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ALTEX 24, 4/07 279 Literaturbericht 2006/2007 Mensch und Mitgeschöpf unter ethischen Aspekt Arbeitsgruppe Literaturbericht: Petra Mayr, Regina Binder, Silke Bitz, Gieri Bolliger, Andreas Brenner, Arianna Ferrari, Franz P. Gruber, Claus Günzler, Roman Kolar, Ingrid Kuhlmann-Eberhart, Erwin Lengauer, Jörg Luy, Silke Schicktanz, Felix Wirz und Jean- Claude Wolf Inhalt 1 Allgemeines zum Tierschutz 1.1 Manfred Karremann: Sie haben uns behandelt wie Tiere 1.2 Rolf Gollob, Sarah Tresch und Marlies Voser: Von Menschen, Tieren und Politik. Ein aktueller Beitrag zum Tierschutz und zum Ablauf politischer Prozesse in der Schweiz 1.3 Jeffrey M. Masson: Wovon Schafe träumen. Das Seelenleben der Tiere. 1.4 Thomas Macho: Arme Schweine. Eine Kulturgeschichte 1.5 Claudia Schnieper: Blickpunkt Tiere 1.6 Karl-Heinz Loske: Von der Jagd und den Jägern Bruder Tier und sein Recht zu leben 1.7 Jonathan Balcombe: Tierisch vergnügt. Ein Verhaltensforscher entdeckt den Spass im Tierreich 1.8 Roger J. Busch und Peter Kunzmann: Leben mit und von Tieren 1.9 Katja Pohlheim: Vom Gezähmten zum Therapeuten. Die Soziologie der Mensch-Tier-Beziehung am Beispiel des Hundes 2 Philosophische Ethik 2.1 Erich Gräßer (Hrsg.): Albert Schweitzer. Ehrfurcht vor den Tieren 2.2 Andreas Vieth: Einführung in die Angewandte Ethik 2.3 Dominik Perler und Markus Wild: Der Geist der Tiere 2.4 Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier 2.5 Peter Singer and Jim Mason: The way we eat. Why our food choices matter 2.6 Markus Wild: Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume 3 Bioethik: 3.1 Nancy S. Jecker, Albert R. Jonsen and Robert A. Pearlman: Bioethics. An introduction to the history, methods and practice 3.2 Dieter Birnbacher: Bioethik zwischen Natur und Interesse 3.3 Michael Hauskeller (Hrsg): Ethik des Lebens.Albert Schweitzer als Philosoph 4 Rechtsfragen und Rechtsentwicklung: 4.1 Michael Fischer: Tierstrafen und Tierprozesse. Zur sozialen Konstruktion von Rechtssubjekten 4.2 Birgit Schröder: Verschwiegenes TierLeid. Sexueller Missbrauch an Tieren 5 Tierversuche: 5.1 Winfried Ahne: Tierversuche. Im Spannungsfeld von Praxis und Bioethik 5.2 Lynda Birke, Arnold Arluke, Mike Michael: The Sacrifice: How scientific experiments transform animals and peopl Literatur Die AG Literaturbericht stellt sich vor.

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Literaturbericht 2006/2007

Mensch und Mitgeschöpf unter ethischen AspektArbeitsgruppe Literaturbericht:Petra Mayr, Regina Binder, Silke Bitz, Gieri Bolliger, Andreas Brenner, Arianna Ferrari, Franz P. Gruber, Claus Günzler, Roman Kolar, Ingrid Kuhlmann-Eberhart, Erwin Lengauer, Jörg Luy, Silke Schicktanz, Felix Wirz und Jean- Claude Wolf

Inhalt

1 Allgemeines zum Tierschutz 1.1 Manfred Karremann: Sie haben uns behandelt wie Tiere1.2 Rolf Gollob, Sarah Tresch und Marlies Voser: Von Menschen, Tieren und Politik. Ein aktueller Beitrag zum

Tierschutz und zum Ablauf politischer Prozesse in der Schweiz 1.3 Jeffrey M. Masson: Wovon Schafe träumen. Das Seelenleben der Tiere. 1.4 Thomas Macho: Arme Schweine. Eine Kulturgeschichte1.5 Claudia Schnieper: Blickpunkt Tiere1.6 Karl-Heinz Loske: Von der Jagd und den Jägern Bruder Tier und sein Recht zu leben1.7 Jonathan Balcombe: Tierisch vergnügt. Ein Verhaltensforscher entdeckt den Spass im Tierreich1.8 Roger J. Busch und Peter Kunzmann: Leben mit und von Tieren 1.9 Katja Pohlheim: Vom Gezähmten zum Therapeuten. Die Soziologie der Mensch-Tier-Beziehung am Beispiel des Hundes

2 Philosophische Ethik2.1 Erich Gräßer (Hrsg.): Albert Schweitzer. Ehrfurcht vor den Tieren2.2 Andreas Vieth: Einführung in die Angewandte Ethik 2.3 Dominik Perler und Markus Wild: Der Geist der Tiere2.4 Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier2.5 Peter Singer and Jim Mason: The way we eat. Why our food choices matter2.6 Markus Wild: Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne,

Descartes und Hume

3 Bioethik:3.1 Nancy S. Jecker, Albert R. Jonsen and Robert A. Pearlman: Bioethics. An introduction to the history, methods and

practice3.2 Dieter Birnbacher: Bioethik zwischen Natur und Interesse 3.3 Michael Hauskeller (Hrsg): Ethik des Lebens.Albert Schweitzer als Philosoph

4 Rechtsfragen und Rechtsentwicklung:4.1 Michael Fischer: Tierstrafen und Tierprozesse. Zur sozialen Konstruktion von Rechtssubjekten4.2 Birgit Schröder: Verschwiegenes TierLeid. Sexueller Missbrauch an Tieren

5 Tierversuche:5.1 Winfried Ahne: Tierversuche. Im Spannungsfeld von Praxis und Bioethik 5.2 Lynda Birke, Arnold Arluke, Mike Michael: The Sacrifice: How scientific experiments transform animals and peopl

LiteraturDie AG Literaturbericht stellt sich vor.

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LITERATURBERICHT 2006/2007

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VorbemerkungenDie Zahl der Publikationen die sich kritisch mit dem Verhältniszwischen Mensch und Tier auseinandersetzen nimmt weiterhinkontinuierlich zu. Das ist erfreulich, weil sich darin eine leb-hafte Auseinandersetzung nahezu aller Fachdisziplinen mit demethisch relevanten Thema widerspiegelt, die wir aufgreifenmöchten. Den Grundstein zu diesem Literaturbericht in einernaturwissenschaftlichen Fachzeitschrift, wie sie ALTEX dar-stellt, hat Gotthard M. Teutsch bereits vor zehn Jahren gelegt.Er hat damit die Grenzen der naturwissenschaftlichen Diszipli-nen hin zu den Geisteswissenschaften geöffnet, zu einer Zeit alsdas interdisziplinäre Denken bei weitem noch nicht so etabliertwar, wie dies derzeit der Fall ist. Um der fachlichen Vielfalt derDiskurse und der Heterogenität der unterschiedlichen Argu-mentationen gerecht zu werden hat die Literatur AG beschlos-sen weitere Mitglieder aus anderen, noch nicht vertretenen Dis-ziplinen wie etwa Ethologie oder Soziologie aufzunehmen. Zielist es dabei einen fachadäquaten Einblick aber auch einemmöglichst umfassenden Überblick der breiten Palette aktuellerPublikation zur Mensch-Tier Thematik zu bieten. Um dies zugewährleisten werden auch Rezensionen zu ausgewählten eng-lischsprachigen Publikationen in zweisprachiger Form erschei-nen. Ein kurzer Überblick mit einigen Akzenten beleuchtet dieKernthemen und zeigt Tendenzen des aktuellen Diskurses:

Unter der Rubrik „Tierschutz allgemein“ wird gezeigt wieManfred Karremann in seinem Buch „Sie haben uns behandeltwie Tiere“ den menschlichen Verdrängungsmechanismus aus-zuhebeln versucht. Er dokumentiert ungeschönt die von wirt-schaftlichen Interessen dominierte Brutalität im Umgang mitNutztieren. Die ökologischen Argumente zur Rechtfertigung derJagd hinterfragt der Biologe und ehemalige Jäger Karl-HeinzLoske in seinem Buch mit dem Titel „Von der Jagd und den Jä-gern - Bruder Tier und sein Recht zu leben.“ Jeffrey M. Massonund Jonathan Balcombe, beide Ethologen konzentrieren sichauf die noch wenig erforschten Emotionen von Tieren. Sie favo-risieren die emotionalen Gemeinsamkeiten zwischen Menschund Tier als Grundlage moralischer Rücksichtnahme.

Im Bereich der „Philosophischen Ethik“ dokumentieren Pe-ter Singer und Jim Mason in Ihrem Buch „The way we eat. Whyour food choices matter“ die ethischen und zugleich ökologi-schen Dimensionen des Fleischkonsums. Darüber hinaus ma-chen sie auch auf die schlechten Bedingungen der Erwerbsar-beit derer aufmerksam, die im Bereich der Nutztierhaltung undVerarbeitung tätig sind. Unter dem Titel „Bioethik zwischenNatur und Interesse“ hat Dieter Birnbacher eine Studie vorge-legt, die seine wichtigsten Aufsätze zu aktuellen bioethischenFragen der vergangenen Jahre konzentriert. Ein zentraler Be-standteil des ethischen Diskurses bleibt nach wie vor die Ehr-furchtsethik von Albert Schweitzer und nach wie vor wird seinePosition breit rezipiert. Zwei Besprechungen des Titels: „AlbertSchweitzer. Ehrfurcht vor den Tieren“ sollen hier differenzierteEinschätzungen aus je unterschiedlichen Perspektiven ermögli-chen. Einen philosophiehistorischen Focus zur Frage was denMenschen vom Tier unterscheidet setzen die Publikationen vonMarkus Wild „Die anthropologische Differenz. Der Geist derTiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hu-me“ und sein zusammen mit Dominik Perler verfasstes Buch.

Sie problematisieren ebenso wie auch Giorgio AgambensSchrift “Das Offene: Der Mensch und das Tier“ die Schwierig-keit der Mensch-Tier Definition. In der Rubrik „Rechtsfragenund Rechtsentwicklung“ bietet der Text von Michael Fischer„Tierstrafen und Tierprozesse - zur sozialen Konstruktion vonRechtssubjekten“ erstaunliche Einblicke in den historischenWandel des rechtlichen Status von Tieren. Auf einen bislangnoch wenig thematisierten Aspekt von Tierversuchen machenLinda Birke, Arnold Arluke und Mike Michael in der Rubrik„Tierversuche“ aufmerksam. In ihrer Studie: „The Sacrifice.How Scientific Experiments Transform Animals and People”wechseln sie die Perspektive und beleuchten die berufliche Ein-sozialisierung von Wissenschaftlern und liefern damit eine Er-klärung für deren zweckpragmatische Einstellung zum Umgangmit Labortieren.

Alles in allem zeigt sich in der Literatur zur Mensch-Tier Be-ziehung eine Tendenz, die auch den gesellschaftlichen Werteho-rizont widerspiegelt. Sowohl Tiere aber auch Menschen werdenin erster Linie als Waren wahrgenommen, deren konkretes Emp-finden einem abstrakten Begriff von Wirtschaftlichkeit unter-worfen wird. Mit der Konsequenz, dass sich die Ambivalenzenim Umgang mit Heimtieren versus Nutztiere noch zugespitzt ha-ben.

Human beings and their fellow creatures – ethicalaspectsPreliminary remarksThe number of publications that critically deal with the rela-tionship between human beings and animals is still increasingcontinuously. That is a welcome development, as it reflects thevibrant debate of almost all scientific disciplines on this ethi-cally relevant subject, which we would like to take up here. Thecornerstone of a literature report in a natural science journallike ALTEX was laid ten years ago by Gotthard M. Teutsch. Bydoing this he opened the borders between the natural sciencesand the humanities at a time when interdisciplinary thinkingwas by far not as well established as it is now. To do justice tothe variety of specialist discussions and the heterogeneity of thedifferent argumentations, the working group “Literature re-port” has decided to include further members from other, notyet represented disciplines, such as ethology or sociology. Thegoal is to provide the insight of the specialist but also a broadoverview of a large palette of current publications on the sub-ject of human-animal relations. This also includes reviews ofselected English language publications in both English andGerman. To do justice to the different individual perspectives,books that are of special interest may also be reviewed by morethan one person. A short overview highlighting some aspects il-luminates the core subjects and demonstrates the tendencies ofthe current debate:

In the category “Tierschutz allgemein” (Animal protection ingeneral), it is shown how Manfred Karremann in his book “Siehaben uns behandelt wie Tiere” (They treated us like animals)tries to prise open the human mechanism of repression of emo-tions. He documents how the dominant scientific interests leadto the brutal handling of animals. The ecological arguments forjustifying hunting are questioned by the biologist and former

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hunter Karl-Heinz Loske in his book entitled „Von der Jagd undden Jägern - Bruder Tier und sein Recht zu leben.“(Of huntingand hunters – brother animal and his right to live). Jeffrey M.Masson and Jonathan Balcombe, both ethologists, concentrateon the little researched emotions of animals. They favour theemotional commonalities between human beings and animalsas a basis for moral considerateness.

In the area of “Philosophical ethics” Peter Singer and JimMason document in their book “The way we eat. Why our foodchoices matter” the ethical and ecological dimensions of con-suming meat. In addition, they call attention to the poor work-ing conditions of those who work in the area of animal hus-bandry and processing. Under the title “Bioethik zwischenNatur und Interesse” (Bioethics between nature and interest)Dieter Birnbacher has published a study that concentrates onhis most important assays of the last years on current bioethi-cal questions. The ethics of reverence formulated by AlbertSchweizer are still a central topic of current discourse andSchweitzer’s position is still widely received. Two reviews of thebook “Albert Schweitzer. Ehrfurcht vor den Tieren” (AlbertSchweitzer. Reverence for animals) give detailed evaluationsfrom different perspectives. The publications of Markus Wild,“Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in derfrühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume” (The an-thropological difference. The spirit of animals in early moderntimes by Montaigne, Descartes and Hume) and his book thatwas co-authored by Dominik Perler, represent a philosophical-historical perspective on what distinguishes humans from ani-mals. Like the publication by Giorgio Agamben “Das Offene:Der Mensch und das Tier” (The Open - Man and animal) theypoint out the problem of the animal-human definition. In thecategory “Rechtsfragen und Rechtsentwicklung “(Legal ques-tions and developments) Michael Fischer shows astonishing in-sights into the historical changes in the legal status of animalsin „Tierstrafen und Tierprozesse - zur sozialen Konstruktionvon Rechtssubjekten“ (Animal penalties and animal litigation –on the social construction of legal bodies). Linda Birke, ArnoldArluke and Mike Michael throw the spotlight on an aspect ofanimal experiments that is seldom an issue of discussion. Intheir study “The Sacrifice. How Scientific Experiments Trans-form Animals and People” they change the perspective and il-luminate the occupational socialisation of scientists and so de-velop an explanation for their pragmatic approach to handlinglaboratory animals.

All in all the literature on the human-animal relationshipshows a tendency that also reflects the social value horizon.Both animals and humans are perceived mainly as commodi-ties, whose concrete emotions are subordinate to the abstractterm “profitability” with the consequence that the ambiva-lences in the handling of pets versus livestock have becomemore pronounced.

1 Allgemeines zum Tierschutz

1.1 Manfred Karremann:Sie haben uns behandelt wie Tiere. Wie wir jedenTag mühelos Tiere schützen können224 Seiten, Höcker Verlag 2006, Euro 14.90 (im Gegensatz zu Deutschland gibt es keine Buchpreisbindung mehr in dergesamten Schweiz)

Der bekannte Tierfilmer und Fernsehjournalist verleiht in die-sem Buch Einblicke in die von Leid und Todesqual geprägteVorgeschichte unserer Konsumgüter, die von Tieren stammen.In 12 Kapiteln auf 224 Seiten führt Karremann in die verborge-ne Welt des Tierelends, das als Gaumenschmaus auf unserenTellern liegt oder als Lederschuh unsere Füße schmückt. Dasvom Menschen begehrte Konsumgut wird direkt dem Produkti-onsweg, also zwangsläufig dem Tierleid, gegenüber gestellt.Karremann führt dem Verbraucher damit ungeschönt den vonrein wirtschaftlichen Gesichtspunkten geleiteten Produktions-prozess vor Augen, in dem empfindsame Lebewesen zu Pro-dukten werden. Er verweist immer wieder auf die Widersprüch-lichkeiten in unserem Verhalten. So zeigt er im See paddelndeEnten, die jeder als niedlich empfindet, neben noch lebenden,an den Füßen aufgehängten Tieren, die im China-Restaurant aufder Speisekarte als Ente süß-sauer angeboten werden.

Aussagekräftige Farbabbildungen und Zitate in farblich her-vorgehobenen Textblocks nehmen den Leser durch die Lektürean die Hand und führen ihn in Situationen, in denen dieSchieflage des menschlichen Umgangs mit Tieren deutlichwird. Karremann kritisiert, dass die serienmäßig vollzogene Tötung von Tieren als integraler Bestandteil unserer zivili-sierten Menschheit vom Grundsatz her nicht hinterfragt wird,allenfalls Kritik an dem „wie“ geäußert wird, nicht aber „ob“wir eigentlich das Recht haben, Tiere nach Gutdünken und Appetit zu töten.

Der Buchtitel ist keine bloße Redewendung, sondern Histo-rie. Die australischen Ureinwohner, die Aborigines, fielen zuAnfang der Besiedlung des Kontinents durch Kolonialisten un-ter die Pflanzen- und Tiergesetze und wurden „behandelt wieTiere“. Einleitend hinterfragt der Autor den Sprachgebrauch,der schon auf die Verdinglichung der Tiere zu menschlichenZwecken hinweist. So handelt es sich bei den Tierbezeichnun-gen „Versuchs-Maus“ oder „Schlacht-Schwein“ nicht um Spe-zies im Sinne der biologischen Systematik, vielmehr entstehtder Eindruck, dass von sachdienlichen Gegenständen die Redeist. In zahlreichen Redewendungen werden Tiere in unsererGesellschaft aufgewertet, oder aber im Gegenteil abgewertet,was unseren oft unreflektierten und vor allem widersprüchli-chen Umgang mit Lebewesen widerspiegelt. Hat man ebennoch „Schwein gehabt“ und lobpreist das Schwein als Glücks-bringer, wird ein Mitmensch, über den man verärgert ist, als„Schwein“ und damit als zu verachten bezeichnet. Doch Kar-remann unterlässt es, bestimmte Personengruppen anzuklagen.Wer jedoch die Frage stellt: „Was sind das für Menschen, dieTiere schlecht behandeln?“ und damit Tierexperimentatoren,Schlachter oder Pelzzüchter meint, dem wird die Gegenfragegestellt „Was ist das für eine Gesellschaft, die solche Hand-

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lungen zulässt, duldet – ja sogar durch gedankenlosen Konsumin Auftrag gibt?“ (S. 9)

„Bei mir kommt keiner in den Betrieb. So blutige Bilder willdoch sowieso niemand sehen. Und außerdem sollen die Leutedas Zeug fressen und nicht fragen, wo es herkommt “(S. 215)äußerte ein Schlachthofbetreiber in einem Interview mit demAutor. Letztlich, so machen Karremanns Recherchen deutlich,wird auch der Konsument zum Opfer der Gewinnoptimierung,indem er vielfach qualitativ schlechte, mit Hormonen und Medi-kamenten behandelte Tierkörper isst. Im Gegensatz zur Wehrlo-sigkeit des Tieres allerdings, kann der Mensch dieser BrutalitätEinhalt gebieten – indem er auf tierische Produkte verzichtet.

Interessant sind Karremanns Erläuterungen zur Herkunft desBegriffs „Tiervernichtung“. Dieses Wort entspringt nicht derEmotion eifriger Tierschützer, sondern wurde von Tiernutzernoder gar der Politik geprägt. In der Schweinezucht wird von„Abfallferkel“ gesprochen, und die EU stellt großzügige Sub-ventionen zur „Vernichtung“ von Kälbern, bekannt als„Herodesprämie“.

Häufig werden Forderungen nach humanem Töten oder Ideenzur tierschutzgerechten Schlachtung laut – schon allein derFleischqualität wegen, denn Fleisch von verängstigten oder ge-stressten Tieren soll ungesund sein. In Kochbüchern finden sichBeschreibungen, wie man Krustentiere tierschutzgerecht tötenkann, wofür der Autor ein Beispiel zitiert: „... Große Hummermuss man mindestens fünf Minuten im sprudelnd kochendemWasser untertauchen, um den Todeskampf der Tiere so kurz wiemöglich zu halten.“ Auch hier führt der Autor eine Wider-sprüchlichkeit im Verhalten an, die sich wiederum im Sprach-gebrauch findet: „Man kann nicht tierschutzgerecht töten, eben-so wenig wie man menschengerecht morden kann.“ (S. 57)

Dem Leser soll verdeutlicht werden, dass Fleisch-, Milch-oder Pelzkonsum in direkter Weise Tierelend fördert. Ein Kon-sument, so Karremann, verursacht eine ganze Kette von Leidund Tod. Nur wird allzu gern „die Verantwortung an der Laden-theke abgegeben“. Beispielsweise veranlasste die Nachfragenach Putenbrust findige Züchter, männliche Tiere mit einerüberdimensionalen Brust zu züchten. Als Folge sind 97% derTruthähne schwer krank.

Als Pelzhändler getarnt ist es dem Autor gelungen, auch dieGeschichte des Pelzkragens zu dokumentieren: „Tausende vontoten Katzen liegen auf dem Fabrikgelände. Manche Gesichterzeugen noch von der Qual des Sterbens: Erschlagen, ersäuft,erdrosselt. Dazwischen sitzen lebende Katzen, mit einemDraht an Holzpflöcke gebunden. Die lebenden Katzen sollenRatten von den Resten der toten Katzen fernhalten.“ (S. 136)Die Entscheidung, ob der Verbraucher künftig wieder eineJacke mit Pelzbesatz kauft oder lieber auf ein Kleidungsstückverzichtet, für das Tiere gequält und getötet wurden, sei jedemselbst überlassen. Information kann aber der Schlüssel zumUmdenken sein.

Karremann schildert in seinem Buch nicht nur das Ausmaßder alltäglichen Tierqual. Er zeigt darüber hinaus, welche dra-stischen ökologischen und sozialen Folgen unsere industrielleProduktion von sogenannten Nutztieren hat. Mit dem übermäs-sigen Fleischkonsum geht nicht nur die Qual von vielen Millio-nen Tieren einher, auch die Umwelt und andere Völker haben

unter unseren Konsumansprüchen zu leiden. Eine zur Verdeut-lichung herangezogene Studie der Tierrechtsorganisation PETA(People for the Ethical Treatment of Animals) belegt, dass inden USA die Tiere, die für den menschlichen Verzehr gezüchtetwerden, 130 mal mehr Exkremente produzieren als die ganzeWeltbevölkerung, und dass die verbrauchte Wassermenge fürfünf Kilogramm Fleisch dem durchschnittlichen Jahreswasser-verbrauch von zwei Personen entspricht. Wie der Autor treffendpostuliert, frisst unser Vieh die Nahrung der Armen. Denn aufeinem Hektar Land können 22.500 Kilogramm Kartoffeln an-gebaut oder 185 Kilogramm Fleisch produziert werden. Diegängigste Variante ist, die 22.500 Kilogramm Kartoffeln in ei-nem Entwicklungsland anzubauen, um sie dann an die Tiere inden Industrieländern zu verfüttern.

Tierschutz eilt, so der Appell Karremanns. Denn für dasSchwein, das nächsten Montag zum Schlachthof transportiertwird, kommt jede Tierschutzvorschrift am Dienstag zu spät.Das Schicksal von Milliarden Tieren liegt allein in unsererHand. All denjenigen, die bislang noch keinen Zugang zumThema hatten, liefert das Buch einen optimalen Einstieg, da dieInformationen zwar vielseitig und umfassend sind, aber stetsgut verständlich und zusammenhangsorientiert dargestellt wer-den. Auch Menschen, die sich im Alltag ohnehin schon für dasWohlergehen der Tiere einsetzen, bietet das Werk wertvolleDenk- und Handlungsansätze. Die Antwort auf die Frage desBuchtitels „Wie wir jeden Tag Tiere mühelos schützen können“wird letztlich unmissverständlich gegeben: Im Verzicht auf alletierischen Produkte liegt ein Meilenstein des Tierschutzes.

Silke Bitz

1.2 Rolf Gollob, Sarah Tresch, Marlies Voser:Von Menschen, Tieren und Politik. Ein aktuellerBeitrag zum Tierschutz und zum Ablauf politischerProzesse in der Schweiz.144 Seiten, Th. Gut Verlag/Scola Verlag, 2006, CHF 26.80

Kindern und Jugendlichen das Thema Politik zugänglich zumachen, war eine Leitidee dieses Unterrichtsbuches. Um ab-strakte politische Prozesse emotional anzureichern, eignet sichwiederum unser Umgang mit Tieren. “Von Menschen, Tierenund Politik” will sowohl die verschiedenen Facetten von politi-scher Entscheidungsfindung als auch des Tierschutzes beleuch-ten. Für beide Bereiche wurden zentrale Themenfelder ausge-wählt.

Anhand von Interviews mit zahlreichen Experten aus demBereich der Politik und des Tierschutzes und mit Hilfe vonSachtexten sollen die politische Haltung und der Handlungs-spielraum von verschiedenen Akteuren verdeutlicht werden.Dabei beziehen sich die Ausführungen zur Politik ausschließ-lich auf das politische System der Schweiz. Die Spannweite desBuches ist beachtlich, sie reicht von der richtigen Haltung vonMeerschweinchen bis hin zur Revision des Tierschutzgesetzes.Sie ist zugleich Stärke und Schwäche des Buches: Stärke, weilFragestellungen zum Tierschutz in der ganzen Breite ange-

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schnitten werden, und Schwäche, weil die verschiedenen Zu-gänge zum Thema und die angesprochenen unterschiedlichenEbenen durchaus verwirrend wirken können.

Das Begleitheft für Lehrerinnen und Lehrer enthält didak-tisch aufbereitete Materialien. Zwölf Unterrichtsvorschlägesind herausgearbeitet, die auch unabhängig voneinander in derMittel- und Oberstufe der Volksschule eingesetzt werden kön-nen. Ob Thema Tierhaltung, Labels, Politik oder Straffälle: Esfinden sich Lehrmaterialien, die im Biologieunterricht ver-wendet werden können, und Unterrichtsmaterialien, die fürden Staatskundeunterricht nützlich sind. Die beiliegende Tier-CD-ROM der Stiftung für das Tier im Recht bietet darüberhinaus eine das Buch unterstützende Vielzahl von Dokumen-ten und Videostatements zu den zentralen Themenbereichendes Buches.

Felix Wirz

1.3 Jeffrey M. Masson:Wovon Schafe träumen. DasSeelenleben der Tiere 350 Seiten, Wilhelm Heyne Verlag,2006, Euro 8.95

Enten können in Trauer versinken, Kühein lang anhaltende Schwermut verfallen,und Schweine verändern ihre Persön-lichkeit, wenn sie verliebt sind. DieZuschreibung solcher Emotionen und die

daraus resultierenden Verhaltensveränderungen blieben langeZeit dem Menschen vorbehalten. In seinem Buch mit dem en-glischen Orginaltitel “The pig who sang to the moon. The emo-tional world of farm animals“ stellt der VerhaltensforscherMasson die noch immer verbreitete Ansicht, dass nur Menschenzu tiefen Gefühlen fähig seien, grundlegend in Frage. SeinBlick auf Tiere ist geprägt von der Suche nach Ausdrucksfor-men, die auf einen bestimmbaren Bewusstseinszustandschließen lassen. Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen stehendem entsprechend emotionale Gemeinsamkeiten, die Menschenmit Tieren teilen.

Dabei geht es ihm explizit nicht um Heimtiere, wohl wissenddarum, dass jeder Hundehalter zweifellos eine umfassendePalette von Gefühlszuständen bei seinem Tier benennen könnteund zu Recht empört reagieren würde, spräche man seinemHund das Gefühlsleben ab. Eben jenen engen emotionalen Kon-takt zum Heimtier nutzt Masson, um Verständnis und Rücksichtfür Nutztiere einzufordern, deren derzeitiger Status weitestge-hend über ihre Funktion als Fleisch-, Milch- oder Eierlieferan-ten definiert ist. Vor allem bei den Nutztieren sei noch immerdas Vorurteil zu entkräften, wonach diese als spezielle Züchtun-gen nicht oder nur wenig unter den schlechten Haltungsbedin-gungen der Massentierhaltungen litten (vgl. S. 297). Kühe,Schweine, Schafe, Enten oder Hühner besitzen die gleichenemotionalen Fähigkeiten wie ihre evolutionären Vorfahren, soseine These. Dies zu verdeutlichen ist das zentrale Ziel derdeutschen Erstausgabe seines Buches.

