schiffsbaumeister verhält,so verhält sich die Welt zu dem Unbekannten,das wir Gott nennen (I. Kant).

Deutlich skeptischer wurde in der analyti-schen Religionsphilosophie des 20. Jh.s reli-giöse Sprache zunächst als sinnlos kritisiert,weil das, wovon sie rede, empirisch nicht ve-rifiziert bzw. nicht falsifiziert werden könne.Neuere Ansätze tragen der Eigenartigkeit re-ligiöser Sprache stärker Rechnung. ReligiöseSprache sei deshalb sinnvoll, weil sie, wennauch nicht empirisch einholbar, so doch ra-tional begründet werden könne (I.U. Dal-ferth), oder weil sie innerhalb eines spezifi-schen ,Sprachspiels‘, das von einer bestimm-ten Lebensform her verstanden werden kann,Sinn habe (D.Z. Phillips in Aufnahme L.Wittgensteins). J. Derridas Ablehnung derVorstellung, Sprache repräsentiere eine jen-seits ihrer liegende Wirklichkeit, dekonstru-iert die Behauptung, Gott könne durch Spra-che getroffen werden.

Zu der referierten S. steht die Weise, in derdie biblischen Texte von Gott sprechen, ineiner irritierenden Spannung. Zwar kennenauch sie das Verstummen vor Gott (Ps 46,11)und das Gefühl, mit menschlichen Worten dasGöttliche nicht erreichen zu können (Jes 6,5),doch begegnet immer wieder ein unbefan-gener Umgang mit Sprache, wenn Gott mitanthropomorphen Bildern beschrieben (Jes

66,13) oder mit ihm ganz vertraut geredetwird (Ps 18,2). Ein besonderes Vertrauen aufeine mögliche sprachliche Annäherung anGott zeigt die Logos-Christologie des Joh (Joh1).

Bibliographie: I.U. Dalferth (Hg.), Sprachlogik desGlaubens, München 1974. – E. Jüngel, Gott alsGeheimnis der Welt, Tübingen 1977. – M. Laube,Im Bann der Sprache, Berlin/New York 1999. – J.Schmidt, Vielstimmige Rede vom Unsagbaren,Berlin/New York 2006. Christiane Tietz

II. TextlinguistischS. kann in der Linguistik aus sprachsystema-tischer wie auch aus pragmatisch-kommuni-kativer Perspektive erfolgen. Systemlinguis-tische Fragestellungen beschäftigen sich mitFragen der Ausdrucksmöglichkeiten (z. B.Funktionsverbgefüge, Akkusativierung tran-sitiver Verben, ,Lücken‘ in Wortfeldern, Per-spektivierung durch De-/Agentivierung undModus, Genus Verbi und Tempus) sowie As-pekten der Explizierung von Normen alssinnhaft hermeneutisch zu rekonstruieren-den Größen, der Normentstehung und derNormenmodifikation (K. Gloy 1998). Prag-matisch-kommunikativ orientierte S. fokus-siert den Sprachgebrauch in konkreten Si-tuationen im Hinblick auf Intentionen undkommunikative Effekte und differenziertnach Sprachvarietäten oder Lekten wieMedio-, Sozio-, Gender-, Funktio- oder Dia-bzw. Regiolekten. Zu diesem Zwecke wird diejeweilige sprachliche Erscheinungsform imsprachlichen und außersprachlichen – auchhistorischen (P. v. Polenz) – Kontext untergrammatisch kodifizierten Richtigkeitsnor-men und Gesichtspunkten stilistischer Ange-messenheit diskutiert.

Neben dem Ansatz, von konkreten sprach-lichen Formen auszugehen und Hypothesenüber die Funktionen und Wirkungen im Sinneeiner Interaktion von Autor – Text – Leser zubilden, gibt es die Sichtweise, von Funktionenund Wirkungsabsichten in Handlungszusam-menhängen auszugehen und nach sprachlichenRealisierungsformen zu suchen, die vomSprachsystem im Spannungsfeld von Differen-zierung versus Ökonomie eröffnet werden, umdie als Intention definierte Wirkung zu errei-

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chen (J. Schiewe, 18). Da die realisierten Aus-drucksformen als eine Auswahl zwischen ver-schiedenen sprachlichen Formulierungsmög-lichkeiten für sich genommen wenig aussage-kräftig sind, gilt es, sie durch pragmatische undsoziolinguistische Kriterien im Hinblick auf denjeweiligen Anwendungsfall zu ergänzen. Lin-guistisch einschlägig sind dabei die ParameterRaum, Zeit, Gruppe (Alter, Geschlecht, Identi-tät, Sozialisationstyp, Sozialprestige, Grup-penzugehörigkeit versus Gruppierungsab-grenzungsbedürfnis) und Situation (sozial-psychische Konstellation, soziale Hierarchie,Erwartungshaltungen, Loyalität in Bezug aufNormeinhaltung und Normmodifikation ausPrestige-Gründen), die allesamt unter demAspekt der lexikalischen und grammatischen(Stil-)Angemessenheit, der Sprachhandlungs-analyse (rhetorische Text- und Wirkungs-funktionen), der (Mehrfach-)Adressierung,der Textsortenspezifik sowie der intertextu-ellen Verweiszusammenhänge zu erörternsind.

,Linguistisch begründete Sprachkritik‘ (R.Wimmer) formuliert einen ,reflektiertenSprachgebrauch‘ als oberstes Ziel der S. undunterscheidet sich von populärer, meist in-tuitiver S., welche ihre Kriterien nicht deut-lich genug expliziert. Einen bedeutendenUnterschied stellt dabei die konsequenteDifferenzierung zwischen Ausdruckskom-plex, begrifflich-inhaltlicher Konzeptualisie-rung (dem mentalen Korrelat) und dem Re-ferenzobjekt in der Welt (Sachverhalt) dar.Infolgedessen präsentiert sich ein gesell-schaftlich relevanter ,Streit um die Sache‘ inaller Regel auch als ein Streit um Ausdrucks-weisen und Begriffe (J. Spitzmüller et al.) bzw.in Form ,Semantischer Kämpfe‘ (,Herrschaftund Macht werden auch über Semantik aus-geübt‘; E. Felder).

Bibliographie: E. Felder (Hg.), SemantischeKämpfe, Berlin/New York 2006. – K. Gloy, Sprach-normierung und Sprachkritik in ihrer gesellschaft-lichen Verflechtung, in: W. Besch et al. (Hgg.),Sprachgeschichte, HSK 2.1, Berlin/New York 21998,396 – 406. – P. v. Polenz, Sprachgeschichte undSprachkritik, Schliengen 2000. – J. Schiewe, DieMacht der Sprache, München 1998. – J. Spitzmülleret al. (Hgg.), Streitfall Sprache, Bremen 2002. – R.Wimmer, Überlegungen zu den Aufgaben und

Methoden einer linguistisch begründeten Sprach-kritik, in: H.J. Heringer (Hg.), Holzfeuer im höl-zernen Ofen, Tübingen 1982, 290 – 313.

Ekkehard Felder

Sprechakt/SprechakttheorieI. AlttestamentlichDer Zugang zu AT-Texten unter Aspekten derSprechakttheorie in neuerer Forschung (z. B.C. Hardmeier) ist möglich und ertragreich,unterliegt aber der Einschränkung, dass dasTextmaterial schriftlich vorliegt und nichtdurchweg eine Verschriftung mündlicher S.edarstellt. Die Kontextgegebenheiten, diestreng genommen zum Identifizieren einesS.es nötig sind, sind somit vielfach nichtzweifelsfrei ermittelbar, zumal sie auch lite-rarische Fiktion sein können.

Die Kategorie des S.es ist dem AT ange-messen, da ihm selbst – wenngleich nicht intheoretischer Abstraktion – das implizite Be-wusstsein eignet, dass Sprechen ein Handelnist, dass sich durch Sprechen Handeln voll-zieht bzw. Geschehen angestoßen wird, be-sonders wenn Gott ins Spiel kommt. Dasdeutlichste Beispiel bietet die priesterlicheSchöpfungserzählung (Gen 1,1 – 2,3): Gottschafft die Welt, indem er spricht – durchmehrere S.e. Außerdem segnet Gott Fischeund Vögel, Menschen und den Ruhetag (Gen1,22. 28; 2,3), was er ebenfalls durch Sprechenbewirkt. Auch Gottes Selbstverpflichtungzum Erhalt der Schöpfung am Ende derSintflut ist ein Wortgeschehen (Gen 9,8 – 11,vgl. 8,21b – 22). Das Beispiel des segnendenVaters Isaak (Gen 27) illustriert, dass auchmenschliches Sprechen als Handeln Tatsa-chen schafft: Das ausgesprochene Segenswortsteht wirksam im Raum und ist nicht zu-rücknehmbar – auch wenn es nach der In-tention des Sprechers an den falschen Adres-saten ging.

Prophetische Schriften (!ProphetischeLiteratur) halten Gottesworte fest, die zu demZeitpunkt, wo sie nach Maßgabe der (redak-tionellen) Überschriften angesiedelt sind, denangesagten unheil- oder heilvollen !Ereig-nissen vorgreifen, indem sie diese als zu-künftig eintretend ankündigen; als göttlicheS.e ist ihre Erfüllung bereits garantiert. Die-

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sen Zusammenhang vermag die Leserschafthäufig aus ihrer Perspektive zu überprüfen, sodass ihr Gottes Reden als Sprech-Akt vor Augengeführt wird.

S.e des Mahnens, der Paränese sowie dergesetzlichen Anordnung sind in Kontexte vonErzählungen und prophetischen Büchern in-tegriert. Dafür bietet Dtn ein prägnantesBeispiel: Dtn 1 – 30 sind als Ansprache desMose angelegt, die sich fiktionsintern an dieIsraeliten an der Schwelle des Landes richtet,de facto aber die Leserschaft zu allen Zeitenmeint. Ambivalenzen dieser Art sind in der!Schriftlichkeit der Texte begründet.

S.e eigener Art liegen zudem in Gebeten(!Psalmen) vor sowie in Lehrtexten der !Weisheitsliteratur.

Bibliographie: J.L. Austin, How to do things withwords, Cambridge 1962 [dt. Stuttgart 1972]. – C.Hardmeier, Texttheorie und biblische Exgese,München 1978. – Ders., Textwelten der Bibel ent-decken, Gütersloh 2004, 1 – 176. – J.R. Searle,Speech acts, Cambridge 1969 [dt. Frankfurt a. M.1971]. Karin Schöpflin

II. NeutestamentlichDie im Wesentlichen von J.L. Austin und J.R.Searle entwickelte Sprechakttheorie machtdarauf aufmerksam, dass mit jeder Äußerungund mit jedem Satz auch eine Handlung ver-bunden ist. Als S.e sind sowohl die mündlichewie auch die schriftliche Äußerung zu ver-stehen. Die Sprechakttheorie nimmt grund-sätzlich die !Pragmatik einer Äußerung inden Blick. Ein S. ist aber nicht unabhängigvon der !Semantik, insofern mit ihm Wirk-lichkeit gesetzt wird, auf die sich Sprache mitihrem propositionalen Gehalt bezieht.

