liberal - Debatten zur Freiheit

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D EBATTEN ZUR FREIHEIT 4.2015 www.libmag.de 2,90 EURO SCHWERPUNKT BESTE BILDUNG STATT EXPERIMENTE MIT WOLF-DIETER HASENCLEVER, KLAUS HURRELMANN, ANDREAS PINKWART, MARKO MARTIN UND ANDEREN GEFÄNGNIS FAMILIE: SIBEL KEKILLI FORDERT FREIHEIT FÜR MUSLIMISCHE FRAUEN JUSTITIA WIRD WEIBLICH: GISELA FRIEDRICHSEN ÜBER DEN MÄNNERMANGEL IN DER JUSTIZ MARX WÄRE HEUTE IN DER FDP: ULF POSCHARDT ÜBER LINKE UND LIBERALE

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liberal zeigt, welche Bedeutung Freiheit für jeden Einzelnen und die Gesellschaft hat – als Freiheit vom Zwang ebenso wie der Freiheit zur Gestaltung des eigenen und gesellschaftlichen Lebens. liberal ist eine unabhängige Insel freiheitlichen Diskurses. Wer liberal gelesen hat, weiß mehr und kann besser urteilen. Ausgabe 4.2015.

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DEBATTENZURFREI HEI T4. 2015www. l i bmag. de2, 90EUROS C H WE R P U N K T BESTEBILDUNGSTATTEXPERIMENTEM I T WO L F - D I E T E R H A S E N C L E V E R , K L A U S H U R R E L M A N N , A N D R E A S P I N K WA R T ,M A R K O M A R T I N U N D A N D E R E N GEFNGNIS FAMILIE: SIBEL KEKILLI FORDERT FREIHEIT FR MUSLIMISCHE FRAUEN JUSTITIA WIRD WEIBLICH: GISELA FRIEDRICHSEN BER DEN MNNERMANGEL IN DER JUSTIZ MARX WRE HEUTE IN DER FDP: ULF POSCHARDT BER LINKE UND LIBERALE DEBATTENZURFREI HEI TliberalWOLFGANG GERHARDTHerausgeber liberalLIBERAL IST DIE PLATTFORM FR FREIE, BRGERLICHE DEBATTEN ABSEITS DES MAINSTREAMS.Online-Bestellungwww.libmag.de/abo/ oder QR-Code scannenliberal bittet Freigeister wie Vince Ebert, JanFleisch hauer, Wladimir Kaminer, Necla Kelek, HaraldMartenstein,Michael Miersch, Ulf Poschardt, Terry Pratchett, Roland Tichy, Christian Ulmen und Wolfram Weimer in die Arena.liberal ist laut Leserpost ein intelligen-tes und mit spitzer Feder geschriebenes, exquisites Magazin.liberal verleiht der Freiheit eine Stimme.liberal wird herausgegeben von der Friedrich-Naumann-Stiftung fr die Freiheit.DEBATTENZURFREI HEI T2. 2015www. l i bmag. de2, 90EUROS C H WE R P U N K T : D I E G E K N I F F E N E G E N E R AT I O N UNTERDERLAST DESALTERS MARIO VARGAS LLOSA: DAS BEKENNTNIS DES NOBELPREISTRGERS ZUR FREIHEITHAMED ABDEL-SAMAD: WIESO ISLAMKRITISCHE SATIRIKER FR MUSLIME EIN SEGEN SIND WOLFGANG GERHARDT:WARUM GROSSE GEWISSHEIT IM GLAUBEN JEDE KULTUR DER TOLERANZ ZERSTRTDEBATTENZURFREI HEI T3. 2015www. l i bmag. deS C H WE R P U N K T : R U S S L A N DNEMZOW-MORD: K.O. FRDIEOPPOSITION? WOLFGANG GERHARDT: WESHALB BILDUNG SOZIALE SICHERHEIT SCHAFFT JAN FLEISCHHAUER: WIESO NICHTS BER EINE ORDENTLICHE BELEIDIGUNG GEHT ZHANNA NEMZOWA:DIE TOCHTER DES ERMORDETEN RUSSISCHEN POLITIKERS IM INTERVIEW KARL-HEINZ PAQU: WARUM TTIP UNVERZICHTBAR IST 001-001_Cover_iPad1 12.05.201520:15:58DEBATTENZURFREI HEI T 4. 2015 www. l i bmag. de2, 90EUROS C H WE R P U N K T BESTEBILDUNGSTATTEXPERIMENTEM I T WO L F - D I E T E R H A S E N C L E V E R , K L A U S H U R R E L M A N N , A N D R E A S P I N K WA R T ,M A R K O M A R T I N U N D A N D E R E N GEFNGNIS FAMILIE: SIBEL KEKILLI FORDERT FREIHEIT FR MUSLIMISCHE FRAUEN JUSTITIA WIRD WEIBLICH: GISELA FRIEDRICHSEN BER DEN MNNERMANGEL IN DER JUSTIZ MARX WRE HEUTE IN DER FDP: ULF POSCHARDT BER LINKE UND LIBERALE Cover_04_Simpson.indd 122.07.15 14:19Jetzt alle zwei Monate neu kostenfrei abonnierenAuch als kostenfreie APP erhltlichliberal weiterempfehlen: kostenloses Probeexemplar an Verwandte und Freunde ber [email protected] liberal0415_210x260.indd 1 22.07.15 14:30E D I T O R I A LD ie Begrndung meines gefrchte-ten Geograelehrers, wieso er auch noch in der Oberstufe auf handschriftlich gefhrten Heften insistierte, lautete: Du wirst, wenn du er-wachsen bist, ja nicht immer einen Compu-ter mit dir herumschleppen wollen. Auer-dem sei die Verwendung eines Computers unfair gegenber nanziell schlechtergestell-ten Mitschlern. Seine Einschtzung sollte sich als falsch erweisen. Tatschlich fhren heutzutage alle Geistesarbeiter meistens gleich zwei extrem leistungsfhige Compu-ter mit sich: ein Notebook und ein Smart-phone. Und obwohl ich mich an ein Leben ohne Smartphone erinnern kann, kann ich es mir nicht mehr vorstellen. Wer heute zur Schule geht, hat die vordigitale Welt hingegen nie erlebt. Dabei sind die technischen Mglichkeiten durch-aus zweischneidig: Dasselbe Smartphone, mit dem ein begabter und interessierter Teenager souvern auf das Weltwissen zugreift und fr das er eine App schreiben kann, die ihm vielleicht viel Geld einbringt, ist in den Hnden eines weniger begabten Teenagers eine perfekte Ablenkungs- und Unterhaltungsmaschine, die ihm dank Diktierfunktion selbst rudimentrste Kultur-techniken abnimmt um den Preis, dass er sie nie beherrschen wird. Da leistungsfhige Technik inzwischen spottbillig ist, vergr-ert sie nicht mehr den Graben zwischen Armen und Reichen sondern zwischen Schlauen und Doofen. Jedem Kind die optimale Frderung zuteilwerden zu lassen, ist schlicht eine Frage der Gerechtigkeit. Moderne Bildungs-politik ist gezielte Frderpolitik fr Kinder und eben nicht nur Finanzausgleich fr den Elternhaushalt mit Kindern, schreibt Klaus Hurrelmann in unserem Bildungsschwer-punkt, wo wir ergrnden, warum das reiche und sonst so auf Gerechtigkeit xierte Deutschland sich hiermit so schwertut und was getan werden msste.Abseits aller Quotendiskussionen ma-chen sich die Frauen auf, einen wichtigen gesellschaftlichen Bereich mehrheitlich zu bernehmen: die Justiz. Spitzenjuristinnen ziehen oft, anders als ihre mnnlichen Kollegen, den Richter- dem Anwaltsberuf vor. Das ermglicht es ihnen, ihre Kinder neben dem Beruf so zu frdern, wie der Staat es leider nicht hinbekommt. Dazu mehr von Deutschlands bekanntester Ge-richtsreporterin Gisela Friedrichsen.brigens: Weil liberal lesen bildet und Bildung uns am Herzen liegt, steigern wir uns um 50 Prozent. In Zukunft erhalten Sie liberal sechs statt vier Mal im Jahr. Und das Abonnement bleibt weiter kostenfrei. Illustration: E. Merheim nach einem Foto von A. MeissnerOBWOHL ICH MICHAN EIN LEBEN OHNESMARTPHONEERINNERN KANN, KANNICH ES MIR NICHT MEHR VORSTELLEN.DAVID HARNASCHCHEFREDAKTEUR3 liberal4.2015 Bildung6VON1 000PROBLEMENSo viel steht fest: Wir brauchen eine neue Bildungsdebatte. Nicht, dass ber das Thema nicht schon lange diskutiert werden wrde. Mancher Streit wird seit Generationen geradezu gepegt: der um die Gesamtschule oder um das klassische dreiglied-rige Schulsystem. Oder ber Kopfnoten, in denen Dinge wie Betragen und Flei bewertet werden. Mit den PISA-Tests hat die Debatte eine neue Dimension erreicht: Es geht nicht mehr nur um gute oder schlechte Bildung, sondern um die Frage, ob Deutschland mit seinen Ausbildungsmglichkeiten im internationalen Wettbewerb bestehen kann. Was fr ein Land ohne Rohstofe existenziell sein wird. Vorschlge fr wichtige Weichenstellungen und Beschreibungen irrwitziger Zustnde nden Sie im Schwerpunkt dieses Heftes. Her mit den Akademikern Fest steht: Deutschland braucht mehr gut ausgebildete Menschen. Doch wird die Zahl der Studienanfnger sinken, obwohl der Anteil der Abiturienten je Jahrgang steigt. Die Demograe schlgt zu Der PISA-SchockAls die erste PISA-Vergleichsstudie verfentlicht wurde, kam es zum PISA-Schock. Mit dem unterdurchschnittlichen Abschneiden Deutschlands hatte niemand gerechnet. Inzwischen hat die Bundesrepublik im Ranking aufgeholt. Ein Problem ist geblieben: Kinder aus sozial schlechtergestellten Familien liegen deutlich unter den Ergebnissen ihrer bessergestellten Mitschler. Der Anteil der Abiturienten in den Jahrgngen wchst Quelle: Destatis, Nichtmonetre hochschulstatistische Kennzahlen Fachserie 11, Reihe 4.3.1, 1980-2013 dennoch wird die Zahl der Studienanfnger in Deutschland zurckgehen Erreichte Punktzahl* der teilnehmenden 15-jhrigen Schlerinnen und Schler in den Bereichensignifkant besserschlechter als der DurchschnittMathematik Naturwissen-schaftenLesekompetenzShanghai (China) 613 580 570Singapur 573 551 542Hongkong (China) 561 555 545Japan 536 547 538Schweiz 531 515 509Niederlande 523 522 511Finnland 519 545 524Deutschland 514 524 508sterreich 506 506 490Frankreich 495 499 505OECD-Durchschnitt 494 501 496Grobritannien 494 514 499Italien 485 494 490Spanien 484 496 438Russland 482 486 475Vereinigte Staaten 481 497 498Griechenland 453 467 477Mexiko 413 415 424Brasilien 391 405 410Katar 376 384 388Indonesien 375 382 396Peru 368 373 384Auswahl: *30 Punkte entsprechen etwa dem Lernfortschritt eines SchuljahresPISA-Daten 2012; Quelle: OECDTausend489.044468.699467.045471.719467.816464.375459.161472.3922012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 201949048047046045039,241,542,543,444,545,146,549,02003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 201050454035304 4.2015liberal Bildung6VON1 000PROBLEMEN43147645646165,441,739,038,234,19,137,37,110,618,820,636,330,930,314,76,432,625,615,563,262,550,535,813,611,636,718,062,416,77,99,38,1PISA: Migranten holen kaum aufWird es gelingen, die Kinder von Zuwanderern in die Wissensrepublik Deutschland zu integrieren? Angesichts der demograschen Entwicklung eine Pichtaufgabe. Die Statistik zeigt: Das Problem ist noch lange nicht gelst LndersacheSchulfragen sind Lndersache. Kein Wunder, dass sich die Bildungsergebnis-se von Land zu Land stark unterscheiden. Das zeigt sich auch am Anteil der Schler eines Jahrgangs, der die Berechtigung zum Studium erwirbt. Diese Statistik sorgt fr dauerhaften Streit. Denn hier gute Ergebnisse zu erzielen, bedeutet noch lange nicht, ein gutes Bildungsergebnis erreicht zu haben. Vielleicht waren die Prfungen nur leichterSaustallAn vielen Schulen schlagen sich die Kinder mit ganz profanen Problemen herum: Es gibt kaum noch saubere Toiletten, ganze Schulgebude sind marode. Die Schultrger geizen und verschleppen die Probleme. Wie soll in einem solchen Umfeld beste Bildung gelingen?Kurz vor der Pensionierung: der LehrkrperEin handfestes Gegenwartsproblem zeigt sich im Schulalltag am Umgang mit der digitalen Revolution. Nicht selten mssen Lehrer von den Schlern lernen, sich in der digitalen Welt zu bewegen. Hauptgrund dafr ist die Altersstruktur des Lehrkrpers, kombiniert mit dem unzureichenden Stellenwert der Weiterbildung im Lehrerberuf Quelle: OECDQuelle: Statistisches Bundesamt, Schulen auf einen Blick, 2014Doppelter Abiturientenjahrgang in Bremen, Berlin, Brandenburg und Baden-WrttembergQuelle: StatistischesBundesamt, Wiesbaden 2015So viele Punkte erreichten die 15-jhrigen Schler in Deutschland bei der internationalen PISA-Studie in MathematikAltersverteilung der Lehrkrfte 2013/2014Anteil an allgemeinbildenden Schulen (in Prozent)unter 30 JahreInsgesamt 664.659Lehrkrfte40-49 Jahre50-59 Jahre30-39 Jahre60 Jahre und lterStudienberechtigtenquotenach allgemeinerHochschulreife undFachhochschulreife2012 (in Prozent)allgemeine HochschulreifeFachhochschulreife Schler ohne MigrationshintergrundSchler in Deutschland geboren,beide Elternteile im Ausland geborenSchler und beide Elternteile im Ausland geborenSchler mit einem im Ausland undeinem in Deutschland geborenen ElternteilMittelwert im Jahr 2003 Mittelwert im Jahr 201252750650453123 %26 %31 %13 %7 %5 liberal4.2015Schule braucht FreiheitVerkncherte Strukturen, Gngelei und Angst vor der dringend notwendigen Entbrokratisierung: Das deutsche Schul- und Bildungswesen ist altmodisch, trge und teilweise ideologisch gefrbt.liberal zeigt die Schwachstellen und lsst Experten den Finger in die Wunde legen.Ergebnis der Baustellenbegehung: Es gilt, Freiheit zur Mitgestaltung zu schaen. 