Der Verhaltensforscher und Psychoanalytiker stützt seine Aus-führungen zur Empfindungsfähigkeit und zur Gefühlswelt vonNutztieren auf bereits bekannte wissenschaftliche Untersuchun-gen. Seine Beschreibungen und Folgerungen über die Gefühls-welt von Tieren sind aber vor allem geprägt von seiner eigenenBeobachtung: „Ich habe durchgängig eine Methode angewandt:Um ein Tier, dass wir heute kennen zu verstehen, habe ich seineVorfahren von gestern in Betracht gezogen. Diese Vorgehenswei-se hat folgenden Grund: Als ich über Hunde schrieb wurde mirklar, dass ich, um deren Innenleben zu verstehen, etwas, ja sovielwie möglich über das Leben der Wölfe wissen musste. Dies hieltich gerade dann für angebracht, wenn das Tier, das man untersu-chen möchte, sein Innenleben nicht offenbart, wie es bei Nutztie-ren der Fall ist. Sie erscheinen uns fern unzugänglich – zum Teildeshalb, weil wir nie die Anstrengung unternommen haben, sie[…] kennen zu lernen, und weil wir nicht in der Weise mit ihnenzusammenleben wie mit Hunden und Katzen. Wir untersuchensie nicht, sondern töten sie.“ (S. 297f.)

Der Psychoanalytiker Masson macht deutlich, dass die Di-stanzierung von den Bedürfnissen und das Desinteresse an denVerhaltensweisen von Nutztieren, wie sie vielfach praktiziertwerden, als ein Verdrängungsmechanismus im psychoanalyti-schen Sinne und damit als menschlicher Schutzmechanismuszu betrachten sei. „Nutz“-Tiere, wie bereits das diskriminierendkategorisierende Wort besagt, bleiben als Produktlieferanten le-diglich im Status von Objekten gefangen. Somit zählen ihreKörper in erster Linie als Produkte der Nahrungsmittelindustrie,ihr eigenes Wohl bleibt dabei unberücksichtigt. Bemüht darum,zu verdeutlichen, dass auch Nutztiere ein gutes oder schlechtesLeben führen können, erstellt der Autor von den häufigstenNutztierarten Porträts, die die Funktion haben, die in Masse ge-haltenen und auch als Masse wahrgenommenen Lebewesen alsIndividuen in Erscheinung treten zu lassen. Seine Tierporträtszeugen von der tiefen Empathiefähigkeit des Autors und vonseinem Unverständnis ihrer schlechten Behandlung. Sie lassenden Leser gelegentlich auch etwas schmunzeln: „Truthähne ha-ben eine Vorliebe dafür, mit ihren wilden Cousins zusammen zusein und berührt zu werden. Besonders die Männchen wollenwegen der herrlichen Farben des Gefieders an Hals und Kopfbewundert werden.“ (S. 313)

Massons Buch wirkt in dieser Hinsicht zuweilen etwas über-zeichnet, wofür sich wiederum eine psychoanalytische Erklärunganbietet: Als Reaktion auf die Realität, der im wörtlichen SinneInstrumentalisierung von empfindungsfähigen Lebewesen, über-spitzt der Autor die Parallelen von menschlicher Emotionalitätund den Emotionen von Tieren. Die Kritik einer Vermenschli-chung oder zumindest eines projektiven Verhältnisses zu Tierenmag hierbei nahe liegen. Diese Über-Pointierung hat jedoch eineFunktion: Sie kann als notwendige Reaktion auf die aktuelle Pra-xis, die lange Tradition des inhumanen Umgangs mit Nutztierenverstanden werden. Da sich Traditionen nicht selten unhinterfragtnur über ihre Tradiertheit legitimieren, bedarf es vielfach einesradikalen Perspektivenwechsels, um inhumane Verhaltensweisenauch als solche wahrzunehmen. Diesen Perspektivenwechsel hatMasson hinreichend vollzogen.

Petra Mayr

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1.4 Thomas MachoArme Schweine. Eine Kulturgeschichte (Hrsg.) Stiftung Schloss Neuhardenberg Berlin. 144 Seiten.Nicolaische Verlagsbuchhandlung, 2006, Euro 19.90

Die reich bebilderte Kulturgeschichte der Schweine enthältvierzehn Essays, die sich mit verschiedenen Aspekten desSchweines in der Alltagskultur, in Geschichte, Literatur undKunst befassen; das Porcilegium, eine Sammlung literarischerZitate rund um das Schwein, beschließt den Band. Die Strei-flichter, die eine Fülle weiterführender Hinweise enthalten,machen deutlich, dass kein Tier so polyvalent ist wie dasSchwein (Th. Macho). Diese Vieldeutigkeit, ja Widersprüch-lichkeit zeigt sich in der Symbolik bzw. im Stellenwert, den dasSchwein in verschiedenen Kulturen innehat: War das Schweinin Asien seit alters her ein Symbol für Glück, Fruchtbarkeit undWohlstand, so galt und gilt es dem Judentum und dem Islam alsInbegriff des Unreinen (K. Solhdju). Aber auch im europäis-chen Raum steht dem sprichwörtlichen Glücks- und Spar-schwein das Schwein in seiner pejorativen Bedeutung als uner-schöpfliches Reservoir an Schimpfwörtern und Zotengegenüber. Die Beiträge zeigen, dass Schweine nahezu allge-genwärtig sind, sei es in Form von Kitsch oder Kunsthandwerk,sei es als Schweinsschnitzel auf den Tellern der Wohlstandsge-sellschaft. Dabei sind gerade Schweine dem Menschen sowohlin anatomischer als auch in physiologischer Hinsicht so ähn-lich, dass sie geradezu als Doppelgänger des Menschen beze-ichnet wurden. Diese Ähnlichkeit fand nicht nur in der Literaturihren Niederschlag – „Menschen sind senkrechte Schweine“soll E. A. Poe gesagt haben, und in einem Gedicht von G. Bennheißt es “Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“ –,sie zeigt sich auch darin, dass die biomedizinische Forschungdas Schwein längst nicht nur als Versuchstier, sondern auch alsErsatzteillager für die Xenotransplantation entdeckt hat. Diedadurch geschürten Heilsszenarien werden lediglich durch dienach wie vor ungelöste Problematik immunologischer Ab-stoßungsreaktionen und porciner endogener Retroviren getrübt(A. Wunschel).

In den 1980er Jahren ist das Schwein – in Gestalt des Minip-igs – auch zum Heimtier avanciert. Der Beitrag von S. Kamp-mann enthält eine Vielzahl von Beispielen für die fiktive undreale Anthropomorphisierung des Schweines, leider ohne da-rauf hinzuweisen, dass diese Vermenschlichung in aller Regelzu Lasten der Bedürfnisse der Tiere geht.

Letzteres gilt freilich auch für die Zucht- und Mastschweine.Ch. Kassung („Vom Schweinebraten bis zur Mastanlage“) be-handelt das Schwein als Fleischlieferanten. Historische Quellenbelegen, dass die züchterischen Veränderungen, die dasSchwein im 19. Jhdt. erfahren hat, bereits von Zeitgenossenäußerst kritisch betrachtet wurden. Kassung zitiert aus dem1877 erschienenen Neuen Buch der Erfindungen, Gewerbe undIndustrien: „Die Thiere sind […] leistungsfähiger geworden[…] auf Kosten der Gesundheit und Lebensdauer. […] die kün-stlich ausgebildete erstaunliche Schnellreife und Mastfähigkeitbei unseren Schlachttieren ist nichts Anderes als künstlichgesteigerte Fettsucht.“ (S. 103) Befremdlich wirkt, dass Kas-sung zwar die enorme Anzahl der geschlachteten Schweine the-

matisiert, auf die Haltungsbedingungen der Tiere jedoch über-haupt nicht eingeht. Dabei hat H. Röcklinsberg (Das seufzendeSchwein. Zur Theorie und Praxis in deutschen Modellen zurTierethik, 2001) eindrücklich aufgezeigt, wie sehr dieBedürfnisse der Schweine in konventionellen Zucht- und Mas-tanlagen missachtet werden.

Insgesamt ist die Kulturgeschichte der Schweine eine unter-haltsame und anregende, aber überwiegend unkritische Au-seinandersetzung mit der Mensch-Schwein-Beziehung; siezeigt implizit, wie oberflächlich die Beziehung zwischen Men-sch und Tier im Allgemeinen und zwischen Mensch und Nutzti-er im Besonderen ist.

Regina Binder

1.5 Claudia Schnieper:Blickpunkt Tiere. ProfessionellerTierschutz im Lauf der Zeit 208 Seiten, Haupt-Verlag, 2006, Euro 27.00

„Blickpunkt Tiere“ wurde anlässlich des150-jährigen Bestehens des Zürcher Tier-

schutzvereins herausgegeben, der im Jahr 1856 als „Vereingegen Thierquälerei“ gegründet wurde. In dem ansprechend illustrierten Bildband stellt die Autorin Claudia Schnieperzahlreiche Projekte vor, die der Zürcher Tierschutz finanzielloder ideell unterstützt.

Eingangs gibt es eine umfassende Übersicht über die Ge-schichte des Tierschutzes und das Engagement des ZürcherTierschutzes für eine humanere Welt. Der Leser wird in dieHöhen und Tiefen eingeführt, die der Verein während der 150Jahre immer wieder durchlebt hat. Die Autorin beschreibt dieRückschau als „Kampf um Tier- und Menschenwürde, der ei-nem Schattenriss gleicht, der vom Kontrast lebt: Hell und Dun-kel, Gut und Böse, Tod und Leben spielen dabei die Hauptrol-len.“ (S. 27) Die Geschichte des Vereins sei dennoch einParadebeispiel für den Erfolgsweg der kleinen, pragmatischenSchritte, mit denen die gesteckten Etappenziele erreicht wer-den. Dem informativen Rückblick folgen zehn Kapitel, in de-nen exemplarisch Projekte aus verschiedenen Bereichen undGegenden, von der Landwirtschaft über den Tierpark bis zumNashornreservat in Kenia, vorgestellt werden und einen ein-drucksvollen Querschnitt durch die Einsatzfelder des ZürcherTierschutzes bieten.

„Blickpunkt Tiere“ ist eine Zusammenschau von fachlichenInformationen über die Verhaltensweise und Lebensrauman-sprüche von Tieren, gekoppelt an die Darstellung konkreterSchutzprojekte. Hierbei richtet sich der Blick bei der Aus-wahl der Förderprojekte keineswegs nur auf die Tiere als iso-lierte Lebewesen. Das Tier steht zwar im Zentrum der Auf-merksamkeit, jedoch wird deutlich, dass der Tierschutz alsintegraler Bestandteil eines umfassenden Schutzbedürfnissesunserer Umwelt mit all ihren Lebensräumen und Bewohnernverstanden wird. Denn, wie die ausgewählten Förderprojekteunterstreichen, kann ein Tier nur dann nachhaltig geschützt

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werden, wenn der gedankenlosen Zerstörung der Lebens-grundlage der Tiere durch den Menschen Einhalt gebotenwird. Beispielsweise werden Projekte gefördert, die durchRenaturierung von Gewässerabschnitten Lebensraum fürFischotter bieten und zu einer Vernetzung von bislang isolier-ten Lebensräumen beitragen. Der Zürcher Tierschutz be-grenzt darüber hinaus seine Arbeit nicht auf lokale Aktivitä-ten, sondern verbindet seine Expertise mit globalem Handelnund unterstützt neben Projekten zum Schutz von einheimi-schen Tieren und deren Lebensräumen – wie Igel und Fleder-mäuse – und zur artgerechten Haltung von Heimtieren auchländerübergreifende Aktivitäten bis hin zu internationalenSchutzprojekten von Nashörnern in Kenia. Aufmerksamkeiterhalten auch die in Zoos und Tiergehegen eingesperrtenWildtiere, die fernab ihrer Heimat ein trostloses, ihren natür-lichen Lebensräumen entkoppeltes Dasein fristen müssen.Wildkatzen beispielsweise, die in Westeuropa bis auf wenigeRestpopulationen ausgerottet sind, gelten in Zoos bei Besu-chern aufgrund ihrer äußeren Ähnlichkeit mit Hauskatzen alsunattraktiv und führen ein unwürdiges Schattendasein alszwangsweise Zoobewohner. Über das Verhalten und die We-sensmerkmale dieser faszinierenden Wildtiere ist kaum etwasbekannt. Daher unterstützt der Zürcher Tierschutz seit eini-gen Jahren eine wissenschaftliche Studie, die das Verhaltenvon Wildkatzen ergründet. Die Erkenntnisse um die An-sprüche der Tiere dienen wiederum einer artgerechten Ge-staltung der Gehege von Tieren in Menschenhand, so dass dieHaltung in Gefangenschaft wenigstens etwas erträglicher fürdie Wildtiere wird. Eine ebenso interessante wie erschrecken-de Erkenntnis des Forschungsprojektes gibt die Aussage: „Ei-ne der auffallendsten Eigenschaften der Wildkatze ist ihrekompromisslose Wildheit: Sie lässt sich nie und nimmer zäh-men. Selbst Tiere, die von Hand aufgezogen worden sind, las-sen sich im Erwachsenenalter nicht kraulen. Im Gegensatzzur Hauskatze, dem Streicheltier schlechthin, dulden Wild-katzen keine menschlichen Berührungen.“ (S. 98) Man kannnur erahnen, welches Leid es für die instinktiv menschen-scheuen Tiere bedeutet, in kleinen Gitterkäfigen ohne nen-nenswerte Rückzugsmöglichkeit den Blicken, Stimmen undGerüchen des Menschen permanent ausgesetzt zu sein.

Die ansprechende Gestaltung mit einem ausgewogenen Ver-hältnis zwischen Text und eindrücklichen Farbfotos lädt zumSchmökern ein. Dabei bekommt der Leser zahlreiche visuelleEindrücke sowie gedankliche Anregungen zum Tier- und Na-turschutz vermittelt, ohne mit Informationen überfrachtet zuwerden. Dennoch regt der Bildband zum Nachdenken über daseigene alltägliche Tun und Handeln an und weitet den Blick fürdie – weitestgehend durch den Menschen verursachten – Nöteder Natur und insbesondere für die in ihr lebenden Tiere. Hier-bei wird deutlich, dass wir nicht nur lokal, sondern global unserBewusstsein für unsere Umwelt schärfen müssen.

Zusammenfassend kann der Bildband „Blickpunkt Tiere“allen empfohlen werden, die sich für Tiere und deren Bedürf-nisse, darüber hinaus aber insbesondere auch für die lokal undglobal wirkenden kausalen Zusammenhänge zwischen Tier-schutz, Naturschutz und den Auswirkungen menschlichenHandelns, interessieren. Das Buch zeigt den konkreten Hand-

lungsbedarf und vor allem Handlungsmöglichkeiten auf, wiewir Menschen ganz gezielt helfen können, der Zerstörung derLebensgrundlage für die Tiere, die Natur und damit letztlichfür uns selbst, zumindest ein wenig entgegenzuwirken.

Silke Bitz

1.6 Karl-Heinz Loske:Von der Jagd und den Jägern –Bruder Tier und sein Recht zuleben 324 Seiten, Monsenstein & Vannerdat,2006, Euro 16.80

Den von Jagdbefürworten unermüdlichkommunizierten Jagdmythen stellt derAutor plausible, ökologische Tatsachengegenüber. Schon im Vorwort und in der

Einleitung wird klar, dass hier ein vehementer Jagdgegnerspricht, der seine Antipathie den Jägern gegenüber unverblümtzum Ausdruck bringt. Seiner Auffassung nach verkörpert dieJagd „den männlichen Anspruch auf Manipulation der natürli-chen Welt. Mit ihr leben sich destruktive, emotionale Struktu-ren und irrationale Leidenschaften aus. Wer tötet, was er liebt,ist seelisch krank. Deshalb ist die Freizeitjagd Symptom einerKrankheit und keine Therapie für die Natur.“ (S. 11) Auf 324Seiten, gegliedert in vier Teile mit insgesamt 44 Kapiteln, gibtder Biologe Karl-Heinz Loske umfangreiche Informationenüber Geschichte, Fakten und Hintergründe der Jagd.

Loskes Kritik besteht jedoch nicht aus bloßen Anfeindungen,sondern er bedient sich klar belegbarer Fakten, die argumenta-tiv schlüssig begründet sind. Der Autor, einst selbst leiden-schaftlicher Jäger, liefert Information aus erster Hand. Diemeist verbreiteten Argumente, die die Jagdbefürworter zurRechtfertigung der Ausübung der Jagd anführen, werden vonLoske beleuchtet und widerlegt. Dabei besteht die Argumenta-tion nicht aus pauschalen Gegenaussagen, vielmehr führt ersehr fundierte und wissenschaftlich begründete Tatsachen an,die auch für Laien verständlich sind. Aus seinen Ausführungenwird deutlich, dass die Argumente der Jäger offensichtlich einselbsterbautes Konstrukt sind, das den anerkannten Naturgeset-zen widerspricht. „Jagd wie sie heute in Deutschland praktiziertwird, ist gegen lebendiges Fließen in der Natur gerichtet“ (S. 10), so der Autor.

Besonders aufschlussreich ist die Darlegung ökologischerFakten, die unzweifelhaft verdeutlicht, welche dramatischeStörung des ökologischen Gleichgewichts der Jäger als selbst-ernannter Regulator der Natur verursacht. Loske widerlegt diesogenannte Überschusstheorie. Den Jägern zufolge ist „Über-schuss“ die Differenz zwischen der Anzahl der Tiere im Herbstund der Anzahl der Tiere, die im Winter überleben können undim Frühjahr den Bestand stellen. Loske belegt, dass die Jagd der„überschüssigen“ Tiere die natürliche Sterblichkeit vorweg-nimmt. Hierdurch verringert sich die natürliche Mortalität, daKonkurrenz und Dichte herabgesetzt werden. Die Überschuss-theorie unterstellt demnach fälschlicherweise, dass die Gesamt-

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sterblichkeit konstant bleibt, unabhängig davon, ob eine Popu-lation bejagt wird oder nicht.

Vom Autor zitierte Beispiele untermauern darüber hinaus diewissenschaftliche Theorie, wonach die Wildarten durch Ver-zicht auf Bejagung ihre Lebensweise und Dichte selbst regulie-ren, und sich damit von allein ein ökologisches Gleichgewichteinstellt. Loske führt hierzu den Vatikanwald im Nordosten Ita-liens an, in dem seit 60 Jahren nicht mehr gejagt wird und wodas Schalenwild und artenreicher Bergmischwald prächtig har-monisieren. Im Nationalpark Belluno in den Dolomiten findetseit 1990 keine Jagd mehr statt, und es sind keine Schäden ander Vegetation bekannt. Im Kanton Genf in der Schweizschließlich herrscht seit ca. 30 Jahren Jagdverbot; die Populati-onsdichte hat sich auf ein natürliches Niveau eingependelt.

Interessant sind die Ausführungen des Verfassers zu Her-kunft und Interpretation des Begriffs der „Hege“. In § 1 Abs.2 des Bundesjagdgesetzes ist der Hegeauftrag als „Erhalt ei-nes artenreichen und gesunden Wildbestandes“ definiert. DemLeser soll mit den Ausführungen des Autors klar werden, dassdiese fürsorglich klingende Definition durchaus irreführendist, da die Auffassungen zum Begriff der Hege sehr ge-gensätzlich sind. Während viele Menschen damit die Fürsorgeund Pflege für Tier und Natur assoziieren, ist nach dem Ver-ständnis der Jäger mit der Hege vor allem die Fütterung derWildtiere gemeint. Dabei, so erläutert Loske, geschieht diesnicht zum Wohle der Tiere; vielmehr werden eigennützigeZiele der Jäger angestrebt. Denn die Fütterung erfolgt nichtnur in Notzeiten, sondern jederzeit, womit die Tiere an dasJagdrevier gebunden werden. Geschwächte Tiere werden amLeben erhalten und geben ihr ungeeignetes Erbgut weiter. Sosteigt der Wildbestand – anstelle natürlicher Auslese durchNahrungsmangel – und damit der Jagderfolg. „Die winterlicheFastenzeit, in der der Verdauungstrakt auf Winterruhe einge-stellt ist und Hirsch und Reh die Rohfaser von Baumrinde undKnospen brauchen, wird zur Mastzeit mit unnatürlicher Kraft-nahrung“ (S. 82), so Loske. Dies stelle einen Eingriff in dieNatur dar, da das Spektrum künstlich zu Gunsten jagdbarerArten verschoben wird. Der Begriff der Hege, mit seiner De-finition der Erhaltung der Artenvielfalt, wird insoweit ad ab-surdum geführt, als sogar fremde Arten eingebürgert werden.So beispielsweise Zuchtfasane aus Asien und Brutenten, die inMassenbodenhaltung aufgezogen und im Wald ausgesetztwerden. Diese verhalten sich wie domestizierte Tiere, sie ha-ben geringe Fluchtdistanzen und sind damit leichter zu er-schießen. Hinzu kommen die Leiden der Tiere durch Inzucht-effekte und Mutationen infolge künstlicher Massenaufzucht,die nachweislich zu Degeneration wie dem Verlust des Brut-triebes oder zur Schädigung der Hirnrinde führen. Des Weite-ren können Küken nicht schlüpfen, da die Eier infolge vonMaismast zu hartschalig sind.

Das Buch von Loske ist als lesenswert zu empfehlen, da estiefgründige, breit gefächerte und gut verständliche Informatio-nen über die Jagd beinhaltet und dabei sowohl ökologische alsauch ethische Gesichtspunkte beleuchtet. Bekräftigend kommthinzu, dass die Argumentation des Autors auf seiner eigenenlangjährigen Erfahrung als Jäger beruht, die Informationendemnach aus erster Hand stammen. Anderseits argumentiert

Loske als Biologe mit fachlichem Sachverstand und belegt sei-ne Ausführungen stets mit Quellenangaben zu wissenschaftli-chen Studien.

Sowohl wissenschaftlich arbeitenden Menschen als auch in-teressierten Laien liefert das Buch einen sehr umfassenden Ein-blick in das kontrovers diskutierte Thema Jagd und stellt fürJagdkritiker eine hervorragende Grundlage für die fundierteAuseinandersetzung mit Jagdbefürwortern dar.

Silke Bitz

1.7 Jonathan Balcombe:Tierisch vergnügt. Ein Verhaltensforscher entdecktden Spaß im Tierreich(Orig.: Pleasurable Kingdom.Animals and the Nature ofFeeling Good)In deutscher Übersetzung 274 Seiten,Kosmos Verlag, 2007, Euro 19.95Orig. 360 Seiten, Palgrave Macmillan2006, Euro 26.89

Die Einschätzung dass zumindest Wirbeltiere Schmerzen undLeiden empfinden, wird heute kaum noch auf Widerspruchstoßen. Auch wird jeder Heimtierbesitzer berichten können, wiesich sein Hund augenscheinlich am Ballspiel erfreut oder dieKatze vor Zufriedenheit schnurrt, wenn sie gestreichelt wird.Im wissenschaftlichen Diskurs, von der Tierethik bis zurEthologie, werden bis heute aber fast ausschließlich dieSchmerzen und Leiden der Tiere thematisiert. Nur wenigeFachpublikationen befassen sich mit der Ausprägung und Be-deutung positiver Empfindungen beim Tier. In seinem BandPleasurable Kingdom greift Jonathan Balcombe diese Ansätzeauf und steuert insbesondere in der Ethologie auf einen Paradig-menwechsel zu, hin zur Erforschung der positiven Empfindung.

Balcombe gliedert seinen Band in drei Teile. Im zweiten Teil(„What animal pleasure“) stellt er die verschiedenen Facettenpositiver Tierempfindung vor, von der Freude beim Spiel, überden Genuss beim Fressen oder dem Wohlempfinden beiBerührung und Sex bis hin zu den humoristischen Einlagen derGorillafrau Coco, die im Test schon mal das Handtuch mit derfalschen Farbe zeigte, um anschließend vielsagend zu grinsen.Auch wenn man nie absolute Sicherheit über die Empfindungdes Gegenüber erlangen kann und vieles letztlich anekdotischbleiben muss, liefert Balcombe genügend Evidenzen dafür, dassTiere auch positive Empfindungen haben.

In jedem Fall scheinen die Belege hinreichend, um im drittenTeil des Bandes („From animal Pleasure“) insbesondere dieForcierung von Verhaltensstudien über positive Erfahrungenvon Tieren – Balcombe nennt diesen Forschungszweig „Hedo-nic Ethology“ – zu fordern. Für Balcombe, der für das 1985gegründete Physicians Committee for Responsible Medicine(PCRM) arbeitet, gehört dazu zwingend, dass die Forschungmit hohen ethischen Standards verbunden sein muss. So sollenLaborstudien zur komparativen Verhaltensforschung nur mit

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domestizierten Tieren durchgeführt werden, um Wildtieren denStress der Gefangenschaft von vornherein zu ersparen.

Die Teile zwei und drei sind in sich stimmig und stellen eindurchaus überzeugendes Plädoyer für die Berücksichtigung derpositiven Empfindungen beim Tier dar. Weniger überzeugenkann Balcombe dagegen im ersten Teil des Buches („Why ani-mal pleasure“), wo er das positive Erleben von Tieren alsTriebfeder der Evolution ausweisen und dem gegenüber den„Struggle for Life“ als nachträgliche Zuschreibung entlarvenwill. Es ist zweifellos richtig, dass der „Kampf ums Überleben“kein Telos kennt, und natürlich „denken Tiere nicht über den evolutionären Erfolg nach“, wie Balcombe schreibt. JedeTheorie, so auch die Evolutionstheorie ist „nur“ als eine vonvielen Erklärungsformen zu betrachten, die letztlich immer nurZuschreibungen sein können. Für die Idee, dass Lernen durchpositives Erleben ein adaptives Moment sein kann, gibt es imDeutschen den Begriff „Funktionslust“. Auch die Einführungdieses Motivs ist – natürlich – eine nachträgliche Zuschreibung.Und spätestens wenn Balcombe intendiert, dass es zwischen derFreude am Spiel und dem Erlernen von Überlebensstrategienwohl ebenso einen Zusammenhang gibt wie zwischen dergeschmacklichen Abneigung gegenüber einer Pflanze und derenGiftigkeit, bewegt er sich vollends in jenen Bahnen, die ereigentlich aushebeln wollte. Denn mit dieser Argumentation,die Freude am Spiel von Tieren, sei eine grundlegendeTriebfeder der Evolution, bedient er sich ebenso einerZuschreibung, wie er sie zuvor für den „Kampf ums Überleben“abgelehnt hat.

Verdienst dieses Buches bleibt es dennoch, dass es den Blickauf das individuelle Erleben von Tieren vervollständigt. Tieresind eben nicht nur schmerzempfindliche und leidensfähigeLebenswesen, sondern sie können auch Freude und Genussempfinden oder „just for fun“ umhertollen und spielen. Dem-entsprechend kann es auch im Tierschutzdiskurs nicht nurdarum gehen, Tiere vor Leiden und Schäden zu bewahren. Zwarist der „Schutz des Wohlbefindens von Tieren“ längst gängigeRede, doch für viele am Tierschutzdiskurs Beteiligten heißt diesnach wie kaum mehr als den Erhalt der rein körperlichenTiergesundheit sicherzustellen. Was damit tatsächlich gemeintist, kann man in diesem Buch nachlesen: Tiere müssen sichauch gut fühlen können.

Roman Kolar

1.8 Roger J. Busch und PeterKunzmann:Leben mit und von Tieren.Ethisches Bewertungsmodell zur Tierhaltung in derLandwirtschaft94 Seiten München, Herbert Utz Verlag,2006, 2. überarbeitete Auflage, Euro 14.80

Das Ziel dieser Studie ist es, die Praxis der landwirtschaftlichenTierhaltung und Tiernutzung anhand eines standardisierten Kat-

alogs auf ethische Vertretbarkeit zu überprüfen. Hintergrund derEntstehung des Bewertungsmodells ist nach Angaben der Ver-fasser ein Projekt von landwirtschaftlichen Fachverbänden, diefür die Öffentlichkeit eine Broschüre entwarfen, um über dieAbläufe in der Landwirtschaft zu informieren. Im Rahmendieser Überlegungen stellte sich heraus, „(…)dass eine ethischeBewertung der landwirtschaftlichen Tierhaltung für die Kom-munikation mit der interessierten Öffentlichkeit unverzichtbarist“. (S.5) Die Autoren, der Theologe Roger J. Busch und derPhilosoph Peter Kunzmann vom Institut für Technik-Theologie-Naturwissenschaften e.V., das der Ludwig-Maximilians-Uni-versität in München angegliedert ist, beabsichtigen einen„(…)versachlichten Dialog der Parteien zu beiderseitigemNutzen, aber auch zum Nutzen von Tier und Umwelt (…)“.(S.4) Dementsprechend liegt ein Schwerpunkt des Buches auchauf dem Umgang mit landwirtschaftlichen Nutztieren, der vonder Öffentlichkeit zunehmend mehr hinterfragt wird.

Während die erste Auflage des Buches ausschließlich dieStudie des ethischen Bewertungsmodells beinhaltete, umfasstdie zweite Auflage auch eine Darstellung des ausführlichen Be-wertungsgangs.

