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LITERATUR- UND FORSCHUNGSREPORT WEITERBILDUNG Nr. 44 Dezember 1999 E. Nuissl/Ch. Schiersmann/H. Siebert/J. Weinberg (Hrsg.)

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LITERATUR-UND FORSCHUNGSREPORTWEITERBILDUNG

Nr. 44Dezember 1999

E. Nuissl/Ch. Schiersmann/H. Siebert/J. Weinberg (Hrsg.)

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REPORTLiteratur- und Forschungsreport WeiterbildungWissenschaftliche Halbjahreszeitschrift

Verantwortlich HerausgebendeEkkehard Nuissl, Frankfurt/M.CHRISTIANE SCHIERSMANN, HEIDELBERGHorst Siebert, HannoverJohannes Weinberg, Münster

Herausgebende InstitutionDas Deutsche Institut für Erwachsenenbildung e.V. (DIE) ist ein Serviceinstitut der Wissenschafts-gemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibnitz (WGL), der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund undLändern.Als wissenschaftliches Serviceinstitut vermittelt es zwischen Forschung und Praxis der Erwachsenenbil-dung. Seine Tätigkeit besteht vor allem darin,– für Wissenschaft und Praxis Informationen, Dokumente und Materialien zur Verfügung zu stellen,– in Konferenzen, Arbeitsgruppen und Projekten die Erwachsenenbildung/Weiterbildung wissenschaft-

lich und praktisch zu entwickeln,– Publikationen zu wissenschaftlichen und praktischen Fragen der Erwachsenenbildung/Weiterbildung

herauszugeben,– Forschungsarbeiten zu initiieren und selbst Forschungen durchzuführen,– Forschungsergebnisse in Fortbildungen und Beratung zu vermitteln.

ErscheinungsweiseHalbjährlich, jeweils im Juni und Dezember.Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Gewähr übernommen.

BezugsbedingungenPreis des Einzelheftes: DM 18.00 zuzüglich Versandspesen. Ein Jahresabonnement kostet DM 28.00incl. Versandspesen. Es verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn es nicht bis zum 31. Oktober gekün-digt wird.

PublikationsrechteDas Copyright liegt bei den Autoren. Beiträge sind urheberrechtlich nach § 54 UrhG geschützt. Alle Rechte,auch der Übersetzung, vorbehalten. Nachdruck und Reproduktion nur mit Genehmigung der heraus-gebenden Institution.

Herausgeber der Nummer 44: Ekkehard Nuissl, Frankfurt/M.Koordination der Rezensionen: Christa Brechler, Frankfurt/M.

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung :wissenschaftliche Halbjahreszeitschrift / herausgebendeInstitution: Das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung e.V.(DIE). – Frankfurt [Main] : DIE.

Erscheint halbjährl. – Früher verl. von dvv, Druck-, Vervielfältigungs-und Vertriebs-GmbH, Münster, danach von d. AfeB, Heidelberg,danach von der PAS, Frankfurt, Main. – Aufnahme nach Nr. 33(1994). – Nebent.: Report / Deutsches Institut für Erwachsenenbildung(DIE)Darin aufgegangen: Literaturinformationen zur ErwachsenenbildungISSN 0177–4166

NE: Deutsches Institut für Erwachsenenbildung <Frankfurt, Main>:ReportNr. 33 (1994) –Verl.-Wechsel-Anzeige

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Inhaltsverzeichnis

Editorial ................................................................................................................... 7

Neue Lernkulturen

Horst Siebert

Driftzonen – Elemente einer mikrodidaktischen Lernkultur .................................10

Erhard Schlutz

Innovationen in Lernkultur .................................................................................... 18

Rolf Arnold

Lernkulturwandel .................................................................................................. 31

Heinrich Dauber

Neue Lernkulturen ................................................................................................ 38

Klaus-Peter Hufer

Neue Lernkulturen in der politischen Bildung ...................................................... 48

Peter Faulstich/Christine Zeuner

Lernkulturen in regionalen Netzwerken ...............................................................58

Erhard Meueler

A Special Case: Open Space ............................................................................... 68

Hans Leuschner/Ursula Reuther

Lernen am Arbeitsplatz – neue Lernkulturen ....................................................... 77

Iris Palluch/Ben Krischausky

„Lernen kann man nur selbst“ .............................................................................. 96

Wolfgang Hendrich

Heimliche Schlüsselqualifikationen ....................................................................105

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Zur Theoriediskussion

Horst Siebert

Replik auf Peter Faulstichs Kritik am Radikalen Konstruktivismus ................... 112

REZENSIONEN .................................................................................................. 117

DAS BUCH IN DER DISKUSSIONBMBF (Hrsg.): Delphi-Befragung 1996/1998

SAMMELBESPRECHUNGENMultimediaOrganisationsentwicklungWeiterbildungBesprechungen

KURZINFORMATIONEN

Autoren und Autorinnen ......................................................................................164

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Editorial

Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass neue Aspekte des „Lernens“ in den Mittel-punkt erziehungswissenschaftlicher Diskussion treten. Selbstgesteuertes Lernen,lebenslanges Lernen, offene Lernkulturen sind Stichworte, die den bildungspoliti-schen wie bildungspraktischen Übergang von einer an Lehre orientierten Didaktikzu neuen Sichtweisen des Lernens charakterisieren.Die vorliegende Ausgabe des Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung be-schäftigt sich mit dem Lernen unter dem immer häufiger betonten Aspekt der neu-en Lernkulturen. Digitale Medien haben ebenso wie neue Lernzugänge, Zeitfensterund offene Lernwege Möglichkeiten eröffnet, die in curricular und institutionell ge-dachten Zusammenhängen noch nicht sichtbar waren. Vielfach fehlt es noch anForschung und Theoriebildung, Ansätze dazu sind jedoch – verbunden mit prakti-schen Entwicklungen – vielfach vorhanden. Die hier versammelten Beiträge ma-chen auch die Breite dessen deutlich, was unter neuen Lernkulturen verstandenund diskutiert wird.

Ekkehard Nuissl Frankfurt/M. im November 1999Christiane SchiersmannHorst SiebertJohannes Weinberg

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NEUE LERNKULTUREN

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Horst Siebert

Driftzonen – Elemente einer mikrodidaktischenLernkultur

Driftzone als didaktische Metapher

Der Begriff des strukturellen Driftens wird von den chilenischen Biologen HumbertoMaturana und Francisco Varela evolutionstheoretisch verwendet: Lebewesen pas-sen sich in ihrer Evolutionsgeschichte nicht nur an neue Umweltbedingungen an,sondern sie entwickeln sich auch autopoietisch innerhalb ihrer milieubedingten„Spielräume“ durch „Driften“.„Die Erhaltung der Autopoiese und die Erhaltung der Anpassung sind notwendigeBedingungen für die Existenz der Lebewesen; die ontogenetische Strukturverän-derung eines Lebewesens in seinem Milieu wird immer ein strukturelles Driftensein, das mit dem Driften des Milieus in Übereinstimmung ist“ (Maturana/Varela1987, S. 113f.).Edmund Kösel, ein konstruktivistisch inspirierter Pädagoge, hat die Metapher derDriftzone auf die Didaktik übertragen. Eine Driftzone ist der „Interaktions-Raum, indem sich Lehrende und Lernende begegnen“ (Kösel 1993, S. 239), in dem dieImpulse und Wissensangebote der Lehrenden sich mit den Erfahrungen und Inter-essen der Lernenden verschränken, gleichsam „strukturell gekoppelt“ sind, in demLernfortschritte möglich sind.In der Sprache des Konstruktivismus: „Jedes Individuum driftet gemäß seiner ei-genen autopoietischen Struktur durch die Interaktion mit dem umgebenden Milieuin bestimmten Entwicklungslinien, den Chreoden. Entscheidend ist, dass dieseEntwicklung sich nur in dem individuellen Verhalten, Denken und Handeln zeigt,das dem einzelnen System zu diesem Zeitpunkt möglich ist – gemäß der Struktur-

determiniertheit von lebenden Systemen“ (Kösel 1993, S. 240).In der Erwachsenenbildung ist der Begriff Driftzone anschlussfähig an Konzeptewie Passung, Perspektivenverschränkung, Verständigung. Driftzone ist kein didak-tisches Prinzip, sondern der zeitlich-räumlich-thematisch-soziale Baustein einerLernkultur. Driftzonen sind didaktische Einheiten, aus denen sich Seminare (aberauch Alltagskommunikationen) zusammensetzen. Ein Seminar kann als ein „Set“von Driftzonen beobachtet werden, die selber in Bewegung sind, das heißt, sicherweitern oder verengen.Driftzone ist ein heuristischer Begriff, der brauchbar erscheint zur didaktischenAnalyse und für didaktisches Handeln. Driftzonen resultieren aus den „psychoso-zialen Vorstrukturen“ (Brocher 1967) der Lehrenden und Lernenden.Driftzonen sind nicht identisch mit Lerntypen. Lerntypen sind relativ stabile, fach-übergreifende Muster des Lernens. Die Driftzonen einer Person sind dagegen va-riabler, abhängig von Themen, der Sozialstruktur der Gruppe, Rahmenbedingun-gen – zum Beispiel eine extrinsisch veranlasste Umschulung. Lerntypen sind rela-

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tiv konstant, während sich Driftzonen im Verlauf eines Seminars erweitern oderverengen, annähern oder entfernen. Die Driftzonen werden durch die Thematik,durch institutionelle Vorgaben (zum Beispiel kirchlicher, gewerkschaftlicher Bildungs-arbeit), auch durch Veranstaltungsformen (zum Beispiel Qualitätszirkel, Zu-kunftswerkstatt) beeinflusst. Dennoch sind Driftzonen in hohem Maße persönlich-keitsabhängig.Analytisch lassen sich defensive und expansive Driftzonen unterscheiden. Bei de-fensiven Driftzonen dominieren Vermeidungsreaktionen, Ungeduld, rechthaberi-sche Positionsbehauptungen oder auch autoritätsorientiertes rezeptives Lernen.Bei expansiven Driftzonen überwiegen Neugier, explorative Suchbewegungen, Inter-esse an Erfahrungen anderer, Fragen, Experimentierfreude, Frustrationstoleranz.

Strukturdeterminiertheit des Lernens

Im Lauf des Lebens entstehen kognitive und emotionale Strukturen, die eine Ver-arbeitung von Umwelt, von Weltkomplexität erleichtern und ein halbwegs erfolgrei-ches und befriedigendes Handeln ermöglichen. Diese Strukturen bestehen ausAnschauungsformen, Leitdifferenzen (gut – böse), kognitiven Schemata, Deutungs-mustern, Affektlogiken, metakognitiven Strategien. Diese Strukturen sind wie einNetz, das ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Irritationen dagegen sind häufig mitVerunsicherungen verbunden und provozieren zunächst Widerstand und Vermei-dungsreaktionen. Manche Lernverweigerungen sind psychohygienisch begründetund basieren auf einem Bedürfnis nach Sicherheit, Bestätigung, Homöostase. DieVerarbeitung von Irritationen und Perturbationen vermag aber die Viabilität unse-rer Orientierungsnetze zu steigern.„Strukturdeterminiert“ ist Lernen im Erwachsenenalter insofern, als wir nur das ler-nen und erkennen, was an unser psychisches System anschlussfähig ist, was wirverstehen können, was in unsere kognitive Struktur „hineinpasst“. Diese entschei-det, was wir von einem Vortrag verarbeiten können und wollen. Wir hören, was wirhören wollen, und nicht, was der Referent uns sagen will. Bei manchen wissen-schaftlichen Vorträgen verstehen wir „beim besten Willen“ nichts. Alles, was nichtanschlussfähig ist, bleibt „kognitives Rauschen“ (genauso wie das, was uns nichtinteressiert oder was langweilig ist, weil wir es schon wissen).Die Driftzonen in pädagogischen Situationen werden beeinflusst durch– kognitive Strukturen, das heißt vorhandene Wissensnetze, Begriffe, Abstrak-

tionsfähigkeiten, Denkstile,– Affektlogiken, das heißt emotionale Muster wie Überforderungsangst, Harmonie-

bedürfnis, aber auch Neugier,– Lebenslagen, das heißt biografische Phasen des Umbruchs, kritische Lebens-

ereignisse, Stimmungen, in denen man für bestimmte Themen aufgeschlossenoder verschlossen ist,

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– sozialpsychologische Bedürfnisse, das heißt, welche Fragen man in dieser Grup-pe, mit diesem Kursleiter, in diesem Seminar, mit welchem „Intimitätsgrad“ the-matisieren möchte.

Passung von Lehren und Lernen

Auch die Lehrenden verfügen über ihre Driftzonen. Sie können sich oft schlechtvorstellen, dass die Teilnehmenden– das Thema nicht so spannend finden wie sie,– ihre Vorträge langweilig finden,– völlig andere Ansichten haben,– Schwierigkeiten haben, eine Argumentation zu verstehen.Lehrende neigen dazu, Lernbarrieren und Lernschwierigkeiten bei den Teilnehmen-den, nicht aber bei sich selber wahrzunehmen. Sie selber definieren sich als Exper-ten, die kompetent und objektiv das Fach vertreten, die entscheiden, welches Ur-teil richtig oder falsch, zum Thema gehörig oder unpassend ist. Ein fachlicher Wis-sensvorsprung ist zweifellos unabdingbare Voraussetzung für eine Kursleitung,dennoch ist die eigene fachwissenschaftliche Rationalität selten die einzig mögli-che. Lehrende verfügen über ihre Erfahrungen und Milieukenntnisse, die Teilneh-menden beziehen sich selbstreferenziell auf ihre Wirklichkeiten. Die Kursleitungmuss versuchen, zwischen unterschiedlichen Erlebniswelten und auch Interessen-lagen zu vermitteln, ohne unbedingt die eigene Sicht verbindlich durchsetzen zuwollen.Diese Passung gelingt allenfalls annäherungsweise. Lehrende und Lernende sindunterschiedliche „Systeme“ mit je verschiedenen Referenzen und Beobachtungs-perspektiven. Für beide Systeme gilt – nach Niklas Luhmann – eine „doppelte Kon-tingenz“, das heißt, beide Systeme sind füreinander mehrdeutig und undurchschau-bar. Dennoch müssen sich beide Systeme ständig um „Anschlussfähigkeit“ bemü-hen.Es erscheint ratsam, sich nicht zu schnell mit solchen Annäherungen von Lehrenund Lernen zu beruhigen. Mit Wilhelm Mader ist zu fragen: „Kann man überhauptsinnvoll darüber nachdenken, dass Lehren ein Handlungssystem und Lernen einanderes Handlungssystem und die Stofflogik ein drittes Handlungssystem reprä-sentieren, die aber weder objektiv noch kommunikativ in Übereinstimmung sindnoch gebracht zu werden brauchen?“ Und weiter: Ist es denkbar, dass „das Sys-tem Lehren und das System Lernen in bloßer struktureller Koppelung interagieren,ohne miteinander zu kommunizieren, und trotzdem könnte es geschehen, dassbeide Systeme ihren jeweiligen ko-evolutiven Nutzen aus dieser Koppelung zie-hen?“ (Mader 1997, S. 68f.).Es erscheint also hilfreich, zunächst eine Entkoppelung der Driftzonen der Leh-renden und Lernenden anzunehmen. Lehrende lehren „ihr“ Fach struktur-determiniert und selbstreferenziell. Lernende eignen sich das an, was in ihre Struk-turen passt und was ihnen viabel erscheint. So ist es verständlich, dass zwanzig

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Protokolle eines Seminars zwanzig verschiedene Wahrnehmungen, Selektionen,Deutungen wiedergeben. Aus konstruktivistischer Sicht ist es unmöglich, einenWissensinhalt oder eine Bedeutung linear von A auf B zu übertragen.Die Driftzonen in einer Seminargruppe sind also nie deckungsgleich. Es gibt Schnitt-mengen zwischen Lehrenden und Lernenden und innerhalb der Teilnehmergruppe.Ist die Schnittmenge – aus Sicht einer Person – zu gering, droht die Gefahr einesäußeren oder inneren Dropout. Ist die Schnittmenge zu groß, droht Langeweile(zum Beispiel in manchen Zielgruppenseminaren, in denen alle zu schnell einerMeinung sind).Wünschenswert ist – in der Regel – eine „dosierte Diskrepanz“ (Heinz Heckhausen),das heißt eine psychohygienisch zumutbare und motivierende Mischung von Be-stätigungen und Perturbationen, von ernüchterndem und ermutigendem Wissen.Zu bedenken ist, dass nicht jedes Wissensangebot als Bereicherung oder gar Be-glückung empfunden wird: „Hinzulernen, für sich Neues zu lernen, ist selbst einäußerst ambivalent erlebter Vorgang! Es kann im positivsten Falle eine Bereiche-rung des eigenen Selbstentwurfes sein ... Hinzulernen kann eben auch erst einmalein Prozess der Enteignung sein. Wenn ich hinzulernen soll ... werde ich auchaufgefordert, etwas von meiner subjektiven Wirklichkeit fortzugeben“ (Ziehe 1982,S. 175).

Lernen als Differenzwahrnehmung

Eine völlige Deckungsgleichheit der Driftzonen in einer Lerngruppe ist weder mög-lich noch wünschenswert. Ein Seminar, in dem alle „ein Herz und eine Seele“ sind,ist vielleicht gemütlich, aber nicht lernintensiv. Gelernt wird (in problemorientiertenSeminaren) vor allem durch Differenzerfahrungen, durch die Wahrnehmung, dassandere ein Problem anders sehen und dass andere anders denken und urteilenals man selber. Wünschenswert ist also eine Seminarkultur, die solche Differenz-wahrnehmungen zulässt, fördert, produktiv werden lässt.Ortfried Schäffter interpretiert Lehren in der Erwachsenenbildung als „Aufgreifenvon Differenzerleben“. „Lehren (hat) seinen Ausgang nicht in der Suche nach Kon-sens, sondern in der Aufklärung von relevanter Differenz zu nehmen ... Vorausset-zung für zwischenmenschliche Verständigung ist zunächst das Erkennen und An-erkennen von Fremdheit und der Autonomie des Anderen“ (Schäffter 1985, S. 48).Lernen hat also wesentlich mit Interesse am Andersdenkenden (Hans Tietgens),mit Perturbationen, mit der Erweiterung von Möglichkeiten (Heinz von Foerster) zutun. Differenzwahrnehmung erschöpft sich nicht in einem Meinungsaustausch, ei-ner unverbindlichen Gegenüberstellung unterschiedlicher Sichtweisen. Eine sol-che bloße Meinungsvielfalt würde den Vorwurf der Beliebigkeit rechtfertigen. Esgeht darum, relevante Wahrnehmungsdifferenzen als Lernherausforderung zu be-greifen, Differenzen zu prüfen, auf ihre Ursachen, Begründungen und Konsequen-zen hin zu durchdenken.

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Die Erkenntnis unterschiedlicher Perspektiven kann ein Gewinn an Einsicht in dieMehrdeutigkeit, Beobachtungsrelativität und Erfahrungsabhängigkeit von Wirklich-keit sein. Insofern „stiftet“ Differenzwahrnehmung Gemeinsamkeit, nämlich diegemeinsame Anerkennung von Vielfalt und Transversalität (vgl. Welsch 1996).Lernziel muss nicht unbedingt eine gemeinsame Überzeugung aller Beteiligten sein,wohl aber die Vergewisserung konsensueller Bereiche und legitimer Differenzen.Differenzwahrnehmung ist so kein Gegensatz zu Konsensfindung, sondern einSchritt zur Verständigung. Gegenüber einem früheren Modell einer fremd-gesteuerten Aufklärung als Abbau von Vorurteilen plädiere ich für eine Erweite-rung von Deutungsmöglichkeiten, wobei die Verantwortung für eine Wirklichkeits-konstruktion bei dem Einzelnen bleibt. Zuzulassen ist auch ein Probedenken, diezwanglose Prüfung, ob eine neue Deutung verträglich, hilfreich, viabel ist, ob siesich in der Praxis „bewährt“.„Allenfalls erleben die Lernenden Angebote, in denen sie Reservoire in sich bildenkönnen, Reservoire neuer Deutungen ihres Welt- und Selbstbildes. Wann auf siezurückgegriffen werden kann, auch wann sie in das Handeln im ‚wirklichen Leben‘einbezogen werden können, kann in der Bildungssituation selbst nicht kalkuliertwerden“ (Ziehe 1982, S. 179).Lernen ist eine Erweiterung der Driftzonen, eine Erweiterung der Perspektiven,Wahrnehmungen, Deutungen, ein vorsichtiger Umgang mit Wahrheitsansprüchen,mit Urteilen wie richtig/falsch, gut/schlecht. Wünschenswert ist aber auch ein Ver-zicht auf Belehrungen, eine Akzeptanz von Unterschiedlichkeit und Fremdheit, jasogar von begründeten Lernwiderständen. Auch Lernangebote müssen psycho-hygienisch zumutbar sein.Driftzonen, die den Spielraum für neue Lernerfahrungen markieren, werden nichtnur durch die Aufgeschlossenheit für neue Wirklichkeitsdeutungen und Perspekti-ven der Wahrnehmung geprägt, sondern auch durch die kognitive Flexibilität derDenkstile. Unsere komplexen, vielschichtigen Wirklichkeiten erfordern variablekognitive Stile und Problemlösungstechniken, die situations- und aufgabenspezi-fisch eingesetzt werden. So plädiert der Psychologe Dietrich Dörner dafür, nichtein „neues Denken“ zu fordern (was wenig erfolgversprechend ist), sondern dievorhandenen Denkstile flexibel einzusetzen:„Manchmal ist es notwendig, genau zu analysieren, manchmal sollte man nur grobhingucken. Manchmal sollte man sich also ein umfassendes, aber nur ‚holzschnitt-artiges‘ Bild von der jeweiligen Situation machen, manchmal hingegen sollte manden Details viel Aufmerksamkeit widmen. (...) Manchmal sollte man mehr ‚ganzheit-lich‘, mehr in Bildern denken, manchmal mehr analytisch“ (Dörner 1993, S. 298).

Lernhilfen

Viele Missverständnisse und Verständigungsprobleme entstehen dadurch, dass ineiner Gruppe unterschiedliche Rationalitäten, Logiken und Leitdifferenzen prakti-ziert werden, ohne dass diese Divergenz der Denkstile metakognitiv und meta-

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kommunikativ reflektiert wird. Eine Verschränkung der Driftzonen bezieht sich nichtnur auf das Was, das heißt die Inhalte des Erkennens, sondern auch auf das Wie,

das heißt die Formen und Stile des Erkennens. Viele interdisziplinäre Forschungs-projekte scheitern, weil die verschiedenen fachlichen Logiken nicht reflektiert undvermittelt werden.Die Metapher Driftzone verweist auf die vorhandene kognitive, emotionale undmotivationale „Vorstruktur“ der Beteiligten. Zu diesem biografischen Gepäck ge-hören Wissensnetze, Denkstile und Erfahrungen, aber auch spezielle Seminarer-wartungen, zum Beispiel:– Welche persönlichen Themen möchte ich in dieser Gruppe zur Sprache brin-

gen, mit welcher Intensität?– Inwieweit interessieren mich die Lebensgeschichten der anderen, wie viel Ge-

duld bringe ich für narrative Erzählungen auf?– Wie hilfreich ist mir wissenschaftliches Expertenwissen?– Welche Umgangsformen, welches Outfit, welche Semantik finde ich angemes-

sen?– In welchen Lernräumen, in welchem Ambiente fühle ich mich wohl?– Was erwarte ich von der Kursleitung?Solche Erwartungen sind nicht in jedem Fall zu Beginn eines Seminars bewusstund können nicht ohne weiteres „abgefragt“ und in Vereinbarungen „festgelegt“werden. Zur pädagogischen Professionalität der Lehrenden gehört eine Sensibili-tät für die Driftzonen in der Gruppe.In Parenthese: Eine solche Lehrsensibilität lässt sich umgangssprachlich als Ge-spür, Ahnung, auch als Fingerspitzengefühl umschreiben. Eine solche Kompetenzist erfahrungsabhängig, sie kann nur bedingt trainiert werden. WissenschaftlicheTheorien und Forschungsergebnisse können diese Kompetenz begründen, abernicht „bewirken“.Anregend ist meines Erachtens immer noch die (erweiterte) Formel des KanadiersDavid Hunt (1985): Lehrverhalten als Reading, Flexing and Reflecting. „Reading“meint eine Gruppe „lesen“, verbale und nonverbale Signale registrieren, die aufÜberforderung, Widerspruch, Zustimmung, Desinteresse etc. verweisen. „Flexing“meint teilnehmerorientierte Anpassung des didaktischen Konzepts, der ständigeVersuch, Sachlogiken, Handlungslogiken und Psychologiken zu verknüpfen. „Re-flecting“ meint eine Metakommunikation über Seminarverlauf, Lernfortschritte, Lern-schwierigkeiten. Geeignete Verfahren können sein: Blitzlicht, Zwischenbilanz inKleingruppen, anonyme Satzergänzungen („Heute hat mir gefallen ... / missfallen...“), Lernberichte am Ende einer Seminareinheit etc.Es geht nicht unbedingt darum, die Driftzonen der Beteiligten anzupassen und zuvereinheitlichen. Es geht darum, die (individuellen, generations-, geschlechts-,berufs-, milieuspezifischen) Unterschiede bewusst zu machen und für Lernprozessezu nutzen. Driften die Deutungen und Interessen allerdings zu sehr auseinander,so ist die Grundlage für eine ergiebige Bildungsarbeit gefährdet, und es ist eindidaktisches „Konfliktmanagement“ erforderlich. Wie in einer Gruppe mit der Viel-

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falt der Driftzonen umgegangen wird, ist entscheidend für die Lernkultur eines Se-minars.Wesentliche Voraussetzung für die „Öffnung“ von Driftzonen ist Vertrauen. Ver-trauen ist die kognitive und emotionale Sicherheit, dass andere Seminarteilnehmen-de sich um ein Verständnis des eigenen Beitrags bemühen, dass sie auf gewolltesMissverstehen verzichten, dass abweichende Beiträge nicht negativ sanktioniertwerden, dass man bei der Suche nach einer passenden Formulierung unterstütztwird, dass einem nicht „das Wort im Munde verdreht“ wird, dass Äußerungen nichtunbedingt „nach außen“ getragen werden etc.Eine solche Vertraulichkeit kann bei einer qualitativen Lehr-/Lernforschung nur be-dingt zugesichert werden. Auch wenn das Datenmaterial anonymisiert wird, kanneine Geheimhaltung letztlich nicht garantiert werden. Viele Interpretationen der For-schenden werden aber von den „Versuchspersonen“ als Kränkung empfunden.

Driftzone und Lernkultur

Die Metapher Driftzone kann auch auf den alltäglichen Umgang mit sich, mit ande-ren, mit Fremdheit, mit der Welt bezogen werden. In didaktischer Sicht sind Drift-zonen Bestandteile von Lernkulturen. So sei abschließend versucht, den BegriffLernkultur zu klären. Lernkultur lässt sich (metaphorisch) als Lernlandschaft defi-nieren (Kultur – lateinisch colere – pflegen, bebauen). Lernlandschaften bestehenaus Lernumgebungen, Lernchancen und Lernbarrieren aus den Zugängen zu neu-em Wissen, aus privilegierten und vergessenen tabuierten Themen, aus Lern-gewohnheiten und Lernritualen, aus der sozialen Anerkennung oder Missachtungdes Lernens. Lernkulturen lassen sich auf unterschiedlichen Ebenen mit unter-schiedlichen Reichweiten beschreiben. Dabei schlagen wir vor, für die individuel-len Lernaktivitäten Begriffe wie Lernbiografie, Lerntyp, Lernstil zu verwenden undden Begriff Lernkultur auf soziale Systeme zu beschränken. So lassen sich – wiein Abb. 1 dargestellt – sieben Ebenen unterscheiden.Diese Ebenen beeinflussen und durchdringen sich gegenseitig. Der Begriff Drift-zone lässt sich auf alle Ebenen übertragen, zum Beispiel die Driftzonen in Schu-len, Betrieben, Parteien, Familien, Gesellschaften etc. So kann man auch von Drift-zonen lernender Organisationen sprechen.In autoritären normierten Lernkontexten verengen sich auch die Driftzonen derIndividuen. Verschulte Bildungseinrichtungen fördern schulmäßige Lernhaltungen.Driftzonen sind deshalb nicht nur abhängig von Lebensphasen und Lebenslagen,sondern auch von den Lernumgebungen. Driftzonen unterscheiden sich also nichtnur interpersonal, sondern auch intrapersonal. So sind wir in manchen Lernkon-texten offener, in anderen verschlossener gegenüber Neuem und Fremdem.Nicht alle Themen eignen sich als Seminarthemen der institutionalisierten Erwach-senenbildung. Andererseits werden viele Identitätsthemen in dem halböffentlichen,„geschützten“ Raum eines Seminars lieber thematisiert als im familiären Umfeld.

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Wünschenswert ist ein komplementäres, sich ergänzendes Verhältnis von institu-tionalisierten und informellen Lernkulturen. Die Bildungsangebote der Einrichtun-gen verlieren nicht an Bedeutung, aber sie sind Bestandteile komplexer und dyna-mischer Lernkulturen (vgl. Hoffmann/von Rein 1998).

Literatur

Arnold, Rolf (Hrsg.): Deutungslernen in der Erwachsenenbildung. Kaiserslautern 1999Brocher, Tobias: Gruppendynamik und Erwachsenenbildung. Braunschweig 1967Dörner, Dietrich: Die Logik des Misslingens. Reinbek 1993Hoffmann, Nicole/von Rein, Antje (Hrsg.): Selbstorganisiertes Lernen in (berufs-)biografischer

Reflexion. Bad Heilbrunn 1998Hunt, David E.: Lehreranpassung: Reading and Flexing. In: Claude, Armand u.a.: Sensibi-

lisierung für Lehrverhalten. Hrsg.: Pädagogische Arbeitsstelle des DVV. Bonn 1985, S. 9ff.Kösel, Edmund: Die Modellierung von Lernwelten. Elztal 1993Mader, Wilhelm: Von der zerbrochenen Einheit des Lehrens und Lernens. In: Ekkehard Nu-

issl u.a. (Hrsg.): Pluralisierung des Lehrens und Lernens. Bad Heilbrunn 1997, S. 61ff.Maturana, Humberto/Varela, Francisco: Der Baum der Erkenntnis. München 1987Schäffter, Ortfried: Lehrkompetenz in der Erwachsenenbildung. In: Claude, Armand u.a.: Sen-

sibilisierung für Lehrverhalten. Hrsg.: Pädagogische Arbeitsstelle des DVV. Bonn 1985, S.41ff.

Siebert, Horst: Pädagogischer Konstruktivismus. Neuwied 1999Tietgens, Hans: Die Erwachsenenbildung. München 1981Welsch, Wolfgang: Vernunft. Frankfurt/M. 1996Ziehe, Thomas/Stubenrauch, Herbert: Plädoyer für ungewöhnliches Lernen. Reinbek 1982

Gesellschaftliches Lernklima

Lernen in eine Region

Lernen in sozialen Milieus

Lernen in der Arbeitswelt

Lernen in sozialen Bewegungen (Partei etc.)

Lernen im sozialen Umfeld (Famlie, Verein etc.)

Organisierte Bildungsarbeit

Abb. 1

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Erhard Schlutz

Innovationen in LernkulturPreisbeispiele

Als Fallbeispiele für die Vertiefung und Erneuerung von Lernkulturen werden indiesem Beitrag Projekte beschrieben, die 1999 mit dem Preis für Innovationen inder Erwachsenenbildung des DIE ausgezeichnet worden sind. Vorausgeschicktseien deshalb einige Informationen zum Preis und zum Auswahlverfahren.

1. Innovationen und ihr Preis

Der Preis für Innovationen in der Erwachsenenbildung wird vom Deutschen Insti-tut für Erwachsenenbildung ausgeschrieben und vergeben, die Preisträger wer-den in einem fast zweijährigen Verfahren von einer unabhängigen Jury1 aufgrundeiner Ausschreibung und entsprechender Einsendungen ermittelt. Die Ausschrei-bung für eine dritte Preisverleihung im Jahre 2001 (nach 1997 und 1999) läuft zurZeit. Der Preis wird vergeben an innovative Projekte und Vorhaben; ihn erhaltenInitiatorinnen und „Macher“, also nicht Institutionen, fördernde Stellen usw. Die Kri-terien des Preises zielen nicht unmittelbar auf die Veränderungen und Verbesse-rungen von Lernkulturen ab, also auf den Aspekt dieses Beitrags und dieses Hef-tes. Der Bezug auf „Lernkulturen“ ist allerdings kein nachträglicher und willkür-licher Zusatz des Verfassers, sondern benennt eine Gemeinsamkeit der Preisträ-ger, die der Jury in der Endphase der Auswahl aufgefallen ist.Die Ausschreibung für den Preis ist dagegen recht breit angelegt, gibt relativ viel-fältige Anregungen, an was bei dem Stichwort „Innovationen“ zu denken wäre,definiert diesen Begriff aber nicht. In diesem Punkt wird sie bestärkt von anderenAutoren, die davon ausgehen, dass man Innovationen nur durch Beobachtung vonVersuchen erkennen (vgl. Faulstich 1998) oder die Innovationen nur vorläufig undallgemein definieren kann, etwa als institutionelle Reaktionen auf erkannte Verän-derungen (vgl. Schiersmann 1998). Innovationen können zudem nur kon-textabhängig Geltung beanspruchen. Was in dem einen Zusammenhang innovativwirkt, kann in dem anderen als konventionell erscheinen (so Nuissl 1999, S. 39).Dies wird besonders deutlich im internationalen Vergleich. So hat etwa das UNESO-Institut für Pädagogik (vgl. Mauch/Papen 1997) bei der Präsentation von Innova-tionen aus allen Erdteilen feststellen müssen, dass es keine universale Form vonInnovationen gibt, die auf alle Gesellschaften passt oder übertragen werden kann.Hier wie beim DIE-Preis werden Innovationen als Grenzüberschreitungen, Über-

1 Jury-Mitglieder waren drei Frauen und vier Männer aus Praxis und Wissenschaft: Hanne-lore Bastian, Wiltrud Gieseke, Angela Venth, Klaus Götz, Ekkehard Nuissl, Erhard Schlutz,Rainer Zech.

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schreitungen des Bisherigen verstanden, wie es sich zunächst im Bewusstseinder Macher/innen darstellt.Nun wird der Anspruch auf Innovationen allerdings nicht wertfrei erhoben. Schonim üblichen Sprachgebrauch hat es Innovation immer auch mit einer Wende zumBesseren zu tun. Nicht jede Veränderung ist danach eine Innovation, auch nichtjedes Ersetzen von Altem. Innovationen können zu Wegweisern werden zwischender Fülle anscheinend möglicher Optionen und der subjektiven Begrenztheit vonRealisierungsmöglichkeiten (vgl. dazu Schäffter 1998). Insofern ist Innovation auchnicht als bloßes Symptom für Modernisierung oder einfach ökonomisches Erfor-dernis, sondern als reflexive Arbeit innerhalb von laufenden Veränderungsprozessenzu verstehen.Um Wertung kommt letztlich erst recht nicht herum, wer einen Preis für Innovatio-nen vergeben will. So sehr die Jury versucht hat, sich von Innovationen aus derPraxis überraschen zu lassen, so muss sie letztlich doch die Verantwortung für dieAuszeichnungen übernehmen. Sie hat deshalb in Zwischenresümees und im Rück-blick versucht, sich der jeweils angewandten Kriterien und Gesichtspunkte bewusstzu werden.Was ausgezeichnet werden wollte, sollte letztlich erkennbar den Nutzern (Teilneh-mer/innen, Auftraggebern) zugute kommen; bestand die Innovation z. B. in einerorganisatorischen Maßnahme oder einer neuen Kooperation, so musste derenGewinn für die Lernenden deutlich werden. Eine zweite Bedingung war: Die Reali-sierung des Innovationsvorhabens musste, zumindest in Ansätzen, erkennbar sein;eine gute Idee reichte nicht, wenn ihre Übersetzung oder Übertragung nicht plau-sibel gemacht werden konnte. Etwa die Hälfte der Einsendungen konnte mangelsanschaulicher und plausibler Beschreibungen nicht berücksichtigt werden. Inner-halb des Versuchs, die verbliebenen über 60 Einsendungen zu gewichten, erschie-nen Projekte umso „preisverdächtiger“,– je relevanter, auch verbreiteter, das zu lösende Problem erschien,– je weiter die Grenzüberschreitung des Lösungsversuchs ging,– je aspektreicher die Entwicklungsarbeit und das Veränderungspotential sich

darstellten,– je nachhaltiger, u. U. auch je übertragbarer die Lösung wirkte.Trotz dieses Versuchs der Wahrnehmungsoffenheit und des Bewusstmachens derimpliziten Kriterien sind sich die Jury-Mitglieder darüber im Klaren, dass das Er-kennen von etwas Neuem, eines neuen Musters oder einer Musterverschiebungselbstverständlich auch von den Mustern und dem Kontextwissen der Jury abhän-gig bleibt.Unter solchen Vorbehalten können also die folgenden Fallbeispiele der Preisträ-ger 1999 gelesen werden. Zugleich sollte der Charakter des Materials bewusstbleiben: Die Jury hat von den tatsächlich begonnenen oder durchgeführten Pro-jekten Beschreibungen und Materialien verlangt, hat dieses Material z. T. durchtelefonische Nachfrage, in einigen wenigen Fällen auch durch Besuche vor Ortergänzt; jedes Jury-Mitglied hat die Projekte, für die es eine Art Patenschaft über-nommen hatte, zum Zwecke der Vorstellung im Kreis der Jury seinerseits zusam-

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menfassend beschrieben, bei interessanten Zweifelsfällen ergänzt durch das „Gut-achten“ eines zweiten Jury-Mitgliedes. Die folgenden kurzen Skizzen der ausge-zeichneten Projekte sind also Beschreibungen von Beschreibungen von Beschrei-bungen!Ausführlicher dargestellt und veranschaulicht werden sie – unter Beteiligung derPreisträger – in einem Buch, das anlässlich der Preisverleihung erschienen ist (vgl.Schlutz 1999), in dem aber auch weitergehende Perspektiven für Innovationenund neue Lernkulturen zusammengefasst werden, die sich auch aus den nichtausgezeichneten, aber bemerkenswerten Einsendungen ergeben haben.

2. Preisträger als Fallbeispiele

Projekt „Eigen ist Art“

„Da wird man in eine Situation gestellt, mit der man nichts anfangen kann. Mansucht nach Lösungen im Umgang mit den Dingen. Es geht nicht darum, bestimmteDinge abzufragen. Man muss wieder lernen zu lernen.“ Diese Worte stammen voneiner Erzieherin aus dem Ostteil Berlins und haben einen doppelten Bezug:– zu dem Umbruch, den Bewohner/innen der ehemaligen DDR, zumal solche aus

Erziehungsberufen, erlebt haben,– zu der Herausforderung durch künstlerische und ästhetische Arbeit im Rahmen

eines Fortbildungsprojekt des Berliner Senats für diese Berufsgruppe.Gudrun Lenz und Stefan Brée haben diese Werkstatt jeweils 30 Tage in zwei ent-sprechenden Projekten ausprobiert und sie dabei sowohl als ästhetische Selbster-fahrung wie als künstlerische Berufsfelderweiterung für diese Erzieher/innen ver-standen. Sicher wäre es für alle Pädagog/innen sinnvoll, Lernen und Lehren nichtals Übernahme von Vorgaben und Vorbildern zu erfahren, in viel höherem Maßegilt dies aber für die Erzieherinnen aus dem Osten: Alte Vorbilder und Orientierungenkönnen wertlos erscheinen, und auch die Kinder sind anders aufgewachsen, alsman sie vormals erlebt hat. Solche professionellen Erziehungsberufe sind alsonach der Wende, wenn sie nicht ohnehin in ihrer Existenz bedroht waren, vor gro-ße Anforderungen der Neuorientierung und des Umgangs mit Diskontinuität, Ver-unsicherung und eigener Entwertung gestellt worden.Kann ästhetische Praxis – so die Fragen der Künstler – in einer anscheinendenSackgasse die Möglichkeit eines Neuanfangs spürbar machen? Kann künstleri-sche Arbeit – jenseits moralischer oder ausschließlich kognitiver Belehrung odergar Umerziehung – zur Erfahrung anderer Kompetenzen beitragen und zu einemneuen Blick auf die eigenen Aufgaben, auch zu einem anderen praktischen Um-gang mit Kindergruppen in dieser neuen Umwelt? Alle Anzeichen sprechen dafür,dass die Kunstproduktion, die eigene wie dann die mit den Kindern, jene Lust aufUnordnung und Erfindung geweckt hat, die aus einer kritischen Situation heraus-helfen könnte.

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Praktisch haben Gudrun Lenz und Stefan Brée die Erzieherinnen dazu eingela-den, sich einzulassen auf Formen der ästhetischen Produktion, wie sie etwa vonKünstlern wie Beuys vertreten worden sind. Dazu haben sie einfache Materialien(auch Pappe und andere Abfälle) oder Klänge mit Aufforderungscharakter einge-geben, ohne das Tun für externe Zwecke pädagogisch zu instrumentalisieren. Zielwar es, Wahrnehmung, individuelle Sensibilisierung, die Erfahrung des Machensaus einer Nullpunkt-Situation heraus zu ermöglichen, ähnlich wie es schon im Bau-haus bei der künstlerischen Ausbildung geschehen ist.Die nachträgliche Reflexion unter den Teilnehmerinnen, die vor allem auch im Hin-blick auf die Übertragung der eigenen ästhetischen Erfahrung auf die Arbeit mitKindern ausgetauscht wird, lässt ein wenig erkennen, was der Lerngewinn dereigenen Kunstproduktion gewesen sein wird: ein besserer Umgang mit einer offe-nen Situation, die man nicht „im Griff“ hat und nicht mit herkömmlichen Kompeten-zen bewältigen kann; die Erfahrung, dass Veränderungen zwar verunsichern, aberauch ein Lernen auslösen können, das selbst vielschichtig, widersprüchlich, nichtvorhersehbar erscheint und eine eigene Veränderung bewirkt; wahrscheinlich dieErkenntnis, dass Kindheitsbilder von Erwachsenen stereotyp sind, dass ein neuesGlücksgefühl in der Arbeit mit Kindern sich einstellen kann, wenn diesen nicht ge-schlossene Aufgaben gestellt werden, wenn die „fertigen Bilder“ eine geringereRolle spielen.Blickt man als Außenstehender auf die Berichte und Bilder, so kann man sich demEindruck einer starken Bewegung nicht entziehen, einer Bewegung in und zwi-schen der Selbsterfahrung der Erzieherinnen, dem Ausprobieren eines neuen Ver-haltens gegenüber den Kindern („Früher musste ich der Animateur sein ... Jetztliegt alles nur bereit und die Kinder arbeiten ganz anders ...“) und den Künstlernals möglichen Katalysatoren („Wir als Lehrende verstehen uns als Manager dieseroffenen Lernsituation. Dabei befinden wir uns selbst in einer unsicheren Position,in der wir uns gegenseitig beobachten, mitteilen und stärken ...“).Neu sind Arrangement und Angebot nicht schlechthin (als Instrument und Pausen-füller müssen sogenannte kreative Einlagen in der übrigen Weiterbildungspraxisoft genug herhalten), sondern wegweisend erscheint ihr Einsatz in einer solchenUmbruchs- und Verunsicherungssituation, die nach gängiger Erwartung leichtermit inhaltlich und methodisch klar definierten Qualifikationsangeboten wenn nichtzu bewältigen, so doch zu überspringen wäre. Statt dessen wird die Erfahrungeines offenen, vielschichtigen Lernens angeboten, wobei die Analogien des Neu-anfangs zwischen der allgemein politischen, der beruflichen und der biographi-schen Situation kreativ genutzt werden.

Projekt „Gleichstellung in der Weiterbildung“

In diesem Projekt, das von Iris Dilg an der und für die Volkshochschule Mainzdurchgeführt wird, geht es auch um die rechtliche Gleichstellung von Männern undFrauen, besonders aber darum, Erkenntnisse über Geschlechterdifferenz in Kom-

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munikation, Lernweisen, Lerninteressen praktisch umzusetzen, und zwar in dieArbeit einer großen Bildungsinstitution.Dazu verbindet dieses Projekt, das vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft undWeiterbildung des Landes Rheinland-Pfalz gefördert wird, Forschung und Fort-bildung. Befragungen ermitteln den Bewusstseinsstand und die beobachtetenSchwierigkeiten mit der Geschlechterdifferenz bei Planenden und Lehrenden so-wie die Bedürfnisse nach Lernkonzepten und Lernformen im Zusammenhang mitder Geschlechterperspektive. Fortbildungen sollen Möglichkeiten entdecken undempfehlen helfen, den Gender-Aspekt fachspezifisch in allen Kursen unter Beteili-gung von Männern und Frauen wahrzunehmen und als inhaltlichen Gewinn anzu-eignen. Die Erhebungen sind auf großes Interesse gestoßen. Fortbildungen undGeschlechterdialog zwischen den Lehrenden haben nicht nur auf der allgemeinenEbene stattgefunden, sondern auch in einzelnen Fachbereichen wie Ge-sundheitsbildung, berufliche Bildung, Sprache und Kommunikation, kulturelle Bil-dung, wobei im Hinblick auf die eigene Praxis unterschiedliche Akzente gesetztwurden, z. B.: Erstellen von Kriterienkatalogen für eine geschlechter-gerechte Päd-agogik in Bezug auf Sprache und Kommunikationsverhalten, Lernklima, Lernsi-tuation und Lerninhalte; Erstellen von Evaluationsbögen zur Selbstvergewisserungder Kursleitenden und zum Feedback der Teilnehmenden; Unterrichtssimulation,Ausarbeiten einzelner Unterrichtssequenzen usw. Die hauptberuflichen Mitarbei-ter/innen beleuchten Organisationsformen und organisatorische Möglichkeiten ih-rer Institution im Lichte der Geschlechterorientierung neu, etwa im Hinblick auf:die Verbindlichkeit von Kriterienkatalogen und Evaluationsbögen, neue Zielgruppen-konzeptionen, umfassende Kinderbetreuung, ständiges Weiterbildungsangebot fürKursleitende in Form von Geschlechterdialogen, Einrichtung eines entsprechen-den Steuerungsteams nach Projektende usw.Auch hier liegt die Innovation nicht im Stofflichen, vielmehr umgekehrt darin, längstbekannte Erkenntnisse der Gender-Forschung umfassend (organisatorisch, me-thodisch, inhaltlich) in die Bildungspraxis einfließen zu lassen und diese als Ge-schlechterdialog zu gestalten.

Projekt „Wohnen – Arbeiten – Lernen“

In der strukturschwachen, halb ländlichen Region im Weser-Ems-Gebiet, wo oh-nehin bemerkenswerte Weiterbildungsaktivitäten entfaltet werden, mussten Mitar-beiter/innen der Volkshochschulen Norden und Aurich seit Jahren feststellen, dassqualifikations- und arbeitsbezogene Maßnahmen bei bestimmten Gruppen von Ju-gendlichen und jungen Erwachsenen deshalb letztlich nicht „greifen können“, weilden Betroffenen lebensweltliche Sicherheiten eines behüteten Zuhauses und ei-ner geregelten Lebensführung und elementare Kompetenzen wie Überlebens-fähigkeit, Kontinuität und Arbeitsfähigkeit fehlen. Es handelt sich um junge Leute,denen die Absicherung einer intakten Familienstruktur völlig fehlt oder die bereitsobdachlos geworden sind. Die Bildungsinstitutionen beschlossen, es nicht bei den

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immer wieder ins Leere laufenden „offiziellen“ Bildungsmaßnahmen zu belassen,sondern die Lebenswelt der Adressaten einzubeziehen bzw. mit ihnen eine solcheerst zu schaffen.Unter Federführung von Oliver Müller-Röttger und Günther Fahle wurden in demModellversuch „Wohnen – Arbeiten – Lernen“ (WAL) Neubauten und Umbautenvon Häusern durch die jungen Erwachsenen und unter Anleitung von Fachkräftensowie mit Unterstützung von lokalen Baufirmen vorgenommen. Erlebten die jun-gen Leute auf diese Weise schon eigene Lern- und Arbeitsleistungen, so konntendie fertiggestellten Wohnungen von ihnen selbst genutzt werden; heute werdendiese auch neu aufzunehmenden Jugendlichen zur Verfügung gestellt. Diese Mög-lichkeit des betreuten Wohnens und einer entsprechenden psycho-sozialen Unter-stützung durch Sozialarbeit ist allerdings an die Bedingung gekoppelt, zugleicheine den jeweiligen Voraussetzungen angemessene Qualifizierungsleistung zu er-bringen (z. B. Schulabschluss, Vorqualifizierung, Ausbildung usw.). Die Stabilisie-rung erfolgt über ein betreutes Wohnen und eine Sozialarbeit, die eine sorgfältigeBalance zwischen Freiwilligkeit, Hilfe zur Selbsthilfe und Grenzen setzenden Ver-einbarungen hält. In den Wohneinheiten ist Kommunikation ebenso wie Rückzugmöglich.Neu ist nicht das betreute Wohnen an sich, sondern die Integration von Wohnen,Arbeiten und Lernen, was z. T. auch als Revitalisierung von bedeutsamen Ansät-zen aus der Zeit der großen Arbeitslosigkeit in den 20er Jahren wirkt. Verbundenwerden nicht nur die genannten Lebensbereiche, sondern auch informelles undformales Lernen, das zunehmende Gefühl, sein Leben selbst gestalten zu kön-nen, verbunden mit der Möglichkeit, auch unterschiedliche Phasen qualifikatorischerAnsprüche bewältigen zu können. Dies verlangt die Kooperation von Qualifizie-rungs- und Beratungsteams, also von sonst getrennten sozialen Praxen. Rahmen-bedingung dafür ist ein relativ reichhaltiges, gestuftes Angebot der Bildungsträgeran Schulabschlussmaßnahmen und Maßnahmen der gewerblichen Aus- und Fort-bildung. Zugleich mussten Instrumente und Ressourcen der Sozialarbeit bzw. derJugendhilfe mit denen der Arbeitsmarktpolitik und der berufsbezogenen Bildungund Weiterbildung verzahnt bzw. gebündelt werden. Dazu wurde eine ständigeKooperationsbeziehung zwischen diesen externen Partnern aufgebaut, die zugleichdazu geführt hat, dass die Betroffenen von der Bürokratie als Personen wahrge-nommen werden, nicht als Fragmente unterschiedlich abzulegender Fälle. Aus derSicht von Bildung geht es letztlich um die Umsetzung der Erkenntnis, dass Lern-fähigkeit nicht kontextfrei gegeben ist, sondern Lebens-, Arbeits- und Sozialfähigkeitvoraussetzt.

Projekt „Lernberatung“

Auch das Projekt „Lernberatung“ von Rosemarie Klein und Marita Kemper gehtdavon aus, dass heutige und künftige Anforderungen an das Lernen eine Stär-kung der Lernfähigkeit voraussetzen. Lernfähigkeit wird aber nicht als eine rein

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formale Qualität betrachtet, die losgelöst von inhaltlichen Aufgaben erworben wer-den könnte. Sie wird vielmehr begründet und unterstützt durch eine doppelte Bin-dung des Subjekts: einerseits an seine eigenen biographisch erworbenen Kom-petenzen, andererseits an den Lernvorgang, den eigenen und den der anderen.Bei der pädagogischen Betreuung und wissenschaftlichen Begleitung mehrererQualifizierungsmaßnahmen für Frauen im kaufmännisch-verwaltenden Bereicherproben und entwickeln Klein und Kemper ein Konzept zur Stärkung der so ver-standenen Lernfähigkeit, das sie Lernberatung nennen (mit der Doppeldeutigkeitvon Selbst- und Fremdberatung) und das auf andere Bildungsvorhaben übertra-gen werden kann.Das Entscheidende dabei scheint mir zu sein, dass innerhalb relativ konventionel-ler Bildungsmaßnahmen (was die Voraussetzung für die Übertragbarkeit ist) einezweite Arbeits- und Aufmerksamkeitsspur installiert wird, eine Metakommunikationgleichsam, die das Lernen selbst und seine biographische Verwendung zum stän-digen Thema macht. „Lernberatung“ stellt ein Bündel von Instrumenten und Maß-nahmen dar, die als Teil eines neuen Lehrkonzepts verstanden werden. So schlichte,aber einleuchtende Mittel wie das Führen eines Lerntagebuchs und die Institutio-nalisierung von gemeinsamen Lernkonferenzen machen das Lernen durchsichti-ger, verbinden individuelle und öffentliche Lernvorgänge, erhöhen durch wechsel-seitige Beratung Selbständigkeit, Selbstbewusstsein, aber auch Teamfähigkeit. DieLernkonferenzen werden zu Planungskonferenzen und führen – in Verbindung mitFachreflexion und einem Lernquellenpool für das individuelle selbständige Lernen– schließlich auch zur Steuerung und Flexibilisierung der „eigentlichen“ Maßnah-me durch die Teilnehmerinnen. Die anscheinende Dichotomie von fremdorgani-siertem Lehren und selbstorganisiertem Lernen wird so tendenziell aufgehoben.Auch der differenzierte Umgang mit solchen Begriffen und ein entsprechend abge-wogenes methodisches Vorgehen haben zur Auszeichnung dieses Projekts ge-führt.

Projekt „Offenes Lernen“

Auch im Projekt „Offenes Lernen“ an der Hamburger Stiftung für berufliche Bil-dung (federführend: Bernd Krischausky) geht es nicht um selbstorganisiertes Ler-nen im dogmatischen Sinne. Wie im vorigen Projekt geht es um selbständigerenUmgang mit dem zu Lernenden, aber der Ausgangspunkt ist ein anderer, und dieKonsequenzen für die Individualisierung des Lernens einerseits und die Umstel-lung der Bildungsorganisation andererseits sind weiterreichend.Wie viele andere Bildungseinrichtungen auch stand die Hamburger Stiftung in derersten Hälfte der 90er Jahre vor der Frage, wie sie divergierende Umweltanfor-derungen verarbeiten und beantworten könne: z.B. sinkende Fördermittel und stei-gender Kostendruck, größere Heterogenität der Teilnehmer und Differenzierungder zu vermittelnden Berufsbilder, neuartige Erwartungen an die Qualität der Ergeb-nisse und die Qualitätssicherung der Institution. Diese erhöhten, z. T. widersprüch-

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lichen Anforderungen lassen anscheinend keine einheitliche Lösung zu, dennochwurde versucht, ihnen mit dem Gesamtkonzept „Offenes Lernen“ zu begegnen,das seit Herbst 1994 realisiert wird und nach und nach zu einer Umstellung desgesamten Betriebes führen soll.Kern der Neuerung ist die Individualisierung des Lernens durch Aufsprengen desMaßnahmencurriculums. Die starren Stundenpläne mit einem gemeinsamen Lehr-angebot für ein bestimmtes Berufsbild und alle Mitglieder einer bestimmten Grup-pe werden aufgehoben; statt dessen wird eine Flexibilität von Lernzielen, Lern-dauer, nötigen Lerninhalten, genutzten Lernorten und Selbstlernmaterialien ange-strebt. Im Mittelpunkt steht das selbständige Lernen des Einzelnen, der aufgrundeiner Eingangsdiagnose und weiterer Beratungen ein individuell zugeschnittenesProgramm durchläuft, das mittels individueller Zielvereinbarungen und entspre-chender Checklisten gesteuert und nachwiesen wird. Ein wöchentlicher Stunden-plan für einen Teilnehmer bei der gewerblichen Berufsvorbereitung kann z. B. fol-gende Angebote im Laufe einer Woche enthalten: Werkstattarbeit, Übungen amComputer, Rechtschreibübungen, Deutsch für Ausländer, bestimmte mathematischeThemen, Einführung ins technische Zeichnen, Bewerbung. Davon ist allein dasBewerbungstraining eine gemeinsame Unterrichtsveranstaltung, alle anderen An-gebote werden durch individuelles Selbstlernen oder durch Kleingruppenarbeit (vorallem Werkstattarbeit) realisiert.Vermittelt werden neben den Fachqualifikationen fachübergreifende Schlüsselqua-lifikationen, indem z. B. der Bau einer Sanitäreinrichtung in einen vollständig abzu-wickelnden Kundenauftrag eingebettet wird. Die Individualisierung des Lernensmacht es auch möglich, für mehrere Berufsbilder nebeneinander zu qualifizieren,so dass am Markt zur selben Zeit unterschiedliche Qualifikationsprofile angebotenwerden, was die Vermittlungschancen erhöht.Im pädagogisch-idealistischen Sinne ist dies kein selbstbestimmtes Lernen, dennes bedarf einer äußerst differenzierten Fremdorganisation, um Selbstorganisationund Selbständigkeit erfolgsorientiert (!) unterstützen zu können. Gefördert wird zu-nächst das Bewusstsein, sich selbst seinen eigenen Ausbildungs- oder Um-schulungsgang zusammensetzen, abholen und aneignen zu müssen. Selbständig-keit wird aber nicht nur formal gefordert, sondern beispielsweise auch in Gruppen-arbeit gebraucht: In der Werkstatt etwa soll jeder sich auf einen Teil der Aufgabevorbereiten und die anderen darüber unterrichten. Dies scheint ebenfalls ein wei-terer wichtiger Aspekt auf dem Weg zu mehr Lernfähigkeit. Denn besteht Lernfä-higkeit im Kern nicht darin, (sich selbst) etwas lehren zu können, über Möglichkei-ten der Selbstinstruktion zu verfügen?Um dies Konzept offenen Lernens zu realisieren, mussten didaktisch-methodische,personelle, organisatorische, ja architektonische Bedingungen geschaffen werden,deren Notwendigkeit den Projektinitiatoren selbst wohl erst nach und nach bewusstgeworden ist, deren Zusammenklang aber erst das Konzept innovativ erscheinenund erfolgreich werden lässt. Die wichtigsten seien kurz genannt:

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– die Aufgabe der direkten Lehre und die Verschiebung der Ausbilder- und Lehr-funktionen hin zur ständigen Beratung, zur Konstruktion von Selbstlernmate-rialien und zur Evaluation,

– die Bereitstellung und ständige Verbesserung von Selbstlernmaterialien (zu-nächst als Schriftmedien, zunehmend als CBT-Elemente und Arbeit an einemeigenen Netz), die die Selbstkontrolle der Lernenden ermöglichen,

– die Bereitstellung und flexible Nutzung unterschiedlicher Lernorte („Lerninseln“):Werkstatt, Medienraum, Lehrraum, Gruppenarbeitsraum, Beratungsraum usw.,

– die Umwandlung der fachsystematischen Organisationsstruktur in bewegliche,teilautonome Teams, die ihre Aufgaben und Ressourcen in Zielvereinbarungenmit der Leitung festlegen,

– der Aufbau umfassender Qualitätssicherungsmaßnahmen, u. a. durch regelmä-ßige Selbsteinschätzung der Lernenden, Lernkontrollen, Bewertung des Selbst-lernmaterials, Controlling der Einrichtung durch Berichte und Kundenbefra-gungen.

Zur Zeit scheint es so, als habe das Projekt einen wesentlichen Teil seiner Grobzieleerreicht: Kostensenkung, Individualisierung/Differenzierung des Lernens und derQualifikationsprofile, Akzeptanz bei einem Großteil der Lernenden (besonders beiJugendlichen aus Migrantenfamilien), erhöhte Vermittlungsquoten.

3. Elemente von (neuen) Lernkulturen

Nach den Einzelskizzen, die notwendigerweise verkürzen, sei der Versuch gemacht,einige Gemeinsamkeiten und auffallende Elemente zu kennzeichnen, ohne derEigenwilligkeit der einzelnen Projekte Unrecht zu tun. Sofern diese Aspekte alsElemente neuer oder sich neu formierender Lernkulturen betrachtet werden wol-len, müssen sie mehr als eine einzelne neue Methode des Lernens oder des Lernen-machens enthalten. Lernkulturen stellen eine soziale Realität dar, die ihren Mit-gliedern Orientierung bietet durch geteilte Auffassung vom Lehr-/Lernhandeln, durcheinen gemeinsamen Stil (vgl. dazu Arnold 1998).Im Hinblick auf Lernfelder und Zielgruppen fällt zunächst auf, dass vier der fünfpreisgekrönten Projekte im weiten Sinne der beruflichen Bildung zuzurechnen sindund es mehr oder weniger mit „Problemgruppen des Arbeitsmarktes“ zu tun ha-ben. Von der Jury war dies nicht bewusst angezielt; die Auszeichnungen bei dervorherigen Preisverleihung waren ausgewogener über die Sparten der Weiterbil-dung verteilt; und auch bei den betrachtenswerten Einsendungen der neuen Preis-verleihung waren solche aus der beruflichen oder betrieblichen Weiterbildung durch-aus nicht dominant, sondern machten etwa ein Viertel aus (je ein weiteres Viertelentfiel auf die politisch-ökologische, auf die soziokulturelle und auf die allgemeineBildung). Ob es also einen Trend zu mehr Innovationen in der beruflichen Weiter-bildung gibt, bleibt abzuwarten, und selbst wenn es so wäre, so bliebe offen, obdies für größere Progressivität oder für besonderen Nachholbedarf der beruflichenBildung spricht.

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Was man aber in dieser Hinsicht zusammenfassend über die Preisträger sagendarf: Ihre Fragestellungen decken eine Not auf, die Lösungen wollen diese wen-den. Dabei geht es häufig um anscheinend paradoxe Problemlagen: Wie kannman mehr Qualität und Individualität erreichen bei weniger Geld? Wie kann manMenschen integrieren und qualifizieren bei schlechter werdenden materiellen undpsychosozialen Lebensbedingungen? Wie können Männer und Frauen gestärktwerden in ihrer Lernfähigkeit, Selbstverantwortung und Selbststeuerung angesichtsder anscheinend unaufhaltsamen Anforderung an Flexibilität und damit an die Be-wältigung von Diskontinuität?Im Hinblick auf die Anstöße zu Veränderungen, auf die bewegenden Momente darfman – vorsichtig verallgemeinernd – sagen: Die wichtigsten Herausforderungen

für Lernende heute und für das professionelle Nachdenken über Lernkulturen er-geben sich keineswegs aus neuen Entdeckungen und Theorien zum Lernen, ausdem Angebot an neuen Medien, nicht einmal aus dem möglichen Veralten vonBildungsinstitutionen, sondern – wie eigentlich bekannt – vor allem daraus, dassdie technisch-ökonomische Entwicklung den Lernpotentialen und der Anpas-sungsfähigkeit der meisten Menschen davonzueilen scheint. Mit voller Wucht tref-fen diese Veränderungen deshalb zunächst die, die am Erwerbsleben teilnehmenoder dies wollen. Daraus ergibt sich der Druck, variablere Lernformen und Lernge-legenheiten zu schaffen und Lernfähigkeit und Selbststeuerung selbst zu verbes-sern. Dies schließt die Fähigkeit der Person ein, sich angesichts der überall gefor-derten Flexibilisierung nicht auseinanderreißen zu lassen.Solchen Problemstellungen entspricht, dass das Motiv zur Innovation in den ein-zelnen Projekten nicht allein freier Wahl entspringt. Zwang und Innovationen schei-nen sich keinesfalls auszuschließen. Ob Zwang produktiv gewendet werden kann,scheint vor allem davon abzuhängen, ob die Betroffenen alles daran setzen, sichHandlungsspielräume zu erhalten oder diese wiederzugewinnen. Die Problemlö-sungen, die gefunden werden, sind sicherlich nicht die einzig denkbaren, trotzdemwirken sie im Nachhinein stringent; das Lernarrangement scheint der Aufgabe völ-lig zu entsprechen. Dabei geht es kaum aus völligen Neuerfindungen hervor, son-dern kombiniert auf neue oder besonders adäquate Weise bereits vorgedachteoder sogar erprobte Elemente. Um einen innovativen Schub zu bewirken, müssendiese aber in eine eigene Gesamtkonzeption integriert werden, von der die Betei-ligten nach und nach völlig überzeugt sind. Dies kann Veränderungen von unter-schiedlicher Reichweite mit sich bringen: von der Umgestaltung bisheriger Maß-nahmen über neue Lernarrangements bis hin zur Organisationsentwicklung undzur Neuinstallation externer Kooperationen.Ausdruck von Lernkultur und Bindeglied zwischen Selbst- und Fremdorganisationsind häufig explizite Vereinbarungen. Mit den Vereinbarungen wird kodifiziert undgesichert, was das Gemeinsame der hier angedeuteten pädagogischen Konzep-tionen ist: die Wende von der Teilnehmerorientierung hin zu einer Zentrierung desTeilnehmers, oder besser: vom Adressaten zum Akteur der Weiterbildung (vgl.Bastian in Schlutz 1999). Dies ist nicht metaphorisch im Sinne eines Blickwechselszu verstehen, sondern wortwörtlich scheint sich in diesen Projekten alles um die

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Teilnehmenden und ihre Aktivität zu „drehen“: die pädagogische Beratung und Un-terstützung, das Bereitstellen von Medien, die professionellen Teams und sogardie ganze Betriebsorganisation. Die Aktivität der Lernenden ist kein Selbstzweck,sondern Mittel und Ausdruck größerer Selbständigkeit und Eigenverantwortung.Lernfähigkeit oder wieder lernen zu können, ist in allen Projekten mehr oder weni-ger explizite Zielsetzung. Die „zweite Aufmerksamkeitsspur“, die dafür eingerichtetwird, erhöht Reflexion und Reflexivität – und dies nicht nur bei den Lernenden.Neue Lernarrangements erscheinen als offener und multifunktionaler. Zunächstsind sie notwendige Folge der Dezentrierung, der Verschiebung der Lehrfunktionen:weg von der direkten Instruktion hin zur Entfaltung von bisher latenten Lehrleistun-gen (z.B. Beratung, Medienkonstruktion, Auswertung) und hin zur Selbstinstruktion.Zugleich machen sie die sonst eher latent bleibenden Aneignungsprozesse sicht-barer und handhabbarer (und mildern so die Gefahr der Abstraktion, die durcherhöhte Reflexivität nahe liegt): z. B. durch funktionale Verräumlichung, durch Ma-terialisierung in Medien und durch definierte kommunikative Stationen (wie Lern-konferenz, Lernberatung, Gruppenarbeit in der Werkstatt usw.). Häufig erforderndiese Innovationen nicht nur Funktions- und Rollenverschiebungen bei den Leh-renden, sondern die Kooperation sonst getrennter sozialer Praxen, wie Qualifizie-rung und Sozialarbeit, Kunst und Pädagogik.Auf eine weitere Zusammenfassung der gemeinsamen Elemente der vorgestell-ten Fallbeispiele sei verzichtet, besteht doch ohnehin schon die Gefahr, der Eigen-art der jeweiligen Versuche Gewalt anzutun, indem man sie mehr oder weniger aufdie Schlagworte hin abklopft, die im Erwartungsrepertoire von Pädagog/innen undWissenschaftler/innen im Hinblick auf die nötige künftige Bildungsgestaltung oh-nehin vorhanden sind (wie sie etwa im Wissens- und Bildungs-Delphi zum Aus-druck kommen, vgl. BMBF 1998). Interessanter dürfte die Schlussfrage sein, wel-che der immer wieder genannten Erwartungen durch die vorgestellten Modelle nochnicht ausreichend bedient sind. Zu nennen wäre wohl a) der Einsatz von Multimediaund b) die sogenannte „Entgrenzung“ der Weiterbildung im Sinne einer Pluralitätder Lernorte bzw. eines stärkeren Wechsels zwischen organisiertem und informel-lem Lernen.Zu a): Zweifellos wird man von den Medien eine Bereicherung hinsichtlich derIndividualisierung und der Vielseitigkeit des Lernens erwarten. Im Hinblick auf denPreis für Innovationen wurden etwa 12 Projekte eingereicht, bei denen ein Medi-um den Mittelpunkt bildet, vom Printmedium bis zur Verwendung des Intranet. Dasskeines dieser Projekte einen Preis bekommen hat, wird auch daran liegen, dassbei der vorherigen Preisverleihung eine Einsendung ausgezeichnet worden ist, dieim Hinblick auf Problemrelevanz, Interaktivität und Kommunikationsmöglichkeitenavancierter erschien als die jetzt geprüften Einsendungen. Diese wiesen auf imEinzelnen durchweg wichtige Experimente und beachtenswerte Aspekte hin. DieJury konnte sich aber dem Eindruck nicht entziehen, es mit einem Zwischenstandin der Entwicklung reichhaltigerer Medienangebote zu tun zu haben: Das Auspro-bieren der technischen Möglichkeiten scheint stärker im Vordergrund zu stehenals die wirkliche didaktische Neuerung. Die vielbeschworene Interaktivität versucht

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mühsam, die Nachteile gegenüber dem Präsenzunterricht auszugleichen, hält dasLernen im Zirkel geschlossener Vorgaben. Die Ziel-Mittel-Relation ist häufig nochnicht stimmig: Team-Arbeit wird durch kognitive Belehrung eingeführt, Kommu-nikation wird ohne Kommunikationspartner, Verhaltens- und Einstellungsände-rungen werden durch gesteuerte Antwort-Vorgaben vermittelt usw. Aber man wirdin Zukunft sicher weiterkommen, wenn Experimente stärker mit der Reflexion ihrerdidaktischen Möglichkeiten, aber auch ihrer Grenzen verbunden werden. EineGefahr in der Entwicklung scheint nämlich darin zu liegen, dass man Medienan-gebote in der Regel als autonome und geschlossene Lehr-Lern-Programme kon-zipiert und dadurch ihre Leistungsfähigkeit überstrapaziert, anstatt sie als Teil ei-nes Lernverbundes zu denken und mögliche Schnittstellen dafür vorzusehen. Ge-genbeispiele sind in den ausgezeichneten Projekten deutlich enthalten (etwa in„Lernberatung“ und „Offenes Lernen“). Hier folgt die Entwicklung von Medien undSelbstlernmaterialien aber der didaktischen Problemlösungsstrategie, nicht umge-kehrt; das gesamte Lernarrangement zielt auf größere Eigeninitiative und Lern-kompetenz; Schnittstellen zwischen Mediengebrauch, Übungen im Realraum,Gruppenkommunikation, persönlicher Beratung usw. sind eindeutig markiert. Kurzgesagt: Wenn Innovation als Grenzüberschreitung verstanden wird, dann werdenaus pädagogischer Sicht mögliche Grenzen nicht einfach durch den Einsatz einesneuen Mediums überschritten, sondern durch die neue didaktische Problemlö-sungskapazität, die darin enthalten ist (vgl. meinen Beitrag zu den eingesandtenMedienprojekten in Schlutz 1999).Zu b): Grenzen zwischen formellem und informellem Lernen sind auch in den vorge-stellten Projekten deutlich überschritten. Dies geschieht aber eher in der Weise,dass Alltag und Lebenswelt der Adressaten in das institutionalisierte Lernen hin-eingezogen werden, besonders deutlich im Wohnprojekt, in dem das Wohnen undder Lebensalltag bis zu einem gewissen Grad Bestandteil der Bildungseinrichtungwerden. Das heißt, die Projekte zeigen eher die mögliche Vielfalt und Innova-tionsfähigkeit des Lernens in Institutionen. Sowohl unter den früheren Preisträ-gern wie unter den neuen Einsendungen gab es allerdings Projekte, vor allem derpolitischen Bildung, deren Realisierung abhing von einer Kombination mit selbstorganisiertem Lernen, informellem Lernen, öffentlicher Auseinandersetzung usw.Letztlich waren aber auch dies Initiativen oder Moderationsleistungen von profes-sionellen Pädagogen. Denn eine Preisverleihung für Innovationen in der Erwach-senenbildung spricht zunächst Professionelle an, nicht nur aus praktischen Grün-den, sondern wohl auch, weil Institutionen das kollektive Gedächtnis für einen be-stimmten Bereich gesellschaftlicher Praxis darstellen.Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich fragen, inwiefern die eingereichten Projek-te (und andernorts versuchte Neuerungen) wohl im institutionellen Gedächtnis derErwachsenenbildung weiterwirken. Muss man bei Modellversuchen nicht allzu oftden Eindruck haben, dass sie als – zum Teil mit Sondermitteln finanzierte – Sonn-tagsfreuden laufen, aber nicht in den Alltag, die Organisationsstruktur und die Iden-tität einer Einrichtung integriert werden? Auf diese Weise gehen neue Erfahrungenund Ergebnisse – oft zusammen mit dem entsprechenden Personal – dem kollek-

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tiven Wissensbestand und Problemlösungspotential der Erwachsenenbildung ver-loren. Dem ein wenig entgegenzuwirken sollte auch eine Funktion des Preises fürInnovationen in der Erwachsenenbildung sein.