8 BESTE BILDUNG IST MGLICH Es sei kaum gelungen, Schulen mehr Freiheit zu geben, sagt Andreas Pinkwart. Im Interview erklrt der Bildungsexperte, warum er trotzdem an die Reform des Bildungswesens glaubt. VON BORIS EICHLER11IDEOLOGIE ZUM PAUSENBROT Die Entwicklung der vergangenenJahrzehnte hat gezeigt: Frh bt sich, wer ein Linker werden soll. Am besten schon in der Kita. VON KARL-ULRICH KUHLO12SANIERUNG - JETZTErlasse, Vorschriften und Brokratie ohne Ende: Das Schulwesen ist den Vernderungen unserer Zeit nicht gewachsen. VON WOLF-DIETER HASENCLEVER14 MEINUNG STATT WISSEN Falsche Aussagen, tendenzise Behauptungen und emotionale Indoktrination: Was der Nachwuchs in manchen Lehrbchern zu lesen bekommt. VON JUSTUS LENZ16AB IN DIE VORSCHULE Warum die Weichen fr Bildung und Erfolg schon in frhen Jahren gestellt werden mssen. VON KLAUS HURRELMANN18FORSCHES VERGESSEN Wieso der DDR-Autoritarismus in deutschen Schulen noch immer allgegenwrtig ist.VON MARKO MARTINS C H WE R P U N K TFotos: mauritius images / United Archives (Titelbild); Picture-alliance/dpaS T A N D A R D S 3 EDITORIAL4 START 6 VON 1000 PROBLEMEN6 INHALT/IMPRESSUM28 FUNDSTCK28WUTPROBEFleischhauersSchreibbung29AUTOREN DER FREIHEITSibel Kekilli 30ZENTRALMOTIV Historische Nacht40MIERSCHS MYTHENber Natrliches42BCHER54 ZITATE DER FREIHEIT Joachim Lottmann Audio Bildergalerie Link Leseprobe Video A P P - V E R S I O Nliberal ist auch als iPad- und Androidversion erhltlich und enthlt multimediales Zusatzmaterial:4.2015liberal 620MARX WRE HEUTE IN DER FDP Ulf Poschardt macht gerne die Klappe auf: Wie der streitbare Journalist seine linke Vergangenheit in seiner liberalenGegenwartweiterlebt.VON DAVID HARNASCH24SCHATTENGEHEIMDIENSTAuslndermaut, Mindestlohn,Fluggastdatenspeicherung: Warumdie Macht der Zoll-Behrden immerweiter und unkontrolliert wchst. VON JAN C. KLEIN-ZIRBES26DER GECASTETE KANDIDAT Deutschland sucht den Superstarwar gestern: Wie sich die GemeindeSelfkant ihren Kandidaten frsBrgermeisteramt gecastet hat.VON BORIS EICHLER32NEUE CHANCE FR DIE ABBRECHERDie Zahl der Studienabbrecher liegtbei mehreren Zehntausend jedes Jahr.Die Angst, sich neu zu orientieren, istgro.Wie Universitten und Unternehmen beim Neustart in die Karriere 2.0 helfen. VON CHRISTINE MATTAUCH36BUNDESLIGA IM WANDELDie Premier League und ihre millionen-schweren Investoren setzen die deutsche Fuballkultur gehrig unter Druck. Geld-geber wie Martin Kind und Dietmar Hoppwehren sich. Warum die Eliteklasse der deutschen Kicker auf einem schmalenGrat wandelt.VON RALF KALSCHEUR44MIT COOLER KOHLE HELFENCrowdfunding fr die gute Sache: Wie Ideengeber im Internet Sponsoren nden.VON CHRISTINE MATTAUCH48FRAUEN AUF DEM VORMARSCHWarum die Justiz keine Frauenquote braucht. VON GISELA FRIEDRICHSEN50VERBRECHENSVORHERSAGEEin Polizisten-Traum wird wahr: schon vor Begehung der Tat am Tatort sein.VON ANDREAS SPIEGELHAUER52MORALSTANDORT DEUTSCHLAND Warum Mythenbildung undVerschwrungstheorien schlechtfr Deutschland sind.VON WOLFGANG GERHARDTFotos: Nenad Aksic/Getty Imgaes; privat; E. MerheimP O L I T I K W I R T S C H A F T G E S E L L S C H A F T32 44liberal Debatten zur Freiheit. Das Magazinder Friedrich-Naumann-Stiftung fr die Freiheit.Reinhardtstrae 12, 10117 Berlin Telefon 030/28 87 78 59, Fax 030/28 87 78 49 www.libmag.de Kontakt: [email protected]; [email protected], [email protected] von Karl-Hermann Flach und Hans Wolfgang RubinHerausgegeben von Dr. Wolfgang Gerhardt, Prof. Dr. Karl-Heinz Paqu, Manfred Richter, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Wolf-Dieter Zumpfort Beirat: Dr. Bernd Klaus Buchholz, Karl-Ulrich Kuhlo, Helmut MarkwortGesamtleitung: Kirstin HrtigRedaktion Friedrich-Naumann-Stiftungfr die Freiheit:David Harnasch (Chefredakteur, v.i.S.d.P.),Boris Eichler (Chef vom Dienst), Thomas VolkmannAutoren dieser Ausgabe: Boris Eichler,Jan Fleisch-hauer, Gisela Friedrichsen, WolfgangGerhardt, David Harnasch, Wolf-Dieter Hasenclever, Klaus Hurrelmann, Ralf Kalscheur, Sibel Kekilli, Jan C. Klein-Zirbes, Karl-Ulrich Kuhlo, Justus Lenz, Joachim Lottmann, Marko Martin, Michael Miersch, Andreas SpiegelhauerGesamtherstellung:corps. Corporate Publishing Services GmbH, ein Unternehmen der Verlagsgruppe Handelsblatt Kasernenstrae 69, 40213 Dsseldorf Tel. 0211/542 27-700, Fax 0211 /542 27-722 www.corps-verlag.deVerlagsgeschftsfhrung: Thorsten Giersch, Holger Lwe, Wilfried LlsdorfRedaktionsleitung: Mirko HackmannGestaltung: Ernst Merheim (Grak), Achim Meissner (Bild redaktion), mauritius images / United Archives (Titelbild)Objektleitung: Jana TeimannAnzeigen:Tatjana Moos-Kampermann, Tel. 0211/ 542 27-671,[email protected] (Leitung),Georgios Giavanoglou, Tel. 0211/ 542 27-663,[email protected] (Anzeigen-Marketing),Christine Wiechert, Tel. 0211 /542 27-672,[email protected] (Disposition)Litho: TiMe GmbHDruck: Bechtle Druck&Service GmbH & Co. KG 73730 Esslingen, Zeppelinstrae 116Namentlich gekennzeichnete Artikel gebennicht unbedingt die Meinung von Herausgeber und Redaktion wieder.Vertrieb: DPV Network GmbH www.dpv.deBezugsbedingungen: Abonnement bis auf Wider-ruf kostenfrei; Preis des Einzelheftes 2,90 Euro (In-landspreis, zzgl. 2,50 Euro Porto und Verpackung). Nheres ber [email protected] im kostenlosen Abonnement:alles dazu auf Seite 226liberal4.2015 7Mehr Freiheit fr bessere Bildung In der Welt von morgen kann Deutschland nur bestehen, wenn esbeste Bildung fr mglichst viele bieten kann. Trotz des immensenReformstaus an den Schulen und lhmender Strukturdebatten sagt der Bildungsexperte Professor Andreas Pinkwart: Beste Bildung ist mglich. //INTERVIEW //BORIS EICHLERliberal: Herr Pinkwart, Sie sind Ende der 60er und in den 70er Jahren zur Schule gegangen. Wenn Sie heute noch mal die Schulbank drcken mssten, welche Unterschiede wrden Ihnen am meisten auallen?Andreas Pinkwart: Die Unterschiede drften vergleichsweise gering sein. Die Klassen sind heute jedoch erheblich kleiner als damals. Ich hatte in der Spitze 48 Mitschler in meiner Klasse, 40 Schler waren Standard. In meiner Schulzeit erlebte ich noch den schleppenden Einzug elektronischer Medi-en, daran hapert es bis heute. Viel zu oft wird noch mit klassischen Medien gearbeitet.Sie meinen die Tafel, nach wie vor das Symbol fr die Institution Schule?So ist es. Aufgebrochen ist dagegen das Dogma des Frontalunterrichts. Es gibt heute mehr Gruppenarbeit und interaktive Lern-formen. Die Didaktik hat sich fortentwickelt. Dennoch ist Schule in den vergangenen Jahrzehnten von einem, sagen wir es freund-lich, hohen Ma an Stabilitt geprgt. Das ist sehr zurckhaltend ausgedrckt. Sptter sagen, das Schulsystem stammt in seinen Grundstrukturen noch erkenn-bar aus dem Kaiserreich und wird pas-senderweise von Beamten exekutiert, anderen fllt dazu nur der BegriPlanwirtschaft ein In der Tat handelt es sich um ein von den Lndern zentralistisch ausgerichtetes Sys-tem mit wenig Autonomie fr die Schulen jedenfalls soweit es die staatlichen Schulen betrit, also den berwiegenden Teil. Es ist kaum gelungen, den Schulen mehr Freiheit einzurumen. Hier liegt ein wesentlicher Vorteil der privaten Schulen, und das ist auch ein Grund dafr, warum diese von Eltern und Kindern so wertgeschtzt wer-den. Dort kann man Schule ganz anders gestalten, das beginnt bei der Auswahl der Lehrer und endet bei der gezielteren Frde-rung von Begabungen und Talenten.Warum klappt das bei staatlichenSchulen nicht so gut? Es wrde schon funktionieren, es fehlt am Vertrauen in die Kompetenz von Schullei-tungen und Lehrern, vor Ort die richtigen Entscheidungen selbst treen zu knnen. Schulautonomie ist der Schlssel zu besse-rer Bildung. Nur sie ermglicht Vielfalt undFotos: Tina Merkau/FNF8 4.2015liberalBILDUNG INTERVIEWZ U R P E R S O NANDREAS PINKWART war von 2005 bis 2010 stellvertretender Ministerpr-sident und Minister fr Innovation, Wissenschaft, Forschung und Techno-logie des Landes Nordrhein-Westfalen. Er ist seit 2011 Rektor der HHL Leipzig Graduate School of Management und Lehrstuhlinhaber fr Innovationsma-nagement und Entrepreneurship. 9 liberal4.2015Innovation. Anstelle berbordender Bro-kratie brauchen wir spannenden Unterricht. Ein hoher Grad an Autonomie wrde aber nichts ntzen ohne Schulleitungen, die davon Gebrauch machen. Ist das Schulleitern zuzutrauen, die in der Be-amtenlaufbahn sozialisiert wurden?Da bin ich zuversichtlich. Wir haben mit dem Hochschulfreiheitsgesetz in Nordrhein-Westfalen den Prsidenten und Rektoren der Unis und Fachhochschulen viele zustz-liche Kompetenzen gegeben. Dabei sind wiranfangs der gleichen Skepsis begegnet. Unsere Erfahrung: Der Mensch wchst mit seiner Aufgabe und der ihm anvertrauten Freiheit. Die Rektoren haben die Chancen fr ihre Hochschulen genutzt und sind ihrer Verantwortung gerecht geworden. Ich bin berzeugt: An Schulen ginge das genauso gut. Lehrer in Deutschland sind gut quali-ziert und erfahren, das bekommen die hin.Seit Aufkommen der PISA-Studien gilt Finnland wegen seiner Spitzenpltzeals Vorbild. Dort werden Lehrer anders als bei uns aus der akademischen Elite rekrutiert und der Lehrerberuf geniet dort einen hervorragenden Ruf. Ich habe es mir zur Regel gemacht, bewusst positiv ber Lehrer zu sprechen. Man kann die Lehrerschaft nicht per se kritisieren und zugleich bekla-gen, dass das Berufsbild des Lehrers schlecht beleumundet ist. Was Finnland und auch andere erfolgreiche Lnder wie zum Beispiel Vietnam anbelangt: Kennzeichnend sind dort die gezielte Vorauswahl, die hohe Qualitt der Ausbildung und die gesellschaft-liche Anerkennung von Lehrern. Das gilt besonders fr Lehrer an Prob-lemschulen. Deren Arbeitsalltag kann die Hlle sein, ihre Bezahlung ist im Vergleich zu ihren gymnasialen Kollegen mager. Ein weiteres Relikt aus alter Zeit?Zweifellos ein Anachronismus. Lehrern an Brennpunktschulen, die mit besonders schwierigen Schlerbiograen umzugehen haben, sollten wir deutlich bessere Unter-sttzung und eine hhere Bezahlung bieten. Und die leidige Schulformdebatte? Seit Jahrzehnten beherrscht sie die Diskussi-on um die deutsche Schulpolitikund wird oft mit erstaunlicherVerbissenheit gefhrt. Dabei ist die Schulform nicht die entschei-dende Frage. Was wir jedoch brauchen, ist ein hinreichendes Ma an Dierenzierung, um ber- und Unterforderung zu vermei-den. Diese kann innerhalb einer Schule und Klasse ebenso hergestellt werden wie durch verschiedene Schultypen. Was indessen nicht weiterhilft, sind Einheitsschulen, die zu Einheitsergebnissen fhren, denn dies setzt Einheitsschler voraus. Gott sei Dank haben wir es aber mit unterschiedlichen Begabun-gen und Talenten zu tun, die wir wertscht-zen und auch gezielt frdern sollten. Immer mehr Stimmen fordern, Schulen sollten vermehrt Erziehungsaufgaben wahrnehmen, die klassische Eltern-aufgaben sind. Erziehung zu Pnktlich-keit, Hichkeit, zum gesamten Kanon sozialer Tugenden. berfordert das die Schulen?Nein, Helmut Schmidts Sekundrtugenden waren schon immer hilfreich. Schler, Leh-rer und Eltern mssen sich gegenseitig respektieren. Das erwarten brigens insbe-sondere die Schler. Kinder wollen und brauchen Freirume genauso wie klare Regeln. Nichts demotiviert sie mehr als unterschiedliche Leistungen, die gleich bewertet werden. Und wie sieht es mit der lebensprakti-schen Erziehung aus? Wie ernhre ich mich gesund, wie sieht ein Mietvertrag aus? Es gibt so viele Forderungen nach neuen Lehrinhalten. Wrde man sie erfllen, wren Eltern gleich nach der Geburt von allen Erziehungsaufgaben entbunden Es muss klar sein, dass der wesentliche Anteil der Erziehung und Vermittlung von Alltagswissen bei den Eltern liegt. Das ist doch eigentlich die schnste Aufgabe, die Eltern zukommt. Auf der anderen Seite:Wir haben heute eine wachsende Zahl von Patchwork-Familien, deren Konguration sich huger ndert als frher. Hier sind ergnzende Angebote in der Schule unver-zichtbar, wenn wir allen Kindern unabhngig vom Elternhaus beste Startbedingungen geben wollen. Diese Angebote werden allerdings gera-de von jenen Elternhusern nicht wahr-genommen, fr die sie gedacht sind Genau dafr gibt es die Schulpicht und ergnzende, neuere Verpichtungen. Den-ken Sie nur an die Sprachprfung fr Vier-jhrige, die wir in Nordrhein-Westfalen Kinder wollen und brauchen Freirume genauso wie klare Regeln. Nichts demotiviert sie mehr als unterschiedliche Leistungen, die gleich bewertet werden. 