So befassen sich die Autoren zunächst mit Betrachtungen zurProblematik der Kommunikation zwischen Landwirten und derÖffentlichkeit. Anschließend wird die Spezialisierung derLandwirtschaft unter dem Aspekt der verschiedenen Haltungs-formen, Zucht, Umweltökologie und Fütterung erläutert. Leiderbeziehen sich die Autoren hier meist auf Daten, die schoneinige Jahre alt und damit nicht mehr aktuell sind. Erläutertfinden sich hier etwa Angaben über die regionalen Schwer-punkte der Tierzucht in Deutschland, sowie Standorte vonSchlachthöfen, aber auch die Diskussion um Zuchtziele, Leistungsförderer oder Medikamenteneinsatz in der Land-wirtschaft.

Zur Vorbereitung der theoretischen Grundlagen der ethischenBewertung folgt eine Abhandlung über die grundsätzlichen Fra-gen, die einer solchen vorausgehen müssen, wie beispielsweisedie Beurteilung des Begriffs der Massentierhaltung, die Erfas-sung idealisierter Vorstellungen der Landwirtschaft und eineausführliche Betrachtung des Begriffs der Würde.

Als ein Kernpunkt der Studie kann der Entwurf der ethischenPosition der Autoren betrachtet werden, zumal dieser die Basisfür das ethische Bewertungsmodell liefern soll. Im Kapitel zurethischen Grundlegung führen die Autoren zunächst aus, dassihre christliche Überzeugung nicht in das ethische Bewer-tungsmodell einfließen soll, um anschließend einige ethischeAnsätze kritisch zu diskutieren und ihre eigenen Positionen in Abgrenzung dazu zu entwerfen. Nach einem Durchgang diverser ethischer Positionen, wie etwa der „Ethik der Ehrfurchtvor dem Leben“ von Albert Schweitzer, dem Verweis auf De-fizite und Inkonsistenzen, kommen die Autoren zu folgendemSchluss: „Mögliches Leiden bei Tieren ist nicht nur das ethische Kriterium für eine Bewertung unseres Handelns Tierengegenüber – es erzwingt auch (…) erst ein ethisches Verhält-nis.“ (S. 54f.)

Die Verfasser entwickeln im Folgenden ihre ethische Posi-tion, was jedoch aufgrund von zum Teil widersprüchlichen Aus-führungen schwer nachvollziehbar ist. So postulieren sie einer-

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seits, einen Ansatz zu vertreten, der nicht speziesistisch ist, al-so die Interessen von Menschen sowie seine Leiden nicht höherbewertet als die von Tieren (S.51), anderseits plädieren sie zu-gleich für einen Pathozentrismus in modifizierter Form, dernicht die Gleichheit allen Leidens voraussetzt (S.55f.). DerVorteil eines modifizierten Pathozentrismus liege darin, dass erden unterschiedlichen Formen von Empfindungsfähigkeitgerecht werde.

Der eigentlichen Beschreibung des Bewertungsmodells isteine Betrachtung zur Verantwortung gegenüber Tieren, zur Er-fassung von Eingriffen am Tier und zur Rechtfertigung solcherEingriffe vorgeschaltet.

Das ethische Bewertungsmodell selbst besteht aus einer Ko-sten-Nutzen Analyse. Nach einer „ethischen Checkliste“ soll alserstes die Frage nach der guten fachlichen Praxis der Handlungbeantwortet werden. “Entspricht die Handlung guter fachlicherPraxis (im Sinne der Erfüllung gesetzlicher Mindestanforderun-gen)? Tut sie es nicht, besteht kein ethischer Konflikt, wohl aberein ethischer Imperativ: Ein Verstoß gegen die gute fachlichePraxis ist, sofern er zu Lasten des Tieres geht, ethisch nicht zurechtfertigen.“ (S. 80) Werden die gesetzlichen Mindestanfor-derungen erfüllt, müssen die Eingriffsintensität (etwa die Dau-er eines Eingriffs) und der Nutzen des zu prüfenden Vorgangsbewertet werden. Ist die Intensität zu hoch und zugleich derNutzen zu gering, ist die Handlung ethisch nicht vertretbar. Isteine Entscheidung noch nicht möglich, solle geprüft werden, obder angestrebte Nutzen anders zu realisieren ist, und das Tierdabei geschont werden kann. Eine ethische Rechtfertigung fürden Eingriff ist dann gegeben, wenn die Belastungen für dasTier nicht zu hoch sind und der Nutzen einen guten Grund dar-stellt, der anders nicht erreicht werden kann. Was bedeuten die-se theoretischen Annahmen mit ihrer Fülle von definitorischenImplikationen für die Praxis?

Am Beispiel der Fixierung der Muttersau in der Abferkel-bucht soll veranschaulicht werden, wie das Bewertungsmodellangewendet werden soll. Bezogen auf die „Kostenseite“, alsodie Belastungen der Tiere, stützen sich die Autoren auf den An-satz des Wohlbefindens, der auf das britische Farm Animal Wel-fare Council zurückgeht, dieses nennt, bezogen auf das Wohlvon Tieren, „fünf Freiheiten“: Freiheit von Hunger und Durst,Freisein von Unbehagen, Freisein von Schmerzen, Verletzun-gen und Krankheit, Freisein zum Ausleben normaler Verhal-tensweisen und Freisein von Angst und Leiden. Diese Katego-rien werden größtenteils von den Autoren übernommen undleicht modifiziert.

Die Beeinträchtigungen dieser Freiheiten sollen in der Be-wertungstabelle anhand der Kategorien „kein“, „gering“, „mit-tel“, oder „hoch“ eingestuft werden. Auf der Nutzenseite wird

diesen Belastungen für das Tier der potentielle Nutzen für vier„Parteien“ gegenübergestellt.

Die Verrechnung der Kosten (Belastungen) der Muttersauund des Nutzens (für die diversen Parteien) geschieht nun, in-dem auf der Seite der Belastungen jedem einzelnen Parameterauf der Nutzenseite ein anderer zugeordnet wird: So werden et-wa im Beispiel der Abferkelbucht die Schmerzen, Verletzungen,Krankheiten mit „hoch“ eingestuft. Beim Blick in die Tabelleder Nutzensseite finden sich zwei profitierende „Parteien“,nämlich die anderen Tiere (Ferkel) und der Landwirt, also, sodie Logik des Schemas, stehen der hohen Belastung zwei hoheNutzen gegenüber: Die Autoren wenden hierauf eine Formel an,die sie als „ethische Begründung“ bezeichnen: „Ein ethischplausibles Verhältnis zwischen Belastung und Nutzen besteht,wenn: … bei hoher Belastung des Tieres für dieses selbstund/oder andere Tiere ein hoher (vital bedeutsamer) Nutzenentsteht. Oder: … bei hoher Belastung für das Tier für andereBeteiligte ein vital bedeutsamer Nutzen entsteht (bspw. Verlet-zungsgefahr, Krankheitsprävention)“. (S. 88)

Im Fall von geringen Belastungen, wie das in der Beispiel-tabelle auf der Belastungsseite bei Angst und Stress der Fall ist,muss auf der Nutzenseite mindestens ein geringer Nutzen ge-genübergestellt werden, um einen Eingriff zu rechtfertigen. DieAutoren deklinieren dies jeweils wie im oben angeführten Zitatauch für die anderen Fälle durch. Mit dem Ergebnis, dass einsehr hoher Prozentsatz der auch in der Öffentlichkeit als ethischfraglich geltenden Eingriffe an Tieren in der Landwirtschaft inihrem „ethischen Bewertungsmodell“ als ethisch plausibel ver-rechnet werden.

Ein grundlegendes Problem ist allein schon die Gewichtungder einzelnen Kategorien, beispielsweise Schmerz versusHunger. Dass das hier vorgestellte Bewertungsschema aberohnehin kaum andere Ergebnisse liefern kann, ist darüber hin-aus schon in seinem Aufbau angelegt:

Erstens: Es finden sich auf der Seite der Belastungen derTiere Kategorien, deren Einteilung problematisch ist, da hinter-fragt werden muss, ob sie als trennscharf vorausgesetzt werdenkönnen, wie es die Tabelle suggeriert. Hunger und Durst kön-nen, so ist anzunehmen, bspw. auch Entstehungsfaktoren fürStress sein, sie können möglicherweise auch Unbehagen undLeid erzeugen. Diese Problematik ist ein Grundproblem derEthologie, darauf weisen die Autoren zu Recht hin. Die zentraleFrage ist aber: Was bedeutet die mangelnde Trennschärfe bezo-gen auf die Bewertung? Alle zugefügten Einschränkungen, diefür das Tier im weitesten Sinne ein Übel sind, werden auf derSeite der Belastungen aufgefächert und gehen nur je einzeln indie Bewertung ein. Was das bedeutet wird klar, wenn dieNutzenseite genauer untersucht wird.

Höhe der Belastungen…

Hunger, Durst, Fehlernähung keine

Unbehagen mittel

Schmerzen, Verletzungen, Krankheiten Hoch

Angst, Stress gering

Einschränkung des normalen Verhaltens hoch

Höhe des Nutzens…

Tier selbst gering

andere Tiere hoch

Landwirt hoch

andere Menschen kein

Umwelt kein

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Zweitens: Betrachtet man die Kategorien auf der Seite desNutzens, so fällt auf, dass dort mehrere Parteien, das Tier selbst,andere Tiere, der Landwirt und die Umwelt vertreten sind. DieKategorisierung des Nutzens in verschiedene Nutznießer istproblematisch, weil sie ebenfalls nicht trennscharf durch-zuführen ist. So kann etwa der Nutzen für die Ferkel und derNutzen für den Landwirt nicht kategorial getrennt werden, weilgerade im Überleben der Ferkel der Nutzen des Landwirts be-gründet liegt. Die mangelnde Trennschärfe der Kategorien bei-der Seiten ist für das Tier, dem gegenüber ein Eingriff ethischbewertet werden soll, folgenschwer: Denn, als Konsequenzdieses im Schema angelegten Fehlers werden auf der Nutzen-seite die Interessen doppelt und mehrfach in die Waagschalegelegt, während auf der Kostenseite die Belastungen für dasTier aufgeteilt und damit nur partiell ins Gewicht fallen. Selbstwenn etwa das fixierte Tier aus dem Beispiel hohen Belast-ungen in Form von Schmerzen, Leiden und Krankheiten ausge-setzt ist, scheinen diese schon durch einen hohen Nutzen aufder Nutzenseite mit ihren vielfach zählenden Kategorien aus-geglichen zu werden. Somit muss das einzelne Tier seine elementarsten Interessen gegen ein breites Spektrum von„Nutznießern“ durchsetzen, was in den seltensten Fällen ge-lingen kann.

Das Resultat, zu dem die Autoren für das Beispiel kommen,nämlich dass der Nutzen für das Tier gering, für den Landwirtaber hoch ist, war dem Leser, so fern er die Fixierungsvariantenfür Sauen kennt, schon vorher klar. Immerhin kommen die Au-toren zu der Erkenntnis, dass Alternativen der Fixierung vorzu-ziehen sind. Völlig indiskutabel ist jedoch, dass diese “(…)in-nerhalb des Gestaltungsraums des Landwirts realisierbar(…)“(S.89) sein müssen. Hier wird der hochproblematische Ansatzder Autoren deutlich, dass zwar ökonomische Gründe als limi-tierender Faktor an letzter Stelle stehen sollten, im Zweifelsfallaber auch höher als ethische Gründe bewertet werden dürfen.

Bei allen, die sich mit Tierschutz und artgerechter Nutztier-haltung befassen, führt auch das zweite Beispiel zu Irritationen.Hier können sich die Autoren einerseits nicht entscheiden, obdie Käfighaltung als gute fachliche Praxis zu bewerten ist, undanderseits ebenfalls nicht, wie intensiv die Tiere durch diesebeeinträchtigt werden, da es hierzu verschiedene Studien gebe.Zur Frage nach dem Nutzen begnügen sich die Verfasser miteiner Studie, die den hohen Nutzen für die Hygiene belegt. Beider anschließenden Kosten-Nutzen Analyse können ebenfallsunterschiedliche Standpunkte durch Studien belegt werden, sodass man nun, nach der Logik der Checkliste, die Frage nachAlternativen prüfen muss. Die Autoren kommen zu dem er-staunlichen Resultat, ausgerechnet die ausgestalteten Käfige alsAlternative prüfen zu wollen, und dann zu dem Fazit, diese Hal-tung noch nicht prüfen zu können, da es nicht genug wis-senschaftliche Untersuchungen dazu gäbe. Mit diesem Fazit,das diejenigen, die sich mit Tierschutz und artgerechterNutztierhaltung befassen, verwundert, da es hierzu diverse wis-senschaftliche Arbeiten gibt, und diejenigen, die noch nach ein-er ethischen Bewertung der Käfighaltung suchen, ratlos lässt,schließt das Buch.

So kann das Buch „Leben mit und von Tieren. Ethisches Be-wertungsmodell zur Tierhaltung in der Landwirtschaft“ aus den

oben ausgeführten Gründen seinem Anspruch einer ethischenBewertung nicht gerecht werden. Aufgrund seiner im Bewer-tungsdesign angelegten Mängel führt die Kosten-Nutzen Ana-lyse weitestgehend zu einer Legitimierung des Status Quo inder Landwirtschaft.

Roman Kolar

1.9 Katja Pohlheim:Vom Gezähmten zum Therapeuten. Die Soziologie der Mensch-Tier-Beziehung amBeispiel des Hundes112 Seiten, Hamburg: LIT Verlag, 2006, Euro 14,90

Seit mehreren zehntausend Jahren ist der Hund Begleiter desMenschen. Die Beziehung zwischen ihm und uns ist so vielfäl-tig und vielschichtig wie zu kaum einem anderen Tier. Um ebendiese Aspekte geht es der Autorin in Kapitel 3 ihres Buches, dasdie Soziologie der Mensch-Tier-Beziehung am Beispiel desHundes behandelt.

Allgemeines zur Mensch-Tier-Beziehung wird in Kapitel 4 erläutert, während Pohlheim in Kapitel 5 ausführlich das Ver-hältnis von Menschen zu Hunden in der Geschichte Europasvorstellt. Dieses beginnt mit den frühmenschlichen Kulturen(vor ca. 100.000 Jahren), geht über die griechische(11.Jh.v.Chr.-31 v.Chr.) und die römische (500 v.Chr.-529 n.Chr.) Antike, das Frühchristentum und das Mittelalter(ca.4.Jh. bis Ende 15.Jh.), die frühe Neuzeit (seit 1500), dieAufklärung (Ende 17. bis Ende 18. Jh. ), das 19. und frühe 20. Jahrhundert bis zum späten 20. Jahrhundert.

Das Verhältnis von Menschen zu Hunden in anderen Kulturenwird in Kapitel 6 beschrieben, dabei geht Pohlheim auf die Kulturen in Afrika, in Amerika, in Asien, in Australien und impolaren Norden ein. Die Mensch-Hund-Beziehung wird im 7. Kapitel unter dem Gesichtspunkt der „Nutzung“ der Hundein der westlichen Welt beleuchtet. Dort kategorisiert die Autorindie Menschen diesbezüglich in acht unterschiedliche Men-schentypen: den „homo familius“, den „homo medicus“, den„homo tutorus“, den „homo oeconomicus“, den „homo ludens“,den „homo sexus“ und den „homo necans“.

Nach diesem kurzen Überblick nun zu den einzelnenKapiteln der Studie: Zu Beginn des Buches zählt Pohlheimfünf Gründe für die mangelnde Betrachtung der Mensch-Tier-Beziehung in der Soziologie auf. So werden z.B. Tiere nichtals Subjekte, sondern als Vertreter biologischer Gattungenangesehen. Dies wird auch durch die in den abendländischenPhilosophieströmungen verbreitete logische Zweigliederungin: Mensch – Vernunft einerseits, und Tier – Instinkt anderer-seits beeinflusst.

Auf die Paradoxie der Mensch-Tier-Beziehung wird im 4. Kapitel hingewiesen. Während der Heimtierbesitzer die Individualität seines eigenen Tieres wahrnimmt, besteht zu denMengen namenloser Nutztiere keine Beziehung. Die Autorinzeigt auf, dass sich diese gespaltene Wahrnehmung der Tieredurch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht und einSpiegelbild der Gesellschaft ist. Als Erklärung führt sie den

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menschlichen Umgang mit der Umwelt allgemein und damitauch mit den Tieren an, der zum großen Teil von Lebens-notwendigkeiten, vom ökonomischen Nutzen und dem Aspektabhängt, inwieweit der Mensch „Gefallen“ an den Tieren findet. Insgesamt stellt Pohlheim diese Grundlagen der Sozio-logie der Mensch-Tier-Beziehung verständlich und ausführlichdar. Hierbei beleuchtet sie vier verschiedene Kategorien von In-teressen des Menschen am Tier, die sich wiederum in zahlreicheUnterkategorien einteilen lassen. Danach hegt der Menschdamals wie heute ein ästhetisches, ein symbolisches, ein wis-senschaftliches und ein wirtschaftliches Interesse am Tier. Er isteinerseits dafür bereit, das Tier zu schützen, es aber andererseitsauch bis zur Ausrottung zu jagen, wenn es ihm zur Gefahr wird.Durch die ausführliche Beschreibung wird dem soziologischnicht vorgebildeten Leser das Thema des Buches auf ver-ständliche Weise nahe gebracht. Die besondere Beziehung, dieKinder mit Tieren verbindet, wird von Pohlheim ebenfalls thematisiert, indem sie auf die verschiedenen Kommunikation-smöglichkeiten zwischen Mensch und Hund eingeht.

Ein sehr informativer historischer Aufriss findet sich im 5. Kapitel, in dem das Verhältnis von Mensch und Hund imLaufe der europäischen Geschichte thematisiert wird. So spiel-ten Hunde vor dem Auftreten des Christentums eine große Rol-le in der Mythologie. Später wurden sie zum Bewachen vonHaus, Hof und Viehherden eingesetzt. Hunde dienten als Jagd-und Luxustiere, aber auch als Grubenhunde und als Kampfhun-de. Und Hunde wurden sogar in Gerichtsverfahren angeklagtund für Straftaten der Menschen als „Sündenbock“ verurteilt.

In diesem 5. Kapitel findet der interessierte Leser neben be-kannten und häufig zitierten Passagen von Philosophen wie etwaRené Descartes, John Locke und Immanuel Kant auch wenigerbekannte wie z.B. Michael de Montaigne, der als Vordenker derAufklärung und der Tierpsychologie gilt. Interessant ist, dass dieAutorin aufzeigen kann, dass es ab der Antike schon immer zeit-lich parallel eine kleinere Anzahl Schoßhunde und eine großeAnzahl herrenloser Straßenhunde gab.

Das Verhältnis von Menschen und Hunden in anderen Kultu-ren ist Thema des 6. Kapitels, das leider sehr kurz ausfällt undden Eindruck vermittelt, dass wichtige Bereiche fehlen. So wirdbeispielsweise unter der Kategorie „Restliches Asien“ der Hin-duismus erwähnt, aber weder Buddhismus noch Taoismus wer-den thematisiert, wodurch das Kapitel etwas oberflächlichwirkt. Gerade aus soziologischer Perspektive ist der Vergleichmit anderen Kulturen von besonderem Interesse, da dieser do-kumentiert, wie stark kulturell geprägt unser Umgang mit Tie-ren ist. Während Hunde in unserem Kulturkreis nicht zu denNutztieren zählen, steht Hundefleisch in China und Korea aufdem Speisezettel, worauf die Autorin verweist.

Sämtliche Facetten sozialen Handelns des Menschen in seiner Beziehung zum Hund sind im 7. Kapitel aufgeführt. Hier veranschaulicht die Autorin alle Beziehungsarten anhandvon zahlreichen Beispielen. Die Gewichtung wird jedoch sehrunterschiedlich gesetzt und führt einerseits zur Überzeichnungbestimmter Bereiche und andererseits zur Oberflächlichkeit inanderen. So wird die Beziehung des Menschen zum Hund als

„homo familius“ durch die Themen: Hund als gleichwertigesFamilienmitglied, Tiere im Alter, „übertriebene“ Tierliebe,Fehlverhalten gegenüber Haustieren und Tierfriedhöfe aus-führlich beschrieben. Der Mensch als „homo medicus“ setztHunde als Therapiehunde, als Blindenführhunde, als Rettungs-hunde und für Tierversuche ein. Während beim Bespiel desMenschen als „homo medicus“ die ersten beiden Einsatzgebietefür Hunde umfassend dargestellt werden, kommt die Be-schreibung der Rettungshunde zu kurz.

Im Zusammenhang mit Tierversuchen hinterfragt die Auto-rin, ob der Einsatz von Hunden hier überhaupt als Teil der So-zialwelt wahrgenommen wird. Sie glaubt, dass der Hund wahr-scheinlich auf eine, dem Menschen nützliche Sache reduziertwird. Gerade dies ist eine bedeutsame Frage. Denn, wenn mander Vermutung der Autorin zustimmt, wird ein faktischer sozia-ler Zusammenhang gesellschaftlich ausgeblendet. Pohlmannbeschreibt, wie zu „Beginn“ (ohne eine Zeitangabe zu nennen)der Vivisektionen (Experimente am lebenden Tier) an sehr vie-len Straßenhunden durchgeführt wurden. Danach beschreibtsie, in welcher Weise Hunde in naturwissen-schaftlichen undmedizinischen Bereichen verwendet werden: so z.B. den „Pawlow’schen Hund“ (Ende 19.Jh.), die „Insulin-Therapie-Hunde“ (1923), die „russischen Transplantationshunde“ (1967)sowie amerikanische neurochirurgische „Gehirn-Transplantati-ons-Hunde“ (Ende 60iger). In einem 2006 erschienenen Bucherwartet der Leser im Zusammenhang mit Tierversuchen aller-dings auch neuere Aspekte. Hinzu kommt, dass der Inhalt einesZitates, das als Behauptung in das Buch übernommen wird,nicht den Tatsachen entspricht: „Tierversuche gibt es heute imBereich der Rüstungs-, der kosmetischen und pharmakologi-schen Industrie ....“ (S. 78)

In ihrer Kategorisierung des Menschen und seiner Beziehungzum Hund nennt die Autorin auch den „homo tutorus“, diesernutzt den Hund zum Schutz in der alltäglichen Arbeit, so z.B. alsPolizeihund. Das Thema „Tierschutz“ wird hier ebenfalls ge-nannt, aber nur sehr kurz und oberflächlich besprochen. Dagegenfinden der “homo oeconomicus“ und der „homo ludens“ in derBeschreibung des Geschäftes mit Tieren und der Züchtung mitTieren ausreichend Erwähnung. Ausführlich wird der “homo se-xus“ beschrieben. Die Praktiken der Sodomie hat es immer schongegeben, sie kommen in allen Kulturkreisen vor. Als letztes wirdder „homo necans“ genannt, der sowohl Kampfhunde züchtet,sie in Kriegen einsetzt, als auch Lust an Tierkämpfen hat.

Pohlmann hat ein lesenswertes Buch zur Soziologie derMensch-Tier-Beziehung verfasst, welches das enge Verhältniseines sehr auf den Menschen bezogenen Tieres – den Hund –als Beispiel herangezogen hat. Die kleinen Mängel in den Kapiteln 6 und 7 fallen durch die zusammengetragenen aus-führlichen Ergebnisse der Kapitel 3-5 nicht sehr ins Gewicht.Es bleibt zu hoffen, dass in Zukunft noch weitere Bücher zudieser Thematik aus der soziologischen Perspektive erscheinen werden, denn – so stellt die Autorin in ihrem letzten Satz fest –es besteht noch viel Forschungsbedarf auf diesem Gebiet.

Ingrid Kuhlmann-Eberhart

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2 Philosophische Ethik

2.1 Erich Gräßer (Hrsg.):Albert Schweitzer: Ehrfurcht vorden Tieren 160 Seiten, Paperback, C.H. Beck, Beck’sche Reihe 1714,München, 2006, Euro 9.90

In letzter Zeit findet die Ethik AlbertSchweitzers eine deutlich wachsendeBeachtung in Philosophie und Theolo-gie, allerdings häufig in rudimentärer

Form, weil viele Autoren sich auf markante Textauszüge zumLeitmotiv der Ehrfurcht vor dem Leben stützen, ohne den Ge-samtentwurf des Schweitzerschen Denkens zu Rate zu ziehen.Zu den wenigen souveränen Kennern desselben zählt ErichGräßer, der als Neutestamentler an der Universität Bonn vorvielen Jahrzehnten die Schöpfung zu einem seiner theologi-schen Leitthemen erkoren und in diesem Zusammenhang dieEthik Albert Schweitzers in umfassender Weise aufgearbeitethat. 1979 setzte er mit seinem Buch „Albert Schweitzer alsTheologe“ der Schweitzer-Rezeption neue Vorzeichen und hatseitdem in vielen Beiträgen die Ethik der Ehrfurcht vor dem Le-ben für die theologische Sicht des Tierschutzes fruchtbar wer-den lassen. Aus dieser reichen Erfahrung heraus hat Gräßer, derzu den Herausgebern des Schweitzer-Nachlasses zählt, neuer-dings den eindrucksvollen Versuch unternommen, Schweitzerals Autor eines Buchs zu präsentieren, das dieser nie geschrie-ben hat: Unter dem Titel „Ehrfurcht vor den Tieren“ wird des-sen Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben in ihrer Bedeutung fürdie Begründung des Tierschutzes vorgestellt, das heißt, Texte,die im weitgefächerten Werk Schweitzers in oft entlegenen Zu-sammenhängen und auf unterschiedlichen Sprachebenen auf-tauchen, werden hier zu einer kompakten Fundierung der Tier-schutzethik verdichtet.

Gräßer gliedert - nach einem klaren und instruktiven Vorwort –seine Textauswahl in fünf Gattungen: Der Band beginnt mit au-tobiographischen Texten, Berichten aus Lambarene und Predig-ten, um sodann zu kulturphilosophisch-ethischen und religions-philosophisch-theologischen Texten fortzuschreiten. Mit anderenWorten: Der Weg führt von der persönlichen Erfahrung Schweit-zers zur begrifflichen Aufarbeitung derselben, und der Leser isteingeladen, sich auf die gesamte Spannweite der Texte einzulas-sen, damit er die biographisch getönten Beiträge – so etwa diefarbigen Tiergeschichten aus dem Lambarene-Spital – vom Ent-wurf der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben her interpretieren,verorten und bewerten kann. Jeder Text wird vom Herausgebermit einer kurzen Vorbemerkung zu Entstehung und geistigemKontext versehen, was sich angesichts der großen Vielfalt derAussagegehalte und Aussageformen für das Verständnis alsäußerst hilfreich erweist. In dieser Weise entsteht ein sehr leben-diger und bis zum Schluss fesselnder Band, der für Tierethik undTierschutz nachhaltige Orientierungen bietet und nicht zuletztauch als Lektüre in Schule oder Studium prägende pädagogischeWirkung erwarten lässt. Einige der markantesten LeitmotiveSchweitzers möchte ich hier knapp kennzeichnen.

Die autobiographischen Texte zeigen Schweitzer als ein tier-liebendes Kind, das Misshandlung von Tieren nicht ertragenkann, die Tiere in das abendliche Gebet einschließt und sichmutig widersetzt, als Schulfreunde mit Schleudern auf Vögelschießen wollen. Nichts wäre allerdings kurzschlüssiger als diegelegentlich vertretene These, diese elementare Kindheitsprä-gung habe der Ethiker Schweitzer später zu einer vermeintli-chen Theorie überhöht, anstatt nach einer plausiblen Begrün-dung seines Ethikentwurfs zu suchen. Das Gegenteil ist derFall, und auch dies wird autobiographisch deutlich: Als Ethikersetzt Schweitzer nicht bei der Natur an, sondern zuallererst beider Kultur, sucht nach Wegen aus der Kulturkrise, die er Euro-pa zu Beginn des 20. Jahrhunderts attestiert, und sieht den ex-klusiven Schlüssel zur Regeneration der Kultur in der Über-windung der Denkmüdigkeit, im Versuch, „ein geistigesVerhältnis zum Universum“ (S. 22) zu entwickeln. Es geht ihmum „die Ersetzung des unlebendigen Weltbegriffs durch diewirkliche, von Leben erfüllte Welt“ (S. 23), also um eine neueArt von Wahrnehmung der Welt, und die ist für Schweitzer inder Denkgeschichte durch mancherlei Dogmen unnötig ver-stellt worden, vor allem durch die tradierte Lehrmeinung, dassnur der Mensch eine Seele besitze (S. 73). Ohne Frage bringtSchweitzer das Gespür für solche Fragestellungen als persön-liche Disposition mit, doch wenn er als Kulturphilosoph denAufbruch in eine neue europäische Kultur an einen neuenWeltbegriff bindet, der das Verhältnis zwischen Mensch undKreatur neu bestimmt, dann lässt sich der authentische philo-sophische Anspruch nicht leugnen, schon gar nicht, wenn erfeststellt: „Wenn Descartes, wie in so vielen Lehrbüchern derPhilosophie zu lesen steht, der Ausgangspunkt des neuzeitli-chen Denkens ist, so trifft es insoweit zu, als dieses durch ihnin eine falsche Bahn gerät“ (S. 102).