Literatur

Arnold, Rolf/ Schüßler, Ingeborg: Wandel der Lernkulturen. Ideen und Bausteine für ein le-bendiges Lernen. Darmstadt 1998

BMBF (Hrsg.): Delphi-Befragung 1996/98. 3 Bände. Bonn 1998Faulstich, Peter/Bayer, Mechthild/Krohn, Miriam (Hrsg.): Zukunftskonzepte der Weiterbildung.

Projekte und Innovationen. Weinheim, München 1998Mauch, Werner/Papen, Ute (Hrsg.): Making a Difference: Innovation in Adult Education. Frank-

furt/M. 1997Nuissl, Ekkehard: Adult Education and Learning in Europe. Frankfurt/M.: DIE 1999Schäffter, Ortfried: Weiterbildung in der Transformationsgesellschaft. Zur Grundlegung einer

Theorie der Institutionalisierung. Berlin 1998Schiersmann, Christiane u. a.: Innovationen in Einrichtungen der Familienbildung. Eine bun-

desweite empirische Institutionenanalyse. Opladen 1998Schlutz, Erhard (Hrsg.): Lernkulturen. Innovationen, Preise, Perspektiven. Frankfurt/M.: DIE

1999

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Rolf Arnold

LernkulturwandelBegriffstheoretische Klärungen und erwachsenenpädagogischeIllustrationen

Die Einführung und Verwendung eines neuen Begriffs – wie „Lernkultur“ – in denerwachsenenpädagogischen Diskurs muss sich in einer doppelten Weise legiti-mieren: Zum einen ist entstehungsgeschichtlich zu begründen, dass es sich umeinen „notwendigen“ Begriff handelt und nicht lediglich um eine vom Zeitgeist indu-zierte Begriffsmode, zum anderen ist zu begründen, wie sich dieser Begriff zu eta-blierten erwachsenenpädagogischen Begrifflichkeiten verhält. Auszugehen hat die-se doppelte Begriffsbegründung von der letztlich konstruktivistischen BegriffstheorieImmanuel Kants, der Begriff und Anschauung ja bekanntlich in ihrer wechselseiti-gen Bezogenheit mit den Worten beschreibt: „Begriffe ohne Anschauung sind leer,Anschauung ohne Begriffe ist blind“. Deshalb ließen sich der im Folgenden zuleistenden begriffstheoretischen Klärung auch die beiden Fragen zugrundelegen:1. Welche „Anschauung“, d.h. welche – neue – Sicht auf den Gegenstand, wirdmit dem Begriff der „Lernkultur“ nahegelegt? 2. Welche erwachsenenpädago-gischen „Blindheiten“ können mit dem Blick auf die Lernkultur überwunden wer-den? In einem dritten – abschließenden – Schritt sollen dann die erwachsenenpäd-agogischen Implikationen bzw. Folgerungen der Lernkulturorientierung skizziertwerden.

1. Die „Anschauung“ der Lernkultur

Das dem Begriff der „Lernkultur“ innewohnende Kulturverständnis ist nicht das der„schönen Künste“, sondern das der Alltagskultur, wie es durch die Ethnometho-dologie, die phänomenologische Wissenssoziologie und den Symbolischen Inter-aktionismus der 70er Jahre auch in die Erwachsenenbildung Eingang gefundenhat. Aber erst die Organisations- und Managementtheorien der 80er Jahre rücktenmit ihren Erklärungen zu den „weichen Faktoren“ des Organisations- und Unter-nehmenserfolges den Alltagskulturaspekt in das Zentrum sozialwissenschaftlicherAnalyse. Erinnert sei in diesem Zusammenhang u. a. an den Unternehmens-kulturbegriff von Holleis u. a. (1987), die diesen als „die untere Seite des Eisber-ges“ definierten, d. h. als die „eigentlich“ gewichtige und tragende Seite des gan-zen Geschehens. Dies bedeutet, dass das Alltagskulturelle die Welt der durch Rou-tinen gewachsenen Plausibilitäten, Gewohnheiten und Gewissheiten beschreibt.Es umfasst aber auch die grundlegenden normativen Orientierungen, Rollenmusterund Verhaltensweisen, in die man hineingewachsen bzw. „enkulturiert“ worden ist,die einem gewissermaßen in Fleisch und Blut übergegangen sind und eine fraglo-

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se Orientierung „in den Netzen der Lebenswelt“ (Geertz) sowie im gesellschaftli-chen Umfeld ermöglichen.Bezieht man diesen Blick auf das Alltagskulturelle auf den Bereich Bildung undLernen, so lassen sich auch hier überlieferte Plausibilitäten, Gewissheiten und Ak-tionsmuster identifizieren, die uns i. d. R. überhaupt nicht oder erst bei reflexiverAnalyse „fragwürdig“ werden. Diese unausgesprochenen Vertrautheiten bzw.„Selbstverständlichkeiten“ konstituieren die Lernkultur, wobei insbesondere die fol-genden m. E. von einer grundlegenden Bedeutung sind:– Die Trennung von Lehren und Lernen, womit zwei folgenreiche Konnotationen

einhergehen, nämlich einerseits die, dass derjenige, der lernt, nicht lehrt, undandererseits die, dass Lehren eine zwangsläufige Bedingung von Lernen sei.Es sind diese Differenzierungen bezüglich der Zusammenwirkung von Lehrenund Lernen, auf die es zurückzuführen ist, dass wir in den Bildungssystemender modernen Gesellschaften eigentlich eher Belehrungs- als Lernkulturen an-treffen.

– Das Lernen im Gleichschritt (bzw. die Synchronität des Lernens), d. h. die An-nahme, dass institutionalisiertes Erwachsenenlernen i. d. R. in der Form einerparallelen Gleichschaltung der individuellen Lernprozesse geschehen kann bzw.„muss“. Deshalb hat sich auch auf allen Stufen das sog. Unterrichtsgesprächals ein vermeintlicher Dialog mit dem Lerner entwickeln können. Aus der Lehr-Lern-Forschung und der Unterrichtsforschung wissen wir aber, dass bei diesemDialog die Lernerseite sich oft nur sehr „einsilbig“ einzubringen vermag, wes-halb es sich in Wahrheit eigentlich doch eher um einen Frontalunterricht als umeinen Dialog handelt.

– Der einseitige Methodenbesitz im Lehr-Lern-Prozess: Damit ist der Sachverhaltbezeichnet, dass es in der Regel die Dozenten, Lehrer und Kursleiter sind, dieüber den Einsatz der Lernmethode entscheiden. Diese Einseitigkeit desMethodenbesitzes wird allerdings in einer gesellschaftlichen Situation mehr undmehr zum Problem, die darauf angewiesen ist, dass ihre Bürger über die Fähig-keit zum selbstgesteuerten und lebenslangen Lernen verfügen, d. h. Selbst-lernkompetenzen aufweisen.

– Die Fixierung auf Lerngegenstände bzw. -inhalte: Immer noch ist unser Bildungs-system auf allen seinen Etagen mehr oder weniger stark von der Vorstellunggeprägt, dass es einen Bestand an inhaltlichen „Errungenschaften“ (z. B. Kultur-inhalten) gäbe, die es „wert“ sind, an die Nachwachsenden vermittelt zu wer-den. So betrachtet sind unsere Lernkulturen Überlieferungskulturen. Erst all-mählich wird die „Krise der Fachbildung“ (vgl. Arnold 1996) erkannt, und manbegreift, dass Bildung in einer Gesellschaft mit einer exaltierenden Veralterungs-rate des Wissens anders und neuartig begründet werden muss.

Mit dem Begriff „Lernkultur“ wird zunächst einmal der ganzheitliche Bezug auf dieBesonderheiten des Lernens und seiner gesellschaftlichen Organisation in denBlick gerückt. Damit wird Selbstdistanzierung möglich. Indem uns „klar“ wird, dassunsere Art, über Lehren und Lernen nachzudenken, Ergebnis und Ausdruck unse-rer eigenen lernbiographischen Prägungen ist, und indem uns klar wird, dass un-

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sere Anschauung zwar kontaminiert ist von der Vorstellung einer Trennung vonLehren und Lernen, eines Lernens im Gleichschritt, eines einseitigen Methoden-besitzes sowie einer Fixierung auf die Inhaltlichkeit von Lehr-Lern-Prozessen, re-lativieren wir diese Konzepte und eröffnen uns so die Möglichkeit, uns alternativeLernkulturen „vorzustellen“ bzw. „anzuschauen“. Diese zeichnen sich zunächst inden reformpädagogischen Gegenentwürfen zu den erwähnten überlieferten Kon-zepten ab. Indem uns die Strukturen unserer lernkulturellen Vertrautheiten „bewusst“werden, sind wir in der Lage, diese zu transzendieren, wobei der Begriff der Lernkul-tur tatsächlich neue Anschauungen bzw. neue Sichtweisen auf den Gegenstandermöglicht.

2. Die Überwindung erwachsenenpädagogischer „Blindheiten“

Nicht alles, was dabei in den Blick rückt, ist spektakulär neu, vieles entspringtvielmehr unmittelbar erwachsenenpädagogischer Tradition. Zu erinnern ist in die-sem Zusammenhang insbesondere an die laienpädagogischen Ansätze der Er-wachsenenbildung sowie an die „Arbeitsgemeinschaft“ der 20er Jahre dieses Jahr-hunderts als eine Form des dialogischen Selbsthilfelernens, welche getragen warvon einer grundlegenden Skepsis gegenüber allen Formen des expertenschaftlichbevormundenden Lehrens. Gleichzeitig war schon damals der Gedanke leben-dig, dass Erwachsenenlernen prinzipiell etwas mit einer Veränderung des „Ich-Gesichtswinkels“ (Mann) zu tun habe, immer ein Erfahrungslernen i. S. eines„methodisch gelenkten Erfahrungsaustauschs“ (Gieseke/Siebers 1996, S. 208) seiund deshalb auch immer eine grundlegende Eigenaktivität des Subjektes erfor-dere.Aber erst die Hinweise der konstruktivistischen Lerntheorie, dass „Lehre“ nichtautomatisch zum Lernen führt, dass Lernen prinzipiell nur selbstgesteuert als einenachhaltige Kompetenzentwicklung bzw. als „Selbstregulation eines kognitivenSystems“ (Siebert 1999, S. 21) gelingen und dass Lehre auch Lernen „behindern“kann, haben dazu geführt, das vornehmlich lehrorientierte Denken in der Didaktikgrundsätzlich in Frage zu stellen. Man sucht auch und gerade in der Erwachsenen-bildung nach einer neuen Lernkultur, die – wie der Name schon sagt – eine Lern-

und keine Lehrkultur ist (vgl. Arnold/Schüßler 1998). Bei dieser Suche wird mehrund mehr die Fragwürdigkeit ausschließlicher Vermittlungsvorstellungen (Wissenvermitteln, Qualifikationen vermitteln usw.) erkannt und man enthüllt recht scho-nungslos die technokratischen Illusionen, auf denen diese erzeugungsdidaktischenVorstellungen unausgesprochen basieren und von denen die der Machbarkeit undKontrollierbarkeit von Bildung, Qualifikation oder Kompetenz die wohl grundle-gendste ist. Demgegenüber wird auf eine Integration von intentionalem und er-fahrungsorientiertem Lernen hingearbeitet, nach dem Motto: Wenn es so ist, dassMenschen nur durch Selbstaneignung lernen und dass ihnen Wissen nicht „gege-ben“ werden kann, sondern sie dieses in ihrer Kognition selbst wiedererschaffenmüssen – und hieran lässt die konstruktivistische Lehr-Lern-Forschung keinerlei

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Zweifel! –, dann müssen unsere Aus- und Weiterbildungsansätze dies auch er-möglichen. Die Gestaltung der Lernkulturen erweist sich dabei als die eigentlicheZukunftsfrage unserer Bildungssysteme, wie u. a. auch die sog. „Rau-Kommissi-on“ in NRW 1995 in ihrer Denkschrift „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“feststellt. Dort heißt es:„Schule soll sich auf das Lernen konzentrieren, jedoch nicht im Sinne einer histo-risch überwundenen Lernschule. Schule bedarf vielmehr der Ausgestaltung undAusformung einer Lernkultur, die Mittelpunkt für die damit verbundenen erzieheri-schen und sozialen Aufgaben sein kann.Der traditionelle Lernbegriff geht von einem festen, geschlossenen Wissenskanonund einem auf seine Vermittlung hin organisierten Unterrichtsplan aus. Er ist aufLernergebnisse im Sinne von Reproduktion überprüfbaren Wissens orientiert.Das von der Kommission vertretene Verständnis von Lernen und Lernkultur setztdemgegenüber andere Schwerpunkte. Es zielt darauf, in den Lernzusammenhän-gen Identitätsfindung und soziale Erfahrung zu ermöglichen. Dies erfordert andersgestaltete Lernsituationen. Sie müssen Fachlichkeit und überfachliches Lernen,individuelle und soziale Erfahrungen, Praxisbezug und die Einbeziehung des ge-sellschaftlichen Umfeldes miteinander verknüpfen“ (Bildungskommission 1995, S.XIVf.).Diese Überlegungen sind auch für die Gestaltung des Erwachsenenlernens vongrundlegender Bedeutung. Sie helfen, einige didaktische „Blindheiten“ zu über-winden, zu denen u. a. die Annahme von der Erfolgs- oder Wirkungssicherheitdidaktischen Handelns zählt. Didaktisches Handeln ist nicht „wirkungssicher“. Glei-che Inputs können bei unterschiedlichen Lernsubjekten, in unterschiedlichen Kon-texten sehr unterschiedliche Wirkungen entfalten, was gleichwohl nicht heißt, dasses nicht auch gewisse Erfahrungswerte für lernförderliches didaktisches Handelngibt – aber eben nur Erfahrungswerte, keine Gesetzmäßigkeiten (vgl. Arnold/Krä-mer-Stürzl/Siebert 1999). Auch bei der Gestaltung des Erwachsenenlernens kannes deshalb lediglich darum gehen, die Voraussetzungen für ein selbsttätiges Ler-nen in einem umfassenden Sinne bereitzustellen. Dabei muss auch dem implizi-ten Lernen eine stärkere Beachtung geschenkt werden, da häufig das Wie desLernprozesses nachhaltigere Kompetenzentwicklung bzw. -verhinderung mit sichbringt als das explizit-geplante Lernen. Angesichts der Verfallsrate des Wissens,welche natürlich nicht das ganze Wissen in seiner Breite, aber doch seine jeweilsaktuellen Versionen betrifft, ist unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten oftmals rele-vanter, wie der Lernprozess didaktisiert war, d. h., welche methodischen und so-zialen Aktivitäten seitens des Lerners er gefordert hat, als das, was darin inhaltlicheine Rolle spielte. D. h., unter dem Gesichtspunkt einer ganzheitlichen Kompe-tenzentwicklung „gewinnt die Methode bzw. besser: das methodische Setting desLernprozesses an Bedeutung, d. h. die Art und Weise, wie die Unterrichts-organisation zwischen den Lehrenden, dem Lernenden und dem Inhalt arrangiertist. Diese organisatorische Komponente hat eine vom inhaltlichen Lernerfolg weit-gehend unabhängige Wirkungsdimension ... Unter dem Aspekt der Lernkultur kommtdem impliziten Lernen eine besondere Bedeutung zu. Dieses besteht aus der Über-

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nahme von Haltungen, Einsichten, Gewohnheiten sowie Kompetenzen, die unaus-gesprochen, beiläufig und unterschwellig vermittelt werden. Es ist insbesonderedieses implizite Lernen, welches für den Erwerb oder Nichterwerb von Schlüssel-qualifikationen, Lernhaltungen, Problemlösungsfähigkeit und Selbständigkeit vonzentraler Bedeutung zu sein scheint. In diesem ,heimlichen Lehrplan’ lernen Schü-lerinnen, Schüler, Studierende oder Auszubildende im Rahmen der Leitplankeneines überfüllten Curriculums eben gerade nicht nur die deklarierten Inhalte, son-dern vielfach auch, dass Lernen ein geführtes Lernen ist und häufig kaum etwasmit ihren Fragen oder ihren Gegenständen zu tun hat. Andererseits können inreformpädagogischen Ansätzen eines alternativen und offenen Lernens, in demProjekte durch die Lernenden selbständig bearbeitet werden oder Inhalte selbstangeeignet werden können, auch Erfahrungen gesammelt werden, die zeigen, dassin solchen alternativen Lernkulturen auch die Eigeninitiative sowie ein Vertrauen indie eigenen Kräfte und Kompetenzen entwickelt werden können“ (Arnold/Schüß-ler 1998, S. 8f.; vgl. auch Arnold/Müller 1999).Die derzeit entstehende didaktische Diskussion um Lehr-Lern-Arrangements, umvirtuelle Lernumwelten sowie um multimediale Infrastrukturen des Lernens sindAusdruck dieser ermöglichungsdidaktischen Wende in der Aus- und Weiterbildung(vgl. Arnold 1996). Bei dieser Wende geht es allerdings nicht um eine völlige Ta-buisierung der Lehre, ihr Ziel ist vielmehr eine „intelligentere“ Nutzung der Lehr-ressourcen. Die Funktion von Lehre soll sich nicht länger in einer – oft auch nurverbalen – Präsentation von Inhalten erschöpfen, ihre Funktion ist vielmehr durchdie Präsentation von Aufgabenstellungen, das Zur-Verfügung-Stellen von „Wis-senskonserven“ (Nachschlagewerke, Lehrbücher, Dateien usw.) gekennzeichnet.Der ermöglichungsdidaktische „Lehrer“, „Dozent“ oder „Ausbilder“ verwaltet nichtlänger mehr Inhalte, er „verwaltet“ bzw. eröffnet vielmehr Zugang zu denselben,managt Aufgaben- und Problembearbeitungen, fördert systematisch und kontinu-ierlich die Methoden- und Selbstlernkompetenz der Lerner und steht als Beraterbei der individuellen Aneignung und kognitiven Anverwandlung von Neuem zurVerfügung. Nur wenn es gelingt, die Lernverantwortlichkeit in dieser Form wiederstärker dem Lernsubjekt zurückzugeben, wird es auch gelingen, lernende Orga-nisationen aufzubauen, das sind Organisationen des lebenslangen Lernens, indenen die Menschen ihre Arbeit und ihre Lernprozesse selbständig planen und –unter Nutzung hilfsbereiter Unterstützungssysteme – weitgehend autonom gestal-ten.

3. Die erwachsenenpädagogischen Implikationen der Lernkultur-orientierung

Welche Folgerungen lassen sich aus den vorgetragenen Überlegungen zur Eigen-ständigkeit und Konstruktivität bzw. Deutungsmusterverwobenheit („Deutungs-lernen“) des Erwachsenenlernens sowie zur „didaktischen Selbstorganisation“ undzum ermöglichungsdidaktischen „Arrangement von Lernumgebungen“ für die Ent-

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wicklung und Gestaltung von Erwachsenenbildungsmaßnahmen allgemein ablei-ten?Zunächst einmal ist m. E. der Gesichtspunkt von grundlegender Bedeutung, dassLernangebote in der Erwachsenenbildung grundsätzlich stärker vom Erschließungs-gesichtpunkt bzw. vom Gesichtspunkt der Erschließbarkeit her strukturiert werdensollten. Neben der Notwendigkeit, hierfür auch in einer Kultur des lebendigen Ler-nens gezielt die Selbsterschließungskompetenzen der Lerner zu fördern (vgl. Mül-ler 1995), gibt es aber auch eine mehr fachdidaktische Perspektive, die in diesemZusammenhang grundlegend ist. Dieser Gesichtspunkt findet seinen Niederschlagin einer Erneuerung bzw. Erweiterung der fachinhaltlichen bzw. fachdidaktischenPerspektive in der Erwachsenenbildung.Mit besonderer Dringlichkeit stellt sich diese Erweiterung der fachdidaktischenPerspektive in der beruflichen bzw. betrieblichen Weiterbildung dar: Denn geradeein auf die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen gerichtetes berufliches Ler-nen benötigt neben der Aneignung von nüchternen inhaltlichen Kenntnissen, Fähig-keiten und Fertigkeiten auch die Förderung von übergreifenden, stärker allgemei-nen und persönlichkeitsbezogenen Elementen. Erforderlich ist hierfür eine didakti-sche Konzeption, die bei der Auswahl, Aufbereitung und Vermittlung von Fachin-halten nicht nur das fachlich Notwendige detailliert prüft, sondern auch das außer-fachlich Notwendige systematisch im Blick behält und so den Lernprozess im „Ste-reoton“ konzipiert. An die Stelle von Abhak- und Detailwissen muss didaktischesWissen treten. Entscheidend ist dabei, dass die Didaktisierung handlungsorientierterfolgt, d. h. systematisch nach der möglichen Eigentätigkeit des Lernenden zurErschließung und zum Transfer des Lerngegenstandes „fragt“. War Fachdidaktik –die wir in der erwachsenenpädagogischen Debatte kaum kennen – immer schonals Versuch zu verstehen, die Struktur einer Sache bzw. eines Faches zunächst zurekonstruieren, sodann ihre einzelnen Bestandteile im Hinblick auf ihre spezifi-sche Lernrelevanz und im Hinblick auf die „Fasslichkeit“ (Grüner) durch die Lernerzu gewichten und zu reduzieren, so ist für die handlungs- und aneignungsorien-tierte Didaktisierung darüber hinaus ein operatives Denken, d. h. ein Denken inmöglichen Lernerhandlungen kennzeichnend. Für ein solches operatives Denkensind die Frage nach der didaktischen Komplexion („In welche berufspraxis- undhandlungsbezogenen Problemstellungen ist das fachlich Notwendige ,einbettbar’?)und die Frage nach dem didaktischen Arrangement („Welche systematischen Vor-kehrungen müssen getroffen werden, damit Selbsterschließung gelingt?“) von zen-traler Bedeutung. Inhalte sollten von Handlungszusammenhängen her entwickeltwerden, es sollte mit Aufgaben- und Problemstellungen gearbeitet werden, diebereits bewusst die individuelle Aneignung und den Transfer des Gelernten an-bahnen, dessen konkrete Umsetzung und Gestaltung jedoch dem Lerner selbstüberlassen. Eine erwachsenengemäße Gestaltung beruflicher Bildungsprozessehätte demnach „im Stereoton“ zu erfolgen, d. h., sie wäre in diesem Sinne danngegeben, wenn die folgenden fachdidaktischen Gestaltungsaufgaben systematischrealisiert würden, nämlich a) eine klar begründete Analyse und didaktische Reduk-tion des „fachlich Notwendigen“ und b) eine Aufbereitung inhaltlicher Lernprozes-

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se, die sowohl selbsterschließungsorientiert („didaktisches Arrangement“) als auchhandlungsorientiert („didaktische Komplexion“) ist.

Literatur

Arnold, R.: Die Krisen der Fachbildung. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis 1996,H. 1, S. 9–15

Arnold, R./Krämer-Stürzl, A./Siebert, H.: Dozentenleitfaden. Planung und Unterrichtsvorbe-reitung in Fortbildung und Erwachsenenbildung. Düsseldorf u. a. 1999

Arnold, R./Müller, H.-J. (Hrsg.): Kompetenzentwicklung durch Schlüsselqualifizierung. Balt-mannsweiler 1999

Arnold, R./Schüßler, I.: Wandel der Lernkulturen. Darmstadt 1998Bildungskommission NRW: Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft. Denkschrift der Kom-

mission „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“ beim Ministerpräsidenten des LandesNordrhein-Westfalen. Neuwied 1995

Fischer, A./Hartmann, G. (Hrsg.): In Bewegung – Dimensionen der Veränderung von Aus-und Weiterbildung. Festschrift für Joachim Dikau zum 65. Geburtstag. Bielefeld 1994, S.305–313

Gieseke, W./Siebers, R.: Zur Relativität von Methoden in erfahrungsverarbeitenden Lernkon-texten. In: Arnold, R. (Hrsg.): Lebendiges Lernen. Baltmannsweiler 1996, S. 207–214

Holleis, W.: Unternehmenskultur und moderne Psyche. Frankfurt/M. 1987Holzkamp, K.: Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt/M. 1993Kösel, E.: Die Modellierung von Lernwelten. Ein Handbuch zur subjektiven Didaktik. Elztal-

Dallau 1993Krapf, B.: Aufbruch zu einer neuen Lernkultur. Bern u. a. 1993Müller, H.-J.: Didaktische Strukturierung als Selbsterschließungsstrukturierung. In: Derichs-

Kunstmann, K. u. a. (Hrsg.): Theorien und forschungsleitende Konzepte der Erwachse-nenbildung. Beiheft zum Report. Frankfurt/M.: DIE 1995, S. 153–160

Siebert, H.: Pädagogischer Konstruktivismus. Eine Bilanz der Konstruktivismusdiskussionfür die Bildungspraxis. Neuwied 1999

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Heinrich Dauber

Neue Lernkulturen

„Der mythische wissenschaftliche Respekt der Völ-ker vor dem Gegebenen, das sie doch immerzuschaffen, wird schließlich selbst zur positiven Tat-sache, zur Zwingburg, der gegenüber noch die re-volutionäre Phantasie sich als Utopismus vor sichselber schämt und zum fügsamen Vertrauen aufdie objektive Tendenz der Geschichte entartet“(Horkheimer/Adorno 1968, S. 56).

„Wir werden nur wissen, was wir tun.Wir werden nur haben, was wir teilen.Wir werden nur lernen, was wir leiden.“1

Gesetzt den Fall, ich würde alles über die sog. Wirklichkeit, d.h. über das, was fürmich Bedeutung hat und in diesem Sinn für mich gültig, also wahr ist, dem Fernse-hen, dem Internet, der Tageszeitung, dem Wochenjournal oder wissenschaftlichenPublikationen entnehmen; gesetzt, die Wirklichkeit wäre, was diese Medien mirals einzige Möglichkeit, mich zu orientieren, vorgaukeln: Woraus bestünde meinLeben außer aus einer ,second-hand’-Wirklichkeit, aus einem Wust von statisti-schen Daten und Informationen? Was bliebe mir übrig zu tun? Wohl nicht viel mehr,als ,fügsam’ auf die ,objektive Tendenz der Geschichte’ zu vertrauen, von derHorkheimer und Adorno im Jahre 1944 sprachen. Und durch wen oder was wirddie scheinbar ,objektive Tendenz der Geschichte’ heute repräsentiert?Glaubt man den Informationen, die die sog. Wissensgesellschaft zur Verfügungstellt, so scheint die Welt vor allem aus globalen Krisen der Aktienmärkte und su-pranationalen Konzernfusionen, aus Glücksspielen junger Millionäre und Macht-spielen alter Männer, aus Völkermorden, nationalistischen und religiösen Kriegen,aus fundamentalistischen Ideologien und Umweltkatastrophen globalen Ausma-ßes, aus internationalen ,funtrends’ und Glücksversprechen durch künftige Bio-technologien zu bestehen. Die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit reduziertsich auf den Konsum von ,events’. Ist das der Kern der neuen Lernkulturen: der

flexible Mensch in der Kultur des neuen Kapitalismus (vgl. Sennett 1998)?Ganz unwissenschaftlich, aber offen gesagt: Ich finde es ziemlich unerträglich,was uns im Milleniumjahr tagtäglich von den Massenmedien und selbsternanntenExperten an neuen, ,objektiven’ Lernherausforderungen und -kulturen zugemutetwird. Vieles davon hielte ich schlichtweg für Quatsch, wenn nicht dadurch eineStimmung erzeugt würde, die immer mehr Menschen an ihrem Recht und ihrerFähigkeit zweifeln lassen, das eigene Leben selbstverantwortlich in die eigene Handzu nehmen.2

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Zweifellos ist es notwendig und sinnvoll, sich auch im pädagogischen Diskurs überdie gesellschaftlichen (Mega-)Trends3 zu verständigen, um nicht idealistischen Il-lusionen nachzujagen. „In history one does what is historically possible and notwhat one would like to do“, sagte Paulo Freire4 einmal im Blick auf die pädagogi-sche Zunft und ihre Neigung zu Allmachts- und Ohnmachtsphantasien. Wie ge-sagt: Über ,objektive Tendenzen’ lässt sich sicherlich differenziert streiten. (Vieleder noch vor wenigen Jahren sich selbst so apostrophierenden Verhältnisse ha-ben sich über Nacht abgeschafft.) Sich diesen in ,fügsamem Vertrauen’ im Kopf zuunterwerfen, wie es z. B. in der inflationären Verwendung ökonomischer Mode-begriffe im professionellen erziehungswissenschaftlichen Diskurs zum Ausdruckkommt, zeigt m. E. einen erschreckenden Niedergang genuin pädagogischen Den-kens.Ohne in falscher Weise zu dichotomisieren, stehen wir heute, so scheint mir, alsPädagogen und Erwachsenenbildner vor einer Art Wasserscheide: Sollen wir Bil-dungsprogramme entwickeln, die Menschen befähigen, in einer von ihnen nichtkontrollierten und nicht kontrollierbaren (Um-)Welt zu überleben, oder sollen wiruns um die Verteidigung, Wiedereroberung und Neugestaltung des grundlegen-den Rechts auf Bildung bemühen: nämlich sich selbst auf persönlicher und politi-

scher Ebene in einer zerbrechlichen und doch kraftvollen Weise zur Welt und den

herrschenden Verhältnissen gestaltend in Beziehung zu setzen?

„The truth is, however, that it is not education which forms society in a certain way.It is society which, having formed itself in a certain way, establishes the educationto fit the values which guide the society. However, since this is not a mechanicalprocess, the society which structures education to meet the interests of those whohold power then finds in education a fundamental factor for the preservation of thispower.Seeing education as the lever for the transformation of reality is the result, in part,of an inadequate understanding of the cycle which we have referred to above. It isbased on the second stage of the cycle – the stage where education functions asthe instrument for the preservation of society. It is as if those upholding this viewagreed that if education maintains society it is because it can transform that whichit maintains. They always forget that the power which created it will never alloweducation to be turned against it. It is for this reason that the profound and radicaltransformation of education as a system cannot take place – and anyway never inan automatic or mechanistic way – except when society also is radically trans-formed“.5

Anstatt ,objektive Tendenzen’ als Ausgangspunkt zu nehmen, werde ich in gut her-meneutischer Tradition im folgenden Beitrag von zwei kleinen Alltagsszenen aus-gehen und einige – aus meiner Sicht – wichtige, zum Teil ältere Texte zitieren, dieAnlass für weitere Überlegungen und Fragen bieten.

Szene IIn den Ferien wird der Gemeinschaftsraum des 350 Jahre alten Hofes, auf dem ichseit 20 Jahren mit zwei anderen Familien hause, von sechs großen Jugendlichen,

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besser: erwachsenen jungen Männern, durchschnittlich elf Stunden am Tag füreine LAN-Party6 genutzt. Bei einem kurzen Besuch werde ich Zeuge folgendergebrüllter Unterhaltung (die gespannt vor ihren Bildschirmen sitzenden Spielerhaben Kopfhörer auf):„Fotze!!“„Ha, ha, ha. Echt, dich hat’s zerrubbt.“„Das ist ja geil.“„Wie ein Hammer.“„Hey, macht mal langsam, ich bin noch gar nicht drin.“Das Beispiel scheint polemisch ausgewählt und legt eine psychoanalytische Inter-pretation nahe. Ich habe mich zunächst schlicht gefragt: Ist das die neue Lern-kultur?Zum einen hat mich tief beeindruckt, mit welch disziplinierter Konzentration, Aus-dauer und motorischer Fingerfertigkeit diese jungen Männer auf die schnell ablau-fenden Videobilder reagieren. Gleichzeitig war ich geschockt, ich gestehe es ganzunverhohlen ein, auf welch inhaltlichem und sprachlichem Niveau sich ihre ,Unter-haltung’ auf den Bildschirmen und untereinander abspielte. Aber: Sind es nichteben diese Fähigkeiten und Fertigkeiten, die von immer mehr Menschen ,rundums Internet’, wo angeblich Hunderttausende neuer Arbeitsplätze entstehen, gefor-dert sind: die blitzschnelle, abstrakte Verarbeitung von Informationen nach denunpersönlichen Regeln eines Systems, dessen Abläufe weitestgehend vorgege-ben sind?7

Und wie reagiert die Politik auf diese technologischen und damit einhergehendensozialen Umbrüche? Was meint der CDU-Vorsitzende Schäuble eigentlich, wenner auf dem Bildungskongress seiner Partei im August ’99 feststellt, dass es nichtreicht, wenn alle Schulen mit Internetanschluss ausgestattet werden, sondern dasses um die Vermittlung von Werten gehe? (Auch ein zeitgemäßes Thema der päd-agogischen Zunft – vgl. Nipkow 1998; Postman 1995; von Hentig 1999; Wissenund Werte ... 1998). Welche Werte werden in diesen Lernkulturen denn vermittelt:survival of the fittest? Möglicherweise fehlt mir schlicht die Erfahrung, dass ,dieelektronischen Kommunikationsmedien ein kommunikatives und interaktives Ler-nen fordern und erleichtern (sic!)’ – so eine allenthalben zu hörende Behauptung(vgl. Dohmen 1998, S. 61). Dabei will ich keineswegs bestreiten, dass ein solcherInformationsaustausch über elektronische Medien, wenn es vorwiegend um denAustausch von Informationen geht, hilfreich sein kann, wahrscheinlich sogar demwissenschaftlichen Fortschritt in bestimmten Bereichen förderlich ist.Dennoch: Meine persönlichen Lernerfahrungen wie meine Erfahrungen in der Rol-le des Hochschullehrers und Therapeuten (vgl. Dauber 1997), des interkulturellenForschers (vgl. Dauber u.a. 1998) und Praktikers von Improvisationstheater be-stärken mich in meiner Überzeugung: Was wir brauchen, ist nicht so sehr der Aus-tausch von noch mehr Daten, an denen wir zu ersticken drohen, sondern die ge-meinschaftliche Verständigung darüber, wie wir leben wollen. Ist dies im Internetmöglich?Da scheint mir ein etwas in Vergessenheit geratener Text noch ganz aktuell:

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„Nach unserer Überzeugung dürfen niemandem die Mittel verwehrt werden, vondenen er glaubt, dass er sie braucht, um seine Probleme gemeinsam mit anderenanzugehen und in den Griff zu bekommen. ...Die Fürsprecher der neuen Erwachsenenbildung verkündigen einen Wandel in denProgrammen, den Institutionen, den Medien und Formen der Finanzierung.Solange Erwachsenenbildung jedoch von dem gleichen heimlichen Lehrplan ge-prägt ist wie alle Systeme verschulten Lernens, wird sie allein dazu dienen, dieherrschenden sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen fortzu-schreiben.Wir sind der tiefen Überzeugung, dass alle Menschen, welchen Alters auch immer,das Recht haben, selbst zu entscheiden, was sie lernen wollen, wie, wann und wo.Wissen muss darum für jedermann und zu jeder Zeit zugänglich sein. Keine Insti-tution darf Wissen monopolisieren oder seine Verteilung von Prüfungen abhängigmachen. Lernen, Leben und Arbeiten sollen ständig miteinander verwoben sein.Während wir leben, lernen wir. Lernen ist ein Ausdruck von Leben; Menschen ler-nen ununterbrochen, ihr ganzes Leben lang. Das Lernen des einen ist nicht mehrwert als das Lernen des anderen; es ist anders.Dennoch gibt es Leute, die mehr sogenanntes ‚Wissen‘ haben als andere, was nurein Ausdruck dafür ist, dass sie die Macht hatten, einen besseren Zugang zu an-deren Menschen, Informationen oder Hilfsmitteln zu gewinnen.Um diese Macht zu brechen, muss jedermann Zugang haben zu allen Formen vonWissen, das heißt gleiche Zeit, finanzielle Möglichkeit und Freiheit zum Lernensowie freien und unmittelbaren Zugang zu all den Personen, Informationen undHilfsmitteln, deren er zum eigenen Lernen bedarf“ (Der Preis ... 1976, S. 15 ff.).Ich halte diese 1974 in Cuernavaca in einer internationalen Gruppe von Er-wachsenenbildnern erarbeitete Erklärung in ihrer wesentlichen Argumentation fürnach wie vor stichhaltig. In der Weiterbildungsdiskussion wurde sie damals wenig,zumeist nur in ihrem schulkritischen Akzent rezipiert.Interessanterweise werden die dort gemachten Vorschläge in jüngster Zeit – zu-mindest in ihrer Begrifflichkeit – aufgegriffen, um unter dem Dach einer europäi-schen Weiterbildung „Lebenslangen Lernens für Alle in veränderten Lernumwelten“(vgl. Dohmen 1998) zu propagieren:„Damit die offene Informations- und Mediengesellschaft zu einer ,Wissensgesell-schaft’ wird, müssen die Bürgerinnen und Bürger immer wieder disparate Infor-mationen zu sinnvoll zusammenhängendem Wissen verarbeiten, d. h., sie müs-sen ihr Leben lang konstruktiv ,lernen’.Die ideale Lernumwelt für dieses lebenslange Lernen ist eine moderne Lern-

gesellschaft, in der vielfältige Lernanregungen, Lernmöglichkeiten und Lernhilfenan den verschiedensten Lernorten konzertiert und synergetisch zusammenwirken....,Lerngesellschaft’ meint nicht eine durchpädagogisierte Gesellschaft, deren Haupt-charakteristikum die ständige Erziehung und pädagogische Führung der Menschenin allen Lebensbereichen, Lebenslagen und Lebensaltern ist, sondern eine Ge-sellschaft, in der vorhandene Lernmöglichkeiten in verschiedenen Erfahrungsbe-

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reichen erschlossen bzw. neu entwickelt werden und in der eine das Lernen aller

Bürgerinnen und Bürger anregende, unterstützende und anerkennende Gesamt-

atmosphäre – aber kein Zwang zum Lernen und keine pädagogische Gängelung –entsteht. Bei der Lerngesellschaft geht es darum, die Umwelt, aus der ja die we-sentlichsten Anstöße zum menschlichen Lernen kommen, zu einer lernfreundlichen

Umgebung zu machen, die das sinn- und verstehensuchende Lernen aller Bürge-rinnen und Bürger sowohl anregt wie auch erleichtert und unterstützt.In der Lerngesellschaft können sich Lerngemeinschaften bilden, die neue soziale

Verankerungen des lebenslangen Lernens ermöglichen und die Kluft zwischen

Wissenden und Nicht-Wissenden überwinden helfen“ (a.a.O., S. 34f., S. 61f.).8

Im Kern der von Illich in den frühen 70er Jahren angestoßenen sog. ,Entschu-lungsdiskussion’ stand nicht die Kritik an lehrerabhängigem, ,verschultem’ Lernen,sondern die Analyse der entmündigenden Folgen monopolisierender Programme,durch deren mythenbildende Metaphorik die anarchische Inanspruchnahme grund-legender Rechte (z. B. die eigenen Angelegenheiten gemeinschaftlich zu regeln)in einen institutionalisierten – eventuell sogar gesetzlich einklagbaren – Anspruchverwandelt wird, dem sich niemand entziehen kann. Und eben dies scheint mirauch heute der heimliche Lehrplan der neuen Bildungsprogrammatik alsQualifikationsoffensive zu sein:Niemand soll sich mehr einer gründlichen Selbstdiagnose und Beratung (,evalua-tion’ and ,controlling’) durch Experten entziehen dürfen, um selbst herauszufindenund selbstbestimmt zu entscheiden, welche Weiterbildungsbehandlung ihm (oderihr) zugute kommen soll.„Die handelnden Personen sind jetzt mit neuen ,Lehrern’ innerhalb und außerhalbder Schulen konfrontiert. Moderatoren, Animateure, Vermittlungsagenten, Beraterund Gebrauchsanweiser sind die neuen lebensbegleitenden ,Pädagogen’. Sie sindauf ein Gebilde zugeschnitten, das sich als Wissens-, Informations-, Erlebnis- oderRisikogesellschaft feiern lässt. ... Sie repräsentieren hergestellte Bedürfnisse, inDingen und Sachzwängen. Das sind produzierte Verhältnisse, denen die leibhafti-gen Personen noch nicht entsprechen (wollen oder können). Allgemeiner gesagt:Die Verhältnisse sollen nicht menschlich, sondern die Menschen sollen verhältnis-mäßig werden. ... Was Zwang war, soll Bedürfnis werden. Zumindest aber geht esum die innere Sicherheit von Kunden in der Akzeptanz vorgegebener Optionen.Das sind produzierte Angebote, Unumgänglichkeiten und Sachzwänge. Diese prä-sentieren sich gegenwärtig geschichtslos global in finaler Weise, also ohne Alter-native. Unter ihrem Regime erscheinen die Mädchen und Jungen, Frauen undMänner nur noch als ,Faktor Mensch’. Sie treten als statistisch berechenbare Res-sourcen und Risiken, als Risikofaktoren ihrer ,global vernetzten Standorte’ undihrer selbst auf. ... Als solche investieren sie in sich selbst – zur Erhöhung ihresMarktwertes. Dazu haben sie sich animieren und beraten zu lassen, sich zu modu-lieren und selbstentscheidend zu steuern“ (Beck 1999, S. 4 f.).Hier halte ich mit Johannes Beck – ganz im Sinne Illichs – dafür:Bildung ist das Resultat der freien Wahl und eigenen Entscheidung, eine persön-

liche Beziehung zu Menschen und zur Welt einzugehen. Menschen werden zu

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denen, die sie sind, indem sie sich besonnen und frei dafür entscheiden, etwas in

der richtigen Art zu tun.

Szene IIIm gleichen Gruppenraum trifft sich etwa zwei Wochen später ein gemischter Kreisvon Männern und Frauen, die jüngsten sind knapp 20, die ältesten über 60; essind Eltern und Großeltern, hier geborene und später zugewanderte Menschen,die Hälfte ohne deutschen Pass. Initiiert vom Partnerschaftsverein dieser Klein-stadt sind Leute zusammengekommen, die sich seit Jahren informell und ,ehren-amtlich’ um das Zusammenleben von deutschen und ausländischen Bürgerinnenund Bürgern kümmern. Diesmal soll ein gemeinsames Fest im örtlichen Jugend-zentrum vorbereitet werden. Die Rathaus-Statistik hatte ergeben, dass in dieser7.000-Seelen-Gemeinde fast 300 Menschen aus 51 verschiedenen Ländern ohnedeutschen Pass leben. Viele von ihnen sind der deutschen Sprache nur teilweisemächtig und isolieren sich deswegen auch weitgehend.Im Gespräch dieser Runde wird rasch deutlich, dass es nicht darum gehen soll,die vermeintlichen Defizite dieser ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgerauszuloten, um sie mit entsprechenden Angeboten seitens der Kommune oderirgendwelcher Vereine zu kompensieren, sondern darum, nach gemeinsamen Er-fahrungen, dem ,common ground’, zu suchen und sich im Austausch über diesegegenseitig kennen zu lernen.Entsprechend wird der Nachmittag organisiert: Neben gemeinsamem Essen undTrinken, Kinderprogramm mit Hüpfburg und Spielmobil stehen soziometrisch ge-staltete Begegnungen der Erwachsenen im Mittelpunkt. Wer ist wo geboren, auf-gewachsen, hat später wo gelebt? Wer hat Verwandte im Ort, in Deutschland, ir-gendwo in der Welt? Wer hat welche Interessen und Hobbies, sucht Partner fürgemeinsame Unternehmungen? Wer spricht welche (Mutter- oder Vater-)Sprachen?Ein für alle Beteiligten, auch den ganz jungen Bürgermeister, höchst vergnüglicherNachmittag, der Ortsansässige und Zugereiste, Hessen und Schwaben und Berli-ner, Philippininnen und Eritreerinnen, Albaner und Serben, Franzosen undRusslanddeutsche und viele andere auf der Basis ihrer gemeinsamen Erfahrun-

gen zusammenführt.Diese Szene spiegelt für mich ein allenthalben neu erwachtes Interesse an kollek-tiver Geschichte in Form von persönlich erlebten Geschichten. Und hier scheintsich mir wirklich das Zentrum einer neuen Lernkultur zu bilden: Während die Indi-viduen in den modernen Industriegesellschaften in sozialer Hinsicht immer isolier-ter leben und gemeinschaftsbildende Rituale fast völlig verschwunden sind, bildetsich gleichzeitig ein historisch neues Interesse an persönlich erlebter Geschichteheraus. Dies gilt sowohl für Gemeinden, die Geschichtswerkstätten einrichten, wiefür Institutionen wie Altersheime, in denen Erzählkreise gebildet werden, aber auchfür große Institutionen und umfassende politische Veränderungen, wie sie etwamit dem politischen und wirtschaftlichen Zusammenwachsen der Völker dieser Erdeverbunden sind.Eine sich international sehr rasch ausbreitende Form eines 1975 von Jonathan

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Fox in New York gegründeten Improvisationstheaters, das sog. Playback-Theater,verbindet alte Traditionen von ,oral history‘ mit modernen Ritualen der Gemein-schaftsbildung.„Der beste Weg, jemandem Playback-Theater zu beschreiben, der es nie gesehenhat, ist, ein Bild zu entwerfen. Stellen Sie sich einen Raum vor, an dessen einemEnde Platz für eine Bühne ist. Auf dieser Bühne sitzen mit dem Gesicht zum Publi-kum die Spieler. Links auf der Bühne sitzt, umgeben von Instrumenten, ein Musi-ker. Auf der Bühne rechts zwei Stühle. Auf einem sitzt der ,Leiter’, der als eine ArtZeremonienmeister fungieren wird. Auf dem anderen wird jemand aus dem Publi-kum sitzen, um von sich aus von einer persönlichen Erfahrung zu berichten. DerLeiter stellt bestimmte Fragen und übergibt, wenn das Interview abgeschlossenist, die Geschichte an die Spieler. In der Übergangsphase erklingt Musik. Dannstellen die Spieler die Geschichte mimisch, mit Bewegungen und improvisiertenWorten dar. Ihr Ziel ist, die Quintessenz der Geschichte des Erzählers zu erfas-sen. Nachdem die Geschichte in geeigneter Form bestätigt wird, kehrt der Erzäh-ler/die Erzählerin ins Publikum zurück. Ein anderer Erzähler kommt nach vorn.Eine Playback-Aufführung besteht aus einer Folge von Geschichten, die von Men-schen aus dem Publikum erzählt werden. Dabei handelt es sich um einen ganzund gar spontanen Prozess, der sich im Rahmen eines Rituals entfaltet. Auf dieFrage, was passiert, wenn niemand nach vorne kommen will, lautet die Antwortganz einfach, dann kann es kein Playback-Theater geben – aber das kommt sogut wie nie vor. Wenn die Menschen empfinden, dass die Atmosphäre von Re-spekt durchdrungen ist und die Spieler etwas können, ganz gleich aus welchemHintergrund oder welcher Kultur sie kommen, dann sind die Leute im Publikum inder Tat auch darauf erpicht, zu erzählen. Das führt zu hinreißendem Theater. Manhat die Chance, die Geschichte seines Nachbarn zu sehen. Oft fühlt man sichselbst im Innersten berührt“ (Fox 1999, S. 9).Vieles hat dazu beigetragen, dass seit einiger Zeit auch in Deutschland die Auf-merksamkeit für persönlich erlebte Geschichten aus dem viele Jahre besonderstabuisierten Themenbereich ,nationalsozialistische Vergangenheit’ gewachsen ist– samt der Bereitschaft, sie öffentlich zu erzählen.9 Ähnliche kulturelle Tendenzenzeigen sich auch in anderen Ländern, z.B. in Südafrika (Truth Commission), aberauch im ehemaligen Jugoslawien.10

Vielleicht ist eben dies der dialektische Gegenpol zum „flexiblen Menschen in derKultur des neuen Kapitalismus“ (Sennett): Als Menschen erleben wir die Welt –und uns in dieser – als eine Abfolge mehr oder weniger dramatischer Situationenund Szenen, in denen wir uns zueinander, zu den Dingen und zu uns selbst inBeziehung setzen. Aus dem bewussten Erleben dieses In-Beziehung-Tretens oderSich-in-Beziehung-Setzens kristallisiert sich der Kern unseres Selbst-Bewusstseinsheraus, den wir als unsere Identität zu bezeichnen pflegen.Dabei stellen die Situationen und Szenen unseres Lebens den ,Stoff’ dar, aus demsich unsere ,Identität’ bildet und uns bewusst wird, wenn wir sie als erzählte Ge-schichten vor anderen und uns selbst im inneren Erleben wieder auferstehen las-sen. Das Spielen der eigenen Geschichte(n) durch die Schauspieler und das Zu-

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hören der anderen potentiellen Geschichtenerzähler im Publikum schaffen im ritu-ellen Rahmen einer Playback-Theater-Aufführung eine Art Zeugenschaft für dieeigene Geschichte, die als soziale Bekräftigung wirkt und eine wesentliche Bedin-gung dafür ist, dass wir uns unsere Geschichten als unsere Geschichte zu eigenmachen, mithin Identität ausbilden.In einer Welt, die, dominiert von den Medien der Massenkommunikation, immerweniger Raum lässt für direkte soziale Bestätigung, verkümmert der Nährbodenfür selbstbewusste Identitätsbildung. Die Folgen sind Gefühle von Isolierung undgeistiger Desorientierung: Was spüre ich? Wer bin ich?So gesehen kann Playback-Theater verstanden werden als eine ritualisierte Formder Zeugenschaft, d. h. der Bestätigung und Bekräftigung als bedeutsam erlebterpersönlicher Geschichten in ,unserer Zeit’ mit dem Ziel, individuelle und kollektiveIdentitätsbildung kritisch und bewusst zu unterstützen.Um eben dies scheint es mir in der Tradition meiner eigenen großen Lehrer, IvanIllich und Paulo Freire, zu gehen: zu verhindern, dass der Schatten der Zukunft die

Vergangenheit verdunkelt und damit unsere Gegenwart auslöscht (Illich) und uns

immer wieder zu vergegenwärtigen, dass Bildung nicht statisch ist, sondern eine

grundlegende Potentialität des Menschen darstellt, die in der Praxis stets neu ent-

steht und die, um zu sein, werden muss (Freire).11

Wenn ich einer neuen Lernkultur langfristig eine Chance gebe, dann der einer ge-meinschaftlichen Verständigung darüber, wie wir leben wollen, nicht der, wie wirunsere individuellen Überlebenschancen verbessern können – und dies auf allenEbenen, der persönlichen wie der mikro- und makrosozialen Verhältnisse. Mögli-cherweise lässt sich beides miteinander verbinden. In diese Richtung deuten Bei-spiele wie die Lokale Agenda 21 und Arbeitsformen wie Zukunftswerkstätten undZukunftskonferenzen (vgl. Burow 1999).Eine solche pädagogische, kulturelle und politische Praxis (vgl. Bohm 1998) zufördern scheint mir die wichtigste Herausforderung für die Weiterbildung im Blickauf ,neue Lernkulturen’.12

Anmerkungen

1 Werner Simpfendörfer in seinem Festvortrag „Befreiung für Westeuropa – Protest undLiebe“, gehalten anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde, Universität/Gesamt-hochschule Kassel am 19.11.1985.

2 Ein kritische Auseinandersetzung mit diesen multiplen Formen von Entfremdung sowiepraxisnahe Beispiele einer selbstgestalteten Bildungsarbeit in der Erwachsenenbildungfinden sich in Stukenberg 1999.

3 Ekkehard Nuissl unterscheidet fünf solcher Megatrends: Deregulierung, Globalisierung,Individualisierung, Vermarktlichung, Mediatisierung. Er leitet in bildungspolitischer Per-spektive daraus drei Aufgabenfelder ab:– Voraussetzungen für lebenslanges Lernen zu schaffen,– institutionelle und selbstorganisierte Lehr-/Lernprozesse zu vernetzen,– korrespondierende Bildungssysteme zu schaffen und zu fördern.

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Die von ihm skizzierten zukünftigen strukturellen Akzente, inhaltlichen Impulse und finan-ziellen Schwerpunkte von Weiterbildungspolitik greifen diese Megatrends auf, ohne siejedoch selbst kritisch in Frage zu stellen (vgl. Nuissl 1998).

4 In: Pilgrims of the Obvious, risk Vol.11, No.1, 1975, ed.: Rex Davis, Dokumentation einerKonferenz des Weltrats der Kirchen (WCC), 6. September 1974, Genf, S. 16.

5 Paulo Freire, a.a.O.6 LAN-Party: Local Area Network Party. Dabei werden beliebig viele Computer zusammen-

geschaltet, um bei wachsender Rechnerleistung komplexe Videospiele zu spielen. Beson-ders beliebt ist ,Half Life’, in dem sich die Spieler in einer virtuellen Stadt mit virtuellenWaffen gegenseitig erledigen.

7 Ich sehe schon manche meiner Kollegen und Freunde missbilligend den Kopf schüttelnund höre sie sagen: „Aber das ist doch nur ein kleiner Teilaspekt der elektronischen Me-dien. Warum denn schon wieder so technologiefeindlich?!“ Meine eigene, begrenzte Er-fahrung mit diesen Technologien besagt, dass, je weiter ich mich darauf einlasse, destogrößer und umfassender mein eigener Beratungsbedarf wird. Dies schränkt meine Neu-gier erheblich ein.

8 Günther Dohmen, langjähriger Leiter des Deutschen Instituts für Fernstudien (DIFF) inTübingen, mit dem ich 1974 das von Ivan Illich gegründete Centro Intercultural diDocumentacion (CIDOC) in Cuernavaca, Mexiko, besuchte, um die ,Pitfalls of LifelongLearning’ zu studieren, scheint in seiner Argumentation den aus meiner Sicht fun-damentalen Widerspruch zwischen selbstbestimmtem Handeln, das aus ,kluger Besonnen-heit und freier Entscheidung’ (Illich) erwächst, und ökonomisch und sozial erzwungenerAnpassung auflösen zu können. Dohmen ist ganz gewiss kein Behaviourist, aber man-che seiner Formulierungen hinsichtlich dessen, was die neuen Technologien möglichmachen, könnten aus ,Walden two’ von B.F. Skinner stammen.

9 Zu dieser Veränderung der politischen Kultur haben verschiedene Ereignisse beigetra-gen: die 1933–45 im Untergrund verfassten Tagebücher des Romanisten Victor Klemperer;Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“; die nicht nur in Historikerkreisen, sondern inder Öffentlichkeit breit geführte Debatte um die Thesen von Daniel Goldhagens Buch„Hitlers willige Vollstrecker“; insbesondere aber die vom Hamburger Institut für Sozialfor-schung erarbeitete Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht ...“ sowie – last but not least– eine bemerkenswerte Bundestagsdebatte (163. Sitzung am 13. März 1997) über alldiese Fragen und Themen.

10 So hat z.B. auf dem NGO-UNO-Weltfrauenforum in Huairou, China, vom 31.8. bis 8.9.1995ein International Playback Women’s Team insgesamt 10 Aufführungen und 3 Workshopsangeboten, das aus 10 Spielerinnen aus USA, Japan, Australien, Neuseeland, Englandund der Schweiz bestand.

11 Karl Ernst Nipkow, Vorsitzender der Kammer für Bildung und Erziehung der Evangeli-schen Kirche in Deutschland (EKD), dessen bildungstheoretische, wenngleich nicht theo-logische und kirchliche Orientierung ich teile: „Wenn Bildung auf die Fähigkeit zum Nach-denken, Handeln und Leben zu richten ist und die Auslegung des Lebens den umgreifendenZusammenhang ausmacht – ein hermeneutischer Kontext, der einen reflexions- und ei-nen handlungstheoretischen Ansatz der Bildungstheorie einschließt –, ist zu fragen, wasdie kirchliche Bildungsmitverantwortung zur Lebensauslegung beiträgt, zur Hermeneutikdes Lebens.“Nipkow nennt drei Dimensionen einer Bildungsgesellschaft, in der das Bewusstsein vonZeit und Geschichte wachgehalten wird:„Sie verhindern, etwas als Naturverhängnis anzusehen, was von Menschen zu verant-worten ist, weil diese es aus geschichtlicher Erfahrung wissen müssten: das Elend derwechselseitigen Vernichtung menschlichen Lebens und der Zerstörung natürlicher Le-bensgrundlagen. Sie leisten einen Beitrag– zur Hermeneutik der Vergangenheit durch Bildung als Erinnerungsfähigkeit,

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– zur Hermeneutik der Gegenwart durch Bildung als Geistesgegenwart,– zur Hermeneutik der Zukunft durch Bildung als Zukunftsverantwortung“(Nipkow 1999, S. 8).

12 ,Wer braucht mich?’ ist eine Frage, die der moderne Kapitalismus völlig zu negieren scheint.Das System strahlt Gleichgültigkeit aus. Es tut dies bei den Ergebnissen menschlichenStrebens ebenso wie auf den Märkten des Alles oder Nichts, wo es kaum noch eineVerbindung zwischen Risiko und Belohnung gibt. Der Gewinner bekommt alles. Es strahltin der Organisation der Wirtschaft Gleichgültigkeit aus, wo das Fehlen von Vertrauenkeine Rolle mehr spielt, wo Menschen behandelt werden, als wären sie problemlos er-setzbar oder überflüssig. Solche Praktiken vermindern für alle sichtbar und brutal dasGefühl persönlicher Bedeutung, das Gefühl, für andere notwendig zu sein. ...Ein Regime, das Menschen keinen tiefen Grund gibt, sich umeinander zu kümmern, kannseine Legitimität nicht lange aufrechterhalten.“ (Sennet 1998, S. 210, 203).

Literatur

Beck, J.: Die Einpassung des Einzelnen. European Conference „Lifelong Learning – Insideand Outside Schools“. = Beck, J. u. a.: Der verhältnismäßige Mensch, Teil 1. Bremen 1999(nicht überarb. Vortragsmanuskript)

Bohm, D.: Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussion. Stuttgart 1998Burow, O.-A.: Die Individualisierungsfalle. Kreativität gibt es nur im Plural. Stuttgart 1999Dauber, H.: Grundlagen Humanistischer Pädagogik. Integrative Ansätze zwischen Therapie

und Politik. Bad Heilbrunn 1997Dauber,. H. u. a. (Hrsg.): „Das Projekt war doch ein Erfolg“. Schulen in interkulturellen Dia-

log. Ein medienpädagogisches Forschungs- und Kooperationsprojekt zwischen Deutsch-land und Zimbabwe. Die Geschichte einer Begegnung 1991–1996. Frankfurt/M. 1998

Dohmen, G.: Zur Zukunft der Weiterbildung in Europa. Lebenslanges Lernen für alle in ver-änderten Lernumwelten. Bonn 1998

Fox, J.: Was ist Playback Theater? In: Fox, J./Dauber, H. (Hrsg.): Playbacktheater – woGeschichten sich begegnen. Internationale Beiträge zu Theorie und Praxis des Playback-theaters, Bad Heilbrunn 1999

von Hentig, H.: Ach, die Werte! Ein öffentliches Bewusstsein vor zwiespältigen Aufgaben.Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert. München 1999

Horkheimer, M./Adorno, Th.W.: Dialektik der Aufklärung. Amsterdam 1968Nipkow, K.E.: Bildung in einer pluralen Welt. Band 1: Moralpädagogik im Pluralismus.

Gütersloh 1998Nipkow, K.E.: Bildungsgesellschaft und Christentum. In: Evangelische Aspekte 1999, H. 1Nuissl, E.: (Weiter-)Bildungspolitik im nächsten Jahrhundert. In: REPORT 1998, H. 41Postman, N.: Keine Götter mehr. Das Ende der Erziehung. Berlin 1995Der Preis lebenslanger Erziehung. Das Manifest von Cuernavaca. (CIDOC-Dokument I/V

74/70). In: Dauber, H./Verne, E. (Hrsg.): Freiheit zum Lernen. Alternativen zur lebensläng-lichen Verschulung. Reinbek 1976

Sennett, R.: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin1998Stukenberg, H.: Selbstgestaltete Bildungsarbeit in der Erwachsenenbildung – der Mensch

im Zentrum von Lernen und Veränderung (Dissertation). Regensburg 1999Wissen und Werte für die Welt von morgen. Dokumentation zum Bildungskongress des Baye-

rischen Staatsministeriums für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst, 29./30.4.1998.München 1998

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Klaus-Peter Hufer

Neue Lernkulturen in der politischen Bildung

1.Die politische Bildung hat sich gewandelt und wandelt sich weiterhin. Sie folgt da-mit konsequent den Änderungen in der Gesellschaft. Das wird im Folgenden zubelegen und zu begründen sein. Zunächst eine „phänomenologische Annäherung“an diese Aussage, und zwar durch Hinweise auf aktuelle Veranstaltungen und Pro-jekte der außerschulischen politischen Jugendbildung und der politischen Erwach-senenbildung:1

– Im vergangenen Herbst fand in Nordrhein-Westfalen eine dreiwöchige Schiffs-tour gegen Diskriminierung, Gewalt und Rassismus statt; angesteuert wurdensechs am Rhein gelegene Großstädte. Das Motto lautete: „Das Schiff kommt ...Jugendliche setzen die Segel“. In dem Programmheft heißt es u. a.: „An jeweilszwei Tagen pro Stadt werden ganztägige Workshops und Trainings angeboten,die in den Räumlichkeiten des Schiffes stattfinden oder vom Schiff ausgehendin die Städte hineingetragen werden. Der jeweilige dritte Tag ist der ,Tag deroffenen Luke’, der allen interessierten Jugendlichen und Erwachsenen ein um-fangreiches Kulturprogramm mit Konzerten prominenter Musikgruppen, Ausstel-lungen, Empfängen und Diskussionsrunden anbietet.“

– In Hamburg wurde das Projekt „Jugend im Parlament“ durchgeführt. Vier Tagelang erprobten 120 Jugendliche spielerisch im Rathaus der Hansestadt die Ar-beit der Bürgerschaft. Am Ende präsentierten sie mit einer Resolution ihre poli-tischen Forderungen.

– „Wo wächst mein T-Shirt?“ könnte beispielsweise ein Unterrichtsthema sein,bei dem es um Baumwolle, um die Geschichte der Kolonien und die wirtschaft-liche Lage von Dritte-Welt-Ländern geht. Jedenfalls gibt es hierzu von einemAktions-Netzwerk erarbeitet Unterrichtsmaterialien, die an Schüler und Schüle-rinnen der Klassen 6 bis 10 gerichtet sind.

– Mit dem 1. September 1939 beschäftigte sich sechzig Jahre später ein Seminarder Bundeszentrale für politische Bildung, der Grundtvig-Stiftung und des Bil-dungswerks der Humanistischen Union. Besichtigt wurden die Orte und Stättendes Beginns des Zweiten Weltkriegs, dabei wurden individuell-biographischeBezüge hergestellt und deutsch-polnische Begegnungen arrangiert.2

– Türkischstämmige Frauen aus Nordrhein-Westfalen kamen für eine Woche mitFrauen aus Mecklenburg-Vorpommern zusammen. Dabei wurden individuelleund kollektiv-biographische Differenzen und Gemeinsamkeiten entdeckt undbesprochen.3

– In einem „Argumentationstraining gegen Stammtischparolen“ erproben Teilneh-merinnen und Teilnehmer einen selbstsicheren Umgang mit fremdenfeindlichenSprüchen und strammen Polit-Parolen. Alle verhaltensmäßigen und sachlichen

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Erkenntnisse werden von der Gruppe selbst erarbeitet, ein Moderator/eine Mo-deratorin strukturiert lediglich den Prozessverlauf.4

– Ein Verbund von mehreren niederrheinischen Volkshochschulen stellt in einemVeranstaltungszyklus Geschichte und Politik der Nachbarländer vor und lässtdas jeweilige Verhältnis zu Deutschland kontrovers diskutieren. Diese Tagun-gen finden in atmosphärisch stimmiger und thematisch passender Umgebungstatt, es gibt kulinarische Spezialitäten und zum Abschluss ein kulturelles Spe-zialprogramm aus dem jeweiligen Land. Die Veranstaltungen sind stets gut be-sucht.5

Diese Beispiele mögen genügen, die Liste ließe sich lange fortsetzen. Veranstal-tungen und konzeptionelle Überlegungen wie die vorgestellten sollen verdeutli-chen, dass politische Bildung andere Wege geht und andere Bildungsarrangementspräsentiert, als die Klischees nahe legen. Diese sind eindeutig. So gab es beispiels-weise 1988 im Deutschen Bundestag eine der – wenigen – Debatten zur politi-schen Bildung. Dabei kritisierte der Abgeordnete Daweke, dass „die Sprache derpolitischen Bildung eine für viele unverständliche Sprache (ist)“ (Deutscher Bun-destag 1988, S. 3802). Die in der politischen Bildung Arbeitenden beschreibt erso: „Es gibt einen Phänotyp von politischem Bildner, der mich, gelinde gesagt,irritiert. Ich gebe zu, ich mache jetzt eine große Pauschalierung, aber ist es eigent-lich richtig, wenn ich den politischen Bildner als Phänotyp so beschreibe, dass eseiner ist, der eher larmoyant ist, verbissen, missionarisch, mit erhobenem Zeige-finger durch die Gegen gehend: ,Ich weiß es, bitte glaubt mir das!’ Damit mandann auch noch eine andere Meinung hört, spricht ein anderer Missionar dage-gen, und die streiten sich. Es gibt diesen Typ wirklich, und ich frage mich, ob daseiner ist, der die jungen Leute ... oder diejenigen in der Erwachsenenbildung tat-sächlich erreicht“ (ebd., S. 3803).