10 4.2015liberalBILDUNG INTERVIEWeingefhrt haben. Dieser fr alle Kinder verpichtenden Prfung folgt bei Bedarf eine gezielte Sprachfrderung, damit alle Kinder von der ersten Unterrichtsstunde an mithalten knnen. Denn wir wissen: Ohne gute Ausbildung nden wir heute kaum mehr einen Job, der ein eigenstndiges Leben sichert. Klar muss aber sein: Fr wirkliche Fortschritte in der Chancengerech-tigkeit mssen alle sorgen: Kitas, Kindergr-ten und Schulen, ebenso wie Eltern, Ver-wandte und Nachbarn. Das ist primr keine Frage des Einkommens, sondern des Willens und beharrlichen Tuns aller Beteiligten.Herr Pinkwart, versuchen wir zu priori-sieren. Welche Stellhebel wrden Sie in der Schulpolitik zuerst bewegen?Erstens: Wir brauchen mehr und eine deut-lich bessere Weiterbildung. Da hinken wir hinterher: Wenn die Wirtschaft so wenig fr die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter tun wrde wie der Staat fr seine Lehrer, wren deutsche Unternehmen international schon lngst abgehngt. Damit Lehrer ber mehr als 40 Berufsjahre hinweg motiviert und fachlich vorbereitet bleiben, sollte man ihnen sptestens nach 20 Jahren die Mg-lichkeit zu einem halbjhrigen Sabbatical und einem Aurischungsstudium ernen. Dies wird durch oene Weiterbildungspro-gramme an den Universitten ergnzt.Diese Manahmen werden Geld kosten, scheinen aber umsetzbar zu sein.Dafr wrden wir erhebliche Mittel einspa-ren, die wir heute fr die Frhpensionierung von Lehrern und mittelbar fr die Lernde-zite unserer Schler ausgeben. Wir sollten nicht abwarten, bis durch den Generations-wechsel in der Lehrerschaft die Kreidezeit von der Digitalisierung abgelst wird. Wobei das Auswechseln der Tafeln durch White Boards noch keinen Fortschritt bedeutet. Vielmehr mssen wir unsere didaktischen Konzepte grundlegend renovieren, wenn wir einen Mehrwert schaen wollen: Die Kinder leben schon seit Jahren in einer Parallelwelt, weil die Schulen die Mglichkeiten der neuen Medien fr eine echte Qualittssteige-rung im Unterricht nicht nutzen.Ideologie zum PausenbrotDu lernst nicht fr die Schule, du lernst fr dein Leben, hat mein Vater mir eingeblut. Millionen Mitschler hrten das Gleiche. Manche haben es verstanden und es sich zu Herzen genommen, manche weniger. Wrden unsere Vter in die heutigen Klassenzimmer sehen, mssten sie resigniert feststellen: Unsere Kinder lernen nicht fr die Schule, sondern auch Vorurteile. Statt Fakten. Besonders, wenns um Wirtschaft geht!Schon 2002 hatte Olaf Scholz, heute Brgermeister von Hamburg, damals Generalse-kretr der SPD, unverhohlen zu Protokoll gegeben: Wir wollen die Lufthoheit ber den Kinderbetten erobern. Es scheint gelungen. Zumindest in weiten Teilen des Landes. Und wenn es noch kein 100-Prozent-Erfolg ist, dann liegt das nur an tapferen Eltern,die die huge Linksausrichtung unserer Schulen nicht hinnehmen wollen. Als Wahlkampfthema taugt Bildungspolitik nur bedingt, weil das Interesse der Whleram Schicksal unserer Kinder meistens dann erlischt, wenn die eigenen Kleinen ihren Abschluss gemacht haben. Dann endet die Betrofenheit und damit oft auch das Interesse am Thema. Leider! Denn die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte hat gezeigt: Frh bt sich, wer ein Linker werden soll. Am besten schon in der Kita. Ideologie mit dem Pausenbrot, das hat Wirkung. Wer schon im Schulbuch eingetrichtert bekommt, dass Wirtschaftswachstum Arbeitslosigkeit zur Folge hat (siehe Seite 14 dieser liberal-Ausgabe), wird das nicht mehr vergessen und spter entsprechende Wahlentscheidungen trefen. Wer schon im zarten Kindesalter lesen muss, dass dem Unternehmer die Maschinen wertvoller waren als die Arbeiter, der hat ein Feindbild fr sein ganzes Leben.Perde! Klug ausgedacht! Und mit ungeheuren Langzeitfolgen. Nicht nur fr unsere Kinder, sondern fr unsere ganze Gesellschaft, fr unser Land. Denn mittel- und langfristig wirkt sich diese schleichende Indoktrination auf den Kurs aus, den Deutschland in Zukunft nimmt. Das hat schon in den vergangenen Jahrzehnten funktioniert, wie der Pegel des Zeitgeistes beweist, der sogar aus Adenauers CDU in 70 Jahren eine sozialdemokratische Partei hat werden lassen. Und so lenken natrlich auch Bildungspolitiker von heute die Entwicklung unseres Landes von morgen. Ganz einfach, indem sie unsere Kinder formen.Bildungspolitik hat eine viel zu hohe Bedeutung fr unsere Zukunft, als dass sie weiterhin stiefmtterlich behandelt werden darf, meist weit abgeschlagen hinter anderen politischen Themen. Es lohnt sich fr alle, die zuknftig nicht in einer anderen Republik leben wollen, Bildungspolitik endlich Prioritt zu verschafen. Wer auch in10, 20 oder 30 Jahren Freiheit genieen will, muss dafr sorgen, dass unseren Kindern Freiheit vorgelebt wird, dass sie nicht einseitig ideologisiert werden, dass aus ihnen mndige Brger werden, die ihre ganz persnlichen Chancen zu nutzen gelernt haben, unbehelligt von Ideologen! Denn merke: Wirtschaftspolitik, Umweltpolitik, Sozialpolitik, Auenpolitik oder Verteidigungspolitik von morgen fngt schon heute an im Kindergarten.Karl-Ulrich Kuhlo11 liberal4.2015Im November 1997 fand im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt das Berliner Bildungsforum statt. Einer der Redner war Roman Herzog. Seinen Vor-trag schloss der damalige Bundesprsident mit den Worten: Setzen wir neue Krfte frei, indem wir brokra-tische Fesseln sprengen. Entlassen wir unser Bildungs-system in die Freiheit.18 Jahre nach der wohlbegrndeten Auorderung des damaligen Bundesprsidenten hat sich der Eindruck verfestigt, dass die einzige politische Kraft, die sich ernsthaft um (relative) Autonomie, Eigenverantwortung und Gestaltungsfreiheit fr die Schulen bemht, in der Tat die Liberalen waren und sind. Warum aber wird das auch von anderen Parteien vorgetragene Bekenntnis zur Freiheit der Schulen in der Praxis der Lnder bis auf die rhmliche Ausnahme Niedersachsens in der Zeit der CDU-FDP-Koalition nicht oder nur hchst oberchlich umgesetzt?Mehr Selbstverantwortung fr die auch im Detail unmittelbar den Weisungen der Politik und Verwaltung unterworfenen Schulen bedeutet Machtverlust fr beide. Entscheiden Schulen selbst ber die Schwer-punktbildung beim Unterricht oder gar ber ihre Orga-nisationsformen, kann nicht mehr durch Weisung des Ministeriums mal eben eine pdagogisch weitgehend nutzlose Strukturnderung oder ein gerade modisches Thema in die Bildungssttten hineingebracht werden.Dabei ist die eigene Mglichkeit, sich an die jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen ihrer Schlerschaft anzupassen, wesentlich fr die Qualitt der Schulen. Nach den fr Deutschland schlechten Ergebnissen der PISA-Studie wurden die Faktoren untersucht, die erfolg-Das deutsche Schulwesen ist seiner Tradition als obrigkeitsstaatliche Einrichtung ausKaisers Zeiten treu: durchverwaltet, miteinem berma an Erlassen und Vorschrif-ten ausgestattet, von weisungsgebundenen Beamten exekutiert. Dieses schwerfllige System ist den schnellen Vernderungen unserer Zeit nicht gewachsen. Schule braucht Freiheit.//TEXT //WOLF-DIETER HASENCLEVERMehrFreiheitwagenDAS BUCH ZUM SCHWERPUNKT:Bildung fr AlleBildungsvielfalt im Ideenwettbewerb, von Peter Altmiks/Kathleen Klotchkov (Hrsg.),Peter Lang Edition12 4.2015liberalBILDUNG SCHULAUTONOMIEreichere Schulsysteme ausmachen. Als zentral erwies sich das Ma an Freiheit der einzelnen Schulen in folgen-den Bereichen: Lehrereinstellung, Verfgung ber das Budget, Bestimmung des Lernstos, Entscheidung ber das Fcher- und Kursangebot. Bei all diesen Faktoren lag Deutschland auf dem letzten Platzhinter den Ver-gleichsstaaten Kanada, Finnland, Schweden, Grobritan-nien, Niederlande. Der Grund: Historisch hat sich das deutsche Schul-wesen als obrigkeitsstaatliche Einrichtung im Kaiserreich entwickelt: mit einem berma an Erlassen und Vor-schriften ausgestattet, durchverwaltet, von weisungsge-bundenen Beamten ausgefhrt. Dieses schwerfllige System ist den schnellen Vernderungen unserer Zeit in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft nicht gewach-sen. Das staatliche Schulwesen in Deutschland kann daher als System bezeichnet werden, das durch Verwal-tungsablufe im Dienste einer eher statisch orientierten Gesellschaft gekennzeichnet war und in weiten Teilen noch ist. Einem solchen System sind Individualisierung und die Zentrierung auf die Schler fremd. Reformen in der Schule knnen nicht schnell und pragmatisch von unten kommen, sondern mussten und mssen den mhsamen und politisch belasteten Weg von den Lan-desregierungen ber die Verwaltungen nehmen. Der Schritt in die eigenverantwortete Freiheit ist daher weit mehr als eine Organisationsvernderung: Er bahnt den Weg fr neue Formen des Unterrichtens und Erziehens, fr mehr Individualisierung und Kreativitt. Auch beim Personal mitentscheidenMehr Selbststndigkeit der einzelnen Bildungseinrich-tung bedeutet aber auch mehr Verantwortung fr die Qualitt der eigenen Arbeit, fr die Ergebnisse des Unter-richts, fr die Erziehung, also fr das, was herauskommt (Outcome). Eltern, Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf qualitativ gute Arbeit. Die Steuerzahler haben ein Recht auf Ezienz der eingesetzten Mittel. Die Schu-len haben ein Recht auf die objektive Beurteilung ihres Tuns: Dabei beurteilen zuallererst Eltern und Schler, aber auch die Lehrkrfte selbst ihre Arbeit. Von auen mssen zentrale Prfungen und Schulinspektionen dazukommen. Die Freiheit der Schulwahl fr Eltern und die Finanzierung der Schulbudgets ber Bildungsgut-scheine knnen entscheidende Anreize fr die weitere Qualittsentwicklung sein. Unter dem Begri der Eigen- oder Selbstverwaltung haben viele Bundeslnder den Schulen einige Freiheiten gegeben. Zum Beispiel Teilbudgets fr Fortbildungen, Mitsprache bei der Personalauswahl, bei Befrderungenund bei der Verteilung der Lehrstoplne. Durch die Einbindung der Schulen in das staatliche Personalrecht, die Anbindung an ein allzu detailliertes Haushaltsrecht und die immer noch anhaltende Erlassut sind diese Freiheiten bisher jedoch massiv eingeschrnkt. Neue Verwaltungsvorschriften beispielsweise zur Art und Weise von Leistungsstanddiagnosen statt der unbe-dingt erforderlichen Entbrokratisierung belasten und konterkarieren den Freiheitsgedanken. Werden darber hinaus bisher von den Schulbehr-den geleistete Verwaltungsaufgaben unter