Wer so der europäischen Kultur „Gedankenlosigkeit gegendie Kreatur“ (S. 73) vorwirft, muss als Ethiker mit einer Tradition brechen, welche „die Ethik als ein wohlgeordnetesSystem von wohl durchführbaren Pflichten und Geboten“ (S. 87) versteht. Es macht den bis heute provozierenden Status von Schweitzers Ethik aus, dass sie kompromisslos die„Erhaltung und Förderung von Leben“ (S. 22, 77) als höchsteRichtlinie verficht, ohne sich auf ein differenzierendes Regel-oder Normsystem einzulassen, das die allgemeine Direktiveden realen Bedingungen der Handlungspraxis annähert.Schweitzers Motiv für diesen Bruch mit der ethischen Tradition ist ein doppeltes: Zum einen will er das Risiko ver-meiden, durch „gebrauchsfertig zu beziehende Ausgleiche“(S. 77) zwischen Ethik und Praxis den Anspruch der Ehr-furcht vor dem Leben zu verwässern, zum anderen zielt erdarauf ab, den Konflikt zwischen Lebenserhaltung und Lebensvernichtung als unausweichliches Dilemma des Handelns bewusst werden zu lassen, anstatt ihn durch einhierarchisch geordnetes Regelwerk zu entschärfen. Dement-sprechend kennzeichnet er die Beziehung der Ehrfurchtsethikzum handelnden Menschen so: „Sie tut die Konflikte nicht fürihn ab, sondern zwingt ihn, sich in jedem Falle selber zu ent-scheiden, inwieweit er ethisch bleiben kann und inwieweit ersich der Notwendigkeit von Vernichtung und Schädigung vonLeben unterwerfen muss.“ (S. 77)

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Das ist ein Programm – und dies wird quer durch den gesam-ten Band immer wieder deutlich –, welches stark auf das den-kende Individuum setzt und von der breiten Öffentlichkeit „vielmehr Gütigkeit mit der Kreatur“ erwartet als von der ethischenTheorie (S. 107). Deshalb appelliert Schweitzer als Prediger andie „Barmherzigkeit gegen Tiere“ als „Christensache“ (S. 47),als Philosoph an „die Wahrhaftigkeit gegen sich selbst“ (S. 94),die, sofern sie erst einmal zugelassen wird, die Wahrnehmungder Wirklichkeit verändert, denn wer die „Wesensverwandt-schaft“ (S. 98, 118f.) aller Menschen untereinander anerkennt,kann wahrhaftiger Weise nicht leugnen, dass eine solche in ana-loger Weise auch alle Kreaturen miteinander verbindet: „Wiesich innerhalb der Menschheit keine Grenze der Wesensge-meinschaft zwischen Mensch und Mensch feststellen lässt, alsoauch nicht innerhalb der Kreatur zwischen Geschöpf und Ge-schöpf. Das ernsthafte Besinnen auf unser Verhalten zur Krea-tur führt notwendig zu dem Ergebnis, dass wir uns unserer Ver-bundenheit mit allem lebendigen Sein bewusst werden.“ (S.119) Der jeweilige Horizont der Ethik hängt für Schweitzer zu-allererst von der Ernsthaftigkeit des Denkens ab, also von derFähigkeit, sich dem Druck der Wahrhaftigkeit auszusetzen, undüber eine Verfeinerung der Denkweise „den Kreis der Gemein-schaft weiter zu ziehen“ (S. 118). Diese Fähigkeit hat bereits zuden Menschenrechten geführt, zur Entgrenzung von Bluts- undStammesverwandtschaft zugunsten der Idee der Menschheit (S.90f.), und sie muss folgerichtig zum Respekt vor den Tierenfortschreiten, um schließlich alles Lebendige als solches zuberücksichtigen.

Der von Gräßer gewählte Titel „Ehrfurcht vor den Tieren“ istalso bei Schweitzer systematisch fest verankert und findet auchprägnant seinen Ausdruck: „Mir macht es nichts aus, dass dieTiere in der Ethik herumlaufen. Es gibt nicht zwei Arten vonEthik, sondern nur eine. Die Tiere sind unsere Brüder, diegroßen wie die kleinen. Erst in dieser Erkenntnis gelangen wirzum wahren Menschentum.“ (S. 116) Tierschutz vereinigt mit-hin zwei grundsätzliche Perspektiven miteinander: Er antwortetauf den Lebensanspruch der Tiere und ist zugleich die Bedin-gung einer unverkürzten Humanität, eben damit aber unver-zichtbar für eine kulturelle Renaissance der modernen Gesell-schaft. Deshalb bekennt sich Schweitzer immer wieder zurTierschutzbewegung (S. 82ff., 114), orientiert sich dabei am re-flexiven Vorsprung der chinesischen und indischen Kultur (S.121ff.), bezieht beherzt Stellung zu ethisch unhaltbaren Prakti-ken wie der Falkenjagd (S. 108ff.) und dem Stierkampf (S.112ff.) und definiert rigorose Bedingungen für den Tierversuch(S. 53, 72f., 78f.). Als er 1965 in Lambarene verstarb, war vonAlternativen zum Tierexperiment noch nicht die Rede, doch sei-ne strikte Forderung, Tierversuche am Kriterium der Notwen-digkeit zu prüfen, nötigt zur Suche nach solchen Alternativen.Darüber hinaus hat sein Postulat, im Tierversuch „die Wohltatder Narkose“ nicht zu verweigern und gegenüber der Kreaturdie „Dankesschuld“ für die Leiden im Tierversuch abzutragen(S. 73), an Aktualität eher gewonnen als verloren.

Es konnte hier nur ein knappes Themenspektrum skizziert wer-den, doch es erscheint mir repräsentativ genug, um den schmalenBand als überaus lesenswert zu empfehlen. Der Ethiker AlbertSchweitzer kommt mit seinen denkerischen Leitmotiven wie

auch mit deren profilierter Anwendung auf konkrete Beispielemarkant zum Vorschein, erweist sich als ein ruhiges und klaresGegengewicht gegen den leichtfertigen Pragmatismus und ver-mag denen, die sich orientieren wollen, nachhaltige Perspektivenzu eröffnen. Er lässt mit seinem Plädoyer gegen die „ererbte Ge-dankenlosigkeit“ (S. 65) keinen Leser unbeeindruckt. Vor allemaber kann dieser Band die Neigung wecken, die großen ethischenHauptwerke Schweitzers zu studieren, und das täte dem Denkendes Ehrfurchtsethikers gut, mehr aber noch der Zeit, in der wir le-ben. Erich Gräßer hat sich selbst zu seinem 80. Geburtstag am 23.Oktober 2007 mit dieser Edition ein schönes Geschenk gemacht.

Claus Günzler

ZweitbesprechungIn der noch jungen Disziplin der Tierethik stellt AlbertSchweitzer eine feste Größe dar, und nicht wenige glaubenseine Position verstanden – und überwunden – zu haben. Dabeihat Albert Schweitzer seine Gedanken zur Ethik des Umgangsmit Tieren nie zusammengefasst, aufgearbeitet und als Ganzespubliziert; seine Ethik hatte stets einen weiteren Horizont imBlick als Tiere: „Ehrfurcht vor allem Leben“. – Professor em.Erich Gräßer, Mitherausgeber der in Albert SchweitzersHausverlag C. H. Beck seit 1995 erscheinenden Werke aus demNachlass, hat nun das umfangreiche Gesamtwerk Schweitzersauf tierethische Passagen durchgesehen und erstmals einetierethische Textauswahl Albert Schweitzers zusammengestellt.Der griffige Titel Ehrfurcht vor den Tieren steht symbolisch fürdiese Absicht, ist allerdings kein Zitat, denn Schweitzer selbstsprach von „Barmherzigkeit“ und „Mitempfinden“ gegenüberTieren. Bislang ermöglichte die 1966 von Hans Walter Bähr beiC. H. Beck herausgegebene Textsammlung Die Ehrfurcht vordem Leben – Grundtexte aus fünf Jahrzehnten die schnellsteAnnäherung an Schweitzers Ethik. Die nun um zahlreiche Passagen aus dem Nachlass erweiterte und auf den Umgang mitTieren fokussierende Zusammenstellung Gräßers wirft jedochneues Licht auf die tierethische Substanz der Ethik derEhrfurcht vor dem Leben.

Vom Herausgeber wird in die 34 Texte jeweils mit wenigenWorten eingeführt; dann kommt der Friedensnobelpreisträgervon 1952 selbst zu Wort. Schweitzers lebendiger und be-wegender Stil ist populärwissenschaftlich im besten Sinne, erbegeistert heute noch ebenso wie zu seinen Lebzeiten. Diezusammengestellten Passagen stammen aus Predigten, auto-biographischen, philosophischen und theologischen Texten. Siebeschäftigen sich mit Schweitzers Suche nach dem Grund-prinzip des Moralischen, das er ab 1915 mit der „Ehrfurcht vordem Leben“ gefunden zu haben meinte. Die Texte zeigenmehrfach Schweitzers Verankerung in der „Barmherzigkeit“,im „Mitempfinden“, in der „Sympathie“ im ursprünglichenWortsinn. Seine in der Regel unkritisch als Biozentrismus klassifizierte Ethik erweist sich so als pathozentrische Ethik mitoffenem Anwendungsbereich (anders als bspw. der Biozentris-mus Paul W. Taylors). Die neu ins Bewusstsein tretendeVerbindung von pathozentrischer Begründung mit einer fürPhilosophen ungewöhnlich lebendigen normativen Kraft machtdie Texte zeitlos aktuell.

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Technisch beeindruckend an Albert Schweitzers Versuchethischer Neuorientierung ist insbesondere sein stetes Bemühen, sowohl der Philosophie und Theologie in wis-senschaftlicher Hinsicht als auch seinen persönlichen Erlebnis-sen und Empfindungen gerecht zu werden. In Ehrfurcht vor denTieren findet sich die knappe aber kritische AuseinandersetzungSchweitzers mit zahlreichen tierethischen Positionen derPhilosophie- und Religionsgeschichte. An Arthur Schopen-hauer, der wahrscheinlich den größten Einfluss auf SchweitzersMoralphilosophie hatte, kritisiert er beispielsweise dieBeschränkung auf deskriptive Ethik („tatenloses Mitleiden“),und an David Hume, Immanuel Kant und Jeremy Bentham ihretendenziell anthropozentrische Ausrichtung. Die indische Ethikerscheint Schweitzer in dem, was sie über Mensch und Kreatursagt, unbefriedigend, weil sie nur das mitleidvolle Nichttötenund Nichtschädigen, nicht aber auch das mitleidvolle Helfengebietet. Die demgegenüber für ihr natürliches und tätigesMitleid von ihm besonders geschätzte chinesische Ethik hält erfür nicht abgeschlossen. Eine knappe Auseinandersetzung er-folgt noch mit zahlreichen weiteren Philosophen. Aber auch dieselbstkritische Reflexion seiner eigenen Ethik findet im Sam-melband Ehrfurcht vor den Tieren ihren Platz: Ist schon diewirkliche Durchführung des Grundsatzes des Nicht-Verletzenssachlich unmöglich, wie viel mehr noch die des Erhaltens undFörderns alles Lebens. Wo darin innehalten? Wie weit daringehen? Wie sich mit der beschränkten Möglichkeit abfinden?Wer sich ernstlich mit der Frage des Mitleids gegen die Tierebeschäftigt, weiß, dass es leicht ist, im allgemeinen solchesMitleid zu predigen, aber außerordentlich schwer, Regeln fürseine Betätigung in den einzelnen Fällen aufzustellen.

Jedem, der sich ernsthaft mit diesen Regeln beschäftigt, kanndie Textauswahl von Erich Gräßer nur wärmstens empfohlenwerden. Für jeden, der sich erstmals mit Albert Schweitzerbeschäftigt, stellt sie einen leichten und unkomplizierten Ein-stieg in die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben dar.

Jörg Luy

2.2 Andreas Vieth: Einführung in die Angewandte Ethik 198 Seiten, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2006, Euro 14.90

So mancher scheinbar klare Buchtitel hält eine inhaltlicheÜberraschung für den Leser bereit. Dies trifft auf die von Andreas Vieth vorgelegte „Einführung in die AngewandteEthik“ (EAE) insofern zu, als das Forschungsfeld der Ange-wandten Ethik eine Bandbreite von zwölf Bereichsethikenumfasst, die von Kultur- und Medienethik über politischeEthik und Wirtschaftsethik bis hin zur Technikethik reicht. ImGegensatz zum wichtigsten, von J. Nida-Rümelin heraus-gegebenen deutschsprachigen Handbuch „Angewandte Ethik.Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung“ (1996,2. Aufl. 2005) wie auch zur Einführung von A. Pieper und U.Thurnherr: „Angewandte Ethik“ (1998), die sich mit dergesamten Vielfalt der Bereichsethiken befassen, behandelt

Vieth nur drei ausgewählte Teilbereiche: Medizin-, Tier- undUmweltethik. Dabei besteht das Ziel des Autors darin, demLeser die Arbeitsweise der Angewandten Ethik an Hand teil-weise willkürlich ausgewählter (S. 15) Problemstellungennäher zu bringen.

Nach einer Darlegung methodischer und konzeptioneller Aspekte der Angewandten Ethik im einführenden Kapitel(„Angewandte Ethik als Disziplin und Konzept“), in dem sichVieth u.a. auch mit der Tätigkeit von Ethikkommissionen alswichtiger Anwendungsform der Angewandten Ethik ausein-ander setzt, werden die drei ausgewählten Bereichsethiken be-handelt, die thematisch insofern verwandt sind, als ver-schiedene Aspekte des Umgangs mit menschlichem und tierlichem Leben sowie mit der belebten und unbelebtenUmwelt im Brennpunkt ihres Interesses stehen.

Die EAE im Allgemeinen und der Abschnitt „Tierethik“ (S. 111-153) im Besonderen zeichnen sich durch die über-sichtliche Strukturierung, durch die hervorragende didaktischeAufbereitung (optische Hervorhebung zentraler Textstellen),durch eine präzise Terminologie und ein hohes Maß an sprach-licher Sensibilität (S. 113f.) aus. Die Zielsetzung des Kapitels„Tierethik“ besteht darin aufzuzeigen, „wie in der modernenEthik der Bereich des moralisch Relevanten auf Tiere aus-geweitet wird“ (S. 111). Dabei weist der Autor gleich zu Beginndarauf hin, dass „es [...] gute Gründe [gibt], im Reich der Naturkeine absolute moralische Grenze zwischen Menschen und anderen Tieren zu postulieren“ (S. 111). Im weiteren Verlauf bietet Vieth eine differenzierte Analyse bekannter tierethischerKonzepte (U. Wolf, P. Singer), die er zur kantischen Ver-nunftethik, aber auch zur Alltagsintuition in Beziehung setzt.Der „moderne Klassiker“ der Tierrechtsphilosophie, T. Regan,wird unter „Weitere Tierethiken“ (S. 133) immerhin kurz be-handelt und mit drei Quellen zitiert.

Ausführlich und differenziert erörtert Vieth die allgemeineund ebenso grundlegende Fragestellung nach dem Wert tierlichen Lebens (S. 114ff.). Als zentrale Bezugspunkte dienendabei die kantische Philosophie und U. Wolfs Ansatz des „Ge-neralisierten Mitleids“. Wenngleich diesen Argumentation-ssträngen gerade im deutschsprachigen Raum besondere Bedeutung zukommt, sei kritisch angemerkt, dass die ver-gleichsweise knappe Behandlung des Utilitarismus – der gegen-wärtig immerhin den meistdiskutierten Ansatz darstellt – derBedeutung dieses Konzepts nicht gerecht wird.

Das Problem einer kantische Tierethik (zumindest in ihrerklassischen Lesart) arbeitet Vieth klar heraus: „Tiere habenKant zufolge keinen inneren Wert, sondern einen von anderenintrinsischen Werten abgeleiteten, insofern sie für die Re-alisierung eines (eigentlichen) Wertes nützlich bzw. notwendigeVorraussetzung sind“ (S. 116). Tierschutz ist jedoch auch in derkantischen Tradition nicht unmöglich, sondern sogar moralischbegründet; er „beruht aber nicht auf moralischen Gründen, dieman in Tieren findet“ (S. 117), sondern stellt lediglich eine in-direkte bzw. abgeleitete Pflicht dar. Leider unerwähnt bleibendie modernen tierethischen Ansätze der international meist-diskutierten Kantianerin C. Koorsgard „Creating the Kingdomof End“ (1996) und H. Baranzkes „Würde der Kreatur? Die Ideeder Würde im Horizont der Bioethik“ (2001).

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Als alternative Ansätze zur ethischen Berücksichtigung bio-logischer Entitäten schlägt Vieth zwei Ausweitungsstrategienvor: Die „Mehr-Prinzipien-Strategie“ erweitert das Wert ver-leihende Prinzip der Vernunft um das Prinzip der Leidens-fähigkeit, während die „Strategie des umfassenderen Prinzips“auf das Vorhandensein von Schmerz- und Leidensfähigkeit ab-stellt (S. 118). Am Werk von U. Wolf zeichnet Vieth dieVerknüpfung von Leidensfähigkeit und generalisiertemMitleid nach.

Im Zusammenhang mit der Ungleichbehandlung von Men-schen und Tieren setzt sich Vieth in sehr differenzierter Weisemit dem nunmehr auch im deutschsprachigen Raumetablierten Begriff des Speziesismus auseinander. Vieth unter-scheidet vier Varianten des Speziesismus und erörtert dieMöglichkeit, einen „schwachen Speziesismus“ durch dasKonzept des Familiarismus zu rechtfertigen – ein Versuch,dem durch die im Anschluss daran behandelten Ansätze des„egalitären Pathozentrismus“ (P. Singer und T. Regan) z.T.scharf widersprochen wird. „Das pathozentrische Argumentals Grundlage einer Tierethik“ steht im Zentrum der Unter-suchung von P. Mayr und zeigt die Bandbreite dieses Ansatzes.Wie weit nun tierliche Leidensfähigkeit erkennbar bzw. mitanderen kognitiven Fähigkeiten in Form von Bewusstsein (vgl.http://plato.stanford.edu/entries/consciousness-animal) odergar Selbstbewusstsein in Verbindung steht, zu diesem Fragen-komplex findet in der „Philosophy of Mind“ ein eigenständigerSubdiskurs statt. Leider findet sich in der EAE weder ein allgemeiner Hinweis auf diese intensive und hoch ausdifferen-zierte Grundlagendebatte noch auf das einschlägige Referenz-werk „Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion“. Der von D. Perler und M. Wild 2005 inder renommierten Suhrkamp Taschenbuchreihe editierte Sam-melband hat nunmehr erstmalig aus der vorrangig englisch-sprachigen Debatte die zentralen Texte in deutscher Sprache,mit einer hervorragenden Einleitung versehen, zugänglichgemacht.

In Ergänzung zu den theoretischen Grundlegungen werden inder EAE auch praktische tiermoralische Fragen angesprochen:Die in der Tierethik teilweise stark emotionalisierte Debatteüber die Produktion und den Konsum von Fleisch und das oft-mals postulierte ethische „Vegetarismusgebot“ (S. 113) bzw.„Veganismusgebot“ (S. 136f.) werden eingehend reflektiert.Allerdings wäre es in diesem Zusammenhang für den inter-essierten Leser hilfreich, auf weiterführende Literatur ver-wiesen zu werden (K. Walters und L. Portmess, Hrsg.: “EthicalVegetarianism: From Pythagoras to Peter Singer“, 1999; S. Sapontzis: „Food for Thought. The Debate over EatingMeat“, 2004). Im letzten Teil des Kapitels befasst sich Vieth mittiermoralischen Fragen der Xenotransplantation (S. 141ff.),wobei die Problematik der Herstellung transgener Tiere nurkurz angedeutet wird. Auf das allgemeinere Problem derTierversuche geht Vieth kaum ein; immerhin enthält die Liter-aturliste neben den deutschen klassischen Werken von G. M.Teutsch („Tierversuche und Tierschutz“, 1983) und Jean-Claude Wolf („Tierethik“, 2. Aufl. 2005, 1992) auch die hervor-ragende Arbeit von J. Ach „Warum man Lassie nicht quälendarf. Tierversuche und moralischer Individualismus“ (1999),

doch vermisst man sämtliche englischsprachigen Referenz-werke zur Tierversuchsdebatte.

Die zentrale (rechts)ethische Fragestellung der möglichenAnerkennung (einiger) nichtmenschlicher Tiere als Rechts-träger und die theoretische Begründung von „Tierrechten“ wer-den nur kurz gestreift (S. 114), was der Bedeutung dieser Debatte, die in der Datenbank „Philosopher’s Index“(www.philinfo.org) mit einigen hundert Fachaufsätzenvertreten ist, nicht gerecht wird. Bedauerlich ist in diesemZusammenhang auch, dass eine Rezeption des 1994 von P. Cavalieri und P. Singer initiierten und derzeit wieder intensivdiskutierten Great Ape Project (GAP) fehlt.

Leider lässt auch das der EAE beigegebene Literaturver-zeichnis grundlegende Texte vermissen, darunter J. Feinbergs„Die Rechte der Tiere und zukünftiger Generationen“ (2001),den ersten wissenschaftlichen Sammelband von T. Regan undP. Singer (Hrsg.): “Animal Rights and Human Obligations(1976, 2. Aufl. 1989) sowie den von den renommiertenPhilosophen C. Sunstein und M. Nussbaum herausgegebenenSammelband „Animal Rights: Current Debates“ (2004), dereine umfangreiche annotierte Bibliographie enthält undzweifellos als wichtigster neuerer Beitrag zum ThemaTierethik zu bezeichnen ist.

Abschließend seien drei weitere Informationsquellen ange-führt, die bei einer allfälligen Neuauflage berücksichtigt werdensollten: Erstens die 2003 in dritter Auflage erschienene fünf-bändige „Encyclopedia of Bioethics“, die aus fachwis-senschaftlicher Sicht zweifellos das wichtigste Überblickswerkzur Bioethik darstellt; zweitens der Sammelband von S. Arm-strong (2003, Hrsg.): „The Animal Ethics Reader“ als derderzeit umfassendste Sammelband zur Tierethikdebatte sowie –last but not least – das bereits 1993 erschienene Buchprojektvon P. Cavalieri und P. Singer (Hrsg.) „Menschenrechte für dieGroßen Menschenaffen: Das Great Ape Projekt“ (www.great-apeproject.org )

Trotz dieser kritischen Anmerkungen und Ergänzungs-vorschläge kann Vieths EAE als eine der derzeit besten ein-schlägigen Überblicksarbeiten in deutscher Sprache bezeichnetwerden. Es bedarf jedoch wohl noch intensiver Bemühungen,um den hoch differenzierten Tierethik- und Tierrechtsdiskursdes englischsprachigen Raumes verstärkt in die deutsch-sprachige Wissenschaftsdebatte einzubringen. Hier könnte gerade eine kontinuierliche Auseinandersetzung im Rahmeneiner Plattform wie ALTEX eine wichtige Funktion zukommen.

Erwin Lengauer, Regina Binder

2.3 Dominik Perler und Markus Wild (Hrsg.):Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu eineraktuellen Diskussion 449 Seiten, Taschenbuch, Suhrkamp Verlag, Frankfurt amMain, 2005, Euro 16.00

Haben Tiere einen Geist? Diese Frage hat die Philosophie seitder Antike beschäftigt. Neben der dominanten Auffassung, dassnur Menschen Geist haben und dass sie die Fähigkeit zu denken

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von allen anderen Lebewesen unterscheide und auszeichne, gabes auch die Schulen, welche entweder die Gemeinsamkeitenzwischen Tieren und Menschen betonten (etwa die Fähigkeit,Lust und Schmerz zu empfinden) oder die Zurückhaltung derSkeptiker bei der Zuschreibung von Geist. Alle drei Strömun-gen existieren auch heute noch: Die Schule der tiefen Differenz,die Schule der Gemeinsamkeiten und die Schule der Skeptiker.

Die vorliegende Anthologie bietet deutschsprachigen Lese-rinnen und Lesern einen nützlichen Service: Sie enthält (meistaus dem englischen übersetzte) Beiträge zur Philosophie desGeistes in der Anwendung auf die Frage nach dem Geist derTiere. Im ersten Teil „Sprache und Überzeugung“ geht es umdie Frage, ob Tiere Sprache haben und ob man ihnen Überzeu-gungen mit einem spezifischen Gehalt zuschreiben kann. DieTexte stammen von Norman Malcolm, Stephen P. Stich, DonaldDavidson, John R. Searle und Hans-Johann Glock. Im zweitenTeil geht es um „Repräsentation und Verhalten“, mit Beiträgenvon Colin Allen, Ruth G. Millikan, Fred Dretske, Joëlle Proustund David Papineau. Im dritten Teil geht es um „Kommunika-tion und Gedankenlesen“, mit Beiträgen von John Dupré, ColinAllen und Eric Saidel sowie Kim Sterelny. Im vierten Teil gehtes um „Bewusstsein“, mit Beiträgen von Daniel C. Dennett undDaisie Radner. Der Band wird abgerundet durch eine Biblio-graphie, Hinweise zu den Autorinnen und Autoren, Textnach-weise und Index.

Die beiden Herausgeber, der an der Humboldt-Universität inBerlin lehrende Dominik Perler und sein wissenschaftlicherMitarbeiter Markus Wild, haben der Anthologie eine über sieb-zig Seiten lange Einführung vorangestellt, in der sie ihren be-sonders klaren Überblick über die zeitgenössische Diskussionergänzen durch historische Exkurse, insbesondere über die Auf-fassungen von Montaigne und Descartes. Die Vorzüge dieserEinleitung bestehen in der ausführlichen und präzisen Informa-tion über Argumente in diesem Überschneidungsbereich zwi-schen Zoologie und Psychologie und – was vielleicht nochwichtiger ist – in einem wachen Problembewusstsein für diemethodologischen Grundoptionen, welche die bis heute anhal-tende Kontroverse begleiten und teilweise wohl auch steuern.Beobachtung und empirische Methoden sind wichtig und ver-schaffen Informationen, die von einer „Lehnstuhl-Philosophie“nicht zu haben sind. Deshalb wird die Zusammenarbeit der Phi-losophie über ihre Disziplin hinaus gepflegt und empfohlen.Diese Interdisziplinarität kommt auch dort zum Tragen, wo siedie wissenschaftlichen Grenzen der Disziplinen aufzeigt. Sogibt es keine Beobachtung ohne bereits getroffene Vorausset-zungen. „Es wäre vermessen zu glauben, es gebe so etwas wieinterpretationsneutrale Beobachtungen und allgemein akzep-tierte Kriterien, die es uns erlauben, ein für alle Mal festzustel-len, ob Tiere einen Geist haben.“ (S. 15f.) Diese zugestandeneTheorieabhängigkeit der Beobachtung wirkt sich auf die Beur-teilung wissenschaftlicher Kontroversen aus. Dezidierte Beha-vioristen werden kaum etwas finden, was sie gar nicht gesuchthaben, nämlich Absichten und kognitive Leistungen. Umge-kehrt konzentrieren sich überzeugte Mentalisten darauf, kom-plexes und kommunikatives Verhalten in freier Wildbahn zu be-obachten. Mentalisten werden die Tatsache, dass uns Tierekeine direkte Auskunft geben können über ihre Überzeugungen,

nicht als Argument gegen die Möglichkeit betrachten, dass siesolche haben, sondern lediglich als eine Erschwerung bei derKommunikation. „Nur weil der Fuchs nicht spricht, kann ihmnoch nicht das Denken abgesprochen werden.“ (S. 36) Wer wieDonald Davidson sehr hohe Standards an Geist oder Sprachestellt, wird bei den meisten Tieren weder Geist noch Sprachefinden. Davidsons Auffassung von Sprache, welche unter ande-rem ein kohärentes System von Überzeugungen voraussetzt, istaber nicht leicht von der Hand zu weisen, vermittelt sie doch eingutes Bild dessen, was Menschen unter Sprache verstehen.

Wer dagegen aus Interesse an der allmählichen Evolution ko-gnitiver Fähigkeiten eher minimale Anforderungen stellt, wirdviele Anzeichen für verschiedene Grade oder Arten von Intelli-genz finden. Die Wahl der Standards und anderer Voraussetzun-gen der empirischen Forschung lässt sich ihrerseits nicht strengwissenschaftlich beweisen oder verwerfen. Vielmehr unterlie-gen sie der Beurteilung durch methodische Maximen wie z.B.dem so genannten „Morgan Kanon“ (vgl. S. 16f.), der sinn-gemäss besagt: Was durch weniger anspruchsvolle geistigeFähigkeiten erklärt werden kann, sollte nicht durch höhere er-klärt werden. Lässt sich ein Verhalten z.B. durch Instinkt er-klären, sollte es nicht zusätzlich durch die Annahme von Ab-sichten oder Überlegungen erklärt werden. Warum eigentlichnicht?