In der ntl. Literatur sind vielfältige S.e zuidentifizieren. Bereits die einzelnen Textcor-pora als Gesamtheit können als komplexeSprachhandlungen verstanden werden. Solassen sich die Evangelien im antiken Kontextals eigenständige Sprachhandlungen bestim-men, die sich etwa von biographischen Textenjener Zeit signifikant unterscheiden. Auch die!Briefliteratur des NT bildet solche S.e.

Wesentlich für die S.e auch des NT ist es,dass sie stets geäußert werden, um eine Wir-kung zu erzielen. So wird etwa am Ende desJoh (20,31) notiert, dass es geschrieben wor-

den sei, um den Glauben an Jesus als denChristus und Sohn Gottes hervorzurufen undzu bestärken.

Herausragende S.e finden sich in der Re-de Jesu, wenn er mit einer Äußerung Dä-monen austreibt, Naturgewalten besänf-tigt, Kranke heilt, Tote auferweckt undSünden vergibt. Die S.e Jesu machen deut-lich, dass es für ihr Gelingen und ihre Ak-zeptanz wesentlich ist, wer einen S. äußert.Sie sind dort besonders umstritten, wo Jesusnach frühjüdischer Konvention solcheSprachhandlungen durchführt, die nur Gottzustehen (Mk 2,5. 7. 10 f.; 4,39). So provozie-ren die S.e Jesu die Frage nach seiner Person(Mk 4,41). Mit seiner metaphorischen Rede inden Gleichnissen zeigt Jesus, wie S.e eine dieWirklichkeit verändernde und Handlungs-räume eröffnende Dimension entfalten kön-nen.

Die Wirkung der Ermahnungen, Ermuti-gungen, Belehrungen etwa in der paulini-schen Briefliteratur entsprach dagegen of-fensichtlich nicht immer der Absicht ihres !Autors, wie die korinthische Korrespondenzexemplarisch erkennen lässt.

S.e sind niemals nur individuelle Hand-lungen, vielmehr sind sie, wenn sie als solcheidentifiziert werden sollen, an allgemeinkulturellen, an kontextuell-sozialen und anreligiösen Konventionen und Codes orien-tiert. Eine Analyse der S.e eröffnet deshalbwesentliche Einsichten in die urchristlicheIdentität wie auch in die entsprechendenkulturellen, sozialen und religiösen Kontexteder ntl. Textwelten.

Bibliographie: C. Landmesser, Wahrheit alsGrundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft,Tübingen 1999. – U. Volli, Semiotik, Tübingen/Basel 2002. – O. Wischmeyer, Hermeneutik desNeuen Testaments, Tübingen/Basel 2004.

Christof Landmesser

III. Systematisch-theologischDen zentralen Aspekt theologischer Rezepti-on der Sprechakttheorie bildet die Einsicht,dass religiöse Rede erster Ordnung (z. B. Zu-spruch, Zeugnis, Gebet, Lobpreis, Klage usw.)im Unterschied zur zunehmenden Diskursi-vität ihrer zweiten, dritten usw. Ordnung vonder Anredepragmatik gekennzeichnet ist und

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darin nicht nur über die Wirklichkeit von Heilund Unheil spricht, sondern diese in Kraftsetzt: vom Segenswort und der Gerichtsredeüber die Seligpreisungen, den Zuspruch derVergebung, die Zusage der Reiches Gottes inJesu Gleichniserzählungen bis hin zur be-vollmächtigten Weitergabe des Evangeliumsetwa im Freispruch der Absolution oder inden Spendeformeln der Sakramentsfeiern.

Für die Systematische Theologie ergebensich daraus verschiedene Problemstellungen.In der Fundamentaltheologie und der Reli-gionsphilosophie ist eine umfangreiche De-batte darüber entstanden, ob religiöse S.e diereligiöse Sprache als ein autonomes Sprach-verhalten ausweisen. Ein Ausschnitt der Dis-kussion bezieht sich auf die Frage, ob dieWahrheit der Promissio in der Wirklichkeits-konstituierung des Performativs selbst be-gründet liege (O. Bayer) oder die Wahrheit desGeglaubten voraussetze, so dass die religiösenPerformative in einen Referenzrahmen vonAussagen hineingehören, der ihr Verständnisermöglicht und die ihrerseits keine Perfor-mative, sondern kognitive Glaubenssprachedarstellen (G. Hornig). Diese Debatte ist biszur sprechakttheoretischen Konzeptionali-sierung des christlichen Verständnisses vonOffenbarung fortgeführt worden. In denWandlungen des sog. multimedialen Zeital-ters ist für die theologische Hermeneutik be-sonders die Frage nach dem Stellenwert dermündlichen Rede als elementares Mediumder Begegnung dringlich geworden. J.L.Austins Regeln zum Gelingen performativerÄußerungen haben Anstöße gegeben, kon-fessionelle Deutungsmuster neu zu überden-ken: in den Fragen nach der Befugnis zumAmt, nach der Gültigkeit von Kasualformelnund nach dem Zusammenhang von religiöserRede und sakramentaler Wirklichkeit. Unddie Weiterentwicklung der Sprechakttheoriedurch J.R. Searle bietet verschiedenste An-schlussmöglichkeiten theologischer Thema-tisierungen von sozialer Wirklichkeit undWirklichkeit des Geistes. Schließlich partizi-piert die weitläufige theologische Theoriede-batte um die Konstituierung des religiösenSubjekts an der sprachanalytischen Destruk-tion von Subjektivitätsphilosophien idealis-tischer Provenienz.

Bibliographie: O. Bayer, Was ist das, Theologie?,Stuttgart 1973. – L. Bejerholm/G. Hornig, Wort undHandlung, Gütersloh 1966. – I.U. Dalferth, Reli-giöse Sprechakte als Kriterien der Religiosität?, in:LingBibl 44 (1974), 101 – 116. – G. Hornig, Analyseund Problematik der religiösen Performative, in:NZSTh 24 (1982), 53 – 70. – M. Petzoldt, Offenba-rung – in sprechakttheoretischer Perspektive, in: F.Krüger (Hg.), Gottes Offenbarung in der Welt, Gü-tersloh 1998, 129 – 148. – Ders., Die Theologie desWortes im Zeitalter der neuen Medien, in: U.H.J.Körtner (Hg.), Hermeneutik und Ästhetik, Neukir-chen-Vluyn 2001, 57 – 97. – Ders., Gehirn – Geist –Heiliger Geist, in: U.H.J. Körtner/A. Klein (Hgg.),Die Wirklichkeit des Geistes, Neukirchen-Vluyn2006, 85 – 127. – A. Schulte, Religiöse Rede alsSprachhandlung, Frankfurt a. M. 1992.

Matthias PetzoldtIV. TextlinguistischDie Sprechakttheorie geht davon aus, dassjede sprachliche Äußerung den Charaktereiner Handlung hat. Nach J.R. Searle (1969)weisen Sprechakte typischerweise drei Teil-akte auf. Sie enthalten (1) einen Äußerungsakt(die Äußerung sprachlicher Einheiten), (2)einen propositionalen Akt, der aus dem refe-renziellen und dem prädikativen Akt besteht(!Proposition(en), Referenzialität), so wirdin Sam raucht Pfeife auf Sam referiert und vonihm prädiziert, dass er Pfeife raucht, und (3)einen illokutionären Akt (z. B. Behauptung,Versprechen). Verkürzt wird oft auch der illo-kutionäre Akt (oder Illokution) als S. be-zeichnet. Hinzu kommt (4) der (in der Fach-literatur umstrittene) perlokutionäre Akt,d. h. die spezifische Wirkungsabsicht z. B.beim Beleidigen oder Überreden. S.e werdenmithilfe von Bedingungen definiert (Bedin-gung des propositionalen Gehalts, Einlei-tungsbedingung, Aufrichtigkeitsbedingungund wesentliche Bedingung), die festlegen,wann eine Äußerung als ein bestimmter S.geglückt ist. Hörer erkennen die Geltungeines S.es an den illokutionären Indikatoren,die sie enthalten, und Informationen über denÄußerungskontext. Illokutionäre Indikato-ren sind sprachliche Elemente, die eine be-stimmte Illokution anzeigen. Ein wichtigerillokutionärer Indikator ist das performativeVerb in explizit performativen Konstruktio-nen wie z. B. Ich verspreche dir hiermit, pünktlichzu sein; eine solche Äußerung zeigt unmittel-

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bar den gemeinten S. an. Ein weiterer, in allenSprachen der Welt vorkommender Indikatorist der Satztyp, z. B. der Deklarativ- oder As-sertivsatz, Interrogativsatz und Imperativ-satz. S.e lassen sich in Klassen einteilen, wobeimeist die Glückensbedingungen als Klassifi-kationskriterien dienen. Searle unterscheidetdie Assertive (z. B. Behauptungen, Voraussa-gen), Kommissive (z. B. Versprechen, Dro-hung), Direktive (z. B. Aufforderungen, Fra-gen), Expressive (z. B. Gruß, Beleidigung) undDeklarationen (z. B. Taufen, Seligsprechen,Verfluchen) (J.R. Searle 1979). Ein zentralesProblem ist das der indirekten S.e, wie z. B. beider Äußerung Da ist die Tür als Aufforderung,den Raum zu verlassen (J.R. Searle 1979). DasProblem kommt dadurch zustande, dass derDeklarativsatz, verstanden als illokutionärerIndikator, normalerweise einen assertivenAkt indizieren sollte. Die gemeinte Illokutionwird vom Hörer durch einen Schlussprozessermittelt.Bibliographie: J.L. Austin, How to do things withwords, Cambridge 1962 [dt. Stuttgart 1972]. – K.Bach/R.M. Harnish, Linguistic communication andspeech acts, Cambridge 1979. – J. Hornsby, Speechacts and performatives, in: E. Lepore/B.C. Smith(Hgg.), The Oxford handbook of philosophy oflanguage, Oxford 2006, 893 – 909. – J. Sadock,Speech acts, in: L.R. Horn/G. Ward (Hgg.), Thehandbook of pragmatics, Oxford 2004, 53 – 73. –J.R. Searle, Speech acts, Cambridge 1969 [dt.Frankfurt a. M. 1971]. – Ders., Expression andmeaning, Cambridge 1979 [dt. Frankfurta. M. 1982]. – S.L. Tsohatzidis, Foundations ofspeech act theory, London/New York 1994.

Jörg MeibauerV. PhilosophischEin S. ist eine Handlung, die in einer verste-henden Äußerung einer sinnvollen sprachli-chen Einheit besteht. Gemäß ihrer funktio-nalen Rolle in Kommunikationszusammen-hängen lassen sich verschiedene Arten vonS.en wie Befehle, Behauptungen, Fragen,Versprechen etc. unterscheiden. Der Hand-lungscharakter sprachlicher Äußerungen trittbei einigen S.en besonders deutlich hervor:Unter den geeigneten Umständen bedeutet,den Satz „Ja, ich will“ auszusprechen, je-manden zu heiraten. Die Sprechakttheorieuntersucht das Wesen und die Möglichkeits-bedingungen sprachlicher Handlungen.