dem Zeichen von Selbstverwaltung auf die Schulen abgewlzt, ohne ihnen die ntigen Ressourcen zu geben, entstehen Unmut und Skepsis gegenber derletztlich nur ver-meintlichen Freiheitsgewhrung.Aus den Erfahrungen des Schulwesens in freier Trgerschaft lassen sich einige Grundbedingungen wirksamer, von den Beteiligten fr wesentlich gehaltener Freiheitsbedingungen herausdestillieren. Entscheidend fr die Schulen sind:1.Freiheit in der Verwendung derRessourcen2.Freiheit in der Organisation desUnterrichtsund in der Lehrstoverteilung3.Freiheit bei Personalmanahmenund entscheidungen.Solche schwerwiegenden nderungen in der Verfasst-heit der Schulen knnen nur erfolgreich implementiert werden, wenn man sie sorgfltig vorbereitet und dauer-haft untersttzt. Zumindest mssten folgende Rahmen-bedingungen geschaen werden: Grndliche Aus- und Fortbildung fr Fhrungskrfte im Schulbereich nicht nur fr Schulleiterinnen und Schulleiter , hinreichend Zeit fr deren angewachsene Fhrungsaufgaben sowie die Zusammenfhrung der Sach- und Personalbudgets an den Schulen. Notwendig ist dazu eine weitgehende Verfgungsfreiheit.So kann schrittweise aus dem alten Modell der durchverwalteten das neue, freiheitliche und zukunftsfhige Modell einer Schule in eigener Verantwortung entstehen.PROFESSOR WOLF-DIETER HASENCLEVERist Mitgrnder und Gesellschafter der Freien Schule Panketal undwar von 2006 bis2010 Prsident des Landesamtes fr Lehrerbildung und Schulentwicklung des Landes Niedersachsen. [email protected] Illustration: E. Merheim; Fotos: SuperStock, Inc.; privat13 liberal4.2015Meinung statt WissenFalsche Fakten, tendenzise Behauptungen und emotionalisierteThemen: Was Schler in manchen Lehrbchern zu lesen bekommen, ist nahezu unglaublich. //TEXT //JUSTUS LENZ In deutschen Schulbchern geht es manchmal abenteuerlich zu: Da beutet der Unternehmer seine Mitarbeiter aus, Wirtschaftswachstum erzeugt Arbeitslosigkeit, und die Schler werden zum Mit-machen bei Greenpeace aufgefordert. Kein Wunder, dass auch die entliche Meinung in diese Richtung tendiert zur Schule mussten wir schlielich alle gehen. Dass es ihnen in einem strker vom Staat kontrollierten Wirt-schaftssystem schlechter gehen wrde, meinen im Westen 34, im Osten nur 18 Prozent der Bundesbrger das fanden die Meinungsforscher von Allensbach 2013 im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung heraus. Vielen Deutschen fallen zum Thema Marktwirtschaftdie Begrie Gier (56 Prozent), Rcksichtslosigkeit (53Prozent), Ausbeutung (51 Prozent) und hohe Preise (49 Prozent) ein. Die tendenziell links orientierten Schulbcher sind zwar sicher nicht der einzige Grund fr die in Deutsch-land vorherrschende Marktskepsis und Aufgeschlossen-heit gegenber freiheitsfeindlichen Ideen. Sie sind je-doch ein besonders bemerkenswerter Faktor. Ob Lehrer im Unterricht auf ihre Schler ideologisch einwirken, ist zwar schwer nachprfbar. Dass Jugendliche in Schulb-14 4.2015liberalBILDUNG SCHULBCHERchern mit Emotionalisierungen, falschen Fakten und tendenzisen Behauptungen beeinusst werden, ist aber schwarz auf wei nachzulesen. Dies sollten wir nicht ignorieren.Gerade wenn es um die Darstellung wirtschaftlicher Zusammenhnge geht, nden sich einige besonders bemerkenswerte Beispiele fr ideologisch gefrbte Passagen. So heit es auf Seite 58 des 2007 erschienenen Klett-Schulbuchs Terra Erdkunde 9/10 Niedersachsen:Stndiges Wirtschaftswachstum unddamit wachsender Wohlstand habenaber () in zunehmendem Mae auchArbeitslosigkeit zur Folge.Die falsche Behauptung, Wirtschaftswachstum fhre zu Arbeitslosigkeit, sollte in einem Schulbuch keinen Platz haben. Zumal die Aussage in ihrem Kontext geradezu zynisch wird. Der Schulbuchautor nutzt sie, um zu erklren, dass Wirtschaftswachstum folglich kein erstre-benswertes Ziel fr Entwicklungslnder ist. Natrlich stellt sich sofort die Frage, was denn die besseren Alter-nativen sind. Bezeichnenderweise werden die Schler dabei ohne eine konkrete Antwort allein gelassen. Zu-rck bleibt bei ihnen womglich ein diuses Gefhl von Misstrauen gegenber Wirtschaft und Wachstum.Auch die wichtigsten Akteure in einer Marktwirt-schaft, die Unternehmer, werden hug in ein schlechtes Licht gestellt. So heit es auf Seite 168 tendenzis im Westermann-Schulbuch von 2007 Die Reise in die Vergangenheit 3:Fr den Unternehmer waren dieMaschinen wertvoller als die Arbeiter. Die schlechten Beispiele beschrnken sich nicht auf die Darstellung wirtschaftlicher Zusammenhnge. hnliche Phnomene ndet man auch bei ethischen und politi-schen Fragen. Komme niemand auf die Idee, die groe Zeit des Sozialismus sei vorbei. Folgende Arbeitsanwei-sung nden wir in dem Klett-Geschichtsbuch Zeitreise 3: Imperialismus/Sozialismus (2007, S. 44-47) unter dem in einer chinesischen Buchhandlung ausgestellten Bild, das Marx, Engels, Lenin und Mao zeigt:Wie verhlt sich das Bild zu derBehauptung, das Ende der UdSSR bedeute auch das Ende des Sozialismus? Die Schler sollen wohl angesichts des Bildes schlussfol-gern, der Kommunismus sei lebendig wie eh und je. Plumper geht es kaum. Eine aufgeklrte Reexion ber das politische System Chinas wird diese Frage freilich nicht anstoen.Geht es ums Thema Umweltschutz, ist der Feind der Umwelt regelmig ausgemacht: der Kapitalismus. Doch dagegen kann man etwas tun. So werden die Schler im Ethiklehrbuch Verantwortlich leben: Freiheit, Verant-wortung und Solidaritt (7/8) unter der berschrift Tu was! dazu aufgefordert, aktiv zu werden (Militzke, 2007, S. 73). Die Adresse von Greenpeace wird praktischerwei-se auf der gleichen Seite mitgeliefert. So wichtig das Thema Umweltschutz auch sein mag die unkritische Werbung fr einzelne politische Organisationen gehrt nicht in Schulbcher. Wie gro wre wohl der Aufschrei, wenn ein Schulbuch fr die European Students for Liberty werben wrde? In einem anderen Ethikbuch wird recht apodiktisch von der totalen Ausbeutung der Natur gesprochen (Abenteuer Ethik 2 9/10, C.C. Buch-ner, 2008, S. 66).Die Schulbuchverlage zeigen keine Spur schlechten Gewissens: So rechtfertigte der Klett-Verlag die Darstel-lung des falschen Zusammenhangs zwischen Wirt-schaftswachstum und Arbeitslosigkeit in einem Deutsch-landfunk-Interview mit den Worten, diese Darstellung sei ja nur ein Blickwinkel. Der Bildungsalltag in Deutsch-land sieht so aus: Schulbcher geben tendenziell die Mehrheitsmeinung der Lehrer im jeweiligen Fach wie-der. Denn Lehrer sind auf vielfltige Weise in den Prozess der Schulbucherstellung eingebunden, sind oft selbst Autorenbestimmter Abschnitte. Zudem entscheiden meist die jeweiligen Fachkonferenzen an den Schulen darber, welche Bcher angeschat werden und welche nicht. In vielen Bundes lndern mssen Schulbcher zudem staatlich zuge lassen werden, bevor die Schulen sie im Unterricht verwenden drfen. Fazit: Wenn freiheitsfeindliche Einstellungen dasErgebnis einer aufgeklrten Willensbildung sind, dann mssen wir damit umgehen. Es darf jedoch nicht sein, dass falsche Behauptungen, Emotionalisierungen und tendenzise Darstellungen gesellschaftlicher Themen in Schulbchern zur Entstehung solcher Einstellungen beitragen. JUSTUS LENZist Leiter Haushaltspolitik beiDie Familienunternehmer/Die Jungen Unternehmer. Er hat fr die Friedrich-Naumann-Stiftung fr die Freiheit die Darstellung wirtschaftlicher Themen in Schulbchern [email protected] unserem Webshop nden Sie drei Untersuchungen zum Thema unter der Internetadresse:https://shop.freiheit.orgIllustration: E. Merheim; Fotos: Hulton Archive/Getty Images; privat15 liberal4.2015Etwa 200 Milliarden Euro werden in Deutschland Jahr fr Jahr umverteilt, um Ehepaare mit und ohne Kinder zu untersttzen. 200 Milliarden Euro an Kindergeld, Kinderfreibetrgen, Kinder-zuschlag, Elterngeld, Steuererleichterungen bei ber-durchschnittlich hohen Kosten der Kinderbetreuung, Kinderzuschlgen bei der Riester-Rente, Ausbildungsfrei-betrgen, dazu die Mitversicherung der Kinder in der Krankenversicherung, Beitragsreduktionen fr Eltern bei der Pegeversicherung und viele andere Programme mehr. Das hat vor einem Jahr ein Expertengremium aus verschiedenen Forschungsinstituten errechnet. Diese Programme zeigen alle das gleiche Strickmuster: Familien mit Kindern sollen nanzielle Untersttzung erfahren, um ihren im Grundgesetz in Artikel 6 festgeleg-ten Auftrag erfllen zu knnen: Erziehung und Pege der Kinder sind das natrliche Recht der Eltern und die zuvrderst ihnen obliegende Picht. Die Formulierung eines solchen Auftrags in einer Verfassung drfte es kaum noch einmal auf der Welt geben. Unter dem Eindruck des totalitren Regimes der Nationalsozialisten, das dem Staat weitgehende Interventionen in das Familienleben ermg-lichte, waren die Verfassungsgeber gegenber entlichen Eingrien in das Familienleben uerst skeptisch gewor-den und verankerten im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ein monopolartiges Erziehungsrecht der Eltern. Das Ergebnis: Kinder in Deutschland sind im wahren Sinn des Wortes auf Gedeih und Verderb auf ihre Eltern angewiesen. Von der Idee der Subsidiaritt her sollen Mutter und Vater die einzig verantwortlichen Personen sein, die sich in den ersten sechs Lebensjahren um ihr Die Weichen fr den Bildungserfolg werden im Vorschulalter gestellt. Das bestreitet niemand mehr. Fr den Bildungsforscher Professor Klaus Hurrelmann ist es jetzthchste Zeit, daraus politische Konsequenzen zu ziehen.//TEXT //KLAUS HURRELMANN Auf Gedeih und Verderb16 4.2015liberalBILDUNG VORSCHULEWohl kmmern, um ihre Erziehung und ihre Bildung. Vorschuleinrichtungen, Kinderkrippen, Horte und Kinder-grten sind nach dieser Idee nur ein Angebot fr Krisen- und Notflle. Erst mit dem sechsten Lebensjahr soll das Kind fr einige Stunden des Tages in die (Halbtags-)Schule gegeben werden. Dort soll es eine kognitive und fachliche Bildung erhalten, whrend die Erziehung und die Persn-lichkeitsbildung weiterhin Elternsache bleiben. Dies fhrt dazu, dass in Deutschland der Bildungser-folg der Kinder so stark vom Elternhaus abhngt wie in kaum einem anderen Land der entwickelten Welt. Ma-chen die Eltern ihre Sache gut, dann protieren ihre Kinder davon, knnen eine starke Persnlichkeit entwi-ckeln und ihre Leistungsfhigkeit in der Schule entfalten. Machen die Eltern ihre Sache schlecht, dann hat ihr Kind einen schweren Start ins Leben.Trotz der ungeheuren Transfersummen an Ehepaare mit Kindern gelingt es im internationalen Vergleich noch nicht einmal befriedigend, materielle Armutslagen von Kindern zu vermeiden und ihre krperliche und psychi-sche Gesundheit zu sichern. Indirekt wirken sich diese Faktoren noch einmal auf die Leistungsunterschiede der Kinder aus.Alle vorliegenden Untersuchungen besttigen: Das deutsche Modell der Familienpolitik sichert die er-wnschte wirksame und nachhaltige Erziehung und Pege der Kinder nicht. Es ist falsch, den Eltern die abso-lute Monopolstellung bei der Erziehung, Pege und Bildung der Kinder einzurumen. Viele andere europi-sche Lnder stellen den Eltern von Anfang an Betreu-ungs-, Erziehungs- und Bildungseinrichtungen zur Seite. Sie relativieren damit absichtlich den Einuss der Eltern. Grobritannien, die Niederlande und die skandinavischen Lnder, um nur einige Beispiele zu nennen, investieren anteilsmig mehr in die vorschulische Erziehung und Bildung als in die Untersttzung von Familien. Sie sehen auch und gerade die entliche Vorschulerziehung und -bildung als einen integralen Bestandteil der Wohlfahrts-politik