Hier möchte ich eine erste kritische Bemerkung anschliessen.Methodologische Prinzipien lassen sich wie gesagt ihrerseitsnicht wissenschaftlich beweisen. Beim genannten „Morgan Ka-non“ handelt es sich um eine Variante des Prinzips der Spar-samkeit von Erklärungen. Streng genommen sagen solche Prin-zipien nichts darüber aus, wie die Welt ist, ob also einOrganismus Geist hat oder nicht. Gleichwohl wurden und wer-den solche Prinzipien immer dazu benutzt, auch die Ontologiezu vereinfachen. Wer glaubt, ein Verhalten ohne Bezugnahmeauf Geist erklären zu können, wird auch dazu neigen anzuneh-men, dass es – jedenfalls in dieser Beziehung – keinen mitwir-kenden Geist gibt. Historisch betrachtet wurde dieses Prinzipgerne dazu benutzt, theologische und teleologische Erklärungenzu eliminieren oder zu blossen Als-Ob-Betrachtungen zu degra-dieren. Wir können aber nicht ausschliessen, dass die Welt vielreicher und komplexer ist, als es unsere methodologischen Prin-zipien nahelegen. Vielleicht hat die Natur ihre Kinder wie einegütige Mutter mit einer Reihe von Fähigkeiten ausgestattet. Daswürde z.B. erklären, warum Ameisen ihre Fähigkeiten zur Re-aktion auf chemische Eigenschaften gewöhnlich dazu benutzen,tote Ameisen aus dem Bau zu entfernen – eine wunderbareZweckmässigkeit, welche erst durch rüde Eingriffe und Experi-mente von Wissenschaftlern vereitelt wird. (S. 16)

Eine zweite Bemerkung. Zu Beginn der Einleitung wird ge-sagt: Wie komplex und raffiniert das Verhalten von Pflanzenauch sein mag, „sie verleiten uns nicht dazu, den Pflanzen einenGeist zuzuschreiben.“ (S. 10) Romantiker, Monisten, Panthei-sten und Vitalisten haben dies jedoch getan. Sie liessen sich da-zu verleiten, von einer Pflanzenseele zu reden und ihr Gedankenund Gefühle zuzuschreiben. Fast in jeder Diskussion darüber,ob Pflanzen eine Seele haben und vielleicht auch denken undfühlen, vertritt jemand diese Auffassung oder wehrt sich zu-mindest dagegen, diese Option kategorisch auszuschliessen. Es

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trifft nicht zu, dass Vertreter solcher Auffassungen – ich denkean Fechner, Fischer oder Eduard von Hartmann im 19. Jahr-hundert – immer ungebildet oder wissenschaftlich schlecht in-formiert sind.

Eine dritte Bemerkung. Die aus ethischer Perspektive zentra-le Frage, ob Tiere die Fähigkeit zu Emotionen haben, wird indie erste Fussnote verbannt. Auch darin spiegelt sich die Vorlie-be für die rein theoretischen Wissenschaften der beiden Her-ausgeber und der Beiträge in diesem Band. Tiere werden nichtals Prüfsteine für ethische Theorien, sondern explizit als „Prüf-steine für Kognitionsmodelle“ (S. 69) betrachtet. Bedenkt manmit David Hume und Adam Smith, dass das Band, das uns mitanderen Menschen und mit manchen Tieren verbindet, jenes dergegenseitigen Resonanz von Sympathie und Antipathie ist, sowürde sich ein Kapitel über affektive Übertragung unter Tierenund zwischen Menschen und Tieren – eventuell als Vorstufe dessog. mind-reading – aufdrängen. Auch hier wäre eine Bezug-nahme auf zeitgenössische Forschung über Empathie bei Men-schen und Tieren lehrreich. Vielleicht ist dies das Programm zueiner weiteren Publikation.

Eine vierte Bemerkung: Die Auseinandersetzungen der ver-schiedenen Autoren und Richtungen werden fein säuberlich alsAustausch von rationalen Argumenten dargestellt, obwohl viel-leicht in manchen Einstellungen und Präferenzen praktischePräferenzen zum Ausdruck kommen. Hat nicht Karl Marx in ei-ner Fussnote des „Kapitals“ bemerkt, dass die GleichsetzungDescartes‘ von Tieren und Automaten Ausdruck einer „Klas-senschranke“ sei? Die Nutzung von Tieren als Produktionsma-schinen und Versuchsobjekte ist von der frühkapitalistischenProduktionsweise gar nicht weg zu denken. Dies trifft auch aufdie Befriedigung von Ernährungs- und Lebensstilgewohnheitenin hoch industrialisierten Gesellschaften zu. Ebenso wie heutegab es schon in der frühen Neuzeit eine komplementäre senti-mentale Tierhaltung, deren Widersprüchlichkeit zur industriel-len Tierhaltung größer kaum sein könnte. Adlige Damen, die ih-re Lieblingshündchen hätschelten, wiesen die Zumutung, ihrHündchen als Automaten ohne Empfindungen zu betrachten,empört zurück. Selbst für Descartes sind Tiere Automaten mitAffekten. (Vgl. den Brief an den Marquis von Newcastle, Eg-mond 23. November 1646.) Das Nebeneinander von sentimen-taler und profitorientierter Tierhaltung ist ein weiterer Faktor,der – neben wissenschaftsinternen Uneinigkeiten – den Streitzwischen Behavioristen und Mentalisten vielleicht entfacht hatund bis heute den Dissens schüren mag. Macht Descartes mitseiner Affektenlehre und der Zuschreibung von Empfindungenan Tiere ein Zugeständnis an den common sense oder die Emp-findsamkeit von Damen mit Haustieren? Montaignes nachdenk-liche Reflexionen über das Spielverhalten seiner Katze gehennoch weiter; sie verraten etwas von der Bereitschaft, Tieren ei-ne eigene Perspektive zu zuschreiben und einen imaginärenPerspektiventausch vorzunehmen.

Der neue Sammelband ist besonders dazu geeignet, die Kom-plexität der Diskussion etwas transparenter zu machen. Die Zu-gänglichkeit der hervorragenden Aufsätze in sorgfältiger Über-setzung ist besonders zu begrüssen. Hervor zu heben sind dieoriginellen Kommentare der Herausgeber zur Frage eines mehroder weniger kontrollierten Anthropomorphismus bei der Be-

schreibung und Erklärung des Verhaltens von Tieren. (S. 54-59). Ob einige Tiere Geist haben und was genau damit gemeintsein könnte, verweist auf ein Ensemble von methodologischenund konzeptuellen Entscheidungen, Versuchsanordnungen, Be-obachtungen und Spekulationen über verborgene Variablenusw., das nicht leicht zu entwirren ist. Deshalb sind kurze undapodiktische Antworten nicht zu haben.

Jean-Claude Wolf

2.4 Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier 108 Seiten, Suhrkamp Verlag 2006, Euro 7.00

Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?Was ist der Mensch? Diese vier Grundfragen der Philosophieformulierte Immanuel Kant und legte größten Wert darauf, dieFrage nach dem Wesen des Menschen erst dann zu diskutie-ren, wenn die vorangegangenen Fragen hinreichend geklärtworden wären. Der italienische Philosoph Agamben schlägthierbei den umgekehrten Weg ein, indem er die Frage nachdem Wesen des Menschen als die erste der philosophischenFragen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt. DieGeschichte des Versuchs einer Bestimmung des Humanen hatin der Philosophiegeschichte eine lange Tradition. Sie manife-stiert sich in erster Linie über die Bemühungen einer hinrei-chenden Abgrenzung zum Tier, worauf Agamben in seinenNeuinterpretationen der Schriften von Naturforschern wieCarl von Linné oder Jakob von Uexküll verweist. Nahezu keinVersuch einer Klärung dessen, was das Wesen des Menschenausmache, kommt ohne diesen Dualismus von Mensch undTier aus. Allein darin spiegelt sich schon die gegenseitige Ver-wiesenheit, die der Autor im Titel seines Buches als „Das Of-fene“ und damit nicht eindeutig Abgrenzbare umschreibt.

In zwanzig kleinen Essays tastet sich Agamben aus unor-thodoxen Perspektiven und in durchaus einfallsreicher, wenn-gleich auch nicht immer leicht nachvollziehbarer Weise an dieFrage nach dem Wesen des Menschen heran. Dabei richtet ersein Augenmerk gerade auf jenen sensiblen Bereich des ver-meintlich Abgrenzbaren, aber dennoch ineinander Fließendender menschlichen und tierischen Natur. Beim Versuch, dieGrenze klar auszuloten und eine Zäsur zu setzen, verschwim-men die Übergänge dessen, was als human und was als animalzu bezeichnen wäre, was Agamben an Michel Foucaults undan Martin Heideggers Position zu zeigen versucht. Kein ein-deutiger Rest des „Humanen“ bleibt mehr. Biologische Defi-nitionen des Menschen werfen, wie er etwa bei Linné diagno-stiziert, das Problem auf, dass sie eben jenes Spezifische desMenschen nicht zu benennen wissen. Tritt man noch einenSchritt weiter zurück, so prangt die kaum weniger grundsätz-liche Frage danach, was den Begriff des „Lebens“ ausmache,unbeantwortet über allem. Das Niemandsland zwischen denbeiden Gebieten Mensch und Tier breitet sich in seinen Essaysmehr und mehr aus.

Mit solchen Exkursionen will Agamben zeigen, wie wenigsinnvoll es ist, schwer Definierbares, nur weil es sich nicht ka-

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tegorisierend fassen lässt, fortwährend zu zergliedern und zuzerteilen, wie es die Tendenz der westlichen Philosophie ist.Die Trennung von Animalischem und Humanem, die Agam-ben im Inneren des Menschen verortet, ist ebenfalls als Pro-dukt dieser Kultur zu verstehen. Diese Zäsur in vermeintlichanimalisches und vermeintlich humanes Leben sei es selbst,die das Wesen des Menschen definiere. Und damit produziertdie Methode selbst ihr Ergebnis: „Die integrale Humanisie-rung des Tieres koinzidiert mit der integralen Animalisierungdes Menschen.“ (S. 86) Die Anthropogenese des Menschensei demnach als ein sich immer wieder wandelnder Prozessder Abgrenzung vom Tier zu betrachten.

Was diese Studie in zentraler Weise auszeichnet ist der ande-re Blick, der aus alten Denkschemata befreit und im Ineinan-dergreifen der verschiedenen, zum Teil aufeinander verwiese-nen Perspektiven neue Dimensionen eröffnet. Be- merkenswertist dabei, dass der Wechsel der Perspektiven keinen direkt vermittelnden Charakter zwischen den einzelnenKapiteln zu haben scheint, diese vielmehr nur mit ihrem glei-chen Gegenstandsbereich – der Frage nach dem Wesen desMenschen – miteinander verbunden scheinen. Und so sprechendie einzelnen Essays jeweils für sich und bilden doch zusammen eine facettenreiche Einheit, bei der sich Nicht-verstandenes und Zweifelhaftes nicht notwendig dadurch zu er-klären scheint, indem geradlinig auf ein Ziel zugesteuert wird.

Der Aufbau des Buches zeigt erst im Laufe der Lektüre sei-ne fruchtbare Wirkung. Der regelmäßige Wechsel zwischenden verschiedenen Perspektiven fügt sich letztlich in seiner„offen arrangierten“ Weise zu einem harmonischen Ganzen.Die Kernaussagen des Buches lassen sich nicht ganz mühelosherausdestillieren, weshalb es hilfreich ist, dass der Autor inKapitel siebzehn seine Thesen zusammenfassend formuliert.Agamben, politischer Philosoph mit einer Abneigung gegenü-ber menschlicher Überheblichkeit, zeigt klar die Konsequen-zen der Tradition westlicher Philosophie für Mensch und Tier:„Die Ontologie – oder Erste Philosophie – ist keine unschäd-liche akademische Disziplin, sondern die in jedem Sinnegrundlegende Operation, in welcher die Anthropogenese, dasMenschwerden des Lebewesens erfolgt. Die Metaphysik istvon Anfang an von dieser Strategie geprägt: Sie setzt genau je-nes metà ein, das die Überwindung der animalischen physis inRichtung auf die menschliche Geschichte vollendet und be-gleitet. Diese Überwindung ist kein ein und für allemal abge-schlossenes Geschehen, sondern ein Ereignis, das in jedem In-dividuum immer wieder zwischen Humanem undAnimalischem, zwischen Natur und Geschichte, zwischen Le-ben und Tod entscheidet.“ (S. 87)

Erwecken Agambens Reflexionen auf den ersten Blick denAnschein abstrakter und wenig praxisrelevanter Philosophie,so ist doch die Konsequenz seines Ansatzes bemerkenswertpolitisch und damit praktisch. Was ist der Mensch? Eine me-ta-physische Antwort auf die Frage sei bezogen auf die prak-tischen Konsequenzen kaum bedeutsam. Es müsse letztlich inethischer Hinsicht darum gehen, was das Menschenbild mitseiner vehementen Abgrenzung vom Tier praktisch und poli-tisch bewirke. Und dies liegt Agamben zufolge klar auf derHand: Diese immer wieder beschworene Abgrenzung zum

Tier erzeugt gerade erst den biopolitischen Konflikt zwischenAnimalität und Humanität.

Petra Mayr

2.6 Peter Singer and JimMason:The way we eat. Why our foodchoices matter (Wie wir essen. Die Bedeutung derNahrungswahl )328 pages, Rodale, USA, 2006, $ 25.95

“No other human activity has a greaterimpact on our planet as agriculture.When we buy food we are taking part in

a vast global industry. Americans spend more than a trillion dol-lars on food every year. That’s more than double what theyspend on motor vehicles, and also more than double what thegovernment spends on defense. We are all consumers of food,and we are all affected to some degree by the pollution that thefood industry produces.” (p. 284). (Keine andere menschlicheTätigkeit hat einen grösseren Einfluss auf unseren Planeten alsdie Landwirtschaft. Wenn wir Nahrungsmittel kaufen, be-teiligen wir uns an einer gewaltigen globalen Industrie. DieAmerikaner geben mehr als eine Billion Dollar pro Jahr fürNahrungsmittel aus. Das ist mehr als doppelt soviel wie sie fürAutomobile ausgeben, und auch mehr als doppelt soviel wie dieRegierung für die Verteidigung ausgibt. Wir sind alleNahrungsmittelkonsumenten, und wir werden alle zu einemgewissen Grad von der Umweltverschmutzung durch dieNahrungsmittelindustrie belastet.)

26 Jahre nach Erscheinen des Buches Animal Factories (Tier-fabriken) und 16 Jahre nach der ersten konsistenten Über-arbeitung des Buches, haben Peter Singer und Jim Masonbeschlossen, ihre Überlegungen dem breiten, komplexen, aberauch sehr zeitgemäßen Thema der ethischen Auswirkungen derWahl von Nahrungsmitteln zu widmen. Das Hauptziel diesesBuches ist es, dem Durchschnittsbürger ins Bewusstsein zurücken, dass das Kaufen und Konsumieren von Nahrungsmit-teln eine politische Aktion ist, da die Produktion und die Kon-sumkette von Nahrungsmitteln weit reichende Auswirkungenauf die Umwelt, die Tiere und die Arbeitnehmer in diesem Sek-tor haben. Im Gegensatz zu anderen Publikationen, wie Spur-lock’s Supersize me oder Nestle’s Food Politics, welche dieschlimmen Auswirkungen von Junkfood auf die individuelleGesundheit darstellen, versuchen Singer und Mason die kom-plexen Beziehungen zwischen individueller Lebensmittelwahlund ihren Folgen für andere darzustellen, indem sie eine Artholistischen Ansatz für ihre Analyse wählen.

Ihre Forschung ist auf das amerikanische Umfeld fokussiertund bezieht sich auf amerikanische Organisationen, Fabrikenund Supermarktketten, obwohl die Ergebnisse auch den eu-ropäischen Konsumenten betreffen. Es wäre wünschenswert ge-wesen, auch eine äquivalente, gekürzte europäische Version desBuches zu publizieren.

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Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Der erste und kürzereTeil widmet sich der Diskussion über die durchschnittlicheamerikanische Ernährung, die hauptsächlich auf dem Konsumvon tierischer Nahrung aus Intensivtierhaltung basiert; derzweite Teil betrifft die Nahrungsmittelwahl so genannter „be-wusster Allesesser“ (conscientious omnivores), d.h. Menschen,die Tiere und Tierprodukte konsumieren, aber sich für den Ur-sprung des Nahrungsmittels und die Art, wie es produziertwurde, interessieren, sowohl vom gesundheitlichen als auchvom Umweltaspekt her; der dritte Teil analysiert die veganeErnährungsweise (und das neue Phänomen der „freegans“ –von free und vegan: bezeichnet Menschen, die einen Gegenpolzur konsumorientierten Gesellschaft bilden und aus ethischenund ökologischen Gründen vegan leben) und zieht Schlüsse ausdem gesamten Inhalt. Beim ersten Lesen überrascht das Buchdurch seine reichhaltige Dokumentation, seine breitflächigeempirische Forschung (basierend auf Interviews von ver-schiedenen „Modellfamilien“, Auflistungen ihrer Einkäufe undBesuche bei einigen Lebensmittelherstellern) und seinen flüs-sigen, leicht zu lesenden Stil, typisch für Singer. Die Autoren bieten eine sehr differenzierte und detaillierte Analyse allerGesichtspunkte der verschiedenen Wahlmöglichkeiten, bietendem Leser aber keine schnelle Lösung, sondern geben lediglichHinweise, wie eine bessere Nahrungsmittelwahl getroffen wer-den kann. So gewinnt der Leser zwar einen guten Einblick indiese komplexe Materie. Er wird aber, obwohl die Autoren inden letzten Abschnitten noch einmal in aller Klarheit ihreSchlüsse ziehen und wichtige Adressen von Information-squellen und ethischen Lebensmittelfabrikanten angeben, dasBedürfnis verspüren, das Buch noch einmal zu lesen, zumind-est gewisse Teile.

Im ersten Teil des Buches wird der Verzehr von Huhn, Pute,Schwein, Kalb und Produkte dieser Tiere aus der Intensivtier-haltung als unethisch verurteilt, weil ihre Aufzucht die Gesamt-menge an Nahrungsmitteln, die für menschliche Konsumentenzur Verfügung steht, verringert. Singer und Mason demonstrie-ren und belegen, dass Tierproduktion und -konsum negativeAuswirkungen haben auf die Bedingungen, unter denen die Tie-re gehalten, transportiert und getötet werden, auf die Löhne undArbeitsbedingungen in diesen Fabriken, dass sie die Ausbeu-tung der Arbeiter provozieren und auch die Verschmutzung vonlokalen Wasser- und Bodenressourcen verursachen. Auch wennRindfleisch aus Intensivhaltung zum Beispiel objektiv unterbesseren Bedingungen gewonnen wird als Hühnerfleisch, daKälber mindestens sechs Monate bei ihren Müttern verbringenkönnen und mehr Platz haben, darf man sie, aufgrund eines Ge-setzes aus dem Jahr 1872 bis zu 28 Stunden ohne Wasser (!)transportieren, und ihre Züchtung ist intensiv auf natürlicheRessourcen fokussiert. Tatsächlich sind Kühe in besonderemMasse für die Emission von „flüchtigen, organischen Verbin-dungen“, Gasen, die beim Wiederkäuen freigesetzt werden undin manchen Gebieten als eine der bedeutendsten Luftverunrei-nigungen angesehen werden (z.B. im Central Valley von Kali-fornien, siehe S. 60), verantwortlich. Auch werden Milchpro-dukte aus der Intensivtierhaltung als Ursache für das intensiveLeiden der Tiere angesehen: Milchkühe werden genetisch se-lektiert, um extrem grosse Mengen Milch zu produzieren; die

Kälber werden sehr rasch nach der Geburt von ihren Mütterngetrennt und entweder bald getötet oder im Halbdunkel, in en-gen Boxen angebunden gehalten. Fischfarmen werden als was-serbasiertes Äquivalent der Intensivtierhaltung eingestuft unddaher aus entsprechenden Gründen abgelehnt. Vielleicht über-raschend betont Singer den Schmerz, den Fische beim Fisch-fang erleiden und nähert sich vorsichtig der Möglichkeit, dasseinige wirbellose Meerestiere auch Schmerz erleiden könnten,z.B. Tintenfische, Kraken, Hummer und Krabben. Die Autorenhaben jedoch keine ethischen Einwände gegen das Fangen an-derer wirbelloser Meerestiere (vorausgesetzt sie können keinenSchmerz empfinden), so lange das Fischen umweltverträglichist.

Der zweite Teil des Buches bespricht die Wahlmöglichkeitendes „bewussten Allesessers“, der Bioprodukte kauft, Produktedes Fairen Handels wählt, wo er kann, und Tier- und Milchpro-dukte mit geprüften Labels, die die Standards von Tierschutzund Umweltschutz einhalten (z.B. Humane Farm Animal Care,einer unabhängigen gemeinnützigen Gesellschaft, die von derUS Humane Society und dem Amerikanischen Tierschutzvereinunterstützt wird), konsumiert.

Neben der grossen Aufmerksamkeit und den detailliertenRichtlinien, die hinter diesen Zertifizierungen liegen, bleibeneinige Probleme erhalten: Um die Preise von Eiern niedrig zuhalten, leben zum Beispiel in vielen Eier produzierenden Be-trieben Millionen von Hennen in Käfigen und nur ein Teil inBodenhaltung. Wenn in diesen Betrieben ein Überschuss an Kä-figeiern entsteht, werden diese in die Kartons für Bodenhaltunggepackt, was der gewissenhafte Konsument natürlich nicht ak-zeptieren kann (S. 109-110). In diesem Teil des Buches bleibtdie Frage offen, ob der Leser nicht lieber komplett auf Fleischund Milchprodukte verzichten sollte. Bioprodukte werden invielerlei Hinsichten als positiv eingestuft (z.B. im Verzicht aufgentechnische Manipulation, die Gefahren für die Umwelt mitsich bringt und vielfach die Interessen von Entwicklungslän-dern untergräbt oder im Hinblick auf umweltfreundlichere Pro-duktionstechniken), doch wird anerkannt, dass es teure Nah-rungsmittel sind, die sich nicht alle leisten können. Daher ist esschwierig, die Idee, konventionell hergestellte Nahrungsmittelzu kaufen und die Ersparnisse dem Kampf gegen weltweite Ar-mut zu spenden, als gute Wahl zu entkräften. Hingegen ist dieUnterstützung von regionalen Lebensmitteln eine gute Wahl,wenn die Lebensmittel auch saisonal angeboten werden, damitkeine hohen Kosten für das Heizen der Gewächshäuser entste-hen. Zudem würde man dann die Lebensmittelproduktion in an-deren Ländern, vor allem Entwicklungsländern, die wenigerEnergie verbraucht und für deren wirtschaftliche Entwicklungzentral ist, nicht unterstützen. Letztendlich gibt es nach Ansichtder Autoren wichtige Gründe, Fairen Handel zu unterstützen.Diese Systeme sorgen dafür, dass mehr Geld bei den Menschenankommt, die die Nahrungsmittel anbauen, was ihnen erlaubtzu überleben und Geld zu sparen, das in weitere Entwicklungs-projekte reinvestiert werden kann.

Der dritte Teil des Buches analysiert die vegetarische und ve-gane Ernährungsweise und zieht Schlüsse aus dem gesamtenBuch. Die Autoren präsentieren fünf Prinzipien, von denen siedenken, dass die meisten Menschen sie teilen werden, und ent-

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wickeln ihre Schlüsse auf dieser Grundlage: Transparenz (Wirhaben das Recht zu wissen, wie unsere Lebensmittel hergestelltwerden); Fairness (Die Produktion von Nahrungsmitteln sollanderen keine Kosten aufbürden); Menschlichkeit (Es ist falsch,ohne triftigen Grund Tiere schlimmen Leiden auszusetzen); so-ziale Verantwortung (Arbeitende sollen anständige Löhne undArbeitsbedingungen haben); Bedürfnisse (Die Erhaltung vonLeben und Gesundheit ist besser zu rechtfertigen als andere Be-dürfnisse).

Die Autoren sehen keine ethischen Probleme in der Tötungvon Tieren, so lange ihnen dabei kein Leid zugefügt wird undsie vorher ein gutes Leben führen durften; somit scheinen siedie Ernährungsweise des gewissenhaften Allesessers für sich zuwählen. Jedoch erkennen sie, dass es viele praktische Problemegibt, mit denen diese Ernährungsweise behaftet ist: Es ist sehraufwändig herauszubekommen, wo genau die Lebensmittelherkommen und wie die Tiere dort tatsächlich behandelt wer-den, denn auch humane Bauernhöfe müssen viele Kompromis-se akzeptieren. Daher wäre es zum Beispiel eine gute Wahl,„nur Tierprodukte von Höfen zu kaufen, die man selbst besuchthat, und auf denen man die Arbeitsabläufe beobachtet hat, z.B.die Entfernung der Schnäbel von Legehennen, wenn der Hofschnabellose Hennen hält“ (…only buy animal products if youhave visited the farm from which they came and observed pro-cedures like searing off the beaks of laying hens, if the farm hasdebeaked hens. S. 279). Das bedeutet nicht, dass man unbedingtnach „persönlicher Gewissensreinheit“ streben muss; man soll-te aber seine Wahl der Lebensmittel pragmatisch kombinieren:„Nahrung ist ein ethisches Thema – aber man muss deshalbnicht fanatisch sein“ (Food is an ethical issue but you don’t ha-ve to be fanatical about it. S. 281). Dennoch, Singer und Masonbeschreiben viele Gründe, warum es besser ist, auf den Konsumvon Tieren und ihren Produkten zu verzichten: Allen voran,wenn es keinen Bedarf nach bestimmter tierischer Nahrung gä-be, würden Höfe, die jetzt Tierzucht betreiben, auf Ackerbauumstellen, wodurch grosse Flächen nicht mehr für Landwirt-schaft genutzt werden müssten und frei lebenden Tieren über-lassen werden könnten (so dass die Gesamtzahl Tiere zwar an-steigen würde, aber es wären eben andere Tiere!). Weiter ist esnicht leicht, herauszufinden, wie Tiere gehalten werden, und dadie Grenze zwischen dem, was bewusste Allesesser zu essenrechtfertigen können und was nicht, vage ist, senden Vegetarierund Veganer direktere und wirksamere Botschaften an die Ge-sellschaft, weil sie bei der Wahl von Nahrungsmitteln klareGrenzen ziehen. Wenn das Kriterium für einen Menschen heis-st, nicht an der Tötung von Tieren beteiligt zu sein, dann ist dievegane Ernährungsweise die beste, denn bei der Massenpro-duktion von Milchprodukten gehört das Töten von Tieren im-mer dazu.

„In der Praxis wird es, solange Tiere Handelsware sind, die ineiner konkurrenzbetonten Marktsituation in grossen Mengenzum Verkauf erzeugt werden, Konflikte zwischen ihren Interes-sen und den wirtschaftlichen Interessen des Produzenten geben,und dadurch wird der Produzent immer unter Druck sein, Ab-striche zu machen, um Kosten zu senken“ (In practice, as longas animals are commodities, raised for sale on a large scale in acompetitive market situation, there will be conflicts between

their interests and the economic interests of the producer, andthe producer will always be under pressure to cut corners andreduce costs. S. 257).

Insgesamt bringt dieses Buch einen grossen Beitrag zur For-mulierung zentraler Fragen zu den ethischen Auswirkungen un-serer Nahrungsmittelwahl. Wenn es einen kritischen Punkt ge-ben sollte, fände man ihn bei den letzten praktischenVorschlägen der Autoren, da diese auf sehr individuellen Ge-sichtspunkten zu basieren scheinen. Auf der einen Seite sehensie, dass das Problem der Behandlung von Tieren in ihrem Sta-tus als Massenware liegt (wie oben zitiert), und listen die fünfPrinzipien auf, die jeder teilen und bei der Wahl von Nahrungs-mitteln anwenden sollte. Andererseits entwickeln sie ihr Argu-ment nicht weiter und formulieren keine direkte Kritik am Sy-stem, sondern sprechen allein das Individuum an, das bei seinerWahl mehr Verantwortung übernehmen soll. Die individuelleVerantwortung hervorzuheben ist sicherlich sehr wichtig, aberes ist nur der erste Schritt im Schärfen des Bewusstseins für dieethischen Dimensionen der Wahl unserer Nahrungsmittel, wasja das ursprüngliche Ziel des Buches ist. Da das Buch die Kom-plexität der Situation so gut darstellt, hätte ein weiterer Schrittin Richtung einer Kritik am konkurrenzbetonten und wirt-schaftlich orientierten System der Nahrungsmittelproduktionerwartet werden können. Interessant ist zum Beispiel die Ant-wort der Autoren auf das häufig verwendete Argument, dass dieIntensivtierhaltung die Preise tief halte und der Kult der niedri-gen Preise in der Konsumkultur tief verwurzelt sei. Singer undMason zeigen, dass die wirtschaftlichen Vorteile hier nurscheinbar sind, weil der tiefe Preis das Ergebnis einer Verlage-rung der Kosten auf andere ist: In den Schnäppchen bei Wal-Mart zum Beispiel „verstecken sich Kosten für den Steuerzah-ler, die Gemeinschaft, die Tiere und die Umwelt“ (...hide coststo taxpayers, the community, animals, and the environment. S.80). Aber wenn sie in dieser Hinsicht recht haben, warum beto-nen sie nicht auch den Bedarf nach strikterer staatlicher (oder inden USA föderaler) Kontrolle zusätzlich zum Appell an die Ver-antwortung des Individuums?