2.In diesem Debattenbeitrag spiegelt sich das Verständnis einer politischen Bildungwider, das sich in etwa so charakterisieren lässt: Weltfremd, besserwisserisch das,richtige’ Bewusstsein zur Schau tragend, stets belehrend und angesichts der Pro-bleme der Welt tief melancholisch wirkend, vollzieht der Bildner/die Bildnerin inkleinen Schritten seine weltgeschichtliche Mission. Diese erledigt er vor allem ingrauen Seminarräumen, dozierend, verkündend, mit milden Fragen an das Publi-kum, die er dann selbst mit passenden Zitaten eines politisch-philosophischen Klas-sikers oder mit Hinweisen auf die ,objektiven’ Gesetzmäßigkeiten in dieser Ge-sellschaft beantwortet.Zu bezweifeln ist allerdings, ob es diese Form politischer Bildung wirklich in einemnennenswerten Ausmaß gegeben hat.Schon bei einem der ,Stammväter’ der politischen Erwachsenenbildung in der Bun-desrepublik, Fritz Borinski, sieht das völlig anders aus. Die „Aussprache“ war ihm„wichtiger als das Referat“ (Borinski 1954, S. 171). Und: „Die beste Veranschauli-chung des Unterrichtsstoffs ist die lebendige Bezugnahme auf die eigene Erfah-

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rung des Hörers“ (ebd., S. 173). Sätze wie diese, von deren Art es in BorinskisHauptwerk „Der Weg zum Mitbürger“ zahlreiche gibt, belegen ein Verständnis vonpolitischer Erwachsenenbildung, das sehr weit vom Zerrbild Dawekes entfernt ist.Aber auch wenn Borinski fordert, „das politische und soziale Lebenselement über-all dort aufzusuchen, wo es lebt und wirkt“ (ebd., S. 123), ist unbestreitbar, dasssich eine Tradition von politischer Bildung herausgebildet hat, die eher papier-orientiert und dozentenzentriert ist. Statt der Alltagsnähe, die Borinski in den Mit-telpunkt seiner politischen Pädagogik rückte, galten (und gelten) politische Fragenzunächst einmal dem ,System’. Politische Bildung beschäftigt(e) sich mehr mit glo-balen Machtfragen als mit unmittelbaren Lebensproblemen.Der Glaube an die aufklärende Kraft sozialwissenschaftlichen Wissens hat denHabitus einer stellvertretenden Gesellschafts- und Weltdeutung nach sich gezo-gen. Diese verband sich mit einer oft kategorisch wirkenden Überzeugtheit vom„Aufklärungspotential sozialwissenschaftlichen Wissens“ (Thomssen u.a. 1988).Wenn die gesellschaftlichen Entwicklungen eindeutig und sogar wissenschaftlichexpliziert werden können, gibt es wenig Gründe für pädagogischen Zweifel unddiskursive Offenheit. Dennoch wurde stets auch ein methodisches Instrumentari-um eingesetzt, das die konfrontative Unterrichtssituation auflockerte.6

Alles andere wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn der sauertöpfi-sche Politbildner à la Daweke hätte schnell dafür gesorgt, dass auch die letztenTeilnehmenden die Veranstaltungen verlassen hätten und im übrigen allen weite-ren Angeboten zur politischen Bildung ferngeblieben wären.

3.Das Stichwort „Lernkultur“ sucht man auch in neuen Handbüchern und Lexika derpolitischen Bildung vergebens (Beer/Cremer/Massing 1999, Lexikon 1999, Mickel1999, Sander 1997). Auch in der allgemeinen Pädagogik ist der „Begriff der Lern-kultur ... keine eingeführte und etablierte pädagogische Kategorie“ (Arnold/Schüß-ler 1998, S. 3). Deshalb kann an dieser Stelle nur eine provisorische Deutung undÜbersetzung dieses Begriffs vorgenommen werden. Unter „Lernkultur in der politi-schen Bildung“ soll eine Trias aus Lernort, Lernweg und Lernziel verstanden wer-den. Dieses Trio, aufeinander bezogen und wechselseitig miteinander verbunden,beschreibt und bewirkt die Qualität von Bildung. Damit diese als eine „politische“zu verstehen ist, steht im Mittelpunkt der Schlüsselbegriff „Politik“. (Über dessenKennzeichnung wird es noch eine Anmerkung geben.)– Der Lernort meint einmal traditionell die Einrichtungen, in denen intendiertes

und organisiertes politisches Lernen stattfindet. Neuerdings sind darunter auch„Lebensorte“ (Behrens-Cobet 1999) zu verstehen, in denen sich Politik zeigtund erfahren lässt (vgl. Hufer 1997).

– Der Lernweg beschreibt Methoden, Arbeitsweisen. Verfahrenswege, Modi der,Aneignung’, die verbesserte politische Kenntnisse und Kompetenzen be-zwecken sollen.

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– Das Lernziel gibt nach einer pragmatischen Definition zunächst einmal vor, „wasder Lernende am Ende des Unterrichts ,können’ soll“ (Geiger 1999, S. 139). Dain der politischen Erwachsenenbildung die Teilnehmerorientierung ein zentra-les und konstitutives pädagogisches Element ist, lässt sich dort die Gültigkeiteiner solchen Begriffsbestimmung bezweifeln. Denn sie ist zentriert auf Instan-zen und Menschen, denen die Autorität zugebilligt wird, die Ziele zu benennen.Unumstritten aber ist, dass Bildung – gerade politische – eine normative Di-mension hat.

Lernort, Lernziel und Lernweg gemeinsam charakterisieren und konstituieren dieLernkultur politischer Bildung. Anders herum: Die Suche nach Lernorten, die Wahlder Lernwege, die Benennung von Lernzielen allein ist noch kein kultiviertes politi-sches Lernen – so gut das Ergebnis auch jeweils ausgefallen sein mag.

4.Lernkulturen sind eingebunden in die Gesamtkultur einer Gesellschaft, und siesind kontext-, situations- und zeitabhängig. Die Lernkultur der politischen Bildungbeispielsweise im Rahmen einer großen Akademie (etwa einer parteinahen Stif-tung oder der Kirche) des Jahres 2000 unterscheidet sich erheblich von der einerJugendbildungsstätte der 50er Jahre. Aber auch die jeweiligen Institutionen habenWandlungen mitvollzogen, so dass die Jugendbildungsstätte heutzutage andereLernorte aufsuchen, Lernwege einschlagen und Lernziele ansteuern wird als 50Jahre zuvor.Die Entwicklungsprozesse in der Gesellschaft sind in Bibliotheken füllender Wei-se thematisiert worden. Daher mögen einige Stichworte genügen, um die verän-derte soziale, politische und ökonomische Situation zu benennen. Unter dem Ge-sichtspunkt, welche Tendenzen bzw. Versuche, sie zu deuten, Auswirkungen aufpolitische Bildung haben, seien – ohne dass ein Anspruch auf Vollständigkeit er-hoben wird – aufgelistet: Individualisierung, Auflösung der traditionellen Milieus,Akzeptanzverlust der gesellschaftlichen und politischen Großorganisationen, Sä-kularisierung, Globalisierung, Multikulturalisierung, Steuerungsverlust der Politik,Ökonomisierung des Denkens und Handelns ... In griffigen und plakativen Merk-malsbeschreibungen wird der Zustand der Gesellschaft gekennzeichnet als Risi-ko-, Erlebnis-, Medien-, Informations-, Zivil-, Bürger-, Multioptionen-, Stressgesell-schaft ...Mit der Reizüberflutung, die mit der sich beschleunigenden Überbietungsspiralesolcher Kategorisierungen und Charakterisierungen einhergeht, werden in einembesonderen Maße diejenigen konfrontiert, die einmal politische Themen in Bil-dungsveranstaltungen konzeptionell aufbereiten und zum anderen dabei auch nochdas fluktuierende Lebensgefühl der Menschen erreichen wollen, das Teil des ana-lysierten und etikettierten gesellschaftlichen Wandels ist.Das führt vielfach zu Verunsicherungen, die der politischen Bildung in der Literaturdann auch bescheinigt werden (z.B. Nuissl u.a. 1992). Mancherorts ist Lähmung,Kapitulation vor den Problemen, Rückzug der politischen Bildung festzustellen.

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Ein Beleg dafür sind die – nicht wenigen – Volkshochschulprogramme, in denendie dort ausgewiesene „Politische Bildung“ geschrumpft ist auf beispielsweise jeeinen Vortrag über die Zukunft der Renten, einen Kurs über Baufinanzierungsfragenund einen Reisebericht über Frankreich, die USA oder Moskau.Es gibt jedoch auch eine konstruktive und produktive Art und Weise, die Heraus-forderungen des gesellschaftlichen Wandels anzunehmen. Dies zeigt sich in einerkreativen Weiterentwicklung der Lernkultur der politischen Bildung.

5.Um die geänderte Lernkultur zu verdeutlichen, sei anhand der vorgeschlagenendrei Elemente auf jeweilige neuere Diskussionen und pädagogische Ansätze hin-gewiesen.Bei den Lernorten ist eine zweifache Neuorientierung zu beobachten: Einmal be-trifft diese die Ausstattung der Bildungsstätten, Akademien, Tagungshäuser. Denästhetischen Präferenzen und den Freizeiterwartungen der Teilnehmenden folgend,sind die Häuser umgebaut worden. Im Empfangs-, Lern-, Wohn-, Restaurant- undFreizeitbereich wird gleichermaßen auf „Komfort und Stil“ geachtet (Friedrich-Ebert-Stiftung 1993, Bd. III, S. 397–407). Das Credo dabei ist, dass „mit der Anbindungan einen festen Lernort, bei dem die ästhetische Gestaltung mit Inhalten des Pro-gramms kongruent ist, der Erfolg politischer Bildung unterstützt und verstärkt wer-den (kann)“ (ebd., S. 405). Daneben gewinnen in den Bildungseinrichtungen auchlernökologische Überlegungen an Bedeutung: „Ökologische Lerninhalte überzeu-gen nur in ökologischen ,Lernkulturen’“ (Siebert 1999, S. 162).Zum anderen ist die Zahl der Lernorte durch eine Öffnung der Kurse und Semina-re hin zum Alltag, zur Lebenswelt größer, sind die Varianten der Lernorte vielfälti-ger und origineller geworden. Die vielfach zitierte „Entgrenzung“ und „Entörtlichung“von Politik (Beck 1986, S. 311) und die zahlreichen Felder und Formen von„Subpolitik“ (Beck1993, S. 154ff.) waren Anlass, mit den Lerngruppen dorthin zugehen, wo außerhalb der Institutionen des Systems Politik auch ,stattfindet’. DaPolitik in der Gesellschaft verstreut ist, kann sie fast überall aufgespürt, erfahrenund begriffen werden: im Betrieb, in den Medien, im Internet, in der Umwelt, imStadion, in der Kneipe, in der Innenstadt und in der Trabantensiedlung (vgl. Hufer1997). Die Zahl der Lernorte ist nahezu unbegrenzt.Auch die Lernwege in der politischen Bildung (und hin zu ihr) sind in den letztenJahren zahlreich geworden (vgl. Hufer 1999). Die ,klassischen’ Veranstaltungsfor-men – Vorträge, Kurse, Seminare, Gesprächskreise, Podiumsdiskussionen, Ta-gungen und Studienreisen – prägen nach wie vor das Erscheinungsbild politischenLernens. Aber die Entwicklung innerhalb der politischen Bildung ist nicht ohneEinfluss der zahlreichen allgemeinen didaktischen Wenden der letzten Jahre ge-blieben: Reflexiv, interpretativ, alltagsnah und subjektiv zeigt sich auch die politi-sche Bildung, und mit diesen Ansprüchen präsentiert sie neuere Angebotsformen.Die Ausdifferenzierung der Veranstaltungsformen hat „vor allem ... mit den verän-derten sozio-kulturellen Rahmenbedingungen (zu tun):

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a) Modernisierungsschübe in der ,Erlebnis’- und ,Risiko’-Gesellschaft (Stichworte:Wertewandel, Individualisierung, Konsum- und Erlebnisorientierung, ,neue Me-dien’ u. ä.);

b) auch die politische Bildung muss sich auf dem offenen Markt behaupten (Stich-worte: Konkurrenz der Anbieter, verändertes Anspruchsniveau und Rezeptions-verhalten u. ä.) ...“ (Behrens 1999a, S. 236f.).

Typisch sind beispielsweise Werkstätten und Trainings. Die Erstgenannten bietenvom Ausgang und Ziel her offene Begegnungs-, Bearbeitungs- und Lernmöglich-keiten. In ihnen widmen sich die Teilnehmenden gleichberechtigt, selbstbestimmtund arbeitsteilig einem Thema, Medium oder Raum. Am Ende soll ein Ergebnisvorliegen, sei es eine Dokumentation, ein Film, ein politischer Vorschlag. In denWerkstätten – den Zukunfts-, Geschichts-, Schreib- und Medienwerkstätten – wirddas zu behandelnde Thema diskursiv und kreativ sowie bedarfsweise auch rezep-tiv erschlossen. Die Themen und Prozesse liegen ,vor der Tür’ oder zielen insunmittelbare Umfeld, sie sind sinnlich erfahr- und vermittelbar. PädagogischeWerkstattleiter und -leiterinnen sind dabei zwar auch wegen ihrer Fachkompetenz,vorrangig aber wegen ihrer Fähigkeit gefragt, die Lernwege der Werkstattmitgliederzu begleiten und zu moderieren sowie ihnen richtungsweisende Impulse zu ge-ben, falls sie sich im Kreise drehen.Die Trainings zielen zunächst weniger auf politisches Wissen, sondern mehr aufpolitisches Verhalten. Im Schonraum werden Situationen simuliert sowie Reaktions-formen diskutiert und trainiert, die den Teilnehmenden Sorge bereiten, sie empö-ren, verunsichern, und die sie gerne verändern möchten. So gibt es z. B. Trainingsgegen Rassismus, Gewalt, Stammtischparolen oder für solidarische Nachbar-schaftshilfe (vgl. Hufer 1995).Die Palette neuerer Lehr-, Lern- und Veranstaltungsformen umfasst noch etlicheweitere Angebote: Hearing, politisches Theater, Sokratisches Gespräch, biogra-phisches Lernen, Mediationsverfahren, Politischer Club, kommunalpolitisches Prak-tikum, politisches Fahrradfahren, Internet-Café, integrative Projekte (mit techni-scher, beruflicher, ökologischer und kultureller Bildung) (vgl. Behrens 1999b; Hufer1992, S. 96–164; Lexikon der politischen Bildung, Bd. 2 u. 3).Bei der Frage nach den Lernzielen wird die neuere politische Lernkultur ebenfallsdeutlich. Curriculare Konzepte mit dezidierten und detaillierten Zielvorgaben spie-len in der außerschulischen politischen Bildung/politischen Erwachsenenbildungallenfalls noch in denjenigen Institutionen eine Rolle, die in kategorischer Manierein weltanschauliches Programm mit Hilfe der Pädagogik realisieren, die nicht bil-den, sondern erziehen möchten. Ansonsten aber besteht – übrigens auch in deran den allgemeinbildenden Schulen orientierten Politikdidaktik – Einhelligkeit dar-über, dass „die Legitimierung der ... letztlich verbindlichen Arbeitsziele in der pBnur durch Diskurs zwischen Lehrenden und Lernenden geleistet werden (kann)“(Geiger 1999, S. 141). Das war noch vor wenigen Jahren nicht so eindeutig. Aberauch in Organisationen mit starr festgelegten Bildungszielen wird mittlerweile übereine ,Neuorientierung’ im Sinne einer Basisnähe (und nicht einer Zielvorgabe durchdie Organisation) diskutiert (vgl. z. B. Weischer 1996). Die Festlegung von ver-

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bindlichen „Erziehungs- und Lernzielen mit affektiver, kognitiver und konativerPrägungsabsicht oder/und verpflichtenden Stoffkatalogen ... intendiert ... meist eineAusrichtung der Lernenden an vorgegebenen Vorstellungen über das politischeBewusstsein“ (Claußen 1997, S. 43). Und das – darüber besteht ein sehr weiterKonsens – ist a) widersprüchlich zur Emanzipationsidee politischer Bildung undscheitert b) an den eigensinnigen Lernvoraussetzungen und Bildungserwartungenerwachsener Menschen.7

So taucht auch der Begriff Lernziele in neueren Handbüchern der politischen Bil-dung so gut wie nicht mehr auf (vgl. z.B. Hafeneger 1997; Sander 1997).In der Frage nach der normativen Dimension politischer Bildung gibt es gegen-sätzliche Positionen. Eine Minderheitenmeinung dürfte diejenige sein, die „politi-sche Botschaften“ als in einer offenen Gesellschaft für unangebracht kritisiert (vgl.Sander 1998, S. 33). Statt über Ziele müsse sich politische Bildung von ihremNutzen und ihrer Nützlichkeit her legitimieren und definieren (vgl. Sander 1996).Das ist in einer Zeit, in der Bildung in Qualifizierung umdefiniert wird, in der stattLernzielen Kostendeckungsgrade erreicht werden sollen, durchaus funktional undausschließlich ökonomisch zu verstehen. Dagegen wird gesetzt, dass politischeBildung nach wie vor Orientierungen hat wie z. B. Solidarität, Gewaltlosigkeit,Multikulturalität, Gerechtigkeit, Gemeinwohl. „Politische Bildung müsse ... für be-stimmte Lernziele und Werte einstehen und sich deshalb manchen Wegen be-wusst und mit Argumenten im kritischen Dialog entgegenstellen“ (Friedrich-Ebert-Stiftung 1998, S. 32 u. 39).

6.Wie sind die neuen Lernkulturen in der politischen Bildung zu bewerten? Zwei-felsohne hat sich politische Bildung verändert: Sie ist bunter, beweglicher undbasisnäher geworden. Statt ,dozentenzentriert’ wird in den Veranstaltungen deut-lich mehr teilnehmerorientiert gelernt. Politische Bildung hat die starre Fixierungauf den Seminarraum verlassen und sucht mobil und kreativ auch politische Orte,draußen’ auf. Es wird weniger ,verkündet’ als vielmehr gemeinsam erörtert, abge-wogen, gedacht und gearbeitet. Es macht mehr Spaß, sich mit den handlungs-orientierten neueren Methoden und Arbeitstechniken ein politisches Thema zu er-schließen als mit Hilfe der ausschließlichen Lektüre strenger Texte. Alles in allemist politische Bildung demokratischer geworden – und das steht gerade ihr gut zuGesicht!Aber die Entwicklung hat auch bedenkliche Seiten:– Unklar und verschwommen ist häufig die Zentralkategorie politischer Bildung,

die Politik. Nach dem Entgrenzungsbefund floatiert und schwadroniert ,Politik’auch in den privatesten Bereichen des Alltagslebens. Das mag zutreffen, dochsei daran erinnert, dass unverzichtbare Grundbegriffe der Politik Konflikt(e), In-teresse, Macht und Konsens sind (vgl. von Alemann 1994, S. 144ff.). Wo immerman Politik wähnt und aufspürt, sind im Verlauf politischer Bildung entsprechendeFragen zu stellen, z. B.: Wem dient das? Welche Interessen setzen sich durch?

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Wie verhält es sich zu dem Demokratiepostulat? Wie legitim sind die Verfah-ren? Wie steht es um die allgemeinen und öffentlichen Belange?

– Politische Bildung steht in der Tradition der Aufklärung. Mit der damit verbunde-nen Kritik- und Utopiefähigkeit der Menschen bleiben Zielideen gültig. Politi-sche Bildung muss „jenseits postmoderner Gefälligkeit ... didaktisch aufgeschlos-sen und gleichwohl wissensorientiert sein ... Aufklärendes, systematisiertes undsystematisierendes Wissen hat eine zentrale Funktion im Prozess gesellschaft-licher Veränderung“ (Ahlheim 1997, S. 310). Mitunter entsteht allerdings derEindruck, als würden politische Bildner und Bildnerinnen bei dem Bemühen,didaktische und methodische Arrangements zu treffen, allzu eilfertig auf das –vermeintliche – Lebensgefühl einer ,Erlebnisgesellschaft’ eingehen. Dann sindBedenken nicht von der Hand zu weisen, dass das Design der Tagungshäuserund Veranstaltungsräume wichtiger sei als das Sein der Teilnehmenden. Ästhe-tik und Event können Empathie und Solidarität überlagern. ,Gegensteuerung’bei allzu viel Hedonismus wird zu einer zukünftig wichtigen Aufgabe politischerBildung, das kollidiert jedoch mit marktopportunen Strategien einer möglichsteffizienten Außenwirkung und einer positiven betriebswirtschaftlichen Bilanz vonBildungseinrichtungen.

– Politik und politisch bedeutsam ist mehr als das, was in gefälligen und dem,Zeitgeist’ entsprechenden Veranstaltungen angeboten und thematisiert werdenkann. Auffallend in diesem Zusammenhang ist, wie schwer es politischer Bil-dung fällt, zentrale gesellschaftliche Sorgethemen in ihren Programmangebotenzu platzieren: Arbeitslosigkeit, soziale Fragen, anomische Tendenzen, Steue-rungsdefizite von Politik ... Bei Problemen wie diesen gibt es auffallend wenigedidaktische Konzepte und methodische Ideen. Schließlich bleibt ein Widerspruchungelöst: Die Komplexität vieler Probleme und Herausforderungen lässt sichnicht durch eine ,Talkshowisierung’ politischer Bildung und durch den Häpp-chen-Charakter mancher ihrer Veranstaltungen angemessen bearbeiten. Da aberviele Bildungsanbieter sich in der Notwendigkeit sehen, in erster Linie lustvolleund nur keine arbeitsintensiven Veranstaltungen zu offerieren, da letztere we-gen Nachfragemangel nicht zustande kommen könnten, bleibt das Unbehagenzurück, dass auch politische Bildung zur fortschreitenden Ideologisierung derVerhältnisse beiträgt.

Diese Kritikpunkte sollen keineswegs die notwendigen Überlegungen hin zu neu-en Lernkulturen desavouieren. Die vorhandenen Ansätze müssen weiter entwi-ckelt und neue müssen gefunden werden, wenn es politische Bildung, zu der Men-schen freiwillig und gerne kommen, auch zukünftig noch gibt. Aber Ambivalenzen,dialektische Spannungen, gegenläufige Wirkungen müssen ebenfalls bedacht wer-den. Denn eine entpolitisierte politische Bildung kann allen Ernstes keiner wollen.

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Anmerkungen

1 Umfassendere Hinweise zu den nächsten drei Spiegelstrichen gibt es in der Rubrik „Sze-ne“, in: kursiv. Journal für politische Bildung 1999, H. 2 u. 3.

2 Nach Programmausschreibung der Bundeszentrale für politische Bildung.3 Hierüber haben Veronika Fischer und Desbina Kallinikidou einen informativen Bericht

verfaßt, in: kursiv. Journal für politische Bildung 2000, H. 1.4 Bei Seminaren dieser Art kommen vielfach Teilnehmende, die ansonsten keine Veranstal-

tungen zur politischen Bildung besuchen (siehe Hufer 2000).5 Nähere Informationen beim Verfasser.6 Interessant ist in diesem Zusammenhang beispielsweise ein Skript für die Lehrveranstal-

tungen zur politischen Erwachsenenbildung des Fachbereichs Politische Wissenschaftder Freien Universität Berlin. Dieses enthält über viele Seiten hinweg Material zum Sich-Kennenlernen und zur Interaktion in Gruppen (Sachrfenberg 1981).

7 An dieser Stelle sei an die Konstruktivismusdebatte und deren Rezeption in der Bildungs-praxis erinnert, z.B.: „Erwachsene sind lernfähig, aber unbelehrbar. Offensichtliche Be-lehrungsabsichten wirken häufig kontraproduktiv. Gerade für die politische Bildungsar-beit gilt: Man merkt die Absicht und ist verstimmt“ (Siebert 1996, S. 90).

Literatur

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Peter Faulstich/Christine Zeuner

Lernkulturen in regionalen Netzwerken

Lernen werden in der ,Lerngesellschaft’ die Individuen. Dabei ist es die Aufgabeder Institutionen und der Politik, lernförderliche Kontexte und Arrangements vorzu-halten. Die Qualität von Lernkulturen kann gestützt werden durch Supportstruktu-ren, die Offenheit, Zugänglichkeit und Durchlässigkeit von Lernwegen sichern undLernorte bereitstellen.Obwohl der Lernort Internet ein scheinbar modisches Nonplusultra geworden ist,ist es erstaunlich, dass sich erwachsene Menschen immer noch leiblich an einemOrt versammeln, wenn es um Lernen geht. Menschliche Identität ist an die Prä-senz von Personen an jeweiligen Orten gebunden. Hier haben wir es mit einerüberschaubaren Zahl anderer Menschen zu tun, die wir verstehen, lieben oderhassen können (vgl. Faulstich 1992).Aus der Unabdingbarkeit örtlicher Präsenz ergibt sich der Stellenwert lokaler undregionaler Strukturen, die die Entfaltung der Personen – also auch ihre Bildung –ermöglichen. Regionale kulturelle Perspektiven gewährleisten ein sinnvolles Zu-sammenleben der Menschen. Region wird dabei als der kulturelle Kontext erfahr-baren Zusammenlebens gesehen, in dem sich Identität entfalten kann.Im Rahmen ökonomischer Strategien zur Standortentwicklung dienen regionaleLernkulturen zur Kompetenzentwicklung der hier wohnenden Bevölkerung. Als einAnstoß ist dabei die Entwicklung regionaler Netzwerke von Weiterbildungsinstitu-tionen zu sehen. Eine Form der Umsetzung dieser Strategie finden wir im Rahmender Weiterbildungsinitiative in Schleswig-Holstein.Hier sind, gefördert aus Mitteln der Europäischen Union, zehn Weiterbildungs-verbünde mit gegenwärtig unterschiedlichem Aktivitätsspektrum und Entwicklungs-stand initiiert worden: Dithmarschen/Brunsbüttel, Flensburg, Kiel, Lübeck, Mittelhol-stein/ Neumünster, Nordfriesland/Husum, Pinneberg, Segeberg und Steinburg. Ansie stellt sich die Frage nach ihrem Beitrag zu einer regionalen Lernkultur, die Wei-terbildungsinteressen aufnimmt, Weiterbildungsmotivationen fördert und Weiter-bildungsrestriktionen abbaut.Dazu ist erstens die Strategie der Regionalisierung zu begründen. Zweitens istdies auf den Entwicklungsstand ,mittlerer Systematisierung’ in der Weiterbildungund den Stellenwert regionaler Supportstrukturen zu beziehen. Drittens sind Quali-tätskriterien für Supportstrukturen zu entwickeln. Diese können – viertens – an-hand der Beispiele in Schleswig-Holstein belegt werden. Fünftens muss ,regionaleLernkultur’ als Kern von Identität problematisiert werden.

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1. Regionalisierung als kulturelle Perspektive

Fast alles, was man gegenwärtig im Zusammenhang von regionaler und kommu-naler Entwicklung über Konzepte und Strategien von Bildung und Weiterbildungdiskutiert, steht unausweichlich vor dem Hintergrund der Debatte um Globalisie-rung und wird daran gemessen. Allerdings wird gegen das Horrorszenario einerweltweit planierten Ökonomie wieder verstärkt nach Chancen territorialer Entwick-lung gefragt. Die Wirtschaftsförderung der Städte und Kreise setzt auf regionaleQualifikationsstrategien; Länder initiieren regional orientierte Förderschwerpunkteim Bildungsbereich; zahlreiche Programme und der Sozialfonds der EU fördernQualifizierung für die Entwicklung strukturschwacher Regionen: Lokalisierung istangesagt.Eine daraus resultierende ,Verortungsstrategie’ muss regionale Stoffkreisläufe undortsgebundene Einkommenskreisläufe stärken. Ein Strang einer solchen Re-orientierung ist die Wiederentdeckung regionaler endogener Potentiale. Von da-her richtet sich das Augenmerk besonders auf vorhandene qualifikatorische Res-sourcen. Die Stärke einer Region beruht sicherlich auf ihrer Lage in internationa-len Verkehrsströmen, auch auf natürlichen Vorkommen, letztlich aber vor allemauf den Fähigkeiten der dort lebenden Menschen. Wenn Region in den Fokus öko-nomischer Strategien genommen wird, heißt das abzustellen auf die Kompeten-zen der Arbeitskräfte.

2. Mittlere Systematisierung und regionale Institutionen für dieWeiterbildung – Kompetenzzentren

An dieser Stelle kommen dann Bildungsfragen und besonders die Weiterbildungund ihr gegenwärtiger Zustand ins Spiel. „Als lebensbegleitendes Lernen ist Wei-

terbildung nicht länger nur Reparaturinstanz für verpasste Erstausbildung, son-

dern Voraussetzung für individuelle Entfaltung und soziale Gerechtigkeit“ (Ham-burger Manifest). Wir haben mit dem Begriff ,mittlere Systematisierung’ zur Kenn-zeichnung des Entwicklungsstandes ein Stichwort in die Debatte geworfen, dasgroßen Anklang und Aufmerksamkeit gefunden hat (vgl. Faulstich u.a. 1991, 1996).Bezogen auf den Grad der Systemhaftigkeit ist der Weiterbildungsbereich immernoch ein ,weiches’ System. Dies gilt zunächst hinsichtlich der Systemgrenzen, woein fortschreitender Prozess der Herausverlagerung von Lernaufgaben aus primä-ren gesellschaftlichen Institutionen zu beobachten ist und gleichzeitig eine Aus-breitung, Zerstreuung und Entgrenzung stattfindet.Weiterbildung ist auch ein ,weiches’ System bezogen auf die strukturierenden Re-gulationsmechanismen: im Spannungsfeld von Politik und Ökonomie stellt es ein,gemischtwirtschaftliches’ System dar. Darüber hinaus sind die Bedarfe an Weiter-bildung ,weich’, weil Interessen und Motive häufig latent bleiben und deshalb oftErsatz- und Ausweichfunktionen greifen.

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Bezogen auf Indikatoren wie Institutionalisierungsgrad, Professionalisierungsgrad,Programmhorizonte und Ähnliches erweist sich die interne Struktur der Weiter-bildung als dem unterstellten Bedeutungszuwachs inadäquat. Es müssen deshalbRegulationsmechanismen verstärkt werden, die Funktionalität und Leistung desSystems erhöhen. Dabei greift die ordnungspolitische Auseinandersetzung um dasVerhältnis von Markt und Staat zu kurz, da beide Regulationsmodelle in ihrer ,sau-beren’ Form den vielfältigen Anforderungen und Interessen unangemessen sind.Interessant werden demnach Überlegungen über intermediäre Organisationen –Institutionen und politische Aktionsfelder, in denen weder der Markt, also dezen-trale Unternehmensentscheidungen und Konsuminteressen, noch ein hierarchischsteuernder Staat erfolgreich sein können. Es bestehen immer schon Netzwerkekorporativer Akteure, mit Konstellationen von Interessen und Macht, welche stereo-type Bilder von einer klaren Trennung von Staat und Gesellschaft und vom Staatals höchstem Kontrollzentrum oder vom Markt als freiem Ausgleich widerlegen.Dabei wächst die Problemlösungskapazität durch eine dezentrale Form der Ent-scheidungsselektion und Handlungskoordination.Die in der Erwachsenenbildung schon lange diskutierten Probleme der Kooperati-on und Koordination erhalten aus dieser Sicht neues Gewicht. Modisch formuliertgeht es um polyzentrische regionale Netzwerke, welche ein Zusammenwirken vonstaatlichen, kommunalen und privaten Institutionen, Vertretern der Sozialpartner,der Lehrenden und Lernenden sowie staatlichen Verwaltungs- und Förderungs-instanzen ermöglichen.An vielen Orten stößt man auf – oft aus der Not geborene – Kooperationsformenzwischen Unternehmen, Betriebsräten, Gewerkschaften und politischen Akteuren.Auch wenn solche Ansätze oft instabil und noch schwach entwickelt sind, liefernsie den Kern für ein Verortungsszenario.Vor diesem Hintergrund haben wir in verschiedenen Gutachten – für Hessen, Bre-men, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen – Weiterbildungsräte als ent-sprechende Gremien vorgeschlagen. Diese müssen sowohl die Erwachsenenbil-dungsträger, die bisher getrennt davon operierenden Verwaltungsausschüsse derArbeitsämter sowie die regionalen Berufsbildungsausschüsse und weitere Reprä-sentanten unter Einbezug von Förderern, Arbeitgebern und Gewerkschaften umfas-sen. Zu den Aufgaben solcher regionalen Weiterbildungsbeiräte können gehören:– Bedarfsklärung,– Planung und Empfehlungen für Schwerpunktsetzungen;– Abstimmung der Angebote und Erstellung regionaler Programme;– Anregungen zur Kooperation und zur Sicherung der Kontinuität von Angeboten;– Beratung über die öffentliche Weiterbildungsinfrastruktur;– Mittelbeantragung und Vergabe öffentlicher Initiativprojekte;– Verknüpfung mit der Wirtschaftsförderung.Solche Initiativen bleiben allerdings solange zerbrechlich, wie nicht die notwendi-gen ,Support-Strukturen’ zur Verfügung stehen, die träger- und einrichtungsüber-greifende Aufgaben sicherstellen. Deshalb spricht einiges dafür, örtliche Kompe-tenzzentren einzurichten. Zu deren Leistungen gehören:

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– Information und Transparenz– Beratung und Werbung– Curriculum- und Materialerstellung– Qualifizierung des Personals– Bereitstellung dezentraler Ressourcen– Koordination zwischen Bildungsinstitutionen und Unternehmen– Koordination gemeinsamer Projekte– gemeinsames Marketing für die Weiterbildung– Qualitätssicherung und Evaluationsansätze.Gerade angesichts der negativen Effekte der Globalisierung ist eine stärkere Be-rücksichtigung der Region als Handlungsebene naheliegend. Kooperationen aufregionaler und kommunaler Ebene sind Ansatzmöglichkeiten für eine Reorganisa-tion der Unternehmen wie auch für eine Rekonstruktion des Wohlfahrtsstaates.Regionale Entwicklungen durch Innovation und Qualifikation sind dafür die wich-tigsten Stichworte. Die Anpassung der Kompetenzentwicklung an regionale Bedürf-nisse soll Kostensenkung, Stärkung der Eigenverantwortung der Kommunen undRegionen, größere Bedarfsnähe, stärkere Gruppenorientierung der Weiterbildungs-institutionen gewährleisten. Die Idee, die solche Ansätze institutionell fasst, ist dieImplementierung von Kompetenzzentren. Sie kombinieren die Funktionen von Wei-terbildungsbeiräten, nämlich demokratische Prioritätensetzung, und von Support-Strukturen, nämlich die effizientere Ressourcennutzung.

3. Qualitätskriterien für Supportstrukturen

Durch die Einrichtung der regionalen Weiterbildungsverbünde in Schleswig-Hol-stein wird dem Stellenwert von unterstützenden Strukturen zur Kompetenz-entwicklung für die regionale Wirtschaftsentwicklung und kulturelle PerspektiveRechnung getragen. Durch Netze zwischen den Weiterbildungsträgern und denregionalen politischen, ökonomischen und kulturellen Akteuren soll die Koopera-tion verbessert werden, um Innovationspotentiale zu bündeln. Im „Konzept zurVerbesserung der Weiterbildungsinfrastruktur“ des Ministeriums für Wirtschaft,Technologie und Verkehr vom 29.01.1998 werden als Handlungsfelder benannt:– Ausbau von Kooperation und Koordination,– mehr Teilnehmerschutz und Qualitätssicherung,– Verbesserung von Information und Beratung.Davon ausgehend wurden für die von uns durchgeführte Evaluation (vgl. Faul-

stich/Zeuner 1999)– Kriterien für die Effektivität der Arbeit der Verbünde entwickelt,– Methoden zur empirischen Analyse festgelegt,– die Erhebungen geplant und durchgeführt,– eine vorläufige Einschätzung vorgenommen.Dies gilt für die einzelnen Standorte sowie für deren Vergleich. Die Evaluations-aspekte beziehen sich auf das Leistungsspektrum der Weiterbildungsverbünde,

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die einzelnen Funktionsaspekte Information, Beratung, Qualitätssicherung sowieauf die interne Organisation:

Angebotsspektrum: VielfaltModernitätAdressatenbezugRegionalorientierung

Informationssystem: AdressatenspektrumProduktspektrumProduktstandards

Beratungsangebot: AdressatenspektrumZugänglichkeitBeratungsdurchführungBeratungspersonalBeratungserfolge

Qualitätssicherung: AdressatenspektrumPrüfkriterienPrüfprozess

Interne Organisation: FührungInformationsprozesseAdressatenorientierungPersonalmanagementQualitätsmanagement

Externe Kooperation: ZusammenarbeitAußendarstellungGemeinsame Vorhaben.

Diese Evaluationsaspekte liefern die Grundlage für die empirische Analyse undentsprechende Methoden. Dabei geht es um Dokumentenanalyse durch Auswer-tung und Aufbereitung vorhandener Materialien und Datenbestände der Weiterbil-dungsverbünde sowie um die Durchführung von Interviews und Befragungen.Die empirische Basis der bisherigen Evaluation beruht auf:– Sichtung und Auswertung vorhandener Dokumente und Materialien. Von allen

Verbünden wurden Unterlegen sowohl über interne Organisation und Protokol-le als auch Material für die externen Präsentation zur Verfügung gestellt.

– Experteninterviews mit Leitern und Mitarbeitern. Die problemzentrierten Inter-views wurden anhand eines Leitfadens durchgeführt. Auf Seiten der Weiterbil-dungsverbünde in Dithmarschen, Kiel, Mittelholstein/Neumünster, Nordfrieslandund Segeberg waren an den Gesprächen jeweils zwei Personen beteiligt.

Die Auswertung der Materialien und die durchgeführten Experteninterviews ermög-lichen eine erste Einschätzung. Es zeichnet sich ein Konsens über die hohe Re-levanz der Weiterbildungsverbünde für die Weiterbildungsentwicklung ab.

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4. Weiterbildungsverbünde in Schleswig-Holstein

Den Weiterbildungsverbünden wird in den Experteninterviews ein hoher Stellen-wert für die regionale Kooperation und für Innovationspotentiale zugewiesen. Eswird betont, dass solche kooperativen Netze nicht nur zur Kompetenzentwicklung,sondern zur Regionalentwicklung insgesamt beitragen. Ein wichtiger Aspekt ist dabeider Aufbau eines Klimas von Vertrauen, das auf die Kooperation zwischen denbeteiligten Institutionen – besonders zwischen Weiterbildungsanbietern und Unter-nehmen – ausstrahlt.Insgesamt wurden in Schleswig-Holstein 10 Weiterbildungsverbünde etabliert, vondenen der älteste, Dithmarschen, bereits 1989 gegründet wurde, Nordfriesland undSegeberg seit einigen Jahren bestehen und die anderen 1998 gegründet wurden.Die Mitgliedszahlen der Verbünde schwanken, zum Beispiel hat der Verbund Dith-marschen 22 Mitglieder; Kiel 20 Mitglieder; Neumünster/Mittelholstein 18 Mitglie-der; Nordfriesland 48 Mitglieder, ab Oktober 1999: 60 Mitglieder und Segeberg 16Mitglieder.Durch die gemeinsamen Aktivitäten werden die Zugangsmöglichkeiten für Weiter-bildung insgesamt geöffnet und erleichtert. Alle Verbünde haben einen Aktivitäts-schwerpunkt in Öffentlichkeitsarbeit und Werbung. Damit wird die Transparenz derAngebote erhöht. Dies nutzt den einzelnen beteiligten Trägern. Durch die Ko-operationskontakte findet eine Bedarfsabstimmung und -entwicklung statt. Dar-über hinaus haben einige Verbünde Bedarfsdiskussionen durch Unternehmenskon-takte intensiviert (z.B. Dithmarschen, Kiel, Husum). Diese Ansätze dürften langfri-stig für regionale Innovationen besonders wichtig werden.Die Systematik der Evaluationsaspekte ermöglicht es, einen Überblick über dasAktivitätsspektrum der Verbünde zu geben. Für den Bereich Organisation, Koope-ration und Koordination zeigen sich folgende Tendenzen: In Bezug auf Führunghaben sich die Verbünde für zwei mögliche Modelle entschieden. Drei der Institu-tionen (in Kiel, Pinneberg und Segeberg) sind selbst Anbieter von Weiterbildungs-maßnahmen, in den anderen Verbünden wird die Leitung von neutralen Organisa-tionen wie der örtlichen Wirtschaftsförderung (z.B. Dithmarschen, Nordfriesland)übernommen, die selber keiner Weiterbildungsveranstaltungen in der Region an-bieten.Arbeitsformen und Informationsaustausch werden ebenfalls sehr unterschiedlichgeregelt. Alle Verbünde bieten regelmäßige Sitzungen an (durchschnittlich zwei-mal pro Jahr), einige treffen sich regelmäßig (bis zu sechsmal im Jahr) zu Work-shops, in denen Entscheidungen vorbereitet und diskutiert werden.Die personelle Ausstattung der Verbünde variiert ebenfalls: In einigen Neugründun-gen (Kiel, Neumünster, Pinneberg) wurden Kräfte eingestellt, die älteren arbeitenweitgehend mit Personen, die in andere Aufgaben eingebunden sind und dieVerbundarbeit in ihre Tätigkeit integrieren.Die Weiterbildungsverbünde sind aufgrund ihres Beginns und der Laufzeit auf un-terschiedlichem Arbeitsstand. Auch das Spektrum der Aktivitäten – Information,Beratung, Qualität u. a. – ist unterschiedlich. Es gibt – bezogen auf die Träger-

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struktur und das Angebot – zum einen ,Generalisten’, zu deren Mitgliedern An-bieter der allgemeinen, politischen wie beruflichen Weiterbildung gehören, und,Spezialisten’, für die berufliche Weiterbildung im Vordergrund steht. Diese diffe-renzierten Profile sind durchaus legitim. Einzelne Verbünde greifen die Aktivitäts-schwerpunkte konsekutiv auf, zum Teil sind sie noch mit Aufbau-Aktivitäten be-schäftigt.Die verfügbaren Informationen und Materialien sind für Weiterbildungsinteressentenund -adressaten in unterschiedlicher Weise brauchbar und attraktiv. Die Instru-mente der Öffentlichkeitsarbeit und Werbung werden von den Weiterbildungs-verbünden intensiv genutzt, wobei die Zusammenarbeit mit der regionalen Pressedurchgehend gut ist. Eigene Materialien werden in verschiedener Intensität undAttraktivität erstellt. Die unterschiedlichen Profile beruhen aber auf einem Kon-sens, der häufig in langen Diskussionsprozessen erzielt wurde und der nicht vonaußen herstellbar ist. Soweit Messen stattfinden, werden diese genutzt. Der Stel-lenwert von Datenbanken ist angesichts der regionalen Überschaubarkeit wenigerwichtig als in Ballungszentren. Bei der Nutzung wird teilweise auf bundesweiteSysteme zurückgegriffen. Ob der Aufwand, der für die Darstellung im Internet be-trieben wird, sich auszahlt, ist noch zu prüfen.Bei allen Verbünden finden Beratungsaktivitäten statt, allerdings mit unterschiedli-cher Intensität. Angesichts des damit verbundenen erheblichen Zeitaufwands istdie Personalausstattung grundsätzlich zu knapp. Die Beratung findet auf verschie-denen Ebenen statt: Adressaten sind einerseits Endverbraucher, andererseits Un-ternehmen sowie die eigenen Verbundmitglieder. Die Durchführung der Beratungliegt teilweise nur bei den Trägern der Verbünde, teilweise beraten nur die Mitglie-derorganisationen, in manchen Fällen auch beide. Endverbraucherberatung wirdhäufiger durchgeführt als Unternehmensberatung, das liegt daran, dass Unterneh-men schwerer zu erreichen sind. Dabei ist zu beobachten, dass die älteren Ver-bünde und vor allem auch diejenigen, die über die Wirtschaftsförderung koordi-niert werden, eher Zugang zu Unternehmen und Verbänden finden. Die Beratungfindet in allen Fällen sowohl persönlich als auch telefonisch statt. Ein Beratungs-schwerpunkt ist im Verbund Neumünster/Mittelholstein entwickelt worden. Die Be-ratung wird hier sowohl telefonisch über die Koordinationsstelle als auch dezentralin der Region durchgeführt. In einigen Verbünden zeichnet sich dagegen eine deut-liche Zurückhaltung gegenüber Beratungsaktivitäten ab, weil Probleme bezogenauf die notwendige trägerübergreifende Neutralität befürchtet werden.Dies könnte durch gemeinsame Verfahren der Qualitätssicherung aufgefangenwerden. Allerdings wird von den regionalen Akteuren betont, dass es sich auchhier um ein sensibles Feld handelt. Es wird einerseits davor gewarnt, Standardsund Verfahren aufzuzwingen oder extern zu kontrollieren. Anderseits ist die Quali-tätsproblematik allen befragten Institutionen bewusst. Eine Initiative des LandesSchleswig-Holstein, wie die vorliegenden Qualitätskriterien der Kommission Weiter-bildung, muss nach diesen Meinungsäußerungen auf einen Konsensprozess set-zen.

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Die unterschiedlichen Aktivitätsspektren der Weiterbildungsverbünde erklären sichauch durch Trägerschaft und Organisationsstruktur. Dabei sind die regionalenAktivitätszentren zu Kristallisationskernen der Kooperationsaktivitäten geworden.Dies ist für die Akzeptanz von erheblicher Bedeutung. Es muss gesichert werden,dass die Verbünde, auch wenn sie einzelnen Trägern zugeordnet werden, ein trä-gerübergreifendes und trägerunabhängiges Profil entwickeln und sichern. DasSpektrum der Mitglieder ist unterschiedlich. Wichtig für die Wirksamkeit der Ver-bünde sind vor allem die Kooperation mit Kammern, Kreishandwerkerschaft, Ar-beitsverwaltung und der Bezug zur Wirtschaftsförderung. Eine nur interne Koope-ration der Weiterbildungsanbieter untereinander ist zu eng, um die Innovations-potentiale von Weiterbildung tatsächlich wirksam werden zu lassen. Betrachtet mandie bisherigen Aktivitäten und das Spektrum der Kooperanden, ist es erstaunlich,in wie kurzer Zeit eine erhebliche Ausstrahlung erzeugt werden konnte.Für die Zukunft wird von den befragten Experten angeregt, im Bereich Informa-tionsaustausch stärker zu kooperieren sowie eine zentrale Koordinierung in Be-zug auf gegenseitige Unterstützung und Öffentlichkeitsarbeit anzustreben. Diesbetrifft z. B. auch die Internet-Aktiväten.Es wird in allen Experteninterviews betont, dass die Verbundsarbeit als sinnvollangesehen wird und auf Kontinuität abgestellt werden sollte. Gleichzeitig bestehteine erhebliche Skepsis, ob sich diese Aktivitäten selbst tragen könnten. EinigeExperten unterstreichen die Notwendigkeit der Sicherung von Supportstrukturenals Aufgabe landes- und regionalpolitischer Wirtschaftsförderung.

5. Lokalität, kulturelle Identität und ,lernende Region’

Notwendig ist dafür aber auch ein grundlegendes Umdenken. Gegenüber demNeoliberalismus und seinen gemeinschaftszerstörenden Konsequenzen muss einDenken gestärkt werden, das nach individueller Identität und sozialer Solidaritätfragt. Während das neoklassische Modell der Ökonomie eine egoistische Indivi-dualität und instrumentelle Rationalität voraussetzt, ist menschliches Handeln ein-gebunden in kulturelle Konstellationen und Kontexte, die berücksichtigt werdensollten.Demgemäß sollte die Idee einer humanistischen Tradition gegenseitiger Verant-wortung und Menschlichkeit zurückgewonnen und deutlich verstärkt werden. Dieintensiv geführte Debatte über moralische Grundlagen moderner Gesellschaftenunter dem Stichwort ,Kommunitarismus’ zeigt, dass dieses Problem nicht zu um-gehen ist. Zentral geht es um die Verantwortung des Einzelnen in der Gemein-schaft. Gemeinschaft stellt sich nun aber hauptsächlich vor Ort her. Sie entwickeltsich im Verhältnis zwischen Personen durch Kontakt, Kommunikation und Koope-ration. Dazu Richard Sennett: „Der Ort wird von der Geographie definiert, die Ge-

meinde beschwört die sozialen und persönlichen Dimensionen des Ortes. Ein Ort

wird zu einer Gemeinde, wenn Menschen das Pronomen ,Wir’ zu gebrauchen be-

ginnen. ... Eine der unbeabsichtigten Folgen des modernen Kapitalismus ist die

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Stärkung des Ortes, die Sehnsucht der Menschen nach der Verwurzelung in einer

Gemeinde“ (1998, S. 189).Regionale Lernkulturen entstehen in personaler Kommunikation. Menschliche In-teraktionen haben selbstverständlich immer einen örtlichen Bezugsrahmen (vgl.Giddens 1992, S. 170). Dieser liefert den kulturellen Kontext, in dem sich die Men-schen auskennen, erkannt werden und mitwirken. Dies meint nicht nur Lokalisie-rung, sondern auch Differenzierung. Erst im Unterschied zu anderen ist regionaleIdentität möglich. In der Wahrnehmung und Anerkennung des Fremden entstehteine reflexive Konstitution eigener Identität.Erst in einem solchen Kontext gibt es auch wieder Orientierungen bezogen auf dieFrage von Bildung, wenn damit die Selbstentfaltung des Individuums in einer Ge-sellschaft gemeint ist. Es geht um die Chancen und Horizonte von Identität.Dem gemäß ist nicht zu fragen, was denn Bildung und insbesondere Weiterbil-dung beitragen kann oder soll zur regionalen Ökonomie, sondern welche regiona-len und kommunalen Strukturen gesichert oder geschaffen werden müssen, umdie Entfaltung der Personen, die in einer Stadt oder einer Region leben – alsoauch ihre Bildung –, zu ermöglichen. Es geht um den kulturellen Kontext erfahrba-ren Zusammenlebens, in welchem sich Identität entwickeln kann.In regional gestalteten Landschaften und Städten ist für die Entfaltung der Men-schen Bildung ein zentrales Moment. In diesem Sinn sollte eine Infrastruktur ge-schaffen werden, die die Vernetzung von Bildungsangeboten sichert und durchSupportstrukturen unterstützt, um eine ,lernende Region’ zu entwickeln.Ein regional reflektiertes Konzept von Weiterbildung erschöpft sich nicht in derFunktion für die Ökonomie. Vielmehr kommt es gerade darauf an, eine personen-orientierte Perspektive einzunehmen und nach den Chancen kultureller Identität inder Region und in der Kommune zu fragen. Dafür sind Zentren der Bildung alsStätten der Begegnung unverzichtbar. Es ist ebenso banal wie relevant, daraufhinzuweisen, dass Menschen sich in ihrer Leiblichkeit nicht auflösen in monetäreoder auch mediale Prozesse. Wir leben körperlich in sozialen, zeitlichen und räum-lichen Kontexten. Insofern braucht die individuelle Biographie als Chance für Iden-tität immer einen Ort. Als Versuch, solche Orte – Betriebe, Stadtteile, Städte, Ge-meinden und Regionen – zu nutzen und Lernkulturen zu entwickeln zur Entfaltungvon Persönlichkeit, hat Erwachsenenbildung einen umfassenden Sinn.

Literatur

Arbeitsgruppe Manifest: Hamburger Manifest zur Weiterbildung. Hamburg 1998Etzioni, A.: Die faire Gesellschaft. Frankfurt/M. 1996Faulstich, P.: Spielverderber im medialen Zirkus. Kulturelle Orte versus Bildschirme. In: agenda

1992, H. 1, S. 44–46Faulstich, P.: Regionalisierung statt Globalisierung für die Weiterbildung. In: GdWZ 1996, H.

6, S. 306ff.

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Faulstich, P. u. a.: Bestand und Perspektiven der Weiterbildung – Das Beispiel Hessen. Wein-heim 1991

Faulstich, P. u. a.: Bestand und Entwicklungsrichtungen der Weiterbildung in Schleswig-Hol-stein. Weinheim 1996

Faulstich, P.: „Netze“ als Ansatz regionaler Qualifikationspolitik. In: Dobischat, R. u. a. (Hrsg.):Berufliche Bildung in der Region. Berlin 1997, S. 53–64

Faulstich, P./Zeuner, Ch.: Evaluation des Weiterbildungskonzepts in Schleswig-Holstein.Zwischenbericht. Hamburg 1999

Faulstich, P./Zeuner, Ch.: Erwachsenenbildung. Weinheim 1999Giddens, A.: Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1992Sennett, R.: Der flexible Mensch. Berlin 1998

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Erhard Meueler

A Special Case: Open Space

Um was es geht

Am 4. und 5. Juni 1999 führte die AG 6 „Berufsbildung und Bildungsplanung“ derFakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld unter dem Titel „SelbstgesteuertesLernen in Organisationen“ eine Open-Space-Veranstaltung durch.

‚Open Space‘ – was ist das?

Der amerikanische Organisationsberater Harrison Owen registrierte schon vor vie-len Jahren, dass traditionelle Konferenzen, Symposien und Tagungen mit ihrerAbfolge von Referaten wenig Lerneffekte bei den Teilnehmenden auslösen. Alsden Ort intensiven Erfahrungsaustauschs unter Kollegen und Kolleginnen identifi-zierte er die Kaffeepause. Da sie von Dritten nicht inhaltlich bestimmt wird, ge-horcht sie der Dynamik, die die je Beteiligten selbst auslösen und steuern. Sie istkurz, informell und in der Regel unterhaltsam. Wer sich am Gespräch beteiligenmöchte, tut dies. Wer nur zuhören möchte, hat dazu Gelegenheit. Wer mit denKolleginnen und Kollegen eine eigene Tischrunde aufmachen will, hat die Frei-heit, dies zu tun.Owens Idee, aus Kaffeepausen als den kreativen Episoden im Konferenzablaufeine eigene Sozial- und Arbeitsform mit einem höchstmöglichen Maß an Gestal-tungsfreude und kreativer Beteiligung zu kreieren, gewann sehr schnell Gestaltund einen Namen: Open Space = ‚Offener Raum‘ (Owen 1992).Das Organisationsschema der Open-Space-Technologie (OST) ist recht einfach:In der klassischen Konferenz kreieren anerkannte oder selbst ernannte Speziali-sten Probleme und tragen stellvertretend für ihre zumeist passive ZuhörerschaftLösungen vor. Sie stellen Fragen eigenen Zuschnitts und beantworten sie nacheigenem Gusto. In der Sozialform ‚Open Space‘ gelten alle Anwesenden als fähig,mit anderen zusammen in immer neuen personellen Konstellationen vorgegebeneProbleme selbst kreativ lösen zu können. Aus Teilnehmenden werden Veranstal-

tende der selbst verantworteten Arbeit.

Der Ablauf ist folgender: Zu einem speziellen Problem/einer Fragestellung werdengezielt Personen, denen man die erfolgreiche Bearbeitung der Aufgabenstellungzutraut, eingeladen. Diese können weitere Teilnehmende benennen (Schneeball-prinzip). Die Zeitdauer, die der Problemstellung entspricht, reicht von mindestensvier Stunden bis zu drei vollen Tagen. Die Leitungspersonen verstehen sich nurals technische Organisatoren und Garanten des ‚Offenen Raums‘, in dem die Teil-nehmenden selbständig die vorgegebene Fragestellung zu strukturieren und zubeantworten versuchen. Es müssen ein größerer Raum, in dem alle Teilnehmen-

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den bequem in einem Kreis bzw. mehreren konzentrischen Kreisen sitzen können(Plenum), und mehrere kleinere Gruppenräume für die 10 oder bis zu mehrerenhundert Teilnehmenden zur Verfügung stehen. Die Konferenzleitung präsentiertzu Beginn die Fragestellung und erläutert die technischen Bedingungen und denzeitlichen Rahmen. Das zentrale technische Medium sind mehrere Pinnwände/

Metaplanwände, an denen Teilnehmende zu Beginn jeder Arbeitseinheit (die je-weils auf anderthalb Stunden befristet ist) einen je speziellen Aspekt oder eineeigene Fragestellung, eine These, bezogen auf das zentrale inhaltliche Anliegen,auf einem Blatt in Plakatgröße mit Zeit- und Raumangaben offerieren können. Sinddie Arbeitsvorschläge alle angeheftet, begeben sich alle Teilnehmenden zu denPinnwänden, sehen die Vorschläge für Einzel-Workshops durch und tragen sich jenach Interesse ein. Die Konferenzleitung achtet darauf, dass bei Doppelangebotenu. U. eine Zusammenlegung erfolgt, dass für jeden Workshop ein Raum zur Verfü-gung steht, dass die Arbeitszeiten eingehalten werden und die jeweiligen Workshop-Anbieter sich verantwortlich wissen, nach jeder Arbeitsrunde Zwischenergebnissefestzuhalten. Um diese Teilergebnisse in den Pausen schnell zu sichern, stehengenügend PCs bereit, in die sie in knapper Form eingegeben werden. Auf einemschnellen Fotokopiergerät werden sie ausgedruckt und vom Tagungs-Sekretariatfür alle sichtbar und verfügbar gemacht. So können in jeder neuen Arbeitsrunde inKritik, Auseinandersetzung und kreativer Ergänzung die Ergebnisse der vorange-gangenen Workshops weiter verarbeitet werden.Die Kommunikationsregeln lauten:– Jede/jeder geht dorthin, wohin sie/ihn das Gefühl trägt.– Jede/r ist hier die richtige Person am richtigen Ort.– Jede/jeder kann in eine Arbeitsgruppe kurz hinein schauen oder bleiben.– Wenn das Gefühl aufkommt, am falschen Ort zu sein, steht man auf und geht.– Was auch immer geschieht – es ist das Einzige, was passieren konnte.– Wenn es anfängt, ist dies der richtige Zeitpunkt.– Wenn es vorbei ist, ist es vorbei.Den Rahmen der Workshops, die sich mit jeder neuen Runde und mit je neuenThematiken in der Regel auch personell neu zusammensetzen, bilden je eine Mor-gen- und eine Abend-Runde im Plenum, Gelegenheiten für ein kurzes Zwischen-Blitzlicht.Den Abschluss bildet eine lange Runde im Plenum, in der die Ergebnisse, die vomKonferenz-Sekretariat zusammengestellt und vervielfältigt worden sind (Abschluss-Dokumentation), noch einmal im Ganzen gesichtet und gewichtet werden. Hierwerden persönliche Eindrücke zur sozialen und inhaltlichen Dynamik des Ganzenausgetauscht und offen gebliebene Fragen und Probleme benannt. Gegebenen-falls wird ein Nachfolgetreffen verabredet.Das Leitungsteam der Bielefelder Veranstaltung bestand aus den Mitgliedern derAG 6 „Berufsbildung und Bildungsplanung“ Gesa Münchenhagen, Dieter Timmer-mann, Wolfgang Wittwer und Udo Witthaus, ergänzt um Klaus I. Rogge vom Lan-desinstitut für Schule und Weiterbildung in Soest und Horst Siebert, Hannover.

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Die Stadtzeichnerin von Bielefeld, Pascale A. Gräbener, hatte den Auftrag, dasGanze zu begleiten und ihre Eindrücke zeichnerisch zu spiegeln.Mein Part war der einer eher wissenschaftlichen Beobachtung. In der Schlussrundekamen wir beide zu Wort, ich mit den folgenden

Beobachtungen

Sitzen drei Raben zusammen, sagt der erste:

Ich wünschte, ich wäre zwei Raben!

Wieso denn das?

Dann könnte ich hinter mir her fliegen.

Sagt der zweite:

Ich wünschte, ich wäre drei Raben,

dann könnte ich sehen, wie ich hinter

mir her fliege ...

So geschah es, dass ich in der Dreier-Formation, Teilnehmer, Selbst- Beobachterund zugleich Beobachter der Gesamt-Dynamik zu sein, in den ‚Open Space‘ flog.Die Flughöhe war niedrig. Das zur Beobachtung überflogene Terrain war ein Saalim Hotel Mercury in Bielefeld, in dem sich am Morgen des 4. Juni 1999 rund 80Kolleginnen und Kollegen erwartungsvoll versammelten.Da alle Beteiligten diese Veranstaltung unterschiedlich wahrgenommen haben, gehtes im Folgenden nur um meine Beobachtungen und deren subjektive Deutung.Mein Bericht ist wie folgt gegliedert:1. Meine Fragen2. Zur Feldabgrenzung3. Zur Methode der Beobachtung4. Was habe ich erlebt?5. Wie interpretiere ich meine Erlebnisse?

1. Meine Fragen

a. Wie wird die Sozialform/Methode ‚Open Space‘ von den Veranstaltern offeriertund wie von den übrigen Beteiligten realisiert?

b. Zur Bewältigung welcher Situationen ist sie geeignet?c. Wie ordne ich sie in mein eigenes Methoden-Repertoire ein?

2. Zur Feldabgrenzung

Ich habe am gesamten Programm teilgenommen, freitags zur Gänze an zwei Work-shops, samstags an einem dritten bis zur Hälfte.

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3. Zur Methode

Unser Begriff „Methode“ ist ein Lehnwort aus dem Griechischen. Das griechischeUrsprungswort „methodos“ wird immer mit „Weg“ übersetzt. Bei näherem Hinse-hen erweist sich, dass es im Griechischen aus zwei Wörtern zusammengesetztist: aus meta =nach/hinter und hodos = Weg, was zusammen folgenden Sinn er-gibt: „das Nachgehen, der Weg zu etwas hin“, „Gang einer Untersuchung“.Der Gang meiner Untersuchung als Beobachtung galt der Erprobung der von Har-rison Owen entwickelten Open-Space-Technology. Ich wollte kein Voyeur sein,sondern wollte aktiv mitmachen, zugleich aber doch genügend Distanz bewahren,um den Veranstaltenden und den Teilnehmenden abschließend spiegeln zu kön-nen, wie ich sie und mich erlebt habe. Ich setzte daher keinen vorbereitetenBeobachtungs-Bogen ein, sondern vertraute mich dem Strudel der Gespräche an.

4. Was habe ich erlebt?

Der erste Teilnehmer, auf den ich am Anreiseabend an der Bar stoße, ist Uwe Pohlaus Oldenburg, dessen Charme und Witz mich immer wieder begeistern.

– Das PräludiumFreitagsmorgens erlebe ich mit Tagungsbeginn einen großen Raum und das klas-sische Setting eines akademischen Vortrags: hier das Auditorium im Halbrund, dortder Veranstaltungsleiter Wolfgang Wittwer, das soziale Subjekt dieses Geschehens.Er produziert den Widerspruch, über selbstgesteuertes Lernen als Thema in der

Sozialform der Belehrung zu sprechen. Die Zuhörenden sind aktiv. Sie halten die-sen Widerspruch aus und machen sich Notizen. Wolfgang Wittwer: Betriebe leb-ten vom Mythos selbstgesteuerten Lernens. Er wolle herausfinden, ob und wie esmöglich ist.Als zweiter Redner folgt Horst Siebert. Die aufmerksamen Zuhörer schreiben vielmit. Der Redner versucht ein kleines Wahrnehmungsspiel zu inszenieren, relati-viert es aber sofort wieder. Er sieht alle Sozialtechnologien auf der Gegenseitesich selbst steuernder Systeme, thematisiert aber nicht den Widerspruch, dass‚Open Space‘ in der Literatur ausdrücklich als Sozialtechnologie firmiert. Ein über-ladenes Schaubild verführt zum name dropping, was Unruhe beim Publikum aus-löst. Siebert zitiert Mandl, dass „vermitteltes“ Wissen „träge“ bleibe, wenn es nichtin interaktionistischen Zusammenhängen erfahrbar werde. Die Zuschauer spie-geln ihm körpersprachlich den Wahrheitsgehalt dieser Einsicht. Die Diskussion zuSieberts Vortrag wird viel zu stark von den Uni-Leuten dominiert, E. Meueler inbe-griffen.Dann entfaltet Klaus I. Rogge eine große Interaktionsübung mit mehreren Rundenund personell immer wieder neu zusammengesetzten Gesprächskreisen, die lei-der immer dann, wenn sie endlich in befriedigender Weise kommunizieren, abruptaufgelöst werden. Die von Klaus I. Rogge vorgegebenen Themen sind sehr an-

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spruchsvoll, enthalten viel Ich-Nähe und zugleich Sach-Nähe zum Thema. Um daswechselseitige Kennenlernen zu ermöglichen, wären Allerwelts-Themen wie „Dieersten fünf Minuten heute morgen“ oder „Kochen, Essen, Trinken“ oder „Fühle ichmich zu dick oder zu dünn?“ leichter zu handhaben gewesen.Am Freitagnachmittag eröffnet Klaus I. Rogge mit normativem Habitus die eigent-liche Open-Space-Veranstaltung: Diese Methode sei nichts für Leute, die einenfesten Seminarplan erwarteten. Zugleich präsentiert er aber einen festen Rahmenmit auszugestaltenden Einzelfeldern. Einige Teilnehmende nehmen vorbereiteteDIN-A-3-Bögen auf und notieren Ideen und Fragen für denkbare Workshops, diezu drei Terminen freitags und samstags für jeweils 90 Minuten stattfinden sollen.Das in der Literatur stets beschriebene freie Spiel der Temperamente, das großechaotische Gewusel der Lehrwilligen und Lernbegierigen vor den Pinnwänden mitselbst erstellten Workshop-Vorschlägen bleibt aus, denn die Vorschläge müssenim Plenum einzeln mündlich erläutert werden, bis Klaus I. Rogge jeweils sein Pla-cet mit einem väterlichen „Schön ...!“ erteilt. Nach 10 Minuten Orientierung vor derPinnwand geht es in die erste Workshop-Runde.

– Der erste WorkshopDie Mitglieder dieser Gruppe sind an Doris Zimmermanns Fragestellung „Was sinddie lernhemmenden Faktoren, die selbstgesteuertes Lernen in den Betrieben be-hindern?“ interessiert. Der Lärmpegel in dem Hotel-Saal, in dem alle Gruppen zu-gleich arbeiten müssen, ist so erheblich, dass man sich nur schwer verständigenkann. Doris Zimmermann gelingt es gleichwohl, den Gesprächsbeginn zu struktu-rieren. Sie fordert die Teilnehmenden auf, sich mit je spezifischen thematischenErwartungen an diesen Workshop vorzustellen. Sie notiert alle zur Sprache ge-brachten Unterthemen, was nach 30 Minuten der Vorstellung und assoziativer Aus-differenzierung der Thematik einen so hohen Komplexitätsgrad von Fragestellun-gen ergibt, dass sie auf seriöse Weise in der noch zur Verfügung stehenden Zeitnicht bearbeitet werden können. Die Moderatorin reagiert gelassen auf den selbsterzeugten Druck, schränkt die Fragestellung wieder ein und spitzt sie zu: „Wielernhemmend sind Chefs?“ Die Gruppe steigt lebhaft auf diese Frage ein. Es kommtzu einer intensiven Mehrfachspiegelung des Problems auf unterschiedlichen Ebe-nen. Fast alle beteiligen sich. Als ein Teilnehmer in eine andere Richtung drängt,führt ihn Frau Zimmermann sanft, aber bestimmt zu ihrem Thema zurück. Nach 16Uhr gehen die Nachbargruppen wohl in eine informelle Phase über. Ihr lautes La-chen stört unsere Gruppe, aber Doris Zimmermann gelingt es, auf ihre eigene An-fangsfrage zurückzukommen. Die Teilnehmenden gehen interessiert und kollegialmit einander um. Die Heterogenität der beruflichen Erfahrungen von Männern undFrauen erweist sich als Gewinn.

– Der zweite WorkshopIn einer Gruppe von fünf Frauen und drei Männern lautet die Leitfrage: „Wie führenwir selbstgesteuertes Lernen in Gruppen ein?“. Als auf diese Frage hin keine Re-aktionen zustande kommen, wird sie eingeengt auf: „Wie viel Moderation/Struktur

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braucht Selbstorganisation?“. Der anfängliche „Impulsgeber“ und Moderator gibtseine Rolle auf, nachdem wir aus Gründen eines allgemein hohen Lärmpegels indie Mitte des Saals gezogen sind. Die anfängliche Klärung der Begriffe „selbst-gesteuert, selbstorganisiert, selbstbestimmt“, die fortan als Synonyme verstandenwerden sollen, führt zu der allseits bekräftigten Einsicht, dass auch selbstbestimmteVeranstaltungen eine sicherheitsgebende Struktur benötigen. Das Gespräch gehtsehr konzentriert hin und her. Mehrere äußern sich zufrieden darüber, dass dieGruppe nicht gezwungen ist, vorzeigbare Ergebnisse zu produzieren, sondern denLuxus eines leistungsentlasteten Gesprächs mit einem hohen Maß an Professio-nalität genießen kann. Eine Teilnehmerin meint, die hier praktizierte Sozialformoder Methode ‚Open Space‘ gleichzeitig zum Thema der Veranstaltung zu ma-chen sei „ziemlich um die Ecke“. Ein anderer kommentiert dies so: Eine Uni-Ver-anstaltung könne doch nie scheitern.

– Die ‚Abendnachrichten‘In einem knappen Zwischenplenum werden in entspannter Form offene Fragenund Anmerkungen zu dem bis dahin erlebten Prozess ausgetauscht. Der Kritik,eine gemeinsam zu lösende Aufgabe wäre sinnvoll gewesen, wird nicht widerspro-chen. Eine Teilnehmerin berichtet daraufhin von zwei Situationen, in denen auf-gabenbezogen erfolgreich mit der Methode ‚Open Space‘ gearbeitet wurde.

– Der dritte WorkshopOhne Moderation widmen sich samstags morgens zunächst neun, später mehrTeilnehmende der „Spannung zwischen individualistischem Lernen und der beruf-lichen Qualifikation“. Der „Impulsgeber“ erläutert vorsichtig die Problemstellung inder Dialektik von Zwang und Freiheit sowohl im privaten wie im beruflichen Leben.Im darauf folgenden Gespräch mit starkem Unterhaltungswert geht es auf einemhohen gedanklichen Niveau hin und her: Um kreative Potentiale entfalten zu kön-nen, müsse man Freiräume haben, andererseits provoziere erlittener Zwang krea-tive Subjektivität als Widerständigkeit. Theorie-Partikel werden in die Runde ge-worfen, mit Lust und locker aufgefangen und zurückgeworfen. Keiner braucht sichauf Kosten der anderen zu profilieren.

– Die KaffeepausenDie inhaltliche Attraktivität von Kaffeepausen im Rahmen traditioneller Kongressehatte einst Harrison Owen inspiriert, für den selbstgesteuerten Austausch kreati-ver Ideen mit ‚Open Space‘ sozusagen eine Konferenz aus Kaffeepausen zu kre-ieren. Aber auch bei ‚Open Space‘ sind Kaffeepausen unverzichtbar.