Ausgangspunkt der zeitgenössischen Dis-kussion ist G. Freges Unterscheidung zwi-schen Sinn und Kraft. Der Sinn einer Behaup-tung ist das, was behauptet wird – der durchden jeweiligen!Satz ausgedrückte Gedanke;ihre Kraft ist der behauptende Modus, in demder Sprecher den Satz äußert. Dem spätenWittgenstein zufolge lässt sich der Begriff derBedeutung nicht unabhängig von einer Un-tersuchung der verschiedenen sozialen Prak-tiken des Sprechens (,Sprachspiele‘) verste-hen. Im Anschluss an L. Wittgenstein ist esumstritten, ob eine Theorie der Kraft (auch!,Pragmatik‘ genannt) als Basis für eine allge-meine Bedeutungstheorie fungieren sollte (R.Brandom, M. Dummett) oder ob die Theoriedes Sinns (auch !,Semantik‘ genannt) ohneeine systematische Theorie der Kraft aus-kommen kann und muss (D. Davidson).

Während in bedeutungstheoretischen De-batten letztlich die repräsentative Dimensiondes Sprechens im Mittelpunkt steht, rückt J.L.Austin in How to Do Things With Words die,performative‘ Dimension in den Vorder-grund. Austin unterscheidet drei Aspektesprachlichen Handelns: Lokution, Illokutionund Perlokution. Der lokutionäre Akt ist dieHandlung, etwas zu sagen – z. B. die verste-hende Äußerung eines indikativen Satzes. Derillokutionäre Akt ist die Handlung, die manvollzieht, indem man etwas sagt – z. B. dasAufstellen einer Behauptung. Der perlokutio-näre Akt ist die Handlung, die man vollzieht,dadurch dass man etwas sagt – z. B. den Akt,jemanden zu überzeugen.

Die Unterscheidung zwischen Illokutionund Perlokution ist in der Literatur umstrit-ten. Nach J.L. Austin und J.R. Searle sindillokutionäre Akte konventionell bestimmt,während perlokutionäre Akte allein mitBezug auf die intendierten Folgen, die der Aktbeim Hörer auslöst, beschrieben werdenkönnen. Dagegen ist eingewendet worden,dass es oft keine expliziten Konventionengibt, die man befolgen muss, um einen be-stimmten illokutionären Akt, wie z. B. einenRat geben, zu vollziehen (P. Davidson, P.F.Strawson).

Bibliographie: J.L. Austin, How to do things withwords, Cambridge 1962 [dt. Stuttgart 1972]. – R.Brandom, Making it explicit, Cambridge 1994. – M.

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Dummett, Frege: philosophy of language, London1973. – D. Davidson, Inquiries into truth and in-terpretation, Oxford 1984. – G. Frege, Der Gedanke,in: Beiträge zur Philosophie des dt. Idealismus 2(1918/19), 58 – 77. – J. Habermas, Theorie deskommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981.– J. Searle, Speech Acts, Cambridge 1969 [dt.Frankfurt a. M. 1971]. – P.F. Strawson, Intentionand convention in speech acts, in : PhilosophicalReview 73 (1964), 439 – 460. – L. Wittgenstein,Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.1984. Matthias Haase

Sprechen !Sprache/Sprechen/Sprecher

Sprecher !Sprache/Sprechen/Sprecher

Stil/StilkritikI. AlttestamentlichDer Begriff S. kann unterschiedlich definiertwerden, indem das Gewicht teils auf den äs-thetischen Wert, teils auf die semantischeBedeutung gelegt wird. Durch den S. eines !Textes werden Empfindung und Intellekt des!Lesers beeinflusst. Der S. ist auch Teil derTextaussage, da er Konnotationen schafft, dieder Leser erschließen muss.

Die wichtigsten Stilmittel in den bibli-schen Texten sind Assonanz und Alliteration,Rhythmus, Wortwahl, grammatische For-men, syntaktische Strukturen, Bildersprache,Parallelismen, Chiasmen. Diese Stilmitteltreten besonders in poetischer Literatur (AT),aber auch in Prosatexten auf. Durch Assonanzund Alliteration (z. T. auch Reime) wird einklanglicher Zusammenhang hergestellt, derden Leser nach dem semantischen Zusam-menhang suchen lässt. Die poetischen Textedes AT sind rhythmisch, allerdings konntebisher keine überzeugende Theorie über einbesonderes metrisches System etwa in derhebräischen Sprache vorgelegt werden. Stu-dien zur Wortwahl untersuchen die Häufig-keit der Wortverwendung und den Gebrauchseltener Wörter oder Hapaxlegomena. Auchdurch grammatische Formen kann der Ver-fasser den S. variieren. Veränderungen derSyntax erzeugen beim Leser Aufmerksamkeitauf eine bestimmte Stelle im Text.

Ein wichtiges Forschungsgebiet ist derGebrauch der Bildersprache: !Metaphern,Vergleiche, !Gleichnisse und !Allegoriensind kulturbestimmt. Im AT weist die Wahlvon Metaphern für Gott darauf hin, dass dieVerfasser ihr Gottesverständnis nicht auf ein-zelne Aussagen beschränken wollten, sondernsich durch den Gebrauch von Metaphernaus verschiedenen Erfahrungsbereichen derFrage annähern wollten, wer oder was Gott sei(z. B. Gott als König, Hirte, Berg, Feuer). Einentsprechend breiter Gebrauch von Meta-phern für Jesus findet sich auch im NT, da dergöttliche Status Jesu u. a. durch die Verwen-dung von atl. Gottesbildern zum Ausdruckgebracht wird (z. B. Jesus als Herr, Hirte, Weg,Wahrheit). Ein weiteres Stilelement biblischerpoetischer Sprache ist der Parallelismus:Durch parallele Aussagen entsteht eine ähn-liche Spannung, die Metaphern durch Bild-oder Sachaussagen schaffen. Dass Parallelis-men und Bildersprache gemeinhin als beson-deres Merkmal für biblischen S. gelten, be-ruht u. a. darauf, dass diese Phänomene beider Übersetzung der Texte in andere Spra-chen abgebildet werden können. – Das Gebietder Stilistik fand unter Exegeten erneutesInteresse im Zusammenhang mit James Mui-lenburgs berühmter Vorlesung 1968 Form cri-ticism and beyond, die zur rhetorischen Kritik(Rhetorical Criticism) anregte.

Bibliographie: S. Bar-Efrat, Narrative art in theBible, Sheffield 2000 [1989]. – H. Lausberg, Hand-buch der literarischen Rhetorik, Stuttgart 31990. – J.Muilenburg, Form criticism and beyond, in: JBL 88(1969), 1 – 18. – K. Nielsen, Sigmund Mowinckel –and beyond, in: Scandinavian Journal of the OldTestament 11 (1997), 200 – 209. – D.L. Petersen/K.H. Richards, Interpreting Hebrew poetry, Min-neapolis 1992. Kirsten Nielsen

II. Neutestamentlich„Unter Stil versteht man heute gewöhnlichdie Art der Sprachverwendung, d. h. das Er-gebnis der Auswahl, Anordnung und Ge-brauchsweise der gegebenen Ausdrucksmög-lichkeiten einer Sprache auf allen linguisti-schen Ebenen“ (M. Reiser, 50). Folgt man M.Reisers Definition, müsste die stilistischeAnalyse eine der zentralen Aufgaben ntl. !Exegese sein, da der S. sowohl wichtige Hin-

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weise auf den einzelnen!Autor wie auch denliterarischen !Kontext ntl. Schriften gebenkann. Tatsächlich sind neue Stiluntersu-chungen zu den ntl. Schriften selten undstellen ein Desiderat der ntl. Wissenschaft dar.Die Frage nach der Stilebene wird unter demThema des sermo humilis und des sog. Sep-tuagintastils abgehandelt. Einig ist sich dieexegetische Forschung darüber, dass derAutor des lukanischen Doppelwerkes der ntl.Autor mit der deutlichsten biblizistischenFärbung (!Septuaginta) ist. Der individuelleS. des Paulus verdient eine eigene Untersu-chung. Am ertragreichsten sind bisher dieUntersuchungen zur !Rhetorik bei Paulusund zu den !rhetorischen Figuren.

Bibliographie: M. Reiser, Sprache und literarischeFormen des Neuen Testaments, Paderborn 2001(Lit.). – B. Sowinski, Art. Stil, in: HWRh 8 (2007),1393 – 1419. – O. Wischmeyer, Hermeneutik desNeuen Testaments, Tübingen/Basel 2004, 168 –171. – J. Zmijewski, Der Stil der paulinischen„Narrenrede“, Bonn 1978. Oda Wischmeyer

III. AltphilologischDie Kategorie des S., für die sich die moderneWissenschaft nicht auf eine einzige Bedeu-tung festlegt (H.U. Gumbrecht), hat auch inder griechisch-römischen Antike keine weit-hin anerkannte Definition erfahren. Griechi-sche Äquivalente für S. sind etwa lexis undphrasis, lateinische elocutio, genus dicendi, oratiosowie auch stilus (= ,Griffel‘, mit dessen spit-zem Ende man Schriftzeichen in ein Wachs-täfelchen ritzt; mit dem abgeflachten Endekann man das Geschriebene tilgen oder ver-bessern; Hor. sat. 1,10,79 f.). Seit dem 1. Jh.v. Chr. kann stilus metaphorisch die feilendeArbeit am Text oder auch eine bestimmteSchreibart bezeichnen (Cic. de orat. 2,96;Brut. 167). Die Ausbildung der !Rhetorikwird durchweg von Stilkritik begleitet. InRom wenden sich z. B. im 1. Jh. v. Chr. imZuge der Rezeption griechischer Redekunstdie Anhänger eines an den attischen Rednerngeschulten S. gegen die Nachahmer einer inKleinasien gepflegten, üppigeren Redeweise(Attizismus vs. Asianismus; M. Fuhrmann).Augustin hatte in seiner Jugend den Ein-druck, die Bibel reiche nicht an Ciceros S.heran (conf. 3,5,9), revidierte sein Urteil später

aber unter dem Eindruck von Ambrosius’ al-legorischer Schriftauslegung (conf. 5,14,24)und wies der Bibel jetzt höchste Beredsamkeitals Stilvorbild zu (doctr. chr. 4,6,9 f.).