Arianna Ferrari

English review“No other human activity has a greater impact on our planet asagriculture. When we buy food we are taking part in a vast glob-al industry. Americans spend more than a trillion dollars onfood every year. That’s more than double what they spend onmotor vehicles, and also more than double what the governmentspends on defense. We are all consumers of food, and we are allaffected to some degree by the pollution that the food industryproduces” (p. 284).

26 years after Animal Factories and 16 years after the firstconsistent review of this book, Peter Singer and Jim Masonhave decided to dedicate their reflection to the broad, complex,but at the same time very urgent topic of the ethical implicationsof our food choices. The main purpose of this book is to raisethe awareness of everyday people of the fact that buying andconsuming food is a political act, because the production andconsumption chain of food have tremendous consequences on

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the environment, the animals and the human workers. There-fore, in contrast to other publications, such as Spurlock’s Su-persize me or Nestle’s Food Politics, that are centred on the badconsequences of junk food to individual health, Singer and Ma-son attempt to show the complex interrelations between indi-vidual choices and consequences for others, following a sort ofholistic approach in their analysis.

The research is concentrated on the US area, containing ref-erences to US organisations, factories and supermarket chains,and although its results also apply to the European consumer, itwould have been good to quickly follow this book with the pub-lication of an equivalent shortened European version.

The book is divided into three parts: the first and shorter partis dedicated to the discussion of the standard American diet, themajor part of which is based on animal food coming from fac-tory farming; the second part regards food choices of the so-called “conscientious omnivores”, people who do consume an-imals, but who care for the origin and the way in which theirfood has been produced, from a health as well as environmen-tal point of view; the third part analyses the vegan diet (and thenew phenomenon of freegans) and draws conclusions from theentire book. At the very first reading, the book is a surprise be-cause of its rich documentation, its vast empirical research(based on interviews with different “model families”, accountsof their shopping lists and direct visits to some food companies)on which it is based, as well as for its easy-reading style, typi-cal of Singer. The authors offer a very differentiated and de-tailed analysis of all the issues involved in the various choicesand leave the reader with no quick solution, but only an indica-tion towards how to make better food choices. At the end, thereader is left with a good sense of the complexity of this matterand, although in the last paragraphs the authors are good indrawing their conclusions again shortly and in giving major ad-dresses of informative sources and of ethical food companies,the more sensitive reader will feel the need to read the bookagain, at least some parts.

In the first part of the book, factory-farmed chicken, turkey,pigs, veal, as well as dairy products derived from these animalsare judged by the authors as unethical, because they reduce theamount of food available for human consumption. Singer andMason demonstrate with evidence that animal production andconsumption are problematic for the conditions in which ani-mals are kept, transported and killed, for the low wages and badworking conditions in these factories, the exploitation of theworkers, as well as the pollution of local water and soil re-sources. Even if the intensively-produced beef, for example, isproduced under objectively better conditions than the chickens,because calves can live for at least six months by their mothers’side and have more space, they can, under an 1872 old US law,be transported for 28 hours without water (!) and their breedingis intensely focussed on natural-resources. In fact, cows are es-pecially responsible for the so-called “volatile organic com-pounds”, gases they produce while ruminating, seen as one ofthe major air pollutions in some areas (such as California’s Cen-tral Valley, see p. 60). Also, dairy-products from factory-farm-ing are seen as a source of intense suffering for the animals:dairy cows are genetically selected so that they will give vast

quantities of milk, the calves are separated from their mothersvery soon after birth, they are not free to pasture and if theirbodies collapse, they are generally seen as worthless and maybetied to a tractor before they are killed. Fish farming is seen as awater-based form of factory farming and therefore condemnedfor comparable reasons. Perhaps, surprisingly, Singer highlightsthe pain experienced by fish during fishing and takes a cautiousapproach to the possibility of feeling pain in some invertebrates,like squid, octopus, crabs, lobster and shrimp. However, the au-thors see no ethical reasons for opposing the fishing of other in-vertebrate fish (incapable of feeling pain) as long as the fishingis environmentally sustainable.

The second part of the book discusses the choices of the“conscientious omnivores”, those who buy organic food, whochoose fair trade products when they can and those who con-sume animals and dairy products with certified labels that meetanimal welfare and environmental protection standards (such asHumane Farm Animal Care, an independent non-profit organi-sation supported by the Humane Society of the United Statesand the American Society for the Prevention of Cruelty to Ani-mals). Beyond the broad attention and the detailed guidelinesbehind these certifications, certain problems, however, remain:in order to keep the prices of eggs low, for example, many eggproducers have millions of hens in cages and leave a unit forcage-free birds. At times when these producers have a surplus,they put those eggs in cage-free cartons, and this cannot be ac-cepted by conscientious consumers (p. 109-110). The reader isleft in this part with the open question of whether it is better tostop eating meat and dairy products altogether. Organic food isjudged positively in many ways, (i.e. avoidance of genetic en-gineering that poses hazards to the environment and that inmany cases does not meet the interests of developing countries;more environmentally-friendly procedures), however it isrecognised as an expensive food that not everyone can affordand so it is hard to refuse the idea of buying conventionally-pro-duced food and donating the savings to fighting global povertyas a good choice. Supporting local food is a good choice if thefood is also in season, otherwise there remains the great ex-pense of fuels for heating the greenhouses. Furthermore, onewould then not support the food production in other countries(especially developing countries), which is less energy intensiveand central to the development of the economy. Finally, thereare in the authors’ opinion, strong reasons for supporting fairtrade. These schemes ensure that more of your money gets tothe people who grow the food, receiving fair wages which per-mit them to survive and to save money to reinvest in other de-velopment projects.

The third part of the book analyses the vegetarian and vegandiet and draws the book’s conclusions. The authors present fiveprinciples that they think most people will share and then theydevelop their conclusions based on those: transparency (wehave a right to know how our food is produced); fairness (pro-ducing food should not impose costs on others); humanity (in-flicting significant suffering on animals for minor reasons iswrong); social responsibility (workers should have decentwages and working conditions); needs (preserving life andhealth is justifiable more than other desires).

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The authors see no ethical problems in the act of killing ani-mals if it is done without suffering and a good life has been pre-viously guaranteed to the animal, so apparently they seem to optfor the diet of the conscientious omnivore. However, they rec-ognize that there are many practical problems connected withthis diet: you have to put much effort into knowing where ex-actly your food comes from, and how the animals have beentreated, since there are many compromises that the humanefarms have to accept. Therefore, for example, a good choicewould be, “only buy animal products if you have visited thefarm from which they came and observed procedures like sear-ing off the beaks of laying hens, if the farm has debeaked hens”(p. 279). This does not mean that you have to struggle for “per-sonal purity”, but you should better combine your food choiceswith a pragmatic sense: food is an ethical issue but you don’thave to be fanatical about it” (p. 281). Nevertheless, Singer andMason describe many reasons why it is better to renounce theconsumption of animals and their products: First of all, if therewere no demand for certain animal foods, farms that now raiseanimals would convert to growing crops, rendering significantareas of land unnecessary for agriculture and leaving it to freeanimals (so that the total number of animals would probably in-crease, but different animals!). Also, there are many practicalproblems in knowing how the animals were kept, and since theline between what conscientious omnivores can justify eatingand what they cannot justify is vague, the vegetarians and veg-ans send more direct and efficacious messages to society aboutdrawing clear lines when making food choices. If the criterionis for a person to refuse being involved in the killing of animals,then the vegan diet is the best, because the killing of animals isnecessarily involved in the production of large quantities ofdairy products.

“In practice, as long as animals are commodities, raised forsale on a large scale in a competitive market situation, there willbe conflicts between their interests and the economic interestsof the producer, and the producer will always be under pressureto cut corners and reduce costs” (p. 257).

All in all, this book makes a big contribution in posing keyquestions about the ethical implications of our food choices. Ifthere should be a critical point, this should be found in the finalpractical suggestions the authors have given, because they seemto rest on a very individual point of view. On the one side, inlisting the five principles for guiding food choices anyone willshare, they explicitly refer to the fact that the production, amongothers, should be fair, not imposing costs on others, and social-ly responsible, and they see that the problem of the treatment ofanimals consists in their commodification (as previously quot-ed). However, on the other hand, they do not develop their ar-gument further or express any direct critique of the system, butinstead appeal solely to the individual, who should be more re-sponsible in his or her choice. Stressing the individual respon-sibility is surely very important, but it is only the first step inraising the awareness of the ethical dimension of our foodchoices, which is the original intention of the book. Since thebook is so good in showing the complexity of the situation, afurther step in the direction of criticism of the competitive andeconomic system surrounding food production could have been

expected. Interesting is, for example, the response that the au-thors give to the broadly used argument that the farm-factory’sway of producing food is cheap and that the cult of low pricesis ingrained in consumer culture. Singer and Mason show thatthe economic advantages are only apparent here, because thecheap price is the result of an externalisation of costs to others:the bargains of Wal-Mart, for example, “hide costs to taxpayers,the community, animals, and the environment” (p. 80). But ifthey are right, why do they not also stress the need for a strictergovernmental (or federal in the US) regulation next to the ap-peal to the responsibility of the individual?

Arianna Ferrari

2.7 Markus Wild:Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tierein der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartesund Hume334 Seiten, de Gruyter, 2006, Euro 98,00

Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen uns und denanderen? Mit den „anderen“ sollen in dieser Frage dabei nichtunsere Kollegen und Nachbarn, sondern die Tiere gemeint sein.Wer die Frage so begreift, begibt sich auf philosophischanspruchsvolles Gelände, beschäftigt er sich doch, wie auch dasBuch des in Berlin lehrenden Philosophen Markus Wild über-schrieben ist, mit der „anthropologischen Differenz“. Und mitdiesem Thema sind zugleich anspruchsvolle Wendungenvorgegeben: Denn wenn etwas uns als anders ausweist, so dochnur in Bezug auf anderes – hier die Tiere. Damit zeigt sich zu-gleich, dass nicht nur die Tiere anders sind, sondern, wennschon sie anders sind, dass dann auch wir anders sind.

Markus Wild geht die Frage nach dem den Menschen von sei-nen anderen animalischen Nachbarn unterscheidenden Kriteri-um philosophiehistorisch an und hat sich entschieden, drei„Große der Philosophiegeschichte“ aus drei Jahrhunderten dies-bezüglich zu untersuchen: Aus dem 16. Jahrhundert Michel deMontaigne, aus dem 17. Jahrhundert René Descartes undschließlich aus dem 18. Jahrhundert David Hume.

Alle drei Autoren will Wild daraufhin befragen, ob es einenrelevanten Unterschied zwischen dem Menschen und demTier gibt. Da aber zwischen Mensch und Tier kein starkerphysiologischer Unterschied auszumachen ist, liegt es nahe,eine mögliche Differenz in der Rationalität von Mensch undTier ausmachen zu wollen.

Damit beschäftigt sich auch Michel de Montaigne (1533-1592). Montaigne ist ein Philosoph, der wohl gar nicht beleidigtgewesen wäre, wenn man ihm diesen ehrenwerten Titelaberkannt hätte. Mit einem scharfen, immer klugen und nielangweiligen Ton kritisiert er in seinen Essais so ziemlich allehehren Überzeugungen des abendländischen Denkens. Dieserzum Teil in beißendem Spott vorgetragenen Kritik liegt indeseine philosophische Überzeugung zu Grunde, die ihn durchausals Philosophen ausweist, die des Skeptizismus. MontaignesWerk steht denn auch unter der Leitfrage „Que sais-je?“, „Wasweiß ich?“ Setzt man diesen spitzen Meißel an die heiligen

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Überzeugungen des Abendlandes an, so zeigen sie schnell ein-mal Risse. So ergeht es auch der gängigen Überzeugung, dassdie menschliche Vernunft die entscheidende Differenz zwischenMensch und Tier ausmache.

Um seinen Zweifel an dieser Auffassung zu belegen, zerlegtMontaigne das zentrale Motiv von der anthropologischen Dif-ferenz, das Argument von der Exklusivität der menschlichenSprache. Behauptet man, wie es die Menschen gerne tun, dassdie Tiere keine Sprache haben, so muss man, wie Montaigne argumentiert, doch all das, was für diese Auffassung zur Be-gründung genommen wird, auch in umgekehrter Hinsicht gel-ten lassen. Und dann müssen wir fürchten, dass die Tiere „unsmit gleichem Recht für vernunftlose Tiere halten wie wir sie“. (Essais, übersetzt von Hans Stilett, Frankfurt/M. 2000, II, 12, S. 187).

Lassen wir uns einmal auf die Tierbeobachtung ein – mitBlick auf die Gegenwart sei an die enormen Fortschritte, welchedie Tierethologie erzielt hat, erinnert – dann sollten wir, wieMontaigne empfiehlt, „unsere Aufmerksamkeit auf die Gleich-heit zwischen Mensch und Tier richten“. Montaigne, der auch indiplomatischer Mission unterwegs gewesen ist, empfiehlt, sokönnte man sagen, die Gleichheitsformel als eine win-win-Formel: Für die Tiere wäre sie von immensem Vorteil, da sie her-nach ein anderes Verhalten durch die Menschen zu erwarten hät-ten, und für die Menschen böte sie die Chance, eine Ungleich-heit zu ihren Lasten zu vermeiden. Denn egal wo man hinsieht,so trifft man doch immer auf eine Überlegenheit der Tiere: DieTiere verfügen nicht nur über eine ausgefeilte Kommunikationinnerhalb ihrer Art, sondern sogar artübergreifend. So erkenntdas Pferd „bei einem Hund an einer bestimmten Art des Bellens,ob er angriffswütig ist“ (II, 12, S. 188). Aus diesen und zahlrei-chen weiteren Beobachtungen kann man, wie Montaigne findet,auf die Sprachfähigkeit der Tiere schließen. Damit stürzt die ge-genteilige Behauptung ebenso in sich zusammen wie die Über-zeugung, dass die Sprache die entscheidende Differenz zwi-schen Mensch und Tier ausmache. Wenn wir dennoch an derSonderstellung des Menschen festhalten, so zeigt sich nur ein-mal mehr, dass „die Anmaßung unsere naturgegebene Erbkrank-heit“ ist (II, 12, S. 186). Ist die Differenz zwischen Mensch undTier aufgehoben, so hat dies auch Konsequenzen für den Um-gang mit dem Tier. Nicht nur mental, auch physiologisch sindMensch und Tier einander ähnlich (I, 14, S. 87), und gerade des-wegen ist ja auch Grausamkeit gegenüber Tieren möglich undgerade deshalb sollte sie auch verboten sein.

Im völligen Kontrast dazu steht René Descartes, den die Dra-maturgie von Wilds Analyse im Anschluss an Montaigne auf-bietet. Descartes (1596-1650) ist auch unter Laien kein Unbe-kannter, macht sich doch gegenüber keinem Autor so sehrmoralische Entrüstung über den in der Moderne üblich gewor-denen Umgang mit dem Tier fest, wie gegenüber dem „Vater“der modernen Philosophie. Gegenstand der Entrüstung ist dabeidurchweg die Bêtes-machine-These. Mit der Behauptung, dassTiere Maschinen seien, ist zugleich die Differenz zu den Men-schen markiert, denn wir Menschen sind, so die implizite Be-hauptung Descartes, eben keine Maschinen. Auch für Descartesbildet die Frage nach der Sprache den Ausgangspunkt zu seinerberühmt-berüchtigten These.

Sprache darf man dabei nicht einfach als Lautäußerung ver-stehen, sondern vielmehr als Ausdruck von Gedanken. Nachdieser Festlegung werden wir, wie Descartes im „Discours de laméthode“ argumentiert, auch die Lautäußerung eines unsnachahmenden Papageien als das sehen können, was sie ist: einGeplapper. Woran es dem Papagei bei aller Beredtheit mangelt,ist ein Verständnis seiner Rede, und das wiederum ist nicht etwa Folge davon, dass „Tiere weniger Verstand haben als Menschen, sondern vielmehr, dass sie gar keinen haben“ (Discours, Abs. 11). Man kann daher Tiere, aber nicht Menschen (!), nach dem Vorbild einer Maschine, beispielsweiseeiner mechanischen Uhr begreifen. Zu dieser Analogie muss,wie Descartes folgert, ein nicht-sentimentaler Blick, also einer,der sich von der Oberflächenähnlichkeit zwischen Mensch undTier nicht täuschen lässt, gelangen. Statt an der Oberfläche zuverbleiben, sollten wir uns demgegenüber die innere Mechanikdes Tieres vergegenwärtigen – und auch dieser Ansatz findet inder gegenwärtigen Forschungslandschaft reiche Befunde, mandenke nur an die Neurowissenschaft.

Aber hält Descartes Tiere wirklich für Maschinen? Wild willDescartes diese simple Position nicht zuschreiben und sprichtstattdessen davon, dass Descartes Tiere ansehe, als ob sieMaschinen wären. Mit diesem Korrekturvorschlag zu GunstenDescartes kann Wild Descartes einiges an mangelnder Plau-sibilität zurückgeben; ob er dem Denker einer anthropolo-gischen Differenz damit einen Gefallen tut, ist indes nicht aus-gemacht. Denn, wie wir bereits bei Montaigne gelernt haben,lässt sich jede Zuschreibung auch umkehren: Müssten nicht auchwir Menschen von dem Standpunkt eines anderen – beispiels-weise tierischen – Betrachters dann wie Als-ob-Maschinen erscheinen? Und wichtiger noch, wie steht es, unbesehen derAls-ob-Theorie, um die moralpraktische Wirkung der Bêtes-machine-These? Wild räumt ein, dass die Descartes-These sehrgut zu der, wie er zugesteht, durchaus kritikwürdigen modernenÖkonomie passe. Aber, so will Wild Descartes erneut in Schutznehmen, habe sich dieser nirgendwo für Grausamkeit gegenüberTieren ausgesprochen. Dies erscheint jedoch als ein zu ein-faches Argument. Man muss Descartes ja nicht seine Menschen-freundlichkeit absprechen, wenn man, wozu es mannigfacheGründe in seiner Philosophie gibt, ihm zugleich unterstellt, fürzahlreiche verheerende Entwicklungen der modernenGesellschaft die theoretischen Weichenstellungen vorgenommenzu haben.

Wer daran noch zweifelt, findet beim dritten im Bunde derWildschen Untersuchung, dem Schotten David Hume (1711-1776) kompetente Belehrung. Die überragende Machtstellungder Vernunft bei Descartes kippt Hume: „Die Vernunft ist nurSklave der Affekte und soll es sein“ (Ein Traktat über diemenschliche Natur, 2. Buch, III. Teil, 3. Abs.). Für unser Themaerweist sich dies als eine wichtige Festlegung: Affekte findenwir nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Tieren. Damitist aus Humescher Sicht der Begründung einer anthropologi-schen Differenz der Boden entzogen. Dies bedeutet jedoch kei-ne Gleichmacherei: Die Unterschiede zwischen Mensch undTier sind auch gerade im Felde der Affekte überdeutlich, aber,und das ist für Hume der springende Punkt, diese Differenzenreichen nicht aus, einen grundlegenden Unterschied zwischen

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Mensch und Tier auszumachen. Der nicht zu leugnende gradu-elle Unterschied führt denn auch lediglich dahin, Menschen alseine besonders komplexe Tierart zu betrachten.

Lässt man abschließend nochmals die Positionen von Mon-taigne, Hume und Descartes zur Frage der Mensch-Tier-Unter-scheidung Revue passieren, so gewinnt man den Eindruck, dasssich die im Wettstreit der Ideen siegreiche Konzeption Descar-tes vor allem aus zwei Gründen durchgesetzt hat: Sie blendetzum einen den Reichtum tierischer Vorgänge schlicht aus, stattsich von diesem bewegen zu lassen und bedient damit zum an-deren eine weitverbreitete Interessenslage. Auf diese Motivegeht Wilds ansonsten sehr verdienstvolle Arbeit nicht ein.

Andreas Brenner

3 Bioethik

3.1 Nancy S. Jecker, Albert R.Jonsen, Robert A. Pearlman:Bioethics – an introduction tohistory, methods and practice(Bioethik – eine Einführung in dieGeschichte, Methoden und Praxis )545 Seiten,Boston/Toronto/London/Singapore:Jones and Bartlett Publisher, SecondEdition 2007, $ 62.95

Bioethik zu lehren ist kein leichtes Unterfangen – insbesonderewenn es sich um Studierende der Natur- und Lebenswissen-schaften oder der Medizin handelt. Denn die Studierendenäußern nicht selten eine grundlegende Skepsis gegenüber Ethik:Entweder sei sie zu sehr meinungsabhängig (das müsse doch je-der für sich selber wissen!), oder sie sei zu abstrakt (was sagtedenn Kant zur Biotechnologie?).

Diese Skepsis Studierenden zu nehmen, ist das erklärte Zielder drei US-amerikanischen Herausgeber, die aus den Berei-chen der klinischen Ethik/Medizinethik kommen. Mit ihrerzweiten, überarbeiteten Auflage von „Bioethics – An Introduc-tion in History, Methods and Practice“ bieten sie eine umfang-reiche Textsammlung. Wie im anglo-amerikanischen Zusam-menhang üblich, wird „bioethics“ hier mit Medizinethikgleichgesetzt. Auf den fast 550 Seiten wurden Texte von ameri-kanischen Bioethikern der ersten Stunde zusammengetragen,u.a. von Daniel Callahan, Stephen Toulmin, James F. Childress,John Arras, Ruth Macklin, Peter Singer und Hans Jonas. Die 53Texte, die jeweils 5 bis max. 10 Seiten lang sind, wurden ge-konnt auf zentrale Passagen und Kernaussagen zusammen-gekürzt und eignen sich daher als Arbeitsgrundlage für die Leh-re sehr gut. Die Auswahl repräsentiert verschiedene, sich inihren Kernaussagen sowohl ergänzende als auch gegenseitigkritisierende Texte, wobei auch das Unternehmen Medizinethikan sich von bekannten Medizinsoziologen Renée Fox und Ju-dith Swazey kritisch hinterfragt wird.

Überzeugend ist der Buchaufbau: In der ersten Sektion gehtes um die Geschichte der Bioethik, um ihre Entstehung als Dis-

ziplin an der Schnittstelle von Medizin und Moralphilosophieund die historischen Bedingungen ihrer Entstehung. Hinzukommen zentrale Texte aus den 1970er Jahren, die sich auf neueDilemmata durch Technikentwicklung und gesellschaftlicheVeränderungen beziehen. Die Sektionseinführung von Albert R.Jonsen, einem der drei Herausgeber, ist entsprechend auf-schlussreich und bietet eine gute, systematische Einleitung.

Der zweite, methodische Teil bringt eine gute Übersicht derderzeit wichtigsten verschiedenen Zugänge zur angewandtenEthik. Hierbei werden neben den grundlegenden Problem einesrelativistischen oder universalistischen Anspruchs vor allem dieUnterschiede zwischen einem kasuistischen, deduktiven,kohärentistischen, narrativen oder feministisch-ethischen An-satz dargestellt und entsprechend auch deutlich markiert. Immethodischen Teil wird auch das Problem der Ethikexpertise,z.B. im politischen oder praxisnahen Beratungskontext, erör-tert. Eine übermäßige Betonung von eher kasuistischen Zugän-gen ist dabei nicht zu übersehen. Dies liegt sicher daran, dassAlbert R. Jonsen selbst als einer der Begründer der Kasuistik inder Medizinethik gilt. Umso mehr sind die systematische Ein-leitung von Nancy Jecker und besonders die kritischen Metho-denaufsätze von John Arras ein begrüßenswertes Korrektiv.

Der dritte, inhaltliche Teil bezieht sich auf zwei Bereiche derPraxis: Zum einen geht es um ethische Fragen zum Lebensan-fang (Schwangerschaftsabbruch, Reproduktionsmedizin) undzum anderen um solche zum Lebensende (Behandlungsab-bruch, Sterbehilfe, Patientenverfügungen).

Gerade der erste und zweite Teil, also Geschichte und Me-thodenreflexion, machen das Buch in zweierlei Hinsicht inter-essant: Zum einen, weil sie für alle Bereiche der praxisorien-tierten Ethik aufschlussreich sind, also auch für umwelt- undtierethische Fragen. Zum anderen wird mit der umfangreichenBehandlung von historischer Entwicklung der Disziplin und derMethodenlehre eine Lücke zumindest teilweise geschlossen,denn in den bisher vorliegenden deutschsprachigen Lehr-büchern zur Angewandten Ethik oder Bioethik werden dieseThemen nur sehr oberflächlich, oft gar nicht behandelt.

Durch alle drei Bereiche zieht sich zudem der „cultural turn“,d.h. die Reflexion auf die kulturabhängigen Bedingungen vonMoralvorstellungen und Ethik als soziale Wissenschaftspraxis.Dies zeichnet sich in der zweiten Auflage durch die Neuauf-nahme einiger Texte ab. Hierbei geht es um das kritische Aus-leuchten vorhandener Ethiküberlegungen als u.a. christlich-westlich geprägt und um Überlegungen, wie mit Fragen zumKultureinfluss, Kulturrelativismus und kulturanthropologischerErforschung von Bioethik umzugehen ist. Für die Umwelt- undTierethikdiskussionen könnten sich hieraus aufschlussreicheHinweise ergeben, so etwa wie die Ansprüche zur globalen Um-setzung von ethischen Vorgaben und Argumente zur kulturab-hängigen Tierhaltungs- und Tötungspraktiken zu bewerten sind.

Trotz der anregenden, wenngleich eher grundlegendenTextauswahl darf ein echtes Ärgernis nicht unterschlagen wer-den: Fast alle Texte sind zehn bis zwanzig Jahre alt, mit weni-gen Ausnahmen. Während dies für den historischen Teil zumin-dest teilweise begründet sein kann (aber keine Notwendigkeitist, will man z.B. auch aktuelle historische Forschung berück-sichtigen), und man dies im methodischen Teil teilweise akzep-

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tieren kann (obwohl es einen wichtigen, unberücksichtigtenForschungszuwachs in der Diskussion um „empirical ethics“,d.h. der Diskussion um Methoden der empirischen Erhebungvon Moraleinstellungen und den inhaltlich-theoretischen Be-grenzungen, gab), ist dieser Umstand im inhaltlichen Teil sehrproblematisch. Zum einen sprechen hierfür didaktische Gründe,denn aktuelle Studien lassen sich leichter an die aktuelle öf-fentliche Debatte anschließen, was in der Regel Studierendeschneller motiviert, sich mit einem Thema zu beschäftigen.Zum anderen ist es auch ein methodisches Problem, dass demeigenen Anspruch der Herausgeber „nahe an der Lebensweltli-chen Praxis zu sein“ zuwiderläuft: Denn bei inhaltlichen ethi-schen Diskussionen ist oft der aktuelle Forschungsstand aus-schlaggebend für die Argumentation. Er wird entsprechendauch in der zeitgenössischen Forschung zur Angewandten Ethikberücksichtigt. Diese Erkenntnis bliebe jedoch den Studieren-den verborgen und müsste entsprechend durch zusätzliche, ak-tuelle Literaturauswahl ausgeglichen werden. Leider haben dieHerausgeber es versäumt, dieses Manko durch aktuelle Litera-turhinweise oder Ergänzungen wettzumachen.

Trotzdem lohnt sich die Anschaffung dieser Neuauflage aufjeden Fall, denn gerade die ersten dreihundert Seiten bieten ei-ne fundierte Basis für ein Verständnis von Bioethik als Disziplinund eigenständigen Forschungszweig. Und nur wenn Bioethikals wissenschaftliche Disziplin verstanden, vermittelt und prak-tiziert wird, ist es auch berechtigt, die Zweifel der Studierendenüberhaupt ausräumen zu wollen.

Silke Schicktanz

English reviewStudying bioethics is no easy task – especially for students ofnatural or life sciences or of medicine. These students are con-stitutively sceptic about ethics: either it is too dependent on sub-jective opinions (everyone has to make their own decisions) orit is too abstract (What did Kant say about biotechnology?).

Dispelling this sceptic attitude is the aim of the three Ameri-can editors, who come from the areas of clinical ethics/medicalethics. With their second, revised edition of “Bioethics – An In-troduction in History, Methods and Practice” they have com-piled a comprehensive collection of texts. As is typical in theAnglo-American context, “bioethics” is equated with medicalethics. On almost 550 pages, texts from American bio-ethicistsof the first hour are collected, including Daniel Callahan,Stephen Toulmin, James F. Childress, John Arras, Ruth Mack-lin, Peter Singer and Hans Jonas. The 53 texts, which are eachbetween 5 and 10 pages long, were skilfully condensed to theircentral passages and main statements and thus form an excel-lent basis as teaching materials. The selection represents textswith main statements that complement or also criticise eachother, and even the concept of medical ethics itself is questionedby the well-known medical sociologists Renée Fox and JudithSwazey.