– Die SchlussrundeIn der Literatur zu ‚Open Space‘ wird geraten, das letzte Drittel der Veranstaltungder Auswertung zu widmen. Dazu sei es nötig, die Ergebnisse allen zugänglich zumachen und sichtbar zu platzieren. Dies unterbleibt hier in Bielefeld. Da dieser

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Versuch an der Uni allem Anschein nach nicht auf konkrete Weiterarbeit angelegtist, klingt die Tagung am Samstagmittag mit abschließenden Statements aus:Einem Rückblick von Pascale A. Gräbener, deren Beobachtungen als Zeichnun-gen an der Wand ausgestellt sind, folgt die Aufforderung an die Teilnehmenden,„in bitte nur einem Satz“ zum Ausdruck zu bringen, wie sie sich selbst und dieanderen erlebt haben und was ihnen zur Übertragbarkeit dieser Sozialform/Me-thode in den eigenen Arbeitszusammenhang einfällt. Dies geschieht.Ich schildere meine Beobachtungen.Udo Witthaus spricht im Namen der Veranstalter das Schlusswort.Manche haben Visitenkarten zur Hand, die sie interessierten Kolleginnen und Kol-legen aushändigen können, andere notieren sich Telefonnummern – Abschieds-szenen.

5. Wie interpretiere ich meine Erlebnisse?

Die Veranstalter schienen weder der Methode ‚Open Space‘ noch der Kraft derBeteiligten, unter selbstgewählten Fragestellungen ihr Lernen im Erfahrungsaus-tausch selbst organisieren zu können, so recht zu trauen, sonst hätten sie nichtzwei einleitende Vorträge auf der Metaebene und der nachfolgenden praktischenErprobung des ‚Open Space‘ eine 37-minütige Erläuterung dieser Sozialform vor-geschaltet. Der mit der Einladung versprochene „offene Raum“ wurde so immerenger.Als zur ersten Gesprächsrunde alle Gruppen-Themen im Plenum abgesegnet wer-den mussten, klingelte mir Owens Satz in den Ohren: „Es gibt einen einzigen Weg,der den Misserfolg eines Open-Space-Ereignisses garantiert, und das ist der Ver-such, die Kontrolle zu behalten.“Für Betriebe und Organisationen, in denen es um die Bewältigung echter Proble-me und um die Suche nach Auswegen aus völlig verfahrenen komplexen Situatio-nen geht, können mit der Sozialform des ‚Open Space‘ die Spontaneität und Krea-tivität, die institutionelle Phantasie aller relevanten Mitarbeitenden und Leitungs-personen genutzt werden.Dazu ist es nötig, wie von Owen und anderen beschrieben, nach jedem Arbeits-schub die erarbeiteten Zwischenergebnisse zu bündeln, in den PC einzugeben,auszudrucken und zu vervielfältigen, um sie in der darauffolgenden Arbeitseinheitfür alle verfügbar zu haben. Von diesem strukturell erzeugten Zwang zur Progres-sion, zu direkt verwertbaren effizienten Ergebnissen war diese Uni-Veranstaltungbewusst entlastet. Das war schade, denn damit wurde die Absicht, den Teilneh-menden Lust und Mut zu machen, diese Methode selbst in ihren Arbeitszusammen-hängen anzuwenden, nach Owens Maßstäben nur halbherzig verfolgt.Gleichwohl erlebte ich einen herrschaftsfreien Diskurs unter interessierten Kolle-gen und Kolleginnen, einen lebhaften Erfahrungsaustausch, bei dem die kommu-

nikativen Prozesse wichtiger waren als vorzeigbare Ergebnisse.

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Die Teilnehmenden kamen allem Anschein nach weniger aus inhaltlichen Interes-sen nach Bielefeld, sondern aus handwerklicher Neugierde. Sie konnten hier eineneue Kommunikations-Möglichkeit in Form eines ungewohnten Interaktionsspielskennen lernen. Es herrschte trotz der beengten Räumlichkeit (alle Arbeitsgruppenmussten in einem Raum arbeiten) eine große Bereitschaft, sich auf diese Unbe-quemlichkeit, auf andere und anderes einzulassen. In Abstinenz vom eigenen be-ruflichen Führungsverhalten bestand eine unausgesprochene Handlungsorientie-rung der Beteiligten darin, sich nicht als moderierende Person einbringen und dieGespräche nicht zu stark strukturieren zu wollen. Niemand zog ein zu Hause vor-bereitetes Statement aus der Tasche, um es vorzulesen. Die gespannte und zu-gleich heitere Gesprächssituation wurde genossen. Die Chance, andere mit knappzusammengefassten Erfahrungen, mit kreativen Ideen zu überraschen, wurde ge-nutzt. Es bestand Gelegenheit, von den anderen gespiegelt zu bekommen, wie dieeigenen Beiträge erlebt wurden. Jede/jeder nahm sich von dem Aufgetischten das,was für sie und ihn bedeutsam war.Wie ordne ich die Bielefelder Erfahrung in mein Repertoire in der Erwachsenenbil-dung favorisierter Sozialformen und Methoden ein?– „Selbstgesteuertes Lernen in Organisationen“ wurde hier tatsächlich erlebt: Das

Thema war ebenso extern vorgegeben wie die Zeiten und die Abfolge der Ar-beitsschritte; selbstbestimmt waren ‚nur‘ die Formulierung von Unter-Fragestel-lungen und die Sozialformen in den selbst gewählten Gruppen (Moderation oderfreier Gedankenfluss?). Diese Erfahrung entspricht der alltäglichen Praxis or-ganisierter Bildungsveranstaltungen, in denen auch bei hohem Selbstbestim-mungs-Anspruch Formen der Selbst- und Fremdsteuerung immer in Mischungauftreten.

– Die hier gemachte soziale Erfahrung ist m. E. nicht so ohne weiteres auf andereArbeitszusammenhänge übertragbar: Es handelte sich um eine außergewöhn-liche Zusammenkunft von Fachleuten beiderlei Geschlechts mit je spezifischemWollen und Können inklusive großem inhaltlichen Vorwissen, erwachsen ausganz unterschiedlichem lebensgeschichtlichen und beruflichen Hintergrund. Ler-nen konnte im Erfahrungsaustausch (Kolleg/innen lernen von Kolleg/innen) statt-finden.

– Sowohl in der allgemeinen Erwachsenenbildung wie an der Uni und in der Fort-

bildung setze ich stets auf größtmögliche Selbsttätigkeit und Eigenverantwort-

lichkeit der Lernsubjekte. In diesem Zusammenhang erinnert mich das Bielefel-der Setting an bewährte Methoden, wie die des Strukturierten Brainstorming,der Lehr-Lern-Verträge und selbstgesteuerter Lerngruppen. Gleichzeitig bedür-fen solche stark lernergesteuerten Aktivitäten m. E. des behutsamen Einsatzesvon Personen, deren Erfahrungen die der Lerngruppe übersteigen, oder ande-rer Quellen aktivierenden und weiterführenden Wissens:In der allgemeinen Erwachsenenbildung geht es ja nicht in erster Linie darum,Menschen zusammenzuführen, die das, was sie gerade interessiert, miteinan-der besprechen. Es geht darum, ganz bewusst Lerngelegenheiten als Gelegen-

heiten zur Subjekt-Entwicklung zu organisieren. Dem Austausch von Alltags-

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erfahrungen, -wissen und -theorien wird strukturiertes gesellschaftliches Wis-sen zu den verhandelten Sachverhalten gegenübergestellt, um zum Lernenmotivierende Diskrepanzerlebnisse oder Bestätigung, in jedem Fall aber denErwerb neuen Wissens zu ermöglichen.Für die allgemeine Erwachsenenbildung ziehe ich daher als Sozialform den Lern-

Markt vor, der seit über 20 Jahren zum bewährten Repertoire subjektorientierterErwachsenenbildung gehört. Dieses Arrangement besteht auch aus einem ‚OpenSpace‘, der mit Informations-Angeboten („Ich, AB, biete folgendes an ...“) undInformations-Wünschen („Ich, XZ, suche Informationen/Erfahrungen zu ...“) sei-tens der Teilnehmenden, die wie hier an Pinnwänden notiert werden, gefüllt wird.Die Arbeitszeiten werden je nach Gegenstand variierend unter den Beteiligtenausgehandelt. Im Gegensatz zu dem Bielefelder Setting lade ich aber zum Lern-markt einige Fachleute ein, die sich für den Fall, dass sie von einem oder meh-reren zum Gespräch gebeten werden, bereithalten, ohne dass Druck entstehendarf, als Fachfrau/Fachmann unter allen Umständen zum Lehr-Einsatz kom-men zu müssen.

– ‚Open Space‘ ist demgegenüber eine ausgesprochene Problemlösungs-Metho-

de. Sie erscheint mir bestens geeignet, in Kommunen, in Betrieben, in sozialen

Organisationen auf demokratische Weise unter Einsatz aller mobilisierbaren In-

formationen und Ideen eine alle existentiell betreffende Unsicherheit aufzulö-

sen, eine offene, schwebende Frage zu klären. In ihrem Vollzug ergibt sich dieunverwechselbare Chance, unter der Bedingung freiwilliger Teilnahme kreativeRessourcen aller Beteiligten zu nutzen, um die Konflikt-Situation neu zu defi-nieren und ein realisierbares und von allen verantwortetes Krisenmanagementauszudenken und zu verwirklichen.

Literatur

Owen, Harrison: Open Space Technology – A User’s Guide. Abbott Publishing 1992Ebeling, Ingrid: Opem Space. In: Grundlagen der Weiterbildung – Praxishilfen, Loseblatt-

sammlung 7.30.10.3, Neuwied 1998, S. 1–11

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Hans Leuschner/Ursula Reuther

Lernen am Arbeitsplatz – neue Lernkulturen

1. Veränderungen in der Unternehmenslandschaft

Reorganisation wird in Unternehmen heute mehr und mehr als komplexer betrieb-licher Entwicklungs-Prozess und immer seltener als singuläres Entwicklungs-Pro-jekt erkannt und behandelt. Vorhaben der Unternehmensentwicklung werden alskontinuierliches Zusammenspiel von Innovation und Routine entwickelt und reali-siert. Selbst im Projektmanagement vollzieht sich der Wandel von riesigen, langjäh-rigen Einzelprojekten zu überschaubaren, aufeinander aufbauenden und mitein-ander korrespondierenden Kleinprojekten in Folge. Unternehmensentwicklung wirdunter den komplexeren und beschleunigten Wettbewerbsbedingungen mehr alsbisher eine alltägliche, für die Überlebenschancen auf dem Markt unumgänglicheAngelegenheit.Die Sicherung der Marktposition ist ohne diese ständige Veränderung kaum nochzu verwirklichen. Leistungskraft und Flexibilität unterliegen deutlicher noch als vorzehn Jahren einem steten Wachstumsdruck. Dabei entdecken die Unternehmen,dass letztendlich ihre Mitarbeiter der wettbewerbsentscheidende Faktor sind.Die menschliche Innovations- und Leistungskraft wird zum wertvollsten Gut. Egal,ob Organisationen, Techniken, Technologien, Standorte etc. verändert werden –sie funktionieren erst, wenn sie gelebt werden. Um die dafür erforderlichen Einstel-lungen, Kompetenzen sowie das Verhalten zu schaffen, benötigen Organisationenoft Jahre. Diese Erkenntnis ist nicht neu, sie tritt aber unter den Bedingungen despermanenten Veränderungsdrucks deutlicher in den Vordergrund.Die hohe Wertschätzung der Innovations- und Leistungskraft wird zumeist mit demZiel verknüpft, eine lernende Organisation zu schaffen. Lernen wird zur alltägli-chen Selbstverständlichkeit. Lernen im Unternehmen entfaltet sich intensiver, viel-fältiger und in hohem Maße selbstorganisiert. Gleichzeitig werden Lernprozessestärker zentral und dezentral unterstützt. Es entsteht eine neue Lernkultur. Konti-nuierliche Lernprozesse mit vielfältigen, dynamischen, kurzzeitigen Elementen tre-ten an die Stelle großer Vorhaben mit Hilfe von temporären Bildungsinitiativen undaufstiegsorientierten Einzelbausteinen.Tradierte, ehemals durchaus bewährte Curricula verlieren dabei unter bestimmtenBedingungen ihre Bedeutung, so zum Beispiel in der beruflichen Ausbildung imBereich moderner Informations- und Kommunikationstechnologien.In dynamischen, lernenden Organisationen dominieren andere Formen des Er-werbs von Handlungsfähigkeit. Flexible, kommunikations- und mediengestützteFormen des Lernens in Arbeitszusammenhängen treten in den Vordergrund undverdrängen die inhaltlich und zeitlich umfangreichen Weiterbildungsveranstaltun-gen. Dort, wo es sinnvoll erscheint, wird nach neuen Verknüpfungen von flexiblenLernformen mit traditionellen Formen gesucht.

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Überlegungen zu einer neuen Lernkultur reduzieren sich keinesfalls auf moderneInstrumente respektive Medien oder Lernformen. Vielmehr verbinden wir mit die-sem Anspruch eine hohe Sensibilität der Menschen für das Erkennen von Lerner-fordernissen und Lernchancen in allem, was im Unternehmen und im gesellschaft-lichen Umfeld geschieht, sowie eine ausgeprägte Selbstorganisationsfähigkeit derMitarbeiter und Teams.Lösungen für eine neue Lernkultur und neue Lernformen in der Arbeit geht dasProgramm „Kompetenzentwicklung für den wirtschaftlichen Wandel – Strukturver-änderungen betrieblicher Weiterbildung” (Leuschner/Reuther 1997, S. 365 ff.) nach.Beteiligt sind 30 Betriebe mit sehr verschiedenen Projekten der Kompetenzent-wicklung. Diese Projekte werden von wissenschaftlichen Begleitern evaluiert. Da-neben werden in vier Projekten der Grundlagenforschung Zusammenhänge zwi-schen personellen, organisationalen sowie weiteren Rahmenbedingungen einer-seits und Kompetenzentwicklung andererseits erforscht. Gleichzeitig werden da-bei Instrumente zur Messung und Bewertung entwickelt. Alle Einzelvorhaben imRahmen des Programms werden durch einen wissenschaftlichen Beirat und einProcess-Center gesteuert und koordiniert. Das Programm wird von den Bundesmi-nisterien für Bildung und Forschung sowie für Arbeit und Sozialordnung gefördert,in das auch Mittel aus dem Ziel-4-Programm des Europäischen Sozialfonds ein-fließen.Die von uns weiter unten beschriebenen Unternehmen haben im Zuge ihrer Orga-nisations- und Personalentwicklung erkannt, dass ihr Beitrag zum Unternehmenser-folg weniger darin besteht, den Mitarbeitern vorzugeben, was sie wissen sollten,sondern ihnen Möglichkeiten zu eröffnen, Kompetenzen eigeninitiiert und unkon-ventionell zu erwerben, zu erhalten und einzusetzen. Das geschieht hauptsächlichim Kontext von Arbeitszusammenhängen, in denen der transferorientierte Er-fahrungserwerb und -austausch von großer Bedeutung ist. Lernen ist auf die Ent-wicklung des Arbeitsplatzes, des Arbeitsumfeldes sowie der individuellen Poten-tiale ausgerichtet.Merkmale einer neuen Lernkultur in den von uns beobachteten Unternehmen so-wie deren Elemente werden im nachfolgenden zweiten Kapitel beschrieben. Imdritten Kapitel werden dann einige konkrete Architekturen von Entwicklungspro-zessen in Unternehmen vorgestellt.

2. Merkmale und Formen einer neuen Lernkultur in Unternehmen

Ist die Rede von einer neuen Lernkultur oder vom „Wandel der Weiterbildung zurKompetenzentwicklung”, so erwecken wir in der Regel noch immer den Eindruck,als wollten wir die klassischen Lernformen, wie zum Beispiel Seminare, Schulun-gen und Trainings, tot reden. Deshalb sei hier vorab betont: Dies liegt keinesfallsin unserer Absicht. Traditionelle Weiterbildung(-sformen) behält für spezifischeBildungsbereiche und -intentionen ihre Existenzberechtigung – zumal sie heutezum Teil veränderte Funktionen erfüllt. Insofern werden traditionelle Weiterbildungs-

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formen stärker als bisher ein Element im Ensemble mit vielen anderen, um denkontinuierlichen Lernprozess der Mitarbeiter und der Organisation effizient zu ge-stalten. Bei der Wahl der Lernform und -mittel wird zukünftig weniger ausschlag-gebend sein, ob und welches formale Zertifikat erteilt wird, sondern vielmehr, wel-ches Potential der Lernprozess für die individuelle Kompetenzentwicklung und dieWertschöpfung im Unternehmen freisetzt.Bei der Beschreibung der neuen Lernkultur in der Praxis geht es uns hier um dieAbgrenzung gegenüber konventionellen Lernkulturen. Zahlreiche Lerntechnikenbleiben dabei im Bestand; dass ein Buch gelesen wird, ist auch in einer neuenLernkultur unstrittig und ebenso, dass Wissen und Fertigkeiten durch Reproduk-tion und Repetition gefestigt werden.Was aber kennzeichnet die sich herausbildende neue Lernkultur in Unternehmen?Welche Kriterien müssen erfüllt werden, um deren Vorteile für Menschen und Or-ganisationen nutzen zu können?Mit der nachfolgenden Tabelle wird versucht, ausgehend von Reflexionen der be-trieblichen Praxis ein Anforderungsprofil „Neue Lernkultur im Unternehmen” zu for-mulieren. Zugleich erfasst und beschreibt diese Übersicht wesentliche Merkmaleeiner neuen Lernkultur, die in den Unternehmen existieren.

Merkmal Beschreibung des Merkmals

Alltäglichkeit – Lernchancen liegen faktisch in allem, was wir tun. Es gilt,und Permanenz diese bewusst zu machen und zu identifizieren, damit wir

sie nutzen können.– Lernen dient hauptsächlich dem Ausbau von Stärken. Wer

nicht lernt, läuft Gefahr, Wissen und Können zu verler-nen.

Prozesshaftigkeit – Lernen und die bewusste Gestaltung von Lernprozessensind nicht mehr ein besonderes Element des Arbeits-systems, sondern ein alltägliches.

– Maßnahmeketten überwiegen vor Einzelmaßnahmen.

Prozess- – Lernen berücksichtigt beteiligtenübergreifende Lern-Orientierung konsequenzen.

– Lernprogramme orientieren sich entlang des Prozessesund weniger anhand abgegrenzter Struktureinheiten.

Selbstorganisation – Lernen gehört in die Selbstverantwortung.– Höhere Eigenverantwortung durch bewusste Auswahl von

Lernangeboten (Selbststudium, CBT u.a.)– Von der Schule zur Lernförderung und Lernhilfe.– Teilnehmer bestimmen eigene Lernpfade (mit).

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Implikation von – Nutzung von Lernpotentialen in weiterbildungsfremden Er-Lernelementen eignissen (Reflexion von Arbeitsprozessen in der Grup-im Arbeitsalltag pe).

– Veränderung der Führungsrolle (Verantwortung für Lern-prozesse/PE/OE: Coaching, Supervision, Mentoring).

– Abbau von Lerneliten in Unternehmen.– Abbau von Formalien für Weiterbildungsmaßnahmen.

Transfer- – Ausbau und Normalisierung von arbeitsplatznahen Maß-Orientierung nahmen (Rotation, Besuche, Schnittstellengespräche).

– Es finden viele kleine statt weniger großer Maßnahmenstatt.

– Aus Lernaktivitäten ergeben sich Gestaltungsmaßnah-men. Das heißt, Lernen erfordert das Bewusstmachenvon Konsequenzen und die eigene Verbindlichkeit dazu.

– Die Forderung nach hoher Unternehmensspezifik vonLernbausteinen aus konventionellen Lernkulturen wird zurBedingung.

– Die Nutzung von Erfahrungswissen wird institutionalisiert.

Transparenz und – Zugang zu Lerninformationen und -quellen für alle Mitar-Überprüfbarkeit beiter.

– Evaluation von Lernprozessen.– Nutzennachweis.

Diversifikation – Vervielfachung von Lernprozessen durch Dezentralisie-rung der Lernverantwortung und veränderte Führungs-aufgaben.

– Unterstützung vieler kleiner statt weniger großer Maßnah-men. Lernmaßnahmen müssen imitierbar sein.

– Vernetzung von Lernelementen mit anderen Personen-gruppen (Abteilungen, Lieferanten, Kunden).

Erlebnis-, – Lernen durch Projektarbeit u.ä.Erfahrungs- und – Lernen durch Reflektion.Fehlerkultur – Lernen aus Fehlern.

Dabei wird deutlich, dass es gar nicht so sehr um die Erfindung vollkommen neuerLernformen und -bausteine geht, sondern vielmehr um ihre Gestaltung, Kombina-tion und Verwendung.Neue Lernkultur bevorzugt aktive Lernformen, nutzt aber auch konventionelle, diein der Regel passiv sind. Somit ergibt sich eine Liste der Formen einer neuenLernkultur, die in der folgenden Abbildung gruppiert worden sind (die Darstellungerhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit):

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Abb. 1: Elemente neuer Lernkultur * vertikal und horizontal

Anhand einiger ausgewählter Fallbeispiele werden im anschließenden Kapitel Merk-male, Formen sowie Erfahrungen mit neuer Lernkultur in Unternehmen skizziert.Insgesamt gehören zu dem von dem Process-Center koordinierten Programm 30Unternehmen, in denen Kompetenzentwicklungsprozesse für den wirtschaftlichenWandel ablaufen.

3. Fallbeispiele

3.1 Flexibilisierung der DV-Entwicklung

a) ObjektKonzernstab Organisation einer großen Bank, Bereich DV.b) AusgangssituationDie Beauftragung und Bearbeitung großer abgeschlossener DV-Projekte verhin-dert eine permanente und flexible Entwicklung im Service der Bank gegenüberihren Kunden und für die eigenen Mitarbeiter. Deshalb sollte zu einem Verfahren

Gruppenarbeit,Verlagerung von Ent-

scheidungskompetenz,Implementierung vonZentralbereichen indezentr. Einheiten

Coaching,Supervision*, AC/

Potentialanalyse, MA-Gespräch, Zielvereinbarung,

kollektive Beratung,Reflexion*

innerbetrieblicheRotation und Einsatz

in Fremdfirmen

Workshopsund

TrainingsVorträge,

Vorlesungen,Seminare

Gruppen- undSchnittstellengespräche,

Erfahrungskreise,Lerngruppen,

Themengruppen,Projektgruppen

Selbststudienmaterial(Audio-/Videoprogramme,

CBT, Bücher)

Elementeneuer

Lernkultur

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übergegangen werden, in dem viele kleine Entwicklungs- und Wartungsprojektemöglich sind, die gleichzeitig die zwischen ihnen liegenden Schnittstellen berück-sichtigen. Als Engpass dafür stellte sich die stark begrenzte Anzahl von Projektlei-tern heraus.c) VorhabenInnerhalb kurzer Zeit sollte eine Multiplikation der Projektzahl und damit auch ei-ner entsprechenden Zahl geeigneter Projektverantwortlicher erreicht werden. Diebetroffenen Kandidaten sollten im Zuge der Projektarbeit kompetent gemacht wer-den.d) LösungKollegiale Beratung und parallel angebotenes Mentorensystem.e) LösungsbeschreibungDie kollegiale Beratung ähnelt zunächst einer Erfahrungsaustausch-Runde im Un-ternehmen. Sie zählt zu den arbeitsplatznahen Lernformen und schließt Elementedes Benchmarking ein. Hinzu kommt, dass sie methodisch und zum Teil auch in-haltlich von externen und internen Beratern unterstützt wird. Hier sind die Betroffe-nen mit – stets den gleichen – Beratern unter sich. Eine anfänglich vorgeseheneKombination mit dem Mentoring hat sich nicht bewährt, da es den Aufbau einesvertrauensvollen, offenen und kritischen Klimas behinderte.Das Mentoring existiert neben der kollegialen Beratung. Hier kann sich jeder neueProjektleiter einen Mentor seines Vertrauens auswählen. Das ist oftmals nicht derbisherige Vorgesetzte. Das Mentoring besteht als Option für jeden einzelnen neu-en Projektleiter. Es gibt kein Pflicht-Mentoring. Das Mentoring funktioniert als eineArt Konsultation, die dem neuen Projektleiter die Möglichkeit bietet, Verfahrens-und Fachfragen sowie den Umgang mit Humanfaktoren im Projektmanagementmit einer einzelnen, erfahrenen Person zu besprechen und sich Rat zu holen.Zur Unterstützung dieses und ähnlich gelagerter Folgeprojekte erfolgte parallel dieQualifizierung interner Berater. Dieser Schritt wurde mit Hilfe von Schulungen, Trai-nings und Coachings begonnen. Dazu wurden externe Berater herangezogen. Mitt-lerweile besteht ein eigenes Beraternetz aus internen und externen Beratern. We-sentliche Basis dieses Netzes ist die gemeinsame Grundausrichtung der externenund internen Berater. Das erfolgte durch Briefing, Monitoring und Supervision derBeratergruppen.Die Kooperation von internen und externen Beratern lebt von einem hohen Gradder Selbstorganisation und dezentralen Entscheidungsbefugnissen. In Tandemsführen beide gemeinsame Kundenbearbeitungen einschließlich Coachings undSupervisionen durch. Eng damit verbunden ist eine flexible Rollenausgestaltung,so dass die Schnittmengen zwischen den Tätigkeitsschwerpunkten der externenund internen Berater sehr groß sind.Somit wurde neben dem Kernziel, die Flexibilität in der DV-Entwicklung bei hoherQualitätssicherheit mit Hilfe von Multiplikation zu erhöhen, erreicht, dass auch diePersonalentwicklungsabteilung einen Wandel zum internen Dienstleister mitBeratungsfunktion realisieren konnte.

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Der Nutzeffekt und die positive Resonanz haben unter anderem dazu geführt, dassdie Mitarbeiterzahl hier um ein Drittel erhöht wurde. Die hohe Resonanz weist auchdarauf hin, dass die Mitarbeiter bewusst andere Abteilungen in die Bearbeitungdes internen Marktes einbezogen haben und dadurch Schnittstellen im Unterneh-men transparenter gemacht wurden.Als markantes Beispiel dafür gilt, dass die zentrale Personalentwicklung des Un-ternehmens lange Zeit ohne Kenntnis des Programms zur Entwicklung von zu-sätzlichen Projektleitern leben konnte und mittlerweile die Erfahrungen für andereUnternehmensbereiche übernommen hat.f) Verlauf• Konzeptionelle Phase

Die Neustrukturierung des betroffenen Konzernstabs führte unter anderem zu ei-nem neuen Softwareentwicklungsprozess. Dieser Prozess war vor allem von ei-nem anwenderorientierten Herangehen gekennzeichnet, das den Nutzer bereitsstärker bei der Entwicklung einband.Gleichzeitig bedeutete Anwenderorientierung, die Flexibilität und Kontinuität derSoftwareentwicklung stark zu erhöhen. An Stelle weniger Großprojekte sollten mehrkleinere Projekte in kürzeren und für den Nutzer transparenteren Phasen realisiertwerden. Daraus resultierte ein erhöhter Bedarf an Projektleitern. Rein quantitativlagen die Vorhersagen dafür bei zusätzlich 10 Personen.Die Aufgabe für die stabseigene Personalentwicklung bestand nun darin, mög-lichst rasch diesen Bedarf zu decken. Dies sollte durch die schnelle und unmittel-bar transferierbare Qualifizierung von Nachwuchs-Projektleitern geschehen. Des-halb war die erste Idee, die Aufgabe über Coachings durch erfahrene Projektleiterzu realisieren.1

Entwicklung der PE zum internen Dienstleister

Reorganisation der Unternehmenseinheit DV

Mentoring Mentoring Mentoring Mentoring(optional) (optional) (optional) (optional)

Kollegiale Beratung

Projektmanagement-Seminar-Baustein (mit Modifikationen)

© Process-Center KompetenzentwicklungABWF eV.

Abb. 2: Projektskizze im DV-Bereich

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• Anforderungsprofile

Die Personalentwickler des Konzernstabes hatten zum Ziel,– den Projektleiternachwuchs schnell an die Projektverantwortung heranzuführen;– Unerfahrenheit abzubauen und gleichzeitig gerade für Fehler und Probleme ei-

nen geeigneten Raum zu schaffen;– den Nutzen von Kompetenzfeldern, wie zum Beispiel auch Kommunikations-,

Moderations- und Konfliktlösetechniken, selbst zu entdecken und zu erleben;– Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein des Nachwuchses zu stärken;– über ein Frühwarnsystem für Projektverläufe zu verfügen;– die Personalentwicklung selbst zu qualifizieren und zum internen Dienstleister

zu machen;– unternehmensweite Effekte zu fördern.• Barrieren und Widerstände

Weniger spannend ist hier das darauf aufbauende Projektkonzept, als vielmehr,welche Erfahrungen bereits in der Anfangsphase gesammelt werden konnten. Soging es zunächst um die Frage von Vertraulichkeit versus Projektsicherung. Da-hinter stand das Problem, dass Führungskräfte als Coaches in der Regel bei Pro-blemen im Prozess – der unter der Leitung und in der Verantwortung des Nach-wuchses liegt – zur Intervention neigen. Damit werden einerseits die Akzeptanzund das Selbstbewusstsein des Nachwuchses untergraben. Andererseits ziehendie Führungskräfte damit wieder die Projektleitung an sich.Es ging hier letztlich um die Eskalationskompetenz der Coaches. Darunter wirdverstanden, dass der Coach sich auch nicht in seiner Funktion als Führungskraftin den Prozess einmischt, wenn er aus dem Coaching-Gespräch auf Probleme imProjekt schließen kann. Man hat sich dabei für die Vertraulichkeit und gegen dieÖffentlichmachung von Fehlern entschlossen. Die Prozesssicherheit sollte durchein Projektdiagnosesystem gewährleistet werden.Es zeigte sich jedoch bald, dass auch das nicht die akzeptierte Lösung sein konn-te, da sie Vertraulichkeit zwar ankündigte, aber nicht versachlichte. Die offenbarhohen Berührungsbarrieren zwischen Führungskräften und Nachwuchs waren soausgeprägt, dass die nutzenorientierte Qualifizierung durch Coaching nicht hinrei-chend überzeugte. Statt dessen wurde das Coaching-Vorhaben geteilt, indem diekollegiale Beratung und ein Mentoringsystem aufgebaut wurden.Mit der kollegialen Beratung war ein Gremium geschaffen, in dem Fehler und Un-sicherheiten sowie Erfolge mitgeteilt und diskutiert werden konnten, ohne persön-liche oder personelle Konsequenzen zu fürchten. Eher als Ergänzung dazu wurdeneben der Unterstützung durch interne und externe Berater die Möglichkeit fürBeratung durch einen etablierten Projektleiter geschaffen. Der Zugriff auf diesesAngebot wird von jedem Nachwuchs-Projektleiter selbst entschieden.• Nutzen

Der große Vorteil arbeitsplatznaher oder arbeitsplatzintegrierter Lernformen ist, dassihr Nutzeffekt sich an praktischen Leistungsdaten fest machen lässt und somit auchpräziser evaluiert werden kann.

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Die Erfolge aus dem kurz beschriebenen Fallbeispiel lassen sich wie folgt zusam-menfassen:– Die Hälfte aller Projektleitungen wird durch das Unterstützungsprogramm gesi-

chert, womit die angestrebte Vervielfachung der Projektzahl gewährleistet ist.– Es haben sich mittlerweile fünf Lerngruppen für das Programm aus kollegialer

Beratung, Mentoring und Seminaren gebildet.– Es ist ein Beraternetz aus internen wie externen Spezialisten für Fach- und

Methodenkompetenzen aufgebaut worden.– Personalentwicklung ist als interne Dienstleistung etabliert. Die Kompetenz der

Personalentwicklung wurde entlang des Reorganisationsprozesses im Konzern-stab entwickelt. Maßnahmen wie beispielsweise „kollegiale Beratung” sind einProdukt für den internen Markt.

– Die Erfolge in den DV-Projekten bestätigen Kompetenzfortschritte hinsichtlichsystemischer Sicht, Rollenklarheit, Problemerkennung und selbständiger Pro-blembearbeitung sowie Controlling im Projektmanagement.

– Entwicklung der Führungskräfte anhand der Realanforderungen.– Multiplikation des Systems im Unternehmen.– Kooperative Bearbeitung von Schnittstellen.

3.2 Vom Druckbetrieb zum Multimedia-Unternehmen

a) ObjektMittelständischer Druckbetrieb mit rund 50 Mitarbeiternb) AusgangssituationAufgrund des kundenseitig zunehmenden Einsatzes moderner Informations- undKommunikationstechnologien bricht der Markt für traditionelle Produkte der Druck-branche (Geschäftspapiere und Formulare) zu großen Teilen weg. Deutliche Um-satzeinbußen waren in dem beobachteten Druckbetrieb zu verzeichnen.c) VorhabenZur Kompensation der Umsatzeinbußen sollten neue Geschäftszweige aufgebautwerden. Eine strategische Orientierung erkannte man in der Entwicklung von Kom-petenzen des Multimedia-Bereiches. Das Unternehmen wurde um die Geschäfts-felder Werbedrucke, Verlagserzeugnisse und digitale Medien erweitert. Das setztein erster Linie vollkommen neue Kompetenzen in fachlicher und ganz besondersin überfachlicher Hinsicht voraus. Gleichzeitig sollte die Reorganisation der Ar-beitsgestaltung erfolgen, um Vorteile der Gruppen- und Teamarbeit zu nutzen.d) LösungMix aus Trainings, moderierten Workshops, Geschäftsprozessdesign, Coaching,Projektmanagementqualifizierung und Implementierung von Qualitätszirkeln.e) LösungsbeschreibungDer Aufbau der neuen Geschäftsfelder sollte anfänglich vor allem durch Weiterbil-dungsmaßnahmen traditioneller Form gesichert werden. Der Schwerpunkt wurdedabei zunächst auf das Vertriebspersonal gelegt, das bisher traditionelle Fertig-

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produkte verkauft hat und nun zunehmend mit dem Kunden die Produktgestaltungkreativ realisieren musste.Der massive Einsatz von Weiterbildungsmaßnahmen wurde fallen gelassen, alsdeutlich wurde, dass es zunächst vor allem um Einstellungen und Motivation fürdas neue Vorhaben geht. Deshalb sollten die organisatorischen Veränderungeniterativ mit der Übernahme neuer Tätigkeiten erfolgen. Problemen sollte mit Ad-hoc-Maßnahmen durch die Geschäftsleitung sowie Veränderungen in den organi-satorischen Rahmenbedingungen begegnet werden.f) Verlauf• Häufige konzeptionelle Veränderungen

Die konzeptionelle Phase war von starken Veränderungen im Vorgehen gekenn-zeichnet. Eine Ursache dafür war die Überzeugung der Geschäftsleitung, derSchlüssel für die Kompetenzentwicklung des Unternehmens liege einerseits in derInstallation von Produktherstellern für Werbung, Öffentlichkeitsarbeit sowie Medi-en und andererseits in der fachlichen Qualifikation des Außendienstes. Jedochselbst Arbeitskreissitzungen im Verwaltungsbereich und mit den betroffenen Mitar-beitern des Außendienstes führten nicht zu den gewünschten Ergebnissen. DasVorhaben der Geschäftsleitung wurde nicht spürbar von den betroffenen Mitarbei-tern getragen.Die Fokussierung auf Fachkompetenzen durch die Geschäftsführung spiegelte sichauch darin wider, dass ein Werbefachmann, ein Werbedruckfachmann sowie neueTechnik eingekauft worden sind. Zwar wurden noch durch Schaffung einer„Kompetenzgruppe Werbeagentur” einige bereits vorhandene Mitarbeiter weiterentwickelt. Die Gestaltung der künftigen Arbeitsabläufe und die Integration dieser„Werbeagentur” in die vorhandene Organisation wurden jedoch dem Trial-and-Error-Prinzip überlassen.Die zunehmenden Reibungen zwischen „alten” und „neuen” Mitarbeitern wurdenletztlich durch örtliche Auslagerung der Werbeagentur beantwortet, was nach un-serer Beobachtung die spätere Abspaltung dieses Kompetenzcenters sicherlichförderte.Die konzeptionelle Qualität des Projektes war von Anfang an durch den hohenmotivativen Vorsprung der Geschäftsführung geschwächt. Die Hauptbarriere fürQualifizierungserfolge im Außendienst war und blieb lange Zeit das fehlende Ver-ständnis für konzeptionelle und strategische Arbeit mit dem Kunden an Stelle desVerkaufs von Vordrucken. Dahinter stand oftmals auch die mangelnde Identifikati-on der Außendienstmitarbeiter mit den neuen Produkten. Diese Produkte warenunbequem und stellten neue Anforderungen.• Integration in die bestehende Organisation und Institutionalisierung des Vorha-

bens

Nach gut einem Jahr entschied sich die Geschäftsführung, systematisch und unterBerücksichtigung der Unternehmenskultur vorzugehen. Anhand einer Firmenphi-losophie mit den Schwerpunkten– Kundenzufriedenheit

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– Produktqualität– kontinuierlicher Verbesserungsprozesswurde das Entwicklungsvorhaben sowohl außerhalb als auch innerhalb des Unter-nehmens zunächst kommuniziert.Unter Einbindung aller Geschäftsfelder wurden die Kernprozesse identifiziert undProzessverantwortliche definiert. Erstmalig wurden in einem Workshop auch Wün-sche, Erwartungen und Anforderungen aller Gruppen entlang der Prozesskette er-mittelt und abgestimmt. Darauf aufbauend haben die Prozessverantwortlichen er-arbeitet, wie das Firmenziel qualitativ dargestellt und erreicht werden soll. Demschloss sich die Entwicklung einer halbjährlichen Zielplanung mit einem einfachenControllingsystem an.Über diese Formen der Verknüpfung von Beteiligung, Redesign der Geschäfts-prozesse und Verbesserungsmaßnahmen wurden immer mehr Mitarbeiter in denUmdenkprozess integriert. Gleichzeitig wurden Teambildung und Teamarbeit un-terstützt, aus denen auch weitergehende Maßnahmen zur Kompetenzentwicklunghervorgingen.Vor allem durch den Einsatz interner Referenten und abteilungsübergreifenderWorkshops wurde Kompetenzentwicklung auf den Themenfeldern– Veränderung der strategischen Ausrichtung des Unternehmens– Konsequenzen für die Arbeitsorganisation– fachliche Qualifikation der Mitarbeiter in den neuen Geschäftsfeldern– fachliche Qualifikation in den die neuen Geschäftsfelder flankierenden Struktur-

einheiten– Verbesserungsmanagement– Kundenorientierungdurchgeführt. Auch Seminarthemen setzten am unmittelbar nachvollziehbaren All-tag an, wie beispielsweise unter dem Titel „Warum laufen die Kunden weg?”.• Barrieren und Widerstände

Die bereits geschilderten Verzögerungen bei der Umsetzung des Vorhabens wa-ren in erster Linie der Tatsache geschuldet, dass die Beharrlichkeit der vorhande-nen traditionellen Unternehmenskultur und des Rollenverständnisses der Mitarbeiterunterschätzt und die Motivationskraft der neuen Vision überschätzt wurden. Erstzu einem späten Zeitpunkt wurden die Befindlichkeiten und Verhaltensroutinen derMitarbeiter aufgegriffen und thematisiert.Die systematische Einbindung der Teams und einzelner Mitarbeiter in den Wand-lungsprozess hat mittlerweile deutliche Fortschritte erbracht. So ist eine rascheKompetenzentwicklung in der Produktentwicklung für neue Märkte zu beobach-ten. Das Unternehmen kann sich zu Recht „Systemanbieter” nennen. Die Produk-tion ist durch eine extrem hohe Dynamik gekennzeichnet, auch wenn Flexibilitätund Lernbereitschaft mit diesem Tempo noch nicht ganz mithalten können.Gleichzeitig eilt die Geschäftsführung der Entwicklungsdynamik des Unternehmensvoraus. Die beschriebenen Verzögerungen, die ja bis heute nachwirken, durftenden Wandel nicht aufhalten. Andernfalls stünde das Überleben des Unternehmens

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zur Debatte. Demzufolge wird die Dynamik der Veränderungen nicht nur durch dieGeschäftsführung bestimmt, sondern auch durch diese getragen.Vergleichbar mit dem Einzelunternehmer, der auch nach Rekrutierung von Mitar-beitern faktisch alle Rollen übernimmt und nur schwer abgibt, hinkt die Kompetenz-entwicklung der Mitarbeiter in dem beobachteten Unternehmen deutlich der derGeschäftsführung hinterher.Vielfältige Kompetenzentwicklungs-Prozesse konzentrieren sich auf die Geschäfts-führung. Sie hat eine Dynamik entwickelt, mit der die Mitarbeiter nicht mitkommen.Entwicklungssprünge werden durch die Akquise von Großaufträgen für neue Pro-dukte faktisch erzwungen, womit die Mitarbeiter Identifikationsprobleme haben,die trotz der hohen Motivation zu Widerstand führen können. Wer dem Tempo nichtfolgen will oder vielleicht auf Dauer auch nicht folgen kann, wird ersetzt.Integrationsaufgaben bleiben liegen. Nach wie vor beharrt die Administration aufden Status quo, weil sie nicht „mitgenommen” wird. Die Mitarbeiter der internenWerbeagentur bleiben Sonderlinge im Unternehmen. Das bedeutet, dass die in-terne Kundenorientierung nicht aufgenommen wird.Die Mitarbeiter werden von stets neuen hohen Anforderungen überrascht. Sie stelleneinen vorprogrammierten Engpass für die Auftragssprünge der Geschäftsführungdar. Diese Defizite wiederum müssen zur Befriedigung völlig neuer Kundengruppen(groß, Global Player, flexibel und dynamisch, Komplementäranbieter) durch dieGeschäftsführung kompensiert werden. Das führt zu einem Zustand der Zerreiß-probe, sowohl was die Ressourcen der Geschäftsführung als auch was die Lei-stungskraft und den Leistungswillen des Unternehmens angeht.• Nutzen

Nach rund einem halben Jahr systematischer Reorganisation waren folgende we-sentliche Ergebnisse erzielt:– Aufbau des neuen Geschäftsfeldes Etikettenproduktion,– Optimierung der Prozesskette Druckvorstufe – Werbeagentur – Werbedruck –

Vertrieb,– Implementierung von Kompetenzentwicklungsmaßnahmen parallel zu den

Reorganisationsmaßnahmen,– erfolgreicher Wandel zum Systemanbieter mit ganz neuen Kundenstrukturen,– rasche Kompetenzentwicklung in der Produktentwicklung für neue Märkte,– Kompensation der Umsatzeinbußen aus traditionellen Geschäftsfeldern mit Hil-

fe neuer Geschäftsfelder.g) Übernahme von Erfahrungen für weitere Projekte im UnternehmenGerade an diesem sehr dynamischen Beispiel einer Unternehmensentwicklung wirddeutlich, dass die Konzentration auf Seminare und fachliche Qualifikation nichtgeeignet ist, im Unternehmen die für den Wandel erforderliche Kompetenz zu schaf-fen.Die fachliche Qualifikation ist unverzichtbar für die Beherrschung neuer Geschäfts-felder. Die Kompetenz für die Veränderung selbst jedoch bleibt der Schlüssel fürden Erfolg und steht allen anderen Personalentwicklungs- und Organisationsent-wicklungsmaßnahmen voran.

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Lernen bedeutet in einer neuen Lernkultur nicht nur wissen und rein technischauch können, sondern in erster Linie wollen und dürfen. Seminare können dieseAnforderung nur als ergänzendes Element erfüllen, nicht jedoch alleinstehend.Die neue Lernkultur zeichnet sich in dem beobachteten Unternehmen auch da-durch aus, dass sie sich unter Existenzdruck alleine durchsetzt, ohne strukturier-ten Plan und ohne Absicht. Es stellt sich dabei allerdings die Frage, wie lange esdie Promotoren und das Gesamtunternehmen aushalten, von dem einmal initiier-ten Prozess gesteuert zu werden und dabei selbst die Steuerung des Prozessesaus der Hand zu verlieren.

3.3 Entwicklung und Implementierung eines betriebsspezifischen Qualitäts-management-Programms

a) ObjektVerbesserung des Qualitätsbewusstseins und des Qualitätshandelns von Führungs-kräften und Mitarbeitern in einem Unternehmen der Papierindustrie.b) AusgangssituationFür das seit mehr als hundert Jahren erfolgreich am Markt agierende Unterneh-men sind Qualitäts- und Kostenführerschaft erklärte Ziele, um unter wachsendemWettbewerbsdruck seine Position behaupten und ausbauen zu können. Die Ent-wicklung des Qualitätsmanagement-Programms bringt diese Zielsetzungen zumAusdruck und bildet die inhaltliche Grundlage für die kunden- und umweltorientierteVerbesserung der Qualität in allen Arbeitsbereichen.c) VorhabenIn zwei für das Unternehmen besonders wichtigen Bereichen sollte in einem über-schaubaren Zeitraum die Kompetenz der Mitarbeiter zur Qualitätsarbeit spürbarerhöht werden. In den ersten beiden Jahren konzentrierte sich das Unternehmenzunächst auf einen für den wirtschaftlichen Erfolg am internationalen Markt beson-ders sensiblen Bereich der Papierproduktion. Nach dem erfolgreichen Abschlussdieser ersten Phase orientieren sich die Aktivitäten des Unternehmens in einemanderen Bereich auf die Gestaltung qualitätsförderlicher Informations- undKommunikationsstrukturen.d) LösungFür die Umsetzung des Vorhabens konnte auf kein „konfektioniertes” Konzept zu-rückgegriffen werden. In einem allerdings stimmten Führungskräfte, Mitarbeiter undBetriebsrat weitestgehend überein: Die erfolgreiche Entwicklung und Implemen-tierung des Qualitätsmanagement-Programms im Unternehmen setzt die aktiveMitwirkung der Betroffenen von Anfang an voraus.e) LösungsgestaltungMit wissenschaftlicher Unterstützung konzipierten Führungskräfte und Mitarbeiterin den beiden ausgewählten Arbeitsbereichen des Unternehmens jeweils ein spe-zifisches Teilprojekt.Das erste Teilprojekt zielte darauf ab, durch selbstorganisiertes Lernen in Arbeits-

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gruppen parallel zur Umrüstung einer wichtigen Papiermaschine die Arbeitsqualitätund -quantität der Mitarbeiter zu erhöhen. In dieser alle Beteiligten mehrfach belas-tenden Situation sollten insbesondere die Einsatzflexibilität der Mitarbeiter an derMaschine erhöht, Stillstände und Ausschuss reduziert, Schichtverläufe optimiert,Prozesse kontinuierlich verbessert und vor allem der Umweltschutz stärker inte-griert werden.Im nachfolgenden zweiten Teilprojekt werden mit Hilfe partizipativer Methoden (Kon-strukt-Lege-Technik, entwickelt von der a & o research GmbH Berlin) qualitäts-förderliche Informations- und Kommunikationsstrukturen aufgebaut. Beide Projek-te tragen somit auf jeweils spezifische Weise zur nachhaltigen Implementierungdes Qualitätsmanagement-Programms im gesamten Unternehmen bei.f) Verlauf• Teilprojekt 1

In der Vorbereitungsphase wurde der aktuelle Status hinsichtlich des bisherigenArbeitsprozesses an der Papiermaschine und der vorhandenen fachlichen und kom-munikativen Kompetenzen der Führungskräfte und Mitarbeiter analysiert. UnterBerücksichtigung der beabsichtigten flexibleren Arbeitsgestaltung und der höhe-ren Auslastung der Maschine wurde überlegt, wie diese neuen Aufgaben unterNutzung der Potenziale der Mitarbeiter erreicht werden können. Zu diesem Zweckwurden mit Mitarbeitern und Schichtleitern Interviews geführt. Ergänzend dazu fan-den Gespräche mit Führungskräften und Fachexperten statt.Auf der Basis dieser Informationen wurde in der konzeptionellen Phase ein Pro-gramm für die Kompetenzentwicklung der Betroffenen erarbeitet. Dieses Konzeptsollte möglichst wenig auf traditionellen Schulungsformen, dafür aber auf einemhohen Anteil an selbständig zu gestaltenden Lernmöglichkeiten in den Arbeits- bzw.Schichtgruppen aufbauen. Als dafür besonders geeignet erwies sich eine modularaufgebaute Lernsystematik zur selbständigen Wissensaneignung mit Leittexten,Informationstexten, Fotos und Videos.In der Realisierungsphase zeigte sich, dass die betroffenen Führungskräfte undGruppenmitglieder durch den nicht alltäglichen Umbau der Papiermaschine einer-seits und die parallelen zusätzlichen Lernanforderungen andererseits extrem be-lastet waren. Dazu trug vor allem bei, dass der technische Umbau der Papierma-schine wirtschaftlich absolute Priorität hatte und schnellstmöglich durchgeführtwerden musste.Zusätzliche Probleme entstanden durch personelle Wechsel im betrieblichen Pro-jektmanagement. Das erforderte ein sensibles Konfliktmanagement zwischen denBetroffenen durch den wissenschaftlichen Begleiter sowie den Projektleiter.Zum Abschluss dieses Teilprojektes wurde mit ausgewählten Beteiligten eineZufriedenheitsanalyse durchgeführt.• Teilprojekt 2

In der Analysephase wird zunächst das Qualitätsverständnis von Mitarbeitern undFührungskräften (mentale Konstrukte von Qualität) ermittelt und individuell reflek-tiert. Dabei werden insbesondere die betrieblichen Bedingungen und Handlungs-erfordernisse für Qualität diskutiert.

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Die Gestaltungsphase ist ein moderierter Kommunikationsprozess mit Mitarbei-tern und Führungskräften entlang der Hierarchieebene eines Arbeitsbereiches. InLösungsworkshops findet ein Prozess der Aushandlung und Konsensbildung zurEntwicklung kollektiver Qualitätsvorstellungen statt. Hier werden Erfordernisse undbetriebliche Voraussetzungen für Veränderungen abgeleitet. Diese werden flan-kiert von Diskussionen der Projektgruppe mit dem Betriebsrat. Der Veränderungs-prozess wird u. a. durch eine Erhebung zur Arbeitszufriedenheit begleitet und do-kumentiert.Die Reorganisationsphase umfasst Gestaltungsworkshops und Projektgruppen-arbeit, in denen Veränderungsmaßnahmen eingeleitet und realisiert werden.Den Abschluss des Projektes bilden Überlegungen zum Erfahrungstransfer in an-dere Bereiche des Unternehmens.g) Übernahme von Erfahrungen für weitere Projekte im Unternehmen• Teilprojekt 1

Die Erfahrungen dieses Projektes zeigen deutlich, dass es sinnvoll ist, die Mitarbeiterfrühzeitig in den Veränderungsprozess einzubeziehen und an der Entwicklung derMaßnahmen zur individuellen Kompetenzentwicklung zu beteiligen. Allerdings sinddann auch lernfreundliche Bedingungen im Arbeitsprozess zu gewährleisten. Indiesem Falle wurde die Konzentrationsfähigkeit beim Lernen durch zu kleine Räu-me, zu große Gruppen und einen hohen Lärmpegel an der Maschine stark be-lastet. Das wurde für das nachfolgende Teilprojekt berücksichtigt.• Teilprojekt 2

Das hier gewählte Verfahren setzt an subjektiven Vorstellungen von Qualität un-terschiedlicher Akteure an und berücksichtigt die Spezifik des Unternehmens. Be-reits heute erweist sich das als großer impulsgebender Vorzug. Nicht externe Ex-perten definieren, was Qualität ist, sondern Mitarbeiter und Führungskräfte bestim-men die Anforderungen selbst und entwickeln spezifische Lösungsansätze. DerVorzug dieser Methode liegt darin, individuelle und organisationale Kompetenz-entwicklungsprozesse im Unternehmen gezielt zu verbinden und zu gestalten.

3.4 Verknüpfung von Organisations- und Personalentwicklung

a) ObjektEinführung von Teamarbeit in einem Schlüsselbereich eines Unternehmens derEntsorgungsbranche, verbunden mit der Neubestimmung der Führungspositionenauf der unteren Ebene, inkl. der Einführung eines neuen Entgelt- und Optimierungs-systems.b) AusgangssituationDas eigentümergeführte Unternehmen deckt seit Jahrzehnten das gesamte Spek-trum der Ver- und Entsorgung vorwiegend im Raum Nordrhein-Westfalen und Nie-dersachsen ab. Nach einer Phase des rasanten Wachstums geht es um die Kon-solidierung des Unternehmens und um die Zusammenführung der zahlreichen weit-räumig verteilten Betriebe zu einer leistungsfähigen Gesamtorganisation. Dies ist

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angesichts der tiefgreifenden Veränderungen der Marktbedingungen, insbesonde-re durch das Kreislaufwirtschaftsgesetz und damit einhergehende rigorose Preis-kämpfe, eine existentielle Notwendigkeit. Auch die gesetzlich geforderte Anerken-nung als Entsorgungsfachbetrieb stellte neue Anforderungen an die Betriebsorga-nisation und damit verbunden an die Handlungskompetenz von Führungskräftenund Mitarbeitern. Diese Neuorientierungen führten zum Bruch mit der traditionel-len Rekrutierungs- sowie der üblichen Anlern- und Qualifizierungsstrategie.c) VorhabenDas Hauptprojekt besteht darin, im Zuge der betrieblichen Restrukturierung einesystematische Form der Personalentwicklung im Unternehmen zu etablieren, diediesen neuen Bedingungen Rechnung trägt. In einem kommunikativen Prozesswurde dafür ein Modell mit mehreren Teilprojekten entwickelt. Es zielt auf die lang-fristige Kompetenzentwicklung von Mitarbeitern und Führungskräften durch dieSchaffung und Stabilisierung von innovativen Beteiligungs- und Lernstrukturen imEinklang mit der betrieblichen Organisationsentwicklung.d) LösungZu Beginn des angestrebten Veränderungsprozesses waren die Vorstellungen überdas Vorgehen relativ offen. Das in den Zielsetzungen und Mitteln zunächst unbe-stimmte Konzept gewann durch Kommunikation des betrieblichen Lenkungskreisesmit der Projektleitung und den Betroffenen allmählich an inhaltlichem Profil. Be-wusst wurde bis heute darauf verzichtet, fixe Termine festzulegen.e) LösungsgestaltungUnter Nutzung der Erhebungsbefunde der wissenschaftlichen Begleiter wurdendie im Unternehmen zu verändernden Problemlagen genauer identifiziert und bis-her bestehende Annahmen korrigiert. Dabei hatte sich gezeigt, dass auch in die-sem Unternehmen die ganze Schärfe des Leistungskonflikts nicht thematisiert war,sondern als Qualifizierungsproblem dargestellt wurde. Nach gründlicher Reflexionder Befunde mit den Betroffenen im Betrieb wurden folgende nacheinander zu rea-lisierende Teilprojekte konzipiert:– Entwicklung und Umsetzung eines betriebsspezifischen Innovations- und Op-

timierungsprogramms. Seinem Wesen nach handelt es sich um ein Programmzur Gestaltung eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP), das miteinem neuen Entgeltsystem (Leistungslohn) verbunden ist.

– Neubestimmung der Personalentwicklung für Führungskräfte auf der unterenEbene (Disponenten).

f) VerlaufDas erste Vorhaben richtete sich an die Fahrer und Disponenten der Niederlas-sungen. Es beinhaltete die Neugestaltung der Arbeitsorganisation im Bereich Lo-gistik als bewusst herbeigeführten Bruch mit der vorherrschenden Tradition. DieMaßnahmen zielten darauf ab, feste Gruppen von Fahrern zu bilden, die sich stär-ker gegenseitig unterstützen, die ihre Tourenplanung und -durchführung optimie-ren und die Kundenwünsche besser berücksichtigen. In den Bereich der Logistikwurde konsequent ein Gruppenprämienlohn eingeführt.Dieser für die durch enorme Sympathien des Firmeneigners privilegierte Gruppe

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der Fahrer ungewohnte Eingriff wurde durch eine Art „Besitzstandswahrung” ab-gefedert. Es handelte sich dabei um die Zusicherung eines Mindestlohnes. Trotz-dem bedeutete diese Maßnahme für die Fahrer, die ihr relativ hohes Einkommenbisher durch Überstunden sicherten, einen spürbaren Einkommensverlust und er-schütterte zudem das Vertrauen in den Firmeninhaber. Parallel zu dieser gravie-renden Maßnahme wurde durch Befragungen der Personalabteilung und desSteuerkreises sowie durch Einbeziehung von Daten und Informationen aus denNiederlassungen die Wirksamkeit der eingeleiteten Maßnahmen kontrolliert undkorrigiert.Im Rahmen des zweiten Teilprojektes wurde das Personalentwicklungskonzept fürdie Disponenten, die sich mehrheitlich aus ehemaligen Fahrern rekrutieren, über-arbeitet und in einem Pilotprojekt erprobt. Dieses Konzept orientiert sich am Per-sonenkreis der Berufskraftfahrer und am Berufsbild des Kraftverkehrsmeisters. In-haltlich konzentriert sich die Kompetenzentwicklung auf Kenntnisse in der Perso-nalführung und auf kaufmännisches Fachwissen.Nach Prüfung der erreichten Ergebnisse zog der Lenkungskreis betriebliche Kon-sequenzen für die weitere Umsetzung. Vereinbart wurde eine Intensivierung derTeamarbeit durch Verlagerung von Kompetenzen in die Gruppen und die Bildungvon „Serviceteams” (Problemlösegruppen entlang der Prozesskette). Darüber hin-aus soll eine Systematisierung des Ideenmanagements erreicht und die Leistungs-steuerung der operativen Auftragsabwicklung vereinheitlicht werden.g) Übernahme von Erfahrungen für weitere Projekte im UnternehmenDie bisher vorliegenden Erfahrungen zeigen, dass die Ausrichtung der angeziel-ten Veränderungen an einem Modell prozessorientierter Arbeitsorganisation (imUnterschied zur beruflich-funktionalen) günstige Perspektiven für die strategischeUnternehmensentwicklung bietet. Die Implementierung des neuen Prinzips derLeistungssteuerung setzt Anreize zum innovativen Handeln und erhöht die Nach-frage nach kreativen Maßnahmen der Personal- und Organisationsentwicklung.Daneben gibt es bemerkenswerte Fortschritte in der Reflexivität der betrieblichenProjektsteuerung. Die Projektfortschritte werden durch zahlreiche Erhebungen re-gistriert und den Akteuren zurückgespiegelt sowie für spätere Vorhaben nachvoll-ziehbar dokumentiert.Verbesserungswürdig erscheint das gegenwärtig praktizierte Projektmanagement,das die Partizipation der direkt Betroffenen einschränkt. Allerdings hat sich die Zu-sammenarbeit im Projektverlauf spürbar intensiviert. Trotzdem erscheint es für dieindividuelle und organisationale Kompetenzentwicklung notwendig, neue Partizi-pationsarenen zu schaffen, in denen neue Fragen auch unterhalb der Schwelleder repräsentativen Interessenvertretung diskutiert werden können.

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4. Resümee

Die kurz skizzierten Fallbeispiele von Lernen im Prozess der Arbeit zeigen ihreUnterschiedlichkeit im Vergleich zu systematisch geplanten und organisiertencurricularen Lernprozessen.– Lernen im Prozess der Arbeit wird in den beschriebenen Fällen durch Verände-

rungsnotwendigkeiten im Unternehmen und/oder seinem Umfeld ausgelöst. DieFälle zeigen deutlich, dass Lernen am oder nahe am Arbeitsplatz vielfach mitden realen betrieblichen Prozessen, Kulturen, Befindlichkeiten verknüpft ist unddass es Sinn macht, auch die Lernprozesse dort zu integrieren, wo die Verän-derungen stattfinden.

– Zahl und Art der Einflussfaktoren auf den Lernprozess im Betrieb sind vielfälti-ger und unberechenbarer als die in außerbetrieblich organisierten traditionellenWeiterbildungsmaßnahmen. Ungewiss bleibt beim Lernen in der Arbeit vorabauch, wie diese Einflussfaktoren zum Zeitpunkt der Konzepterarbeitung und derUmsetzung aufeinander wirken.

– Am Beginn des Prozesses steht oftmals eine mehr oder weniger klare Vorstel-lung über Gegenstand, Inhalt, Zielrichtung und Wege der Realisierung. Der Ver-änderungsprozess bedarf in jedem Fall der kommunikativen Aushandlung undPräzisierung zwischen den direkt betroffenen Mitarbeitern und Führungskräftensowie der betrieblichen Interessenvertretung.

– Es hat sich gezeigt, dass Lernprozesse dann erfolgreich verlaufen, wenn dieProzesse in die strategische Unternehmensentwicklung eingeordnet sind unddie betrieblichen Rahmenbedingungen genügend Spielraum für die Entwick-lung eines oder mehrerer Lösungskonzepte lassen.

– Für die erfolgreiche Umsetzung von Projekten und den Transfer ihrer Ergebnis-se in andere Unternehmensbereiche hat sich die Unterstützung durch die Ge-schäftsführung und die Interessenvertretung als bedeutsam erwiesen. In Fäl-len, wo dies nicht oder nur unzureichend der Fall ist, verlaufen die Projekteschleppend oder werden sogar abgebrochen. Darin unterscheiden sich Lernpro-zesse in der Arbeit deutlich von schulisch organisierten Lernformen.

– Für eine erfolgreiche Projektgestaltung, die sowohl den angezielten Lernerfolgals auch die Partizipation der Betroffenen sicherstellt, ist eine funktionierendeProjektsteuerung notwendig. Darüber hinaus sind gerade bei Lernprozessendieser Art die ständige Reflexion des Erreichten und die kritische Prüfung desweiteren Vorgehens von Bedeutung. Das setzt die Dokumentation der Verände-rungen voraus, nicht zuletzt auch, um wichtige Erfahrungen in andere Verände-rungsprojekte einbringen und den Transfer positiver Ergebnisse in andere Unter-nehmensbereiche gewährleisten zu können.

– Diese Merkmale kennzeichnen eine neue Lernkultur im Unternehmen. Im Unter-schied zur tradierten Weiterbildung, die oftmals als schwer quantifizierbare In-vestition in Humankapital betrachtet wird, wird Lernen in der Arbeit an den aktu-ellen Nutzeffekten gemessen. In diesem kulturellen Kontext werden Fragen nach

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Sinn oder Unsinn von Personalentwicklungs-Maßnahmen weitaus transparen-ter und konsequenter diskutiert als dies bei traditionellen Maßnahmen der Fallist.

– Durch die informelle Vernetzung der 30 Unternehmensprojekte wurden weitereLerneffekte und -formen geschaffen:– Es haben sich funktionierende überbetriebliche Arbeitskreise gebildet, die ge-

meinsam interessierende Fragen diskutieren und Lösungsansätze erarbei-ten. Erste Ergebnisse einiger Arbeitsgruppen liegen als Publikationen vor.

– Jährlich findet ein Evaluationsworkshop statt, auf dem vor allem die betrieb-lichen Vorhaben präsentiert und die vorliegenden Ergebnisse, wie zum Bei-spiel betriebsspezifische Modelle und Tools, diskutiert werden.

– Daneben finden zahlreiche bilaterale Workshops zwischen Unternehmen, wis-senschaftlichen Begleitern und Grundlagenforschern statt.

– Nicht zu vergessen sind die Publikationen der Programmakteure zu Fragender individuellen und organisationalen Kompetenzentwicklung, des Projekt-managements und der wissenschaftlichen Begleitung.

Anmerkung

1 Bei der Darstellung dieser besonderen Maßnahmen muss berücksichtigt werden, dasses bereits eine Qualifizierungsmaßnahme für Projektleiter (2 Jahre) sowie ein einwöchi-ges Seminar „Projektmanagement” gab. Diese sollte nun durch praxis- und arbeitsplatz-nahe Formen ergänzt werden. Diese Formen standen zunächst unter dem Begriff „Coach-ing”.

Literatur

Leuschner, H./Reuther, U.: „Kompetenzentwicklung ´97”, Münster 1997QUEM-Bulletin Nr. 6/1998

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Iris Palluch/Ben Krischausky

„Lernen kann man nur selbst!“*

Offenes Lernen in der Stiftung Berufliche Bildung, Hamburg

Die Stiftung Berufliche Bildung (SBB) teilt seit Mitte der 90er Jahre ihr Schicksalals Weiterbildungsträger mit vielen anderen. Es gilt, Antworten auf widersprüchli-che Anforderungen zu finden: knapper werdende Mittel der öffentlichen Hand, hö-here Ansprüche der Wirtschaft an Mitarbeiter/innenkompetenzen und immer hete-rogenere Teilnehmer/innengruppen. Das Bild eines unmöglichen Spagats, das diegeforderte Gleichzeitigkeit von Kostensenkung und Qualitätssteigerung heraufbe-schwört, führt zwangsläufig zum Nachdenken über die so noch mögliche Art derFortbewegung. Die SBB mit ihrem speziellen, von der Freien und Hansestadt Ham-burg geförderten Auftrag, Benachteiligte des Arbeitsmarktes zu qualifizieren, hatteund hat in dieser Situation – so merkwürdig es zunächst klingt – wegen ihrer be-sonderen Probleme auch besondere Chancen.Der Anspruch der SBB und ihrer in dieser Sache engagierten Mitarbeiter/innen,erfolgsungewohnte, z.T. bislang chancenlose Menschen auf die „Erfolgsstraße“ zubringen, d.h. Benachteiligte des Arbeitsmarktes zu qualifizieren, führte seit ihrerGründung 1982 zu vielfältigen methodisch-didaktischen Innovationen und Modell-versuchen, die auch auf andere Bereiche der Weiterbildungslandschaft ausstrahl-ten. Kreativität war in der jetzigen Situation erst recht gefragt. Konventionelle Lösun-gen, wie Erhöhung der Teilnehmerzahlen in traditionellen Unterrichtskonstellationen,hätten für unsere Klientel mit Sicherheit das „Aus“ bedeutet.Im Rahmen eines 1994 eingeleiteten umfassenden Modernisierungsprozesses, indem wir die SBB ausgehend von den Bedarfen unserer Kunden als modernesDienstleistungsunternehmen komplett neu ausrichteten, erfuhr der besondere SBB-Auftrag eine weitere Zuspitzung.Kundenorientierung ernst genommen heißt für die Stiftung, ihre direkten Kunden –Teilnehmer/innen, Leitung und Mitarbeiter/innen der Arbeitsverwaltung – erfolg-reich zu machen. Erfolg definiert sich für beide – und also auch für die SBB – als(Re-)Integration in den Arbeitsmarkt.Für die Angebote bedeutet das, sie komplett und von Beginn an zielbezogen aus-zurichten.Jedes methodisch didaktische Arrangement muss sich daran messen lassen, inwie-weit es die Teilnehmer/innen auf ihrem Weg zum Ziel „Arbeitsaufnahme“ voran bringt.Der so verschobene Fokus, Benachteiligte nicht „nur“ zu fördern und zu qualifizie-ren, sondern sie erfolgreich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, lenkt zwangsläufigden Blick auf die veränderten Arbeitsmarktanforderungen: Wissen und Können al-lein reichen nicht mehr, um im Arbeitsmarkt der Zukunft eine Chance zu haben.

* Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht in: Schlutz, E. (Hrsg.): Lernkulturen. Frankfurt/M.:DIE 1999, S. 43–55

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Die Fähigkeit, ständig neu zu lernen und sich Veränderungen proaktiv anpassenzu können, wird für Individuen und Organisationen zur Überlebensfrage.Damit aber ändert sich das Selbstbild eines Weiterbildungsunternehmens funda-mental: Wissensvermittlung, Qualifizierung tritt neben den erfolgsentscheidenderenAuftrag, persönliche Kompetenzen der Teilnehmer/innen zu fördern, sie beschäfti-gungsfähig zu machen.Für die Arbeit der Lehrer/innen, Ausbilder/innen und Sozialpädagog/innen heißtdas, „Personal“ zu entwickeln, zu beraten, statt zu (be-)lehren.Der Ansatz „Open learning“, den wir im Rahmen einer europäischen Kooperationin Schottland vor Ort kennen lernten und für unsere Zwecke als „Offenes Lernen –OL®“ adaptierten, passt in ganz besonderer Weise zu dieser neuen Ausrichtung.OL® zielt auf individuelles Lernen und berücksichtigt damit die so unterschiedli-chen Lernvoraussetzungen und -möglichkeiten unserer Zielgruppe, geht aber gleich-zeitig einher mit der Übergabe von Verantwortung an die zunehmend selbständigLernenden und ermöglicht so einen höheren Betreuungsschlüssel. Gleichzeitig istOL®, anders als der Name nahe legt, alles andere als offen. Lernziele stehen indiesem Konzept stärker als in anderen im Mittelpunkt. Der SBB-Auftrag, durchihre Angebote hohe Integrationsquoten für Benachteiligte des Arbeitsmarktes zuerzielen, lässt sich hier direkt als Handlungsziel aller Beteiligten etablieren.Mit OL® praktizieren wir darüber hinaus ein pädagogisches Konzept, das einge-bettet ist in eine Unternehmensphilosophie, die Selbstverantwortung in allen Be-reichen ins Zentrum rückt. Dezentralisierung von Verantwortung ist das organisa-torische Prinzip unserer Leitungsstruktur. Aus diesem Verständnis heraus sind teil-autonome Teams (TATs) die organisatorische Basiseinheit in der SBB.Ausgehend von gemeinsam entwickelten Visionen und Zukunftsstrategien greiftauf allen Ebenen ein System von Zielvereinbarungen und -überprüfungen: Jährli-che Unternehmensziele werden von Führungskräften und Teams für ihre spezifi-sche Arbeit operationalisiert. Marktbeobachtungen, Zielüberprüfungen und Kunden-befragungen münden in kontinuierliche Anpassungen und Optimierungen von Kon-zepten und Strukturen. Personalentwicklung, strategische Fortbildungen undInnovationsförderung flankieren diese allmähliche Entwicklung zu einem lernen-den Unternehmen ebenso wie Führung als Coaching, gepaart mit Feedback- undBeurteilungsinstrumenten in beide Richtungen.OL® überträgt dieses Selbstverständnis und die Strukturen einerseits auf die Ar-beit mit den Teilnehmer/innen und scheint uns andererseits als pädagogisches Ge-samtkonzept nur so schlüssig lebbar zu sein: Lehrkräfte vollziehen zum Beispielumso stimmiger den Rollenwechsel zu Berater/innen, wenn sie für ihre eigene ziel-gerichtete Arbeit im Team Unterstützung durch Coaching erfahren, statt in Top-down-Prozessen gegängelt zu werden.