an und geben ihr ein entsprechend hohes Gewicht. Seit der Jahrtausendwende haben Bundesregierungen endlich damit begonnen, Elemente dieser Politik zu bernehmen. Der Rechtsanspruch auf einen Kinderkrip-pen- und Kindergartenplatz und die gezielte Frderung von Ganztagsschulen signalisierten diese Trendwende. Aber der neue Weg ist mhsam und die Pfadabhngigkeit der inzwischen ber 130 Jahre alten Wohlfahrtspolitik gro. International vergleichende Bildungsstudien haben drei strukturelle Merkmale herausgearbeitet, die den verhngnisvollen Eekt der sozialen Herkunft auf die Leistungsbilanz der Kinder abschwchen knnen: 1.Ein mglichst hoher Anteil von Kindern in denvorschulischen Bildungseinrichtungen2.Ein mglichst langer Aufenthalt der Kinder in diesen Einrichtungen bei intensiver Abstimmung der Erzie-hungsimpulse zwischen Elternhaus undEinrichtung3.Eine mglichst spt in der Bildungs laufbahn einset-zende Aufteilung der Kinder in unterschiedliche Schultypen nach ihrem bis dahin erreichten Leistungs standJedes dieser Merkmale erhht das Potenzial des Bil-dungssystems, die schulischen Leistungen bei allen Kindern, unabhngig von den Vorgaben des Elternhau-ses, aber immer in enger Abstimmung mit dem Eltern-haus, zu verbessern. Auf diesem Wege werden zudem die Chancen, die Persnlichkeits- und Leistungsentwick-lung der Kinder aus unteren sozialen Herkunftsschichten vergrert. Moderne Bildungspolitik ist gezielte Frderpolitik fr Kinder und eben nicht nur Finanzausgleich fr den Elternhaushalt mit Kindern. Wir brauchen die materielle Basisabsicherung des Elternhaushaltes und zugleich die vorschulische Betreuung und Erziehung in Kinderkrip-pen und Kindertagessttten und die Angebote von Kindergrten und Grundschulen auch am Nachmittag, weil sie die Frderimpulse der Eltern ergnzen. Je besser die entliche mit der privaten Erziehung abgestimmt ist, desto mehr protieren die Kinder. Und nicht zu vergessen: 20 Prozent aller Kinder erhalten in ihren Familien nicht die Anregungen und Untersttzungen, die sie fr ihre krperliche, psychische, sprachliche, emotionale und intellektuelle Entwicklung unbedingt bentigen. Fr sie sind die entlichen Bil-dungseinrichtungen berlebenswichtig. Ohne sie fallen sie frh zurck und sind nicht in der Lage, den Anforde-rungen des gesellschaftlichen Lebens gerecht zu werden. Es wrde sich rechnen, von den vielen Milliarden Euro Transfergeldern fr Ehepaare mit und ohne Nachwuchs einige fr ein Vorschulangebot und eine frhkindliche Bildung fr diese Kinder abzuzweigen. KLAUS HURRELMANN ist Professor of Public Health and Educationan der Hertie School of Governance in Berlin. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Verbindung von Sozial-, Bildungs- und [email protected] Illustration: E. Merheim; Fotos: SuperStock RM; privat17 liberal4.2015Forsches VergessenAuch nach 25 Jahren deutscher Einheit ist der Autoritarismusin der DDR sozialisierter Lehrer prsent. //TEXT //MARKO MARTIN 18 4.2015liberalBILDUNG KULTURSCHOCK DDR-LEHRERLngst zu Tode zitiert ist das William Faulknersche Diktum, nach dem die Vergangenheit nicht tot, ja noch nicht einmal vergangen sei. Die Berliner Republik nmlich gibt sich hip, Millionen Touris-ten bestaunen das Areal zwischen East Side Gallery und Checkpoint Charlie, posten ihre Smartphone-Bilder, nuckeln an nachhaltig produziertem Coee to go. Doch auch die permanent Ansssigen drfen der Illusion huldigen, das Vergangene sei lngst Stein und Attraktion geworden harmloser Grusel, ein historischer Kick. Wer schulpichtige Kinder hat oder nach einem Kita-Platz sucht, kann allerdings ganz schnell vllig andere Erfahrungen machen. Zynisch ausgleichende Gerechtig-keit: Hug trit es gerade jene kologisch hyperbewuss-ten Zuzgler aus den sogenannten alten Bundeslndern, die sich im Prenzlauer Berg, im Friedrichshain oder im Speckgrtel zwischen der Hauptstadt und dem bran-denburgischen Umland eine neue, idyllische Bleibe geschaen haben. Denn pltzlich wird ihr Nachwuchs kommunikativ gewaltfrei erzogen und mit garantiert umweltvertrglichen Lebensmitteln und Spielzeug gepp-pelt unerwartet rde angeherrscht. Wenn alle aufs Tpfchen gehen, werden wir fr dich keine Extrawurst braten. Egoistische Einzelgnger kann unser Klassenkol-lektiv nicht gebrauchen. Autoritre Kindergrtnerinnen mit ostentativ prsen-tierter DDR-Sozialisation, Lehrer mit realsozialistischem Schmiss, die noch heute von BRD und Hitlerfaschis-mus reden, jedoch pltzlich vor den Ferien kaum noch Zeit nden, die obligatorische Unterrichtseinheit DDR abzuhandeln. Allzu berraschend sollte dies freilich nicht sein: Wer im Wendejahr 1989 im berhmt-berchtigten IFL, dem DDR-Institut fr Lehrerbildung, seinen Ab-schluss gemacht hatte, steht jetzt mit Mitte Ende vierzig in Saft und Kraft und stammt statistisch mehrheitlich aus einem Elternhaus, das ebenfalls schon der ostdeutschen Funktionselite angehrte. Weshalb also sollten sich die aus solch hartleibigem Milieu Hervorgegangenen den sanften Diskursmodalitten der Bundesrepublik anpas-sen? Man hatte es ihnen ja auch denkbar leicht gemacht: Auer besonders eklatant stasi- oder SED-belasteten Direktoren oder bejahrten Staatsbrgerkundelehrern bernahm der Staat nach 1990 en masse Lehrer in seinen Dienst. Die damalige Gewerkschaft GEW lie gegen die Zwangsdurchmischung demonstrieren: Weder sollten Ostlehrer in den Westen versetzt werden noch allzu viele Westlehrer in den Osten gehen. Taten es Letztere aus Idealismus doch, wurden sie nicht selten gemobbt. Promi-nentester Fall: der Westberliner Lehrer Peter Klepper, der vor der Hardcore-Mentalitt in Lichtenberg bald wieder ins heimische Tempelhofchtete. Wirklich schockierend aber ist etwas anderes: Bun-desdeutsche Wohlfhlbrger scheinen erst dann aufzu-merken, wenn der eigene Nachwuchs die atmosphri-schen Nachwehen der DDR-Ideologie zu spren bekommt. Der totalitre Charakter des SED-Staates, der unter Margot Honeckers gide vor allem im Bildungsbe-reich peinlich darauf achtete, ein Gehorsamsmilieu wie-der und wieder zu reproduzieren er bleibt bis heute eher unbekannt, mgen ihn Wissenschaftler und Zeitge-schichtler inzwischen auch bis ins letzte Detail analysiert haben. Bis in die Gegenwart hinein rcht sich, dass nach 1990 bundesrepublikanische Lehrplne einfach bergestlpt wurden und westliche Bildungspolitiker ebenso naiv wie arrogant von einer gemeinsamen Wissens- und Werteba-sis ausgingen. Wie aber sollten diejenigen, die dank ihrer geschmeidigen oder berzeugten Anpassung in einer Diktatur Lehrer geworden waren, nun das Unrechtssys-tem der DDR plausibel analysieren? Der Autor dieser Zeilen, hug auf Schullesungen in den neuen Bundesln-dern unterwegs, wird immer wieder Zeuge, wie Schler bedauern, dass zwischen den Themen Zweiter Weltkrieg und Brandtsche Ostpolitik kaum noch Zeit fr jenen Staat bleibt, in dem ihre Eltern geboren und erzogen wurden. Denn so anregend es auch sein mag, als Schullesesto Bernhard Schlinks Der Vorleser und Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt zu besprechen und nicht mehr die masochistisch altbundesdeutschen Evergreens Die verlorene Ehre der Katharina Blum und Bieder-mann und die Brandstifter , die Namen von DDR-Dissi-denten wie Freya Klier, Jrgen Fuchs oder Erich Loest bleiben den Teenagern Hekuba. Dabei bte sich gerade Kliers uerst lesbares Buch Lg Vaterland. Erziehung in der DDR fr Lehrer und Schler gleichermaen an, ber das Spannungsfeld zwischen Fanatismus, Opportunismus und tapfer bewahrtem pdagogischen Anspruch, den es selbstverstndlich auch gab, zu diskutieren und ein wirkli-ches Generationsgesprch zu wagen. Genau das aber bleibt aus auch nach einem Vierteljahrhundert soge-nannter deutscher Einheit. Illustration: E. Merheim; Fotos: ddrbildarchiv.de/Manfred Uhlenhu, privatMARKO MARTIN, Jahrgang 1970,verlie im Mai 1989 als Kriegsdienstverweigerer die DDR und lebt als Schriftsteller in Berlin. Ende Juni erschiensein neues BuchMadiba Days. Eine sdafrikanische Reise (Wehrhahn Verlag). [email protected] liberal4.2015Marx wre heute in der FDPUlf Poschardt ist Stellvertreter des Chefredakteurs der WeltN24-Gruppe und ein bekennender Liberaler.Als der Fleisch gewordene Synergieefekt, ein wandelndes Roundtabletrefen extremer Persnlichkeiten, die eines gemeinsam haben: den unbedingten Blick nach vorn, bezeichnete ihn Cornelius Tittel schon vor 13Jahren in der taz. Im liberal-Interview erklrt Poschardt, wie der Liberalismus mehr von dem entwickeln kann, was linke Politik als Markenzeichen hat: Charme.//INTERVIEW //DAVID HARNASCHliberal: Herr Poschardt, reden wir erst einmal ber Ihre linke Vergangenheit.Wie lsst sie sich in Ihr heutiges Daseinals Vollblutliberaler einordnen? Poschardt: Vollblut klingt mir ein bisschen zu biologistisch. Aber Liberaler, klar. Meine linke Vergangenheit hilft mir. Am allermeis-ten hilft der Grundgedanke, mit dem ich aufgewachsen bin: Mach die Klappe auf. Lass dir nichts gefallen, schlag zurck!Das ist tatschlich ein Verdienst linker Eltern, auch beim Kollegen Fleischhauer, der einem sozialdemokratischenElternhaus entstammt.Genau. Auch meine Erziehung war in vielen Punkten ideologisch interessant. Meine linken Eltern haben mir ein Verantwortungs-gefhl mitgegeben, das ist nach wie vor eine Kraftquelle fr mich. Und natrlich wurde zu Hause von morgens bis abends ber Politik geredet. Deswegen fhle ich mich nach wie vor wohl in diesen Milieus, sie sind mir vertraut. Und weil ich die Denkarbeit dieser Milieus so gut kenne, wei ich auch, wo ihre neuralgischen Punkte sind und wo man bei Debatten richtig reinfeuern kann. Das muss fr Linke sehr irritierend sein Ja, man merkt, wenn man sie in ihrem punk-rocklinken Kampfsound angeht, dann sind sie ganz schnell irritiert. Auch auf Podien und Kongressen, wo Brgerliche in der Regel als aggressionsgehemmt gecastet werden. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es kaum etwas Wichtigeres fr einen Liberalen geben kann als die Marxlektre. Es ist ein antiidealistisches Surebad, in dem die konomie im Vordergrund steht, und das ist etwas, was den Marxisten und den Wirt-schaftsliberalen auf jeden Fall verbindet. Karl Marx hat das quasi-religise seiner sozialen Frage wegbekommen, indem er es zur Wissenschaft erklrt hat. Das hat natr-lich den Charakter der grtmglichen Anmaung. Dieser Gestus der Anmaung ist der Linken bis heute geblieben in allen Facetten! Warum haben Sie Marxdann so gerne lesen? Weil es aufregend, anregend, ja in Gestalt des Kommunistischen Manifestes auch erregend ist. Der deutsche Idealismus wird auf die Fe gestellt und danach die Welt auf den Kopf. Total irre. Aber die Kraft dieses Denkens, seine Energie kann abgezapft werden. Zudem hatte es etwas Heroisches an sich, das spricht einen ja besonders an, wenn man als Jugendlicher auf Sinnsuche ist. Zumindest wenn man ein Eckensteher war wie ich.Und heute sind linke Veranstaltungen more sexy als liberale und brgerliche? Ja, ich nde schon, dass vielem in der Union oder in der FDP eine unangenehme Aus-strahlung des Arrivierten anhaftet. Besonders bei der FDP bricht dasdoch gerade extrem auf Stimmt! Die FDP als Loserpartei war zuletzt total geil. Weil jemand, der bei zwei Prozent in eine Partei eintritt, das weder aus Oppor-tunismus noch aus Karrieregrnden macht. ndert sich gerade die Wahrnehmung in der nicht gerade von Haus aus liberal eingestellten entlichkeit gegenber dem Liberalismus? Ich glaube, wenn selbst Heribert Prantl schreibt, dass er irgendwas Liberales in 20 4.2015liberalPOLITIK INTERVIEWFoto: H. Galuschka/dpaDeutschland vermisst, dann ist das ein Zeichen, dass sich da wirklich etwas zu ndern droht. Und ich glaube, dass durch die Groe Koalition, den Kirchentag oder die entlich-rechtlichen Kommentierungen, durch diesen ganzen pampigen, fettgesi-gen Sozialdemokratismus auch so eine Sehnsucht nach etwas Leichtem, Liberalem aufkommt. Dass man diese Leichtigkeit mit der FDP assoziieren kann, ist natrlich auch ein Verdienst von Christian Lindner.Inwiefern? Zwischendurch war ich etwas unglubig, ob aus dem, was er gerade anstellt, etwas wer-den kann: Berater, Werbeagenturen und so was Aber wenn man sich die letzten sechs, sieben Monate anguckt, dann nde ich es erstaunlich, wie gut das aufgeht. Es gibt eine neue Neugier auf die Liberalen und die war davor komplett verschwunden, verstellt von Ekel und auch Emprung ber diese nicht sonderlich tolle Leistung in den vier Jahren der Koalition. Und gleichzeitig gibt es auch ein wirklich tief empfundenes Wir haben verstanden-Signal, bis tief in den letzten Ortsverein. Die Devise lautet jetzt: Haltet den Ball ach, und tappt nicht wieder in eure Selbsterhhungsfallen.Ich habe den Eindruck, dass es auch im Feuilleton liberaler zugeht als noch vor vier Jahren. Das wre doch eine guteNachricht. Ja, die Fronten brechen auf. Es ist schn, weil man sagen kann, jetzt lesen sie alle John Stuart Mill oder sie entdecken das Sptwerk von Foucault, wie er ber die Freiburger Schule schreibt. Foucault, der ja immer eindeutig links verortet war. Die spannende linke Auseinandersetzung hat meines Erachtens vor 40 bis 50 Jahren stattgefunden. Seitdem kommt es mir alles vorgedacht vor, als knne man sich das alles aus dem Baukasten zusammensetzen. Z U R P E R S O NUlf Poschardt ist Stellvertreter desChefredakteurs der WeltN24-Gruppe.Er wurde 1967 in Nrnberg geboren, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. 1995 erschien erstmalig das auf seiner Promotionsschrift basierende Buch DJCulture, das der Tropen Verlag im August 2015 ergnzt um ein Nachwort von DJ Westbam erneut verfentlicht. Zuletzt verfasste der bekennende Petrol-head mit 911 eine kulturgeschichtliche Hommage an den Klassiker von Porsche.liberal4.2015 21Wenn man die soziale Frage als die linke Frage deniert, dann ist in Wahrheit viel dazugekommen, aber eher zivilgesellschaft-lich. Weniger von Linken als von Megakapi-talisten. Grere Humanisten als Bill Gates und Warren Buett wird man nicht nden.Also sind ein paar Grokapitalisten in den USA zugleich Treiber und Philosophen des globalen sozialen Fortschritts? Warum fllt die linke Antwort in Deutschland so dnn aus? Das ist eine Mentalittsgeschichte. Die hei-deggersche Angst hat das Linke eben auch erfasst, insbesondere, wenn man sich die linken Grnen ansieht. Deren zentrales Motiv ist die Angstmache vor der Apokalyp-se. Und das ist eigentlich berhaupt nicht links. Linkssein bis 1968 war immer auch ein Zuversichtsfanatismus. Den haben im Au-genblick vor allem die Brgerlichen.Insbesondere die Liberalen. Wir umarmen den technischen Fort-schritt, weil genau er die linken Ziele am weitesten nach vorne bringen kann?Genau. Auch Marx hat bereits internationa-listisch gedacht. Man hat an sehr vielen seiner Passagen gesehen, dass der moderne Kapitalismus auch die Rckstndigkeit und die Verbldung zerstrt. Wre ich einer der jungen, kecken Neu-FDP-Werber, wrde ich sagen: Marx wre heute in der FDP. Auch, weil die soziale Frage durch Bismarck, die Sozialdemokraten und die soziale Markt-wirtschaft aus ihrer Drastik befreit wurde. Marx wre stolz auf das Erreichte. Aber vielleicht ist das ja nur eine bldeWerberidee.Sind Linke gar nicht empfnglich fr liberale Gedanken? Doch, im Augenblick gibt es schon eine Empfnglichkeit fr freiheitliche Gedanken. Aber wir mssen uns fragen: Wo sind die Hebel, wo knnen wir sagen: Wir brauchen emanzipatorische Entwicklung und Frei-heitsmglichkeiten als Treiber allen gesell-schaftlichen Fortschritts. Wer sind die eman-zipatorischen Milieus? Wo ist der politische Liberalismus mit dem Aufbruchs- und Emanzipationswillen junger Migranten verzahnt, die hier Kapitalismus at its best machen? Diese Erfolgsgeschichten werden auch von Liberalen bislang zu wenig in ihr Narrativ eingearbeitet und ernst genommen. Da sind Frauen mit Kopftuch, die erfolgrei-che Unternehmerinnen sind und Mercedes oder BMW fahren, die Verantwortung ber-nehmen fr ihren Laden und fr die zehn oder zwlf Leute, die sie anstellen. Ohne in Klischees zu verfallen, aber diese erfolgrei-chen Unternehmerinnen haben ein sehr klares Verstndnis von Familienwerten und Eigenverantwortung. Sie sind eigenstndig, engagiert, werteorientiert, doch im Augen-blick noch mit null Kontakt zu irgendwel-chen liberalen brgergesellschaftlichen Aktivisten.Da gehrt der Liberalismus aber hin.Richtig. Aber damit nicht genug: Wo ist das feministische Narrativ im Liberalismus? Die FDP war lange verdienstvollerweise eine schwule Partei, schlielich sprt der Schwu-le an vielen Punkten, wie eng eine Gesell-schaft werden kann. Aber es gibt leider keine liberale feministische Theorie. Wenigstens gibt es ein paar Personen: Lencke Steiner, Katja SudingundNicola Beer.Gute Frauen, klar. Immerhin da liegt das brgerliche Lager vorn: Ich glaube, in der Union ist es bereits Common Sense, das moderne Frauenbild zu transportieren. Merkel, von der Leyen, Christina Schrder sind vorzeigbare Role Models. Die SPD tut sich hingegen da noch schwer. Gerhard Schrder war der Vorzeigemacho. Sigmar Gabriel ist es auch. Und Nahles oder Schwe-sig, die haben einfach nicht den Punch. Dennoch fehlt bei den Liberalen das theore-tische Fundament. Es gibt ja einen Mnner-berschuss in allen liberalen Vereinen das perpetuiert das Problem. Das Thema wird in liberalen Kreisen aktuell tatschlich kaum diskutiert,hier dreht sich alles um Bildung.Ja, das macht die FDP jetzt auch zu ihrem Thema, aber mir fehlen die konkreten An-satzpunkte. Da msste man in die Brenn-punktschulen, wo sich das Elend durch Sozialstaatsverwahrlosung so aufgetrmt hat, dass eigentlich keine normale Interven-tion mehr eine Erfolgschance hat. Da gehren die besten Lehrer des Landes hin, die Debatte um die Rtlischule war hierzu ein Weckruf. Die Lehren daraus lassen sich beispielhaft generalisieren. Liberale mssten sagen knnen: Das mei-nen wir mit Hilfe zur Selbsthilfe. Und Selbst-Marx wre stolzauf das Erreichte.Aber vielleicht istdas ja nur eineblde Werberidee.22 4.2015liberalPOLITIK INTERVIEWermchtigung. Die Bildung muss da Exzel-lenz liefern, wo die Schwchsten der Schwachen drohen, aus der Chance zur Selbstverantwortung verstoen zu werden. Es braucht Hilfe fr Schwache in einem antipaternalistischen Sound. Entscheidend fr die Gesellschaft ist, was von der frh-kindlichen Prgung bis zum Alter von 17Jahren passiert. Wir sind ein so wohlha-bendes Land, das muss man einfach hinkrie-gen! Die sozialdemokratische Sozialstaatspa-ternalisierung hat es ja oensichtlich nicht gebracht.Haben Sie in aktuelle Schulbcher reinge-guckt? Wie dort Wirtschaft erklrt wird?Das ist vllig egal. Mir geht es um die total abgehngten Kinder, da muss man ran. Sehen Sie sich mal Frauentausch auf RTL 2 an. Dort ist zu studieren, wie dnn kono-misch die Grenzen zwischen Transfer emp-fangender Unterschicht und eiiger, total selbstbestimmt lebender unterer Mittel-schicht sind. Letztere sind einfach beson-ders beeindruckend. Die wohnen in einem bescheidenen, aber gepegten Viertel, sind stolz und happy, whrend die Familie in der Sozialtransferplatte jede Form fr Verant-wortung hat fahren lassen. Die kriegen ein Kind nach dem anderen, es ist dreckig und voller Schimmel. So zumindest bei der Folge, die ich gestern verschlungen habe. Bei den Eltern ist der Zug schon abgefahren, und dann sieht man die Kinder und denkt: Oh Gott! Wenn man die da drin lsst, sind sie verloren. Das sage ich nicht, weil ich Sozial-romantiker bin, aber das Schicksal dieser Kinder lsst mich nicht los. Die knnen nichts dafr. Wie kann man denen helfen, ohne sie in eine Hilfsbedrftigkeit hineinzu-erziehen? Das ist auch eine Szenerie, in der ich mir wnsche, dass der Liberale dafr Verantwortung bernimmt. Dort gelingen oder scheitern Biograen, und auch die Idee von Freiheit, wie ich sie jedem Menschen wnsche. Vielleicht kommt diese Rhrung aus meiner linken Vergangenheit. Das war auch das Groartige an sozialdemokrati-schen Bildungsvereinen und Arbeiterkultur: Es war Dnger fr eine gelingende Zivilge-sellschaft. Ich wrde es auch begren, wenn die Linkspartei Schulen in Brenn-punktvierteln aufbaut, so wie das Kirchen gerne tun. Egal, wenn die Kinder danach schwrmerische Kommunisten sind: Sie haben auf jeden Fall Rechnen, Schreiben, Lesen und Denken gelernt. Und wissen, dass es fr das Leben eben stets eine Grundstruk-tur von Disziplin und Ehrgeiz geben muss.Weil wenigstens dieGrundfertigkeiten da sind? Die Kulturtechniken sind dann da. Man hat Disziplin. Und Liberale mssen weitergehen und sich fragen: Wo bauen wir die biogra-schen Portale, Schleichwege, Rennstrecken, die jemand nehmen kann, um zu einem gelungenen Leben zu nden? Und wie macht man dasimDiskurs glaubhaft?Ein Beispiel: Lindner hatte vllig recht, Steuersenkungen fr die untere Mittel-schicht zu fordern, um deutlich zu machen: Auch wir sehen die Auseinanderentwick-lung der Gesellschaft als problematisch! Das war vllig kongruent liberal gedacht. Ich bezweie, dass der Staat als einziger Akteur handeln muss. Es kann ja auch zivilgesell-schaftliches Social Engineering sein. Zivilgesellschaftlich wredie wahrhaft liberale Lsung Wir brauchen schnell konkrete Projekte und mssen dafr die Bndnispartner in der Lehrer- und Rektorenwelt nden. Die Nau-mann-Stiftung kann vorangehen: Anstatt die x-te Veranstaltung zu John Stuart Mill zu machen, sollte sie auch mal Schulprojekte in den Stdten durchfhren, Naumann-Stipen-diaten in die Schulen schicken, die sagen knnten: Das sind unsere Ideen. Der Libera-lismus muss die soziale Frage auf seine Art beantworten knnen.Oh je, klingt das jetzt alles linksliberal.Stimmt. Und natrlich mssen dann auch fr Leute wie mich die Steuern runter (lacht), aber ich warte gerne, bis es uns gelingt, Hunderten und Tausenden von Transferempfnger-Kindern zu gelingenden Schulbiograen zu verhelfen. Okay, haben wir sonstnoch was vergessen?Ja, die Start-up-Unternehmer-Kultur als Reservoir fortschrittlicher Freiheitsideen, naturwissenschaftliche Forschung und das Zurckdrehen der Forschungsverbote in Deutschland und die verheerende Wirkung des skularisierten Protestantismus in Deutschland. Aber darber reden wir beim nchsten Mal. Lindner hattevllig recht,Steuersenkungenfr die untereMittelschichtzu fordern.Fotos: Getty Images (2), privat23 liberal4.2015Geheimdienst im Schattenan der Weiterentwicklung: Heute kann Deep Face Ge-sichter in 97,25 Prozent aller Flle erkennen. Menschen sind dabei millionenfach langsamer. Nun geht es bei der Mautberwachung ja nur um die korrekte Identikation von Auslndern, also habe der deutsche Auto- beziehungsweise Beifahrer ja nichts zu befrchten, heit es. Es sei denn, das Zollkriminalamt hat irgendein Interesse am deutschen Auto- beziehungsweise Beifahrer: Dann ist der Zugri auf diese Daten selbstver-stndlich frei. Auch Telekommunikationsbetreiber sind dem Zoll als Strafverfolgungsbehrde gegenber aus-kunftspichtig genauso wie Landeskriminalmtern und dem Bundeskriminalamt. Sollte