The book’s structure is convincing: The first section dealswith the history of bioethics, its origin as a discipline at the in-terface between medicine and moral philosophy, and the histor-ical conditions of its creation. Furthermore, central texts from

the 1970s that discuss new dilemmas arising from technologicaldevelopments and social changes are included. The introductionto this section by Albert R. Jonsen, one of the three editors, isfittingly insightful and offers a good, systematic introduction.The second, methodological part offers a good overview of themost important current approaches to applied ethics. Next to thebasic problem of a relativistic or universalistic claim, the differ-ences between a casuistic, deductive, coherentistic, narrative orfeministic-ethical approach are illustrated and are clearlymarked. In the methodological section the problem of the ethicsexpertise, e.g. in the context of political or practical consultan-cy, is discussed. Excessive stressing of more casuistic ap-proaches cannot be missed. The reason for this is probably thatAlbert R. Jonsen is one of the founders of the casuistic approachin medical ethics. All the more, the systematic introduction byNancy Jecker and especially the critical methodological essaysof John Arras are a welcome corrective.

The third part regarding content draws from two areas in prac-tice: it considers ethical questions concerning the beginning oflife (abortion, reproductive medicine) and the end of life (with-drawal of treatment, medically assisted suicide, the living will).

Especially the first and second parts, i.e. history and reflec-tion on methods, make the book interesting from two perspec-tives: on the one hand because they are illuminating for all ar-eas of practical ethics, i.e. also for ethical questions on theenvironment or on animals. On the other hand the comprehen-sive overview of the historical development of the disciplineand the methodological considerations at least partly close agap, as the currently available German textbooks on appliedethics or bioethics deal with these subjects only very superfi-cially if at all.

In addition, the “cultural turn” pervades all three areas, i.e. re-flection on the culture dependent conditions of morals andethics as the practice of the social sciences. This becomes evi-dent in the second edition as a result of the inclusion of somenew texts and regards the critical illumination of existing ethi-cal considerations as, among others, Christian-Western andconsiderations on how questions on cultural influence, culturalrelativism and cultural anthropological research on bioethicsshould be dealt with. This may offer interesting leads for dis-cussions on the environment or animal ethics, for example howsuggestions for a global implementation of ethical specifica-tions and arguments for culture dependent animal breeding andkilling practices are to be evaluated.

Despite the stimulating, even though rather fundamental, se-lection of texts, one real irritation must not go unmentioned: Al-most all texts are ten to twenty years old, with few exceptions.While this may at least partially be justified for the historicalpart (although it is no necessity, as for example current histori-cal research could also be considered) and one could partiallyaccept this for the methodological part (although an importantresearch increment in the discussion on „empirical ethics“, i.e.the discussion on methods for the empirical assessment ofmoral attitudes and content-theoretical limitations, is not con-sidered, this fact is very problematic in the section on content.On the one hand this has didactic reasons, as current studies canalways connect better to the current public debate, which com-

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monly motivates students better to delve into the subject. On theother hand, this is also a methodological problem, which is con-trary to the editors’ claim to be close to practice in the livingworld. In discussions on ethical content the current state of re-search is often crucial for the argumentation. It is therefore alsoconsidered in contemporary research on applied ethics. The stu-dents would not gain this insight and this would have to becounterbalanced by additional, current literature. Unfortunately,the editors have missed compensating this deficit by adding cur-rent references or supplementing texts.

Nevertheless, the acquisition of this new edition is definitelyworthwhile, as especially the first three hundred pages offer afirm basis for an understanding of bioethics as a discipline andas an independent research branch. Only if bioethics is under-stood, conveyed and practiced as a scientific discipline can it bejustified to want to attempt to dispel the students’ doubts.

Silke Schicktanz

3.2 Dieter Birnbacher:Bioethik zwischen Natur und Interesse 395 Seiten, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 2006, Euro 14,00

Das Verhältnis vom Menschen zur Natur war immer schon am-bivalent. Daran wird sich vermutlich auch nichts ändern. DieseAmbivalenz ist im Wesentlichen in einem Machtverhältnis be-gründet, dem Kampf des Menschen gegen die Natur, sein Inter-esse an ihren Ressourcen und an der Überwindung der von ihrdiktierten Gesetze. Diese Sichtweise vernachlässigt aber einenbedeutenden Sachverhalt: Der Mensch braucht die Natur, dieNatur dagegen braucht den Menschen nicht.

Solche Ambivalenzen in der Beziehung zwischen Menschenund Natur – der äußeren, aber auch der eigenen körperlichenNatur – spielen in Birnbachers Buch eine grundlegende Rolle.Der hier besprochene Band bündelt die zentralen Aufsätze zuaktuellen bioethischen Themen des an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf lehrenden Moralphilosophen. In ins-gesamt vier Kapiteln behandelt er zeitdiagnostisch brisante Fragen der Medizinethik wie die Selektion von Nachkommen,die Klonierung oder die Forschung an Stammzellen, ebensoFragen nach Leben und Tod, wie die divergierenden medizini-schen Todeskriterien und die Frage nach der ethischen Vertret-barkeit der Tötung von Tieren. Darüber hinaus werden auch me-thodische Fragen thematisiert, die den starken Praxisbezug desPhilosophen, der sich seit mehreren Jahrzehnten mit bioethi-schen Problemen befasst, erkennen lassen.

Im ersten Teil des Buches, der sich mit den grundlegendenFragen der Bioethik beschäftigt, formuliert Birnbacher zweiThesen. Der ersten These zufolge habe sich der Ethiker schondeshalb in Zurückhaltung zu üben, weil Politik und Öffentlich-keit bestimmte Erwartungen an Ethiker hinsichtlich Sicherheitund verlässlicher weltanschaulicher Orientierungen hätten: „InBezug auf umstrittene Innovationen der Bioethik wird der Ethi-ker von Befürwortern und Gegnern gleichermaßen in die Rolledesjenigen gedrängt, der die Wertvoraussetzungen, die bei den

Argumentationen pro und contra gewissermaßen ‚in der Lufthängen’, möglichst verbindlich begründen und mit der Autoritätseines Faches absichern soll.“ (S.33) Dies ist eine Erwartung,die allerdings nicht erfüllt werden könne, weil die Ethik keineunumstößlichen Werte hervorbringe, sondern als methodischangelegte Normenreflexion zu betrachten sei, die nur transpa-rente Lösungsvorschläge anbieten könne. Seine zweite These,die er als „selbstverständlich“ bezeichnet, rückt die offenbarverbreitete Annahme zurecht, bei der Bioethik handle es sichum eine Sonderethik, die spezieller Regeln bedürfe. Wie sicham Beispiel der Umweltethik vermutlich am deutlichsten zei-gen lässt, geht es nicht um andere moralische Normen, vielmehrmüssen sich umweltethische Fragen mit anderen Sachgegeben-heiten auseinander setzen. Die Auswirkungen von Umweltzer-störungen etwa sind vielfach nicht unmittelbar zu erkennen,bleiben anonym und erscheinen deshalb nicht selten von gerin-ger Relevanz.

Ob ausschließlich die von Birnbacher angeführten neuenSachgegebenheiten begründen können, weshalb die Bioethikals Sonderethik wahrgenommen wird, scheint fraglich. Derbioethische Diskurs ist darüber hinaus von einer besondersprägnanten Problematik gekennzeichnet. Bei bioethischen Fra-gen geht es im umfassenden Sinne um Fragen des Lebens, undvor allem - dies scheint bedeutsam zu sein - um Entscheidungenüber den Umgang mit nicht zustimmungsfähigen Lebewesen.Das gilt sowohl für den Bereich der Tierethik als auch für denmedizinethischen Sektor, etwa bei der Frage der Stammzellfor-schung oder der Definition des Todes beim Menschen, und istebenfalls im Bereich der ökologischen Ethik gegeben, dannnämlich, wenn es um die Zuschreibung eines Eigenwerts vonNatur geht. Bioethische Fragegestellungen befassen sich damitquantitativ betrachtet häufiger mit der ohnehin schwierigenThematik, Handlungsentscheidungen über nicht zustimmungs-fähige Wesen zu begründen. Es mag sein, dass auch dieser Fak-tor für die Wahrnehmung der Bioethik als Sonderethik verant-wortlich ist.

Mit der ethischen Frage nach unserem Umgang mit der Natur,die Thema des zweiten Kapitels ist, wird zugleich die alte philo-sophische Frage bedeutsam, inwieweit die Natur selbst als Maß-stab menschlichen Handelns betrachtet werden kann. Biologi-sche Zusammenhänge in der Natur boten den Menschenoffenbar zu allen Zeiten eine willkommene Legitimation zurDurchsetzung etwa politischer Interessen. Ob Sklavenhaltungoder monarchistische Staatsformen, alles, so ihre Verteidiger,spiegle doch nur die Naturordnung wider und sei deshalb ge-rechtfertigt. „Dem ‚Natürlichen’ wird von vornherein normativeVerbindlichkeit zugeschrieben ohne dass auch nur die Frage ge-stellt wird, ob das ‚Natürliche’ in dem jeweils unterstellten Sinnauch das Vernünftige ist.“ (S.164) Nicht selten bleiben die Am-bivalenzen zwischen Mensch und Natur auf die Gegenpole Ver-nunft und Natur verwiesen, was Birnbachers Reflexionen an-schaulich illustrieren. Während einerseits viele „natürliche“Prozesse wie Krankheiten, der Alterungsprozess oder der Toddas menschliche Interesse an einem guten Leben unterlaufen, sowird andererseits die „Autorität“ der Natur mit ihrer normativenKraft des Faktischen auch geschätzt. Das zeigt sich etwa darin,dass der Begriff „natürlich“ umgangssprachlich ausschließlich

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positiv eingesetzt wird. Birnbacher verweist hier auf zwei Vari-anten der positiven Bewertung des „Natürlichen“. Zum einensteht der Begriff „natürlich“ für das Selbstverständliche, zumanderen für das Ungekünstelte, also das Gegenstück zu Kulturund Konvention.

Die ebenso bedeutsame wie zugleich auch prekäre Frage da-nach, ob es ethisch vertretbar sei, Tiere zu töten, ist Thema desdritten Kapitels. Glasklar dokumentiert Birnbacher hier die Wi-dersprüchlichkeiten der Gesetzgebung am Beispiel des Tier-schutzgesetzes, bei dem sich die Frage aufdrängt, welchen An-spruch auf Umsetzung ein solches Gesetz noch verfolgen mag.Während neben dem Wohlbefinden von Tieren auch ihr Lebengeschützt werden soll, wird an anderer Stelle „die Tötung vonTieren mit verwaltungsmäßiger Nüchternheit geregelt, so als han-dele es sich um eine mehr oder weniger selbstverständliche Rou-tine“. (S. 222) Der Autor nähert sich der viel diskutierten Tö-tungsfrage, indem er die im Diskurs angeführten Argumente wiedas Postulat des umfassenden Lebensschutzes (Albert Schweit-zer, Paul W. Taylor), das Interessenargument (Leonard Nelson),das Argument des inhärenten Wertes (Tom Reagan) anhand vondrei Minimalbedingungen überprüft: Erstens sollen die Argu-mente rational nachvollziehbar sein, zweitens vom Standpunktder Unparteilichkeit formuliert worden sein und drittens den Be-dingungen formaler Gleichheit genügen. Das nüchterne – und zu-gleich ernüchternde – Ergebnis Birnbachers ist es, dass keines deruntersuchten Argumente eine „generelle moralische Unzulässig-keit der Tötung von Tieren zu begründen vermag“. (S. 241) EinLebensrecht sei Tieren erst dann zuzusprechen, wenn ihre Refle-xionsfähigkeit ausreiche, um sich auf in der Zukunft liegende Zu-stände beziehen zu können, argumentiert Birnbacher – wohl wis-send um die Problematik einer solchen erkenntnistheoretischenund ethologischen Beweislast. Birnbachers utilitaristischer Argu-mentation zufolge kann dieses Lebensrecht allen Tieren aus derNutztierhaltung und den meisten Tieren, die in Tierversucheneingesetzt werden (mit Ausnahme von Primaten) nicht zugespro-chen werden.

Auch das quantitätsethische Argument, welches er für plausibelhält, sei bezogen auf die Tötungsfrage kaum tragfähig. Eine quan-titätsethische Argumentation besagt, dass es erstrebenswert ist,wenn von einem Gut, wie etwa dem Gut, das Leben genießen zukönnen, eine möglichst große Menge in der Welt existiert. Dabeiist allerdings nicht das Individuum relevant, sondern allein dieQuantität des Gutes, dessen Träger indes die Individuen sind. Nurwenn die Gesamtmenge des als positiv erlebten Lebens verringertwird, folgt aus dem quantitätsethischen Argument auch ein Tö-tungsverbot. Mit anderen Worten: Wenn die Träger des Gutessterben, verringert sich auch die Gesamtmenge des Lebensgenus-ses. Das quantitätsethische Argument führt bei der ethisch fragli-chen Nutzung von Tieren zu einem kontraintuitiven Ergebnis: Beider Fleischgewinnung und bei Tierexperimenten werden Tierezweckorientiert gezüchtet und getötet. Gerade die Nachzucht die-ser bewusstseinsfähigen Tiere macht, aus der quantitätsethischenPerspektive betrachtet, den Tod der einzelnen Individuen ersetz-bar. Das gelte allerdings nur dann, so Birnbacher, wenn sie auchunter Bedingungen gehalten würden, die ihren natürlichen Be-dürfnissen entsprächen. Eben dies kann für den Großteil derNutz- und Labortiere sicher nicht angenommen werden.

Utilitaristische Argumentationen sind in ihrer souveränen Artder Abstraktion und Verrechnung von Individuen und Güternbestechend, weil sie ethische Probleme auf mathematische Artexakt zu lösen versprechen. Sie sind damit argumentationslo-gisch vielen Ansätzen überlegen. Dennoch bleibt ein Unbeha-gen zurück, was in jener Art der Verrechnung liegt, die Bewus-stseinszustände von ihren Trägern abkoppelt. Mitzunehmendem Grad der Abstraktion vom Individuum scheintein Kern von Humanität zu schwinden, der sich gerade in An-sehung des individuellen Tieres widerspiegelt. Keine noch sostringente Logik vermag es zu begründen, dass der Tod für einTier mit Bewusstsein kein Schaden ist. Die Geister scheidensich an der Frage, ob uns das bekümmern sollte oder nicht.

Petra Mayr

3.3 Michael Hauskeller (Hrsg.):Ethik des Lebens – AlbertSchweitzer als Philosoph 282 Seiten, Die Graue Edition (DieGraue Reihe 46), Zug/Schweiz, 2006,Euro 24,00

Während dem philosophischen WerkSchweitzers bislang der akademischeRespekt weitgehend verweigert wurde,gelingt es Michael Hauskeller und sei-

nem Autorenteam die „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“ ins-besondere für die umweltethische Debatte in ein neues, für An-knüpfungen besser geeignetes Licht zu setzen.

Ausgangspunkt dieser von elf Autoren verfassten Monogra-phie war eine Tagung, die am 21. und 22. Januar 2006 im Leib-niz-Haus in Hannover stattgefunden hat. Getragen wurde dieseVeranstaltung von der Arbeitshypothese, dass Schweitzer ent-gegen der üblichen Auffassung nicht nur ein radikaler, sonderndarüber hinaus auch ein konsistenter Denker war, und dass dievielen Anregungen, die sein Werk zu geben vermag, eingebettetsind in ein stimmiges Gedankengebäude, das den Vergleich mitanderen philosophischen Ansätzen nicht zu scheuen braucht.

Nach einer Einleitung durch den Herausgeber, Michael Haus-keller (Universität Exeter/UK), bemühen sich die Autoren (Hei-ke Baranzke, Hans Werner Ingensiep, Klaus Michael Meyer-Abich, Gerald Hartung, Hartmut Kreß, Hans Lenk, WernerTheobald, Christian Illies, Michael Hauskeller, Beat Sitter-Li-ver und Martin Gorke) in jeweils einem thematisch abgegrenz-ten Kapitel um die Bestätigung dieser Arbeitshypothese. Her-ausragend erscheinen dem Rezensenten insbesondere die vonKreß und Theobald verfassten Kapitel.

Hartmut Kreß (Universität Bonn) beleuchtet in seinem Auf-satz „Das Ideal der Wahrhaftigkeit in der Ethik Albert Schweit-zers“ einen für Schweitzer ganz besonders charakteristischenAspekt, der von der Hochschulethik bei der üblichen Zuord-nung von Persönlichkeiten in Systeme von Positionen nicht sel-ten übersehen wird: „der Vorrang subjektiver Wahrhaftigkeitvor (scheinbar) objektiver dogmatischer Wahrheit“. DennSchweitzer sah, ganz im Geist der Aufklärer, den Sinn der über-

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lieferten Religion darin, das Ethos des Einzelnen zu stabilisie-ren; ihm lag, so Kreß, daran, dass der einzelne Mensch seineLebensorientierung oder Lebensanschauung durch eigenständi-ges Denken gewinnt. Insbesondere die Analyse der vielschich-tigen gedanklichen Beziehung zwischen Schweitzer und Nietz-sche, die vielleicht primär in der gemeinsamen Wertschätzungder persönlichen Wahrhaftigkeit in Form von moralischer Aut-hentizität und intellektueller Redlichkeit bestand, liefert Uner-wartetes zu Tage und kann wärmstens empfohlen werden. AlsAppetitanreger sei hier aus einem Brief zitiert, den Schweitzer1886 an seine spätere Frau schrieb: „In Nietzsche war etwasvon dem Geist Christi; dies zu sagen ist ein Sakrileg. Gleich-viel: es ist dennoch wahr (…), er war edel, dieser Mann; hätteer 20 Jahrhunderte früher gelebt, wäre er Paulus geworden.“ –Als Mitglied verschiedener medizinethischer und medizinrecht-licher Kommissionen, darunter der zentralen Kommission fürStammzellforschung, gelingt es Kreß vorbildlich, den Aspektder Wahrhaftigkeit in der Ethik Albert Schweitzers mit mehre-ren konkreten Problemen der gegenwärtigen Ethik in ein kon-struktives Verhältnis zu setzen. So wird am Ende aus der Se-kundär- ein lehrreiches Stück Primärliteratur.

Werner Theobald (Universität Kiel) geht in seinem Aufsatzder Frage nach: „Gibt es einen rationalen Kern der Lebensphi-losophie Albert Schweitzers?“ – Nach Theobald ergibt sichSchweitzers zentrale Bewertung, „dass jedes Leben werthaft seiund Ehrfurcht verdiene“, aus der „Wahrnehmung selbst“, ausder – wie Schweitzer sagt – unmittelbarsten und umfassendstenTatsache des Bewusstseins. Theobald schlägt auf Grundlage derPrämisse, Wahrnehmen impliziere Bewerten, vor, Schweitzersrätselhafte Formulierung so zu verstehen, dass die ästhetisch er-fahrene Natur sich dem Menschen auch als „an-sich-werthaft“präsentieren müsse, wenn eine absolut wertfreie Wahrnehmungnicht denkbar sei. Theobald diskutiert das Für und Wider dieserÜberlegung auf mehreren Ebenen. Er verweist auf die Ästhetikvon Kant bis Adorno, die immer wieder auf den merkwürdigenZusammenhang von Naturschönheit und Moralität aufmerksammache, und wendet versuchsweise den in der naturethischenDiskussion neuen Begriff der „transästhetischen Erfahrung“ aufdieses Wahrnehmen an. Bei der transästhetischen Erfahrunghandelt es sich, anders als bei der naturwissenschaftlichen Be-trachtung, um eine „Art wechselseitiger Durchdringung vonSubjekt und Objekt“. Mensch und Natur werden nicht als etwasGetrenntes betrachtet, das es in einem zweiten Schritt mitein-ander in Beziehung zu setzen gilt, sondern diese Beziehung isthier das eigentlich Objektive. Wo sie erfahren wird, erwache dieNatur aus ihrem bloßen Objekt-Sein „wie von einem Zauber-stab berührt“. Hier liegen, so Theobald, die erkenntnistheoreti-schen Wurzeln der vielfach beschriebenen ästhetischen Bezau-berung durch die Natur, die ihr in ethischer Hinsicht einen„eigenen Wert“ und eine „eigene Würde“ bescheinigt. Theobaldgelangt zu dem Schluss, es müsse wohl diese Form der Ratio-nalität sein, die den „ästhetischen Kern“ der lebensmetaphysi-schen Naturdeutung Albert Schweitzers präge.

Das Buch enthält noch neun weitere, teils sehr lesenswerteAufsätze sowie Informationen zu den Autoren. Dieses Werk bil-det einen Wendepunkt der (umwelt)ethischen Schweitzer-Re-zeption und sei jedem, der sich auf diesem Gebiet geisteswis-

senschaftlich bewegt, wärmstens empfohlen, auch wenn es –dies sei noch kurz erwähnt – dem Buch nicht geschadet hätte,Schweitzer-kritische Stimmen stärker zu berücksichtigen.

Jörg Luy

4 Rechtsfragen und Rechtsentwicklung

4.1 Michael Fischer:Tierstrafen und Tierprozesse –Zur sozialen Konstruktion vonRechtssubjekten 152 Seiten. LIT Verlag, Münster, 2005,Euro 14,90

Der Umgang des Menschen mit den Tie-ren ist seit jeher zutiefst widersprüchlich.Ein besonders bemerkenswertes und teil-weise geradezu grotesk anmutendes Ka-

pitel dieser Ambivalenz stellen die Tierstrafen und Tierprozessedes Mittelalters und der frühen Neuzeit dar. Ab dem 13. Jahr-hundert wurden in weiten Teilen Europas ordentliche Strafver-fahren durchgeführt, in denen Tiere menschlichen Tätern gleichbestimmter Verbrechen bezichtigt und zur Verantwortung gezo-gen wurden. Überliefert ist sowohl eine Vielzahl von Verurtei-lungen einzelner Heim- oder Nutztiere, die üblicherweise mitder öffentlich vollstreckten Todesstrafe belegt wurden, als auchvon Prozessen gegen ganze Tiergattungen, die man bei Schuld-spruch in der Regel mit der Exkommunikation, Malediktion(Verschmähung) und Verbannung belegte. Die aus heutigerSicht befremdende Rechtspraxis hatte in unserem Kulturkreisbis weit ins 17. Jahrhundert Gültigkeit, als die Aufklärung derVorstellung, dass Tiere für ihre Verfehlungen vor dem Gesetzgeradestehen müssten, ein Ende bereitete.

Weder in der Kriminologie noch in der Rechtssoziologie wur-de dem Phänomen in den letzten Jahrzehnten große Bedeutungbeigemessen. Nachdem die letzten umfassenden deutschspra-chigen Abhandlungen viele Jahrzehnte zurückliegen oder garnoch älter sind (so wird in diesem Zusammenhang in erster Linie noch immer die Arbeit von Karl von Amira aus dem Jah-re 1891 zitiert), nimmt sich der Hamburger Sozialwissenschaft-ler Michael Fischer dem Thema in seiner umfassenden Arbeitwieder an. Er geht dabei der Frage nach, wie weit den Tierstra-fen und -prozessen vor dem Hintergrund einer weit gehendenVermenschlichung der Tiere hinsichtlich ihrer Schuld- undBußfähigkeit und dem Einräumen prozessualer Rechte die Auf-fassung einer eigentlichen Rechtssubjektiviät zugrunde lag.

Fischers Interesse gilt dabei vor allem der Frage, welchesTierverständnis einer gerichtlichen Behandlung von Tieren zu-grunde lag, die dem damals üblichen Verhalten ihnen gegenübervollständig widersprach. Im ersten Teil seiner sieben Hauptka-pitel umfassenden Abhandlung beschäftigt sich der Autor mitder im Mittelalter und in der frühen Neuzeit prägenden typi-schen europäischen Konzeption der Kategorie „Tier“, die sichals ambivalentes Konstrukt zeigt, das „Subjekte in empirischerHinsicht diesseits der Grenze des Sozialen, und zugleich in

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rechtlich-moralischer Hinsicht jenseits des Sozialen verortet".(S. 17) Im Anschluss zeigt er auf, wie diese Konzeption, als de-ren wichtigstes Unterscheidungskriterium zum Menschen dieVernunft angesehen wurde, diametral zum Phänomen der for-mal strafrechtlichen Behandlung von Tieren als Straftäter undProzessparteien in jener Zeit stand.

Sowohl hinsichtlich ihrer Logik als auch bezüglich ihres Ab-laufes gab es zwischen Tierstrafen und Tierprozessen wesentli-che Unterschiede. Tierstrafen wurden von weltlichen Gerichtenverhängt und richteten sich gegen domestizierte Heim- oderNutztiere. Die in der Regel mit der Todesstrafe endenden Ver-fahren hatten ihren Anlass meist in der Tötung eines Menschendurch das Tier. Tierprozesse wurden demgegenüber gegen wildlebende, als „Schädlinge" auftretende Insekten oder andere ingrößerer Anzahl auftretende Kleintiere geführt. Sie fanden vorkirchlichen Gerichten statt und endeten oft mit Maßnahmen wieder Exkommunikation, um die Schädlinge zu vertreiben.

Gemeinsam war Tierstrafen und Tierprozessen jedoch, dassdie angeklagten Tiere personifiziert wurden und die Verfahrenformal ganz wie solche gegen menschliche Angeklagte ablie-fen. Rinder und Schweine wurden ebenso wie Engerlinge undRatten für ihr gesetzeswidriges Verhalten verantwortlich ge-macht, indem ihre kognitiven Fähigkeiten in unüblicher Weisegewertet wurden. Geradezu kurios muten Prozessberichte an, indenen man heute liest, wie Anwälte den von ihnen vertretenenRatten die Gerichtsvorladung laut vorlasen oder wie auf öffent-lichem Grund Hinweisschilder für Insekten angebracht wurden,wonach sie per Gerichtsurteil das von ihnen annektierte Feldbinnen einer Woche zu verlassen hatten.

Bei der Frage nach den Erklärungsversuchen des Phänomensuntersucht Fischer verschiedene bisherige Thesen (Personifizie-rungsthese, These der Irrelevanz der Personalität für das mittel-alterliche Recht, Aberglauben und These der no-fault-responsi-bility für Tiere) und unterzieht sie einer kritischen Würdigung.Bei allen Theorien ist die Frage nach der Personifizierung vonTieren zentral, allesamt bleiben sie jedoch unbefriedigend, weilkeine von ihnen den Personenbegriff hinreichend zu klären ver-mag. In zwei ausführlichen Kapiteln analysiert der Autor Tier-strafen und Tierprozesse sodann gesondert und mit Verweisungauf etliche Fallbeispiele sehr anschaulich. Unter Einbeziehungder diversen Widersprüche der bisherigen Erklärungsversuchesieht Fischer die Phänomene als Kontrollversuche des Men-schen und nicht zuletzt auch als Demonstration seiner Macht.Namentlich in den Tierstrafen ortet der Autor eine Inszenierungvon Staatsherrschaft, an die sich Tiere ebenso wie Menschen zuhalten hatten. Im Gegensatz zu den heutigen Möglichkeiten mo-derner Massenvernichtungsmaßnahmen gegen Schädlinge be-diente man sich zu jener Zeit der sozialen Kontrolle durch dieSteuerung des Verhaltens mittels Sanktionsandrohung oderStrafe, wofür Tieren zumindest implizit eine Art von Persona-lität und Rechtssubjektivität unterstellt werden musste.

Nach der Beschreibung des historischen Endes von Tierstra-fen und -prozessen schließt Fischer sein eindrückliches Werkmit der Beobachtung, dass auch modernen Gesellschaften einewiderspruchsfreie Konzeption des Rechtsstatus von Tierennicht gelungen ist. Die Ambivalenz hat sich heute lediglich insGegenteil verkehrt: „Während die Kontrolle der Tiere in den

Tierstrafen und -prozessen es erforderlich machte, Zugehörig-keit zu betonen, Interessen relevant zu setzen und die Tiere alsRechtssubjekte zu konzipieren, obwohl sie dem allgemeinenVerständnis der moralischen Ordnung der Welt und des Rechtszufolge moralisch-rechtliche Objekte waren, bedingt die ge-waltsame Kontrolle der machtlosen Nutztiere der Moderne dieNegation des Status der Tiere als (nicht verantwortliche, aber inihren Interessen relevante) Rechtssubjekte, der ihnen der Ei-genlogik der moralischen und rechtlichen Systeme zufolgetatsächlich zukommt." (S. 146) Derweil die mittelalterlichenund frühneuzeitlichen Verfahren Tieren eine moralische Perso-nalität zuschrieben, verbietet es heute die „technisch-gewaltsa-me Kontrolle", den Tieren eine Rechtsfähigkeit ausdrücklichanzuerkennen, obwohl ihnen diese gemäß Fischer tatsächlichzukommt. Aufgrund der Tatsache, dass Tiere im Sinne des ethi-schen Tierschutzes um ihrer selbst willen rechtlich vor Leidengeschützt sind, bezeichnet er sie de facto als „Rechtssubjekteim positiven Sinne", nicht aber ohne sogleich anzuführen, dassdies nichts mehr bedeutet als die Einräumung von Minimal-rechten, wie etwa dass sie vor der Tötung zwingend betäubtwerden müssen. Nicht nur hier dringt Fischers grundsätzlicheSympathie für eine wesentliche Besserstellung des Tieres imheutigen Recht durch. Sogar in die Richtung eigentlicher Tier-rechte geht er beispielsweise dann, wenn er die Zufälligkeit(oder Nichtbegründbarkeit) des Ausschlusses von Tieren ausdem Kreise jener Lebewesen hervorhebt, denen elementareRechte (namentlich auf Leben, Freiheit und körperliche Inte-grität) zukommen.