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Die Elemente des Offenen Lernens

Lernen mit Zielen

OL® ist kein Lernen mit offenem Ausgang. Im Gegenteil: Gerade weil die Ziele desLernens klar fixiert und vereinbart werden – im Sinne einer stets neu zu treffendenEntscheidung der Teilnehmer/innen für Weg und Ziel ihrer weiteren beruflichenEntwicklung – lässt sich von selbstverantwortlichem Lernen sprechen. Die Ler-nenden übernehmen Verantwortung dafür, dass sie ihre Ziele erreichen. Was im-mer sie dafür benötigen, ist individuell zu ermitteln.Auf Basis einer auf das Ziel bezogenen Stärken-Schwächen-Analyse können zumErlernen ganz unterschiedliche Schritte, Medien, Zeiten, Konstellationen etc. sinn-voll sein.Je herausfordernder, problemlösender und nachvollziehbarer die Ziele sind, destoeinfacher ist OL® zu realisieren. Für die Umschulungen und Fortbildungen sinddies berufs-/arbeitsplatzrelevante Ziele. Das heißt, sie beziehen sich immer aufdas Beherrschen komplexer beruflicher Handlungssituationen und bestehen alsLernziele aus einem Mix an dafür erforderlichen Kenntnissen, Fertigkeiten, Verhal-tensweisen, Strategien, Denk- und Kommunikationsweisen.Für das Gesamtziel des „Aufenthalts“ in der SBB ebenso wie für jeden Schritt aufdem Weg zum Ziel werden mit den Teilnehmer/innen Ziele in den Blick genommenund konkret vereinbart. „Was brauche ich, um als Systemelektroniker/in oder Kü-chenhilfe erfolgreich zu sein (einen Arbeitsplatz zu bekommen und zu behalten)?“Das ist der Fokus, der den Lernprozess von Beginn an strukturiert.Es muss deutlich sein, was der/die Lernende am Ende der Lernphase erreichthaben wird (Kompetenzverbesserung, Wissens-/Informationszuwachs, neue Qua-lifikationen).Das gilt auch für die Berufsvorbereitung: Hier geht es darum, Ziele zu vereinbaren,die sinnvolle Schritte auf dem Weg (zurück) in den Arbeitsmarkt darstellen. „Be-schäftigungsfähigkeit“ konkretisiert sich in diesen Maßnahmetypen neben berufli-cher Orientierung in Zielen wie: passende Bewerbungen zu tätigen, selbständigeStellensuche, betriebliche Kulturen, Strukturen und Gepflogenheiten zu kennenund damit umgehen zu können, Arbeitstugenden (wieder) zu erlernen etc.Eine darauf bezogene Potential-Analyse führt zu fixierten Arbeitsschwerpunktenund Unterzielsetzungen. So werden die Teilnehmer/innen tatsächlich dort „abge-holt“, wo sie stehen, und der jeweils geeignete Weg zum Ziel ermittelt.Ziele geben dem Handeln Richtung. Über das Feststellen der Zielerreichungverorten sich die Lernenden jeweils neu, erkennen ein „Vorher-Nachher“ und emp-finden so echte Lern-Fortschritte.

Insofern sind Lernzielvereinbarungen und Erfolgskontrollen das A und O unseresKonzepts. Insbesondere wenn Lernungewohnte wieder lernen (sollen) und sie dieszudem in einer für sie ungewohnten Art, nämlich überwiegend selbst lernend tun,sind klare Ziele und feststellbare Lernerfolge der Motor des Lernens.

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Die ständige und nicht umgehbare Überprüfung der eigenen Zielerreichung, dieOrientierung am eigenen, wiederholten Erfolg ermöglichen es den Lernenden, Stra-tegien, Selbstorganisationsformen und Instrumente zu entwickeln, die sie späterzur Bewältigung und Gestaltung von Aufgaben in einer sich rasch veränderndenUmgebung benötigen werden (Selbstlernkompetenz).Unser Ziel ist es, Betrieben damit solche Mitarbeiter/innen zur Verfügung zu stel-len, die sich schnell in betriebliche Abläufe hineindenken können, die über einSelbstbewusstsein ihrer Kompetenzen und Grenzen verfügen und dies auch for-mulieren können, die eigenständiges Arbeiten und Auftragserfüllung ebenso ge-wöhnt sind wie Teamarbeit, die sich fehlende Informationen und Wissensgebieteeffektiv beschaffen und aneignen können, die sich in die Betriebskultur einfügenund ein solides Verständnis der von ihnen geforderten Arbeitsqualität haben undihre Fachkompetenz im jeweils geforderten Zusammenhang zum Einsatz bringen.OL® sieht hier seine große Herausforderung: Die Lernenden haben durchweg be-reits konkrete Unterrichts- und Lernerfahrungen gemacht und in entsprechendeVerhaltensmuster integriert – die Lernverantwortung wurde an die Lehrenden ab-gegeben, der relative Erfolg bisher an Bestätigung durch Autoritätsinstanzen ge-koppelt. Dies macht zu Anfang kleinschrittige Einführung in Aufgaben ebenso not-wendig wie die unmittelbare Organisation erster Erfolgserlebnisse und die reflek-tierende Beratung hinsichtlich der ersten Schritte in den Lernwegen. Offenes Ler-nen beginnt mit kleinen Schritten, um schließlich zur Standfestigkeit zu führen.

Lernberatung

OL® ist ein didaktisches Konzept, das die Rolle von Lernenden und Lehrendenfundamental verändert.Die Lernenden wählen aus einem strukturierten Lernangebot, flankiert von einertransparenten und funktionalen Lernorganisation, die Themen und Lernwege, dieihrem Lernbedürfnis, ihrem Vorwissen und ihrem Ziel entsprechen. Sie werdendabei von Lern- und Qualifizierungsberater/innen unterstützt.Als solche nämlich fungieren Lehrer/innen Ausbilder/innen und Sozialpädagog/in-nen im Offenen Lernen: Statt zu lehren, agieren sie als Organisator/innen undModerator/innen vielfältiger individueller Lernprozesse. Sie beraten, helfen zu struk-turieren, sorgen für eine verbindliche Zielerreichung und beurteilen neben den Ler-nenden selbst die Lernergebnisse mittels differenzierter Feedbackinstrumente.Lernberatung ist individuell, sie widmet sich den einzelnen Lernenden an ihremjeweiligen Standort im Lernprozess. Neben fachlich-inhaltlicher Begleitung ist da-bei die Fähigkeit gefordert, in gezielter Kommunikation mit den Lernenden auchderen Haltung und konkrete Verhaltensweisen in Bezug auf den Lernprozess unddie angestrebten Ziele fördernd zu begleiten. Diese ‚persönlichen‘ Aspekte desOffenen Lernens benötigen die ‚persönliche‘ Autorität und Kompetenz des Lern-beraters/der Lernberaterin.

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Lernberatung bedeutet, den Lernprozess zu begleiten und zu organisieren. Dazugehören verschiedene Aufgaben und entsprechende Kompetenzen und Strategien:

– Förderung der Auseinandersetzung der Lernenden mit dem Lernangebot

Lernberater/innen geben die alleinige Verantwortung für die Lernfortschritte ab,sie beraten bei der Entscheidung über Lerninhalte und Lernwege. Dafür müssensie die Lernziele und -wünsche der Lernenden genau kennen und mit dem Lern-angebot abgleichen. Beratungserfahrung und eine positive Sicht der Möglichkei-ten und Fähigkeiten der Lernenden sind dafür notwendig. Lernberater/innen ge-ben Orientierung, unterstützen bei der Entscheidung über Lernwege, Zeiteinteilungund bei der Kontrolle der Lernergebnisse, sprechen Schwierigkeiten von sich ausan bzw. reagieren auf Fragen und bieten Anregungen zur Lösung, nicht die Lö-sung selbst. Sie gewährleisten– die Überschaubarkeit der Lernanforderungen hinsichtlich Medienangebot, Zeit-

rahmen, Lernerfolgskontrollen;– die Klarheit der Lernenden über ihren Standort und über die jeweils folgenden

Lernschritte und Aufgaben.Durch individuelle Lernwege befinden sich Lernende oft an unterschiedlichen Stellenim Lernprozess. Dadurch entstehen Fragen wie: „Lerne ich schnell genug? Wis-sen andere mehr als ich?“ Lernberatung thematisiert diese Fragen in Gesprächs-runden mit dem Ziel, die Orientierung der Lernenden zu verbessern.

– Förderung überfachlicher Kompetenzen

Die Förderung sogenannter Schlüsselqualifikationen erfordert von der Lernbera-tung entsprechende eigene Kompetenzen. In Beratungsgesprächen während derLerneinheit und in der Auswertung der Lernergebnisse und Lernwege richtet sieein starkes Augenmerk auf Vorgehensweisen und Haltung der Lernenden. För-derung von Lernkompetenz erfordert von der Lernberatung Sicherheit bei der Do-sierung von Informationen und ein Methodenrepertoire bei Beratung und Feed-back.Offenes und individuelles Lernen ist nicht vereinzeltes Lernen (und darf es ange-sichts beruflicher Anforderungen auch nicht sein). Aufgabe der Lernberatung istes, Kommunikations- und Unterstützungsprozesse zum gegenseitigen Vorteil an-zuregen.

– Organisatorische Vorbereitung und Gewährleistung des Lernprozesses

Aufgabe der Lernberatung ist es, das Material für die Lerneinheiten vorzuhalten.Unter den Bedingungen individuellen Lernens kann das im „schlimmsten“ Fall be-deuten, dass alle Lernenden unterschiedliche Aufgaben verschiedener Lerneinhei-ten bearbeiten – infolge individuellen Lerntempos und individueller Lernwege.

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Kompetenzen der Lernberatung

Lernberatung erfordert zusammengefasst z.T. in sehr viel stärkerem Maße als kon-ventioneller Unterricht die Fähigkeit,– in komplexen Lernarrangements die Übersicht zu behalten, z. B. bei unterschied-

lichen, parallelen Lernprozessen– die individuellen Ziele der Lernenden zu erkennen und deren Lernwege zu un-

terstützen– die Kenntnisse, Fähigkeiten und Defizite der Lernenden schnell zu diagnosti-

zieren– alte Lernstrategien verändern zu helfen.

Entwicklung von Selbstlerneinheiten

Offenes Lernen steht und fällt mit Lerneinheiten, die zum Selbstlernen geeignetsind – Lernende benötigen die Möglichkeit, sich Wissen und auch Können mög-lichst unabhängig von der Lernberatung anzueignen, denn sonst bleiben die alteAbhängigkeit und die falsche Verteilung von Verantwortlichkeiten erhalten.Diese Lerneinheiten müssen vor allem drei zentralen Anforderungen gerecht wer-den: Sie müssen– zum (Weiter-)Lernen motivieren,– in sich verständlich sein,– zum Lernziel – fachlich und überfachlich – hinführen.

Kompetenzen der Entwickler

Die Entwicklung von Lerneinheiten erfordert– Überblick über prüfungs- bzw. arbeitsmarktrelevantes Wissen,– den Blick für zielgruppengerechte, motivierende, praxisrelevante Aufgabenstel-

lungen,– gute PC-Kenntnisse und Layout-Grundlagen,– Wissen über zielgruppengerechte Schriftsprache,– Marktübersicht und Beurteilungsfähigkeit hinsichtlich geeigneter interner und

externer Medien und Materialien,– Erfahrungen mit der Lerner/innen-Situation,– Kenntnisse über die verschiedenen Lernkanäle und wie sie bedient werden.

Medien + Material

Zum Begreifen eines Zusammenhangs und zum Erlernen komplexer Fähigkeitenbraucht man mehr als ein Lehrbuch. Wir versuchen, den Teilnehmer/innen zu ei-

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nem Themengebiet so viele Lernmöglichkeiten wie möglich zur Verfügung zu stel-len. Dies bezieht sich nicht nur auf Medien, sondern auch auf die Form, in deretwas gelernt werden kann: Auftragsbearbeitung, simulierte Produktions- undDienstleistungsprozesse, Projektarbeiten, Erkundungen, einzeln oder im Team, fin-den, wenn es passt, Eingang in OL®-Lernarrangements.Teilnehmer/innen betrachten und drehen Videos, arbeiten mit Lernalben und stel-len solche her, hören Kassetten, lernen mit Computerbased Training, bearbeitentheoretische und praktische Aufgabenstellungen, machen Fehler und erkennen sieselbst, finden Wege zur Verbesserung, betreiben Qualitätssicherung und verbes-sern die OL®-Einheit durch Kritik und neue Ideen, lesen Bücher, befragen Exper-ten, besuchen Ausstellungen und Informationszentren, erarbeiten sich in Gruppendie beste Lernstrategie, weisen als Expert/innen andere Teilnehmer/innen in dieBedienung von Maschinen ein, reflektieren ihre Lernweise in Gruppen und in Ge-sprächen mit Lernberatern, planen ihre Arbeit methodisch, inhaltlich und zeitlichselbständig, holen sich Hilfe, wenn sie sie brauchen, verkaufen und kalkulieren,denken sich in Kundenkontakte und betriebliche Zusammenhänge hinein.Damit Lernprozesse so vielfältig selbstgesteuert verlaufen, müssen die materiel-len, inhaltlichen und didaktischen Grundlagen des Lernprozesses sorgfältig vor-und aufbereitet werden.Das geballte Know-how der Vermittlung, lernlogische Erkenntnisse und vielfältigeErfahrungen fließen in die Gestaltung des Lernangebots ein. In Anleitungen, Arbeits-und Aufgabenblättern, Übungen, Kommentaren und Hilfsmaterialien finden sichbewährte pädagogische Aufbereitungen und Zuspitzungen. Lehrerwissen und -kunstgerinnt zu Selbstlernmaterial, das neben einer Fülle an weiteren Selbstlernmedienwie Videos, Büchern, Spielen, Produktionsaufgaben, Computerbased Trainings etc.den Lernenden als Material zur Verfügung steht.Um Selbstlernprozesse in Gang zu setzen und aufrechtzuerhalten, verfügen allenach OL®-Kriterien aufbereiteten Lerneinheiten über eine Dramaturgie, die lernmo-tivierend wirkt. Im Zentrum und als oberstes Ziel gibt es jeweils eine komplexeAufgabenstellung. Heruntergebrochen in Teillernziele finden sich diese berufsbe-zogenen Qualifikationsziele in einzelnen Lernblöcken wieder. Übersichtsblätter bie-ten den Teilnehmer/innen Orientierung. Von Eingangs-Selbstchecks, Medien-informationen, Aufgaben und Informationsblättern bis zu Abschlusstests findet sichalles, was die Lernenden benötigen, in standardisierter, wiedererkennbarer Formin den dazugehörigen OL®-Ordnern.Optimalerweise fördert auch das Raumarrangement diese Dramaturgie: veränder-liche Räume, die verschiedene Lern- und Arbeitsformen ermöglichen, die ein Be-rufsbild auch sinnlich zentrieren, indem alle dazugehörigen Materialien, Medien,Geräte, Aufgabenstellungen, Strukturen etc. in einer Lernregion zusammenkom-men.Alle OL®-Materialien sollen qualitätsgesichert sein, d.h.– für den Zielberuf/-arbeitsplatz geeignet, weil sie sich in ihrer Aufgabenstellung

direkt aus dem beruflichen Handlungsspektrum ableiten,

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– auf dem aktuellen Stand der Erkenntnisse und der Technik befindlich, weil sieimmer wieder angepasst werden,

– zielgruppengerecht, weil sie für diese konzipiert, ausgearbeitet und mit Einbezugder Teilnehmer/innen überarbeitet wurden,

– umstandslos einsetzbar, weil sie so dokumentiert sind, dass sie allen zugäng-lich sind, alle erforderlichen Materialien/-hinweise enthalten, Ressourcen undorganisatorische Erfordernisse erläutern,

– viele Wege zum Ziel eröffnen, weil sie Materialien und Medien für verschiedeneLernertypen enthalten, Orientierung und Übersichtsmöglichkeiten bieten.

Alle in der SBB vorhandenen OL®-Materialien sollen perspektivisch allen Mitarbei-ter/innen in einer Mediendatenbank zur Verfügung stehen. Dabei geht der Trendzu vielseitig und vielfach kombinierbaren Einzelbausteinen, die im Rahmen ver-schiedener Aufgabenstellungen nutzbar sind.Auf dieser Grundlage wird Unterrichtsvorbereitung zunehmend zugunsten der Be-ratung der Lernenden reduziert und Zeit für die Wahrnehmung weiterer Teamauf-gaben gewonnen.

Controlling + Qualität

Die systematische, das Gesamtangebot der SBB erfassende Neustrukturierungdes Lernangebots und die Entwicklung, Erprobung und Optimierung der Lernorga-nisation in Lerneinheiten jeden Niveaus erlauben erstmalig die Schaffung eines –die pädagogische Prozessqualität betreffenden – Qualitätssicherungssystems.Solange Lernen noch als Ergebnis von Lehren gedacht wurde, waren weite Teiledes Vermittlungswissens zugleich an Personen gebunden, die Lernerfolge viel-fach auf ihre persönlichen Fähigkeiten und pädagogischen Talente zurückführten.Wichtiges methodisch-didaktisches Know-how blieb damit teilweise unzugänglich,da es nicht übertragbar in auch von anderen nutzbare Konzepte war. Die konse-quente Umsetzung solcher Erfahrungen in dokumentierte Selbstlerneinheiten machtauch solche Art von Wissen kommunizierbar und veränderbar. Es ist so möglich,sich auf gemeinsame Qualitätsstandards zu beziehen, die in einem lebendigenProzess der Anwendung, Überprüfung und Weiterentwicklung auch unter Einbe-ziehung der Lernenden zu einer kundenorientierten Transparenz und Gestaltungs-möglichkeit des Lernangebots führen.Ziel- und Ergebnisorientierung erfordern in diesem offenen Ansatz ein differenzier-tes Instrumentarium zur Qualitätssicherung. Diese wird geleistet im Sinne eineskontinuierlichen Verbesserungsprozesses.In OL® kontrolliert jeder jeden und alle alles: Die Teilnehmer/innen ihr Vorwissen, ihreLernergebnisse, die Qualität der Lernangebote, die Stimmigkeit des Konzepts, ihreLernwege und -strategien. Die Sozialpädagog/innen, Ausbilder/innen und Lehrer/innen in den Durchführungsteams kontrollieren die Qualität der Ausbildungsprojekte,der Teamzusammensetzung und Arbeitsformen, der eingesetzten Materialien undMedien. Sie überprüfen die Ausbildungs- und Lernziele auf Berufsziel- und Zielgrup-

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pengerechtigkeit, checken die Lernergebnisse und den Stand der Teilnehmer/innen,kontrollieren Arbeitsergebnisse und evaluieren Lernprozesse, überprüfen ihre Do-kumentationen und Auswertungen. Ein zentrales OL®-Team überwacht das Einhal-ten von Zielvereinbarungen mit Entwickler/innen, beurteilt die Qualität von OL®-Konzepten und -Dokumentationen, wertet Fortbildungen und Öffentlichkeitsarbeitaus, ersinnt neue Kontrollmechanismen und weitere Sicherungsstrategien. Und dasalles, um Offenes Lernen erfolgreich zu machen – im Sinne der Teilnehmer/innen,der Mitarbeiter/innen, des Arbeitsamtes und der Betriebe.

OL® ist etwas Einfaches, das schwer zu machen ist

Wir alle sind überzeugt davon, den richtigen Weg gefunden zu haben. Dennoch istdie Umsetzung schwierig:OL® geht einher mit einer Herausforderung an Lernende und Lehrende, die sichnur dann erfolgreich in diesem Konzept bewegen werden, wenn sie Haltung undVerhalten ändern – bekanntermaßen eher änderungsträge Faktoren. Viele unse-rer Erfahrungen zeigen, dass es nicht reicht, die Struktur zu ändern. Beide Akteurewerden sie umgehen, wenn sie von der Methode nicht durchdrungen sind: Lernen-de unterlaufen Selbstlernphasen, indem sie sich davonstehlen oder Ergebnissevon anderen „abschreiben“, Lehrende holen die Belehrung im Einzelfall nach, stattnur auf die Sprünge zu helfen, nutzen gar teure OL®-Materialien für Frontalunterrichtoder lassen die Lernenden beim Lernen allein, weil sie nicht wissen, wie man gutberät. Über Fortbildungen und ständiges reflektiertes Tun haben wir hier einenmittlerweile guten Stand erreicht.Für den Befreiungsschlag für mehr Beratung und weniger Unterricht ist OL® aufgute Medien und Materialien angewiesen. Hier liegt und lag eine weitere Herausfor-derung. Um beispielsweise sechs verschiedene Umschulungsgänge einer Bran-che mit geeigneten Selbstlernmaterialien zu versorgen, ist nicht nur ein hoher Ent-wicklungsaufwand zu veranschlagen. Darüber hinaus gibt es noch immer Gren-zen der Beschaffbarkeit. Gemessen an den Bedarfen, stehen auf dem Markt nurwinzige Bruchstücke in geeigneter medialer Form (CBTs, Videos etc.) zur Verfü-gung. Oft behelfen wir uns mit Printmaterialien, von denen jeder weiß, dass sie inunserer Zielgruppe nicht gerade auf begeisterte Leser/innen stoßen. Hier wird hof-fentlich in den nächsten Jahren mit einem potenzierten Angebot über Internet undNeuentwicklungen im Multimediabereich zu rechnen sein.Trotz aller Schwierigkeiten haben wir mit OL® eine aus unserer Sicht gute Mög-lichkeit gefunden, den Lernenden – bei gesenkten Kosten – einen Weg zum Er-folg zu zeigen, der aussichtsreicher ist als alte Lernkonzepte. Dass (wirklich) gu-ter Rat oft doch sehr teuer ist, stellen wir gleichwohl immer wieder dann fest,wenn es gilt, von dem Einfachen zu überzeugen: „Lernen kann man nur selbst“ –Damit diese Erfahrung von allen Teilnehmer/innen gemacht werden kann, bedarfes eben auch eines hohen Aufwands an Entwicklung und Beratung in derImplementierungsphase.

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Wolfgang Hendrich

Heimliche SchlüsselqualifikationenImpulse für anderes Lernen in der beruflichen Weiterbildung

In der aktuellen Weiterbildungsdebatte um eine Neuorganisation von Erwerbsar-beits- und Lernzeiten kommt die Lebens- und Qualifikationsperspektive der Subjektein einer neuen Weise in den Blick. Angesichts immer häufiger verschwimmenderGrenzen zwischen Arbeits- und Lernzeiten entwickeln sich neue Übergänge undFlexibilitäten. Veränderte Kombinationschancen von Lernen und Arbeiten, von Lern-zeiten und Arbeitszeiten werden gefordert: „Ein Hin- und Hergehen zwischen Ar-beiten und Lernen muss institutionell, curricular, zertifikatorisch und juristisch ab-gestützt werden“, so heißt es etwa in einem Projektpapier des ProjektverbundesLernzeiten1 (S. 7). Entsprechend wird für die Organisation beruflicher Weiterbil-dung eine stärkere Modularisierung gefordert sowie eine Zertifizierung, um „be-rechtigende Abschlüsse“ zu ermöglichen.Betriebliche Personalrekrutierung indes orientiert sich immer noch an biographi-schen Mustern, in denen Diskontinuitäten der Ausbildungs- und Berufsbiographie,familien-/kinderbedingte Zeiten der Nichtbeschäftigung oder Zeiten der Arbeitslo-sigkeit negativ stigmatisieren und damit die Beschäftigungschancen dieser Grup-pen, insbesondere von Frauen nach familienbedingter Unterbrechung, drastischverschlechtern. Schließlich rekurriert betriebliche Personalentwicklung nach wievor auf formal zertifizierte Qualifikationen, die im Wege institutionalisierter Lehr-/Lernprozesse erworben wurden. Sonstige individuelle Fähigkeiten bleiben in derRegel außer Betracht, allenfalls werden im Rahmen von Rekrutierungsmethodenfür den Führungskräftenachwuchs stärker auch Persönlichkeitsmerkmale beach-tet.Aber auch die Strukturen vor allem öffentlich geförderter beruflicher Weiterbildungsind in hohem Maße auf die Vermittlung und Zertifizierung je spezifischen Fachwis-sens ausgerichtet. Erst ansatzweise zeichnen sich Trends ab, stärker als bisherauch die informell erworbenen Qualifikationen der Teilnehmer zum Gegenstand inden Kursen zu machen und sie als auf neue Beschäftigungsfelder transferierbare„Breitenqualifikationen“ positiv zu verstärken. Gestützt wird dieser Trend durch eineteilweise konzeptionelle Neuorientierung am Konzept der „Schlüsselqualifikationen“oder „sozialen Qualifikationen“2, selbst wenn diese Begriffe eher programmatischverwendet denn curricular dekliniert werden. Gemeinsam ist ihnen jedenfalls dieEinsicht, dass die Wissensformen auch in der beruflichen Weiterbildung angesichtseiner sich immer schneller verändernden Arbeitswelt einer Veränderung bedürfen.Nicht mehr propositionales Wissen (wissen, dass ...) ist in diesen Ansätzen derzentrale Bezugspunkt, vielmehr kommt es darauf an, überfachliche Qualifikatio-nen, wie sie unter dem Rubrum „Schlüsselqualifikationen“ diskutiert werden, stär-ker in den Mittelpunkt zu stellen und damit die Fähigkeit der Subjekte zum selb-ständigen Lernen zu fördern.

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Das LEONARDO-Forschungsprojekt3, mit dem vollständigen Titel „Tacit forms ofkey compentencies for changing employment opportunities“, über dessen Ansatzund erste Ergebnisse hier berichtet werden soll, geht noch einen Schritt weiter.Das Projekt geht von der These aus, dass Individuen sowohl im Zuge beruflichenErfahrungswissens bzw. insbesondere Frauen in der Zeit einer familienbedingtenUnterbrechung sich nicht-formale Qualifikationen aneignen, deren sie sich nichtunmittelbar bewusst sind, denen aber gleichwohl für ihren weiteren Berufsverlaufim Zusammenhang mit einem angestrebten Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt undin der Perspektive beruflicher Mobilität eine erhebliche Bedeutung zukommt.In theoretischer Hinsicht schließt das Projekt an eine vor allem in den anglo-ameri-kanischen Ländern geführte Diskussion über die Bedeutung von „tacit skills“ an(vgl. Leplat 1990; Wood 1990), die zum einen eine starke Verbindung zur Debatteum die pädagogische und arbeitsmarktrelevante Bedeutung beruflichen Arbeits-prozesswissens beinhaltet, zum anderen auf die Forderung nach „employability“Bezug nimmt, bei der es um die Frage nach den individuellen „Arbeitsmarktquali-fikationen“ geht, über die die Subjekte verfügen sollen, um auf dem Arbeitsmarkterfolgreich zu sein. Der deutsche Terminus „heimliche Schlüsselqualifikationen“meint eben diesen Zusammenhang.Zielgruppen des Projektes sind zum einen Arbeitslose, die sich durch eine Teilnah-me an Maßnahmen beruflicher Weiterbildung auf dem Arbeitsmarkt neu orientie-ren müssen, und zum anderen Frauen, die nach einer familienbedingten Unterbre-chung erneut eine Beschäftigung aufnehmen wollen und vor diesem Hintergrundan Kursen beruflicher Weiterbildung teilnehmen.Ziel des Projektes ist es, Weiterbildungsmodelle zu analysieren bzw. zu entwickeln,die geeignet sind, den Teilnehmenden diese „heimlichen Schlüsselqualifikationen“stärker bewusst zu machen und dadurch ihr Selbstbewusstsein im Hinblick auf dieWiederaufnahme einer neuen Beschäftigung zu stärken. Darüber hinaus soll dasProjekt dazu beitragen, auch (potentielle) Arbeitgeber sowie Arbeits- und Berufs-berater für die Bedeutung solcher qualifikatorischen Potenzen stärker zu sensibili-sieren. Das Projektdesign ist sowohl forschungs- als auch umsetzungsorientiertangelegt und beinhaltet neben der theoretischen Substantiierung dieses Konzep-tes drei größere Abschnitte:1. In einer ersten Projektphase geht es zunächst darum, im Rahmen qualitativersoziobiographischer Interviews mit verschiedenen Teilnehmer-Gruppen bzw. ehe-maligen Teilnehmenden Dimensionen und subjektives Bewusstsein über derartigeinformell erworbene Qualifikationen zu analysieren.2. Der zweite Projektabschnitt beinhaltet eine Befragung von Weiterbildungsprak-tikern und Personalverantwortlichen in den Betrieben mit dem Ziel, zu analysie-ren, inwieweit in der Praxis beruflicher Weiterbildung auf diese Qualifikationsdi-mension Bezug genommen wird bzw. inwieweit Ansätze einer Veränderung be-trieblicher Personalrekrutierung erkennbar sind.3. In einem dritten, eher umsetzungsorientierten Teil des Projektes sollen schließ-lich im Rahmen einer Zukunftswerkstatt die Ergebnisse aus den vorangegange-nen Erhebungsrunden, insbesondere der soziobiographischen Interviews, an die

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Akteure aus Weiterbildung, Personalentwicklung und regionalen Arbeitsämternrückgekoppelt und Weiterbildungsmodelle im Sinne der Zielsetzung des Projektesentwickelt werden.Die skeptische Frage drängt sich auf, was denn ein derartiges Projekt überhauptan Ergebnissen hervorbringen kann. Wird es möglich sein, derartige „heimlicheSchlüsselqualifikationen“ zu identifizieren oder gar Modelle zu entwickeln, um siezu fördern? In welches Fahrwasser gerät man, wenn man „neue“ Qualifikationenentdecken will und ihren Nutzen auch für (potentielle) Arbeitgeber propagiert? Essind zumindest drei Problembereiche, mit denen ein solches Projekt konfrontiertist:1. In einer Perspektive, die den Problemkomplex Frauen und Arbeitsmarkt in denBlick nimmt, scheint die Problematik der stärkeren Anerkennung von Familien-kompetenzen im Hinblick auf eine Verbesserung der Chancen auf dem ersten Ar-beitsmarkt insoweit „abgehakt“, als die relative Erfolglosigkeit entsprechender Be-mühungen empirisch immer wieder belegte Realität zu sein scheint. Auch gab undgibt es durchaus Ansätze, die mit Weiterbildungsangeboten an familiale Qualifika-tionen anknüpfen oder neue Berufsfelder für Frauen erschließen wollen (vgl. Am-bos u. a. 1990).2. Weiterbildung von Arbeitslosen zielte schon immer auf „Umbildung“ oderQualifikationsanpassung, wird doch von einem mis-match und nicht auf dem Ar-beitsmarkt verwertbaren Qualifikationen ausgegangen. Neue Qualifikationen, imSinne arbeitsmarktadäquater neuer Kenntnisse, scheinen unabdingbar.3. Schließlich: Lassen sich nicht formal zertifizierte Qualifikationen überhaupt aufdem Arbeitsmarkt verwerten, angesichts einer aus der Sicht der Personalwirtschaftentspannten Arbeitsmarktlage?Kann ein derartiges Projekt auf dem Hintergrund solcher Faktoren also überhauptchancenreich sein?Nach unseren ersten Felderhebungen verdichtet sich der Eindruck, dass das Pro-jekt zum richtigen Zeitpunkt dieses Thema aufzugreifen scheint. Angesichts zu-nehmend veränderter Arbeitsanforderungen an Beschäftigte, die – mit aller Vor-sicht formuliert – offenbar mehr als bislang Erwartungen an eigenverantwortlichesArbeiten beinhalten, scheint der Projektansatz – zumindest in explorativer Absicht– durchaus erfolgversprechend. Auch wenn die nötigen Differenzierungen an die-ser Stelle nicht ausgeführt werden können, beispielsweise Differenzierungen hin-sichtlich der regionalen Arbeitsmärkte, Branchen, Betriebsgrößen etc. auf der ei-nen Seite und die Spezifizierung der individuellen qualifikatorischen, askriptivenund Persönlichkeitsmerkmale auf der Seite der Subjekte, so scheint mit dem Pro-jekt doch ein Weg beschritten, neue Formen des Lernen zu identifizieren, die denSubjekten zur Verbesserung ihrer „Arbeitsmarktqualifikationen“ nicht im Sinne ei-ner unkritischen Anpassung an vermeintliche Arbeitsmarkterfordernisse, sondernim Sinne einer größeren persönlichen Souveränität und „Biographiekompetenz“verhelfen könnten.Einige abschließende Interviewauszüge mögen illustrieren, dass es durchausnachvollziehbare Zusammenhänge zwischen solchen Ansätzen in der beruflichen

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Weiterbildung, die auf eine Stärkung des Selbstbewusstseins der Teilnehmendendurch Bezug auf ihre „heimlichen Schlüsselqualifikationen“ zielen, und individuel-lem Arbeitsmarkterfolg zu geben scheint. So berichtete beispielsweise eine ehema-lige Teilnehmerin: „Dass ich so wunderbar organisieren kann, ist mir überhaupt niebewusst geworden. Ich hab´ immer gedacht, das muss so sein, das gehört so.Dass das im Grunde genommen, eine besondere Fähigkeit will ich nicht sagen,aber eine spezielle Fähigkeit ist, zu organisieren. Andere kriegen das nicht malgeregelt, morgens alles mitzunehmen, was sie brauchen, die haben wieder ande-re Sachen, wo ich sag’, wo ich mich vielleicht bisschen schwerer tue. Aber ebensolche Sachen, die hab’ ich da in dem Kurs gelernt, das mit dem Organisieren,dass das nicht selbstverständlich ist, dass man das kann, sondern dass das wirk-lich ‘ne Fähigkeit ist, auf die ich auch hinweisen kann in einem Bewerbungs-gespräch, in einem Lebenslauf und solche Sachen.“Und bezogen auf die Frage, welchen persönlichen Nutzen ihr der Kurs gebrachthabe: „Also ich hab’ in diesem Kurs ‘ne ganze Menge Selbstbewusstsein, Selbst-wertgefühl, Selbstvertrauen auch in mich selber ... Ich kann das doch, ja. Aber wirhaben auch ganz viel Bewerbungstraining zum Beispiel gemacht. Und – ich weißnicht, ob das typisch Frau ist oder typisch für jemanden, der länger aus dem Be-ruf raus ist: ,Ja, das hab ich mal gemacht’, ,da könnt ich mich wieder reinarbeiten’.– Warum kann mich da wieder reinarbeiten? Ich kann das doch (...) Wo ich dasganz krass gemerkt habe, ist an meinen Bewerbungsschreiben. Also die Bewer-bungsschreiben, die ich am Anfang des Kurses geschrieben hab’, so nach demMotto, ich würde mich über eine persönliche Einladung freuen. Am Ende des Kur-ses habe ich geschrieben: ,Ich freue mich heute schon auf eine persönliches Ge-spräch mit Ihnen’ (...). Ich hab so ´ne dicke Mappe nur mit Absagen, und ich habmich in meinen Bewerbungen, äh, immer mehr zurückgenommen, ja, immer mehrmit ,könnte’ und ,würde’ und so, und hinterher eher nach dem Motto: Wenn ihrmich nicht einladet, habt ihr doch selber schuld. Das war wirklich aufgrund desKurses und aufgrund des Trainings – und dass mir da auch gezeigt wurde, wasich kann (...)“.Natürlich hat das Projekt nicht den Anspruch, eine systematische Evaluation vonMaßnahmen beruflicher Weiterbildung vorzunehmen (vgl. Blaschke/Nagel 1995),allenfalls kann es Fingerzeige und Ideen zu einer in dieser Hinsicht methodolo-gisch breiter anzulegenden Forschung liefern. Im Vordergrund steht denn auch,mit aller Bescheidenheit zu einer veränderten pädagogischen Praxis beruflicherWeiterbildung beizutragen, die – an der Schnittstelle zwischen Arbeitsmarktzwängenund Subjektinteressen – möglicherweise neue Wege einschlägt und hilft, dieLebenskompetenz der Subjekte zu stärken.

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Anmerkungen

1 Projektantrag des Projektverbundes Lernzeiten. An dem Projektverbund sind das Fach-gebiet Wirtschaftspädagogik in Duisburg mit Rolf Dobischat, der Lehrstuhl für Erwachse-nenbildung an der Universität Hamburg mit Peter Faulstich, die Hochschule für öffentli-che Verwaltung in Bremen mit Hans-Peter Füssel, das Institut für Berufspädagogik inErfurt mit Rudolf Husemann und die Abteilung Arbeitsmarktpolitik des WSI der Hans-Böckler-Stifutng in Düsseldorf mit Hartmut Seifert beteiligt.

2 Auf die verschiedenen Ansätze gehe ich hier bewusst nicht ein.3 An dem Projekt sind vier Länder der EU beteiligt: für Deutschland als Antragsteller und

verantwortlicher Koordinator das Berufsbildungsinstitut Arbeit und Technik (BIAT) an derUniversität Flensburg (Prof. Dr. Heidegger, Dr. Wolfgang Hendrich), für England die Schoolof Educational Studies an der University of Surrey (Prof. Karen Evans), für PortugalUniversidade de Evora (Prof. Eduardo Figueira), für Griechenland das Center for Voca-tional Training Ergon k.e.k. Die Erhebungen im Rahmen des Projektes verlaufen zeitlichparallel und werden untereinander rückgekoppelt.

Literatur

Ambos, Ingrid/Gertner, Swantje/Schiersmann, Christiane/Wunn, Christa (1990): BeruflicheWiedereingliederung von Frauen. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Jugend, Fa-milie, Frauen und Gesundheit. Stuttgart u.a.

Blaschke, Dieter/Nagel, Elisabeth (1995): Beschäftigungssituation von Teilnehmern an AFG-finanzierter beruflicher Weiterbildung. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsfor-schung, H. 2, S. 195–213.

Leplat, Jacques (1990): Skills and Tacis Skills: A Psychological Perspective. In: AppliedPsychology: An International Review, H. 2, S. 143–154

Wood, Stephen (1990): Tacit Skills, the Japanese Management Model and New Technology.In: Appied Psychology: An International Review, H. 2, S. 169–190

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ZUR THEORIEDISKUSSION

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Horst Siebert

Replik auf Peter Faulstichs Kritik am Radikalen Kon-Replik auf Peter Faulstichs Kritik am Radikalen Kon-Replik auf Peter Faulstichs Kritik am Radikalen Kon-Replik auf Peter Faulstichs Kritik am Radikalen Kon-Replik auf Peter Faulstichs Kritik am Radikalen Kon-struktivismusstruktivismusstruktivismusstruktivismusstruktivismus

Peter Faulstich gehört zu den wenigen Kritikern des „radikalen Konstruktivismus“in unserer Disziplin, die die einschlägige Literatur kennen und auch die philosophie-geschichtlichen Verweise des Konstruktivismus beurteilen können. Peter Faulstichhat sich mehrfach kritisch zum Konstruktivismus geäußert, zuletzt in der Festschrift,die Rolf Arnold, Wiltrud Gieseke und Ekkehard Nuissl zu meinem sechzigsten Ge-burtstag herausgegeben haben. Ich beziehe mich im Folgenden – im Interesseeiner „didaktischen Reduktion“ – auf Thesen von Peter Faulstich, die er als Ant-wort auf einen Beitrag des „radikalen Konstruktivisten“ Ernst von Glasersfeld inder Zeitschrift „Ethik und Sozialwissenschaften“ (4/1998) veröffentlicht hat. In die-sem Heft setzen sich mehrere Wissenschaftler/innen mit einem thesenartigenImpulsreferat von Ernst von Glasersfeld auseinander.Ein Satz vorweg zu meiner Haltung gegenüber Ernst von Glasersfeld: Ich habeseine Texte mit Gewinn gelesen, a) wegen seiner Interpretation Piagets und an-derer philosophischer Vorläufer des Konstruktivismus, b) wegen der provokativenund deshalb „perturbierenden“ Radikalität seiner Thesen und c) weil er von allenKonstruktivisten die meisten Bezüge zur (Erwachsenen-)Pädagogik herstellt. Mei-ne Kritik (die natürlich ebenfalls nur eine Beobachtungsperspektive ist) beziehtsich unter anderem auf folgende Punkte:– Ernst von Glasersfeld differenziert meines Erachtens zu wenig zwischen un-

serer Alltagserkenntnis und wissenschaftlicher Erkenntnis.– Er differenziert meines Erachtens zu wenig zwischen unterschiedlichen (sozialen,

psychischen, „sachlichen“) Wirklichkeiten (vgl. hierzu John Searle).– Er vernachlässigt meines Erachtens die soziale Konstruktion von Wirklichkeit,

so dass ich Peter Faulstichs Subjektivismus-Kritik für berechtigt halte.Nun zu Peter Faulstichs Thesen im Einzelnen. Er betitelt seinen Beitrag „Viabilitätstatt Wahrheit? Biologie statt Ontologie?“ und deutet damit seine „Stoßrichtung“an. Doch der Reihe nach.1. Peter Faulstich bezeichnet die Schlüsselbegriffe Selbstreferenzialität, Selbst-

organisation, Evolution, Autopoiesis, Kontingenz und Viabilität als „Sprachspie-le“. Dem stimme ich zu, da die gesamte Pädagogik aus sprachlich konstruier-ten Wirklichkeiten besteht. Aber „Sprachspiele“ sind nicht ohne Weiteres„Worthülsen“ oder „Leerformeln“. Auch Mündigkeit und Emanzipation sindSprachspiele. Entscheidend ist, auf welche Wirklichkeitsaspekte sie aufmerk-sam machen und welche pädagogischen Handlungen sie nahe legen. So sprichtErnst von Glasersfeld an anderer Stelle von „begrifflichem Verhalten“, das heißt,Sprache und Handlung hängen eng zusammen.

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2. Ernst von Glasersfeld verknüpft vier Theorietraditionen: Skeptizismus, biologi-sche Evolutionstheorie, Piaget und Kybernetik. Peter Faulstich fragt, ob „hin-ter diesem Eklektizismus tatsächlich eine Theoriekonvergenz konstruiert wer-den kann“ (S. 519). Ich meine, ja. Verschiedene Theorien (neben den genann-ten auch Chaostheorie, Luhmanns Systemtheorie, die Kognitionspsychologievon Heinz Mandl und anderen) lassen sich zu einem Paradigma mit der Leit-idee „Selbstorganisation“ verknüpfen und von technologisch-mechanistischenWelt- und Menschenbildern abgrenzen.

3. Peter Faulstich kritisiert, dass der erkenntnistheoretische „Gegner“ des Kon-struktivismus „im Schatten“ bleibt und dass eine objektivistische, repräsentati-onstheoretische Position nicht mehr ernsthaft vertreten wird.Das mag für die philosophische Diskussion zutreffen, nicht aber – nach meinerBeobachtung – für den „Mainstream“ der Pädagogik, das heißt für Trainer, Schul-buchautoren, Kultusbürokratien, Fachlehrer, Hochschullehrer etc. Auch wennwir alle von dem „Lehr-Lern-Kurzschluss“ (Klaus Holzkamp) überzeugt sind,folgt der heimliche Lehrplan der (Erwachsenen-)Pädagogik weitgehend demtechnologischen Input-Output-Schema.

4. Peter Faulstich kritisiert, dass „das eigentliche Problem, nämlich das der Ver-mittlung, ausgeblendet“ wird (Seite 519).Nun ist der Begriff Vermittlung mehrdeutig. Gemeinhin wird er als „Vermittlungvon A nach B“, also als Transport von Informationen verstanden. Ein solcheslineares Verfahren – davon bin ich überzeugt – funktioniert nur in Ausnah-mefällen (zum Beispiel in einer intimen Beziehung).Im Unterschied dazu können wir von einer Vermittlung zwischen A und B, zwi-schen Ich und Welt sprechen. In diesem Sinn sind konstruktivistische Begriffewie strukturelle Koppelung, Driftzone, Strukturdeterminiertheit, Koevolution hilf-reich. Lehre vermittelt zwischen Psychologik und Sachlogik.

5. Peter Faulstich kritisiert den konstruktivistischen Subjektivismus (nicht zu Un-recht), das „Gefängnis individuellen Bewusstseins“. Es ist nicht zu bestreiten,dass „eine Hypertrophie des individualistisch gedachten Subjekts“ (Seite 520)gleichsam im Trend beschleunigter Individualisierungsprozesse liegt. Dassdamit Werte wie Solidarität und Gerechtigkeit gefährdet sind, bedaure ich eben-so wie Peter Faulstich. Doch das ist nicht die Schuld des Konstruktivismus;auch der Wetterbericht ist nicht verantwortlich für das schlechte Wetter.Außerdem trifft der Individualismusvorwurf nur einen Teil der konstruktivisti-schen Literatur, nicht aber den „kulturellen“ und „sozialen Konstruktivismus“.Auch neurobiologische „Vordenker“ des Konstruktivismus betonten, dass nurkonsensfähige Konstrukte überlebens- und zukunftsfähig sind.

6. Damit sind wir bei einem weiteren zentralen Kritikpunkt: dem Reizwort „Viabi-lität“. Vereinfacht gesagt: Wir handeln und denken so, wie es sich als brauch-bar und passend erweist. Hier schimmert zweifellos der amerikanische Prag-matismus durch. Energisch ist Peter Faulstichs Einspruch: „Das Wesen mensch-lichen Handelns, seine ungeheure Differenz gegenüber Verhalten von Orga-nismen wird unterschlagen“ (S. 520).

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An dieser Stelle ist eine anthropologische Diskussion über das Wesen desMenschseins nötig. Mein Menschenbild ist vermutlich pessimistischer als dasvon Peter Faulstich: Ich bestreite nicht, dass der Mensch vernunftfähig ist. Ichbin aber – auch nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit der Ökologiekrise –überzeugt, dass wir im Normalfall nur dann vernünftig (das heißt im Interessedes Gemeinwohls und der Zukunft) handeln, wenn das Vernünftige auch füruns „viabel“, das heißt vorteilhaft ist.

7. Peter Faulstichs Kritik an dem Viabilitätskonzept verkürzt Ernst von Glasers-felds Position. In dem Thesenpapier (Seite 506), auf das sich Peter Faulstichbezieht, unterscheidet Ernst von Glasersfeld drei kognitive Ebenen von Viabilität.(Erstens: Viabel ist, was Probleme löst. Zweitens: Kognitive, begriffliche „Ver-einbarkeit“ von Konstrukten. Drittens: Übereinstimmung mit begrifflichen Struk-turen anderer.) An anderer Stelle spricht Ernst von Glasersfeld von einer„Viabilität zweiter Ordnung“, die unserem Vernunftbegriff sehr nahe kommt.Dennoch soll die Diskrepanz zwischen der Aufklärungsphilosophie und demPragmatismus nicht eingeebnet werden.

8. Des „Pudels Kern“ des Konstruktivismus Ernst von Glasersfelds ist der Ver-zicht auf den Wahrheitsbegriff als Leitdifferenz zu Gunsten des Viabilitätsbe-griffs. Auch für mich hat der Wahrheitsbegriff – als Korrespondenz, das heißtÜbereinstimmung menschlicher Erkenntnis mit der objektiven Realität – nurnoch begrenzte Gültigkeit. Allenfalls innerhalb eines Erkenntnissystems (zumBeispiel der Physik) kann man zwischen wahren und nicht wahren Aussagenunterscheiden.Auf Grund meiner historischen Kenntnisse, aber auch auf Grund meiner Erfah-rungen im sozialen und beruflichen Umfeld misstraue ich zutiefst Wahrheitsfa-natikern und Überlegenheitsansprüchen, so dass ich in diesem Punkt konstruk-tivistischen Überspitzungen gegenüber („Wahrheit ist die Erfindung eines Lüg-ners“) „verständnisvoll“ reagiere. (Wenn jemand einwendet, dies sei eine emo-tionale Reaktion, müssen wir uns über den Zusammenhang von Kognition undEmotion verständigen.)

9. Peter Faulstich versteht den Radikalen Konstruktivismus als Verabschiedungvon einem Bildungs- und Aufklärungsdenken (Seite 520). Dafür gibt es Argu-mente, aber auch Gegenargumente. Ich bin (unter anderem mit Dieter Lenzen,Werner Marotzki) der Meinung, dass die Konzepte Selbstorganisation/Auto-poiese durchaus mit Autonomie/Bildung kompatibel sind. Es erscheint mir denk-bar, verschiedene Ebenen des Lernens zu unterscheiden, wozu auch ein bil-dungsintensives, reflexives Lernen als „Beobachtung zweiter Ordnung“ gehört.

10. Peter Faulstich plädiert – auf Grund seiner Kritik an dem Subjektivismus einesErnst von Glasersfeld – für eine Rehabilitation des „dialektischen Denkens“.(Seite 519) Mir erscheint eine Synthese des konstruktivistischen und dialekti-schen Denkens nicht ausgeschlossen. Dann aber ist – aus meiner Sicht – zuklären, was die Dialektik für Bildungsarbeit bedeutet. (In der Pädagogik wird„dialektisch“ meist so verstanden, dass „irgendwie“ alles mit allem zusammen-hängt.)

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11. Peter Faulstich und ich verfolgen ähnliche Ziele der Bildungsarbeit, die sichstichwortartig mit Demokratisierung, Mündigkeit, Subjektorientierung um-schreiben lassen. Ich betone – im Unterschied zu Peter Faulstich – die innovati-ven Potentiale (von der Seminargestaltung über Curricula und Schulbücherbis zur systemisch-konstruktivistischen Organisationsentwicklung) des „auto-poietischen Paradigmas“.

12. Die Frage, ob es sich hier um einen neuen (erwachsenen-)pädagogischen„Richtungsstreit“ handelt oder ob Annäherungen denkbar sind, entscheidet sich– da stimme ich Peter Faulstich zu – in der erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Beziehung. Einerseits sind positivistische, naiv-realistische Abbild-theorien nicht mehr „mehrheitsfähig“. Andererseits lassen sich mit Ernst vonGlasersfelds subjektivistischer Erkenntnistheorie „Entwürfe“ wie Bildung undAufklärung nur bedingt vereinbaren, da Bildung ohne eine wie auch immergeartete Form des „Weltverstehens“ (das mehr ist als Wirklichkeitskonstruktion)nicht „zu haben“ ist.

13. Nun ist es aber kein Zufall, dass Ernst von Glasersfeld einen Begriff aus derneurobiologischen Literatur nicht aufgreift, nämlich den der „strukturellen Koppe-lung“. Menschen – auch als autopoietische „Systeme“ – sind mit ihrer Umweltstrukturell gekoppelt, das heißt, zwischen den subjektiven Konstrukten und denaußersubjektiven Realitäten muss es Entsprechungen, Übereinstimmungen ge-ben, andernfalls sind die Konstrukte nicht viabel.Ein Beispiel: Hätten die Weltraummessungen der NASA nicht mit der tatsächli-chen Position des Mondes übereingestimmt, so wären Neil Armstrong und ande-re nie auf dem Mond gelandet.Eine strukturelle Koppelung existiert im Normalfall auch zwischen Lehrendenund Teilnehmenden – durch gemeinsame Sprache, Lernvoraussetzungen,Erfahrungen etc.Strukturelle Koppelungen können gestört sein, können zerbrechen, müssensich bewähren, bestehen „auf Widerruf“, dennoch vermitteln sie zwischenerkennenden Subjekten und Erkenntnisobjekten.

14. Diese Beziehung kann auch als dialektischer Prozess erfolgen. (Nicht jede Sub-jekt-Objekt-Beziehung ist dialektisch!) Peter Faulstich schreibt: „Hegels The-ma und das aller Dialektik ist das Selbst, das zur Erkenntnis kommt, das Sub-jekt, das in lebendiger Bewegung mit dem Objekt sich durchdringt“ (Seite 519).Ich bin – bis auf Weiteres – der Meinung, dass dialektisches Denken mit we-sentlichen konstruktivistischen Positionen kompatibel ist. Doch auch, wenn dasnicht möglich erscheint, ist damit nicht die „Viabilität“ des Konstruktivismus wi-derlegt.

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Literatur

Arnold, Rolf/Gieseke, Wiltrud/Nuissl, Ekkehard (Hrsg.): Erwachsenenpädagogik. Baltmanns-weiler 1999

Faulstich, Peter: Viabilität statt Wahrheit? Biologie statt Ontologie? In: Ethik und Sozial-wissenschaften 1998, H. 4, S. 518 ff.

Glasersfeld, Ernst von: Radikaler Konstruktivismus. Frankfurt/M. 1997Glasersfeld, Ernst von: Die radikal-konstruktivistische Wissenschaftstheorie. In: Ethik und

Sozialwissenschaften 1998, H. 4, S. 503 ff.Searle, John: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Reinbek 1997Siebert, Horst: Pädagogischer Konstruktivismus. Neuwied 1999Varela, Francisco/Thompson, Evan: Der mittlere Weg der Erkenntnis. Bern 1992

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REZENSIONEN

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Das Buch in der Diskussion

Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und TechnologieDelphi-Befragung 1996/1998Potentiale und Dimensionen der Wissensgesellschaft – Auswirkungen auf Bildungsprozesseund BildungsstrukturenEndbericht, vorgelegt von Prognos AG, Basel 1998, 304 SeitenIntegrierter Abschlussbericht, vorgelegt von Prognos AG und Infratest Burke Sozialforschung,München, Basel 1998, 113 SeitenAbschlussbericht zum „Bildungs-Delphi”, vorgelegt von Infratest Burke Sozialforschung, Mün-chen 1998, 110 Seiten

Horst Siebert:

Die drei Forschungsberichte sollen vor allem folgende Fragen klären: „Wie entwickelt sichunser Wissen bis zum Jahr 2020, d. h. innerhalb der nächsten Generation? Welchen Einflussnimmt die zukünftige Entwicklung auf die Gesellschaft? Und: Welche Konsequenzen ergebensich daraus für die Bildung?“ (Edelgard Bulmahn im Vorwort ).Eine Delphi-Befragung ist eine sozialwissenschaftliche, insbesondere prognostische For-schungsmethode, bei der Expert/innen mehrmals befragt werden, wobei die Zwischenergeb-nisse immer wieder in den Befragungsprozess einfließen.In diesem Fall wurden an ca. 1.000 Expert/innen ca. 600 Fragen gestellt – zu erkennbarenEntwicklungen der Wissenschaftsdisziplinen, zu künftigen „Hot Topics”, zur gesellschaftlichenRelevanz der Forschung, zu den Konsequenzen für den Bildungsbegriff und das Bildungs-system.Die Fülle der Ergebnisse kann hier nicht dargestellt werden. Einige Aspekte seien thesenartigangedeutet :– Zwischen Wissen und Information ist deutlich zu unterscheiden. Wissen ist personenge-

bunden, d. h., eine kognitive Verarbeitung von Informationen durch psychische und so-ziale „Systeme”.

– In einer Wissensgesellschaft wird Wissen a) zur wichtigsten ökonomischen Produktivkraftund b) zur Voraussetzung für die Nutzung von individuellen Lebens- und Teilhabechancen.

– Wissenschaftsethische Fragen nach einem verantwortlichen Umgang mit Wissen und einerpersonal-, sozial- und umweltverträglichen Nutzung des Wissens gewinnen an Bedeutung.

– Der frühere Dualismus von Allgemeinbildung und Berufsbildung ist überholt. Allgemein-wissen (als personale, soziale, methodische Kompetenz und inhaltliches Grundwissen)ist lebenspraktische Orientierung und Basis für unterschiedliches Spezialwissen.

– Trotz und wegen der rapiden wissenschaftlichen Entwicklung werden das persönliche Er-fahrungswissen, aber auch metakognitive Fähigkeiten des Umgangs mit Wissen aufge-wertet.

– Als eine Kompetenz wird das Folgewissen beschrieben: die Fähigkeit, gewollte und un-gewollte Folgen und Nebenwirkungen wissenschaftlicher Forschung zu beurteilen und ge-gebenenfalls zu vermeiden.

– Zu den Wissensgebieten mit dynamischer Entwicklung gehören im „Themenfeld Leben”u. a.: Funktionen des Gehirns und des Nervensystems, Psychosomatik, Kreativität, Emo-tionalität, Gesundheit.

– Erhebliche Wissenszuwächse werden auch in der Ökologie erwartet (insbesondere Um-weltmedizin, Abfallvermeidung, Wasserwirtschaft, Ökotoxikologie, Klimafolgenforschung).

– Ein weiterer Wachstumsbereich sind Informationstechnik und Medien (inkl. Folgen einesinformationstechnischen Analphabetismus, künstlicher Intelligenz, Einfluss virtueller Wel-ten auf Sozialbeziehungen, Medienkompetenz).

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– Nur geringe Fortschritte werden in Grundlagenforschungen erwartet, die keinen konkre-ten ökonomischen Nutzen versprechen.

– Die meisten zukunftsfähigen Forschungen sind interdisziplinär konzipiert. Insbesonderegilt dies für das Themenfeld Umwelt, aber auch im Bereich Sozialisation und Lernen so-wie Multikulturalität. Die Interdisziplinarität geisteswissenschaftlicher Themen wird als ge-ring eingeschätzt.

– Zur Reduzierung der Komplexität des Wissens erscheint eine besondere kognitive Kompe-tenz erforderlich.

– Einem modernen Allgemeinwissen (z. B. über Ökologie, Globalisierung ...) wird eine gro-ße Bedeutung für die Orientierung und Lebensführung der Menschen beigemessen. Aberauch Ethik, Ästhetik, Geschichtlichkeit werden als besonders wichtig beurteilt.

– Ferner gewinnt die Fähigkeit an Bedeutung zu beurteilen, wie neues Wissen zustandegekommen und zu bewerten ist.

Peter Krug:

Wie entwickelt sich unser Wissen innerhalb der nächsten Generation bis zum Jahre 2020?Welchen Einfluss nimmt die zukünftige Entwicklung auf die Gesellschaft? Welche Konsequen-zen ergeben sich daraus für die Bildung? Diese Fragen wurden im Auftrag des BMBF von derPrognos AG in Basel bzw. Infratest Burke in München als „Wissens-Delphi“ und „Bildungs-Delphi“ in einer besonderen Form der Befragung mit über 600 Einzelfragen an Experten ge-richtet. Auf der Basis von ca. 1.000 Expertenantworten wurden folgende Ergebnisse festge-halten:Die Weiterentwicklung von Wissen wird insbesondere durch kreative Verknüpfungen erfolgenals grundsätzliche Erkenntnisse über Problemlagen, Wirkungszusammenhänge und Folgeer-scheinungen in komplexen Systemen. Die Rahmenbedingungen dieser komplexen Systememüssen adäquat organisiert werden. Entsprechende Handlungsmöglichkeiten müssen vomPrinzip der Nachhaltigkeit geprägt sein, bei zunehmender Komplexität wird die Bedeutungdes Orientierungswissens steigen.Als Konsequenz aus der Delphi-Befragung wird die Notwendigkeit gefolgert, ein ganzheitli-ches Allgemeinwissen als inhaltliches Basiswissen mit methodischer, personaler und sozialerKompetenz, insbesondere auch in Bezug auf aktuelles Wissen, zu verbinden. Das aktuelleWissen beziehe sich insbesondere auf neue Erkenntnisse im Bereich der Bio- und Öko-Wis-senschaften, die Kompetenzstruktur insbesondere auf Erkenntnisse über Systemzusammen-hänge und auf Interdisziplinarität der Bearbeitung.Als Perspektive folgert Delphi: Die künftige soziale und wirtschaftliche Entwicklung in Deutsch-land wird davon abhängen, ob und wie gut es gelingt, die wachsenden Informationsmengenimmer wieder mit dem sich ändernden Wissensbedarf in Einklang zu bringen. Der Paradigmen-wechsel zur Wissensgesellschaft werde bestimmt durch die zunehmende Globalisierung, durchneue Arbeitsformen, Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsinhalte, durch interkulturellen Wandel unddurch ökologische und soziale Nachhaltigkeit. Ordnungspolitisch wird festgestellt, dass im-mer häufiger sichtbar werde, dass die zentralen Einflussgrößen für die künftige Entwicklungder Kontrolle zentraler politischer Instanzen entgleiten und dass deshalb eine Neuorientie-rung im Verhältnis zwischen Bürger und Staat im Sinne von mehr Eigenständigkeit und Ver-antwortung resultiere. Die Wissensgesellschaft in der Zukunft werde durch offene Strukturengekennzeichnet sein.Der Delphi-Bericht, der eine Fundgrube zu Konkretionen im Bereich der Wissensgesellschaftin den unterschiedlichsten Themenfeldern wie Leben, Umwelt, Naturwissenschaften und Tech-nik, Informationstechnik und Medien, Kultur und Gesellschaft, Wirtschaft, Recht und Politikist, bestätigt Optionen, die in der Weiterbildung bereits auch durch andere Quellen für eineKonzeption eines stärker eigenverantwortlichen lebenslangen Lernens dargestellt wurden(Weißbuch der EU, BMBF-Veröffentlichung zum Lebenslangen Lernen, Große Anfrage der

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SPD-Bundestagsfraktion etc. – vgl. dazu auch: Krug. P.: Weiterbildungsoffensive 2000. ZurModernisierung der Weiterbildung. In: Beiheft zum Report 1999, S. 52ff.).Kritisch bleibt hier in diesem Zusammenhang methodologisch allerdings anzumerken, dassStruktur und Richtung der Einzelfragen (der Rezensent wurde auch befragt) bei in der Sacheengagierten Experten die Ergebnisse immanent leicht präjudizierten (Modernisierung anstattTraditionalismus), wodurch bereits reflektierte Megatrends stabilisiert wurden.Für den Delphi-Bericht werden damit Konzeptionen bestätigt und unterfüttert, die gegenwär-tig auch in der politischen Diskussion des lebenslangen Lernens erörtert und umgesetzt wer-den. Es geht hier vorrangig um folgende Themenbereiche:– Neue Herausforderungen für die Weiterbildung– Innovative Lehr-/Lernarrangements – Selbstgesteuertes Lernen– Stärkung der Weiterbildungsmotivation und -beteiligung– Verbesserung der Rahmenbedingungen für lebenslanges Lernen– Bildungsstrukturreform und Modernisierung.Insgesamt ist der Delphi-Bericht ein unverzichtbares Dokument für Diskussionszusammen-hänge zum lebenslangen Lernen und gleichzeitig ein Beleg für die Bedeutung des Lernensfür die weitere Entwicklung unserer Gesellschaften. Von daher gehört der Delphi-Bericht nichtnur in die Hand von Wissenschaftlern, sondern insbesondere auch in die Hand der politischVerantwortlichen. Insoweit ist es auch ein Verdienst des BMBF, der Öffentlichkeit differenzier-te Abschlussberichte vorgelegt zu haben. Es bleibt zu wünschen bzw. zu unterstützen, dassdie Ergebnisse und die daraus resultierenden implizierten Handlungskonsequenzen sich auchtatsächlich in der Weiterentwicklung zur Wissensgesellschaft über die Förderung des lebens-langen Lernens durchsetzen können. Innovative Ansätze in einigen Bundesländern, im BMBFund bei der BLK lassen hier positive Erwartungen aufkommen, insbesondere auch für diezunehmende Bedeutung der Umsetzung von Qualitätsmanagement-Systemen als Motorenfür Innovation und Effizienz im Bildungssystem.

Peter Faulstich:

Die Jahrtausendwende regt an, in Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert weit in die Zukunft zudenken. Die Verarbeitungsweisen schwanken zwischen Astrologie und Futurologie. Aus derHand lesen und Karten legen haben ebenso Konjunktur wie Prognostik. Das Bedürfnis, Gesi-chertes über Zukunft zu wissen, wächst. Daraus entstehen auch die Versuche, sich der Zu-kunft wissenschaftlich zu nähern. Mit den vom Bundesministerium für Bildung und Forschunginitiierten Delphi-Studien – einer Methode der Prognose, deren Name auf das berühmte grie-chische Orakel anspielt – soll ein Blick in das nächste Jahrtausend gewagt werden. Es wirdversucht, Entwicklungen einzuschätzen, sie gemeinsam zu überprüfen, zu diskutieren unddann Maßnahmen zu überlegen, um sie Wirklichkeit werden zu lassen – oder sie ge-gebenenfalls zu verhindern. Damit könnte Zeit gewonnen werden, evidente Fehlentwicklun-gen zu bremsen oder Innovationen schneller anzustoßen. Delphi-Studien sollen ihrem An-spruch nach also nicht einfach ein Bild von der Zukunft liefern, sondern eine Informations-grundlage für die Entscheidung, was jetzt zu tun oder zu lassen ist.Es finden sich in prognostischen Studien meist eher vereinfachte Vorstellungen, die auffälligevorhandene Erscheinungsformen in die Zukunft verlängern. Sie operieren mit einer Extrapo-lation der Phänomene. Aktuelle Tendenzen werden festgeschrieben. Es muss demgegenübernotwendig auf Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten verwiesen werden. Dies wird im An-satz der „Delphi-Studien“ aufgenommen. Sie untersuchen, was Experten einerseits für wahr-scheinlich und andererseits für wünschbar halten. Neben Trendextrapolationen, Modell-simulationen und Szenarios ist die Delphi-Methode zu einem einflussreichen Verfahren zurErmittlung von Zukunftserwartungen geworden. Ihr Ursprung liegt in strategisch-militärischenStudien der Rand Corporation, die zur Einschätzung von Effekten langfristiger Techniktrendsim zivilen Sektor übertragen wurden. Erschienen ist die „long-range forecasting study“ 1966

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unter dem Titel „Social Technology“ auch in Deutsch: „50 Jahre Zukunft – Bericht über eineLangfrist-Vorhersage für die Welt der nächsten fünf Jahrzehnte“ (Helmer; Gütersloh 1966).Angesichts damaliger Technik-Euphorie ist es heute erheiternd, aber auch erleichternd, nach-zulesen, was alles nicht eingetroffen ist. Einiges allerdings hat sich auch bewahrheitet. Aufge-griffen wurde die Methode in Japan, und die erste große Delphi-Studie in Deutschland wurde1993 vom BMBF als „Deutscher Delphi-Bericht zur Entwicklung von Wissenschaft und Tech-nik“ (Bonn 1993) veröffentlicht.Die Delphi-Methode unternimmt ein mehrstufiges Verfahren von formalisiertem Fragebogen,Experteninterviews und Rückkopplung in Gruppendiskussionen. Dabei zeichnen sich Kontu-ren des Kommenden ab. Aussagen über die Zukunft können sich auf zwei Typen von Aus-schließungen stützen: Erstens ist es nahezu ausgeschlossen, dass die uns gegenwärtig be-unruhigenden Probleme (Erwerbslosigkeit, Bevölkerungsexplosion, Umweltkatastrophen) plötz-lich von heute auf morgen gelöst werden. Zweitens ist es fast ausgeschlossen, dass kurzfri-stig gesellschaftliche Institutionen oder Konstellationen entstehen, welche über eine ange-messene Problemlösungskapazität verfügen. Im Resultat stehen die nächsten 20 Jahre – glo-bale Katastrophen wie atomare Weltkriege oder Meteoreinschläge ausgeschlossen – weitge-hend fest. Dies spiegelt sich auch in den Delphi-Studien, indem die Kategorien der UmfragenVorgegebenes einschätzen lassen. Abweichendes kommt kaum zum Zug. Das Delphi-Ver-fahren ist konvergenzbildend und favorisiert Mehrheitsmeinungen.Welche neuen Anforderungen oder „Bedarfe“ an Lernen entstehen, ist bereits seit längererZeit Gegenstand der Diskussion. Die Liste umfasst: Zukunft der Erwerbstätigkeit, Technikpro-bleme und Umweltfragen, Bevölkerungsentwicklung, Wertewandel und Teilhabe. Davon poin-tiert das „Delphi ‘98“ besonders die technologischen und ökologischen Themenfelder: Infor-mation & Kommunikation, Dienstleistung & Konsum, Management & Produktion, Chemie &Werkstoffe, Gesundheit & Lebensprozesse, Landwirtschaft & Ernährung, Umwelt & Natur,Energie & Rohstoffe, Bauen & Wohnen, Mobilität & Transport, Raumfahrt, Großexperimente.Alle diese Trends haben Konsequenzen für Lernen. Die beiden 1996 vom BMBF vergebenenUntersuchungen beschäftigen sich mit den Potentialen und Dimensionen der zukünftigenWissensgesellschaft („Wissens-Delphi“) sowie den Auswirkungen auf die Bildungsprozesseund -strukturen („Bildungs-Delphi“).Die Anforderung technischer, ökonomischer politischer und kultureller Art werden als Lernauf-gaben wahrgenommen und übersetzt. Zu den wichtigsten Herausforderungen der Zukunft wirddie Frage nach der Bildung selbst, das heißt der individuellen Beteiligung in der entstehendenEpoche menschlicher Kultur. Dabei ist kontrovers, welchen Begriff wir für die heraufziehendeGesellschaftsformation verwenden wollen. Einige reden nach wie vor von der modernenIndustriegesellschaft, andere vom Superindustrialismus, wieder andere von der Postmoderne,von der Computerkultur, der Informations- oder der Risikogesellschaft, der Erlebnisgesellschaftund in den Delphi-Studien von der „Wissensgesellschaft“. Alle diese Begriffe pointieren ein-zelne Tendenzen und überziehen sie. Allen gemeinsam ist aber ein Umbruchbewusstsein.Weitere Entwicklungen und Hoffnungen werden dann gleichzeitig Überlebensversuche, wel-che die notwendigen Voraussetzungen benennen, um nach wie vor an Optionen für wünsch-bare Zukünfte festhalten zu können.Indem auf Wissen als Fokus gesellschaftlicher Struktur und Perspektive abgestellt wird, wirdhervorgehoben, dass zentraler Faktor von Produktion und Dienstleistung mittlerweile immerdeutlicher die Informationstechniken sind und dass es gleichzeitig auf Kohärenz und Interpre-tation massenhaft verfügbarer, aber diffuser Information – eben in Form von Wissen – an-kommt. Für eine so verstandene „Wissensgesellschaft“ wird Lernen überlebenswichtig.Teilgenommen am „Wissens-Delphi“ haben rund 500 Wissenschaftler in einer schriftlichen Um-frage und fünf Workshops. Es wurden vier Felder von bedeutsamer werdendem „Allgemein-wissen“ identifiziert: inhaltliches Basiswissen, instrumentelle Fertigkeiten, personale Kompe-tenzen und soziale Fertigkeiten. Diese liefern die Basis der beruflichen und gesellschaftlichenHandlungskompetenz wie auch für die Fähigkeit zum lebensbegleitenden Lernen. Problema-tisch ist besonders die Diskrepanz zwischen rapide wachsender Informationsmenge und dem

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Kohärenzbedürfnis hinsichtlich personaler Identität.Entsprechend sind die Funktionen und Strukturen des Bildungssystems auf ihre Zukunfts-fähigkeit zu prüfen. Im „Bildungs-Delphi“ werden die Konsequenzen der „Wissensgesellschaft“auf Lernprozesse und -strukturen genauer untersucht. Von den 669 Experten, die in die Haupt-befragung einbezogen waren, schickten 457 (68%) den ausgefüllten Fragebogen zurück. Diehohe Rücklaufquote kann als großes Interesse interpretiert werden. Generelle Thesen sind:Erwerb von Kompetenzen zur Aneignung von Wissen hat Priorität; Problemlösungsfähigkeitwird wichtiger als Fachwissen; Lernnetze und eine Vielfalt von Lernorten entstehen; Lernenerfolgt im Wechsel institutioneller und informeller Aneignung; Eigenverantwortung gewinnt deut-lich an Bedeutung; das Prinzip lebenslangen Lernens wird stärker durchgesetzt.Die Überlebenschancen der Menschen werden demnach zu einem Bildungsproblem. Huma-ne Potenzen sollen mobilisiert werden, um die negativen Konsequenzen möglicher Verlaufs-muster der Zukunft aufzuheben. Gerade dann, wenn man die scheinbaren Sachzwänge durch-schaut hat und die Systemstrukturen als kontingent auffasst, ist es notwendig, sich konkreterAlternativen zu vergewissern und Kriterien zu benennen.Frappierend ist die Differenz, welche die Experten im „Bildungs-Delphi“ hinsichtlich erwart-barer und wünschenswerter Zukunft annehmen. Hier verbindet sich eine prognostische miteiner normativen Komponente der Studie. Gerade die Entwicklungschancen von Bildung undWeiterbildung werden gegenüber prioritären Bedarfen deutlich skeptischer eingeschätzt. DieErwartungen bleiben hinter den Hoffnungen zurück. In der Konsequenz werden ein „knowledgegap“ zwischen „wissensnahen“ und „wissensfernen“ Gruppen und eine drohende Polarisie-rung der Gesellschaft mit einen neuen Analphabetismus befürchtet. Also – das ist das wich-tigste Ergebnis der Delphi-Studien – ist Handeln angesagt.Die Zukunftsentwicklung des Lernens in der „Wissensgesellschaft“ hängt zum einen davonab, dass die verschiedenen Beteiligten initiativ werden und ihre Bereitschaft zu Eigenverant-wortung verstärken, zum andern muss „öffentliche Verantwortung“ greifen und Impulse gebensowie die Rahmenbedingungen sichern. Dazu kann das Bildungs-Delphi Anstöße geben.