die geplante EU-weite Fluggastdatenspeicherung tatschlich umgesetzt werden, bedeutete dies fr die Zollbehrden einen weiteren unendlichen Steinbruch an Bewegungsprolen. Derzeit knnen sie sich lediglich bei US-Reisenden an die Kolle-gen bei der US-Heimatschutzbehrde wenden denn die Datenbermittlung luft vereinbarungsgem in beiden Richtungen. Was aber knnte berhaupt das Interesse des Zolls an einer Person wecken? Was Bauunternehmern vertraut ist, erwartet bald auch jeden anderen Arbeitgeber: berra-schungsbesuch von bewaneten Beamten, gerne auch in martialischen Schutzwesten, die bitte schn sofort mal einen genauen Blick in die Bcher und auf die Ausweise aller Angestellten werfen drfen und dabei nicht mit sich verhandeln lassen. Nicht die Polizei steht da vor der Tr Der Zoll: eine etwas brsige Behrde, die in TV-Dokusoaps am Flughafen Transportboxen mit exotischen Tieren abfngt oder bei Touris-ten eine Stange vergessene Zigaretten aus dem Reisegepck scht. Dabei verschiebt sich der Schwer-punkt der Ttigkeit des Zolls mehr und mehr in dessen EDV-Abteilungen. Denn mit schner Regelmigkeit kommen der Behrde neue Aufgaben zu und die dazu-gehrigen Datenpakete gleich mit. Der Mindestlohn: ein brokratischer Albtraum fr Arbeitgeber. Die Umsetzung kontrolliert der Zoll. Die Auslndermaut: ein peinliches Politikum fr die CSU Arbeitsfeld des Zolls. Die Fluggast-datenspeicherung: ein Datenschutzdesaster, initiiert aus Washington und Brssel Zustndigkeit: Zoll. Politische Diskussion ber die neue Bundesdatenkrake Zoll? Gleich null.Damit die neuen Aufgaben zu bewltigen sind, kommt allerdings modernste Technik zum Einsatz: Der Bundes-verkehrsminister erlaubt dem Zoll Kennzeichenberwa-chung mittels Streaming und einer Software, die nicht nur Nummernschilder, sondern auch Gesichter erkennen kann. Wie erschreckend gut solche Software inzwischen funktioniert, erfuhren deutsche Facebook-Nutzer 2011, als sie sich in den Weiten des sozialen Netzwerks vllig kor-rekt markiert fanden auf Fotos, die sie nie zuvor gesehen hatten. Europische Datenschtzer liefen Sturm gegen die Gesichtserkennung. Facebook schaltete das Feature fr den europischen Raum aus und arbeitete in den USAFotos: F. Bh/action press, PrivatDem deutschen Zoll haftet das Image einer trgen Behrde mit ein paar skurrilen Fllen an. Zu Unrecht: Die Fahnder bekommen immer mehr Aufgaben, Personal und damit mehr Macht. Bislang blieb das nahezu unbemerkt. Eine kritische Bestandsaufnahme.//TEXT //JAN C. KLEIN-ZIRBES24 4.2015liberalPOLITIK ZOLLJAN C. KLEIN-ZIRBES, Jahrgang 1968,Reserveofzier, lebt in Mnchen, studierte Rechtswissenschaften in Bonn sowie Mnchenund sieht es zunehmend skeptisch, wie,gegen wen und was der Staat [email protected] es ist der Zoll, der die Arbeitgeber auf die Einhaltung des Mindestlohngesetzes kontrollieren soll. Auf den ersten Blick erscheint dies schlssig, da er bereits fr Schwarzar-beit auf dem Bau zustndig ist. Entsprechend kann der Zoll auch in die Bcher der Unternehmen Einblick neh-men, wenn er befrchtet, dem Staat gingen Einnahmen verloren. Zugrif auf jede Menge DatenbankenBereits heute kann die FKS (Finanzkontrolle Schwarzar-beit) auf die Datenbanken des polizeilichen Auskunftssys-tems POLAS/INPOL, das Informationssystem Deutscher Zoll (INZOLL), das Auslnderzentralregister, die Meldeda-teien der bundesweiten Einwohnermeldemter, auf Kfz-Halterausknfte beim Kraftfahrt-Bundesamt, das Bundeszentralregister, das Gewerbezentralregister, Bank-ausknfte sowie Ausknfte der Rentenversicherungstr-ger hinsichtlich der Sozialversicherungspichtigen zugrei-fen. Auf Anforderung senden die Finanzmter Steuerakten an die Kollegen beim Zoll, und auch die Bundesagentur fr Arbeit hilft gerne mit Leistungsbe-scheiden aus. Der Gesetzgeber empehlt allen Arbeitge-bern den Einsatz elektronischer Zeiterfassungssysteme, die dann automatisch mit den Finanzbehrden abgegli-chen werden knnen: Es wre doch schade, wenn nur wegen eines Flchtigkeitsfehlers in der alltglichen Be-triebshektik irgendwelche Widersprche in den Daten einen Verdacht begrnden wrden! Wer knnte diese Datenmassen bewltigen? Dafr werden dem Zoll zu-nchst 1.600 zustzliche Stellen bewilligt, um hier mit der gebotenen Grndlichkeit arbeiten zu knnen.Kommen die geplanten nderungen, dann entsteht mit dem Zoll ein veritabler Schattengeheimdienst: eine Behrde, berechtigt zum Fhren von Schusswaen und Eintreten von Tren freilich nur bei begrndetem Ver-dacht , die selbst zur vermutlich grten einzelnen Erhe-bungsstelle fr Daten wird, jederzeit Amtshilfe anfordern kann und ber so detaillierte Bewegungsprole von so vielen Menschen verfgen wird wie keine andere, deren Ttigkeit nicht an lstigen Grenzen der Bundeslnder enden muss. Und sie untersteht vor allem keinem parla-mentarischen Kontrollgremium, lediglich dem ehemali-gen Innen- und heutigen Finanzminister Wolfgang Schuble. Und der wird vermutlich groe Freude an seiner schlagkrftigsten Einheit haben. Der Zoll ist berall:Der Kampf gegenSchwarzarbeit aufdem Bau war bislang ein Schwerpunkt der Behrde. Das hatsich lngst gendert. 25 liberal4.2015liberal: Herr Kremer, Sie wollen Brgermeister von Selfkant werden. Wie es dazu kam, ist eher ungewhnlich. Liegen wir falsch, wenn wir von einem Brgermeister-Casting sprechen?Kremer: Absolut nicht, die Vertreter der vier beteiligten Parteien haben per Ausschreibung und Casting nach einem geeigneten Kandi-daten gesucht. Sozusagen Selfkant sucht den Brgermeister, nur zum Glck ohne singen zu mssen.Wie sind Sie auf die Ausschreibung aufmerksam geworden?Verschiedene Personen haben mich darauf hingewiesen, manche rieten mir, den Hut in den Ring zu werfen. Dabei hat es sicherlich nicht geschadet, dass auch die Arbeit der Friedrich-Naumann-Stif-tung fr die Freiheit in NRW berparteilich ist und bei vielen Part-nern eine hohe Wertschtzung geniet.Der Selfkant ist in mehrfacher Hinsicht ungewhnlich. Als westlichste Gemeinde Deutschlands ist man Mitglied im Zipfel-bund, einer Vereinigung der am nrdlichsten, westlichsten, stlichsten und sdlichsten gelegenen Kommunen Deutschlands (auerdem: List auf Sylt, Grlitz und Oberstdorf ). Nach dem Zweiten Weltkrieg stand der Selfkant lange unter niederlndi-scher Auftragsverwaltung. 1963 zahlte die Bundesrepublik 280 Millio-nen D-Mark fr die Rckgabe. In diesem Sommer machte die knapp 10.000 Einwohner zhlende Gemeinde erneut Schlagzeilen: Gegen den CDU-Brgermeister Herbert Corsten tritt am 13. September fr die SPD, die FDP, die Grnen und die Whlergemeinschaft Pro Self-kant ein gemeinsamer Kandidat an, der aus einem regelrechten Cas-ting hervorgegangen ist: liberal hat sich mit Jan-Frederik Kremer (FDP) unterhalten, der hauptberuich das Regionalbro Nordrhein-Westfa-len der Friedrich-Naumann-Stiftung fr die Freiheit leitet.WWW.JFK2015.DEWWW.FB.ME/JFKSELFKANTSELFKANTBundesland Nordrhein-WestfalenKreis HeinsbergHhe 69 m . NHNFlche 42,09 km2Einwohner 9.993 (31.12.2013)Postleitzahl 52538 Gemeindegliederung 16 OrtsteileBASISDATENNiederlandeRegierungsbezirk KlnNordrhein- WestfalenEine Gemeinde castet ihren potenziellenAmtschef ein Freier Demokrat gewinnt. INTERVIEW // BORIS EICHLERWill Brgermeistervon Selfkant werden: Jan-Frederik Kremer (2. v.r.)Foto: privat26 4.2015liberalPOLITIK BRGERMEISTERWAHLWas wussten Sie zu diesem Zeitpunkt ber Selfkant?Mit der Stiftung waren wir schon vorher in Selfkant zu Gast und die Region ist mir gut bekannt. Selfkant ist nicht nur eine Reise wert, sondern eine sehr lebenswerte Gemeinde mit einem aktiven Vereins-wesen, toller Landschaft und Menschen, die sehr oenherzig sind.Glckwunsch, Sie sind oenbar schon im Wahlkampfmodus. Aber im Ernst: Sie sind dort, jedenfalls noch, ein Fremder und im kommunalen Wahlkampf ist das klassische Kernargument Einer von uns. Der Amtsinhaber ist Eingeborener. Ein Start-vorteil fr ihn. Wie machen Sie den wett?Da gebe ich Ihnen recht und das lsst sich natrlich nicht wegdisku-tieren. Einer von uns ist auch die einzige Kernaussage des Amtsin-habers, die er als Wahlargument anfhrt. Dem halten wir ein Ver-sprechen fr die Zukunft der Gemeinde entgegen. In vielen Terminen, Gesprchen und den sozialen Medien treten wir fr eine ganz neue Art der Politik ein. In Zukunft sollen Transparenz, Oen-heit, Mitwirkung, Fairness und moderner Sachverstand die Politik im Selfkant bestimmen. Es gibt viele Baustellen, aber noch mehr Chan-cen: so zum Beispiel, was Zukunftsperspektiven fr junge Menschen oder eine professionelle Wirtschaftsfrderung angeht. Mit Ehrlich-keit und Oenheit will ich die Selfknter von diesen Ideen berzeu-gen. Sozusagen Im Westen was Neues.Noch einmal zurck zum Casting. Wie darf man sich das vor-stellen? Ihre Bewerbungsunterlagen wurden geprft, Sie wur-den eingeladen. Wie hat man Ihnen auf den Zahn gefhlt?Die Bewerbungsunterlagen wurden von einer Findungskommission geprft und beurteilt, dann gab es ein Casting-Gesprch, bei dem in verschiedenen Kategorien Punkte verteilt wurden. Dazu gehrten beispielsweise Neues kommunales Finanzmanagement, Fhrungs-erfahrung und kommunikative Fhigkeiten. Diese Professionalitt und Seriositt des Verfahrens hat mich von Beginn an sehr beein-druckt. Das passiert leider bei der Auswahl der Kandidaten fr so wichtige Wahlmter viel zu selten.Hat man Ihnen auch verraten, warum die Opposition keinen Kandidaten in der Heimatgemeinde nden konnte?Ja, natrlich. Wissen Sie, eine moderne Verwaltung vom Kaliber Selfkants hat die Gre und Bilanz eines mittelstndischen Unter-nehmens, vielfltigste Aufgaben und sieht sich mit immer mehr und neuen Anforde-rungen konfrontiert. Moderne Verwaltung hat sich in den letzten 15 Jahren grundlegend gewandelt und damit auch die Rolle des Brgermeisters. Den Parteien war es wichtig, hier jemanden mit der richtigen Persnlich-keit, Fhrungserfahrung und Kompetenz zu nden. Die Frage des Wohnortes war nicht ausschlaggebend. Auerdem wollte man auch bewusst jemanden mit einem frischen und unverstellten Blick von auen haben, der unbelastet und ohne in Seilschaften gefangen zu sein die Gemeinde voranbringen kann. Aber eins ist auch klar: Wenn es mir hier nicht gefallen wrde und ich mir nicht vorstellen knnte, hier meinen neuen Lebensmittel-punkt zu nden, htte ich es nicht gemacht.Wie haben Sie von der Zusage erfahren?Wie haben Sie reagiert?Durch einen Anruf des Sprechers der Findungskommission.Danach haben wir uns direkt zu einem ersten Workshopzusammengesetzt. Ich war gerhrt, habe mich sehr gefreut undauch ein wenig geehrt gefhlt.Folgt nun einer unkonventionellen Kandidatenndungauch ein unkonventioneller Wahlkampf?In gewisser Weise schon: Neben vielen Angeboten der Mitwirkung und Diskussion wollen wir auch zeigen, dass Kommunalpolitik Spa machen kann, ohne dabei unseris zu werden. Es wird hier viele Manahmen und Projekte geben, die berraschen werden und zum Mitmachen einladen das kann ich jetzt schon verraten. Dazu kommt eine ganz oene Form der Kommunikation.Die da wre?Ganz banal: Jeder kann mich jederzeit anrufen unter der Nummer 0176/42 11 49 21. Ich habe auch vor Ort immer ein oenes Ohr und hre einfach zu. Auf unserer Website und bei Facebook lassen wir nicht nur ber Ideen abstimmen und diskutieren, sondern binden diese Rckmeldungen auch wirklich ein. Wir leisten volle Transpa-renz bei den Einnahmen und Ausgaben des Wahlkampfes. Gab es keine Schwierigkeiten mit Ihrer Herkunft aus dem FDP-Stall? Immerhin arbeitet sich die Partei erst wieder in Bereiche vor, in