Im Unterteil der elocutio unterscheidet dieRhetorik meist vier Stiltugenden (virtutes di-cendi): Sprachrichtigkeit (latinitas), Klarheit(perspicuitas), Schmuck, wie z. B. Metapheroder Polysyndeton, (ornatus) sowie Angemes-senheit (aptum). Die Gewichtung der einzel-nen virtutes variiert: Während etwa für Ciceroder ornatus das Wichtigste ist (de orat. 3,96 –103; orat. 75 – 99), ist es für Augustinus dieKlarheit (doctr. chr. 4,22 – 26). Gegenüber dertraditionellen Lehre nimmt Hermogenes(ca. 160 – 230) in De ideis ein breites Spektrumvon Einzelqualitäten und deren Mischungenan (D.A. Russell, 141 – 143). Die rhetorischeTheorie unterscheidet im Blick auf die Funk-tion drei Stilarten: genus tenue, den schlichtenS., der dem Belehren (docere) und Erweisen(probare) gilt, genus medium, den mittleren S.,der neben dem Belehren auch dem Erfreuen(delectare) dient, und genus sublime, den hohen,erhabenen S., der die Erregung von Affekten(movere/flectere) zum Ziel hat (Cic. orat. 69). VonAugustin werden die drei Wirkungsweisenjeder Stilart zugeordnet (doctr. chr. 4,56 – 58;K. Pollmann, 237 – 241). Meisterschaft beruhtauf einer dem Überdruss (taedium) entgegen-wirkenden Kombination der drei genera (Rhet.Her. 4,16; Cic. orat. 100; Quint. inst. 12,10,58 –80). Ausführlichere Stilanalysen einzelnerTextpartien bieten Ps.-Longinos, De sublimi-tate und Augustin, doctr. chr. 4,7,11 – 21.

Eine verbreitete Maxime lautet, der S. bildeden Charakter des Sprechenden ab: talis oratio,qualis vita (M. Möller; vgl. Cic. de orat. 2,184;Sen. epist. 114 und 115). Bei jüdisch-christli-chen Autoren treten an die Stelle des Cha-rakters Gottesfurcht und Gläubigkeit (Philo,vit. Mos. 1,29; Clem. str. 3,5,44; Eus. h.e. 6,3,7).Die Vorstellung eines Individualstils begeg-net bei Cic. de orat. 3,34; Phaedrus 3 prol. 29(stilus Aesopi) und Macr. Sat. 5,14,1, die einesEpochenstils in Tacitus’ Dialogus, worin derfrühkaiserzeitliche S. dem der späten Repu-blik gegenüber gestellt wird (S. Döpp).

Bibliographie: S. Döpp, „Zeitverhältnisse undKultur“ im Taciteischen Dialogus, in: B. Kühnert etal. (Hgg.), Prinzipat und Kultur im 1. und 2. Jahr-

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hundert, Bonn 1995, 210 – 228. – M. Fuhrmann, Dieantike Rhetorik, München 21987. – K.-H. Göttert/O.Jungen, Einführung in die Stilistik, München 2004.– H.U. Gumbrecht, Schwindende Stabilität derWirklichkeit, in: Ders./K.L. Pfeiffer (Hgg.), Stil,Frankfurt a. M. 1986, 726 – 788. – M. Möller, Talisoratio – qualis vita, Heidelberg 2004. – K. Pollmann,Doctrina Christiana, Fribourg 1996. – D.A. Russell,Criticism in antiquity, Berkeley/Los Angeles 1981.

Siegmar Döpp

IV. LiteraturwissenschaftlichDas Wort ,S.‘ (lat. stilus) bezeichnete ur-sprünglich das Schreibinstrument und späterdie Schreibart (modus scribendi, modus dicendi).Bis in die Renaissance hinein herrschte unterdem Einfluss der !Rhetorik ein normativesStilverständnis. Man unterschied zwischendrei Stilarten oder -ebenen, dem hohen, demmittleren und dem niederen S. (stilus gravis,mediocris, humilis), denen unterschiedliche !Gattungen der !Rede und !Dichtung zu-geordnet waren (Rota Vergilii). Die Auffassung,dass der S. die Persönlichkeit identifiziert,erscheint in der Antike und Nachantike schonvereinzelt, z. B. bei Seneca und in den Briefender Kirchenväter, wo vom !Brief als !Bildoder Spiegel der Seele (imago/speculum animi)die Rede ist. In der Renaissance tritt das in-dividualistische Stilverständnis (S. als Inkar-nation der Gedanken und Ausdruck der Per-sönlichkeit des !Autors) zunehmend inKonkurrenz zu dem überlieferten rhetori-schen Stilverständnis (S. als Ornatus, Einklei-dung der Gedanken). Der Siegeszug des in-dividualistischen Stilkonzepts erfolgte abererst seit dem Ende des 18. Jh.s, oft unter Be-zugnahme auf Buffons Diktum ,Le style est l’homme même‘.

Die Literaturwissenschaft hat über denBegriff des Personalstils – verstanden alsSignatur der Persönlichkeit in rekurrentensprachlichen Eigenschaften – hinaus dieKonzepte des Werkstils, des Gattungsstils, desNationalstils und (unter dem Einfluss derKunstwissenschaft namentlich H. Wölfflins)des Epochen- und Zeitstils entwickelt. AndereDisziplinen haben den Stilbegriff etwa alsLebensstil, Denkstil oder Rechtsstil aufge-griffen. Eine weiter gefasste Definition ver-steht unter S. „rekurrente Formen der Mani-

festationen menschlichen Verhaltens im all-gemeinen“ (H.U. Gumbrecht).

Sprach- und Literaturwissenschaft habenS. als Bestand distinktiver sprachlicher Ei-genschaften eines !Texts bestimmt, ver-standen entweder als Ergebnis der Auswahlunter den gegebenen Sprachmitteln (choice)oder aus einer Abweichung von einer sprach-lichen Norm (deviation). Beschreibungskata-loge wurden entworfen, die sich von klangli-chen Mitteln (Alliteration, Assonanz) über dieDiktion und die !Syntax bis zu übersatz-mäßigen Gestaltungsmitteln erstrecken.Mehr als die !rhetorischen Figuren stehendie Formen des übertragenen Wortgebrauchs(Tropen wie !Allegorie, Ironie, !Metapher,Metonymie) im Mittelpunkt. Metapher undMetonymie werden für R. Jakobson zumAusgangspunkt einer literarhistorisch be-deutsamen Unterscheidung metaphorischeroder metonymischer S.e. Die Stiluntersu-chung ist ein unverzichtbares Mittel derTextanalyse und des Textvergleichs nicht nurliterarischer Werke, sondern auch nichtfik-tionaler Texte, etwa historischer, philosophi-scher oder religiöser Schriften (wie der vier!Evangelien).

Bibliographie: U. Fix, Stil – ein sprachliches undsoziales Phänomen, Berlin 2007. – H.U. Gum-brecht, Art. Stil, in: RLW 3 (2003), 509 – 513. –Ders./L. Pfeiffer (Hgg.), Stil, Frankfurt a. M. 1986. –W.G. Müller, Topik des Stilbegriffs, Darmstadt1981. – Ders., Art. Stil, in: HWPh 10 (1998), 150 –159. – Ders., Art. Style, in: T.O. Sloane (Hg.), En-cyclopedia of rhetoric, New York 2001, 745 – 757.

Wolfgang G. Müller

StrukturalismusI. AlttestamentlichS. wird im Allgemeinen als eine Verbindungzweier wissenschaftlicher Theorien verstan-den: (1) der Linguistik F. de Saussures mitihrer starken Betonung darauf, dass Begriffeihre !Bedeutung aus den Beziehungen un-tereinander innerhalb eines Systems erhalten,(2) der Anwendung dieser Linguistik auf dieRiten ,primitiver‘ Religionen durch C. Lévi-Strauss. R. Barthes hat diese Synthese weiter-entwickelt und damit die Freud-LacanscheAnnahme durchgesetzt, dass der gesproche-

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nen menschlichen Sprache Strukturen einerreineren ,Sprache‘ zugrunde liegen, die direktvon den Trieben abgeleitet ist. Der Weg, mitdem ,Unaussprechlichen‘ umzugehen, istprimäre Symbolisierung. Der !Mythos gehtimmer dem Ritus voraus und beinhaltet Op-positionspaare: Leben vs. Tod, männlich vs.weiblich, menschlich vs. göttlich usw.

Der narrative Diskurs ist sowohl syntag-matisch wie paradigmatisch. Einerseits be-zeichnet ,der schwarze Ritter‘ einen imHandlungsablauf aktiven Charakter, ande-rerseits – paradigmatisch – steht er in Oppo-sition zum weißen Ritter. Neben den fonctionsdistributionelles (distributionelle Funktionen),die die Erzählung (auf operationaler Ebene)vorantreiben, gibt es fonctions intégratives (in-tegrative Indizien), welche die Funktionen im!Text hervorheben, nicht die ,realen‘ Perso-nen von !Autor und !Leser. (Der Autor ist,tot‘, an eine begleitende auktoriale Präsenzkann nicht appelliert werden.) A.J. Greimasbeschreibt, V. Propps Untersuchungen anVolkserzählungen vereinfachend, 20 Typenoder Funktionen des Handlungsablaufs (plot).Zudem schlägt er einen neuen Ansatz hin-sichtlich des plot vor, dessen Elemente deraristotelischen plot-Auffassung entgegenste-hen: Setting, Manipulation, Kompetenz, !Performanz, Sanktion (oder Evaluation derPerformanz, wie im Falle der Witwe von Sa-repta in 1 Kön 17,17 – 24).

Unkenntnis des Hebräischen und derTheologie führten unvermeidlich zu Fehlernin der Anwendung der strukturalistischen !Methoden auf die !Bibel. E. Leach, der aufdie King-James-Übersetzung von Gen 1,29vertraute, glaubte, dass Adam schon vor demSündenfall ein Fleischesser gewesen sei undbetrachtete die Erzählung von Kain und Abelals einen der drei Schöpfungsmythen. Dieszeigt wenig Anerkennung der reflektiertenMythoskritik im Lichte einer aufgeklärtenTheologie. Jedoch hat R. Barthes selbst inseiner berühmten Behandlung von Gen32,22 – 32 aufgezeigt, dass stilistische Apori-en, die von den Kritikern als mangelhafteRedaktion gedeutet worden waren, in Wirk-lichkeit als „Beweis einer metonymischenLogik des Unbewussten“ betrachtet werdenmüssen (D. Greenwood, 58). Barthes erfreut

sich an der Wahrnehmung von Konflikt undEindeutigkeit in einem Text: die Ambiguitätdarüber, wer in Vv.25. 26 spricht, bereitet demLeser eine Überraschung, die im Sieg derschwächeren Partei endet (nach H. Gunkel hatein siegreich endender Engelkampf die Er-zählung von einem verlorenen Kampf miteinem Engel [Dämonen] überlagert). Andersals Propp war Barthes nicht daran interessiert,einzelne Geschichten in Strukturmodelleeinzupassen, und betonte die Diskontinuität,die eine endgültige Festschreibung der !Bedeutung einer !Erzählung unterbindet.