Sigrid Nolda:

Eines der wesentlichen Probleme von Erwachsenenbildung war und ist, welches Wissen sieihren Teilnehmern vermitteln soll und welche Rolle das bereits bei diesen vorhandene Wissenund die mit diesem mehr oder weniger fest verbundenen Deutungen spielen sollen. Darübergibt es eine reichhaltige Literatur, die vor allem die Beziehung zwischen Wissenschafts- undAlltagswissen diskutiert und dabei auf wissenstheoretische Theorien oder Theoriestücke zu-rückgreift.Vor diesem Hintergrund muss eine Studie interessieren, die über Potentiale und Dimensionender Wissensgesellschaft und Auswirkungen auf Bildungsprozesse und -strukturen Auskunftzu geben verspricht. Dabei greifen die Verfasser auf das Konzept der Wissensgesellschaftzurück und berufen sich auf Autoren wie Robert E. Lane, Peter Drucker, Daniel Bell und vorallem Nico Stehr. Im Gegensatz zu manch anderen (vgl. Rüschoff/Wolff 1999) grenzen siesich ausdrücklich von der Vermischung von Wissen mit Information, Wissensgesellschaft mitInformationsgesellschaft ab und behaupten nicht die Existenz der Wissensgesellschaft (vgl.Rüttgers 1998, S. 5), sondern gehen – wie Stehr in seinem 1994 deutsch und englisch erschie-nenen Werk „Arbeit, Eigentum und Wissen“– davon aus, dass die modernen Gesellschaftenauf dem Weg sind, sich zu Wissensgesellschaften zu entwickeln. Nach Stehr bleiben zwarKapital und Arbeit weiterhin als Produktivkräfte wichtig, werden aber zunehmend von der neuenProduktivkraft Wissen zurückgedrängt. Das zeige sich daran, dass bereits jetzt Forschungund Entwicklung die höchsten finanziellen Aufwendungen für sich beanspruchen können.So wie Stehr definieren die Verfasser Wissen als Fähigkeit zum sozialen Handeln. Unter die-se Definition können die unterschiedlichsten Wissensformen zusammengebracht werden, sodass die in der Wissenssoziologie und der von ihr beeinflussten Erwachsenenbildungstheorie

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gegenübergestellten Formen des Alltags- und des Wissenschaftswissens (vgl. die diversenArbeiten von Bernd Dewe) keine Gegensätze (und damit keine Bildungsprobleme) mehr bil-den.Der in Anspruch genommene Ansatz ist ein gesellschaftsdiagnostischer und kein wissens-soziologischer. Dementsprechend ist weder von der gesellschaftlichen Bedingtheit von Wis-sen noch von Deutungsmustern und schon gar nicht vom Wissen als Konstruktion die Rede.Statt dessen verfolgen die Verfasser mit der Anlage und Präsentation der Untersuchung eineVorstellung, die spezielle Wissensinhalte mit bestimmten allgemeinen Fähigkeiten verbindet:Sie unterscheiden nämlich auf der Basis einer Expertenbefragung nach dem aktuellen undbis ins zweite Jahrzehnt des kommenden Jahrhunderts wichtigen Wissen zwischen wissen-schaftlichem Spezialwissen einerseits, das sie in fünf Großfelder einteilen (Leben; Naturwis-senschaftliche Voraussetzungen und Technik; Sinnfindung, Weltdeutung, Geschichte und Kultur;Mensch und soziales Zusammenleben; Organisation der Gesellschaft) und Allgemein- oderBasiswissen andererseits, bei dem unterschieden wird zwischen Hilfsmitteln zur Wissens-nutzung, inhaltlichem Basiswissen und persönlichem Erfahrungswissen. Dieses Wissen um-schließt auch eine Reihe von Elementen, die man in anderen Zeiten Tugenden genannt hät-te. Zu diesen modernen Tugenden gehören neben den genannten ‚Solidarität mit Schwäche-ren und Benachteiligten‘, Berücksichtigung der Interessen anderer‘ oder ‚Bereitschaft zur Ver-antwortung für sich selbst und andere, für Gesellschaft und Umwelt‘.Die Gegenüberstellung dieser zwei Wissensformen ist – ohne dass darauf hingewiesen wird– von der Wissenssoziologie bestimmt, weicht aber in einem entscheidenden Punkt davonab: Wissenssoziologisch wird die Funktion von Allgemeinwissen in der Orientierung in derWelt des täglichen Lebens und in der Bewältigung seiner typischen Probleme gesehen, wäh-rend Wissenschaft Probleme aus den Bedingungen alltäglicher Lebensbewältigung löst undhandlungsentlastet Problemlösungen systematisiert. In der Studie hingegen erscheint Allge-meinwissen als Fundament für den Eintritt in das Spezialwissen; es wird „zunehmend die Vor-aussetzung für die Erzeugung und Nutzung von Spezialwissen“ (S.175). In der Wissens-soziologie wird davon ausgegangen, dass dieses Wissen mehr oder weniger allgemein verbrei-tet ist, in der Verwendung des Begriffs durch die Verfasser der Studie wird es aber zu einemWissen, das – wie etwa Fremdsprachenkenntnisse, Beherrschen von EDV-Programmen, ge-zielte Suche und Auswahl von Informationen – erst erworben werden muss. Sie beschreibendamit eine modernisierte Variante dessen, was seit Humboldt als Allgemeinbildung bezeich-net wird – also ein Fundament, das bei wechselnden Berufsstrukturen die Identität des Ein-zelnen befestigt.Das Allgemeinwissen, wie es die Verfasser der Delphi-Studie verstehen, hat – in ihren Worten– eine integrative und vermittelnde Funktion zwischen dem Spezialwissen und den An-wendungszusammenhängen in der Lebenswelt. Die Verfasser sprechen deshalb von der Dua-lität von Allgemein- und Spezialwissen, die beide zusammen eine sinnvolle Einheit bilden (eben-da). An dieser Stelle wird klar, dass hier von einem gewünschten Wissen oder einer ge-wünschten Wissenskombination die Rede ist. Das so definierte Allgemeinwissen soll als Ba-sis und Orientierung fungieren, es soll die durch die ‚Wissensexplosion‘ und den Wegfall ver-bindlicher gesellschaftlicher Muster bewirkte Unsicherheit auffangen.Wo ein verbindlicher Kanon des (im klassischen Sinne) zu Wissenden fehlt und wo staatlicheInstanzen an Steuerungsmacht verlieren, wird auf die Fähigkeiten des Individuums zum Um-gang mit immer neu zu erwerbendem Wissen gesetzt. ‚Allgemeinwissen‘ gewinnt insofern eineverstärkte Bedeutung, als es als Sockel für ein selbstverantwortliches lebenslanges Lernendient. Dies ist seit Einführung des Begriffs der Schlüsselqualifikationen in der Erwachsenen-bildung nicht Neues. Ob damit aber eine Lösung zur Behebung der mit der Wissensgesellschaftjetzt und zukünftig verbundenen Probleme gefunden ist, dürfte strittig sein. Unbeantwortet blei-ben Fragen der Verwissenschaftlichung des Alltags, die bereits Schelsky festgestellt hat, derVerwendung von sozialwissenschaftlichem Wissen in den diversen gesellschaftlichen Feldern,wie sie von der Verwendungsforschung beschrieben wurde, und der prekären Stellung derWissenschaft im öffentlichen Raum, wie sie von der Wissenschaftsforschung und den Ver-

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kündern der reflexiven Modernisierung thematisiert wird. Die Autoren des vorliegenden Be-richts sind bei dieser Pädagogisierung des soziologischen Konzepts der Wissensgesellschaftjedenfalls von einer – nur durch gelegentliche Bedenkenäußerungen abgemilderten – Gläu-bigkeit bestimmt, die im theoretischen Diskurs der Erwachsenenbildung wohl nicht auf allge-meine Zustimmung stoßen wird.Was die Praxis der Weiterbildung betrifft, so ist – etwa auf der Grundlage der Studie zumWeiterbildungsangebot im Lande Bremen (vgl. Körber u.a. 1995) – festzustellen, dass schonseit einiger Zeit zunehmend Bildungsangebote gemacht und angenommen werden, die eherauf den Erwerb als auf den Umgang mit Wissen abzielen und dazu Themen aus Bereichenangeboten werden, denen die befragten Experten weiterhin eine hohe Entwicklungsdynamikvoraussagen, nämlich Informationstechnik und Medien, Gesundheit, Umwelt, InternationaleArbeitswelt, Wissensmanagement. Man kann nun den Bericht als Bestätigung dafür lesen,das die Erwachsenenbildung auf dem richtigen Kurs ist – man kann aber auch den Verdachthaben, das die mehrheitlich im Wissenschaftsbetrieb tätigen (meist über fünfzigjährigen) Be-fragten bei ihrer Prognose den Status quo fortgeschrieben und damit ihren Arbeitsvorhabenund Nachfolgeprojekten weitere Förderungschancen eröffnet haben. Wenn dies zutrifft, wür-de es sich also auch hier um ein gewünschtes Wissen handeln. Man könnte die Bedeutungder Studie für die Erwachsenenbildung aber auch darin sehen, dass Antragsteller dort mitHinweisen versorgt werden, welche soziologischen Theorien und Termini heute wie präsen-tiert werden und welche Themenbereiche nach wie vor Förderungschancen haben.Andererseits drücken sich in den in der Studie genannten Themen und Kompetenzen auchernstgemeinte Hoffnungen aus. Deshalb ist auch eine andere – wissenssoziologisch gepräg-te – Lektüre möglich: Sie würde die zusammengestellten Daten über die heute von Wissen-schaft, Medien und Politik als relevant erachteten Wissensthemen und Kompetenzen als Aus-gangspunkt für Überlegungen nehmen, was das gewünschte Wissen und die gewünschtenKompetenzen über die Gesellschaft, in der sie entstanden sind, aussagen und auf dieser Ba-sis Überlegungen darüber anstellen, inwiefern Erwachsenenbildung sich zu Verfügung stellensollte, diese Wünsche zu erfüllen, zu befördern, in Frage zu stellen oder aber einfach als Wün-sche erkennbar zu machen (vgl. etwa zu dem an den Computer geknüpften Wunschpotential:Winkler 1997).

Literatur

Körber, K. u.a.: Das Weiterbildungsangebot im Lande Bremen. Strukturen und Entwicklungenin einer städtischen Region. Bremen 1995

Rüschoff, B./Wolff, D.: Fremdsprachen in der Wissensgesellschaft. Ismaning 1999Rüttgers, J.: Rede zur Eröffnung des Kongresses „Zukunft Deutschlands in der Wissensge-sellschaft“. In: BMBF (Hrsg.): Zukunft Deutschlands in der Wissensgesellschaft. Tagungs-band. Bonn 1998, S. 4–10

Winkler, H.: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer. Boer 1997

Rolf Arnold:

Die Delphi-Studie über die „Potentiale und Dimensionen der Wissensgesellschaft – Auswir-kungen auf Bildungsprozesse und Bildungsstrukturen“ wirft auch für die Erwachsenenbildungdas Problem der Curricularisierbarkeit von Wissen auf: „Universalgelehrte bis Ende des 18.Jahrhunderts konnten noch das gesamte Wissen ihrer Zeit repräsentieren. Heute ist (es) not-wendig, ein Basiswissen über möglichst viele Wissensgebiete hinweg zu definieren, das alsKommunikationsbasis den meisten Menschen zu vermitteln ist“ – so schreibt die zuständigeBundesministerin im Vorwort. Diese Überlegung hat mehrere Implikationen: So wird insbe-sondere „ein Pendant zum Spezialwissen“ (S. 147) als relevant erachtet, wobei die Delphi-

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Studie eine Wissensform anregt, die den Einzelnen in die Lage versetzt, „möglichst geschicktmit Informationen und Wissen umgehen und das eigene Wissen managen zu können“ (ebd.).Dieses Wissen nun, welches die Studie – leicht irritierend – als „Allgemeinwissen“ (erinnertan „Allgemeinbildung“) – bezeichnet, umfasst die vier „Felder“– „instrumentelle/methodische Kompetenz“– „personale Kompetenz“– „soziale Kompetenz“– „inhaltliches Basiswissen“.Diese vier Kompetenz- bzw. Wissensfelder stehen in der Delphi-Studie relativ isoliert neben-einander, obgleich wiederholt darauf hingewiesen wird, dass sie die subjektive Wissens-dimension (Umgang mit Wissen) betonen und deshalb innigst zusammenhängen. Dieser Zu-sammenhang wird allerdings nicht entfaltet. Insbesondere gilt dies auch für die mit ihm verbun-denen bildungspolitischen (Wissensreduktion) und didaktischen Aspekte (didaktische Reduk-tion). Übersehen wird m.E., dass das in der Studie betonte Allgemeinwissen nicht eine zusätz-liche oder neue Wissensform neben anderen ist. So können die methodischen, persönlichkeits-bezogenen und sozialen Kompetenzen nicht einfach – zusätzlich – vermittelt werden. DieseKompetenzen entstehen vielmehr im Rahmen einer methodenorientierten Beschäftigung mitInhaltlichem, wobei die Lerner bewusst und absichtsvoll in den Besitz von Lern- und Er-schließungsmethoden gebracht werden.Auch die Frage der Inhaltlichkeit des Allgemeinwissens bleibt eigenartig diffus, wobei unklarist, warum man es nicht insgesamt bei dem ja durchaus eingeführten Begriff des Orientierungs-wissens gelassen hat. Wenig verständlich ist zudem, warum die Autoren der Delphi-Studiebei der Diskussion ihrer Ergebnisse nicht auch die didaktische Diskussion um Kriterien undProcedere bei der Auswahl und Definition des „grundlegenden“, den Erwerb von Spezialwis-sen erleichternden „Knotenpunktwissen“ aufgegriffen haben.So sagt die Delphi-Studie dem informierten Leser nichts Neues, sie bleibt allerdings – in Dis-kussions- und Schlussfolgerungsteil – bildungspolitisch und didaktisch bisweilen substanzlos.

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Multimedia

(1)Andrea Nispel/Richard Stang/FriedrichHagedorn (Hrsg.)Pädagogische Innovationen mit MultimediaBand 1 und 2(DIE) Frankfurt/M. 1998, 133, 137 Seiten, ein-zeln DM 16.00, zus. DM 28.00

(2)Andrea Nispel/Richard Stang/FriedrichHagedorn (Hrsg.)Pädagogische Innovationen mit MultimediaBand 3(DIE) Frankfurt/M. 1999, 149 Seiten, DM 16.00

(3)Landesinstitut für Schule und Weiterbil-dung (Hrsg.)Kompetent für Medien. Kompetent durchMedien(Verlag für Schule und Weiterbildung) Soest,Bönen 1998, 215 Seiten, DM 20.00

(4)Martina WeberEvaluation von multimedialen Lernpro-grammen als Beitrag zur Qualitätssiche-rung von Weiterbildungsmaßnahmen(Verlag Peter Lang) Frankfurt/M. u.a. 1998,217 Seiten, DM 65.00

Die drei erstgenannten Publikationen sind imZusammenhang des Projekts „PädagogischeInnovationen mit Multimedia in der Erwachse-nenbildung“ entstanden, das am DeutschenInstitut für Erwachsenenbildung in Kooperati-on mit dem Adolf Grimme Institut von Januar1997 bis März 1998 durchgeführt wurde. Imersten Band werden zunächst einige Begriffs-klärungen vorgenommen und Positionen mit-geteilt. Es geht um das Verhältnis von Mul-timedia und Erwachsenenbildung, um die(nicht leicht zu beantwortende) Frage, wasdenn nun ‚innovativ‘ sei, um den angemesse-nen Einsatz von CBT, ‚konstruktivistische Di-daktik‘ und verschiedene Ansätze des Tele-Learning. Der zweite Abschnitt stellt die Er-gebnisse verschiedener empirischer Analysenvor: eine Bestandsaufnahme von Multimedia-Angeboten in Volkshochschulprogrammen,

eine Literaturrecherche zum Stichwort Multi-media und eine Umfrage zur Mediennutzungunter Weiterbildungseinrichtungen. Im drittenKapitel sind dann Beschreibungen ,neuerLernorte’ zu finden: eine Tele-Akademie, einInternet-Café und eine Bibliothek.Auch der zweite Band beginnt mit ‚Positionen‘,diesmal zur Frage der (notwendigen) Verände-rungen in der Organisation von Erwachsenen-bildung und zu multimedialen Innovationen ineinzelnen Bereichen (Interaktion im Netz,Fremdsprachenlernen, Umweltlernen undFernstudium). Weiter geht es mit Berichtenüber verschiedene Experimente und Projekte.Den Abschluss des Bandes bilden Bausteinefür Fortbildungsangebote im Bereich Multime-dia und Erwachsenenbildung.Der (ursprünglich wohl nicht geplante) dritteBand setzt sich schließlich mit Erfahrungeneiner ersten, exemplarisch realisierten Fortbil-dung „Erwachsenenbildung multimedial“ aus-einander. Aber auch hier finden sich wieder Er-fahrungsberichte, Analysen und Recherche-Ergebnisse (z. B. zu interessanten Adressenim Internet, zu einschlägiger Literatur etc.).Zumindest für jemanden, der versucht (wie essich für einen Rezensenten gehört), die Bü-cher jeweils von der ersten bis zur letztenSeite durchzulesen, ist die Lektüre bisweilenmühsam. Es gibt eine Fülle interessanter Fra-gen, Einzelbeobachtungen, Erfahrungsberich-te, Hinweise usw.; insofern stellen die dreiBände eine Fundgrube dar. Allerdings – unddas mag auch mit dem Umstand zusammen-hängen, dass der dritte Band gewissermaßen‚nachgereicht‘ wurde – fehlen zumindest ge-legentliche Systematisierungen oder auch nurBündelungen von Fragestellungen und Be-richten, die immer einmal wieder auftauchen.Deutlich wird auf diese Weise, dass viele in-teressante Dinge verhandelt worden sind;aber es fiele mir schwer, zu sagen, was denndarüber hinaus der Ertrag des Projektes ist.Auch bleibt gelegentlich Ratlosigkeit zurück.So wird an vielen Stellen darauf hingewiesen,dass es zu wenig einschlägige Forschungs-ergebnisse, keine ausgearbeiteten Konzepteetc. gibt – dem ist kaum zu widersprechen.Gleichzeitig wird aber mit großer Sicherheitdavon ausgegangen, dass die Institutionen

Sammelbesprechungen

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sich und ihre Praxen ändern müssen, dassFortbildung (deren Inhalte man teilweise mi-nutiös bestimmen kann) nötig ist etc. Es magan der Dynamik solcher Projekte liegen, dasssie die Reflexionen ‚mitreißen‘. Aber es wäregut, zwischenzeitlich auch innezuhalten undzu fragen, ob die Institutionen den ihnen zu-gemuteten Wandel überhaupt aushalten kön-nen, was mit all den gegenwärtig in den Ein-richtungen gut bedienten Bedürfnissen ge-schieht, die sich über multimediales Lernenkaum befriedigen lassen, wie der Spagat zwi-schen den Generationen bewältigt werdenkann und Ähnliches mehr.Zwischen den drei Bänden des DIE und dervom Landesinstitut herausgegebenen Schriftgibt es im Blick auf Autor/innen, Fragestellun-gen und Aussagen einige Überschneidungen.Der Charakter der Schrift ist aber zumindest inTeilen ein anderer. So widmet sich das ersteKapitel sehr persönlich gehaltenen medienbio-graphischen Reflexionen der Mitglieder der‚Entwicklungsgruppe‘, deren Arbeitsergebnis-se der Band dokumentiert. Da die Geburtsjahr-gänge der Autor/innen nicht so sehr weit aus-einander liegen (sie gehören im Wesentlichenzu einer ‚Mediengeneration‘), werden vielfachähnliche Erfahrungen variiert. Insofern ist esbedauerlich, dass nur in einem Beitrag (vonSonja Leidemann) Frauen (eher kurz) zu Wortkommen, die deutlich anderen Altersgruppenangehören. Der zweite Abschnitt setzt sich inverschiedenen Beiträgen mit der ‚Wahrneh-mung von Medien‘ auseinander und referiertdabei teilweise recht instruktiv in Kurzform ei-nige grundlegende Schriften zu diesem The-menkomplex. Weiter geht es mit einem Ab-schnitt über die Möglichkeit, sich in Medienauszudrücken und damit an Öffentlichkeit teil-zuhaben. Berichtet wird etwa über den offenenKanal und über langjährige Erfahrungen inVideoprojekten. Der vierte Teil enthält einer-seits Erfahrungsberichte aus der Seminarar-beit, der CD-ROM-Produktion, aber auch eherprogrammatische Ausführungen (etwa zurBerücksichtigung spezieller Interessen vonFrauen in der Medienbildung). Im abschließen-den Abschnitt geht es dann – ähnlich wie imzweiten Band des DIE – um die weitere Ent-wicklung der Organisationen bzw. Institutio-nen. Die Auseinandersetzung mit dem Pro-blem erfolgt auch hier im Sinne der Darstellungvon Initiativen, Projekten und Erfahrungen in

ganz bestimmten Zusammenhängen (KOMEDin Köln, kirchliche, kommunale Medienarbeit,Schulen des Zweiten Bildungsweges). Ob essich bei der Schrift – wie im Vorwort angekün-digt – um eine „Orientierungshilfe“ handelt, seidahingestellt. Dass man „viele Anregungenund viel Nachdenkliches findet“ – so ebenfallsdas Vorwort –, ist unbestritten.Dem Band von Martina Weber liegt eine Ma-gisterarbeit (Universität München; BereichPädagogische Psychologie) zugrunde. Esgeht im Kern um die Evaluation eines multi-medialen Lernprogramms für die beruflicheWeiterbildung mit dem Titel „Der persönlicheBerater“. Allgemeines Ziel des Programms istdie ‚Förderung von berufsrelevanten Einstel-lungen und Fertigkeiten‘; Adressaten sind An-gehörige kundennaher Berufsbereiche. DerAuseinandersetzung mit diesem konkretenProgramm sind zunächst zwei Kapitel überEvaluation bzw. multimediale Lernprogrammeund -konzepte vorangestellt. Auffällig ist, dasseinschlägige Literatur aus dem Weiterbil-dungsbereich zwar im Literaturverzeichnis ru-dimentär auftaucht, aber nicht ‚eingearbeitet‘worden ist. Es folgt eine Darstellung des –preisgekrönten – Programms. Dessen Zielesind wenig bescheiden: Persönlichkeitsent-wicklung soll ebenso gefördert werden wieberufsrelevante Fertigkeiten und Einstellun-gen; außerdem sollen die Lernenden zur akti-ven Auseinandersetzung mit ihren Problemensowie zu eigener Zielsetzung und -verwirk-lichung angeregt werden (S. 77). Damit nichtgenug: „Der Lernende soll nach der Bearbei-tung des CBTs in der Lage sein, die Verant-wortung für sein eigenes Handeln zu überneh-men und auch Problemsituationen aktiv zubewältigen ... Darüber hinaus soll den Anwen-dern positives Denken und Fühlen vermitteltwerden“ (S. 78). Die Erwartungen an ein sol-ches Programm steigen, werden aber alsbaldernüchtert, wenn mitgeteilt wird, dass dessenBearbeitung drei Stunden (!) in Anspruchnimmt. Anschließend werden die inhaltlicheKonzeption, die Benutzeroberflächen (mit Bild-beispielen) und die interaktiven Möglichkeitenbeschrieben.Die eigentliche Evaluation, bei der es u. a. umdie ‚Erfassung des Lernerfolges‘ und um die‚Bewertung des Lerntransfers‘ gehen sollte(vgl. S. 114), ist in drei Phasen abgelaufen.Einer Vorstudie mit Studierenden folgte die

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Hauptuntersuchung mittels Fragebogen, Inter-views und Beobachtung der CBT-Nutzung, andie sich dann eine ‚Expertenanalyse‘ an-schloss (wobei mir nicht klar geworden ist, werdiese Experten waren). Es nahmen insgesamtzwölf (!) Außendienstmitarbeiter eines Versi-cherungsunternehmens an der Evaluation teil.Die Ergebnisse zu den vielen Fragen des Bo-gens wiederzugeben, die über viele Seiten inBalkendiagrammen dargestellt werden (waszumindest mir angesichts der Größe der Stich-probe Mühe macht), würde zu weit führen. Ins-gesamt hat sich eine hohe Akzeptanz ergeben– selbst bei Fragen nach dem Beitrag zurPersönlichkeitsentwicklung und zum ‚positivenDenken‘ (S. 118 bzw. S. 136). Allerdings wa-ren die meisten Probanden der Ansicht, dassLernprogramme – gerade im Blick auf Persön-lichkeitsentwicklung – auf keinen Fall Semina-re ersetzen können (S. 148). Erst ganz amEnde ihrer Ausführungen (S. 174f.) relativiertdie Autorin ihre Ergebnisse. Sie gesteht zu,dass über die subjektiven Eindrücke bei derBearbeitung von CBTs kaum zuverlässige In-formationen über den Lernerfolg (gerade an-gesichts der weitreichenden Zielsetzungendes Programms) oder gar über den Transferdes Gelernten zu gewinnen sind. Gerade des-halb ist es ärgerlich, dass diese Untersuchungvorbehaltlos als ‚theoretischer und praktischerBeitrag zur Qualitätssicherung CBT-basierterWeiterbildung‘ bezeichnet wird (Klappentext).

Jürgen Wittpoth

Organisationsentwicklung

(1)Klaus GötzManagementkonzepteBand 1: Führungskultur – Die individuelle Per-spektiveBand 2: Führungskultur – Die organisationalePerspektive(Rainer Hampp Verlag) München, Mehring1999, 144, 137 Seiten, zus. DM 69.60

(2)H. Diel-Khalil/Klaus GötzManagementkonzepteBand 3: Ethnologie und Organisationsent-wicklung(Rainer Hampp Verlag) München, Mehring1999, 114 Seiten, DM 28.95

Die ersten beiden Bände, die in einem unmit-telbaren thematischen Zusammenhang stehenund sich zum einen mit der individuellen undzum anderen mit der organisationalen Per-spektive der Führungskultur auseinanderset-zen, enthalten insgesamt 14 Beiträge, von de-nen Klaus Götz zwei alleine und alle anderenmit wechselnden Mitautorinnen und Mitauto-ren verfasst hat.Die Beiträge zur individuellen Perspektive las-sen sich in grundlegende Abhandlungen zumindividuellen Umgang mit Führung und in Auf-sätze zur spezifischen Problematik bestimm-ter Zielgruppen im thematischen Umfeld vonFührung einteilen. Zu den letzteren gehören:„Führen über Fünfzig“, „Weibliche Führung“und in etwas eingeschränktem Maße auch„Beruf und Familie“. Darin werden folgendeThemen diskutiert:– Was können jüngere Führungskräfte von

älteren lernen und wie können solche Lern-prozesse organisiert werden?

– Wie können männliche und weibliche Prin-zipien so verknüpft werden, dass es dem„modernen Helden“ ermöglicht wird, Berufund Familie miteinander in Einklang zubringen, und inwiefern kann familienorien-tierte Personalarbeit für Unternehmennützlich sein?

– Welche geschlechtsspezifischen Unter-schiede gibt es im Führungsverhalten undwelche Ansätze gibt es, die Chancen vonFrauen in Führungspositionen zu verbes-sern?

Als grundlegende Abhandlungen betrachte ichdie Beiträge zu den Themen „Macht, Führungund Sinn“, „Kreativität und Schlüsselquali-fikationen“, „Berufliche Bildung und Spirituali-tät“, „Zeit und Führung“ und „Geschichten, My-then und Märchen“. Davon sind vor allem diebeiden, die das Verhältnis von Macht, Führungund Sinn und den Umgang mit Zeit themati-sieren, lesenswert. Die anderen haben denCharakter von Gedankenskizzen, die eher ei-nen theoretischen Hintergrund flüchtig abbil-den, als dass sie deren Umsetzung auf Ma-nagementkonzepte entfalten. Was übrig bleibt,ist die Botschaft, man müsste eine solcheUmsetzung anstreben.Bemerkenswert ist die These, Sinn sei entge-gen den Verheißungen vieler Motivations-Gu-rus nicht zu verkaufen. Eine Führungskraftvermittelt vielmehr Sinn über die Glaubwürdig-

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keit des eigenen Handelns. Götz bemüht da-bei überraschend das Bild der barocken Per-sönlichkeit, die dem Baustil entsprechend aussich selbst heraus strahlt. Als Bruch müssendie diesem Beitrag gewissermaßen als Instru-ment zum „Selbst-Check“ angehängten Wert-skalen erscheinen.Die Thematisierung des Umgangs mit der Zeitgeschieht wiederum einmal unter der individu-ellen und zum anderen unter der organi-satorischen Perspektive. Dabei sind zwei ge-genläufige Prozesse zu beobachten, die „Be-schleunigung“ und „Entschleunigung“ genanntwerden.Der zweite Band, der die Führungskultur un-ter einer organisationalen Perspektive be-leuchtet, weist Aufsätze auf ebenfalls unter-schiedlichen Abstraktionsniveaus auf. ZweiBeiträge gehen auf das Verhältnis von Orga-nismus und Organisation bzw. von Natur undOrganisation ein. Dort werden unter anderemauch die Übertragbarkeit des Evolutionsprin-zips und der Erkenntnisse der Synergetik aufOrganisationen diskutiert. Zwei weitere gehenauf Fragestellungen ein, die eher der Organi-sationssoziologie und der Organisationspsy-chologie zuzuordnen sind. Dabei geht es umdie Auswirkungen, die entstehen, wenn Netz-werke und hierarchische Strukturen gleich-zeitig in einem Unternehmen vorkommen, undum „Spiele“ in Organisationen. Was mit Spie-len gemeint ist, wird durch ein Experiment prä-zisiert, das in der Durchführung eines in Ma-nagementseminaren bekannten Planspielsbesteht. Zwei weitere Beiträge setzen sich mitkonzeptionellen Fragen auseinander: u. a.durch einen Vergleich von Managementkon-zepten in europäischen Automobilunterneh-men (bei Daimler-Benz, VW, BMW und VOL-VO). Gegenstände dieses Vergleichs sind Leit-bilder, Ziele, Organisationsstrukturen, Arbeits-organisation und Managemententwicklung.Diese wird schließlich noch zu einem eigenenThema im letzten Aufsatz dieses Bandes.Die meisten Beiträge der ersten beiden Bän-de verfügen über eine empirische Basis, dieüberwiegend im Daimler-Benz-Konzern ge-wonnen wurden, als dessen „Leiter Manage-mentkonzepte im Bereich Organisations-, Ma-nagement- und Personalentwicklung“ KlausGötz fungiert. Die Methoden sind nicht im De-tail beschrieben, meistens handelt es sich umqualitative Interviews oder um die Auswertung

von Broschüren. Der dafür gewählte Begriff„Studie“ trägt den Qualitätsstandard „explo-rativ“ implizit in sich.Der dritte Band ist inhaltlich einfacher zu be-schreiben. Als erstes muss der Leser vor fal-schen Erwartungen gewarnt werden. Wer beidem Titel „Ethnologie und Organisationsent-wicklung“ Hilfen bei der Lösung zunehmenderinterkultureller Probleme erwartet, wird ent-täuscht. Es geht in erster Linie um die Klärung,wie unterschiedliche Ansätze der Ethnologiemethodologisch für die Organisationsent-wicklung Verwendung finden können. Dabeiwird vor allem das Spannungsverhältnis imWechsel zwischen Nähe und Distanz aufge-zeigt. Allerdings nimmt die Darstellung der ein-zelnen ethnologischen Ansätze im Vergleichzur Diskussion ihrer Anwendung für die Orga-nisationsentwicklung zu viel Raum ein. AlsFazit bleibt: Ein interessanter Aspekt zur theo-retischen Fundierung der Organisationsent-wicklung ist angesprochen, verlangt aber nachweiterer Entfaltung.Verbinden wir eine Gesamtwürdigung dieserdrei Bände mit der Frage „Warum sollen wirdiese lesen?“, so könnte eine eher scherzhafteAntwort lauten: „Seht, wie umfassend gebildeteine Führungskraft der Abteilung Personal-entwicklung eines großen Industrieunterneh-mens ist.“ Die Aufforderung zum ethischenHandeln in Unternehmen beeindruckt ebensowie die Bereitschaft eines Industriekonzerns,Forschungsfeld für solch grundlegende Frage-stellungen zu sein. Der Eindruck, der hier ent-steht, ist nicht untypisch für große Unterneh-men, in denen Abteilungen außerhalb der Pro-duktion eine eigene Kultur einschließlich einereigenen Legitimation entwickeln. Der Daimler-Benz-Konzern hat diese schon seit langem ge-pflegt, wie in dem luxuriösen Tagungshaus„Lämmerbuckel“ sichtbar oder in der Qualitätdes unternehmenseigenen Orchesters hörbarwird. Das, was Klaus Götz idealiter als ethi-sche Grundsätze formuliert, ist häufig auch inanderen Unternehmen zu hören – allerdingsin der Regel mit dem Argument verknüpft,dass ein solches Handeln langfristig auch denwirtschaftlichen Erfolg sichert. Setzen wir dies– was von Götz kaum ausgesprochen wird –als selbstverständlich voraus, wird der Ein-druck des der Realität „Entrückten“ entschei-dend minimiert.

Lothar Schäffner

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Weiterbildung

(1)Klaus W. Döring/Bettina Ritter-MamczekLehren und Trainieren in der WeiterbildungEin praxisorientierter Leitfaden6., völlig neu bearbeitete Auflage(Deutscher Studien Verlag) Weinheim 1997,354 Seiten, DM 48.00

(2)Klaus W. Döring/Bettina Ritter-Mamczekunter Mitarbeit von Lars Herbeck u.a.Medien in der Weiterbildung2., völlig überarbeitete Auflage(Deutscher Studien Verlag) Weinheim 1998,294 Seiten, DM 48.00

Beide Texte gehören zu einer Reihe von fünfBänden, die sich mit der didaktischen Grund-legung der Arbeit von Fachexperten in der be-ruflichen Bildung befassen. Sie begreifen sichals praxisnahe Leitfäden, die Mängel in derLehr- und Trainingsarbeit auszugleichen su-chen. Zugrunde liegt die eher skeptische Ein-schätzung, dass noch immer Stoffzentrierungund frontale Vermittlungsformen in der beruf-lichen Bildung dominieren und Diskussionenum einen abwechslungsreichen, teilnehmer-zentrierten, aktivierenden Unterricht nicht hin-reichend aufgegriffen werden. Zur notwendi-gen Professionalität gehört aber ein Reper-toire, das Kenntnisse zum Lehr- und Lernpro-zess mit Erwachsenen beinhaltet und metho-dische Handlungskompetenzen umfasst. Ob-wohl eine Belehrungsdidaktik abgelehnt wirdund die Möglichkeiten, abwechslungsreicheLernmilieus zu schaffen, vielfältig ausgelotetwerden, wird immer wieder deutlich, dass derRahmen von Zielen und Inhalten im Vorfeldhäufig abgesteckt ist.Beide Texte gliedern sich in stärker theorie-orientierte, grundlegende sowie umsetzungs-bezogene Kapitel. Vertreten wird die Auffas-sung: „Da es bekanntlich nichts Praktischeresgibt als eine solide Theorie, soll und mussauch dieses Vorhaben theoretisch fundiertsein“ (Lehren und Trainieren ..., S. 19). DieBücher lassen sich als fortlaufender Text be-arbeiten, aber auch eher lexikalisch-selektivnutzen. Abschließend werden umfangreicheLiteraturhinweise zu ausgewählten Bereichengegeben. Ihr Umfang und fehlende orientie-

rende Tipps widersprechen jedoch dem Ge-danken der Nützlichkeit für die Zielgruppe derPraktiker/innen. Ein kurzer Schlagwortindexerleichtert die Orientierung, obwohl einschrän-kend angemerkt werden muss, dass Stichwor-te wie Evaluation oder Körpersprache wohlohne Vorkenntnisse erfasst werden können,während aber ein Verweis auf die „20-Minu-ten-Regel“ unklar bleibt. Bei Zeitschriftenhin-weisen wie auch bei der Literaturauswahl fälltauf, dass Beiträge aus dem Umfeld der allge-meinen Erwachsenenbildung kaum berück-sichtigt werden.Der Band „Lehren und Trainieren“ – der Trai-ningsaspekt u. a. von Schlüsselqualifikationenist im Vergleich zu früheren Ausgaben neu –umfasst Fragen zum professionellen Aufga-benverständnis, zur Inhaltsanalyse und Stoff-reduktion, zum Planungsprozess, zum motivie-renden Dozentenverhalten. Zusätzlich infor-mierende Materialien – z. B. zur Lernfähigkeitvon Erwachsenen, zu Lehr- und Sozialformen– oder Medien bieten weitere Anregungen.Der Band „Medien“ gibt einen Überblick übertraditionelle (z. B. Overheadfolien) und neueMedien (verschiedene Online- und Offline-Me-dien). Zentral ist das Anliegen, mit Hilfe vonMedien den Lernprozess erwachsenengerechtzu gestalten, Informationsaufnahme und -ver-arbeitung zu erleichtern, aber Medienfetischis-mus ohne didaktisches Konzept zu vermeiden.Zu den Grundfragen gehören Aufgaben vonMedien in der beruflichen Bildung, professio-nelle Standards, Klassifizierungsprobleme vonMedien, Qualitätssicherungsprobleme. ImRahmen der Medienpraxis werden u. a. Fra-gen der Visualisierung, der Arbeit am PC, derComputerdidaktik, des Computer-Based-Trai-ning erörtert. Teilweise wiederholen sich prak-tische Tipps in den verschiedenen Beiträgen.Insgesamt wird die Gestaltungsverantwortungdes Lehrpersonals betont: „... die moderne Di-daktik (ist) heute ganz klar eine Dienstleis-tungsdidaktik“ (S. 138). Vorstellbare Spannun-gen zwischen vorgegebenen Zielen und Inhal-ten (z. B. bei Maßnahmen des Arbeitsamtes)und dem Dienstleistungsverständnis gegen-über Teilnehmer/innen werden nicht erörtert.Im Interesse der Animation hätte es beidenBänden gut getan, wenn die Darstellung inno-vativer Praxisprojekte aus der beruflichen Bil-dung den Blick erweitert hätte.

Monika Schmidt

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Besprechungen

Andreas DaumWissenschaftspopularisierung im 19. Jahr-hundertBürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bil-dung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914(Oldenbourg Verlag) München 1998, 607 Sei-ten, DM 148.00

Von den sechs Begriffen im Untertitel diesesBuches ist für seine Anlage und seine Ge-wichtung der Begriff „naturwissenschaftlich“der bestimmende. Durch die inhaltliche Kon-zentration darauf hat der Verfasser nach in-tensiver Forschungsarbeit ein Bild der Popu-larisierungsgeschichte entfalten können, dasweit über das hinausführt, was bisher im Rah-men der Historiographie der Erwachsenenbil-dung zum Thema herausgearbeitet werdenkonnte. Er hat sie allerdings auch so gut wienicht beachtet. Indes ist es erfreulich, dass ertrotz immenser Bemühungen um Details eineSchreibweise gefunden hat, wie sie von„Popularisierern“ erwartet werden kann. Sonimmt man als Leser auch gerne manchesRedundante in Kauf. Es rührt daher, dass dieDarstellung nicht chronologisch vorgeht, son-dern „die unterschiedlichen kommunikativenEbenen, Vermittlungswege, Darstellungsfor-men und Akteure der Popularisierungswis-senschaft systematisch erfasst“ (S. 30). Da-bei liegen die Schwerpunkte der Präsentati-on zum einen bei den „Vereinen und Vorträ-gen“ (S. 85–184), wobei der Verein als „Me-dium des bürgerlichen Selbstbewusstseins“charakterisiert wird (S. 87, 471), zum anderenbeim „Literarischen Markt und der populärwis-senschaftlichen Publizistik“ (S. 237–376), dem„Herzstück der Untersuchung“, wie es in derEinleitung heißt (S. 31). Erinnern muss mansich allerdings daran, dass in dem untersuch-ten Zeitraum Naturwissenschaften noch vor-nehmlich mit der belebten sichtbaren Naturbefasst war. Dementsprechend sind von den72 biographisch erfassten „naturkundlichenPopularisierern“ 28 Zoologen (S. 385).Aus dem perspektivischen Zuschnitt ergebensich Akzentuierungen und Einsichten, wie siebislang im Bild der Erwachsenenbildungsge-schichte noch nicht aufgenommen worden

sind. Das gilt beispielsweise für das, was imersten nachrevolutionären Jahrzehnt im Ver-einswesen und in der Publizistik in Gang ge-setzt wurde, in einer Zeit, die bisher eher vonResignation geprägt erschien. Ein andererungewöhnlicher Hinweis richtet sich darauf,welche Bedeutung die „Lichtfreunde“ und die„Deutschkatholiken“ als „freireligiöse Bewe-gung“ für die Popularisierung der Naturwissen-schaften gehabt haben. Dabei hat sich derVerfasser durchaus an ein traditionelles Be-griffsverständnis gehalten. Danach ist Popu-larisierung im Sinne von „Wissenschaft demVolk verständlich und gemeinfasslich darzu-stellen“ (S. 37) zu verstehen. Es handelt sichalso um Vermittlungsprozesse, wobei Daumentsprechend heutiger Sichtweise die Auf-merksamkeit darauf richtet, „inwieweit derpopulärwissenschaftliche Kommunikations-raum selbst eigene Wissenstransformationenund -entwürfe hervorbrachte“ (S. 26). Aller-dings wird alsbald offensichtlich, dass in deruntersuchten Zeit die unterschiedlichen wis-senschaftlichen und volkstümlichen Sicht-weisen vornehmlich im Gegensatz von Fachli-chem und Zusammenhängendem gesehenwurden. Dabei konnte man sich durchaus aufdas große Vorbild Alexander von Humboldtberufen, insofern er auf eine „ästhetische Be-handlung naturhistorischer Gegenstände“ (S.270) abzielte, womit ganzheitliche Vorstellun-gen verbunden waren und nachwirkten. Daumstellt dabei insbesondere die Versöhnung zwi-schen naturwissenschaftlichen und religiösenVorstellungen heraus. Dadurch entstand einGegengewicht gegenüber dem viel zitiertenMaterialismusstreit und dem Aufkommen einesvergröberten Darwinismus.Bei einer solchen Akzentuierung der Betrach-tungsweise verwundert es nicht, wenn für dieReflexion dessen, was für die kognitiven Pro-zesse der Popularisierung wichtig sein könnte,wenig Raum bleibt. Zwar wird an dem BeispielErnst Heckels deutlich, dass eine persönlicheAura und einige attraktive Stichworte mehr indie Breite wirken als ein bedachtes Bemühen,Popularisierungskriterien gerecht zu werden.Diese sind allerdings, soweit sie im Buch vor-gestellt werden, didaktisch wenig griffig – ab-gesehen von der „Maxime Anschaulichkeit“ (S.

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152), die schon seit Anfang des Jahrhundertsgefordert wurde. Was für die „Übersetzung desFachjargons in verständlichen Bildungston“ imInteresse einer „Empfängerorientierung“ (S.248) geraten wird, erscheint mehr für das Ge-fühl animierend als gedanklich hinführend. Dasästhetische Empfinden wurde gegenüber der„Verstandespedanterie“ ins Spiel gebracht.„Der Naturwissenschaftler wandelte sich zumEinheitsschauer und Schönheitsschauer“ (S.320). Dementsprechend war beispielsweisevieles aus der Zeitschrift „Die Natur“ „von Em-phase überwölbt“ (S. 348). Zugleich führt dieseEntwicklung zu „Rathgebern“ für den Umgangmit Pinzette und Mikroskop (S. 132), zu „natur-wissenschaftlichen Plaudereien und Streifzü-gen“ (S. 231) oder Attraktionen wie „musizie-rende Krebse“ (S. 372). Das heißt, die Objektedes Erkenntnisinteresses befanden sich vor-nehmlich in Botanischen und ZoologischenGärten, später auch im Bereich der Astrono-mie und Ozeanologie. So erscheint immer wie-der die nicht nur standes- oder machtpolitischbedingte Kritik an Popularisierungsversuchenbegreiflich, die zu zitieren Daum nicht umhinkann und die gelegentlich drastische und den-noch treffende Formen angenommen hat.Nach den detaillierten Ausführungen des Bu-ches wurde als reales Problem in vielen Va-rianten immer wieder diskutiert, wie eine Mitte„zwischen gelehrter Trockenheit und einer ge-meinen Seichtigkeit“ gefunden werden kann.Dabei galt es „zu verklammern, was der fach-wissenschaftlichen Segmentierung wider-sprach“ (S. 282), und „frei von kirchlichenZwängen und atheistischer Vernunftnötigung“auf der „herrlichen Naturwissenschaft die ech-te Sittlichkeit zu gründen“ (S. 205). Die letzteFormulierung, die der damals weit verbreitetenTendenz entgegenzuwirken versuchte, Empi-rie und Materialismus gleichzusetzen, stammtaus der ureigensten Erfahrung von Roßmäß-ler, der sowohl in der praktischen Organisationals auch in eigener Vortragstätigkeit und ihrertheoretischen Fundierung über viele Jahrzehn-te hinweg tätig war und so häufig wie kein an-derer zitiert wird. Die Neigung der Konservati-ven zur In-eins-Setzung war indes nicht zuverhindern, und sie hat nach der zweiten Ent-stehungswelle von Zeitschriften ab 1871, dieder Verfasser im Rahmen einer Typologie vor-stellt (S. 341f.), zu harten Konkurrenzkämpfengeführt, von denen der Leser wiederum viele

Details erfährt. Immerhin wurde im Laufe derZeit doch begriffen, was 1897 in der Zeitschrift„Himmel und Erde“, dem Sprachrohr der Berli-ner Urania, betont wurde: dass „das Maß vonPopularität vom Thema abhängig ist“ (S. 38).Dies hat wohl auch dazu beigetragen, dass„die Popularisierung der Naturwissenschaftenam fin de siècle als kulturelle Syntheseleistungbegriffen wurde“ und als „Brückenschlag überden tiefen Riss zwischen den geistigen undnaturwissenschaftlichen Disziplinen“ (S. 373).Dabei stellt der Verfasser besonders die Zeit-schrift „Gartenlaube“ heraus, die einen we-sentlichen Beitrag dazu geleistet habe, „dieNaturwissenschaften in das kulturelle LebenDeutschlands zu integrieren“ (S. 340). Aberauch andere Medien der Popularisierung kom-men in Daums Darstellung nicht zu kurz, seienes die Aquarien oder Museen, die Briefe als li-terarische Vermittlungsform, die „IllustriertenZeitschriften für angewandte Naturforschung“oder „Brehms Tierleben“ als das wohl nachhal-tigste Produkt der Populationsbemühungen.Am Schluss des Buches findet der Leser dannnoch ein Kapitel „Die Vermittler“ mit einer Ty-pologie unter den Aspekten „Generationenund Gruppen“, wobei aber jegliche schema-tische Zuordnung vermieden ist. Dazu passtes dann, wenn der Verfasser am Ende resü-miert: „Popularität war keine Qualität per se,sondern immer eine diskursive Kategorie, diedurch zeitgenössische Zuschreibungen kon-struiert wurde“ (S. 464). Hans Tietgens

Carl MennickeSozialpsychologieDie allgemeinen Grundlagen und deren An-wendung auf die gesellschaftlichen und politi-schen Erscheinungen, vor allem der gegen-wärtigen ZeitHrsgg. von Hildegard Feidel-Mertz(Deutscher Studienverlag) Weinheim 1999,220 Seiten, DM 48.00

In der Historiographie der Erwachsenenbil-dung sind Vertreter des religiösen Sozialismusbereits mehrfach Gegenstand von Untersu-chungen geworden (vgl. beispielsweise HansPeter Veraguth: Erwachsenenbildung zwi-schen Religion und Politik. Stuttgart 1976;Klaus Ahlheim: Zwischen Arbeiterbildung undMission. Stuttgart 1982). Allerdings ist die Be-deutung der theoretischen Konzepte und der

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praktischen Bildungsarbeit dieser Gruppie-rung, die in den 1920er Jahren einen bedeu-tenden Anteil an der Entwicklung der Erwach-senenbildung gehabt, ja vielfach geradezueine Pionierrolle gespielt hat, bislang wederhinreichend gewürdigt noch systematischerfasst worden. Auch in biographischer Hin-sicht fehlt es nach wie vor an Studien, die dasbreite Spektrum dieser zwischen Theologie,Politik und praktischer Bildungsarbeit angesie-delten Gruppe erkennen lassen. Daher ist esaußerordentlich zu begrüßen, dass es Hilde-gard Feidel-Mertz unternommen hat, mit CarlMennicke einen der bedeutendsten, gleich-wohl wenig rezipierten Vertreter dieses Perso-nenkreises der wissenschaftlichen Fachöffent-lichkeit wieder in Erinnerung zu rufen. Dasvorliegende Buch ist der zweite Band einerinsgesamt dreibändigen Edition, die mit der„Sozialpsychologie“, der bereits publiziertenAutobiographie (Carl Mennicke: Zeitgesche-hen im Spiegel persönlichen Schicksals. EinLebensbericht. Hrsgg. von Hildegard Feidel-Mertz. Weinheim 1995) und der in Vorberei-tung befindlichen „Sozialpädagogik“ drei derwichtigsten und in einem engen inneren Zu-sammenhang stehenden Werke von Menni-cke versammelt.Carl Mennicke (1887-1959) war einer der be-deutendsten Exponenten des sogenanntenBerliner Kreises, der neben dem Bund religiö-ser Sozialisten und dem Neuwerkkreis die drit-te wichtige Kraft innerhalb des vielgestaltigenreligiösen Sozialismus darstellte. Mennickeengagierte sich nach Studium, freiwilligemKriegsdienst und Pfarrtätigkeit seit 1918 inverschiedenen sozialen Arbeitsgemeinschaf-ten Berlins, redigierte die „Blätter für religiö-sen Sozialismus“ und unterrichtete an der so-ziologischen Abteilung der Deutschen Hoch-schule für Politik. 1930 erhielt er eine Profes-sur am Berufspädagogischen Institut in Frank-furt/M. und wurde gleichzeitig Direktor desPädagogischen Seminars der Universität.1933 emigrierte er nach Holland, wo ihm dieLeitung der Internationalen Schule für Philo-sophie in Amersfoort übertragen wurde. 1942wurde er aufgrund seiner kritischen Haltungdem Nationalsozialismus gegenüber verhaftetund ins KZ Sachsenhausen gebracht. 1945kehrte er nach Amersfoort zurück, bis er 1952erneut einen Ruf an die Universität Frankfurt/M. annahm.

Mennicke war ein theoretisch ambitionierter,politisch engagierter und bildungspraktisch tä-tiger Mensch. In der Trilogie der Editionsbändeist die „Sozialpsychologie“ dasjenige Buch, dasam deutlichsten zeigt, wie er eines seiner zen-tralen Lebensthemen, die Auseinandersetzungmit dem Nationalsozialismus, mit den Mittelnder Wissenschaft, der nüchternen, objektiven,distanzierten, theoretischen Betrachtung, zubearbeiten suchte. Die Sozialpsychologie istdas erste und gleichzeitig erfolgreichste Buch,das Mennicke 1935 – bereits im holländischenExil – in holländischer Sprache verfasst hat. Mitihm versucht er, die sozialpsychologischenGrundlagen und Mechanismen aufzuzeigen,die in Deutschland das Aufkommen und denErfolg des Nationalsozialismus erst möglichgemacht haben. Das Buch ist insgesamt in vierAuflagen erschienen (1935, 1941, 1947, 1954),wobei trotz der zeitspezifischen Modifikationender Auflagen sein Grundcharakter unangeta-stet blieb. Die vorliegende Edition basiert aufdem Text der vierten Auflage, der interessierteLeser findet jedoch im Anmerkungsapparat dieunterschiedlichen Versionen der vier Auflagendokumentiert.Die „Sozialpsychologie“ umfasst zwei großeTeile. Im allgemeinen Grundlagenteil werdensozialpsychologische Grunderscheinungenund Grundbegriffe (wie traditionsgebundeneGesellschaft, abstrakte und konkrete Masseoder Führung und Führer) besprochen sowiedie theoretischen Einsichten und Mittel entfal-tet, mit denen diese Phänomene begriffenund erklärt werden können (wie Triebe und In-stinkte, Bedeutung des Wertebewusstseins,Formen der Triebbefriedigung in traditionsge-bundenen und nicht traditionsgebundenenGesellschaften). Im zweiten, anwendungs-bezogenen Teil werden diese Einsichten aufdie unterschiedlichen Gruppen des zeitgenös-sischen Gesellschaftslebens (Großstadt- undLandbevölkerung, Mittelstandsgruppen, Prole-tariat und Jugend) übertragen sowie die so-zialpsychologischen Mechanismen der Na-tionalbewusstseinsbildung und des Kriegesuntersucht.Sinnvoller als eine detaillierte Besprechungder einzelnen Teilabschnitte ist an dieser Stelleder Hinweis auf die Perspektive, mit der Men-nicke das Buch schreibt und die seinen spezi-fischen Problemzuschnitt verdeutlicht. Menni-cke hat diese Perspektive nicht nur in den Vor-

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worten der verschiedenen Auflagen, in der Ein-leitung sowie im Schlussteil und Epilog, son-dern auch an zentralen Stellen des Buchesimmer wieder dokumentiert. Ausgangspunktseiner Überlegungen ist die Überzeugung,dass mit dem Ersten Weltkrieg historisch eineradikal neue Situation entstanden ist – undzwar in einem doppelten Sinn. Denn mit demWeltkrieg hat sich nicht nur die traditionsge-bundene Gesellschaft definitiv aufgelöst, son-dern es hat sich auch der Glaube an eine ratio-nale Gestaltung der Welt als Irrtum erwiesen.Das Zerbrechen sowohl der traditionalen alsauch der rationalen Form der Triebbefriedi-gung – und damit der Ausgestaltung sozialenLebens – macht für Mennicke den zentralenUnterschied der Gegenwart zur Situation des19. Jahrhunderts aus, in dem zwar auch dietraditionalen Grundlagen der Gesellschaftsord-nung langsam erodierten, an ihre Stelle jedochder Glaube an eine rationale Gestaltbarkeit derGesellschaft trat. Erst mit dem Obsolet-Wer-den dieses Glaubens tritt die ganz Unsicher-heit und Problematik zutage, die seiner Mei-nung nach das gegenwärtige Zeitalter kenn-zeichnen: nämlich religiöse, symbolische, so-ziale und ökonomische Unsicherheit. Und erstvor dem Hintergrund einer derartigen gesell-schaftlichen Lage werden die Bedeutungmassenpsychologischer Erscheinungen unddie Möglichkeit, mit Hilfe massenpsychologi-scher Mittel die Masse zu beeinflussen, fass-bar. Hier hat der Nationalsozialismus seine fürMennicke historische Notwendigkeit, da er es– weit mehr als alle anderen gesellschaftlichenInstitutionen – verstand, der Masse wieder Si-cherheit zu verleihen, ihren Selbsterhaltungs-und Geltungstrieb zu befriedigen.Diese drei Varianten der traditionalen, rationa-len und sozialpsychologischen Triebbefriedi-gung beschreibt Mennicke aus einer distan-ziert-kritischen Haltung heraus. Erst mit einervierten Alternativvariante, die er die sozialpäd-agogische nennt, wendet er seine Analyse inkonstruktiver Absicht – eine Absicht, die er inder Sozialpsychologie jedoch nur in Ansätzenkonturiert. (Hier liegt der systematische Stel-lenwert der Sozialpädagogik im Denken vonMennicke, der es nicht nur rechtfertigt, son-dern geradezu erfordert, die „Sozialpädagogik“als den konstruktiven Teil der „Sozialpsycho-logie“ zu begreifen und beide Werke als Ein-heit zu betrachten.) Die Perspektive einer

„sozialpädagogischen Anwendung der mas-senpsychologischen Einflussmittel“ (S. 185f.)beruht nach Mennicke weder auf traditionellerGebundenheit noch auf rationaler Einsichtoder auf massenpsychologischer Suggestion,sondern allein „auf der befreienden Wachs-tumskraft, die im individuellen und im gemein-schaftlichen Leben des Menschen erwecktwird“ (S. 186). Allerdings verbleibt Mennickeauch hinsichtlich dieser „Wachstumskraft“noch im Rahmen der von ihm bislang aufge-rollten Grundbegriffe wie Führung und Masseoder Immanenz und Transzendenz, denen ernur eine sozialpädagogische Wendung gibt.Doch Formulierungen wie: „Menschen undGruppen, die sich noch als Träger eines reli-giösen Bewusstseins im wesentlichen Sinndes Wortes wissen, nehmen die Aufgabe an,dem Massenbewusstsein eine Führung zu ge-ben, um das Bedürfnis der Masse nach Si-cherheit zu befriedigen“ (S. 186), in die seineskizzierte konstruktive Sozialpädagogik ein-münden, werden ihm spätestens im neu hin-zugefügten Epilog der vierten Auflage suspekt.Dort überwindet Mennicke nämlich diese –noch in traditionellen Gegensatzpaaren for-mulierte – Perspektive und skizziert unter demstarken Einfluss der amerikanischen Grup-penpädagogik das Programm einer Selbst-entwicklung von Gruppen, in der die hierarchi-sche Struktur von Führung und Masse aufge-geben wird zugunsten einer Persönlichkeits-entwicklung durch die Beteiligung am Grup-penleben.Diese geistige Entwicklungsfähigkeit, diesesStreben nach möglichst objektiver Präzisie-rung der Problemlage je nach Stand der For-schung, macht die Lektüre dieses Buches soaußerordentlich spannend. Seine vier Aufla-gen, die sich in ganz unterschiedlichen zeitge-schichtlich-biographischen Wendepunktenverorten lassen, zeigen nicht nur die Leben-digkeit und Dauerhaftigkeit, mit der sich Men-nicke mit der angeschnittenen Problematikauseinandergesetzt hat, sondern vermittelnauch das Ausmaß von kritischer Revisions-fähigkeit, mit der er seine Gedanken immerwieder neu strukturiert und die Veränderungender gesellschaftlichen und wissenschaftlichenLage eingefangen hat. Nicht zuletzt sei dasBuch wegen der klaren, nachvollziehbarenSprache, in der Mennicke schreibt, empfoh-len. Wolfgang Seitter

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Jens BäumerWeiterbildungsmanagementEine empirische Analyse deutscher Unterneh-men(Rainer Hampp Verlag) München 1999, 367Seiten, DM 62.80

Empirische Studien über die Realität betrieb-licher Weiterbildung sind nach wie vor nichtdicht gesät. Insofern ist es sehr verdienstvoll,der Frage nachzugehen, wie diese Aktivitätengemanagt werden. Als Grundlage der Unter-suchung von Jens Bäumer dienten Kurzfra-gebogen, die von mehr als 400 Unternehmenbeantwortet und dann durch einen Hauptfra-gebogen und Betriebsfallstudien ergänzt wur-den. Darüber hinaus wurden in den aufgrundeiner Clusteranalyse gebildeten Management-typen betrieblicher Weiterbildung pro Typ dreiFallstudien durchgeführt. Die vorliegende Ar-beit hat also eine ungewöhnlich breite empiri-sche Basis. Dieses Material in eine konsisten-te theoretische Argumentation eingebunden zuhaben ist ihr Verdienst.Es handelt sich um eine Dissertation mit al-len dazugehörigen wissenschaftlichen Bele-gen und Hinweisen. Dies macht die Lektüremanchmal mühsam. Es wäre gut gewesen,auf einige Rückbezüge und Absicherungenzu verzichten, zumal die Theoriediskussioneinige Inkonsistenzen aufzeigt. So wird einer-seits auf einen Systemansatz rekurriert, an-dererseits ungebrochen auf verhaltenswissen-schaftliche Konzepte ebenso wie auf „strate-gic choice“ Bezug genommen. Das „Wech-selspiel von Situation, Struktur und Person“(S. 69) bleibt unaufgeklärt. Hat man sichdurch diese Schwierigkeiten durchgearbeitet,findet man ab S. 73 die plausible, systemati-sche Entwicklung eines Modells zur Analysedes Weiterbildungsmanagements. Es wird einzweistufiger Ansatz durchgeführt, in dem imersten Schritt Strukturmuster betrieblicherWeiterbildung auf ihre Situationsmerkmale hinuntersucht und im zweiten Schritt die „Alltags-theorien der Weiterbildungsakteure“ analysiertwerden.Dabei werden vier Weiterbildungstypen gebil-det: strategieunterstützende, nachgefragtdienstleistende, ressourcenbasierte und rudi-

mentäre. Obwohl diese Typologie zunächstrelativ banal und konstruiert aussieht, ist dieFüllung mit empirischem Material interessantund weiterführend. Dies liegt vor allem auchan den Fallstudien, die das Selbstverständnisder Akteure erhellen. Vorsichtig wird das Ma-terial abschließend auf die Erfolgschancen derverschiedenen Typen hin gesichtet. Ange-sichts der Vielfalt der Betriebsgrößen, Bran-chen usw. verwundert es nicht, dass einfacheRezepte für „best practice“ nicht zu gebensind. Peter Faulstich

Marita BecherInteraktions-Methoden in der Erwachse-nenbildungLeitfaden und WegweiserReihe: Perspektive Praxis(DIE) Frankfurt/M. 1998, 88 Seiten, DM 14.00

Der Titel ist irreführend: Zwei Drittel des Tex-tes beinhalten eine Auseinandersetzung mitdem Stellenwert von Methoden in der Erwach-senenbildung, ihre Klassifizierung und Kate-gorisierung – das verbleibende Drittel beschäf-tigt sich als Auswahl aus den interaktiven Me-thoden mit dem pädagogischen Rollenspielund teilweise mit Planspielansätzen. Der er-ste Teil (Was ist Methode? Was kann Metho-de?) bringt Ordnung in unzählige Methoden-angebote, indem Klassifizierungssysteme ver-schiedener Autoren (Knoll, Müller, Brühwiler u.a.) vorgestellt und eine eigene Variante ange-boten werden. Hierbei zeigt die Autorin die„Möglichkeitenvielfalt“ und das „Eigenleben“von Methoden auf und skizziert ihre Bezügezur Didaktik. Dieser Teil versteht sich als Leit-faden, Methoden bereichs- und themenüber-greifend fokussiert zu behandeln. Allerdingsfehlen Praxisbeispiele, so dass Auswahl-kriterien wie z. B. kognitiv-informativ, emotio-nal-kreativ, auf Eigen- und Fremdwahrneh-mung gerichtet ohne konkrete Bezüge bleibenund Methodenrepertoires hinzugedacht wer-den müssen, um im eigenen Kopf fruchtbargeordnet werden zu können. Uneinsichtigbleibt, warum „Standard-Methoden“ (z. B. zurBilanzierung, Entspannung, Visualisierung)und „Standard-Techniken“ (z. B. Einzelarbeit,Plenum, Moderation) nur knapp erwähnt und

Kurzinformationen

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als (faktisch umfangreiche und bunt gemisch-te) ,Restgruppe’ angeführt werden. Im Textverstreut kommt auch das Gliederungsraster„Phasen im Entwicklungsprozess einer Grup-pe“ zum Tragen, ohne aber expliziter genutztzu werden. Immer wieder bestehende Ord-nungsprobleme im Methodengestrüpp werdenhier nur formal gelöst, und der von Brühwilerangebotene Ausweg, lediglich mit einer multi-funktionalen Matrix zu arbeiten, wird nicht pro-duktiv weiterverfolgt.Der zweite Teil ist mit „Wegweiser“ betitelt undfasst im Anschluss an allgemeine Überlegun-gen zum Einsatz von Rollenspielen ausge-wählte Ansätze (u. a. Gugel, Knoll, Griffin) ausdem Zeitraum 1986 bis 1996 zusammen. Bisauf Ausführungen bei Weidenmann, der Rol-lenspielen eine interaktive/kommunikativeEigenwirkung zuschreibt, dominieren in dererwachsenenbildnerischen Rollenspielanwen-dung Inhaltsbindung und Trainingsorientie-rung. Unter dieser eingeschränkten Perspek-tive ist auch verständlich, warum das Planspielals Rollenspielvariante vorgestellt wird. Offenbleibt, wie die Autorin dieses reduzierte Rol-lenspielverständnis in Einklang bringen kannmit ihrem Anliegen, gerade interaktionspäd-agogische Verfahren vorzustellen, die sozia-les Lernen, Selbst- und Fremdwahrnehmung,Verhaltensänderung ins Zentrum rücken. Viel-leicht könnten ältere Ansätze aus den 70erJahren, der ,Hochzeit’ des pädagogischenRollenspiels, zusätzliche Anregungen bieten.