denen man sie en vogue nennen knnte ...berhaupt nicht, weder bei der Findungskommission noch bei den Mitgliedern der anderen Parteien, die mich einstimmig zu ihrem Kandidaten gekrt haben.Sie erwhnten den zweisprachigen Wahlkampf. Das ist vermut-lich dem Umstand geschuldet, dass Selfkant mehr Grenze zu den Niederlanden als zur deutschen Nachbarschaft hat ...Absolut. Knapp 30 Prozent der Einwohner Selfkants sind Niederlnder. Wir wollen ihnen ein Angebot machen, sich zu beteili-gen und sie mitnehmen. Selfkant ist gelebtes Europa und gelebte Toleranz!Wie sieht es bei Ihnen aus im Hinblickauf die Zweisprachigkeit?Ich lerne eiig Niederlndisch, das ist also in Arbeit. Bis dahin helfen Deutsch und Englisch weiter. Z U R P E R S O NGeboren am 26. April 1986 inEssen,verheiratet, ein SohnStudium der Geschichte und Politikwissen-schaften in Bochum, danach Wissen schaftlicher Mitarbeiter und UnternehmensberaterSeit 2013 Leiter des Regionalbros Nordrhein-Westfalen der Friedrich- Naumann-Stiftung fr die Freiheit in GummersbachHobbys: Eishockey, American Football,Wandern, Reisen, Musik27 liberal4.2015Zu hle FeelaDer scheredaktr will, das ich ueber schraibn nach geha schraib. Ich glaub er ewatet das ich schraib warum das kaine gute id ist. Ich fcht, ich mus ihn entuschn. Angblich habn Kind, die schraibn nach geha gelrnt habn spta schwirichkaitn mit dr zichnsetsung. Es sol schla gbn, di noch an dr univrsitt nicht wissen wi man spiln richtich schraibt. Aba ich nde man mus den geselschaftlichn fortschrit im auge behaltn.Aus gutm grund habn wir uns abgewnt Mnschn zu diskrimini-ren, nur weil si etwas nicht so gut behrschn wi andere. Wo wir knnen, schafen wir barieren ab anstat neue zu erichtn. Was gibt es diskrminirenders als Ortogra? Auch vile rwachsene , die noch nach dem alten sistem gelrnt habn, wisen nicht genau, wan man vor und oder oder ein Koma setzt oder wofa das Semickolon gut ist. Deshalb sind sie keine dmeren oder schlchteren menschen.Der versuch, sprache zu vereinfachn, hat eine lange traditsion. Schon die Achtunschsiger warn davon bazeugt, das Rchtschra-ibkritik Geselschaftskritik ist. Wer gelrnt habe, das bei brauchen ein zu stehn mus, wrde auch die Vertilun des Eigntums nicht in frage stelen, proklamir-te der Sprachwisenschaftlr Sigfrid Jger 1973 auf dem GEW-Kongres vernnger schreiben. Die Hofnung das man mit dem ende der Groschribun auch das Groskapital erledign kne, hat sich inzwi-schen zwa gelgt, dafr abitn die nachfolger jetzt an einer Humani-sirung der welt durch das konsekwente schleifen vonBajrn.Die Schule der Zukunft setzt auf anerkenunk statt Stigmatisi-runk, um den bagang zur wirklich integratiwn geselschaft zu schafen. Ales was schla entmutigen knte, sol bald der Vergangn-hait angehrn. Dem Vrzicht auf das diktat folgt das vrbot des sitzenblibns. Nachdem die schs im Zeuchnis iren schrekn schon verlorn hat, denkn ainige bundeslnder ba di abschafung von noten bis zur achten klase nach.Noch ist nich gans kla, wi sich ein land auf dau in der Weltspitse haltn wil, das dem wetbwerb entsagt. Andersaits: Kan man derzait nicht auch vil ba di Vorzge ainer wende zum wenigr lesn? //TEXT //JAN FLEISCHHAUER //ILLUSTRATION //ERNST MERHEIMWUTPROBEEine halbe Stunde mit Mutti telefonieren fr 18,84 Mark? Nein, das ist nicht der Telefontarif nach Scheitern des Euro, Rckkehr zur D-Mark und Hyperination. So viel kosteten 30 Minuten am Telefon vor gerade mal 20 Jahren wenn Mutti mehr als 200 Kilometer entfernt wohnte. Beim Telefonieren Dauer und Entfernung des Gesprchspartners zu bercksichtigen, ist heute insbesondere fr jngere Handybesitzer mit Flatrate in alle Netze unvorstellbar. Die Grundgebhr kostete seinerzeit 24,60 Mark dafr wurde der Festnetzanschluss zur Verfgung gestellt und sonst gar nichts. Inationsbereinigt und umgerechnet gab es das billigste Telefonat zur Tageszeit, ein Ortsgesprch, fr 10 Cent pro Minute. Da lohnte es sich, vor jedem Telefonat zu kalkulieren. Um das zu erleichtern, gab der damalige Telefonmonopo-list, der Post-Nachfolger Telekom, solch drehbare Tarifrechner heraus. An denen wurde zwecks Ermittlung der Gesprchskosten gedreht, erst dann die ebenfalls lngst antiquierte Whlscheibe der alten Apparate. Telefonieren ist inzwischen um ein Vielfaches leichter, billiger, und damit sozialer geworden: Heute gibt es einen privatisierten und ofenen Markt samt eines funktionierenden Wettbewerbs.F U N D S T C KI C H D R E H A M R A DIsch schraibe, wiehisch hoere ...28 4.2015liberalAUTOREN DER FREIHEITWas macht euch Angst, ihr Vter, Brder, Ehemnner?Was ist so bedrohlich an einer freien Frau? Warum wird sie von dereigenen Familie und der muslimischen Gesellschaft so klein gehalten?Die Schauspielerin Sibel Kekilli hat die hier gekrzt abgedruckte Rede am6. Mrz im Berliner Schloss Bellevue auf einer von Bundesprsident Joachim Gauck und der Hilfsorganisation Terre des Femmes organisierten Veran-staltung gegen Gewalt im Namen der Ehre gehalten. Die Leser von liberal whlten sie dafr im April 2015 auf libmag.de zur Autorin der Freiheit.Ich liebe meine Kultur. Auf dem Weg zu meiner Frei-heit habe ich sie zu einem sehr groen Teil verloren. Fr diesen Weg habe ich viel bezahlt. Er war lang, schmerzhaft und selbstzerstrend. Doch meine Vision war immer die Freiheit, um derentwillen ich mich sogar ab und zu verrannt habe. Trotzdem, ich war und bin nach wie vor bereit, das alles auf mich zu nehmen. Meinen eigenen Weg zu gehen kostet mich noch immer sehr viel Mut und Kraft jeden Tag. Diese Kultur, in die ich hineingeboren wurde, ist voller Schtze, voller Wunder. Und sie kann gnadenlos sein. Tagtglich versuche ich, trotz Anfeindungen und Vorurteilen erhobenen Hauptes durchs Leben zu gehen. Ich habe kein Kapitalverbrechen begangen, trotzdem werden Menschen wie ich von einigen schlimmer behandelt als Mrder.Den Mnnern dieser Kultur mchte ich heute sagen: Wieso knnt ihr Freiheit nicht einfach als Wert fr alle anerkennen? Ihr msst mich und meine Wnsche ja nicht unbedingt verstehen,sondern respektieren. Ich bin ein Individuum. Warum nur ist euch die Auenwirkung in der Gesellschaft wichtiger als das glckliche Leben eurer Tochter, Schwester oder Frau?Wie wrde es euch gefallen, wenn ihr so leben msstet, wie ihr es von euren Frauen verlangt? Mit Zwn-gen, Vorschriften, unterdrckten Gefhlen, Notlgen und ngs-ten? Was ist denn so bedrohlich an einer freien Frau? Warum habt ihr Angst vor einer selbstbewussten Frau? Warum versteht ihr nicht, dass Freiheit nichts Bedrohliches hat, dass sie einem nichts tut, sondern nur eine Chance auf Selbstentfaltungbedeutet. Wie knnt ihr Toleranz erwarten, wenn ihr selbst nicht zu tolerieren imstande seid?Die Familie ist mchtig, die Tradition ist nochviel mchtiger. Wer den Mut aufbringt, gegen alleWiderstnde zu kmpfen und sich loszureien, hat anschlieend nicht nur die Familie, sondern auch den entlichen Respekt verloren und lebt fortan schutzlos in der Gesellschaft.Ist es das wert? Die eigene Identitt, die Familie und den Kulturkreis einzutauschen gegen ein freies Leben? Denn genau das bedeutet es. Die bisher gelebte Identitt abzustreifen.Schon allein diese Fragestellung ist schizophren. Wer zwischen diesen bei-den Welten wandert, unterliegt einem fast unmenschlichen Druck. Er macht einen buckelig, traurig, depressiv. Ich will mich und andere nicht belgen und alles versteckt machen, nur damit die Familie und der Kulturkreis mich hoentlich irgendwie akzeptieren. Ich mchte ein selbstbestimmtes Leben fhren, ohne mich dafr rechtferti-gen zu mssen oder gesellschaftlich gechtet zu werden.Z U R P E R S O N SIBEL KEKILLI kam 1980 als Tochter eines eingewanderten trkischen Ehe-paars in Heilbronn zur Welt. Bekannt wur-de sie durch ihre Hauptrolle in Fatih Akins Film Gegen die Wand (2004). In der US-Serie Game of Thrones spielt sie die Shae. Stimmen auch Sie jeden Monat ber die Autoren der Freiheit ab unter libmag.de.Illustration: Merheim, Foto: A. Dauerer29 liberal4.201530 4.2015liberalZENTRALMOTIV23. August1 990Di e l ange Nacht des Bei tri ttsGerade einmal neun Monate nach dem Mauerfall hatte die Volkskammer der DDR ihre wichtigste Sitzung: Am Abend des 22. August 1990 um 21 Uhr kamen die im Mrz erstmals frei gewhlten Abgeordneten in Berlin zusammen. Dabei gingesnichtinersterLinieumdieModalittenderWiedervereinigung Deutschlands hier galt schon lnger eine Mehrheit fr einen Beitritt der DDR gem Artikel 23 des Grundgesetzes als gesichert. Heftig umstritten war der Beitrittstermin. Insgesamt vier Varianten standen zur Diskussion. Immer wieder wurde die Sitzung unterbrochen, damit sich die Fraktionen abstimmen konnten. Im Sommer 1990 stand die DDR kurz vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Das strkte die Stimmen, die auf einen schnellen Beitritt drngten. Mitten in der Nacht einigten sich die Fraktionen von CDU/DA, DSU, Die Liberalen und SPD schlielich auf den 3. Oktober 1990. Letzte Bausteine des Wiedervereinigungsprozesses waren dann die Unter-zeichnung des Einigungs- und des Zwei-Plus-Vier-Vertrages. Gregor Gysi, Parteichef der zu diesem Zeitpunkt bereits zweimal umbenannten SED im Dezember 1989 in SED-PDS, im Februar 1990 in PDS , stellte erschttert fest, das Parlament habe soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 beschlossen. Fr den weitaus grten Teil der Menschen in Ost- und Westdeutschland war dieser Beschluss Anlass zu groer Freude.Foto: picture-alliance/dpa31 liberal4.2015Exakte Zahlen gibt es nicht, aber Zehntausende junge Menschen brechen Jahr fr Jahr ihr Studium ab ein volkswirtschaftliches Desaster. Nun reagieren einige Universitten und untersttzen Abbrecher beim Neustart. //TEXT //CHRISTINE MATTAUCH Du bist nicht alleinWie funktioniert eigentlich ein Unterneh-men? Die Frage faszinierte Susanne Kreiske (Name gendert) schon wh-rend ihrer Schulzeit. Jetzt studiert sie im dritten Semester Betriebswirtschaft an der Uni Passau, aber die Erfolge bleiben aus. Das Fach ist ganz anders, als sie es sich vorstellte. Bei Prfungen schneidet sie ziem-lich schlecht ab. Wenn sie ehrlich ist, liegt ihr das ganze Studium nicht. Aber einfach aufhren? Ich habe mich bis jetzt nicht getraut, diesen Schritt zu wagen, schreibt die 20-Jhrige ihrem Studienberater in einer E-Mail.Es ist eine Situation, die jedes Jahr Zehntausende von Studenten in Deutschland erleben vielleicht sind es sogar Hunderttausende. Exakte Zahlen gibt es nicht, weil nicht zentral erfasst wird, wer wann wo aufhrt und sich vielleicht neu einschreibt. Reprsentative Studien des Deutschen Zentrums fr Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) in Hannover zeigen aber, dass 28 Prozent derjenigen, die sich fr einen Bachelor einschreiben, das Studium nicht vollenden. Bei den Ingenieuren schat gar nur jeder Dritte einen Abschluss, in Mathematik scheitern fast 50 Prozent.Frher wurde das als Privatsache betrachtet, als persnliches Versagen, Selbstberschtzung oder schlicht Mangel an Flei. Inzwischen wchst in der Gesellschaft die Einsicht: Wenn so viele junge Menschen scheitern, ist das auch ein wirtschaftliches Problem eine gigantische Ressourcenverschwendung. Wie viele bleiben ihr ganzes Leben lang unter ihren Mglichkeiten, weil der erste Anlauf nicht klappte? Und was luft eigent-32 4.2015liberalWIRTSCHAFT STUDIUMlich an den Hochschulen selbst verkehrt? Die Universi-tten haben ein Legitimationsproblem, wenn sie die jungen Leute vom Arbeitsmarkt abziehen und ohne Abschluss wi