Bibliographie: F. Bovon, Structuralisme françaiset exégèse biblique, in: R. Barthes et al., Analysestructurale et exégèse biblique, Neuchâtel 1971, 9 –25. – D. Greenwood, Structuralism and the biblicaltext, New York 1984. – B. Kovacs, Philosophicalfoundations for structuralism, Atlanta 1979, 85 –105. – D. Patte, Charting the way of the divinehelmsman on the high seas, in: J.L. Crenshaw/S.Sandmel (Hgg.), The divine helmsman, New York1980, 165 – 190. – R.A. Spivey, Structuralism andbiblical studies, in: Interpretation 28 (1974), 133 –145. Mark Elliott

II. Systematisch-theologischWie in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s der S. in!Semiotik, Literaturwissenschaft, Psycho-analyse, Philosophie und Soziologie weiterwirkt, so erreicht sein Gedankengut auch dieTheologie und findet dort unterschiedlicheAufnahme. Aus systematisch-theologischerPerspektive stehen für jenen Rezeptionspro-zess zwei Themenfelder exemplarisch:

In die interdisziplinäre Mythos-Debatte,die seitens der Theologie besonders durch R.Bultmanns Entmythologisierungsprogrammnachhaltige Impulse erhielt, reicht die Theo-rie von C. Lévi-Strauss hinein, welche den !Mythos als symbolische Verarbeitung anthro-pologischer Grundspannungen wie Natur undKultur, Leben und Tod erklärt. Zwar werdennach diesem Verständnis die elementarenWidersprüche nicht gelöst, aber sie werden imMythos reflexiv erschlossen. P. Ricœur kriti-siert als Philosoph, dass eine derartige !In-terpretation auf eine fragwürdige Verfesti-gung in zeitinvariante Strukturen von Diffe-renz hinausläuft. Für biblische Texte treffe sienicht zu. Die in ihnen erfasste Zeitlichkeit

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erschließe dem!Hörer und!Leser in der!Interpretation immer wieder neu Transzen-denz. I.U. Dalferth kann an der Theorie vonLévi-Strauss anknüpfen und im Mythos einentragischen Charakter in der reflexiven Be-wältigung widersprüchlich erlebter !Wirklichkeit erkennen. Der den Mythen ei-gentümlichen Grammatik stellt er diechristologische Grammatik christlichenGlaubenslebens entgegen, von der geleitetchristliche Theologie im Horizont der euro-päischen Denkgewohnheit vom Mythos undLogos biblische Texte auslegt.

Hermeneutik wird im sog. !Poststruktu-ralismus nicht mehr wie noch bei M. Hei-degger und H.-G. Gadamer als universaleDaseinsauslegung verstanden, sondern siekonzentriert sich auf Textverstehen. Der Textwird in seiner Autonomie (etwa gegenüberseinem Autor und dessen Intentionen) wahr-genommen und von seinen Strukturen herinterpretiert. Von der Theologie wird dieseEntwicklung mit vollzogen als eine Verab-schiedung von der Hermeneutischen Theolo-gie (R. Bultmann, G. Ebeling, E. Fuchs usw.)und als eine Rückkehr zur theologischen !Hermeneutik als Textauslegung. Die vor-findliche Gestalt des biblischen !Textes (so-wohl als einzelne Schrift wie auch als kano-nischer Zusammenhang) erhält eine größereAufmerksamkeit, als ihr bisher unter derDominanz historisch-kritischer Auslegungmit ihrer Erklärungsperspektive aus denEntstehungs- und Überlieferungsbedingun-gen zuteil wurde. Unter Einbeziehung wei-terer literaturwissenschaftlicher !Methodenwerden von U.H.J. Körtner, K. Huizing undanderen neue Zugänge zu Prinzipien des re-formatorischen Schriftverständnisses (solascriptura, Selbstauslegung der Schrift, !Buchstabe und Geist usw.) gefunden.

Bibliographie: I.U. Dalferth, Mythos, Ritual,Dogmatik, in: EvTh 47 (1987), 272 – 291. – Ders.,Jenseits von Mythos und Logos, Freiburg i. Br.u. a. 1993. – K. Huizing, Homo legens, Berlin/NewYork 1996. – U.H.J. Körtner, Der inspirierte Leser,Göttingen 1994. – Ders., Theologie des WortesGottes, Göttingen 2001. – W. Nethöfel, TheologieHermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1992. – P. Ri-cœur, Hermeneutik und Strukturalismus, Mün-chen 1973 [frz. Paris 1969]. Matthias Petzoldt

III. LiteraturwissenschaftlichDer S. ist ein interdisziplinäres Denksystem,das sich v. a. in den Geisteswissenschaften zueiner !Methode weiterentwickelt hat. DerGrundbegriff des S. ist der der Struktur. EineStruktur – so die allgemeinste Definition – isteine Einheit aus Elementen und den Relatio-nen dazwischen. Die Gesamtheit von Struktu-ren bei einem Gegenstand bildet ein System.Die Grundidee des S. besteht darin, jedenwissenschaftlichen Gegenstand als strukturalverfasst zu sehen und ihn selbst wiederum inkonstitutive Strukturen einzuordnen. Das istdie epistemische Voraussetzung des S.: Was aneinem Gegenstand überhaupt wissenschaftlichanalysiert werden kann, das sind seine Struk-turen. Die Frage, ob Strukturen durch diewissenschaftliche Analyse auf einen Gegen-stand projiziert werden oder ob ein Gegen-stand Strukturen besitzt, relativiert sich, wennman bedenkt, dass die Ordnung der Struktu-ren eines Gegenstandes und die Ordnung sei-ner Analyse sich wechselseitig bedingen. Daherentwickelt der S. die Idee einer strukturalisti-schen Tätigkeit (R. Barthes), eines geordnetenwissenschaftlichen Verfahrens, um Strukturenzu rekonstruieren.

Die wichtigste Ausprägung einer Strukturist die Zeichenstruktur. Der S. greift dabei aufdas Zeichenmodell von F. de Saussure zurück,das zwischen Signifikant (Bedeutendes) undSignifikat (Bedeutetes, Bedeutung) unter-scheidet und somit Bedeutung als Strukturdenkt.

Die Übertragung dieser Idee auf die Spra-che ganz allgemein, auf Texte und insbeson-dere Literatur, auf die Kunst und alle zei-chenhaft verfassten Gegenstände liegt nahe.Vorläufer des S. war der russische Formalis-mus mit seiner Idee, die !Literarizität einesliterarischen!Textes in seinen !Formen zusuchen. Im Prager S. (R. Jakobson) ab den1930er Jahren werden diese Formbegriffestärker semiotisiert. In den 1960er Jahrenentsteht in Frankreich eine breite struktu-ralistische Bewegung (C. Levi-Strauss, R.Barthes, M. Foucault), die den S. als Methodeder Ethnologie, der Literaturwissenschaftund der Kulturgeschichte entwickelt. InDeutschland wird der S. v. a. als literaturwis-senschaft-textanalytische Methode (M. Titz-

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mann) ausgebaut, die sowohl gegen die !Hermeneutik als auch den Marxismus oppo-niert, mit der Methodologisierung den wis-senschaftlichen Charakter der Literaturwis-senschaft hervorhebt, intentionale und divi-natorische Momente der !Interpretationverabschiedet und die Zeichenstruktur desTextes (nicht etwa seine gesellschaftlicheProduktion oder !Rezeption) als einzigeBezugsgröße gelten lässt. Der S. entwickeltsich in den 1980er Jahren durch Öffnungsystemischer Strukturen zum !Poststruktu-ralismus weiter.

Bibliographie: J. Albrecht, Europäischer Struktu-ralismus, Tübingen 1988. – R. Barthes, Die struk-turalistische Tätigkeit, in: Kursbuch 5 (1966), 190 –196. – G. Deleuze, Woran erkennt man den Struk-turalismus?, Berlin 1992 [frz. Paris 1973]. – F. Dosse,Geschichte des Strukturalismus, 2 Bde., Hamburg1996. 1997. – L. Fietz, Strukturalismus, Tübingen1982. – M. Titzmann, Art. Struktur, Strukturalis-mus, in: RL2 4 (1980), 256 – 278. Oliver Jahraus

IV. TextlinguistischAls beherrschendes Paradigma der amerika-nischen und europäischen Linguistik vonetwa 1920 bis 1970 ist der linguistische S. inverschiedenen Schulen mit unterschiedlichs-ten Gegenstandsbereichen ausgeprägt. EineÜbereinstimmung besteht in den Grundme-thoden der Segmentation und Klassifikation.Sprache ist dabei als hierarchisches Systemvon Elementen verschiedenen Synthesegradesmodelliert, das von den Lauten bis zum !Satz reicht. Narrative Formen werden bereitsim Russischen Formalismus unter struktura-listischen Gesichtspunkten beschrieben. Diefrühen Arbeiten aus den 1920er Jahren be-gründen dabei eine strukturalistische Er-zähltextanalyse, die bis in die 1970er Jahreverfolgt werden kann. In der Linguistik wirdmit der Discourse Analysis nach Z. Harris (1952)das strukturalistische Interesse am Text erst-mals geweckt. Im Zusammenhang der Aus-prägung einer eigenständigen Textlinguistikseit den 1960er Jahren in Deutschland werdenstrukturalistische Positionen dann unmittel-bar fortgeführt. Dabei stehen satzverknüp-fende Elemente im Mittelpunkt des Interes-ses. V. a. Pronomina werden dabei struktura-listisch als Substitutionsformen in linear ge-

reihten Äußerungen verstanden. Das struk-turalistische Interesse konzentriert sich daherauf die Verknüpfung von !Sätzen zu !Texten, so auch in der Thema-Rhema-Analysedes Prager S. Diese erste oder transphrastischePhase der Textlinguistik beinhaltet neben derAnalyse der Textphorik, also der syntaktisch-semantischen Mittel der Satzverknüpfung,auch die Untersuchung von semantischenHierarchien in Texten, die als topikale Ana-lysen bezeichnet werden. Die Beschreibungvon Informations- und Inhaltsstrukturen istin der Folge Grundbestand vieler linguisti-scher Textanalysen. Strukturalistisch ist dabeidie Konzentration auf Musterbildung, Wie-deraufnahme, Regelhaftigkeit und die darausabgeleitete Klassifikation sprachlicher Ele-mente und ihrer Funktionen. KategorialeZuordnungen sprachlicher Elemente in li-nearer Abfolge sind das Ziel jeder struktura-listischen Textanalyse.

Mit wachsender Bedeutung einer Theoriedes Textes als Handlungsform in pragmati-schen Arbeiten der 1970er Jahre und derTextverarbeitungsdimension in kognitivenTheorien seit den 1980er Jahren verliert dasstrukturalistische Paradigma in der Textlin-guistik an Bedeutung. Erst die Ausweitungder Textanalyse auf Ebenen textübergreifen-der Diskurse führt in neueren Ansätzen zurerneuten Beachtung strukturalistischer bzw.poststrukturalistischer Theorien.

Bibliographie: Z. Harris, Discourse analysis, in:Language 28 (1952), 1 – 30. – R. Harweg, Struktu-ralistische Linguistik und Textanalyse, in: K. Brin-ker et al. (Hgg.), Text- und Gesprächslinguistik,HSK 16. 1, Berlin/New York 2000, 28 – 36.