Monika Schmidt

Martin Beyersdorf/Gerd Michelsen/HorstSiebert (Hrsg.)UmweltbildungTheoretische Konzepte – empirische Erkennt-nisse – praktische Erfahrungen(Luchterhand Verlag) Neuwied, Kriftel 1998,384 Seiten, DM 38.00

In dem vorliegenden Sammelband haben sichdrei ausgewiesene Kenner der Umwelt- undErwachsenenbildung zusammengefunden, umunter tätiger Mithilfe zahlreicher weiterer Akti-visten den aktuellen Stand der Umweltbildungzu skizzieren und Perspektiven für eine nach-haltige ökologische Bildungsarbeit aufzuzei-gen. Das Handbuch – papiernes Ergebnis desvon der Deutschen Bundesstiftung Umweltgeförderten Projekts „Innovation ökologischer

Erwachsenenbildung (IÖE)“ – gliedert sich infolgende Hauptkapitel:– Der Rahmen der Umweltbildung– Theoretische und empirische Grundlagen

der Umweltbildung– Umweltbildung in Institutionen– Themenfelder der Umweltbildung– Didaktik und Organisation der Umwelt-

bildung.Bereits beim ersten Durchblättern des Bucheswird deutlich, dass eine solch umfassendeDarstellung für den Bereich Umweltbildungbislang einmalig ist. Dieses Verdienst kommtzweifellos auch den vielen namhaften Autorin-nen und Autoren aus der Umweltbildungs-szene zu, die mit lesenswerten Ergänzungenzu den Aufsätzen der Herausgeber wesentlichzum Gelingen dieses Handbuchs beigetragenhaben, dem über weite Strecken der Statuseines Grundlagenwerkes zu attestieren ist.Dies trifft vor allem auf die ersten drei Haupt-kapitel zu. Hier wird zunächst der umweltpoli-tische und umweltethische Rahmen der Um-weltbildung auf nationaler Ebene abgesteckt,in einem weiteren Schritt wird der internatio-nale Kontext aufgezeigt und es werden Ver-knüpfungen zur Agenda 21 hergestellt. Imzweiten Teil liegt der Schwerpunkt auf psycho-logischen und soziologischen Erkenntnissen,die im Zusammenhang mit der Umweltbildungstehen (z. B. Untersuchungen zu Wertewandelund Umweltbewusstsein) und Implikationen fürdie pädagogische Arbeit in Bezug auf das öko-logische Lernen aufzeigen. Die praxisorien-tierte Darstellung der Umweltbildung im drit-ten Teil widmet sich einer breiten Palette vonInstitutionen, die vom Kindergarten über dieSchule bis zur Hochschule (mit einem Kapitelzur Lehrerbildung und -fortbildung) und derUmweltbildung in Betrieben reicht. Darüberhinaus finden sich wissenswerte Ausführungenzu so vielfältigen Aspekten wie dem freiwilli-gen ökologischen Jahr, der Ökologiebewe-gung sowie zur informellen Umweltbildung undzur Altenbildung. „Themenfelder der Umwelt-bildung“ finden ihren Niederschlag in Kapitelnzu Umwelt, Gesundheit und Ernährung, Um-welt und Mobilität oder Umweltbildung undKunst. Daneben wird Politische Bildung in Be-zug auf Umwelt thematisiert und das span-nungsreiche Verhältnis Ökologie – Ökonomieund Bildung beleuchtet. Hier deuten sich eben-so wie im fünften Teil des Buches einige der

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Schwierigkeiten an, die die Herausforderungmit sich bringt, ein dermaßen facettenreichesund überdies in stetiger Entwicklung befindli-ches Gebiet wie die Umweltbildung konsistentabzubilden.Dies schmälert keinesfalls die Einschätzung,dass mit dem Werk von Beyersdorf, Michel-sen und Siebert eine solide Grundlage für dieweitere Umweltbildungsdiskussion geschaffenwurde, das zweifellos dazu geeignet ist, demin der Umweltbildungsforschung Aktiven eben-so wie dem in der praktischen Umweltbil-dungsarbeit Tätigen einen fundierten – in man-chem Falle zwangsläufig blitzlichtartigen –Überblick über den derzeitigen Stand zu er-möglichen. Für beide Typen von Lesern wärees allerdings hilfreich gewesen, dem (ausbau-fähigen) Stichwortverzeichnis noch einen Ser-viceteil anzuhängen, der mit Adressen von An-sprechpartnern und Projekten dem Ansprucheines Handbuchs gut zu Gesicht gestandenhätte (beispielhaft: Horst-Peter Neitzke/HeikeHanisch in ihrem Beitrag „Umwelt und Mobili-tät“). Dieses Manko ist angesichts des günsti-gen Preises allerdings ohne weiteres zu ver-schmerzen. Maik Adomßent

Gerhard Bisovsky u. a. (Hrsg.)Adult Learning and Social ParticipationWien 1998, 432 Seiten, DM 42.50

Das vorliegende Buch ist der Konferenzbandzur ersten Forschungskonferenz der EuropeanSociety for Research on the Education ofAdults (ESREA), die vom 18. bis 22. Septem-ber 1995 in Strobl (Österreich) stattgefundenhat. Die Konferenz stand unter dem Thema„Adult Learning and Social Participation – theChanging Research Agenda“ und wurde vonTeilnehmern aus 25 Ländern besucht. Die ver-öffentlichten Aufsätze stellen teilweise überar-beitete Versionen ausgewählter Beiträge dar,die in den verschiedenen Arbeitsgruppen ge-halten worden sind. Der Band liegt also nun-mehr drei Jahre nach der Konferenz vor – end-lich, ist man geneigt zu sagen.Abgesehen von eher formalen Monita (ärger-liche Druckfehler, nicht harmonisierte biblio-graphische Angaben, laxe Redaktion) liegthier eine sehr interessante Publikation vor,die nicht nur den allgemeinen Zuschnitt vonESREA und insonderheit die dort ansässigenForschungsinteressen nachzeichnet, sondern

auch insgesamt umfangreich über die jewei-ligen Themen informiert. Als unterschiedlicheBlöcke präsentieren sich „Active Citizenship“,„Teaching and Learning“, „Education andWork“ und „Participation Research“.Der erste Block „Active Citizenship“, der vonMichal Bron Jr. verantwortlich redigiert wurde,ist sehr umfang- und abwechslungsreich, wo-bei die einleitende Bemerkung von Bron nocheinen Überblick über die hier nicht veröffent-lichten Beiträge gibt. Am Ende der Lektüre hatder Leser einen guten Einblick sowohl in dieVorgehensweise der Arbeitsgruppe als auchin das Thema.Etwas schwächer präsentiert sich der Teil„Teaching and Learning“, von Staffan Larssonbearbeitet. Die geringe Zahl von Beiträgen re-flektiert wohl die schwächere Ausgestaltungdieses Forschungsschwerpunktes sowohl inder Konferenz als auch in der ESREA gene-rell.Der von Geoff Civers verantwortlich bearbei-tete Block „Education and Work“ geht demThema in anspruchsvoller Weise nach, wobeivor allem in diesem Teil das hohe Forschungs-niveau der Einzelbeiträge besticht.Von ebenfalls beeindruckender Qualität ist dievon Etienne Bourgeois bearbeitete Passageder Arbeitsgruppe „Participation Research“.Hier zeigt sich nicht nur eine ausgewogene in-ternationale Auswahl von Papieren, sondernes werden auch die unterschiedlichen Teilas-pekte der Partizipationsforschung in Einzel-studien wie auch in generellen Forschungs-zusammensichten umfassend dokumentiert.Unzweifelhaft ist aber dem gesamten Bandeine hohe internationale Maßgeblichkeit zuzu-sprechen. Hier spiegelt sich wider, dass sichin der ESREA international führende Erwach-senenbildungswissenschaftler zusammenfin-den und solchermaßen Konferenzberichte undBerichte der einzelnen Netzwerke jeweils ho-hen Ansprüchen genügen.Die Publikation ist all jenen, die sich über dieeinzelnen Themen und über generelle inter-nationale Trends in der Erwachsenenbildungs-forschung informieren möchten, zur Lektüre zuempfehlen. Michael Schemmann

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Dietmar Bolscho/Gerd Michelsen (Hrsg.)Methoden der Umweltbildungsforschung(Verlag Leske & Budrich) Opladen 1999, 280Seiten, 48.00 DM

Gerd Michelsen erläutert einleitend den Kon-text und die Hintergründe dieses dritten Ban-des der Schriftenreihe „Ökologie und Erzie-hungswissenschaft“ der Arbeitsgruppe Um-weltbildung der DGfE: In dem 1997 veröffent-lichten Gutachten des BMBF über „Umweltbil-dung als Innovation“ wird der defizitäre Standder empirischen human- und sozialwissen-schaftlichen Forschung zur Umweltbildungbeklagt. Bereits der „Wissenschaftliche Beiratder Bundesregierung für globale Umwelt-fragen“ hatte mehr interdisziplinäre Untersu-chungen zur Umweltbildung, insbesondereGrundlagenforschungen und Evaluationsstu-dien gefordert. Auch der Wissenschaftsrat hatForschungen u. a. zur Bewertung von Curri-cula der Umweltbildung angemahnt. Darauf-hin hat die AG Umweltbildung der DGfE 1997ein „Programm zur Umweltbildungsforschung“verabschiedet. Darin wurden drei Forschungs-schwerpunkte benannt :– Überblicke über den Ist-Zustand der schu-

lischen und außerschulischen Umweltbil-dung

– Umweltbewusstseinsforschung (inkl. Wer-tewandel)

– innovative Forschung mit Blick auf einenachhaltige Entwicklung.

Im Dezember 1997 hat die AG Umweltbildungeine Tagung über „Methoden der Umweltbil-dungsforschung“ durchgeführt. Die Referatebilden die Grundlage für die vorliegende Ver-öffentlichung. Die Beiträge lassen sich dreiOberthemen zuordnen :1. Methodologische Grundfragen (insbeson-

dere zum Verhältnis quantitativer und qua-litativer Forschungsdesigns, aber auch „re-konstruktive Interviews“, Evaluationsfor-schung, Fallstudien).Die strittige Bevorzugung quantitativer oderqualitativer Materialien wird durch den(neuen?) Richtungsstreit überlagert, obempirische Ergebnisse deskriptiv (d. h. tat-sachenbeschreibend) oder konstruktiv-(istisch), (d. h. beobachterrelativ) sind (S.60ff.). Auf den Konstruktivismus beziehensich mehrere Autor/innen.

2. Umweltbewusstseinsforschung (z. B. ko-gnitive vs. emotionale Ansätze, Lebensstil-forschungen, Kontrollattributionen). DieFaktorenmodelle insbesondere zum Ver-hältnis Wissen – Handeln werden immerkomplexer.

3. Umweltbildungsforschung i. e. S. (u. a.Wissensforschung, Evaluationsforschungin Schulen und Hochschulen, forschungs-methodische Fragen).

Die Tagung und diese Veröffentlichung leisteneinen Beitrag zur Selbstverständigung undProfilierung der Umweltbildung als Wissen-schaft. Das thematische Spektrum und die Me-thodenvielfalt der vorgestellten Projekte sinderstaunlich. Kritisch sei angemerkt, dass eini-ge Untersuchungen unangemessen ausführ-lich dargestellt werden. Bei einigen Projektensind die Ergebnisse im Vergleich zu dem theo-retischen Anspruch und dem empirischen Auf-wand eher bescheiden.Noch eine Anmerkung zur vielbeschworenenInterdisziplinarität. Es wird deutlich, dass ver-schiedene Disziplinen an der Erforschung derUmweltbildung beteiligt sind. Beispiele für in-terdisziplinäre Projekte, in denen die unter-schiedlichen disziplinären Perspektiven er-kennbar und fruchtbar werden, sind selten.Auch die Frage nach spezifisch erziehungs-wissenschaftlichen Forschungszugängen er-scheint noch klärungsbedürftig.Viele Beiträge sind durchaus von allgemein-pädagogischem Interesse und sollten nicht nurvon Ökopädagog/innen zur Kenntnis genom-men werden. H.S.

Bernhard BonzMethoden der BerufsbildungEin Lehrbuch(Hirzel-Verlag) Stuttgart 1999, 246 Seiten, DM58.00

Der Anspruch dieses Lehrbuchs ist es, „vorallem zur rationalen Begründung methodi-schen Handelns und zum Aufbau eines Me-thodenrepertoires beizutragen“, wobei der Au-tor schon im Vorwort darauf hinweist, dass die„argumentierende Auseinandersetzung zukurz kommt“. Die ersten beiden Kapitel dienender Einführung und der Übersicht über dieSystematik der Methodik. Anschließend wer-den traditionelle Unterrichtsformen und hand-lungsorientierte Methoden vorgestellt. Ein Zwi-

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schenkapitel befasst sich mit Medien undComputereinsatz. Das Kapitel Methoden be-trieblicher Berufsbildung skizziert sowohl her-kömmliche Formen der Unterweisung als auchhandlungsorientierte Ansätze, wobei nicht er-sichtlich wird, warum dies nicht unter die vor-genannten subsumiert wurde. Das Schlusska-pitel geht auf besondere methodische Aspek-te und Lernarrangements ein und stellt eineMischung aus eher grundsätzlichen Überle-gungen und praktischen Verfahren dar.Der Band zeichnet sich durch einen klaren undübersichtlichen Aufbau aus. Jeder Abschnittwird mit einer knappen Zusammenfassungabgeschlossen, eine Fülle von Abbildungenund erklärenden Exkursen macht das Ganzeanschaulich und lesefreundlich. Der Autor ver-zichtet bei der Darstellung traditioneller und„moderner“ Methoden auf jede Form oberleh-rerhafter Belehrung, sondern zwingt den Nut-zer dazu, die Frage „Welche Methode für wel-che Ziele?“ selbst zu beantworten. Die aus-führliche Darstellung der Entscheidungskrite-rien erleichtert allerdings das Finden einer ad-äquaten Antwort. Einige von Bonz verwende-te Begrifflichkeiten wie die der Artikulation oderder Lehrbegriffe als „Grundakte des pädago-gischen Handelns zur Realisierung von Unter-richt und Unterweisung“ wirken allerdings et-was antiquiert. Der Autor verweist mehrfachauf ein Grunddilemma der Methoden, diefremdbestimmte Eigenmaßnahmen bedeuten,während das Ziel jeden Lernens die Hinfüh-rung zur Selbständigkeit sein soll.Das Buch bietet eine seit längerem überfälli-ge Darstellung der Methoden in der Berufsbil-dung und ist nicht nur für Studierende und inder beruflichen Bildungspraxis Tätige ge-schrieben. Auch für die Planung und Praxis be-ruflicher Weiterbildung finden sich wichtigeÜbersichten, Anregungen und Entscheidungs-hilfen. Gerhard Reutter

Felix BüchelZuviel gelernt?Ausbildungsinadäquate Erwerbstätigkeit inDeutschland(W. Bertelsmann Verlag) Bielefeld 1998, 288Seiten, 59.00 DM

Die Fragestellung lässt aufhorchen angesichtsder weitverbreiteten öffentlichen Meinung,dass man nie genug lernen kann, dass per-

manentes Lernen eine Voraussetzung für dieberufliche Karriere und individuelles Glück ist.Dieser bildungsoptimistischen Einschätzungwird in der vorliegenden Studie nicht grund-sätzlich widersprochen. Untersucht wird dasbisher bildungsökonomisch und motivations-psychologisch vernachlässigte Problem derÜberqualifizierung, genauer: der in Relation zudem formalen Qualifikationsniveau „unter-wertig Erwerbstätigen”. Nicht nur Arbeitslosig-keit ist eine Vergeudung von Humankapital,sondern auch der promovierte Philosoph, derTaxi fährt, ist „overeducated” (wobei wir denNutzen alltagsphilosophischer Gespräche mitseinen Kunden unberücksichtigt lassen). Un-terwertige Erwerbstätigkeit verweist auf eineunzureichende Passung von Bildungssystemund Arbeitsmarkt und ist daher ein pädagogi-sches und ökonomisches Problem.In den ersten beiden Kapiteln werden begriff-liche und theoretische Grundlagen erörtert. Vorallem in den USA sind unterschiedliche theo-retische Erklärungsmodelle entwickelt worden.Der „Signaling“-Ansatz geht davon aus, dassHochschulzertifikate eine überdurchschnittli-che Lernfähigkeit signalisieren, so dass Hoch-schulabsolventen eingestellt werden, auchwenn sie fachlich überqualifiziert und/oderfehlqualifiziert sind (S. 27). Das „Job-Compe-tition“-Modell besagt, dass die formale Quali-fikation zwar die Beschäftigungschancen er-höht, dass aber das Einkommen primär durchdas Job-Anforderungsniveau bestimmt wird(S. 28). Für Höherqualifizierte sinken meist dieKosten für die Anpassungsqualifikation, aller-dings vermeiden viele Firmen eine Einstellungüberqualifizierter Bewerber/innen, weil derenUnzufriedenheit sich oft negativ auf die Lei-stung auswirkt.Die vorliegende quantifizierende Studie basiertu. a. auf Daten des Deutschen Instituts fürWirtschaftsforschung (DIW). Untersucht wer-den unterwertig Beschäftigte in den neuen undalten Bundesländern. Jede/r sechste Erwerbs-tätige ist demnach unterwertig beschäftigt.Frauen sind dabei stärker betroffen als Män-ner. In Ostdeutschland ist unterwertige Be-schäftigung häufiger als in Westdeutschland.Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten ist über-durchschnittlich hoch. Im Bereich Handel,Banken, Versicherungen ist der Anteil derÜberqualifizierten größer als im ÖffentlichenDienst. Unterwertig Beschäftigte arbeiten

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überproportional in Kleinbetrieben. Sie be-zeichnen ihre Tätigkeit selten als abwechs-lungsreich. Sie sind tendenziell unzufrieden,allerdings ist ihre unterwertige Beschäftigungoft gewollt. Für viele von ihnen sind beruflicherErfolg oder Einkommensverbesserung sekun-där, sie bevorzugen eine weniger anspruchs-volle und anstrengende Tätigkeit. Allerdingsgehen die früher erworbenen Qualifikationenbei dauerhafter Nichtverwertung verloren.Während in Westdeutschland die meisten die-ser Personen irgendwann einen ausbildungs-adäquaten Arbeitsplatz finden, ist in Ost-deutschland der Übergang in die Arbeitslosig-keit häufiger.Die Studie ist theoretisch und empirisch sehranspruchsvoll. Sie erfordert Leser/innen, diesich auf das detaillierte Datenmaterial einlas-sen. Der Literatur- und Datenanhang umfasst117 DIN A 3-Seiten. Wer schnelle praktischeKonsequenzen erwartet, wird enttäuscht.

H.S.

Rolf Dobischat/Rudolf Husemann (Hrsg.)Berufliche Bildung in der RegionZur Neubewertung einer bildungspolitischenGestaltungsdimension(Edition Sigma) Berlin 1997, 459 Seiten, DM48.00

Der eigentlich eher spröde Titel dieses Buchesbesticht zugleich durch zwei Schlüsselbegrif-fe, die in der fachöffentlichen Diskussion seiteinigen Jahren eine Aufwertung erfahren ha-ben: berufliche Bildung und Region. Mit derRegionalisierung der Gestaltungsprozessedes Strukturwandels und der damit einherge-henden Konzentration auf eine Förderung derendogenen Entwicklungs- und Innovations-potentiale ist berufliche Bildung und Qualifizie-rung ein Gestaltungselement von Regional-entwicklung geworden. Die Aufwertung beruf-licher Weiterbildung, die keinen staatlichenOrdnungsprinzipien unterworfen ist, zu Lastender Erstausbildung führt scheinbar zu einemMehr an Gestaltungsräumen auf regionalerEbene. Gleichzeitig löst sich Beruflichkeit ten-denziell auf. In dieser Umbruchsituation bedarfes einer Klärung der Dimensionen und Be-zugspunkte für die Neudefinition beruflicherBildung. Vor dieser Ausgangsproblematik legtder Autoren-Sammelband den Fokus auf Ge-staltungsoptionen beruflicher Bildung unter

regionalpolitischen Aspekten. Das Spannen-de und Neue dieser Herangehensweise ist derdurchaus gelungene Versuch, das faktischexistierende Handlungsfeld, die Aktivitäten undErfahrungen dieser regionalpolitischen Ebeneunter verschiedenen Perspektiven sichtbar zumachen. Ziel der Herausgeber ist es, damiteine Brücke zu der theoretischen Diskussionum zukunftsorientierte Gestaltungsoptionenregionalorientierter beruflicher Bildung zuschlagen (S. 13).Die Beiträge des ersten von vier Teilen be-schäftigen sich mit Fragen der Region als bil-dungspolitischem Gestaltungsraum. Hervorhe-benswert scheint mir bei den von den Auto-ren angesprochenen Aspekten regionalpoli-tischer Bezüge zu beruflicher Bildung die Aus-weitung von ökonomischen zu sozialen undkulturellen Aspekten, vor allem in den Beiträ-gen von G. Reutter und P. Faulstich mit denAusführungen zu „Region als Ort, den Men-schen als Lebenswelt bzw. Heimat ansehen“(S. 17) und „Region als Ort kultureller Identi-tät und Heimat“ (S. 62). Die Beiträge im zwei-ten Teil des Bandes belegen unter den Dis-kussionspunkten spezieller Berufsbildungs-felder, institutioneller Bezüge und Organisati-onsmodelle von Berufsbildung exemplarischdie praktische Existenz regionaler Berufsbil-dungspolitik. Hier findet der/die Leser/in ein Er-fahrungswissen gelebter Modelle, die denBlick öffnen für Perspektiven einer Berufsbil-dungspolitik, die sich an regionalen Bedingun-gen und Potentialen orientiert. Der dritte Teilthematisiert einen Aspekt, der die fachlicheDiskussion seit langem begleitet, in der bis-herigen berufsbildungspolitischen Diskussionjedoch fahrlässig vernachlässigt wurde: denSubjektbezug und die Teilnehmerperspektive.Insbesondere in dem Beitrag von R. Tippelt,der – basierend auf heuristischen Thesen –auf die Zusammenhänge zwischen Region,Identität und Subjektbezug beruflicher Bildungabhebt, werden u. a. bildungspolitisch relevan-te Aspekte des subjektiv unbestimmbaren Nut-zens von Bildungsinvestitionen deutlich. UmGesichtspunkte der Gestaltung von beruflicherBildung in speziellen regionalen Bezügen gehtes bei den sieben Beiträgen des letzten Teils,der sich, ungeachtet der Qualität einzelner Bei-träge, nicht bruchlos in die Gesamtstruktur desBandes einfügt. Transferfragen in RichtungEuropa und Entwicklungsländer zum einen,

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spezielle ökonomische und arbeitsmarkt-politische Zusammenhänge zum anderen er-öffnen neue Fragestellungen einer Integrationvon beruflicher Bildung und regionaler Politik.Die Vielzahl der in diesem Band aufgezeigtenPerspektiven der Verschränkung von Regio-nalpolitik und Berufsbildungspolitik und dieModelle gelungener Umsetzung machen dasBuch zu einer anregenden und bereicherndenLektüre nicht nur für in der beruflichen Bildungtätige Wissenschaftler/innen und Praktiker/in-nen. Der von den Herausgebern erhoffte „Be-deutungszuwachs der Region als berufspoli-tischer Gestaltungsraum“ bleibt allerdingsauch nach der Lektüre mehr Hoffnung als be-gründete Erwartung.

Rosemarie Klein

Hajo DröllWeiterbildung als WareEin lokaler Weiterbildungsmarkt – das BeispielFrankfurt/Main(Wochenschau Verlag) Schwalbach/Ts. 1999,551 Seiten, DM 78.00

Die Studie befasst sich mit einem derzeit ak-tuellen und folgenreichen bildungspolitischenProblem: Es geht um die zunehmende Priva-tisierung und Marktorientierung in der gesam-ten Bildungslandschaft bzw. speziell in derWeiterbildung. Was sich hier seit einigen Jah-ren abspielt, kommt einer „Wende“ gleich, dieeine neue politische und andragogische Ver-ortung bewirkt und eine neue Legitimation gibt.In diesem Sinne hängt gleichsam wie ein Da-moklesschwert die Idee von „Bildung als Ware“über der allgemeinen Weiterbildung.An dem derzeitigen bildungspolitischen Wen-depunkt versucht der Autor erstmalig die Fol-gen eines regionalen Bildungsmarktes für dieWeiterbildung empirisch aufzuarbeiten. Aus-gangspunkt seiner umfangreichen Studie sindzwei Thesen: Erstens wird der Weiterbildungs-markt als „Reparatursystem“ für die Versäum-nisse des staatlichen Bildungswesens gese-hen, und zweitens wird der scheinbare Zwangzur Kostendämpfung zunehmend als zentra-les Argument für die Privatisierung von Wei-terbildung herangezogen. Die Frage heißt fürDröll: „Wohin aber führt Marktwirtschaft im Bil-dungswesen unter den Bedingungen der De-regulierung?“ (S. 51). Methodisch hat die Stu-die den Anspruch, den gesamten Weiterbil-

dungsmarkt in Frankfurt/Main mit einigen Aus-nahmen (z. B. die betriebliche und interne Wei-terbildung oder der Fernunterricht) darzustel-len. Dazu wurde in einem ersten Schritt einsystematisches Verzeichnis aller Einrichtun-gen erstellt. Es entstand dabei eine inhaltlicheSparteneinteilung von 19 Teilmärkten. Insge-samt wurden mit diesem Raster 412 Einrich-tungen erfasst. Davon wurden 282 mit einemvierseitigen Fragebogen angeschrieben. DerRücklauf betrug 196 (69,5%).Inhaltlich werden nach einem ausführlicheneinleitenden Teil, in dem die These vom Wei-terbildungsmarkt definiert und begründet wird,die 19 Sparten systematisch und statistischbeschrieben. In einem weiteren Schritt werdenStrukturmerkmale der Weiterbildungsbranche,wie z. B. Ranking der Sparten, Zugangs-möglichkeiten und Konzentrationsprozesse,untersucht. Außerdem geht es um zentraleMessgrößen, um die Angebotsstruktur und umdie Personalsituation. Mit diesem Untersu-chungsraster kann nahezu lückenlos eine sy-stematische Analyse des Frankfurter Wei-terbildungsmarktes geleistet werden.Mit dieser Studie wird erstmalig ein regiona-ler Bildungsmarkt quantitativ und qualitativ re-cherchiert und nach den Konsequenzen einerKommerzialisierung befragt. Der dabei ver-wendete Untersuchungsansatz ist aufwendigund überzeugt durch Präzision und Details.Zwar wendet sich Dröll zu Recht gegen dievorherrschende ideologische Diskussion beimThema Weiterbildungsmarkt, er fällt jedoch beiseiner Interpretation der Ergebnisse leider ineine ideologisierte Position zurück, die durchseinen gewerkschaftlichen Blick geprägt ist.Wenn er als zentrale Lösung zur Neuregulie-rung des Marktes Instrumente zur Verteuerungder Personalkosten vorschlägt, dann verkürzter seine Lösungsmöglichkeiten drastisch ein-seitig. Angesichts der Fülle seiner Daten er-scheint dieses Ergebnis zu sehr fokussiert.Insgesamt ist Dröll jedoch eine bemerkenswer-te Studie gelungen, die nicht nur politischhochaktuell, sondern auch vom Forschungs-ansatz her neu und äußerst ergiebig ist. Sie hatdurchaus den Charakter einer „kleinen Leit-studie“ für die Erwachsenenbildungsforschungund kann für die aktuelle Institutionalisie-rungsdebatte sowie für die Zukunft der Er-wachsenenbildungseinrichtungen wertvolleHinweise und Ergebnisse liefern.

Ulrich Klemm

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Peter Faulstich/Mechthild Bayer/MiriamKrohn (Hrsg.)Zukunftskonzepte der WeiterbildungProjekte und Innovationen(Juventa Verlag) Weinheim und München1998, 264 Seiten, DM 38.00

Angesichts wachsender Deregulierung, Indi-vidualisierung und Privatisierung der Weiter-bildung hat die Max-Traeger-Stiftung der GEWdas Vorhaben der Herausgeber/innen, ge-werkschaftliche Positionen zu stärken und inöffentliche Diskurse pointierter einzubringen,gefördert. Als Ergebnis werden verschiedeneForschungseinrichtungen und unterschiedlicheProjekte vorgestellt, von denen Innovations-impulse ausgehen. Erwachsenenbildung wirdim Kontext „reflexiver Moderne“ , gegenwärti-ger Brüche und Widersprüche im Modernisie-rungskonsens gesehen. Bei der Auswahl vonzukunftsweisenden Ansätzen in Forschungund Praxis „geht es um Leitkriterien wie Betei-ligung, Verantwortung, Finanzierungssiche-rung, Institutionenentwicklung, Koordination,Qualitätssicherung, Transparenz, Personalent-wicklung, Funktionsintegration und Systemin-tegration“ (S. 17). Als Einrichtungen, die sichin Selbstverständnis und Aufgabenbeschrei-bung zwischen Wissenschaft und Praxis po-sitionieren, stellen sich das DIE, das BIBB, dasInstitut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung,das Landesinstitut für Schule und Weiterbil-dung NRW, das Institut für Entwicklungs-planung und Strukturforschung, Hannover, vor.Themen, mit denen sich die Autor/innen ausunterschiedlicher Perspektive beschäftigen,sind u. a.: Selbstgesteuertes Lernen, Qua-litätssicherung, neue Medien, betriebswirt-schaftliche Modernisierung. Forschungsfelderund Projektansätze – weiterer Schwerpunktder Studie – thematisieren Themenkomplexewie Zeiten für die Weiterbildung, Qualifizierungvon Industriemeistern, Bildungsmarketing,Qualität in der Weiterbildung, Professionalisie-rung von Personal und Organisation, Erfahrun-gen mit Zielgruppen von Langzeitarbeitslosenund Frauen in gewerblich-technischen Beru-fen, Weiterbildungsabstinenz. Es werden Pro-jekte dokumentiert, die Systemaspekte, insti-tutionelle Fragen und individuelle Problemla-gen aufgreifen, die sich mit Grundsätzlichembefassen und „bei denen Übertragbarkeit undVerallgemeinerbarkeit gegeben sind“ (S. 98).

Der Band wird abgerundet durch die zusam-menfassende Darstellung einer Umfrage zuUntersuchungsfeldern in der Erwachsenenbil-dung. Von 160 erfassten Projekten stammenüber die Hälfte von Mitgliedern der Kommis-sion Erwachsenenbildung in der DeutschenGesellschaft für Erziehungswissenschaft. Zuden wichtigen Beobachtungen gehören:– Die betriebliche Weiterbildung ist nicht

mehr „der blinde Fleck in der Erwachse-nenbildungsforschung“ (S. 213).

– Nur eine geringe Zahl von Projekten be-fasst sich mit der didaktisch-methodischenGestaltung von Lernprozessen und ihrenBeiträgen zur Kompetenzentwicklung.

– Der Kernbereich von Professionalisierung,die Ausbildung von Diplompädagogen, istaus dem Blickfeld geraten.

Nicht zuletzt die einleitenden Beiträge vonFaulstich und Bayer, die sich mit grundsätzli-chen Fragen der Rolle von Erwachsenenbil-dungsforschung, ihren Entwicklungen undSchwierigkeiten sowie mit Anforderungen anInnovationen unter gegenwärtigen gesell-schaftlichen Bedingungen befassen, verdeut-lichen, dass undifferenziertem Innovations-geschrei (Bayer) auf der einen Seite und Kla-gen über Defizite der Forschung auf der an-deren Seite fundierte Entwicklungsperspek-tiven entgegengesetzt werden können. Gleich-zeitig muss gesellschaftspolitisch im Blick blei-ben: „Weiterbildung in der BRD ist nach wievor ein Defizitsystem, das für viele Menschenlebensbegleitendes Lernen eher zur Ideologieals zur Realität werden lässt“ (Bayer, S. 27).

Monika Schmidt

Martha Friedenthal-Haase (Hrsg.)Personality and Biography in the Historyof Adult EducationVol. 1: General, Comparative, and SyntheticStudiesVol. 2.: Biographies of Adult Educators fromFive Continents(Verlag Peter Lang) Frankfurt/M. u. a. 1998,886 Seiten, DM 148.00

Die zweibändige Publikation geht auf die„Sixth International Conference on the Historyof Adult Education“ zurück, die unter Beteili-gung von 68 Experten aus 22 Ländern 1996in Jena stattfand. Die Resonanz dieser inter-nationalen Zusammenkünfte scheint – wie die

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Teilnehmerzahlen zeigen – in den sechs Jah-ren kontinuierlich gestiegen zu sein. Die In-tention der Herausgeberin ist offenbar die ge-wesen, möglichst alle der mündlich präsentier-ten Beiträge einem breiteren Publikum zu-gänglich zu machen – ein Anliegen, das of-fenbar nur um den Preis einer gewissen Red-undanz realisiert werden konnte. Das thema-tische Spektrum im ersten Band ist außeror-dentlich breit: Es umfasst Beiträge, die untermethodologischem Fokus den Stellenwert vonBiographien als Quelle der internationalen Ge-schichtsschreibung generell diskutieren (z. B.Thomas), analytische Befunde aus biogra-phisch orientierten Adressaten- und Teilneh-merforschungen vorstellen (z. B. Kaschuba),biographische Forschungsvorhaben aus einerbestimmten Region dokumentieren (z. B. Vo-gel) und sich mit der Quellenlage und Doku-menten beschäftigen (z. B. Gierke). EinigeBeiträge (wie etwa der von Pöggeler) habenden Charakter wissenschaftlicher Aufsätze,andere sind eher im Duktus eines Kongress-Statements formuliert. Nicht ganz nachvoll-ziehbar ist, warum Alheits Artikel nicht imgrundlagentheoretischen Teil platziert wordenist.Anders als der erste hat der zweite Band eineklarere und nachvollziehbare Aufbaulogik: Ersetzt sich – was in dieser Form wohl noch nie-mals geleistet wurde – mit Biographien vonErwachsenenbildnern aus fünf Kontinentenauseinander. Teilweise kommt bei der Präsen-tation der in Deutschland nur wenig bekann-ten Protagonisten der Erwachsenenbildungaus den verschiedensten Nationen die Theseder Biographieforschung zur Geltung, dass esso gut wie unmöglich ist, die Lebensgeschich-te eines Menschen mitzuteilen, ohne dass derRezipient dabei zentrale Informationen überdie Zeit bekommt, in welcher der Akteur ge-lebt hat. Viele der Autoren des Bandes bewe-gen sich in dem Spannungsverhältnis, einer-seits sich mit den Leitfiguren der Geschichteder Erwachsenenbildung zu identifizieren undandererseits deren Lebensverlauf schnörkel-los und ohne falsches Pathos zu beschreiben.Wenn der internationale Forschungsaustauschzukünftig intensiviert werden soll, kann auf dieErfahrung aus der Publikation zurückgegriffenwerden, dass die Kenntnis der Biographien derzentralen (und weniger zentralen) Figuren derErwachsenenbildung in einem Land den Zu-

gang zu den dort vorherrschenden institutio-nellen Strukturen erleichtert, ja sogar die wei-tere Beschäftigung mit ihnen anzuspornenvermag. Hin und wieder blitzen überraschen-de Konstellationen auf: Wer weiß schon, dassRudolf Steiner eine große Rolle in der austra-lischen Erwachsenenbildung gespielt hat?Amerikanische Wissenschaftler, die keineninstitutionsfixierten Blick auf die Erwachsenen-bildung zugrunde legen, ringen selbst der Bio-graphie eines Benjamin Franklin ein andrago-gisches Interesse ab: und zwar zum einen,weil diese historische Figur ein patriotisch ge-sinnter Volksbildner war, und zum zweiten,weil sich hinter diesem Lebensschicksal eineder erfolgreichsten autodidaktischen Lernbio-graphien verbirgt. Wie ein roter Faden durch-zieht die dargestellten Biographien das Merk-mal, dass die Erwachsenenbildung nicht dasalleinige Betätigungsfeld der Akteure darstell-te, dass sie zumeist in reformerischer und de-mokratiefördernder Absicht tätig waren und dieErwachsenenbildung in vielen Ländern denCharakter einer sozialen Bewegung hat. Fallsder biographische Zugang bei der Rekonstruk-tion der internationalen Erwachsenenbildungs-geschichte sich weiter durchsetzen sollte, soist die systematische Sammlung, Archivierungund Verwaltung von entsprechenden Doku-menten und Daten (z. B. Audioaufnahmen) aufnationaler wie auf internationaler Ebene un-umgänglich. Dieter Nittel

Harald Geißler u. a. (Hrsg.)Organisationslernen konkret(Verlag Peter Lang) Bern, Berlin 1998, 326Seiten, DM 89.00

Die Diagnose ist korrekt: „Organisationsler-nen ist in den letzten Jahren zu einem Mo-dekonzept geworden. Die Flut von Veröffent-lichungen ist auch für Experten kaum nochzu überblicken“ (S. 35). Also wird man skep-tisch angesichts eines neuen Sammelban-des. Gerechtfertigt wäre ein solches Vorha-ben, wenn es ihm gelänge, die konstatierteLücke zwischen dem „Sammelsurium vonTips und Empfehlungen“ (ebd.) und den un-klaren Begründungshintergrund der jeweili-gen Ratschläge wenigstens ansatzweise zuschließen. Das aber ist nicht der Fall. DerBand ist in zwei Abteilungen gegliedert: Zumeinen gibt es Theoriebeiträge aus dem m. E.

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hermetischen Konzept des Organisations-lernens der „Hamburger Bundeswehr-Schule“(Geißler, Petersen, Lehnhoff, Behrmann);zum anderen werden Praxisbeispiele vorge-stellt (von Colgate Palmolive, Gruner + Jahr,Festo, einem Kfz-Zulieferer, öffentlicher Ver-waltung und ABB-AKAD). Dabei sind dieFallstudien interessant zu lesen, zeigen abergleichzeitig die Disparatheit der Zugriffe undKonzepte. Insofern ist zu prüfen, ob die Be-gründungsansätze helfen, um aus dem vonGeißler festgestellten Dilemma herauszukom-men.Geißler setzt sehr grundsätzlich an beim Be-griff Arbeit. Sie kann in seinem Ansatz „alsbewusste, intentional auf Wertschöpfung zie-lende Gestaltung der physischen, geistigenund/oder sozialen Welt gefasst werden“ (S.37). Analytisch unterscheidet er „Wahrneh-men“, „Analysieren“, „Planen/Entscheiden“und „Handeln“ als ein „Rad der vier grundle-genden Arbeitsaktivitäten“. Es fällt auf, dasseine solche formale Abfolge von „Teilaktivi-täten“ auch in einem anderen Tätigkeitsprofilanwendbar wäre. Insofern verfehlt Geißler ei-nen der gegenwärtigen Gesellschaftsformationangemessenen Begriff von Arbeit und fasstdiesen als Naturprozess. Die Unterscheidungzwischen Gebrauchswert und Tauschwert –wie sie am Beispiel des Schuhverkäufers „Ni-ke“ verdeutlicht wird, der keine Schuhe produ-ziert und trotzdem einen Umsatz von 334.000Dollar pro Mitarbeiter erwirtschaftet (Reinhard,S. 234) – ist Geißler fremd. Sein Begriff vonArbeit ist unhistorisch.Es bleibt auch merkwürdig unklar, wer eigent-lich Träger der Aktivitäten ist. Es werden Be-griffe expliziert von Wahrnehmen, Analysieren,Planen/Entscheiden, Handeln (S. 37–42) überWollen und Fühlen (S. 42–44) bis zum Glau-ben (S. 44). Diese werden dann kodifiziert als„Die sieben konstitutiven Aktivitäten des Arbei-tens“ (S. 45). Ein Rückbezug auf psychologi-sche Konzepte und Empirie findet nicht statt.Es scheint so, als ergäbe sich die Systematikaus der deduktiven Explikation der Kategori-en. Dies kann zur Begriffsklärung hilfreich sein,hat aber Anklänge von „Selbstgestricktem“. EinKonzept von Persönlichkeit, in dem die Aktivi-täten gebündelt werden, ist nicht zu erkennen.Sie bleiben akteurslos bzw. abstrakt als „je Ein-zelne“ (S. 78ff.).

Zugleich sind diese „je Einzelnen“ nur in Kun-den-Lieferanten-Ketten gefasst und ansonstenin ihrer Position in der Organisation kontext-los. Es geht um „Kooperieren in der Horizon-talen und Vertikalen der Organisationsstruktur“(S. 58ff.). Begriffe wie Hierarchie, Kontrolle undKonflikt tauchen nicht auf. Die „je Einzelnen“scheinen interessenvergessen.Insofern verwundert es nicht, dass der BegriffOrganisationslernen übergleitet in Gemein-schaftslernen. In drei Überschriften wird „Ge-meinschaftslernen/Organisationslernen“ be-nannt „als didaktisch arrangierte Ermittlungund Vermittlung“, „als Produktion neuen wert-schöpfungsrelevanten Wissens und Könnens“und „als Überprüfung und Verbesserung derKommunikations- bzw. Kooperationsbeziehun-gen“. Insofern passt dieses Konzept in einevergemeinschaftende PersonalpolitikEntsprechend werden Organisationen „alsselbstgesteuerte und selbstorganisierte Kollek-tivsubjekte“ (Petersen, S. 92) verstanden. Diesist die antihumanistische Pointe des Ansatzes.Die Kritik, er sei hermetisch, beruht auf dendrei Facetten unhistorisch, akteurslos und in-teressenvergessen. Ein Ausweg aus dem vonGeißler festgestellten Schisma von Theorieund Praxis bahnt sich hier nicht an. Aber viel-leicht ist gerade dies für die Beteiligten funk-tional. Peter Faulstich

Gesundheitsakademie/Landesinstitut fürSchule und Weiterbildung NRW (Hrsg.)Die Gesundheit der Männer ist das Glückder Frauen?(Mabuse-Verlag) Frankfurt/M. 1998, 240 Sei-ten, DM 38.80

Die Veröffentlichung basiert auf einer Fach-tagung der Akademie Bielefeld („Forum fürsozialökologische Gesundheitspolitik undLebenskultur“) und des Landesinstituts, die dieVerbreitung geschlechtsspezifischer Gesund-heitsbildung zum Ziel hatte. Angestrebt wurdedabei eine Verbindung von Gesundheits-forschung und Frauen- (bzw. Männer-)For-schung. Eine solche Verknüpfung erschienerforderlich, weil Frauen und Männer „anderskrank sind“, sich bei Krankheiten unterschied-lich verhalten, unterschiedlich informiert sind,unterschiedliche Deutungsmuster entwickelthaben, sich im Verhältnis zu ihrem Körper un-terscheiden.

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Die zehn Beiträge sind in den Fragestellungenvielfältig und verarbeiten ein umfangreichesDatenmaterial. In der Darstellung bemühensich die Herausgeberinnen um eine Textmi-schung, z. B. ein simuliertes Kneipengespräch,eine Selbstbefragung der Tagungsteilnehmen-den (vier Frauen-, eine Männer-Gruppe). Er-neut wird bestätigt, dass Frauen den „Zusam-menhang zwischen körperlichen und seeli-schen Geschehen“ stärker beachten (S. 31)und dass Männer „sportliche Aktivitäten zurFörderung ihrer Gesundheit bevorzugen“ (S.33).Einen Überblick über das Verhältnis von „Frau-enforschung und Medizin” vermittelt BeateSchücking. Sie macht deutlich, dass die „Pu-blic-Health-Fächer” in Deutschland vernach-lässigt worden sind (S. 45). Medizinische Frau-enforschung ist in Deutschland „bislang kauminstitutionell verankert” (S. 52).Andreas Haase vom „Männerbüro Bielefeld”behandelt das Thema aus Sicht der Männer fürMänner. Sein Resümee: Männer sollten ihreIdentität verändern und Gesundheitseinstel-lungen „in ihr Selbstbild integrieren” (S. 71).Hans-Udo Eickenberg und Klaus Hurrelmannberichten über Erklärungsansätze zur ge-schlechtsspezifischen Lebenserwartung. „Diedrei K´s des Mannes sind: Karriere, Konkur-renz, Kollaps” (S. 86).Ernst Rohe stellt die Ergebnisse einer empiri-schen Untersuchung über Unterschiede beider Krankschreibung und Inanspruchnahmevon Präventionsangeboten dar.Ute Wülfling thematisiert den „Sinn und Un-sinn geschlechtspezifischer Gesundheitsar-beit”. Sie weist auf die Gefahr hin, dass fürFrauen ein „Klima der Bedürftigkeit” erzeugtwird (S. 114). Der Schlusssatz dieses Beitrags:„Es fehlt eine umfassende Studie, die denKonservatismus geschlechtsspezifischerGesundheitsarbeit aufdeckt” (S. 118).Ursula Wohlfart wertet Programme zur Ge-sundheitsbildung aus. Ein Ergebnis: „Bei denzweiunddreißig Veranstaltungen für Männer anVolkshochschulen haben wir nur in zwei Fäl-len Begründungen gefunden, die nicht aufRollenklischees abzielen” (S. 126).Angela Venth und Joachim Lenz begründendie Notwendigkeit geschlechtsspezifischer An-sätze in der Gesundheitsbildung.Eine umfangreiche Literaturrecherche zumGesundheitshandeln wird von Ute Sonntag

und Beate Blättner vorgelegt. Eines ihrer Er-gebnisse: „Die Gesundheitsdiskussion nimmtauf die Geschlechtsdiskussion wenig Bezug”(S. 209). Und: „Die vorliegenden Untersuchun-gen belegen immer wieder, dass die Katego-rie Geschlecht hinsichtlich Gesundheit nurunter Berücksichtigung der Lebensbiographie,der sozialen Lage, der Arbeitsbedingungen,der Akzeptanz von Geschlechtsrollen bzw.dem Widerstand dagegen sowie kulturellerPhänomene Aussagen zulässt” (S. 210).Eine Anmerkung am Rande: Ich habe den Ein-druck, dass das Defizit-Modell in der Gesund-heitsbildung für Männer eine Renaissance er-lebt. H.S.

Jochen Greven/Walburga BorgertDas Funkkolleg 1966 – 1998Ein Modell wissenschaftlicher Weiterbildung imMedienverbund(Deutscher Studienverlag) Weinheim 1998,206 Seiten, DM 38.00

Das Funkkolleg in den Jahren 1966 bis 1998war, im Sinne des Untertitels, wirklich „ein Mo-dell wissenschaftlicher Weiterbildung im Me-dienverbund“ und als solches ein Bildungsre-formprojekt. Der Band dokumentiert Leistung,Problemstrukturen und Wandel der Motivatio-nen derjenigen, die als institutionelle Partneroder als individuelle Macher in diesem Ver-bund zusammengearbeitet haben.Die Perspektive der Lernenden wird durcheine Untersuchung von J. Kade/W. Seitter(„Zwischen Institution und Biographie“) insSpiel gebracht. Am Beispiel einer Teilnehme-rin und eines Teilnehmers wird aufgezeigt,worin die besondere Leistung derjenigen be-steht, die sich zur Teilnahme entschlossenhaben, m. a. W.: wie sie sich als kontinuierli-che Lerner konstituieren. Die insgesamt wäh-rend der Laufzeit des Funkkollegs veröffent-lichten Begleituntersuchungen können überdas Literaturverzeichnis erschlossen werden.Der Band liefert eine Bilanzierung des Funk-kollegs. Spannungen und latente Konfliktlagenwerden benannt, die Gründe für die Erfindungund Entstehung werden ebenso offengelegtwie die für die Beendigung dieses Modells.Das Themenspektrum wird aufgelistet, derwissenschaftliche Stellenwert der Themen unddes Modellversuchs wird von den seinerzeitleitend beteiligten Wissenschaftlern rückbli-

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ckend eingeschätzt. Obwohl eine Einschät-zung der Weiterbildungsrelevanz der Funkkol-legs fehlt, stellt der Band eine zuverlässigeAusgangsdokumentation für die historischeWeiterbildungsforschung dar. J.W.

Wolfgang GrilzQualitätssicherung in BildungsstättenAnleitung zur Erstellung eines Qualitätshand-buches. (Grundlagen der Weiterbildung. Ar-beitshilfen)(Luchterhand-Verlag) Neuwied 1998, 112 Sei-ten, DM 45.00.

Die Publikation ist aus einem Projekt im Rah-men des Sokrates-Programms der EU hervor-gegangen. Die Arbeitsgemeinschaft der Bil-dungsheime Österreichs führte mit Beteiligungvon Partnerorganisationen aus Deutschland,Dänemark, Italien und Liechtenstein ein Vor-haben zu Fragen des Qualitätsmanagementsin den Bildungshäusern bzw. Heimvolkshoch-schulen der beteiligten Länder durch. Das Zielwar, vorhandene Modelle zum Qualitätsmana-gement so aufzubereiten, dass sie für Bil-dungshäuser ohne großen eigenen Adaptions-aufwand eingesetzt werden können. Dabeibestand ein zentrales Anliegen auch darin, beider Konzipierung des Qualitätskonzepts dieknappen personellen und finanziellen Res-sourcen zu berücksichtigen. Dieses Vorhabenist voll gelungenDas Buch gliedert sich in zwei Teile: Der erstestellt in knapper Form die aktuell diskutiertenKonzepte zur Qualitätssicherung vor (ISO9000ff., EFQM, Investor in People, Bench-marking und Gütegemeinschaften) und reflek-tiert relevante Fragen zur Bewertung von Qua-lität (Maßstab und Gegenstand der Bewer-tung, Selbstbewertung vs. Fremdbewertung,Methoden, Ziele und Wirkungen von Bewer-tung). Der zweite Teil bietet eine konkrete An-leitung zur Erstellung eines eigenen Qualitäts-handbuches für Bildungshäuser – insbesonde-re für Internatseinrichtungen. Sie orientiert sichweitgehend am Konzept der European Foun-dation for Quality Management (EFQM) mit ih-ren fünf Kriterien zum Input und vier Ergeb-niskriterien. Es werden Vorschläge und Bei-spiele für die konkrete Durchführung der Qua-litätssicherung und -entwicklung aufgeführt.Weiter enthalten diese Kapitel Checklisten undMusterbeispiele. Der Band wird durch eine

CD-Rom ergänzt, auf der Arbeitsmaterialienabgespeichert sind.Etwas ungewöhnlich ist dabei, die gesamteAnalyse der Qualität unter dem Gesichtspunktder Erstellung eines Handbuches abzuhan-deln. Davon abgesehen aber bieten die Dar-stellung und vor allem die Fragebögen, Check-listen und Materialien eine gelungene Hand-lungsgrundlage für Einrichtungen.

Christiane Schiersmann

Sabine HellwigPolitische Bildung unter besonderer Be-rücksichtigung parteinaher Stiftungen inDeutschland und vergleichbarer Institutio-nen in Österreich(Verlag Holger Deimling) Wuppertal 1998, 383Seiten, DM 69.00

Die Tatsache, dass die parteinahen Stiftun-gen mit hohem Aufwand politische Bildungs-veranstaltungen durchführen, wirft für Außen-stehende skeptische Fragen auf: Welche Artpolitischer Bildung ist es, die in den Häusernder Konrad-Adenauer-Stiftung, der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Friedrich-Naumann-Stif-tung, der Heinrich-Böll-Stiftung, der Hanns-Seidel-Stiftung und neuerdings auch der Ro-sa-Luxemburg-Stiftung angeboten und reali-siert wird? Ist dies tatsächlich Bildung, oderist es eher Loyalitätsbeschaffung im Diensteder Mutterparteien? Was legitimiert und privi-legiert die Parteien dazu? Und wozu verwen-den sie die immensen Summen Geld, die sievom Staat dafür erhalten?Es gibt also genügend Gründe, sich der vor-liegenden Arbeit – es handelt sich um eine inder Universität Bonn angenommene Disserta-tion – zu widmen, zumal es, wie die Autorinzu Recht anmerkt, „empirische Untersuchun-gen über die Arbeit der politischen Stiftungen... so gut wie nicht gibt“ (S. 50).In ihrer facettenreichen Darstellung vertritt dieVerfasserin zwei zentrale normative Positio-nen. Einmal betont sie die Notwendigkeit po-litischer Bildung für die Demokratie und siehtals ihre „Kernaufgabe ...Wertungssicherheit“(S. 96). Dieser Anspruch jedoch, so räumt sieeinige Seiten später ein, „dürfte nur nochschwerlich zu verwirklichen sein“ (S. 120).Zum anderen weist sie den Stiftungen eineModeratorenrolle zu, „die Bürger auf die not-wendigen Veränderungen vorzubereiten“ (S.

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132). Die Bürger müssen „angeleitet (sic!) wer-den“ (S. 132), beispielsweise mit Verschieden-heiten zu leben. Das setzt Offenheit und Au-tonomie gegenüber den die Stiftungen tragen-den Parteien voraus. Diese allerdings ist nichtgegeben, vielmehr ist „(erzwungene) Politik-abhängigkeit unverkennbar“ (S. 163). DieThemenfelder der parteinahen Stiftungen „ver-weisen ... auf ihre jeweilige ideologische Aus-richtung bzw. Determinierung“ (S. 224).Dennoch kommt Hellwig am Ende ihrer Analy-se zu einem für die politische Bildungsarbeitder parteinahen Stiftungen positiven Ergebnis:Sie erfüllen nämlich ihre Aufgaben „für dasFunktionieren der parlamentarischen Demo-kratie“, leisten „wesentliche Beiträge zur politi-schen Kultur der Demokratie und demonstrie-ren dadurch, dass sie für deren Zukunftsfähig-keit sorgen, auch für ihre eigene ...“ (S. 301).An dem Widerspruch zwischen partiell kriti-schen Erkenntnissen und einer insgesamtsehr allgemeinen, rundherum positiven, deut-lich affirmativen Sicht der politischen Bil-dungsarbeit der parteinahen Stiftungen (vorallem der der Konrad-Adenauer-Stiftung) wer-den die Problematik dieser Veröffentlichungund die Schwierigkeit, ihre Folgerungen mitzu vollziehen, deutlich.Wegen der Kürze des zur Verfügung stehen-den Platzes können die zahlreichen Kritikpunk-te des Rezensenten nur knapp angemerktwerden (wobei das beim Umfang der Arbeitnicht fair ist).1. Die Arbeit ist überfrachtet mit Ansprüchen;

der Text strotzt von Zitaten und Hinweisen,das Literaturverzeichnis enthält 1.560 Ein-tragungen. Die Autorin springt punktuellvon dem einen Aspekt der einen Stiftungzu einem anderen einer weiteren Stiftung(wobei neben der politischen Bildung auchnoch die Auslandsaktivitäten und die Eli-ten- bzw. Begabtenförderungen der Stiftun-gen betrachtet werden). Völlig überladenwird das gesamte Unternehmen durch eineBetrachtung österreichischer Stiftungen,zumal dies nicht als „Vergleich“ bewertetwerden kann, denn hierzu fehlen metho-disch klare Kriterien.

2. Die Autorin, offensichtlich von einem star-ken Absicherungsbedürfnis geleitet, nähertsich mit vielen allgemeinen Aussagen undRedundanzen nur langsam ihrem eigentli-chen Thema. Bevor sie auf Seite 133 end-

lich zu ihrer wesentlichen Frage kommt,nämlich zur Förderung politischer Bildungdurch parteinahe Stiftungen, hat sie mitunendlich vielen Zitaten und höchst grund-sätzlich mit den Begriffen Politik, Kultur,Bildung und politische Bildung changiert,ohne dass dabei der direkte Stellenwert fürdie Arbeit ersichtlich ist.

3. Das Buch hat keine klare, zielgerichteteStruktur, vieles wird angetippt, das meisteschnell wieder verlassen. Eine der – leiderzu wenigen – wirklich aussagefähigen Stel-len, das Kapitel „Veranstaltungen und Teil-nehmer“ (S. 225–227), wird auf anderthalbSeiten weit unter Wert abgehandelt. Eine„Erfolgsbilanz“ (S. 227f.) parteinaher Stif-tungen wird auf einer Seite gezogen undist völlig nichtssagend.

4. Trotz der zweifelsohne beeindruckendenLiteraturfülle, auf die die Autorin zurückgrei-fen kann, unterliegt sie einer Reihe vongravierenden Fehleinschätzungen. So z. B.wenn sie als heute nach wie vor nebenein-ander existierende „Methoden“ (sic!, S. 87)der politischen Bildung die wissenschafts-theoretischen Grundpositionen normativ-ontologisch, empirisch-analytisch, kritisch-dialektisch ortet. Damit wärmt sie das alteFrontendenken der 70er Jahre auf, das defacto in der politischen Bildung heute kaumnoch eine Rolle spielt. Auch die BegriffeZielgruppe/Zielgruppenorientierung (Seite97 u. 158) sowie Alltagsleben/Alltagswelt(S. 116ff.) werden von ihr gründlich miss-verstanden. In Letztgenannten sieht sie„tatsächlich nur Werbung für konformesMitmachen, was sowieso Alltagserfahrungist“ (S. 116).

5. Die Verbalattacken gegen die PDS (S. 143)und die Grünen (S. 220) zeugen mehr vonpolitischer Parteinahme und weniger vonwissenschaftlicher Seriosität der Autorin.

Alles in allem ist leider eine eher negative Bi-lanz zu ziehen. Die Fragestellung der Verfas-serin ist notwendig und seit langem klärungs-bedürftig. Ihre Antworten fallen jedoch nur sehrspärlich aus und es bedarf eines erheblichenAufwands, um sie aus dem verschlungenenText und der disparaten Darstellung heraus-zulesen. Die Verfasserin ist an ihrer eigenenÜberambitioniertheit, jeden Winkel der Diskus-sion (auch die bereits hundertfach dargestell-ten) mit einem halben Dutzend passender

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(und oft auch nicht passender) Zitate aus-leuchten zu wollen, mehr oder weniger ge-scheitert. Ein zweiter Versuch, mit dem Mut,die Dissertation gründlich zu durchkämmen,wäre ihr und dem Publikum zu wünschen.

Klaus-Peter Hufer

Roman Herzog/Initiativkreis BildungZukunft gewinnen – Bildung erneuern(Goldmann Verlag) München 1999, 172 Sei-ten, DM 12.90

Im November 1997 hielt der damalige Bundes-präsident Roman Herzog eine vielbeachteteRede zur Bildungspolitik. Unter seiner Schirm-herrschaft gründete die Bertelsmann Stiftungim Mai 1998 einen „Initiativkreis Bildung“.Anlässlich eines Bildungskongresses im April1999 legte der Initiativkreis ein Memorandumvor. Der Bundespräsident antwortete mit sei-ner zweiten Rede zum „Megathema Bildung– vom Reden zum Handeln“. In der vorliegen-den Publikation sind die Rede Herzogs, dieEmpfehlungen des Initiativkreises sowie sie-ben Essays prominenter Politiker und Wissen-schaftler/innen und das „Bommerholzer Mani-fest“ einer studentischen Arbeitsgruppe abge-druckt.Der Initiativkreis hat sechs „Roundtables“durchgeführt (zum lebenslangen Lernen,zwei zur Qualität der Hochschulen, zu Pra-xisforderungen der Zukunft, zur Informations-gesellschaft, zu „Innenansichten des Bil-dungssystems“).Gehört wurden Vertreter/innen der Wirtschaft,der Bundesanstalt für Arbeit, der Politik undMinisterialbürokratie, der Schulen und Univer-sitäten, Stiftungen und Consulting-Büros.Hochschullehrer/innen der Erwachsenenbil-dung waren nicht beteiligt. Dennoch zieht sichdas Thema „Lebenslanges Lernen“ wie einroter Faden durch alle Arbeitsgruppen. EinBeitrag von Peter Glotz zum „lebenslangenLernen“ ist in dem vorliegenden Sammelbandabgedruckt.Es fällt auf, dass ständig von Bildung gespro-chen, dass dieser Begriff aber nicht bildungs-theoretisch „gefüllt“ wird. Es entsteht der Ein-druck: Bildung ist das, was Globalisierung,Wettbewerbsfähigkeit und Informationstechno-logien an Kompetenzen von uns verlangen.Eine „Bildungsidee“ erscheint überflüssig.Herzog fasst die Zeichen der Zeit zusammen:

„Unser Bildungssystem braucht mehr Wettbe-werb und Effizienz, mehr Eigenständigkeit undSelbstverantwortung, mehr Transparenz undeine bessere Vergleichbarkeit der Bildungs-situationen“ (S. 14).Diese lapidare Programmatik überwiegt auchin dem Memorandum: Es werden Behauptun-gen aufgestellt – meist ohne Belege – undForderungen formuliert – meist ohne Begrün-dungen und Hinweise auf die Realisierbarkeit.Es entsteht der Eindruck, als sei völlig klar,was anders und besser gemacht werdenmuss. Vieles klingt dann populistisch, z.B.:„Wir müssen die Pädagogik für das Informati-onszeitalter aber erst noch erfinden“ (S. 22).Und: „Wir brauchen in der Wissensgesell-schaft insgesamt nicht mehr zu lernen – aberwir müssen das Richtige lernen“ (S. 22).Die Thesen des Memorandums:„ I. Für eine neue Lernkultur1. Paradigmenwechsel in der Bildung einlei-

ten: lebenslang lernen2. Lernwelten erschließen: neue Medien

einsetzen3. Lebensnah lernen: die Schule in die Pra-

xis holen4. Lehrerbildung verbessern: Qualifizie-

rungsoffensive für Lehrer startenII. Für Vielfalt in Schule und Hochschule5. Freiraum geben: schulische Selbständig-

keit stärken6. Unterschiede zulassen: Schulprofile ent-

wickeln7. Bildung gemeinsam verantworten: regio-

nale Bildungsallianzen aufbauen8. Hochschulen handlungsfähiger machen:

Autonomie stärken9. Vielfalt fördern: Hochschulprofile schär-

fen10. Leistungen verbessern: Wettbewerb zu-

lassen11. Mittel effektiv nutzen: Hochschulfinanzie-

rung verändernIII. Für Qualitätssicherung12. Institutionelle Verantwortung entwickeln:

Qualität sichern13. Ausbildungsstrukturen durchlässiger ma-

chen: Angebote zertifizieren“ (S. 28ff.).Die Botschaft scheint zu lauten: Effizienzstei-gerung durch Eigenverantwortung, Leistungs-anreize und Wettbewerb. Die emanzipato-rische, gesellschaftsreformerische Semantik(Kritik, Chancengleichheit, ökologisches Be-

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wusstsein, soziale Gerechtigkeit ) ist „out“.Viele Anregungen sind ernst zu nehmen undpädagogisch weiterzudenken. Bei vielen Stich-worten ist offen, ob es sich um nachhaltigeVerbesserungen oder um modische „Wärme-metaphern“ handelt (z.B.: Modularisierung,Schlüsselkompetenzen, „Bildungspotentialeder virtuellen Netze“, „Schule in die Praxis“,Betriebspatenschaften, „Lehrerbildung modu-larisieren“, Fortbildung schulintern, Sponso-rengelder, „Wettbewerb um Studierende“,„Produktwettbewerb in der Lehre“, Finanzmit-tel an die Nachfrage koppeln, Qualität zertifi-zieren ...).Viele dieser Empfehlungen klingen zu strom-linienförmig, zu reibungslos, klingen nach „gro-ßer Koalition“. Andererseits ist es erstaunlich,dass sich der Initiativkreis in so kurzer Zeit aufeinen solchen Empfehlungskatalog geeinigthat. Ihn pädagogisch rundweg abzulehnen,weil er zu technokratisch ist, wäre arrogantund verantwortungslos.Zum Thema „Lebenslanges Lernen“ kann dieErwachsenenbildung einiges Erfahrungswis-sen beisteuern (z. B. zum Thema Schlüssel-qualifikationen und zum selbstorganisiertenLernen).Die Essays – z. T. von prominenten Politikernwie P. Glotz, R. Koch, L. Späth – sind anre-gend und lesenswert, leider aber wenig auf dieEmpfehlungen des Memorandums bezogen.Zustimmungsfähig ist sicherlich der Schluss-satz des studentischen Manifests: „Auf die Be-schwörung leerer Formeln muss endlich eineehrliche Auseinandersetzung zwischen Uni-versität und Gesellschaft folgen!“ (S.158).Doch vielleicht ist das auch wieder eine leereFormel. H.S.

Nicole Hoffmann/Antje von Rein (Hrsg.)Selbstorganisiertes Lernen in (berufs-)bio-graphischer ReflexionReihe: Theorie und Praxis der Erwachsenen-bildung(Klinkhardt Verlag) Bad Heilbrunn 1998, 199Seiten, DM 24.80

„Selbstorganisation” ist ein Schlüsselbegriff,der seit einigen Jahren in mehreren Wissen-schaftsdisziplinen – von der Chaostheorie biszur Erkenntnistheorie – und in verschiedenenPraxisbereichen – von der Organisationsent-wicklung bis zur Pädagogik – Karriere macht.

Wer geglaubt hat, dass zum selbstorganisier-ten Lernen Erwachsener nichts Neues mehrzu sagen (oder zu schreiben) ist, wird durchdieses Buch eines Besseren belehrt. Die Ideeder Herausgeberinnen ist ebenso naheliegendwie ergiebig: Professionelle Erwachsenenpäd-agog/innen, die sich meist über das Lernenund die Lernprobleme anderer Gedanken ma-chen, werden gebeten, eigene Lernbiogra-phien, Lernprojekte, Lernschwierigkeiten dar-zustellen. Sie wenden gleichsam ihre eigeneTheorie des selbst-/fremdorganisierten Ler-nens auf sich selber an. Dass dieser Transfernicht einfach ist, zeigen einige Beiträge, dieauf eine eher begrifflich-abstrakte Ebene aus-weichen.Der Band besteht aus zwei Teilen. Antje vonRein und Ursula Bredel geben einen Überblicküber Begrifflichkeiten, Begründungen, empiri-sche Befunde des selbst-/fremdgesteuertenLernens. Es wird (endgültig?) klar, dass die in-stitutionalisierte Bildungsarbeit die Selbst-organisation (inkl. Selbststeuerung) des Ler-nens nicht ignorieren kann, dass andererseitsselbstorganisiertes Lernen nicht eine Reduk-tion des Weiterbildungsangebots rechtfertigt.Ursula Bredel legt eine interessante Analyseund Evaluation des fremdbestimmten schuli-schen Lernens vor. Es ist schade, dass dieVerständlichkeit des Beitrages durch eine stel-lenweise unnötig verklausulierte Sprache be-einträchtigt wird.Die biographischen Fallbeispiele des zweitenTeils lesen sich anregend, erhellend, amüsant.Gerade die Vielfalt der „Selbstbeobachtungen”macht das Buch zu einem Leseerlebnis. Sovermittelt Günther Dohmen zugleich einen ein-drucksvollen Einblick in Lernkulturen des Zwei-ten Weltkriegs. Jost Reischmanns Beitrag istsympathisch, nicht zuletzt, weil er seine Lern-irritationen im Umgang mit dem PC beschreibt.Auch Ekkehard Nuissls Beitrag über selbst-gesteuertes Italienisch-Lernen ist sicherlich fürviele Leser/innen „anschlussfähig”, ebenso wieviele der folgenden Erinnerungen.Angesichts der Aspekt- und Perspektivvielfaltder elf Beiträge bemüht sich Nicole Hoffmannin ihrem Schlussbeitrag um Verbindungslinien.Sie klassifiziert die selbstorganisierten Projek-te im Blick auf die Handlungsstrukturen, dieBeziehungsstrukturen, die Zeit-/Raumstruk-turen.Der Sammelband enthält Geschichten einer –

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sit venia verbo – „narrativen Wissenschaft”.Vielleicht lohnt sich ein ähnlicher Band überbiographische Erfahrungen mit – eigenen undfremden – Forschungsprojekten der Erwach-senenbildung. H.S.

Arnim Kaiser/Ruth KaiserMetakognition(Luchterhand Verlag) Neuwied 1999, 183 Sei-ten, DM 32.00

Das Thema liegt gleichsam „in der Luft“. Jemehr die Selbststeuerung des lebenslangenLernens betont wird, desto mehr wächst dasInteresse an einer Förderung der Lernfähig-keit, am „Lernen des Lernens“. In einer Zeitallgemeiner pädagogischer Verunsicherungklingt „Metakognition“ wie eine geheimnisvol-le, vielversprechende Zauberformel. Währendeine materialreiche Veröffentlichung von F.Weinert/R. Kluwe über „Metakognition, Moti-vation und Lernen“ 1984 in der Erwachsenen-bildung noch weitgehend unbeachtet blieb, istnun der Begriff in aller Munde.So erscheint das Buch von Arnim und RuthKaiser zum richtigen Zeitpunkt, es enthälttheoretische und begriffliche Klärungen und er-möglicht eine realistische Einschätzung derMöglichkeiten und Grenzen dieses Konzepts.Metakognition ist ein „Denken zweiter Ord-nung“, eine Reflexion zur Optimierung der ei-genen Lern- und Denkleistungen. Metakogni-tion erinnert an das „reflexive Lernen“, auchan eine „formale Bildung“ und an Schlüssel-qualifikationen der Informationsverarbeitung.A. und R. Kaiser unterscheiden zwischen me-takognitivem Wissen als „deklarativem Aspekt“und metakognitiven Kontrollen des Lernensals „exekutivem Aspekt“. Das metakognitiveWissen bezieht sich auf Personenvariablen (d.h. die Wahrnehmung eigener Stärken undSchwächen, aber auch die der Teilnehmen-den), auf Aufgabenvariablen (d. h. Schwierig-keiten und Anforderungen der Themen undProbleme) und Strategievariablen (d. h. Tech-niken und Verfahren der Wissensaneignungund Verarbeitung). Die exekutiven Kompeten-zen betreffen die Steuerung (self regulation)und Kontrolle (monitoring) des Lernens.Zur metakognitiven Sensibilisierung werdenzahlreiche Selbstbefragungskataloge undÜbungen vorgeschlagen, die in der Bildungs-arbeit mit Erwachsenen anwendbar sind. Die

meisten empirischen Untersuchungen deutendarauf hin, dass Lernprozessse durch Meta-kognition verbessert werden. Insbesondere giltdas – den Recherchen von Kaiser zufolge –bei Lernern mit intrinsischer Motivation und „in-ternalen Attribuierungsmustern“ (d. h. Selbst-verantwortung für Lernleistungen). Zu berück-sichtigen ist, dass metakognitives Wissen be-reichsspezifisch zu differenzieren ist, d. h.,Lernfähigkeiten sind themenbezogen. Deshalbsind inhaltsneutrale Seminare über Lern-techniken auch weniger wirksam als thema-tisch integrierte metakognitive Übungen.Das Buch enthält einen Überblick über dentheoretischen und empirischen Stand zur Me-takognitionsforschung. Allerdings verschleiernviele amerikanische psychologische Untersu-chungen, dass die Unterscheidung zwischenKognition und Metakognition nicht nur un-scharf, sondern sogar größtenteils konstruiertist. Sind nicht analytisches und systemischesDenken und planmäßiges, diszipliniertes Ler-nen per se „metakognitiv“?Im zweiten Teil werden ein metakognitivesTrainingsseminar für Lehrende in der Weiter-bildung und Evaluationsprojekte zur Wirkungmetakognitiver Übungen in Seminaren der Er-wachsenenbildung (zu den Themen Arbeits-recht, Ernährung, Familie, Märchen, Sozial-recht) dargestellt.Über die Validität und Ergiebigkeit solcherquantifizierenden statistischen Befragungsin-strumente kann man streiten. Die Forschungs-ergebnisse sind m.E. nur teilweise durch dieempirischen Befunde gesichert. Auch er-scheint mir die Gegenüberstellung von „meta-kognitivem“ und „nicht-metakognitivem“ Typ zudichotomisch. Dennoch ist die Veröffentlichungin bildungspraktischer und empirischer Hin-sicht anregend und klärend. H.S.