Ingo H. Warnke

SymbolI. AlttestamentlichDer umstrittene Begriff des S.s hat für eineTexthermeneutik der !Bibel eine wichtigeerkenntnisleitende Bedeutung. Er verweistdarauf, dass Religion nicht im Sprachlichenaufgeht, sondern unlöslich an außersprachli-che Gegebenheiten gebunden bleibt. Für dieAnalyse biblischer und anderer antiker !Texte ist es prinzipiell hilfreich, zwischeneinem weiten Symbolbegriff (kulturimmanente

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Originaldaten 

Symbolik als Zeichenhaftigkeit jeder kulturellenSinnerzeugung, E. Cassirer, C. Geertz) undeinem engeren Symbolbegriff (v. a. sprachlichePhänomene einer gelenkten Mehrdeutigkeit, P.Tillich, M. Eliade, P. Ricœur) zu unterschei-den. Ersteres verbindet sich mit einer Theorieder Kultur als Zeichensystem, deren ,Lesbar-keit‘ auf der Öffentlichkeit aller kulturellenHandlungen beruht. Die Erzeugung undVerwendung symbolischer Formen erscheintals Grundfunktion menschlicher Gesellschaf-ten. Jedoch wird nicht überall auch ein !Be-griff des S.s ausgebildet, wiewohl S.e eine,implizite Metaphysik‘ (C. Geertz) enthalten,weil sie menschliches Handeln vor dem Hin-tergrund einer umfassenden (in traditionellenGesellschaften: kosmischen) Ordnung aus-drücken. Ein biblisches Beispiel ist die Jeru-salemer Tempelsymbolik der !Psalmen unddes Jesajabuches mit ihrer Entsprechung vonkosmischer Ordnung und Sozialsphäre, dieauf der Chaosabwehr durch den KönigsgottJhwh beruht, der auf dem Zion als Weltmit-telpunkt thront und von dort aus Schöpfungund Völkerwelt beherrscht (vgl. Ps 46; 48; 93u. a.). Besonders in religiöser Traditionslite-ratur – so auch in der Bibel – finden sich ex-plizite S.e im Sinne des engeren Symbolbegriffs:Es handelt sich um genuin hermeneutische,das !Verstehen herausfordernde Phänomenedes ,Doppelsinns‘ (P. Ricœur). Eine konkreteBedeutung wird auf einer zweiten Sinnebenetransparent, ohne diese unmittelbar zu errei-chen (im Unterschied zur !Allegorie, bei derdie erste !Bedeutung vernachlässigt werdenkann). Dies zeigen z. B. Aussagen wie Ps 27,1(„Jhwh ist mein Licht und meine Rettung“)oder Ps 84,12 („Ja, Sonne und Schild ist JhwhElohim“). Definiert man S.e in dieser Hinsichtals doppel- bzw. mehrdeutige sprachliche Ausdrücke,erscheinen sie als spezifische Orte der Sinn-anreicherung, vergleichbar der !Metapher(spannungsvolle semantische Innovation),und der (mythischen) !Erzählung. Letzterelässt sich als S. zweiter Ordnung verstehen (P.Ricœur), weil ein !Mythos, wie es die struk-turale Analyse gezeigt hat, Zweideutigkeitendes Lebens bearbeitet, indem er sie in einenGesamtrahmen integriert, der auf den An-fangshorizont von Kosmos, Gesellschaft undEinzelnen zurückverweist. Daher funktio-

niert jede traditionelle große Erzählung, wieauch die biblische von der Gen bis zur Offb,zuletzt als S.Bibliographie: E. Cassirer, Philosophie der sym-bolischen Formen, 3 Bde., Darmstadt 91988.81987. 91990. – M. Eliade, Die Religionen und dasHeilige, Frankfurt a. M. 21989. – C. Geertz, Religionals kulturelles System, in: Ders., Dichte Beschrei-bung, Frankfurt a. M. 21991, 44 – 95. – G. Kurz,Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 1982. – M.Lurker (Hg.), Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart51991. – P. Ricœur, Poetik und Symbolik, in: H.P.Duerr (Hg.), Die Mitte der Welt, Frankfurta. M. 1984, 11 – 34. – Ders., Symbolik des Bösen,Freiburg i. Br./München 21988. – P. Tillich, Symbolund Wirklichkeit, Göttingen 1962.

Friedhelm HartensteinII. NeutestamentlichAusgehend von einem engeren, auf sprachli-che Phänomene bezogenen Symbolbegriffkönnen ganz unterschiedliche Teile des ntl.!Textes als S.e bezeichnet werden, sei es einegeographische oder zeitliche Information (amdritten Tag, Joh 2,1), ein Motiv bzw. Seman-tem (Weg; Licht), eine erzählte Handlung(Fußwaschung in Joh 13) oder eine Person(Mutter Jesu). Die sekundäre Sinnzuschrei-bung, die das S. kennzeichnet, wird nicht wiebei der !Metapher bereits syntaktisch er-zwungen. Das, wofür es steht bzw. worauf eshindeutet, muss vom Rezipienten ergänztwerden (vgl. etymologisch: sul²kkeim). Umdas Erkennen und Verstehen von S.en me-thodisch zu kontrollieren, ist das Differen-zieren zweier Indikatoren hilfreich: Die,Konventionsplausibilität‘ hält fest, ob und inwelchem Maße ein Motiv (z. B. ,Hirte‘ oder,Weinberg‘) in der ntl. Sprachgemeinschaftbereits mit religiösem Tiefensinn belegt war,was durch Analyse von Vor- und Umfeld-texten bestimmt werden kann. Die ,Text-plausibilität‘ zeigt an, ob textliche Indiziennahe legen, dass ein !Autor ein Motiv imkonkreten Text als S. verstanden wissenwollte. Die Symbolhaftigkeit eines Texteskann man aus der spezifischen Wechselwir-kung zwischen der Konventionsplausibilitätund der Textplausibilität wahrscheinlichmachen. Grundsätzlich gilt: Je höher der Wertder Konventionsplausibilität, desto geringerkann der Wert der Textplausibilität sein – undumgekehrt.

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Originaldaten 

Für das NT lassen sich simplifizierendverschiedene Symbolbereiche unterscheiden:Einerseits werden ,archetypische‘ S.e desmenschlichen Lebens wie Licht, Wasser, Ge-burt etc. verwendet, die für die gesamte An-tike maßgeblich waren. Andererseits werdenspezifisch ,religiöse‘ S.e insbesondere der jü-dischen Kultur aufgegriffen, wie z. B. ,Tem-pel‘, ,Jerusalem‘ oder ,Himmel‘. Die ntl. Au-toren knüpfen an bestehende Bildfeldtradi-tionen an, um sie gleichsam zu erneuern, zu-zuspitzen oder zu überbieten. Vielfach kannman eine ,Christologisierung der S.e‘ erken-nen, wenn z. B. der Tiefensinn jüdischerTempelfeste auf Jesus übertragen wird (z. B.Joh 7,37). Daneben kann die Neuprägung vonS.en innerhalb der ntl. Schriften abgelesenwerden, so z. B. die Rede vom ,Kreuz‘ (1 Kor1,18).Bibliographie: P. Grelot, Le langage symboliquedans la Bible, Paris 2001 [engl. Peabody 2006]. – K.Haldimann, Kreuz – Wort vom Kreuz – Kreuzes-theologie, in: A. Dettwiler/J. Zumstein (Hgg.),Kreuzestheologie im Neuen Testament, Tübingen2002, 1 – 25. – L.P. Jones, Living water, Atlanta2000. – C. Koester, Symbolism in the fourth Gospel,Minneapolis 2003. – A. Spatafora, Symbolic langu-age and the Apocalypse, Ottawa 2008. – R. Zim-mermann, Imagery in John, in: Ders. et al. (Hgg.),Imagery in the Gospel of John, Tübingen 2006, 1 –43. – Ders., Symbolic communication between Johnand his reader, in: T. Thatcher/S.D. Moore (Hgg.),Anatomies of narrative criticism, Atlanta 2008,221 – 235. Ruben Zimmermann

III. Systematisch-theologischDer Begriff S. ist unübersehbar vieldeutig. DieMedien des S.s sind nicht nur Sprache, sondernauch Gesten, Dinge, Bilder, Bauten, Hand-lungen oder Gebräuche. Im weitesten Sinnebezeichnet er semiotisch eine Dimension allerZeichen, die über indexikalische (Faktizität)und ikonische (Ähnlichkeit und Abbildung)hinaus auch symbolische (¢´sei, nicht v¼sei)Funktion haben (C.S. Peirce). Kulturphiloso-phisch ist das S. Inbegriff des Zeichenprozes-ses, der die Kultur ausmacht. ,SymbolischePrägnanz‘ ist die präprädikative Synthesis vonSinnlichkeit und Sinn, in der erst ,etwas‘ zum,Zeichen‘ wird, indem Sinnliches mit Sinnaufgeladen wird. Als Paradigma dieses Kon-stitutionsprozesses von Zeichen dient E.

Cassirer die !Metapher. Im religionsphilo-sophisch engeren Sinn meint das S. solcheZeichen, die von besonderer Bedeutung sind(Bedeutsamkeit) und darin ,mehr als nurZeichen‘ sein sollen (P. Tillich) und darin dasWesen, Gott oder das Eigentliche bedeuten.

I. Kants These, dass „alle unsere Erkennt-nis von Gott bloß symbolisch“ sei (AA 5, 353),ist daher nicht nur als Kritik ihrer ,Unei-gentlichkeit‘ zu lesen, sondern als Einge-ständnis einer Zugänglichkeit des andersnicht Zugänglichen. Wie ein !Bild ist das S.und ist nicht, was es bedeutet. Theologischstrittig ist insbesondere, ob und inwiefernBilder wie das Kruzifix, Ikonen oder das gol-dene Kalb S.e Gottes sein können oder dürfen.Einerseits stehen bildliche S.e unter Verdacht,selber sein zu wollen, was sie darstellen, unddamit superstitiös überladen zu sein (Bilder-verehrung). Andererseits gelten sie in ihrerSinnlichkeit als unfähig, das Übersinnliche zuvergegenwärtigen.

Wenn man das S. jenseits der Alternativevon Essentialismus oder Relativismus alszeichenphänomenologische Grundfigurversteht (mit E. Cassirer) und als hermeneu-tische Kategorie (mit P. Ricœur), ermöglichtdies, Präsenz und Performanz besondererZeichen(gebrauchsformen) zu identifizieren,die die Medialität von realer Gegenwart er-schließen (und alte Kontroversen wie die umdas Abendmahl überschreiten).

Sofern das S. dem Gebrauch von etwas als S.entstammt (¢´sei) und in seiner Gebrauchs-geschichte mit Bedeutung aufgeladen wird(wie die Hostie), wird es zur (kritischen) Figurder Deixis (des Zeigens und Ausstellens), d. h.zur Präsenzform des in ihm Gezeigten. Davonunterscheidbar ist in psychoanalytischer Per-spektive (S. Freud, J. Lacan) das Symptom, indem sich etwas (nichtintentional) zeigt: dasLatente unterhalb des Manifesten. Insofern istjeder Symbolgebrauch nicht nur auf seinemanifeste Signifikanz hin zu befragen, son-dern auch auf seine symptomatische Dimen-sion, die sich unterhalb des Manifesten und andessen Rändern zeigt.

Bibliographie: B. Boothe (Hg.), Der Traum –100 Jahre nach Freuds Traumdeutung, Zürich2000. – E. Cassirer, Philosophie der symbolischenFormen, Berlin 1923 – 1929. – J. Habermas, Vom

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Originaldaten 

sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck,Frankfurt a. M. 21997. – D. Korsch/E. Rudolph(Hgg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur,Tübingen 2000. – P. Michel (Hg.), Präsenz ohneSubstanz, Zürich 2003. – P. Ricœur, Symbolik desBösen, Freiburg i. Br. u. a. 32002. – H.J. Sandkühler/D. Pätzold (Hgg.), Kultur und Symbol, Stuttgart2003. – R. Schlögl u. a. (Hgg.), Die Wirklichkeit derSymbole, Konstanz 2004. – P. Tillich, SystematischeTheologie, Stuttgart 1955 – 1958. – Ders., Gesam-melte Werke, Bd. 5, Stuttgart 1964. – T. Todorov,Symboltheorien, Tübingen 1995.

Philipp StoellgerIV. AltphilologischDie antike Bedeutung von S. als ,Erken-nungszeichen‘, als Geheimzeichen für Einge-weihte, ist in seiner heutigen Definition er-halten, insofern der hinter ihm verborgene!Sinn oft weniger naheliegend oder wenigerunmittelbar deutlich ist (z. B. Fisch als S. fürChristen) als bei !Metapher oder !Allego-rie. Das S. verweist auf einen sekundärenSinnzusammenhang, geht aber nicht ganz inseiner Verweisfunktion auf, sondern behältauch Eigenexistenz. Das S. als ein von und füreine bestimmte Gruppe festgelegtes, identi-täts- oder orientierungsstiftendes !Zeichenist Untersuchungsgegenstand der KlassischenPhilologie, insofern kultur- und religions-wissenschaftliche Fragestellungen in dieTextinterpretation einfließen. Die symboli-sche Deutung eines Textes stellt über den li-teralen Sinn hinaus andere Bedeutungsebe-nen und Assoziationszusammenhänge fest.Leiblich-Sichtbares wird als gleichnishafterAusdruck von Seelisch-Unsichtbarem aufge-fasst. Mit der Allegorese fand bereits in derAntike eine wichtige Form symbolischen !Lesens von !Texten große Verbreitung.

Der Begriff des S.s wird von der KlassischenPhilologie bevorzugt in der Erforschung derPoesie verwandt, wobei bezeichnenderweiseein Schwerpunkt bei der augusteischenDichtung festzustellen ist. Die!Methode dersymbolischen !Deutung wurde von V. Pö-schl in die Aeneisforschung eingeführt undhat sich als eine führende Interpretations-methode durchgesetzt (neben der typolo-gischen !Interpretation ; !Typologie). Siegeht davon aus, daß Vergil, im Gegensatz zumanchen seiner Vorbilder, eine ,subjektive‘Erzählhaltung und damit Emotionalisierung

einführt, die sich sowohl in der Handlungauswirkt als auch auf den Leser übertragenwerden soll. Vergils Dichtungsweise, die aufinnere Erlebnisse und Stimmungen statt le-diglich auf die Darstellung äußerer Hand-lungen abhebt, evoziert eine Erweiterung umsymbolische Bedeutungsebenen. Danebenkönnen auch Ästhetisierung und Ethisierungzur Verwandlung einer Realität in ein S. bei-tragen. So macht Horaz sein sabinischesLandgut zum S. für einen lebensphilosophi-schen Sachverhalt (E.A. Schmidt), wobei dieästhetisch-poetische Gestalt die Zustimmungzur ethischen Lebensform und zur Schönheitder symbolischen Landschaft hervorruft. T.Schirren schlägt vor, mit der Philosophen-biographie, in der die paradigmatische Le-bensbeschreibung zur Konkretisierung vonphilosophischen Lehren dient, eine literari-sche !Gattung als eine symbolische Formaufzufassen.

Bibliographie: V. Pöschl, Die Dichtkunst Virgils,Berlin/New York 31977. – G. Radke, SymbolischeAeneis-Interpretationen, in: Antike und Abendland49 (2003), 90 – 112. – T. Schirren, Philosophos Bios,Heidelberg 2005. – E.A. Schmidt, Sabinum, Hei-delberg 1997. – P. Struck, Birth of the symbol,Princeton 2004. Jochen Schultheiß

V. LiteraturwissenschaftlichDer literaturwissenschaftliche Symbolbegriffwar bis zur Mitte des 20. Jh.s geprägt von es-sentialistischen Bestimmungen, die im Kon-text des deutschen Klassizismus (F.W.J.Schelling, J.W. v. Goethe), der deutschen undenglischen Romantik (K.W.F. Solger, S.T.Coleridge) und des europäischen Symbolis-mus (A. Mochel, H. v. Hofmannsthal) entwi-ckelt wurden. Danach fungiert das S. als Ge-genbegriff zum traditionellen Konzept der!Allegorie und wird als „bedeutungsvolles Bildaufgefasst, dessen Sinn sich nicht auf intel-lektuellem Wege, sondern dem erlebendenund einfühlenden Leser, Zuschauer undHörer durch die sinnlich-emotionale Wir-kung unmittelbar und oft unbewusst“ (B.A.Sørensen 1982, 290) erschließt. Die neuereliteraturwissenschaftliche Symbolforschunghat die historische Relativität dieses Symbol-begriffs aufgezeigt, der seine Entstehung wieseine Konjunktur der Auflösung tradierter,

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Originaldaten 

insbesondere religiöser Symbolsysteme im 18.Jh. verdankt und eng mit der Herausbildungdes modernen individualistischen Autorkon-zepts und des autonomen, organischen Cha-rakters des Kunstwerks verknüpft ist (B.A.Sørensen 1963; T. Todorov). Die Kritik desessentialistischen Symbolbegriffs führt zueiner strukturalistisch fundierten Neube-stimmung. So definiert J. Link das S. anhandvon sechs semiotischen Merkmalen: (1) se-mantische Sekundarität, (2) Ikonität, (3) Mo-tiviertheit, (4) Ambiguität, (5) semantischeIsotopiebildung, (6) Ausbildung von Analo-gie-Beziehungen zwischen Symbolisant undSymbolisat (A. Drews et al., 260 – 262). Dem-gegenüber hat G. Kurz (77 – 84) eine auf derEigenständigkeit der symbolischen Relationin Abgrenzung von rein semiotischen Bezie-hungen basierende ,Hermeneutik des S.‘ vor-gelegt, die die primäre Referenz des S.s aufEmpirie (statt auf !Sprache, wie bei denrhetorischen Tropen) hervorhebt und dieKontextabhängigkeit der symbolischen Deu-tungsaktivität des Lesers betont, die vom !Text, z. B. durch Verfahren der Wiederholungund der Antithese, provoziert werden muss.Sowohl A. Drews et al. (262 f.) als auch G. Kurz(85 – 89) unterscheiden drei Grundtypen vonS.en: (1) den vom (gegenwärtigen) Teil auf das(abwesende) Ganze verweisenden synekdo-chischen Symboltyp (Klassizismus und Ro-mantik); (2) den auf räumlicher und zeitlicherKontiguität beruhenden metonymischenSymboltyp (Symbolismus); (3) den auf einerarbiträren, vom !Autor gesetzten Kontigui-tät basierenden metaphorischen Symboltyp(z. B. Realismus).

Bibliographie: H. Adams, Philosophy of the liter-ary symbolic, Tallahassee 1983. – F. Berndt/C.Brecht (Hgg.), Aktualität des Symbols, Freiburgi. Br. 2005. – A. Drews et al., Moderne Kollektiv-symbolik, in: Internationales Archiv für Sozialge-schichte der deutschen Literatur, Sonderheft 1(1985), 256 – 375. – G. Kurz, Metapher, Allegorie,Symbol, Göttingen 52004. – B.A. Sørensen, Symbolund Symbolismus in den ästhetischen Theorien des18. Jh. und der deutschen Romantik, Kopenhagen1963. – Ders., Symbol und Allegorie, in: Orbis Lit-terarum 37 (1982), 289 – 301. – T. Todorov, Theoriesdu symbole, Paris 1977. Günter Butzer

VI. TextlinguistischIn der Linguistik ist S. zumeist die Zeichen-klasse mit konventioneller Relation zwischenBezeichnendem und Bezeichnetem. I. d. R. istder sprachwissenschaftliche Symbolbegriffbilateral, insofern er Ausdrucks- und Inhalts-seite des Zeichens umfasst. Seltener begegnetein monolateraler Symbolbegriff, der sich al-lein auf die Ausdrucksseite des sprachlichen!Zeichens bezieht. Das linguistische Inter-esse am bilateralen S. entwickelt sich aus derRezeption semiotischer Arbeiten insbesonde-re von C.S. Peirce, bei dem das S. als dritterZeichentyp beschrieben wird, der weder ab-bildend noch kausal auf ein Bezeichnetesverweist, sondern regelbasiert ist. S.e als ar-biträre Zeichen sind der häufigste sprachlicheZeichentyp. S.e sind ethnospezifisch und be-sitzen einen hohen Grad an kulturell-histori-scher Codierung. C. Morris greift diese An-nahme auf und bestimmt die nicht-natürlicheBeziehung zwischen Bezeichnendem undBezeichnetem als Kennzeichen des S.s. Dieswiderspricht der Auffassung F. de Saussures,der unter einem S. die partiell motiviertenZeichen versteht. Ihm folgend bedeutetFlamme als Zeichen ,eine leuchtende, zun-genförmige Lichterscheinung bei Verbren-nung‘, als S. hingegen steht das Wort etwa für,Liebe‘. Diese Gegenüberstellung von Zeichenund S. ist in der Spracherwerbstheorie von J.Piaget wirkungsvoll aufgegriffen, der Denkenals symbolische Transformation von Erfah-rungsdaten definiert.

In K. Bühlers Sprachtheorie ist das S. aufdas Nennen bezogen und dem Zeigen gegen-übergestellt. Während das Zeigfeld aus derRelation hinweisender Ausdrücke zur Positi-on des Sprechers entsteht, resultiert dasSymbolfeld aus dem semantischen, syntakti-schen und referentiellen !Kontext einerÄußerung. Demnach schließt eine Analysedes Symbolfeldes im Text eine Untersuchungder isolierten Bedeutung des Einzelzeichens,der Bedeutung im textuellen Umfeld und derBedeutung seiner Umweltverweise ein. Be-deutung konstituiert sich folglich entwedersituativ durch Zeigen oder kontextuell durchS.e. Das S. selbst besitzt in Bühlers Modellie-rung des Zeichens eine Darstellungsfunktion,da es sich auf Gegenstände und Sachverhalte

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Originaldaten 

bezieht. Das sprachliche Zeichen als darstel-lendes S. steht dabei dem Zeichen als produ-zentenbezogenes Symptom und dem Zeichenals Signal an einen Rezipienten gegenüber.

In pragmatischen Arbeiten versteht manunter symbolischer Interaktion das Handelnmit Zeichensystemen. Eine besondere Aus-prägung erfährt diese Position in der Theoriedes symbolischen Interaktionismus nach G.H.Mead, die Individuen als Akteure in einersymbolischen Ordnung der Texte und Kon-versation versteht.