Martina Kemper/Rosemarie KleinLernberatungGestaltung von Lernprozessen in der berufli-chen Weiterbildung(Schneider Verlag Hohengehren) Baltmanns-weiler 1998, 154 Seiten, DM 26.00

Hinter dem unscheinbaren Titel verbirgt sicheine für die aktuelle bildungspolitische Diskus-sion um selbstgesteuertes Lernen wichtigeStudie. Dargestellt werden die Ergebnisse desProjekts EUROPOOL zur Individualisierung

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und Flexibilisierung von Lernprozessen in derberuflichen Bildung, dessen innovative Ansät-ze im Rahmen von zwei wissenschaftlich be-gleiteten Lehrgängen für Frauen zur Vorberei-tung auf eine Tätigkeit im kaufmännischenBereich entwickelt und erprobt wurden.Die Autorinnen reflektieren in einem erstenKapitel die wissenschaftliche und bildungspo-litische Diskussion um Begriffe wie lebenslan-ges Lernen, Lernberatung, selbstgesteuertesLernen und Schlüsselqualifikationen, um ihreeigene Lernberatungskonzeption theoretischzu verorten. Sie liefern damit gleichzeitig einzusammenfassendes Kompendium zu denwichtigsten Aspekten der aktuellen Auseinan-dersetzung um Lehren und Lernen in der Er-wachsenenbildung.Im zweiten Kapitel werden didaktisch-methodi-sche Leitprinzipien einer Lernberatung darge-legt, die sich am mündigen erwachsenen Ler-ner orientiert, seine Voraussetzungen undLerninteressen, Erwartungen und Ängsteernst nimmt und gleichzeitig als offenes Kon-zept für unterschiedliche Zielgruppen undRahmenbedingungen verstanden wird. ZurFörderung der für die moderne Arbeitsweltbedeutsamen sozialen und personalen Kom-petenzen – so die wichtigste Aussage – istselbstorganisiertes und selbstgesteuertes Ler-nen wesentliche Voraussetzung, diese Förde-rung ist aber gleichzeitig auf den sozialenKontext des organisierten Lernens angewie-sen, weil Selbstlernkompetenzen nicht ohneweiteres vorausgesetzt werden können. Ver-bindendes Glied zwischen selbstgesteuertemund organisiertem Lernen ist die Lernbera-tung, die das Lernen des Lernens mit demLernprozess verknüpft und dabei dem Lernen-den ein hohes Mitspracherecht einräumt.Wie diese Konzeption und ihre InstrumenteLerntagebuch, Lernkonferenz, Lernquellen-pool, selbstgesteuerte und teiloffene Lern-phasen, Feedback und Fachreflexion im Pro-jekt entwickelt und erprobt werden, wird in denbeiden folgenden Kapiteln nachvollziehbar undnachahmbar dargestellt. Dabei werden auchdie Schwierigkeiten bei der Realisierung die-ses Ansatzes offen aufgezeigt.Ein solches Arrangement der „kooperativenSelbstqualifizierung“ – darauf geht dasSchlusskapitel ein – bringt nicht nur einenneuen Typ des Lernenden hervor, sondernerfordert auch einen grundlegenden Wandel

im Rollenverständnis des Erwachsenenpäd-agogen vom Lehrenden zum Unterstützerdes Lernens. Darüber hinaus sind Flexibilisie-rung und Individualisierung von Lernprozes-sen auf Bildungseinrichtungen angewiesen,die sich selbst als lernende Organisation ver-stehen.Insgesamt ein lesefreundliches Buch mit kla-rer Sprache, einem angenehmen Schriftbildund Hervorhebungen wichtiger Aussagen inKästchen. Sein Hauptverdienst dürfte darin lie-gen, neue Wege der Integration von Selbst-und Fremdlernen aufgezeigt und jene von öf-fentlichen Sparstrategien bzw. Verkaufs-interessen der Medienhersteller geleiteten ver-führerischen Begrifflichkeiten der aktuellenSelbstlerneuphorie mit Hilfe der erwachsenen-pädagogischen Empirie in ihre Grenzen ver-wiesen zu haben – was es denn auch recht-fertigt, dass das Projekt im Frühjahr diesesJahres mit dem „Preis für Innovation 1999“ desDIE ausgezeichnet wurde. Albert Pflüger

Joachim H. Knoll (Hrsg.)Internationales Jahrbuch der Erwachse-nenbildungBand 26: Die UNESCO-Weltkonferenz für Er-wachsenenbildung in Hamburg 1997, CON-FINTEA V(Böhlau Verlag) Köln u.a. 1998, 302 Seiten,DM 68.00

Die in diesem Band des Jahrbuchs der Er-wachsenenbildung thematisierte HamburgerKonferenz „markiert“ eine „Positionierung welt-weiter Erwachsenenbildung, die sich den An-sprüchen des gesellschaftlichen, ökonomi-schen und ökologischen Wandels stellt undAntworten gibt, die sich dem geographischenund kulturellen Subsidiaritätsgebot verpflich-ten“ (S. XII). Die Weltkonferenz zur Erwach-senenbildung ist bereits in vielfältigen Publika-tionen dokumentiert. Die Konferenzmaterialienliegen inzwischen auch in deutscher Sprachevor.Zu den vielfältigen nationalen und internatio-nalen „Follow-Up’s“ der CONFINTEA-Konfe-renz zählt auch diese Ausgabe des Interna-tionalen Jahrbuchs der Erwachsenenbildung.Sie enthält nicht Materialien und Ergebnisseder Konferenz, sondern konzentriert sich aufderen Vorbereitung, Ablauf und Impressionensowie ihre Einordnung in einen internationa-

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len Diskurs zur Erwachsenenbildung.Eine solche Einordnung unternehmen PeterKrug, der die Weltkonferenzen in Paris (1985)und Hamburg (auch 1997) miteinander ver-gleicht, und Hans Georg Lößl, der die Emp-fehlungen der Hamburger Konferenz mit denUNESCO-Empfehlungen für die Entwicklungder Erwachsenenbildung aus dem Jahre 1976in Beziehung setzt. Beide Autoren kommen zudem Schluss, dass die Hamburger Erklärun-gen und Empfehlungen in einem systemati-schen Kontext stehen. Bezogen auf die Inhal-te von Weiterbildung, auf Finanzierung, Qua-lität, Grundbildung, Zielgruppenansprache set-zen sich die Linien der Erwachsenenbildungs-diskussion der UNESCO konsequent fort. Er-kennbar ist der Wille aller Beteiligten, Erwach-senenbildung auf der Tagesordnung der Ver-einigten Nationen zu halten. Im Vergleich derHamburger UNESCO-Konferenz zu den Vor-gängern machen sich jedoch die unterschied-lichen Bedingungen der globalen Politik be-merkbar; so waren frühere Aussagen zur Er-wachsenenbildung stärker von den Ost-West-Auseinandersetzungen und den Nord-Süd-Gegensätzen bestimmt, während in Hamburgeher gemeinsame und komplexe Herausfor-derungen wie Ökologie und Sozialordnung be-stimmend waren.Die Entstehungsgeschichte der HamburgerKonferenz thematisiert Christine Merkel, indemsie die Herausforderungen der Erwachsenen-bildung in Afrika, Asien, Lateinamerika, Europaund der arabischen Region beschreibt und dar-aus die Triebfedern der aktuellen Diskussionableitet. Paul Bélanger, als Leiter des Hambur-ger UNESCO-Instituts und Organisator derWeltkonferenz, beschreibt seinerseits Konzep-te und Strategien im Vorfeld der Konferenz.Zu den Prozessen während der Konferenzäußert sich Josef Müller unter dem Stichwort„Internationale Kooperation und Solidarität“,sie werden jedoch auch in den „Impressionen“einzelner Beteiligter angesprochen wie etwavon Alexander Charters, Margaret Charters,Chris Duke, Paul Fordham, Budd Hall undCatherine Odora Hoppers – ein breites Spek-trum von Teilnehmenden aus Australien, Süd-afrika, Kanada, Großbritannien und den Ver-einigen Staaten.In weiteren drei Beiträgen wird auf die Follow-up-Maßnahmen zur Hamburger Konferenzeingegangen. Ursula Giere beschreibt den

Aufbau von Erwachsenenbildungs-Netzwer-ken mit dem Ziel einer übergreifenden Doku-mentation und eines Informationsservice. Lin-da King fasst die Empfehlungen und Maßnah-men zusammen, die sich der Unterstützungder kulturellen und sprachlichen Vielfalt insbe-sondere der weltweit verbreiteten Stammes-gruppen widmen. Stefan Hummelsheim undDieter Timmermann schließlich setzen sich ineinem bemerkenswerten Aufsatz mit der Fra-ge auseinander, ob die CONFINTEA-Forde-rung nach einer Bildungsinvestition von sechsProzent des Bruttosozialproduktes auch in derBundesrepublik Deutschland umsetzbar sei.Das Schwerpunktthema des InternationalenJahrbuchs der Erwachsenenbildung 26/1998ist eine wichtige Ergänzung der bereits vorlie-genden offiziellen Dokumente zur HamburgerWeltkonferenz. E.N.

Cornelia MuthErwachsenenbildung als transkulturelleDialogik(Wochenschau Verlag) Schwalbach 1998, 236Seiten, DM 42.00

Will Erwachsenenbildung heute nicht zum af-firmativen Qualifizierungsinstrument einer un-reflektierten „Modernisierung“ verkommen, giltes über die Grundlagen der Profession neunachzudenken. Es geht um die Überprüfungvon Grundannahmen dessen, wie „Erwachse-nenbildung“ heute vor dem Hintergrund derBedrohung der Grundlagen menschlicher Exi-stenz verstanden werden kann. Diese existen-ziellen Fragen werden in der Theorie meistensausgeblendet, obwohl die Evidenz dieser Not-wendigkeit spätestens seit der Rio-Konferenzdeutlich geworden und unbestritten ist.Das Buch von Muth geht der These nach, wieund warum „moderne Subjekte schon jetzt miteiner transkulturellen Lebenspraxis konfron-tiert sind, jedoch mit Monologen antworten, diedas Entwickeln globaler Verantwortung hin-sichtlich unserer Risikogesellschaft verhin-dern“ (S. 6). Im Sinne von Buber will Muth je-doch nicht „durch das Anhaften an einem Kon-zept“ (S. 7) antworten, sondern durch „unbe-fangenes Wahrnehmen“ dessen, was wir Wirk-lichkeit nennen. Diese „offenen Erkenntnispro-zesse“ sollen in Anlehnung an Bubers Dia-logphilosophie erreicht werden. Danach ist„transkulturelle Dialogik eine Form pädagogi-

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scher Interaktion, die Intersubjektivität in mo-dernen Gesellschaften und globale Verant-wortungsübernahmen für die selbstprodu-zierten Risikoumwelten erwirken will“ (S. 15).In den Blickpunkt kommt dabei die Fähigkeitdes „In-Beziehung-Setzens“, meines Erach-tens eine zentrale Kategorie jeder künftigenPädagogik. Für die vorliegende Arbeit ist Bu-bers Gesellschaftsbild Referenzsystem: „DasZwischenmenschliche ist das, was zwischenden Menschen geschieht, woran sie an einemunpersönlichen Prozess teilnehmen, was derEinzelne wohl als sein Tun und Leiden erlebt,aber diesem nicht restlos zurechnen kann“ (S.101).Muth weist dabei auf wichtige Aspekte despädagogischen Handelns gegenüber Welt,Mensch und pädagogischer Organisations-form hin. Sie stellt meines Erachtens zu Rechtfest, dass „über das Eigen- und Personwesender Pädagoginnen und Pädagogen selten of-fen und differenziert diskutiert wird“ (S. 132).Vielmehr herrsche ein „moralischer Mythos“:Dieser und „die damit verbundene Tabuisie-rung von Fehlverhalten kann bei Pädagogin-nen und Pädagogen dazu führen, kein reali-stisches Gewahrsein für ihr Selbst als Ich-Duzu entwickeln ...“ (S. 132). Im Buberschen Sin-ne beginne „jede Reflexion über das Handelnbei dem Menschen ... der offen für den Dia-log sein will“ (S. 131). Muth setzt sich abernicht nur mit der „mikrodidaktischen“ Ebeneder „Dialogik“ auseinander. Sie glaubt, dassdie „Vielfalt von Lebensformen“ heute „durcheine dialogische Haltung zu einem integralenBestandteil einer modernen Demokratie wer-den könne“ (S. 192), sie erkennt allerdingsauch, dass eine radikale „Akzeptanz“ und „Be-stätigung“ jedes einzelnen Menschen dafürdie Grundlage sind. Da diese Form von Dia-logik eine Relativierung von „Objekt-Beziehun-gen“ bedeutet und es sich damit gewisserma-ßen um eine „transzendente Bildungspraxis“(S. 199) handelt, kommen konventionelle ob-jektivistische philosophisch-pädagogischeTheorien an ihre Erklärungsgrenzen. Für un-ser Ursache-Wirkung-Denken erscheint es alsProvokation, dass „das Ich-Du jedoch nichtgefunden, sondern nur in einem aktivenPassivsein und in Demut geschieht.“ Damitbleibt es ein „Rätsel der pädagogischen Welt“.Paradoxerweise liegt die Verantwortung derPädagogen in Bildungsveranstaltungen darin,

die Verhaftung am Ich-Es zu thematisieren,wenn zum Beispiel die resignative Grundstim-mung „Es wird sich sowieso nichts ändern“ die„Übergangsfähigkeit“ begrenzt.Cornelia Muth hat in ihrem Werk überausgründlich die Relevanz der pädagogischen Im-plikation des Buberschen Werkes für die Er-wachsenenbildung als transkulturelle Dialogikuntersucht. Das ist insofern verdienstvoll, alsdie Qualität der Auseinandersetzung mit dem„Zwischenraum“, den Beziehungen im Feldvon Personen und Praxis, bislang vernachläs-sigt worden ist. Gerade die wachsende Bedeu-tung, die heute dem Rahmen, den pädagogi-schen Institutionen, zukommt („Haus des Ler-nens“) und das Scheitern vieler konventionel-ler Veränderungsprojekte machen dies zurProblemstellung. Die Frage der persönlichenVerantwortung und des wirklichen Wollens inder Welt scheint damit eine zentrale Reflexi-onsebene zu sein.

Johannes F. Hartkemeyer

Sigrid Nolda/Klaus Pehl/Hans TietgensProgrammanalysenProgramme der Erwachsenenbildung als For-schungsobjekte(DIE) Frankfurt/M. 1998, 236 Seiten, DM 30.00

Gedruckte Programme von Einrichtungen derErwachsenenbildung sind eine vorzüglicheMaterialquelle zur Erforschung des „themati-schen Universums” einer Epoche, der sozial-historischen Veränderung von Lerninteressenund Lernanforderungen, von Zielgruppen undVeranstaltungsformen, von Umgangsformenund sozialästhetischen Präferenzen. Vor allemVolkshochschulprogramme ermöglichen zeit-liche und regionale Vergleiche.So ist es zu begrüßen, dass in der Reihe „DIEAnalysen für Erwachsenenbildung” ein Banderschienen ist, in dem „Programme der Er-wachsenenbildung als Forschungsobjekte“ be-handelt werden. Klaus Pehl beschreibt dieMöglichkeiten, das Programm-Archiv des DIEzu nutzen, und zwar sowohl für Forschungs-zwecke als auch für bildungspraktische Anre-gungen. Pehls Übersicht über die Themen bis-heriger Programmanalysen lässt interessan-te makrodidaktische Schwerpunkte undTrends erkennen.Hans Tietgens stellt die Programmanalysendar, die in den vergangenen Jahren in dem In-

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stitut (großenteils von ihm selber oder auf sei-ne Anregung hin) durchgeführt worden sind.Er unterscheidet mehrere Funktionen solcherAuswertungen: als historische Dokumente, alspolitische Argumentationshilfen, als Planungs-anregungen, als Grundlage für didaktische Re-flexionen. Mehrfach ausgewertet wurden – seit1973 – psychologische Fragestellungen vonVHS-Seminaren im Wandel der Zeiten.Sigrid Nolda reflektiert Programmanalysen ausder Sicht qualitativer Sozialforschung. Mit Hil-fe vieler Beispiele werden die Möglichkeiteninterpretativer Forschungsmethoden, insbe-sondere auch mikrologischer Verfahren, in derErwachsenenbildung deutlich. Erläutert wer-den semiotisch-textanalytische, inhaltsanaly-tische, strukturalhermeneutische und diskurs-analytische Zugänge. Verknüpfungen zur Kon-struktivismus-Debatte liegen auf der Hand,denn auch „Bildungsinhalte werden konstru-iert“ (S. 205).Angesichts des Booms an mehr oder wenigerergiebigen „Teilnehmer/inneninterviews“ undZufriedenheitsbefragungen plädiere ich dafür,dieses Buch für erwachsenenpädagogischeEmpirie-Seminare nachhaltig zu nutzen.

H.S.

Ekkehard Nuissl/Christiane Schiersmann/Horst Siebert (Hrsg.)Pluralisierung des Lehrens und LernensReihe: Theorie und Praxis der Erwachsenen-bildung(Klinkhardt Verlag) Bad Heilbrunn 1997, 269Seiten, DM 24.80

Mit dem Stichwort „Pluralisierung“ versuchendie Herausgeber das Lebenswerk von Johan-nes Weinberg zu charakterisieren. In den ein-zelnen Beiträgen des Readers – manche mitumfangreichem wissenschaftlichem Apparat,manche als Diskussionsbeiträge – gelingt diesdurchaus. Überwiegend an Beispielen aus derBildungsarbeit in Volkshochschulen und imgewerkschaftlichen Bereich zeigen Schülerund Arbeitspartner aus Wissenschaft und Pra-xis der Erwachsenenbildung auf, wie sie An-regungen des Hochschullehrers für Erwach-senenbildung an der Universität Münster auf-genommen und umgesetzt haben. Aus derSicht des Rezensenten ließen sich die Wegeder Anregung durch Weinberg noch weiterrei-chend aufzeigen, auch in den betrieblichen

und kirchlichen Bereichen des pluralen Spek-trums der Erwachsenenbildung, in die hineinWeinbergs Anregungen – teilweise vielleichtdurchaus im Sinne nicht in jeder Hinsicht in-tendierter Nebenwirkungen – ausgestrahlthaben. Dies im Einzelnen nachzuzeichnenerlaubt der für diese Rezension vorgegebeneUmfang nicht.Hervorzuheben ist die Würdigung des Bei-trags, den Weinberg zur Profilierung der Wis-senschaft und der Erwachsenenbildung geleis-tet hat. Er zeigt sich prägnant in den biogra-phischen und bibliographischen Daten sowiein der Wiedergabe eines Dialogs zwischen Jo-hannes Weinberg und Horst Siebert über fürdie Erwachsenenbildung relevante Zeitgängein den zurückliegenden Jahrzehnten und überWeinbergs Positionen in diesen Kontexten.Darin wird manches deutlich, woran sich inverdienstvoller Weise auch einige Autoren desReaders orientieren. Sehr umsichtig erarbei-tete Stellungnahmen haben John Erpenbeckund Wilhelm Mader beigesteuert. Ersterer be-handelt die vielbeschworene Vermittlung vonSinn und Werten über Bildungsveranstal-tungen. Bei letzterem geht es um Bezugspunk-te didaktischen Handelns in einer Situation, inder im Kontext des modischen Konstruktivis-mus markante Anhaltspunkte ihre Konturenverlieren – so etwa das „didaktische Dreieck“.Je mehr Lehren und Lernen als individuelleAushandlungsprozesse verstanden werdenund als hermeneutische Vorgänge, in derenRahmen Parkettsicherheit und Beheimatunginnerhalb von Überlieferungskontexten ge-wonnen wird, um so subjektiver und weiter ge-streut erscheint die Fülle der Realisierungen.Folgerichtig geraten objektivierbare Musterdes Lehrens und Lernens zunehmend inZweifel. Mit der Pluralität in den Feldern desLernens stellt sich auch eine Pluralität von di-daktischen Kategorien ein, die man denselbstgesteuert lernenden Erwachsenen alsAnhaltspunkt und Spiegel entgegen haltenkann – je nach Situation. So kann Didaktik zueiner Korrekturinstanz für Sozialisations-ergebnisse geraten, die dafür sorgt, dass dieWelt nicht bleibt, wie sie ist. Es liest sich an-regend, wie Mader da argumentiert, Weinberginterpretiert und die Didaktik in die Gesell-schaft jener bringt, die nach Sinn fragen. Da-mit schließt sich der Kreis zu ErpenbecksFeststellung, dass „die Schwierigkeiten der

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Wissensvermittlung und Wissensaneignungverblassen“ vor der Aufgabe der Wertorientie-rung.Der Band enthält außerdem mir unterschied-lich lesenswert erscheinende Beiträge, die ichhier leider nur nennen kann: Hans Tietgens(Von der Lehrforschung zur Mediendidaktik),Sylvia Kade (Ethos selbstbestimmten Ler-nens), Wiltrud Gieseke (Weiterbildungsbera-tung), Johannes M. Sauer (Kompetenzent-wicklung), Volker Heyse (Das Lernen lernen),Peter Faulstich (Anthropologische Aperçus),Rainer Brödel (Reflexivität arbeitsmarkt-orientierter Bildung), Wolfgang Jütte (Studiumder Erwachsenenbildung), Peter Krug (Weiter-bildung als Zukunftsfaktor), Detlef Kuhlenkamp(Weiterbildungsgesetze/Weiterbildungs-chancen), Richard Merk („Herausgefordert“),Gerhard Breloer (Leitungskompetenz), Elisa-beth Fuchs-Brüninghoff (Was hat eine Blech-ente mit Wissenschaft zu tun?), Maria Gierse-Westermeier (Zwischen Studium und Beruf),Georg Hansen (Ethnisch, sprachlich, kulturellplurales Europa), Heinz Theodor Jüchter (Kul-tur). Die Aufzählung gibt die fortlaufende Rei-hung der Beiträge wieder.Den Herausgebern ist ein Band gelungen, derdie Stärken und die Schwächen einer Fest-schrift vereint. Da der Kristallisationspunkt diePersönlichkeit Johannes Weinbergs ist, erhal-ten die Sachbeiträge ihre Akzentuierung mehraus diesem persönlichen Bezug als aus einersachbezogenen Systematisierung des Rah-menthemas. Gerade so fügen sich aber diebehandelten Aspekte zu einer Würdigung derPerson und der Lebensleistung von JohannesWeinberg. Ernst Prokop

Ortfried SchäffterWeiterbildung in der Transformations-gesellschaftZur Grundlegung einer Theorie der Institutio-nalisierung(AG QUEM) Berlin 1998, 308 Seiten, kosten-los

Die vom Bundesministerium für Bildung undForschung geförderte ArbeitsgemeinschaftQUEM (Berlin) beauftragte den Autor mit ei-nem Gutachten über die Grenzen institutiona-lisierten Lernens. Entstanden ist eine erzie-hungs- und sozialwissenschaftlich anspruchs-volle Studie, indem das ursprüngliche Thema

„in einen grundlagentheoretischen Erklärungs-zusammenhang von Erwachsenenlernen“ (S.281) hineingestellt wird. Schäffter entfaltet ei-nen umfassenden Problemhorizont, welcherauf eine systemtheoretische, organisationsso-ziologische und modernisierungstheoretischeStandortbestimmung der Weiterbildung hin-ausläuft. Mit dem Ausdruck „Transformations-gesellschaft“, ist nicht allein der spezifische,tiefgreifende Wandel in den östlichen Länderngemeint. Darüber hinaus geht es ihm um dieLatenz und Manifestation der Weiterbildungbzw. des lebenslangen Lernens in der entfal-teten modernen Gesellschaft schlechthin. Da-bei lehnt er sich frei an das offene Theorem„reflexiver Modernisierung“ bzw. „reflexiver Er-ziehungswissenschaft“ an.Ausgangsüberlegung ist, dass in gesellschaft-lichen Umbruchsituationen der gewohnte Leis-tungsvorteil institutionalisierten Lernens verlo-ren gehen kann, weil die Passungsverhält-nisse gegenüber den gesellschaftlichen Vor-aussetzungen und Lernbedarfen nicht mehrstimmen. Das Krisenhafte gegenwärtigerTransformation bestehe gerade darin, dass„auf neue Entwicklungen mit herkömmlichenInstrumenten reagiert wird“ (S. 19). Davon istauch das Weiterbildungssystem betroffen, weiles keine externe Instanz zur Bewältigung ge-sellschaftlicher Problemlagen mit pädago-gischen Mitteln darstellt, sondern selbst Re-sonanzboden der Transformationsgesellschaftist. Insofern sind Grenzen institutionalisiertenLernens häufig „auch symptomatischer Aus-druck eines übergeordneten Strukturwandels“(S. 275). Die Antwort auf Krisen oder mangeln-de Funktionstüchtigkeit etablierter Weiterbil-dung ist nun keineswegs der Verzicht auf or-ganisierte Bildung oder ihre gänzliche Rück-verlagerung in die Gemengelage des Alltags;Schäffters Alternative heißt „Herausbildungneuartiger Formen der Institutionalisierung imeigenen Funktionssystem“ (S. 275). Hierbeisind zwei Grundkontextuierungen des Lernenszu beachten, indem zwischen alltagsgebun-denem und funktionalem institutionalisiertemLernen unterschieden wird. Beide Seiten sindheute in eine differenzierte systemische Kon-zeption von Weiterbildung als Perspektivenaufzunehmen und „von einer übergeordnetenEbene wissenschaftlicher Beobachtung“ (S.282) rekonstruktiv zu erschließen. Die Fixie-rung des erwachsenenpädagogischen Blicks

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auf funktional institutionalisierte Lernstrukturensoll aufgelöst werden, so dass die Strukturenalltagsgebundenen, mitlaufenden Lernensbewusster als bisher wahrgenommen werdenkönnen.Abschließend wird für eine „reflexive Institu-tionalisierung“ der Erwachsenenbildung plä-diert, was zum einen meinen kann, dass einhöherer Grad an adressatenbezogener Ver-netzung oder Bezugnahmen zwischen unter-schiedlichen Institutionalformen der Erwach-senenbildung in einer Region herzustellen sei.Zum anderen wird dieses Paradigma in einemprofessionstheoretisch engeren Sinne dreidi-mensional operationalisiert: als professionel-le Selbstbeschränkung, als institutionelle För-derung alltagsweltlichen Lernens und als pro-fessionelle Metakompetenz, die den „Kontext-wechsel zwischen alltäglichen Lernzusam-menhängen und didaktisierten Lerngelegen-heiten“ (S. 280) zum Reflexionsgegenstandmacht.Schäffters Arbeit bietet in der großen Linie einespannende, voraussetzungsreiche und her-ausfordernde Lektüre. Die Studie dürfte auchaußerhalb der Erwachsenenpädagogik auf In-teresse stoßen, weshalb ihr ein Vertrieb überden Buchhandel zu wünschen wäre.

Rainer Brödel

Beate SchreiberSelbstreguliertes LernenEntwicklung und Evaluation von Trainingsan-sätzen für Berufstätige(Waxmann-Verlag) Münster u.a. 1998, 242Seiten, DM 49.90

Bei dem Buch handelt es sich um eine Dis-sertation im Kontext der Instruktionspsycho-logie an der Pädagogischen Hochschule Er-furt. Erschienen ist es in der Reihe „Pädago-gische Psychologie und Entwicklungspsycho-logie“ als Band 8.Ziel der Arbeit ist es, „Ansätze zur Förderungdes selbstregulierten Lernens Berufstätiger zuentwickeln und zu evaluieren“ (S. 187). Zu die-sem Zweck arbeitet die Autorin die Bedeutungvon Lernstrategien für selbstreguliertes Lernenheraus, das sie als eine „übergeordnete“ Lern-strategie beschreibt. Dieser untergeordnetsind etwa Strategien zur Planung und Orga-nisation des Lernens, zur kognitiven Verarbei-tung und zur Motivierung, welche sie zur

Grundlage einer eigenen Fragebogenstudie imüberbetrieblichen Ausbildungszentrum Elms-horn macht.An der untergeordneten Lernstrategie des„Mapping“ beschreibt die Autorin beispielhaftdie Entwicklung eines Trainingsprogramms, indem die Regulation des Strategieeinsatzeserlernt wird. Die Trainingsevaluation „zeigt ei-nen statistisch signifikanten Effekt des Trai-ningsprogramms sowohl auf den Erwerb vondeklarativem und prozeduralem Wissen überdie Lernstrategie wie auch auf den Wissens-erwerb bei der Bearbeitung eines fachbezo-genen Lehrtextes“.Theoretisch legt Beate Schreiber einen Lern-begriff zugrunde, der eine zielgerichtete undkonstruktive Aktivität beschreibt, die durch imLerner liegende Bedingungen bestimmt undauf vielfältige Weise vom Lerner selbst regu-liert wird: „Lernen kann ... erst dann erfolgreichsein, wenn der Lerner über genügend Kom-petenzen zum Lernen verfügt“ (S. 5). Die Au-torin ordnet diese theoretische Grundpositionin bestehende Forschungsrichtungen ein, in-dem sie „invisible colleges“ über bibliome-trische Verfahren zum Thema selbstregulier-ten Lernens ermittelt. Diese Situationsanaly-se deutsch- und englischsprachiger Beiträgeversucht, Forschungsrichtungen über die De-finition von „Schulen“ zu ermitteln.Bereits in dieser Definition des Begriffs „selbst-reguliertes Lernen“ und der Analyse von For-schungsrichtungen (S. 9ff.) fällt auf, dass dieerziehungswissenschaftliche Diskussion desThemas und insbesondere diejenige in derWeiterbildung gänzlich ausgeblendet bleiben.Die Begriffe „selbstgesteuertes“, „selbstbe-stimmtes“ und vor allem „selbstorganisiertesLernen“ werden zwar einmal mit aufgezählt (S.9), im weiteren aber – einschließlich ihres je-weiligen erziehungswissenschaftlichen Kon-textes – nicht beachtet.Die vielfach feststellbare und bedauerlichewechselseitige Ignoranz von Lernpsychologieund Erziehungswissenschaft, insbesonderewas das Lernen Erwachsener angeht, be-stimmt auch das ganze Buch. Sowohl die ein-gesetzten Fragebogen als auch das beispiel-haft diskutierte Trainingsprogramm zum„Mapping“ reflektieren nicht den Stand der Er-kenntnisse über Vermittlungs- und Aneig-nungsprozesse bei Erwachsenen und habendaher erziehungswissenschaftlich gesehen

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nur begrenzten Wert. Mitgeteilte Ergebnissewie etwa: „Selbstreguliertes Lernen bedeutetletztlich, dass der Lerner sein eigener Lehrerist“ (S. 188), „Trainingsprogramme sollten zumeinen vermitteln, was zum erfolgreichen Ler-nen überhaupt reguliert werden muss“ und„wie sie (die Lerner) bei der Regulation ihresLernens vorgehen können“ sind daher entwe-der strittig oder banal. Die von der Autorinempfohlene Anschlussfähigkeit des Trainings-ansatzes an Weiterbildungsprogramme des„lebenslangen Lernens“ ist daher eher zwei-felhaft. E.N.

Manuel Schulz u. a. (Hrsg.)Wege zur GanzheitProfilbildung einer Pädagogik für das 21. Jahr-hundert(Deutscher Studienverlag) Weinheim 1998,480 Seiten, DM 89.00

Es ist ein voluminöses Werk im Umfang von480 Seiten, das hier zum 25. Jahrestag desFachbereichs Pädagogik der Universität derBundeswehr Hamburg und zum 60. Geburts-tag des dort wirkenden Professors FriedrichHäberlin vorgelegt wird. Das Buch ist anspre-chend gestaltet und gebunden und wurde ge-druckt mit Unterstützung der Universität derBundeswehr Hamburg, der Gesellschaft derFreunde und Förderer der Universität der Bun-deswehr Hamburg und des Instituts der Deut-schen Wirtschaft in Köln. Es enthält insgesamtzweiunddreißig Aufsätze zu den unterschied-lichsten Aspekten von Weiterbildung, betrieb-licher Bildung und Hochschulbildung.Wie immer bei Sammelbänden, die ihr Zustan-dekommen dem Fokus einer Institution oderPerson (in diesem Fall beidem) verdanken,fällt es schwer, einen inhaltlichen roten Fadenzu finden. Vielfach verbinden sich einzelneBeiträge, äußerlich erkennbar, miteinander nurüber den institutionellen Bezug zur Bundes-wehrhochschule in Hamburg oder zur Personvon Friedrich Häberlin. Die drei Entwicklungenin unserer Gesellschaft, die nach Ansicht derfünf Herausgeber eine vorrangige Auseinan-dersetzung rechtfertigen, sind „die Stellungdes Subjekts in einer Gesellschaft, die vonstarken Wandlungsprozessen gekennzeichnetist“, „die moderne Arbeitswelt, die mit neuen(?) Wert- und Managementkonzepten“ Einflussnimmt, und „die Bildungspolitik, die ... in einer

Deklamationsohnmacht zu versinken droht“(S. XI). Nicht diesen Entwicklungen jedochfolgt die Präsentation der „gemeinsamen Ar-beit ..., in der das Selbst- und Aufgaben-verständnis aktueller und zukünftiger pädago-gischer Arbeit zusammengetragen, diskutiertund für Herausforderungen der Zukunft zumin-dest ausschnittweise weitergedacht werdensoll“, sondern sieben Abschnitten, die in ihrerBreite die Heterogenität des Bandes verdeut-lichen:– Pädagogik in der erziehungswissenschaft-

lichen Diskussion,– Identitätsbildung und Subjekthaftigkeit,– Profilbildung in der modernen Arbeitswelt,– Pädagogik als Anwendungswissenschaft,– bildungspolitische Anstöße für den gesell-

schaftlichen Modernisierungsprozess,– Pädagogik in der Kontroverse – das Bei-

spiel Berufsbildung,– Hochschulentwicklung als pädagogische

Herausforderung.Die meisten Beiträger sind Angehörige desFachbereichs Pädagogik der Universität derBundeswehr Hamburg (gewesen) oder demFachbereich aus gemeinsamen Projekten ver-bunden. Sie tragen aus ihrem jeweiligen Ar-beits- und Forschungsbereich dazu bei, diepädagogische Ganzheit wieder zu entdeckenund wieder herzustellen, wie dies die Heraus-geber im Geleitwort postulieren (S. XIII).Da die Ganzheit zwar als Profilbildung einerPädagogik für das 21. Jahrhundert angepeilt,nicht jedoch in Konzept und Aufbau des Sam-melbandes wiederzufinden ist, bedarf es ehereines mosaikartigen Zusammenfügens vonBeiträgen, die mit Blick auf eine solche Ganz-heit (aber nur ganz subjektiv) interessant seinkönnten.Mir sind dabei vor allem drei Beiträge aufgefal-len. Der erste ist von Gisela Miller-Kipp und be-schäftigt sich mit der Erziehungswissenschaftzwischen Theorie und Praxis mit dem Untertitel„Zur Funktion und aktuellen Lage einer konsti-tutiven Dialektik“ (S. 19ff.). Die Autorin entwi-ckelt dabei die Wechselbeziehung zwischender Erziehungswissenschaft und päd-agogischen Arbeiten sowohl historisch alsauch systematisch. Sie benennt die Verknüp-fungen, aber auch die auseinanderstrebendenWidersprüche und Zielkonflikte. Ihr Ergebnis:„Die disziplinäre Identität ist unklar und ihreEntwicklung zwischen Theorie und Praxis of-

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fen“ (S. 28), und sie folgert, dass das Beharrenauf Theorie erneut historischen Grund habe:„Das dürfte dem praktischen Zeitgeist einNachdenken wert sein“ (S. 28). Ein beherztesPlädoyer, das auch gerade in der von prakti-schen Inanspruchnahmen gebeutelten Er-wachsenenbildung Aufmerksamkeit verdient.Auch der zweite Aufsatz wurde von den Her-ausgebern dem ersten Kapitel „Pädagogik inder erziehungswissenschaftlichen Diskussion“zugeordnet. Es handelt sich um den Beitragvon Rainer Dieterich zum Thema „Pädagogik-folgenabschätzung: Versatzstücke zu einemDesiderat pädagogischer Professionalisie-rung“ (S. 69ff.). Seine „Versatzstücke“ sind Er-ziehungsstilforschung, school effectivenessund die ökonomische Pädagogikevaluation.Vielleicht ist der Gedanke, im Zuge einer Päd-agogikfolgenabschätzung die Anzahl der er-lebten Deutschstunden mit der durchschnittli-chen Anzahl erfolgloser Bewerbungen zu kor-relieren oder aber die Zahl der absolviertenMathematikstunden mit der Arbeitslosenstati-stik, nicht so wichtig. Aber: Hier wird ein ge-samtgesellschaftlicher Blick auf die Folgenpädagogischer Arbeit verbunden mit einer Kri-tik kurzfristiger Erfolgs- und Wirkungsmes-sung.Der dritte Beitrag schließlich stammt von Wil-helm Tielker und beschäftigt sich mit dem zeit-los emanzipatorischen Leitmotiv Nicolo Ma-chiavellis: Der Mensch als seines eigenenGlückes Schmied (S. 113ff.). Schon die Erin-nerung an die Kategorien „Fortuna“ und „Vir-tù“, eingebettet in einen pädagogischen Kon-text, der Selbstentfaltung und Fremdbestim-mung reflektiert, ist in der heutigen Weiterbil-dung wertvoll. Darüber hinaus aber ist der Auf-satz ein – in der deutschen Wissenschaft sel-ten anzutreffen – schwungvoll geschriebenesStück narrativer Wissensrekonstruktion.Direkt auf Erwachsenen- und Weiterbildungbezieht sich etwa die Hälfte der Beiträge. Esgeht dabei um das lebenslange Lernen, Or-ganisationsentwicklung, Kompetenzentwick-lung und die Integration von Lernen und Ar-beiten, um einige Beispiele zu nennen. Allesin allem: Es lohnt sich ein Stöbern in diesemumfänglichen Sammelband. E.N.

Horst SiebertPädagogischer KonstruktivismusEine Bilanz der Konstruktivismusdiskussion fürdie Bildungspraxis(Luchterhand Verlag) Neuwied, Kriftel 1999,209 Seiten, DM 32.00

Der Konstruktivismus als vieldiskutierte Basis-theorie hat nun endgültig die Pädagogik er-reicht; es ist sogar schon so weit, dass eineBilanz gezogen wird. Dabei stellt sich die Fra-ge, ob der Konstruktivismus klare und eindeu-tige Bilanzen überhaupt zulässt.Eine Kernthese des Konstruktivismus lautet:Wir erkennen die externe Welt nicht, wie siewirklich ist, sondern wir konstruieren gemein-sam mit anderen eigene Wirklichkeiten, dieein „viables“, angemessen erscheinendes und„irgendwie passendes“ Handeln ermöglichen.Auch Lernen ist eine selbstgesteuerte, biogra-phisch geprägte Aktivität, die zwar von außenangeregt und ermöglicht, nicht aber organi-siert werden kann. Die Erkenntnis erscheint„in“, dass traditionelles Lernen „out“ ist – viel-mehr habe eine Ermöglichungsdidaktik dieErschließungskompetenzen Lernender zu för-dern. Konstruktivistisches Denken fordert demgemäß nicht nur zu Perspektivenwechsel und-vielfalt heraus; sie ist darüber hinaus unbe-quem und störend, wenn es um strikte Ein-deutigkeit geht. „Vorwürfe gegenüber demKonstruktivismus lauten ‚Nichtverstandenes‘,‚gedankliche Verwirrung‘, ‚manipulatives Argu-mentationsmuster‘, ‚vom CIA finanziert‘, ‚De-montage sinnvollen Lernens‘, ‚Ich-Hörigkeit‘,‚Apotheose der Subjektivität‘, ‚wirre Ideen“ ...(S. 195). Die Besserwissenden signalisierenauf diese Weise, dass der Konstruktivismuserledigt sei.Horst Siebert gliedert seine Ausführungen zumpädagogischen Konstruktivismus in acht Ab-schnitte:1. In den konstruktivistischen Grundlagen

werden die Begriffe Lernen, Lehre undViabilität in den Mittelpunkt gestellt.

2. Auszüge aus Gesprächen und Interviewsbeleuchten die unterschiedlichsten Bezü-ge und Auswirkungen der konstruktivisti-schen Diskussion: von Kant bis zu neuenLernmethoden.

3. Der dritte Abschnitt systematisiert Lern-anlässe und Lernaktivitäten, von der Kon-textualität des Lernen über Selbstorgani-

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sation bis zu „Wissen“ als konstruktivisti-schem Schlüsselbegriff.

4. Auch das Bildungsmanagement und dieOrganisationsentwicklung können angeregtund weitergedacht werden.

5. Der Konstruktivismus zeigt seine „Anre-gungskompetenz“ gerade im Bereich derMethoden: kognitive Landkarten, Erschlie-ßungsmethoden und Chreodenanalysesind nur einige Stichworte.

6. Wissenschaft selbst ist – aus der Sicht desKonstruktivismus – eine „Beobachtungzweiter Ordnung“. Welche wissenschafts-theoretischen Implikationen sind neu?

7. Der abschließende „Blick zurück nachvorn“ bündelt die Argumente für einen päd-agogischen Konstruktivismus und weistWege in die neuen Aufgaben.

8. Ein Glossar zu wichtigen Begriffen und einumfangreiches Literaturverzeichnis bildenden endgültigen Schluss.

Besonders zu würdigen sind die von Horst Sie-bert geführten Interviews. Aus den unter-schiedlichen wissenschaftlichen Bezugs-feldern werden Kritik und Zweifel, aber auchdie hervorragende Bedeutung des Konstruk-tivismus genannt:– „Den sozialen Veränderungen entspricht

die konstruktivistische Erkenntnisweiseebenso wie die zweistufige postchristlicheMoral“ (S. 52, Detlef Horster).

– „Wenn man diese Position teilt, ist man et-was klüger, aber auch etwas verwirrter hin-terher“ (S. 62, Hartmut M. Griese).

– „Sätze sind Sätze, nicht die Realität“ (S. 64,Thomas Ziehe).

– „Es geht mir um das Aufbrechen von star-ren Wirklichkeitskonstruktionen“ (S. 72,Rolf Werning).

– „Es besteht die Neigung zu sagen: ‚Das isteben mein Konstrukt‘“ (S. 77, Asit Datta).

Die Veröffentlichung bietet sich so als sehr gu-te Ersteinführung in den Konstruktivismus undals Hinführung zu neueren pädagogischenFragestellungen an. Sie erschließt wesentlicheIdeen und Begründungszusammenhänge.Und sie nimmt sich aus der geforderten Refle-xivität selbst nicht heraus. Zudem ist das Bucheine „Findhilfe“ für die wesentlichen Bezugs-texte und ein Ideen-Pool für die weitere wis-senschaftliche Auseinandersetzung (Wissen-schaft als Beobachtung zweiter Ordnung undwünschenswerte Forschungsdesigns).

Bei alledem treten Fragen nach „richtig“ und„falsch“ in den Hintergrund; „wichtiger er-scheint die Frage, ob die konstruktivistischePerspektive pädagogisch anregend und ‚via-bel‘ ist“ (S. 196). Den von Horst Siebert zu-sammengestellten und -gefügten Argumentenist „viel Erfolg“ zu wünschen, wenn sie denn„lebensdienlich“ sind – in den gemeinsam mitanderen konstruierten Lerneinrichtungswirk-lichkeiten meines Umfeldes gibt es zahlreicheHinweise darauf.

Martin Beyersdorf

Werner Stark/Thilo Fitzner/ChristophSchubert (Hrsg.)Wer schreibt der bleibt! – Und wer nichtschreibt?(Klett Verlag) Stuttgart u.a. 1998, 234 Seiten,DM 24.80

Bei dem Band handelt es sich um eine Do-kumentation der internationalen Fachtagung„Wer schreibt, der bleibt! – Und wer nichtschreibt? Gesellschaftspolitische, pädagogi-sche und persönlichkeitsbildende Aspekte desSchreibens als Beiträge zur Überwindung desAnalphabetismus und Sicherung einer Grund-bildung für alle“, veranstaltet von der Evange-lischen Akademie Bad Boll im November1996.Im ersten Teil werden „GesellschaftspolitischeAspekte des Schreibens“ aufgezeigt. So gehtUlrich Lübke auf die „Bedeutung des Schrei-bens im Rahmen des schulischen Erziehungs-und Bildungsauftrags“ ein, während JürgenGenuneit einen kulturgeschichtlichen Über-blick über die „Macht des Schreibens“ und die„Ohnmacht des Analphabeten“ gibt, was z. T.durch literarische Beispiele veranschaulichtwird.Im Mittelpunkt des zweiten Teils – dem Haupt-teil – stehen Beiträge, die sich mit den Ergeb-nissen der OECD/IALS Studie „Literacy, Eco-nomy and Society“ beschäftigen, der ersten in-ternationalen Untersuchung von Grundqua-lifikationen Erwachsener, die lebhafte Diskus-sionen ausgelöst hat. Albert Tuijnman, Prin-cipal Administrator der Studie bei der OECD,äußert sich zur „Schriftkundigkeit in verglei-chender Perspektive aus der Sicht der OECD“.Zunächst stellt er den politischen Zusammen-hang dar, der den Ausgangspunkt der Studiebildete: „... ein geringes Niveau der Schrift-

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kundigkeit in großen Teilen der Bevölkerung[bedroht] die Wirtschaft und beeinträchtigt diesoziale Stabilität eines Staates“ (S. 45). Wei-terhin führt er aus, wie sehr sich das Verständ-nis von der Bedeutung der Schriftkundigkeitverändert hat. Er beschreibt den Aufbau derStudie und stellt die Ergebnisse vor.Von einem besonderen Interesse sind die Aus-führungen von Mats Myrberg aus Schwedenzum „Matthäus-Effekt“, denn Schweden hat inder o. g. Studie „bessere“ Ergebnisse als an-dere Länder erzielt. Er beschreibt charakteri-stische Merkmale der schwedischen Gesell-schaft, die zum hohen Niveau der Schriftkun-digkeit beigetragen haben könnten: „Mas-senbewegungen“ wie die Gewerkschaftsbe-wegung – Mitglieder sind mit häufig wieder-kehrenden Lese- und Schreibpflichten befasst.Neben dem „Schwedischen Studienkreis De-mokratie“, der jährlich ca. 2,5 Millionen Besu-cher zu verzeichnen hat, sind sowohl dasErwachsenenbildungs- als auch das Schulsy-stem von besonderer Qualität.Rainer H. Lehmann, Deutscher Nationaler Di-rektor der Studie, befasst sich mit der „Lese-fähigkeit der Deutschen“. Zunächst stellt er diekursierenden Zahlen über Analphabeten inDeutschland in Frage und problematisiert fer-ner die Zweiteilung in „Analphabeten“ und „Al-phabetisierte“.Das Vorgehen der Studie, nach verschiede-nen Bereichen der Literalität zu differenzierenund Literalität in einem Kontinuum anzusie-deln, wird als zweckmäßig bestätigt. Schließ-lich formuliert er (Forschungs-)Fragen, die indiesem Bereich in Deutschland bearbeitetwerden könnten.Michael Hirsch beschreibt die OECD/IALS-Studie aus der Sicht der Bundesregierung,Peter Hubertus kommentiert aus Sicht derAlphabetisierungspraxis und konstatiert u. a.,dass die Studie Leistungen im Schreiben nichtberücksichtigt.Im dritten Teil „Pädagogische und persönlich-keitsbildende Aspekte des Schreibens“ setztsich Iris Füssenich in ihrem Beitrag „Alle spre-chen von Leseförderung – doch wo bleibt dasSchreiben?“ kritisch mit der Studie auseinan-der – im Hinblick auf das methodische Vorge-hen, die geforderten Leseleistungen, die De-finition von Grundqualifikation – und auf dasAusblenden des Schreibens.

Aufgenommen sind weiterhin die Ergebnisseaus Arbeitsgruppen von Pädagog/innen ausSchule und Erwachsenenbildung. Den Ab-schluss bildet der Dialog mit einer Schriftstel-lerin, die Einblicke in ihren Schreibprozessgewährt. „Das letzte Wort“ schildert die Erfah-rungen eines Analphabeten.Der Band ermöglicht vielfältige und verschie-dene Einblicke in die Arbeit der Praktiker/in-nen sowie der Wissenschaftler/innen und gibtsomit Anregungen für die Weiterbeschäftigungmit der Thematik. Monika Tröster

Norbert Vogel (Hrsg)Organisation und Entwicklung in der Wei-terbildungReihe: Theorie und Praxis der Erwachsenen-bildung(Klinkhardt Verlag) Bad Heilbrunn 1998, 185Seiten, DM 24.80

Der Entwicklungsoptimismus von Bildungs-theorien lässt sich heute nur aufrecht erhal-ten, wenn es gelingt, die komplexen Lern- undHandlungszusammenhänge durch bewussteOrganisationsgestaltung zu verbessern. Dasvon Norbert Vogel herausgegebene Buch zeigtfür die Weiterbildung, dass Interventionen aufverschiedenen organisationsrelevantenHandlungsebenen notwendig und möglichsind. In den einzelnen Artikeln wird der Zusam-menhang von gesellschaftlichem Strukturwan-del, Organisation und Entwicklung in der Wei-terbildung thematisiert – und zwar auf einerpluralen Basis der Zugänge. Man kann fest-halten, dass trotz der theoretischen Heteroge-nität der Beiträge erste Konturen einer erwach-senenbildungsrelevanten Organisationstheorieerkennbar werden.Das Buch hat auch ein praktisches und empi-risches Ziel, denn die institutionellen Struktu-ren, Angebotsformen und Aneignungsmodisollen daraufhin geprüft werden, inwieweit siedem aktuellen, durch gesellschaftliche und po-litische Rahmenbedingungen geschaffenenVeränderungsdruck in der Weiterbildung nochentsprechen. Es wird der Frage nachgegan-gen, in welche Richtung sich die Organisati-on von Weiterbildungseinrichtungen entwi-ckeln könnte. Dabei wird von einem zuneh-menden Konkurrenz- und Kommerzialisie-rungsdruck ausgegangen und dieser als eineHerausforderung genommen, der eine ver-

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stärkte Profilbildung von Einrichtungen erfor-derlich werden lässt. Auch müssen die neuenMöglichkeiten selbstgesteuerten und selbstor-ganisierten Lernens in einen sinnvollen Zu-sammenhang zum fremdorganisierten oderbesser: zum stellvertretend organisierten Ler-nen gebracht werden. Ein Schwerpunkt desInteresses liegt bei dem Problem, wie die Or-ganisation der Weiterbildung zu gestalten ist,damit sich auch aus der Perspektive der Lern-subjekte eine Fortentwicklung der Angeboteergibt, die es rechtfertigen, von „Bildung“ zusprechen.Erwachsenenbildung wird als Beitrag zur Ge-staltung der Moderne verstanden und es wer-den Beiträge zusammengestellt, die Organi-sation und Entwicklung in der Weiterbildungaus theoretisch sehr unterschiedlichen Per-spektiven analysieren. Thematisiert werdendie verschiedenen Ebenen organisations-relevanten Handelns, wie beispielsweise dieBeeinflussung der Institutionalisierung durchpolitisch-strukturelle Bedingungen oder die Be-deutung und Entwicklung profilbildender Pro-gramm- und Veranstaltungsplanung für diekonzeptionelle Spezifizierung der Weiterbil-dungsinstitutionen. Welche Konsequenzen hates für Lernende und für Mitarbeiter, wenn sichWeiterbildungseinrichtungen als lernende Or-ganisationen verstehen? Besondere Beach-tung findet die Vernetzung von selbstorgani-sierten Lernsettings mit den formalen Lernan-geboten von Weiterbildungsinstitutionen. Alseine zentrale Aufgabe der Erwachsenenbil-dung und des professionellen pädagogischenHandelns generell wird die Kompetenzent-wicklung der Lernenden diskutiert. Im Einzel-nen wird folgendes angesprochen:Norbert Vogel schärft in seinem Beitrag denBegriff einer entwicklungsorientierten Erwach-senenbildung und versucht entwicklungs-orientierte Ansätze der Psychologie und So-ziologie zu bildungstheoretischen Überlegun-gen in Beziehung zu setzen. Ortfried Schäff-ter stellt ein Konzept vor, das gesellschaftlicheFunktionen, bildungsorganisatorische Prozes-se und bildungspraktische Lernkulturen the-matisiert und aufeinander bezieht. HaraldGeißler arbeitet heraus, was in einer lernen-den Organisation den Kern pädagogischer Ar-beit ausmacht. Rolf Arnold geht auf die Kom-petenzentwicklung in betrieblichen Lernpro-zessen ein und erörtert die Relevanz von in-

dividuellen Deutungsmustern und das Pro-blem der professionellen Gestaltung von trans-formierenden Lernprozessen. Horst Siebertgibt eine Übersicht über die Begriffe der kon-struktivistischen Betrachtung der Erwachse-nenbildung und thematisiert den beim selbst-organisierten Lernen typischen Perspektiven-wechsel von Instruktion zur Perturbation. Ler-nen wird nicht mehr als zu steuernder, son-dern als anzuregender Prozess definiert. Gün-ther Dohmen hebt vor dem Hintergrund zuneh-mender selbstgesteuerter Lernprozesse dieneue Rolle der Bildungsinstitutionen hervorund plädiert für die Organisation von Lern-Netzwerken, um informelles selbstgesteuertesund fremdorganisiertes systematisches Ler-nen besser zu integrieren. Gabriele SteffensBeitrag problematisiert das „alltägliche chao-tische“ Lernen und gibt zahlreiche Anregun-gen für die öffentliche Förderung lebenslan-gen Lernens, während Helmut M. Niegemannselbstkontrolliertes Lernen als eine organi-sationsleitende Kategorie entfaltet. Es gehtihm darum, im Sinne eines komplexen didak-tischen Designs bestimmten Lernzielen jeweilsentsprechende Lernumgebungen zuzuordnen.Insgesamt gibt der Band einen guten Überblicküber die Theorieentwicklung und die konzep-tionelle Innovation im Bereich der Weiter-bildungsorganisation und -entwicklung. Not-wendig wäre zweifelsohne, dass die interes-santen, bisweilen sehr kreativen Konzeptionendurch eine gezielte qualitative und quantitati-ve empirische Forschung stärker abgesichertund damit empirisch fundiert würden.

Rudolf Tippelt

Christoph Weischer u.a.Das Seminar gibt sich eine Form(Westfälisches Dampfboot) Münster 1998, 211Seiten, DM 29.80

Unterstützt von der Hans-Böckler-Stiftung wur-den 15 Seminare der IG Metall beobachtet undausgewertet. Die Ausgangsthese besagt: „Ge-werkschaftliche Bildungsarbeit ist im Umbruch”(S. 7). Vor allem durch teilnehmende Beobach-tung soll ermittelt werden, wie sich das Lehr-Lern-Verhalten, die Verständigungsformen unddie Bearbeitung der Themen verändert haben.Es wird deutlich, dass gewerkschaftliche Bil-dungsarbeit in Bewegung ist und dass viele –früher selbstverständliche – Positionen kontro-

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vers diskutiert werden. „Modernisierer” und„Traditionalisten” stehen sich auch in der Bil-dungspolitik gegenüber.In vielen Seminaren lässt sich eine verstärkte„Subjektorientierung” beobachten. „Die Semi-narprozesse verschaffen sich durch oder ge-gebenenfalls auch gegen das Konzept Gel-tung” (S. 13). Viele Seminare entwickeln einetheoretische und kommunikative Eigendyna-mik, curriculare Vorgaben verlieren oft an Be-deutung. Die Individualisierung scheint sichauch innerhalb gewerkschaftlicher Gruppenauszuwirken. Ein gewerkschaftliches Engage-ment kann nicht mehr ohne weiteres voraus-gesetzt werden. Es ist üblich geworden, dassdie Thesen „ausgehandelt” werden. Dochmanche Planungsverfahren (z. B. Metaplan)produzieren „nicht selten eine eigentümlicheUndurchsichtigkeit” (S. 18). Erkennbar ist eineneue pädagogische Bescheidenheit: Die Weltsoll nicht mehr in einem Seminar erklärt unddie Teilnehmenden sollen nicht von heute aufmorgen verändert werden (S. 19).Bei der Beobachtung der Seminare wird vorallem auf die „Machtressourcen” der Lehren-den und Lernenden geachtet. Was im Semi-nar gesagt werden darf und was verschwie-gen wird, ist auch eine Machtfrage. Auf-schlussreich ist in diesem Zusammenhang dieUnterscheidung des ersten und zweiten Se-minars. Das zweite Seminar entwickelt sich inder „Freizeit”. Für die Bewertung und auch dieLernerfahrungen sind diese informellen Pha-sen oft ausschlaggebend. „Für die Lehrer/in-nen kann es kränkend sein, wenn diese spon-tanen Situationen gegenüber ihren pädagogi-schen Anstrengungen von den Teilnehmen-den so hoch geschätzt werden” (S. 49).Mikrologische Beobachtungen dieser Art sindaufschlussreich. Der Projektbericht enthält je-doch auch viele Passagen, die allenfalls fürdiejenigen von Interesse sein dürften, die sel-ber beteiligt waren (z. B. dass am MittwochWandzeitungen präsentiert werden, am Don-nerstag die IG-Metall-Satzung besprochen, amFreitag eine Entschließung des Gewerk-schaftstages bearbeitet wird usw.).In der Einleitung wird von einer „Vielfalt vonErhebungsmethoden” gesprochen. Doch überdiese Methoden erfährt man nicht viel. Offen-bar überwiegt eine impressionistische teilneh-mende Beobachtung. Ein solches offenes Ver-fahren kann durchaus angemessen sein – für

künftige Untersuchungen sind jedoch mehrmethodische Hintergrundinformationen wün-schenswert. H.S.

Rainer Zech/Christiane Ehses (Hrsg.)Organisation und Lernen(Expressum-Verlag) Hannover 1999, 255 Sei-ten, DM 29.80

Weiterbildungseinrichtungen befinden sich imUmbruch. Die Erwachsenenbildung steht voreinem Entwicklungseinbruch, der keine Fort-schreibung der Institutionengeschichte mehrermöglicht. Heterogene und differenzierteLernmilieus auf der einen und veränderte An-forderungen des öffentlich-rechtlichen Raumsauf der anderen Seite bewirken einen Funk-tionswandel der Erwachsenenbildung, der eineNeudefinition und eine Neugestaltung ihrer Or-ganisationen erforderlich macht. Hiervon hängtderen Zukunftsfähigkeit ab. Wie sollen so tra-ditionsbehaftete und erinnerungsfixierte Orga-nisationen wie die Volkshochschulen diesenWandel bewältigen? Welches Profil und wel-che Professionalität sind gefordert, um zur mo-dernen, effizienten Weiterbildungsorganisationzu werden?Mit diesen Fragestellungen beschäftigen sichChristiane Ehses und Rainer Zech in dem vonihnen herausgegebenen Buch „Organisationund Lernen“. Der umfangreiche Aufsatz stellteinen Zwischenbericht über ein mehrjährigesForschungs- und Beratungsprojekt dar, das dieOrganisationsentwicklung von Volkshochschu-len zum Inhalt hat. Das Autorenteam resümiertals Erfahrung aus diesem Projekt, dass er-wachsenenpädagogische Professionalität sichheute als Qualität der organisationsspe-zifischen Leistungserbringung niederschlägt.Auf dieser Folie wird ein Vorschlag zur Profes-sionalität geliefert, der unterschiedliche Ra-tionalitäten berücksichtigt. Bildung wird alsLeistung einer Organisation in einer in vielfälti-ge Lernmilieus diversifizierten Umwelt verstan-den. Die Autoren verorten Weiterbildungs-einrichtungen in einem intermediären Kontextzwischen unterschiedlichen Umfeldern, diesich wechselseitig kaum noch vermitteln las-sen. Das Feld gewandelter Anforderungen wirdaufgefächert, um daraus Spannungsfelder undParadoxien der heutigen Erwachsenenbildungund ihrer Agenturen zu benennen. Es werdenSchwierigkeiten der Einrichtungen und Lö-

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sungsrichtungen zur Qualitätsverbesserungdargestellt; Ansätze von Beraterhandeln wer-den reflektiert. In einem Anhang werdenschließlich als Praxishilfe Arbeitspapiere mitFragenkatalogen zu unterschiedlichen Berei-chen der Qualitätsentwicklung vorgestellt. DerAufsatz verdeutlicht, dass es keine techno-kratischen Lösungswege in der Strukturan-passung dieser Einrichtungen gibt, sonderndass vielmehr sensible Analyse und Beglei-tung notwendig sind, damit eine Entwicklungder Weiterbildungseinrichtungen mit gesell-schaftlichem Auftrag auch deren normativemSelbstanspruch gerecht wird.In dem daran anschließenden Aufsatz präsen-tiert Dietrich Burggraf ein Praxisbeispiel; er be-schreibt exemplarisch den Entwicklungspro-zess einer am Projekt beteiligten Volkshoch-schule. Möglichkeiten einer zukunftsfähigenVolkshochschule werden am Beispiel der vonihm geleiteten Institution sichtbar gemacht.Weitere Aufsätze liefern Ergebnisse der Orga-nisationsforschung und der Organisations-beratung/-entwicklung aus der Arbeit des Art-Set Institutes in anderen Feldern des Profit-und des Non-Profit-Bereichs.Bernhard Maatz konzentriert sich auf wirt-schaftliche Unternehmen. Er zeigt die gegen-wärtigen und zukünftigen Anforderungen auf,denen die Unternehmen ausgesetzt sind, undentwickelt weitgreifende Ansätze einer struk-turellen Kundenorientierung und der systema-tischen Innovation durch Ideenmanagement.Aus dem Praxisfeld Gesundheitswesen stelltRosmarie Kerkow-Weil die Behinderungenund Möglichkeiten interkultureller und interdis-ziplinärer Lernprozesse zur Überwindung vonFremdheit im Krankenhaus dar. Ulrike Stenderentfaltet typische Konfliktsituationen in einempsychiatrischen Pflegeheim und entwickeltentsprechende organisationsangemesseneLösungen. Partizipation als Weg zu mehr

Mitgliederengagement in politischen Organisa-tionen wird von Reinhold Meimberg am ver-gleichenden Beispiel von Terre des Hommesund Greenpeace diskutiert. In einem Aufsatzüber die Paradoxien von Schulentwicklung er-örtert Rainer Zech, wie Entwicklung in einerOrganisation möglich sein kann, wenn diesenicht autonom, sondern der unterste Teil ei-ner Behörde ist. Dies geschieht vor dem Hin-tergrund der Notwendigkeit zur Implementie-rung von Schulprogrammen und deren Eva-luation.Den Abschluss bilden zwei Aufsätze, die keinspezifisches Praxisfeld erschließen, sonderneine metatheoretische Reflexion über Organi-sationslernen zum Inhalt haben. Stefan Brée– einer der diesjährigen Preisträger des Inno-vationspreises des Deutschen Instituts für Er-wachsenenbildung – stellt in seinem Beitragzur Lern-Organisation als ästhetische Formund Gestaltungsaufgabe die Methode derkünstlerisch-ästhetischen Werkstatt vor, derenLerndimensionen Analogien zum Diskurs übermodernisierte Bildung und Organisation auf-zeigen. Rainer Zech erörtert in seinem Beitragüber den Mythos Organisation latente Funk-tionen bzw. die Funktion von Latenzen. Erzeigt, dass die vielbeschworene Rationalitätvon Organisationen ein Mythos ist und dassschließlich auch der Mythos eine Form derRationalität ist.Das Buch hebt sich in positiver Weise von vie-len anderen Büchern ab, die in den letztenJahren zum Themenkomplex „Lernende Orga-nisation“ erschienen sind. Es ist theoretischfundiert und zeichnet sich durch reflektiertePraxis aus. Die Entwicklungsbeschreibungenaus unterschiedlichen Sozial- und Bildungs-institutionen bieten dem Leser mit dem Blickauf scheinbar fremdes Milieu eine neue Per-spektive auf die eigene Voraussetzung für dieEntwicklung von Zukunftsfähigkeit.

Klaus Meisel

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Autorinnen und Autoren der Beiträge

Dr. Rolf Arnold, Professor für Berufs- und Erwachsenenpädagogik und Leiter des Zentrumsfür Fernstudien und Universitäre Weiterbildung (ZFUW) an der Universität Kaiserslautern

Dr. Heinrich Dauber, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität/Gesamthoch-schule Kassel

Dr. Peter Faulstich, Professor für Erwachsenenbildung an der Universität Hamburg

Dr. Wolfgang Hendrich, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Arbeit und Technik der Uni-versität Flensburg

Dr. Klaus-Peter Hufer, Fachbereichsleiter für Geistes- und Sozialwissenschaften der Kreis-volkshochschule Viersen

Ben Krischauski, Geschäftsführer der quatra – Vorsprung durch Qualifizierung GmbH, Ham-burg

Dr. Hans Leuschner, Mitarbeiter im Process-Center Kompetenzentwicklung bei der Arbeitsge-meinschaft Betriebliche Weiterbildungforschung e.V., Berlin

Dr. Erhard Meueler, Professor für Erwachsenenbildung an der Universität Mainz

Iris Palluch, Beauftragte für Qualitätsmanagement der Stiftung Berufliche Bildung, Hamburg

Dr. Ursula Reuther, Leiterin und Consultant im Process-Center Kompetenzentwicklung bei derArbeitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildungforschung e.V., Berlin

Dr. Erhard Schlutz, Professor am Institut für Erwachsenenbildungsforschung der UniversitätBremen

Dr. Horst Siebert, Professor für Erwachsenenbildung an der Universität Hannover

Dr. Hans Tietgens, Honorarprofessor für Erwachsenenbildung an der Universität Marburg

Dr. Christine Zeuner, wissenschaftliche Assistentin im Fachbereich Erziehungswissenschaftder Universität Hamburg

Autorinnen und Autoren der Rezensionen

Maik Adomßent, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Umweltkommunikation der Uni-versität Lüneburg

Dr. Rolf Arnold, Professor für Berufs- und Erwachsenenpädagogik und Leiter des Zentrumsfür Fernstudien und Universitäre Weiterbildung (ZFUW) an der Universität Kaiserslautern

Dr. Martin Beyersdorf, Leiter der Zentralen Einrichtung für Weiterbildung der Universität Han-nover

Dr. Rainer Brödel, Professor für Erwachsenenbildung an der Bildungswissenschaftlichen Hoch-schule/Universität Flensburg

Dr. Peter Faulstich, Professor für Erwachsenenbildung an der Universität Hamburg

Dr. Johannes F. Hartkemeyer, Leiter der Volkshochschule Osnabrück

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Dr. Klaus-Peter Hufer, Fachbereichsleiter an der Kreisvolkshochschule Viersen

Rosemarie Klein, Büro für berufliche Bildungsplanung, Dortmund

Dr. Ulrich Klemm, Fachbereichsleiter an der Ulmer Volkshochschule

Dr. Peter Krug, MD, Abteilungsleiter im Ministerium für Bildung, Wissenschaft und WeiterbildungRheinland-Pfalz,Vorsitzender des Ausschusses für Fort- und Weiterbildung der StändigenKonferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland

Klaus Meisel, stellvertretender Direktor des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung inFrankfurt/M.

Dr. Dieter Nittel, Professor für Erwachsenenbildung an der Universität FrankfurtM.

Dr. Sigrid Nolda, Professorin für Erwachsenenbildung an der Universität Dortmund

Dr. Ekkehard Nuissl, Professor für Erwachsenenbildung an der Universität Marburg und Di-rektor des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung in FrankfurtM.

Albert Pflüger, ehem. wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Institut für Erwachsenen-bildung in Frankfurt/M.

Dr. Ernst Prokop, Professor für Pädagogik an der Universität Regensburg

Gerhard Reutter, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Institut für Erwachsenenbildungin Frankfurt/M.

Dr. Lothar Schäffner, Professor für Erwachsenenbildung an der Universität Hannover

Dr. Michael Schemmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Erwachsenenbil-dung an der Ruhr-Universität Bochum

Dr. Christiane Schiersmann, Professorin für Erwachsenenbildung an der Universität Heidel-berg

Dr. Monika Schmidt, Hochschuldozentin im Institut für Erwachsenenbildung/AußerschulischeJugendbildung an der Universität Hannover

Dr. Wolfgang Seitter, wissenschaftlicher Assistent im Institut für Sozialpädagogik und Erwach-senenbildung der Universität Frankfurt/M.

Dr. Horst Siebert, Professor für Erwachsenenbildung an der Universität Hannover

Dr. Hans Tietgens, Honorarprofessor für Erwachsenenbildung an der Universität Marburg

Dr. Rudolf Tippelt, Professor für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung an der Univer-sität München

Monika Tröster, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Institut für Erwachsenenbildungin Frankfurt/M.

Dr. Johannes Weinberg, em. Professor für Erwachsenenbildung an der Universität Münster

Dr. Jürgen Wittpoth, Professor für Erwachsenenbildung und Medien an der Universität Mag-deburg

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REPORT Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung 22. Jahrgang Heft 44/1999: Neue Lernkulturen Online im Internet: URL: http://www.die-bonn.de/esprid/dokumente/doc-1999/nuissl99_02.pdf