Bibliographie: K. Bühler, Sprachtheorie, Jena1934 [31999]. – G.H. Mead, Selected writings, hg. v.A. Reck, Chicago 1981. – C. Morris, Foundations of atheory of signs, Chicago 1938. – C.S. Peirce, Theessential Peirce, hg. v. N. Houser, Bloomington2006. – F. de Saussure, Cours de linguistiquegénérale, hg. v. R. Engler, Paris 1967 ff.

Ingo H. Warnke

Synchronie/DiachronieI. Alttestamentlich/NeutestamentlichS./D. (von griech. sum-, ,zusammen, zugleich‘,bzw. griech. dia-, ,durch, hindurch‘, undgriech. wqºmor, ,Zeit‘; engl. synchronic/diachro-nic; frz. synchronique/diachronique) ist ein ur-sprünglich aus der Sprachwissenschaft stam-mendes Begriffspaar, das F. de Saussure1906 – 1911 in seinen Vorlesungen über All-gemeine Sprachwissenschaft als wichtigsteUnterscheidung neben langue vs. parole ein-geführt hat. S. meint hier die Betrachtungsprachlicher Erscheinungen auf einer be-stimmten Zeitebene (,linguistique synchro-nique‘/,linguistique statique‘; ,synchronischeSprachwissenschaft‘/,Sprachzustand‘), D. dieBetrachtung der historischen Entwicklungvon Sprache (,linguistique diachronique‘/,lin-guistique evolutive‘; ,diachronische Sprachwis-senschaft‘/,Sprachwandel‘). Für die metho-disch kontrollierte und methodologisch re-flektierte !Auslegung biblischer !Textefindet das Begriffspaar S./D. in der Gegen-überstellung von ,synchroner Analyse‘ und,diachroner Analyse‘ etwa seit Ende der1970er Jahre Anwendung. S. wurde zunächsteinseitig als ,(text-)linguistische‘ Analyse be-zeichnet, da als ,neue exegetische!Methode‘die Untersuchung der sprachlich-syntakti-schen Gestalt (Lexik, !Grammatik, Satzbau,

Satzverknüpfung), des Aufbaus (,Struktur-analyse‘), des text-, wort- und motivsemanti-schen Gehalts sowie der pragmatischen Di-mension (kommunikative Funktion undWirkungsabsicht) eines Textes in den Blicktraten. In der üblichen Sprachregelung meintS. heute einen Auslegungszugang, der vondem im biblischen !Kanon vorliegenden,Endtext‘ als einer kohärenten Größe ausgeht.D. meint die Methodenschritte der historisch-kritischen !Exegese, durch die die ge-schichtliche Genese des Textes erhellt wer-den soll (,Literar-/Quellenkritik‘, ,Überlie-ferungs-‘/,Form-‘/,Traditionskritik‘, ,Redak-tionskritik‘). Von einer rigiden Trennungbeider Ansätze kann nicht gesprochen wer-den. S. und D. greifen gerade im Horizont derRedaktionskritik und der Frage nach dertheologischen Intention eines biblischenTextes eng ineinander. Zu unterscheiden sindjedoch die jeweilige Fragerichtung und diedamit verbundene hermeneutische Perspek-tive. Fragt D. nach Textentwicklung und-wachstum, so werden formale Brüche, in-haltliche Spannungen oder Wiederholungenim Text als Produkt verschiedener Um- undÜberarbeitungen gewertet. Betrachtet S. dieEndgestalt eines Textes, so werden dieselbenPhänomene als bewusster, theologisch und/oder ästhetisch begründeter sowie rezipien-tenorientierter bzw. leserlenkender Stil- undAusdruckswille interpretiert.

Bibliographie: U. Becker, Exegese des Alten Tes-taments, Tübingen 2005. – F. de Saussure, Coursdes linguistique générale (1916), Lausanne/Paris81971 [dt. Grundfragen der allgemeinen Sprach-wissenschaft (1931), Berlin 32001], 93 – 119. – U.Schnelle, Einführung in die neutestamentlicheExegese, Göttingen 62007. – H. Schwarz, Art. Syn-chronie/Diachronie; synchron(isch), diachron(isch),in: HWPh 10 (1998), 773 – 775.

Christina Hoegen-RohlsII. TextlinguistischS./D. ist ein Begriffspaar, das zu einem Para-digmenwechsel in der sprachwissenschaftli-chen Betrachtung im Rahmen des !Struk-turalismus geführt hat. Nach F. de Saussureist synchronisch „alles, was sich auf die stati-sche Seite unserer Wissenschaft bezieht; dia-chronisch alles, was mit den Entwicklungs-vorgängen zusammenhängt“ (F. de Saussure,

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Originaldaten 

96). Mit der Ebene der S. wird einSprachzustand, mit der D. eine Entwick-lungsphase verbunden. In der strukturalis-tischen Sprachbetrachtung wird der S. ge-genüber der D. der Vorrang eingeräumt. Dennnur in der S. kann der valeur, d. h. der Werteines !Zeichens durch die Abgrenzung desZeichens von anderen im Sprachsystem vor-handenen erkannt werden: Ein Zeichen erhältseine Funktion für das Sprachsystem da-durch, dass es all das ist, was die anderenZeichen nicht sind.

Um den Unterschied zwischen S. und D. zudemonstrieren, bedient sich de Saussure derSchachmetapher: „Zunächst entspricht einZustand beim Spiel sehr wohl einem Zustandder Sprache. Der Wert der einzelnen Figurenhängt von ihrer jeweiligen Stellung auf demSchachbrett ab, ebenso wie in der Sprachejedes Glied seinen Wert durch sein Stel-lungsverhältnis zu den andern Gliedern hat.[...] Endlich genügt für den Übergang voneinem Gleichgewichtszustand zum andernoder, gemäß unserer Terminologie, von einerSynchronie zur andern die Versetzung einereinzigen Figur; es findet kein allgemeinesHinundherschieben statt. Hier haben wir dasGegenstück zum diachronen Vorgang mitallen Einzelheiten“ (F. de Saussure, 104 f.). S.kann auch auf historische Sprachzuständebezogen werden, wenn diese jenseits ihrer !Geschichtlichkeit gleichsam in ,eingefrore-nem‘ Zustand beschrieben werden. Da !Sprechen oder !Schreiben eine lineare zeit-liche Erstreckung haben, ist eine scharfeTrennung zwischen S. und D. nicht möglich.In der !Rezeption des Cours de linguistiquegénérale ist jedoch S. fälschlicherweise mit demSprachzustand der Gegenwart gleichgesetztworden. Diese Beschränkung hatte für die seitden 70er Jahren des 20. Jh.s aufkommendeTextlinguistik und Textsortenlinguistik zurFolge, dass aufgrund des Primats gegen-wartssprachlicher S. die Erforschung der Ge-schichte von !Textsorten oder der Entwick-lung textlinguistischer Phänomene weitge-hend unberücksichtigt blieb.

Bibliographie: E. Coseriu, Synchronie, Diachronieund Geschichte, München 1974. – H. Glinz, Syn-chronie – Diachronie – Sprachgeschichte, in: Spra-che, Gegenwart und Geschichte – Probleme der

Synchronie und Diachronie, Düsseldorf 1969, 78 –91. – F. de Saussure, Cours de linguistique générale(1916), Lausanne/Paris 81971 [dt. Grundfragen derallgemeinen Sprachwissenschaft (1931), Berlin/New York 32001]. Mechthild Habermann

SyntaxS. (griech. s¼mtanir, ,Zusammenordnung‘)

steht traditionell als Bezeichnung für dieLehre vom Bau des !Satzes. Der Terminuswird in neueren Arbeiten aber weiter gefasstund nicht mehr nur auf Sätze bezogen: AlsUntersuchungsgegenstand der S. gelten allesprachlichen Strukturen, deren gemeinsamesMerkmal es ist, dass es sich um Verbindungenoberhalb der Wortebene handelt, die abernicht über die Einheit des Satzes hinausge-hen. Um zu ermitteln, welche Elemente imSatz syntaktische Einheiten bilden, bedientman sich der Satzgliedproben (z. B. der Um-stellungsprobe oder der Ersatzprobe). Die soermittelten Einheiten werden weiter katego-risiert (z. B. als Nominalgruppe oder Verbal-gruppe) und diesen wiederum syntaktischeFunktionen (z. B. Subjekt, Prädikat) zuge-ordnet. So setzt sich der Satz Das kleine Kindweint aus den zwei syntaktischen Einheitendas kleine Kind und weint zusammen, die ka-tegorial als Nominal- und Verbalgruppe undfunktional als Subjekt und Prädikat bestimmtwerden. Dass dieser Satz in syntaktischerHinsicht tatsächlich aus nur zwei Einheitenbesteht (und nicht etwa aus vier), zeigt dieErsatzprobe: Die Wortgruppe Das kleine Kindist gesamthaft durch das Pronomen es ersetz-bar.

Der Terminus S. wird nicht nur auf dietheoretische Beschreibung der sprachlichenStrukturen bezogen, sondern auch auf dieStruktureigenschaften selbst. Dies ist z. B.dann der Fall, wenn man von der ,S. desDeutschen‘ oder der ,S. des Englischen‘spricht. Zielsetzung der S. ist, Gesetzmäßig-keiten herauszuarbeiten, nach denen Wörter(z. B. das, klein, Kind) zu Wortgruppen (z. B. daskleine Kind) zusammengefügt werden unddiese wiederum zu einfachen bzw. komple-xen Sätzen (z. B. Das kleine Kind weint. Daskleine Kind weint, weil es Hunger hat.). Je nach-dem, welcher syntaktischen Theorie man sichverpflichtet fühlt, werden weitere Fragen

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gestellt. So kann man sich darauf be-schränken, die lineare Abfolge von sprach-lichen Ausdrücken zu beschreiben unddarauf aufbauend Wortstellungsregularitä-ten zu erarbeiten. Eine andere Möglichkeitist, den Satz gewissermaßen von innen her-aus, vom Verb aus, zu untersuchen und zufragen, in welcher Beziehung die nicht-ver-balen Elemente zum Verb stehen. Weiter kannman die Meinung vertreten, dass es nicht ge-nüge, eine Struktur syntaktisch zu analysie-ren, sondern dass auch gefragt werden müsse,welche Rolle kommunikative Faktoren beimAufbau von sprachlichen Strukturen spielen.Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, syn-

taktische Untersuchungen !synchron oder!diachron anzulegen. Im ersteren Fall heißtdies, dass sprachliche Strukturen beschriebenwerden, ohne dass gefragt wird, welche Ent-wicklung sie bis zu diesem Zeitpunkt ge-nommen haben. In einer diachron ausgerich-teten Untersuchung wird hingegen gefragt,ob und wie sich syntaktische Strukturen ineinem bestimmten Zeitabschnitt veränderthaben.Bibliographie: C. Dürscheid, Syntax, Göttingen42007. – P. Eisenberg, Grundriss der deutschenGrammatik, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 32006. – H.-W.Eroms, Syntax der deutschen Sprache, Berlin/NewYork 2000. Christa Dürscheid

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