Gesamthaft bedeutet Fischers Arbeit einen wichtigen Beitragzu einem Phänomen, das uns vielleicht als eine Art Kuriosumder Rechtsgeschichte erscheinen mag, jedoch unweigerlich dieFrage nach den Ursachen für diese eigentümliche Tierkonzepti-on aufwirft. Die zwar nicht immer leicht verständlichen, insge-samt aber spannenden Ausführungen liefern Antworten hieraufhauptsächlich unter kriminologischen Gesichtspunkten, befas-sen sich aber ebenso mit philosophischen und sozialwissen-schaftlichen Aspekten des Themas. Insbesondere gelungen istFischer auch die inhaltliche Verknüpfung des rechtshistorischenThemas mit dem heutigen Recht und den darüber hinausgehen-den Forderungen der Tierrechtsbewegung.

Gieri Bolliger

4.2 Birgit Schröder (Hrsg.):Verschwiegenes TierLeid –sexueller Missbrauch an Tieren((mit cover ))328 Seiten, Schröder Verlag, 2006, Euro 24,80

Sexuelle Handlungen mit Tieren („Zoo-philie“) werden von der Öffentlichkeithöchstens am Rande wahrgenommen.Hartnäckig hält sich die Auffassung,

dass es sich dabei um die Taten einiger weniger sozial isolierterMenschen handelt. Der von der engagierten Tierschützerin

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Birgit Schröder herausgegebene, 328 Seiten starke Sammel-band „Verschwiegenes Tierleid“ widerlegt diesen Mythos ein-drücklich und beschäftigt sich eingehend mit einem Tabu, dasselbst in Tierschutzkreisen kaum thematisiert wird.

Über das tatsächliche Ausmass der Zoophilie in all ihren ge-waltlosen und gewalttätigen Formen lässt sich nur spekulieren.Aufgrund hoher vermuteter Dunkelziffern sind entsprechendePraktiken wohl aber weit verbreiteter als gemeinhin angenom-men. Untermauert wird diese These insbesondere durch einenBlick ins Internet, wo zoophile und tierpornographische Inhaltein erschütternder Vielzahl grenzenlose Verbreitung finden. Aufeinschlägigen Websites ist entsprechendes Bild- und Filmmateri-al selbst für Kinder und Jugendliche ebenso leicht zugänglich wiedie detaillierte Anleitung zum Vollzug sexueller Handlungen anTieren jeglicher Art. Übergriffe auf eigene oder fremde Tierewerden hier nachdrücklich als legitimes sexuelles Interesse pro-pagiert und in Chatforen energisch verteidigt. Und nicht zuletztwird Zoophilie mittlerweile durch eine immense Industrie ver-marktet, die an der Neugier und „etwas anderen Neigungen“ ih-rer Klienten weltweit Unsummen verdient.

Der vorliegende Sammelband bietet einen umfassendenÜberblick über den Problembereich, indem er diesen aus ver-schiedenen fachwissenschaftlichen Perspektiven beleuchtet. ZuWort kommen beispielsweise Fachleute aus den Bereichen Soziologie, Ethologie, Rechtswissenschaft, Kriminologie, Psy-chologie oder Veterinärmedizin, wovon mit Piers Beirne, HannaRheinz, Michael Fischer, Dorit Urd Feddersen-Petersen undChristoph Maisack nur einige der vielen renommierten Autorin-nen und Autoren namentlich erwähnt seien. Dabei lassen vor al-lem auch die ins Deutsche übersetzten Beiträge der englischspra-chigen Autoren erkennen, dass sexuelle Handlungen mit Tierenkein einzelstaatliches Phänomen darstellen, sondern weit übernationale Grenzen hinausgreifen. In bedeutender Weise ergänztwird das Buch durch eine Reihe von Erfahrungsberichten per-sönlich Betroffener.

Das Buch ist in sechs Hauptteile „Analytische Perspektiven“,„Engagierte Tierärzte“, „Kriminalpolizeiliche Studien undPräventionsvorschläge", „Alles was Recht ist“, „Betroffene be-richten“ und „Tierpornographie“ gegliedert. Unter den insgesamt31 Beiträgen finden sich nicht nur phänomenologische Unter-suchungen über Tathandlungen, Täterinnen und Täter und weite-re empirische Studien und wissenschaftliche Theorien, sondernunter anderem auch detaillierte Informationen für Tierhalter,Tierärzte und die polizeiliche Ermittlungsarbeit. Von grossem Interesse sind beispielsweise die Ausführungen von AlexandraStupperich über den Zusammenhang von Tierquälerei und Ge-waltkriminalität (ein Thema, das bislang noch immer nicht voll-ständig ausgeleuchtet ist und dringend weiterer Untersuchungenbedarf) und die sehr praxisnahen Beiträge von MichèleProtto/Christiane Lauk/Gabriele Frey über die biologische Spu-rensicherung durch den Tierarzt oder von Hans Gliedermannüber Sicherheitskonzepte in der Pferdehaltung zur Verhinderungvon sexuellen Übergriffen.

Ein ausführlicher Teil des Sammelbandes widmet sich fernerder rechtlichen Erfassung der Problematik. Dabei wird vor allemdeutlich, dass das geltende Recht für Tiere keinen ausreichendenSchutz vor sexuellen Handlungen und den damit verbundenen

Beeinträchtigungen bietet. Aus der Sicht des Tierschutzes unbe-friedigend ist insbesondere der Umstand, dass die Zoophiliegrundsätzlich legal, bzw. nur gerade dann strafbar ist, wenn Tieren nachweislich erhebliche Schäden oder Leiden zugefügtwerden, sodass sie als sog. rohe Misshandlungen oder Ord-nungswidrigkeiten im Sinne des (deutschen) Tierschutzgesetzesqualifiziert werden können. Einen weiteren Missstand bildet dieTatsache, dass sich zwar – richtigerweise – strafbar macht, werBilder oder Datenträger mit zoophilem Inhalt verbreitet, nichtaber, wer diese Handlungen selbst vornimmt oder Beihilfe dazuleistet, indem er etwa Tiere dafür bereitstellt oder dazu dressiert.Bedauerlicherweise beschränken sich die Ausführungen jedochauf das deutsche Recht, wenngleich das Thema wie gesehen einestark staatenübergreifende Bedeutung hat. Ein Rechtsvergleichzu anderen Ländern wäre hier wünschenswert gewesen, vor al-lem auch mit Blick auf die Schweiz. Auf der Grundlage aktuellerRechtsliteratur werden sexuelle Handlungen hier durch das vor-aussichtlich 2008 in Kraft tretende neue Tierschutzgesetz näm-lich verboten – ähnlich, wie dies auch in verschiedenen Staatendes angloamerikanischen Sprachraums der Fall ist. Da zoophileHandlungen grundsätzlich die sexuelle Integrität (insbesonderedie freie Willensbildung und den Schutz vor sexueller Ausbeu-tung) der betroffenen Tiere tangieren und einen Verstoss gegenihre Würde darstellen, werden sie im neuen Schweizer Tier-schutzrecht in einem expliziten Straftatbestand unter Strafe ge-stellt werden – unabhängig davon, ob den betroffenen Tieren er-hebliche physische Schäden zufügt werden oder nicht.

Die Beachtung und eingehende Thematisierung des sexuellenKontakts mit Tieren im vorliegenden (grossen) Umfang ist abso-lut berechtigt und vor allem auch aus der Sicht des Tierschutzesund Tierschutzrechts sehr bedeutend. Das Offenlegen der mitun-ter beängstigenden Fakten und Brechen des gesellschaftlichenTabus ist wichtig, selbst wenn es sich letztlich um ein sehr unan-genehmes Thema handelt. In diesem Sinne ist die umfassendeArbeit von Birgit Schröder nicht nur beachtens-, sondern äusserstverdankenswert. Der Sammelband schliesst im deutschenSprachraum das bislang bestehende Vakuum an zoophiliekriti-scher Fachliteratur und ist mit seinem Praxisbezug vor allem fürbetroffene Tierhalter eine bedeutende Hilfestellung „für den Ex-tremfall“. Ausserdem bildet er eine unverzichtbare Diskussions-grundlage zu einem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicherund sexueller Liberalisierung, den Interessenschutz von Tierhal-tern und bedeutender Tierschutz- bzw. Tierschutzrechtsfragen.

Weil das Thema in der Gesellschaft und durchaus auch aufakademischer Ebene aber sehr kontrovers diskutiert wird, wäreeine etwas ausgewogenere Auswahl der Beiträge jedoch wün-schenswert gewesen. Trotz der grossen Bandbreite der berück-sichtigen Fachgebiete muss sich der Sammelband den Vorwurfder Einseitigkeit gefallen lassen, weil praktisch durchwegs nurablehnende Positionen vertreten werden. Auch jenen StimmenGewicht einzuräumen, die sexuelle Beziehungen zu Tieren ver-teidigen, Zoophilie in erster Linie als Tierliebe und gar als Tier-schutzaspekt verstehen, hätte der Bedeutung des Werks keinenAbbruch getan, sondern diese im Sinne einer objektiveren Ge-samtbetrachtung sogar noch verstärkt.

Gieri Bolliger

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5 Tierversuche

5.1 Winfried Ahne:Tierversuche. Im Spannungsfeld von Praxis und Bioethik 112 Seiten, Schattauer Verlag, 2007, Euro 19,95

Der Autor, Professor für Zoologie und Virologie an der LMUMünchen, setzt sich im vorliegenden Werk kritisch mit demSpannungsverhältnis zwischen Tierethik und Tierversuchenauseinander. Zwar identifiziert Ahne die pathozentrische Maxi-me der Leidensminimierung als übergeordnetes Prinzip der fürTierversuche relevanten ethischen und rechtlichen Normen,doch misst er auch dem Schutz des Lebens der VersuchstiereBedeutung zu (S. 83f.).

Ahne skizziert zunächst die Entwicklung des Tierschutzesvom Grausamkeitsverbot (Codex Chammurapi, 2. Jahrtausendv. Chr.) bis zu seiner Verankerung im deutschen Grundgesetz;die Bilanz der Umsetzung tierversuchsrechtlicher Vorschriftenfällt vor diesem Hintergrund eher ernüchternd aus: Zwar siehtdas deutsche Tierschutzgesetz vor, dass ein Tierversuch nurdann genehmigt werden darf, wenn eine „umfassende Güterab-wägung“ vorgenommen und die ethische Vertretbarkeit des Ver-suchsvorhabens bejaht wurde. Eine Vertretbarkeitsprüfung fin-det jedoch auch nach Aufnahme der StaatszielbestimmungTierschutz in das Grundgesetz in der Praxis vielfach nicht statt,da einschlägige Vorgaben des Gesetzgebers ebenso fehlen wiegesellschaftlich akzeptierte Kriterien zur rationalen Abwägungzwischen dem erwarteten Erkenntnisgewinn und der Belastungder Versuchstiere. Ein zentrales Problem bei der Beurteilungder ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen ortet der Autordarin, dass den Belangen des Menschen in der Regel nach wievor der absolute Vorrang vor den Interessen der Tiere bzw. desTierschutzes eingeräumt wird; dies führt dazu, dass das Erfor-dernis der Güterabwägung auf die Funktion einer bloßenScheinlegitimation reduziert wird.

Zahlreiche bioethische Probleme im Zusammenhang mitTierversuchen – insbesondere Herstellung, Zucht und Verwen-dung transgener Tiere, Klonierung, Stammzellenforschung undXenotransplantation – müssen als weitgehend ungelöst gelten.Im Zusammenhang mit dem Einsatz transgener Tiere wird aufderen vielfältige (und prospektiv kaum absehbare) Belastungdurch die zur Herstellung eingesetzten Techniken, auf die nichtvorhersehbaren (und für die experimentelle Verwendung nichtnotwendigen) Schäden sowie auf den hohen „Ausschuss“, derbis zu 99% der gezüchteten Tiere betragen kann, verwiesen.Insgesamt behandelt der Autor eine Fülle von Problemberei-chen der tierversuchsgestützten Forschung, u.a. die nach wievor nicht abschließend geklärte „Übertragungsproblematik“,die steigenden Versuchstierzahlen (vor allem in der Grundla-genforschung), die Unvollständigkeit der Tierversuchs-Statisti-ken (die z.B. überzählige Tiere und Wirbellose nicht erfassen)sowie schwere Zwischenfälle mit Arzneimitteln, die präklinischan Tieren getestet wurden (z.B. TGN1412). Ein Paradoxon be-steht auch darin, dass bestimmte Tierversuche, wie z.B. derFischtoxizitätstest, nach wie vor durch Rechtsvorschriften an-geordnet werden, obwohl sie bereits durch Alternativmethoden

ersetzt werden könnten und die Reduzierung von Tierversuchenbzw. die Anwendung von Ersatzmethoden als tierversuchs-rechtliche Grundsätze allgemein anerkannt sind.

Im Zusammenhang mit Tierversuchen zum Zweck der Aus-,Fort- und Weiterbildung wird zwar auf den Vorrang alternativerLehrbehelfe hingewiesen, allerdings ohne die äußerst verdienst-volle Übersicht über solche Unterrichtsmedien zu erwähnen,die von U. Zinko, N. Jukes und C. Gericke (from guinea pig tocomputer mouse, 1997) zusammengestellt wurde.

Der zweite Teil des Buches befasst sich mit tierethischenKonzepten, wobei sich der Autor insbesondere mit Tieren alsTrägern von Interessen und moralischen Rechten sowie mit derBedeutung der Begriffe „Würde“ und „Mitgeschöpflichkeit“auseinandersetzt. Bedauerlicherweise werden diese Begriffe,die bereits Eingang in der Tierschutzgesetzgebung des deutsch-sprachigen Raumes gefunden haben, aus rechtswissenschaftli-cher Sicht nur unzureichend und ohne Beachtung einschlägigerFachliteratur aufgearbeitet. Auch die Auffassung, wonach man„aus der Existenz von Tierschutzgesetzen gewisse Tierrechte[meine Hervorhebung] ableiten könnte“ (S. 67) ist eine mehr alsgewagte Schlussfolgerung. Der Anspruch auf eine interdiszi-plinäre Erfassung des Themas wird damit nicht in vollem Um-fang eingelöst, und über weite Strecken vermisst man auch Vor-schläge zur Lösung der aufgezeigten Probleme.

Trotz dieser Defizite hat der Autor ein engagiertes und pro-blemorientiertes Werk vorgelegt, das eine Fülle von Denkan-stößen vermittelt und die Wahrnehmung dafür schärft, dass der„tägliche Umgang mit den Tieren (…) erkennen (lässt), dass ih-re moralischen Rechte immer noch der puren Anthropozentrikgeopfert werden“ (S. 57).

Regina Binder

5.2 Linda Birke, Arnold Arlukeand Mike Michael:The Sacrifice. How ScientificExperiments Transform Animalsand People (Das Opfer: Wie wissen-schaftliche Experimente Tiereund Menschen verändern)220 Seiten, Purdue University Press,West Lafayette, Indiana, 2007, Series:New directions in the human-animalbond, CDN$ 32,98

In diesem Buch untersuchen Linda Birke, Arnold Arluke undMike Michael die wechselseitige Identitätsbildung von Tierenund Menschen im Kontext von Tierexperimenten und aus derPerspektive, wie die Öffentlichkeit Wissenschaft versteht (undumgekehrt wie Wissenschaftler die Öffentlichkeit wahrneh-men). Die Analyse basiert auf der Auseinandersetzung mit dersoziologischen, historischen und wissenschaftlichen Literaturzu Tierexperimenten und auf Daten empirischer Forschung(z.B. ethnografischer Studien, die in US Labors durchgeführtwurden, sowie Interviews mit Wissenschaftlern und Tierpfle-

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gern in Grossbritannien). Die soziologische Untersuchung derkomplexen Welt der Wissenschaftler, Tierpfleger, der Öffent-lichkeit und der Labortiere in der experimentellen Praxis befas-st sich in diesem Buch nicht mit Recht und Unrecht dieser Pra-xis. Das Buch nimmt einen neutralen Standpunkt ein undspricht ethische Gesichtspunkte nur an, wenn sie direkt oder in-direkt durch die betroffenen Akteure aufgeworfen werden. Ob-wohl dies eine ziemlich ungewöhnliche Position in einer soemotional geladenen und relevanten Thematik ist, bietet dasBuch neue und interessante Einsichten: wie Labortiere im La-bor erschaffen werden, wie man sie nach aussen hin präsentiert,wie Wissenschaftler beim Umgang mit den Versuchstieren ihreeigene Identität konstruieren – und dies schon während ihrerAusbildung –, und wie Wissenschaftler und Öffentlichkeit beidiesem Thema interagieren.

Im ersten Teil des Buches wird die Konstruktion einer Iden-tität der Labortiere durch selektive Züchtung und genetischeManipulation untersucht. Seit der Entdeckung der Genetik imspäten 19. Jahrhundert werden Labortiere (vor allem Nager) alsdie richtigen „Werkzeuge“ zur Bearbeitung einer grossen Reihevon Forschungsproblemen angesehen; „Forscher müssen an dieNotwendigkeit glauben, dass Ausrüstung standardisiert und Er-gebnisse reproduziert werden, ebenso an die Mathematisierungals Werkzeug für die Beschreibung von Ergebnissen“ (Resear-chers must (…) believe in the need to standardize equipmentand in the replicability of results, as well as in the mathema-tization as a tool with which to describe results.) (S. 31) DieseStandardisierung, die als ultimatives Ziel gilt, um den wissen-schaftlichen Charakter der Ergebnisse zu gewährleisten, findetauf der Ebene der Erschaffung des Tieres (als Höhepunkt giltdas transgene Tier), in der Umgebung der Tiere (Tierställe) so-wie in der Struktur des gesamten Labors statt. Durch die mo-dernen Methoden der Gentechnik sind Labortiere in spezielleBereiche abgegrenzt worden: Sie werden „sorgfältig vor demRest der Welt weggeschlossen, wobei dieser Vorgang seinerseitsmassgebend bestimmt, wie die Gebäude zu ihrer Unterbringunggebaut werden und wie das Laborpersonal arbeiten soll“(…kept carefully sealed from the rest of the world, a processwhich in turn profoundly affects how buildings housing themare constructed and how personnel work around them.) (S. 32)Doch sehen die Autoren in diesem Vorgang einen latenten Wi-derspruch, der auch empirisch ausgewiesen ist: Obwohl die Re-produzierbarkeit von Ergebnissen, basierend auf der Annahme,dass Wissen verallgemeinert werden kann, sehr viel Aufmerk-samkeit erlangt, gibt es auch zahlreiche Fälle, in denen Variabi-lität und Unvorhersagbarkeit die Daten gefährden und das Kon-zept des Tiermodells als epistemologisch bedenklichausweisen. Die Autoren zeigen sehr gut die Verbindung zwi-schen diesem epistemologischen Problem und dem Umstand,dass das Tiermodell eine „moralische Kategorie“ darstellt, dieentscheidend ist „für die Begründung eines experimentellen Sy-stems oder Forschungsprogramms“ und „ausschlaggebend fürdie Persönlichkeit der Wissenschaftler.“ (...in terms of justify-ing an experimental system or program of research and pivotalin scientists’ identities.) (S. 53) Das Tiermodell wird nämlichvon den Autoren als moralisches Konstrukt beschrieben, dasvon Wissenschaftlern benutzt wird, um ihr Handeln in Form ei-

ner Kosten-Nutzen-Rechnung zu evaluieren. Das letzte Kapitel(III) des ersten Teils analysiert die Darstellung der Labortiere:Tierschützer-Organisationen beziehen sich explizit auf Tiere,benützen manchmal auch individuelle Bezeichnungen; Men-schen hingegen, die Tiere nutzen oder herstellen, machen diesein schriftlicher Form (z.B. Forschungsprotokolle oder Anzei-gen) oft unkenntlich, lassen sie als „natürliche Tiere“ ver-schwinden und nehmen sie einfach als Datenquellen wahr.

Der zweite Teil des Buches analysiert die Selbstwahrnehmungvon Forschern und technischen Mitarbeitern, die Labortiere nut-zen. Die Ausbildung und die Karriere des Wissenschaftlers wirdals langer Prozess dargestellt, der nicht nur auf den Erwerb vonpraktischen Fähigkeiten und Wissen ausgerichtet ist, sondernauch Glauben und Ethik umfasst. Sehr interessant ist, dass dieAutoren auf Grund ihrer empirischen Daten eine klare Auftei-lung der emotionalen Arbeit im Labor feststellen. Die Rolle dertechnischen Mitarbeiter (Pfleger) ist tiefgreifend ambivalent:Zum einen nehmen sie sich als Puffer zwischen den Tieren undden Forderungen der Wissenschaftler wahr (S. 99) und investie-ren in die Pflege der Tiere (wegen ihrer Tierliebe haben sie jadiesen Beruf gewählt). Andererseits müssen die technischenMitarbeiter die „Sprache des Opferns“ im Namen der Wissen-schaft lernen (wie einer sich im Interview ausdrückte), und da-her stellen sie ihre Labors als gut organisierte Arbeitsplätze dar,in denen Leiden minimiert wird. Im Vergleich sehen Wissen-schaftler Tiere als Überbringer wissenschaftlicher Daten und als„pelzige Reagenzgläser“ und halten Abstand von ihnen (auchweil viele von ihnen keinen sehr nahen Kontakt zu den Tierenhaben). Wissenschaftler nehmen die Identität der Tiere mehrhinsichtlich der Lösung von biomedizinischen Problemen wahrund sprechen seltener von emotionaler Bindung zu ihnen. Fürbeide gilt jedoch: „Mitarbeiter im Labor müssen lernen zu ak-zeptieren, dass sie sowohl Teil sind der Mainstream-Kultur mitihren komplexen und vielschichtigen Vorstellungen und An-schauungen von Tieren in der Natur (woraus auch Identitätenentstehen) und gleichzeitig Teil der wissenschaftlichen Kultur,in der Tiere wie Gegenstände behandelt werden.“ (Laboratorystaff must learn to accept being at once part of mainstream cul-ture, with its complex and multilayered beliefs and representati-ons of animals in nature (which also shapes identities), and at thesame time being part of the scientific culture, in which animalsare transformed into objects.) (S. 11)

Im dritten Teil des Buches analysieren die Autoren den Dia-log zwischen Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit. DieMehrheit der Wissenschaftler fühlt sich betroffen von der weit-verbreiteten Anfeindung gewisser Teile der Öffentlichkeit undsieht die Aussenwelt als befrachtet mit sozialen Risiken. Sie tei-len die Öffentlichkeit häufig in zwei Kategorien ein: die poli-tisch aktiven und sehr ablehnenden Antivivisektionisten, unddas allgemeine kritische Publikum. Wissenschaftler zielen ex-plizit darauf, in der Debatte in der Mitte zu stehen. Sie be-schreiben Tierschützer als Verteidiger der extremen (gegen alleTierversuche) Position, deren Argumente auf zwei Hauptstrate-gien basieren: Sie betonen, dass öffentliche Sprecher notwendigsind, weichen direkten Fragen aus und sprechen in Euphemis-men (S. 157). Ihr Ziel ist es, die allgemeine Öffentlichkeit zuüberzeugen durch das „Benutzen einer klaren moralischen

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Komponente: Ob es recht und ethisch vertretbar ist, Tiere zumErwerb wissenschaftlicher Erkenntnisse oder medizinischerFortschritte zu nutzen.“ (…using an overtly moral component:whether it is right or ethically defensible to use animals in pur-suit of scientific knowledge or medical benefit.) (S. 164).

Nebst der Wahrnehmung der Öffentlichkeit durch die Wis-senschaftler ist es schwierig festzustellen, was das Publikumvon Tierversuchen hält, da es viele Untersuchungsmethodengibt, die jeweils Vorteile und Nachteile haben, die darüber hin-aus vom Kontext und der Zeit abhängen.

Nach Auffassung der Autoren ist die zentrale Frage nach derEinschätzung von Tierversuchen durch die Öffentlichkeit durchein kalkulierendes Abwägen von Risiken und Vorteilen geprägt.Interessant ist, dass die Autoren explizit darauf hinweisen, dassdie Annahme oder Ablehnung dieser Art ethischen Denkensfundamental wichtig ist. Wie schon erwähnt, treten die Wissen-schaftler, die das Konzept des Tiermodells als moralischesWerkzeug benutzen, nur mit jenem Publikum in Diskussion,das sich zu dieser Kosten-Nutzen-Rechnung bekennt. Wer dasnicht kann oder möchte, wird abgelehnt. Ferner sehen mancheEthiker diesen Weg, ethische Probleme zu lösen, als „bioethi-sche Reife“ und als Weg, kulturelle Unterschiede zu über-brücken. Doch deuten die Interviews darauf hin, dass die Be-wertung der Vor- und Nachteile durch die Öffentlichkeit häufignicht einer linearen und rationalen Argumentationslinie folgt,sondern eher in Kreisen verläuft, wie eine zitierte Studie zurXenotransplantation zeigt: „Es gab klare Anzeichen für Kosten-Nutzen-Denken, häufig als kollektive Bemühungen, in der Teil-nehmer durch die Vor- und Nachteile ‚kreisten’, wobei die ver-schiedenen Dilemmata der Xenotransplantation angesprochenwurden“ (There was certainly evidence of cost-benefit thinking,often as a collective endeavour in which participants ‘cycledthrough’ the pros and the cons, articulating various dilemmasabout xenotransplantation.) (S. 180) Diese letztere Idee scheintein wichtiger Gewinn in dieser soziologischen Ermittlung in derWelt der Tierversuche zu sein. Das Experimentieren mit Tierenist eine komplexe Materie, die nicht einfach auf starre und ge-schlossene Kategorien reduziert werden kann, sondern eher alseine unscharfe und chaotische Entwicklung verstanden werdenmuss. Wissenschaftler nutzen rationale und „wissenschaftliche“Argumente und agieren fundamental ethisch, weil sie „fortfah-ren müssen, ihre ethischen Anliegen betreffend der Tiere zu de-monstrieren“ (...must continue to demonstrate their ethical con-cerns for animals) (S. 188) und ihre Arbeit zu rechtfertigen. DieMehrheit der Öffentlichkeit hat eine differenzierte und ambiva-lente Gesinnung, nicht immer mangels genauer Information.Der Tierversuchsgegner ist sehr klar und benutzt sowohl ethi-sche als auch epistemologische Argumente. Das Thema bleibtfür weitere Diskussion offen.

Alles in allem bietet dieses Buch interessante und ziemlichungewöhnliche Einblicke in die komplexe, sozial akzeptierte,aber dennoch sehr kontroverse Praxis der Tierexperimente.

Ein letzter Kommentar zum Titel des Buches: „Opfer“ ist einBegriff, der häufig von Wissenschaftlern in der mündlichen undschriftlichen Kommunikation benutzt wird, und kennzeichnet,aus der Sicht der Autoren, die ambivalente Beziehung der Wis-senschaftler zur Tötung der Tiere. Sie neigen dazu, sich sowohl

von den Tieren zu distanzieren, wobei sie das Töten als erforder-lich für die Wissenschaft sehen, und sich mit ihnen zu identifi-zieren, denn (wie Bakan es vorschlug), damit ein Opfer funktio-niert, muss das Geopferte Teil des Selbst des Opfernden werden.Auf alle Fälle hat dieses breit genutzte Wort einen grossen Be-deutungsumfang und daher eine sehr irritierende Wirkung.

Arianna Ferrari

English reviewIn this book Linda Birke, Arnold Arluke and Mike Michael in-vestigate the context of animal experimentation from the per-spective of the mutual shaping of identities of humans and ani-mals, and from the point of view of the public understanding ofscience (both how the public understands science and how sci-entists perceive the public). The analysis offered is based bothon the scrutiny of sociological, historical and scientific litera-ture about animal experimentation and on data from empiricalresearch (such as ethnographic studies conducted in U.S. labs aswell as interviews with scientists and caretakers in the UK). Asa sociological investigation into the complex world of scientists,caretakers, the public and laboratory animals in experimentalpractice, this book is not about the rights and wrongs of thispractice but takes a neutral standpoint, referring to ethical issueswhen they are directly or indirectly evoked by the actors in-volved. Although it could seem quite an unusual position insuch an emotionally-laden and relevant topic, the book offersnew and interesting insights into how laboratory animals arecreated in the lab and represented outside, and about how thescientists construct their identity by using them – already dur-ing their education –, and how scientists and the public interacton this topic.

The first part of the book is devoted to scrutinizing the con-struction of the identity of laboratory animals by means of se-lective breeding and genetic manipulation. Since the advent ofgenetics in the late 19th century, lab animals (especially ro-dents) have been seen as the right “tools” for a wide range of re-search problems and “Researchers must (…) believe in the needto standardize equipment and in the replicability of results, aswell as in the mathematization as a tool with which to describeresults” (p. 31). This standardization, conceived as the ultimategoal for granting the scientific character of results, takes placeat the level of creation of the animal (finding its highest point intransgenic animals), in the space in which animals are kept (thehousing), as well as in the structure of the whole laboratory.Through the modern techniques of genetic engineering, lab an-imals have been segregated into special units, “kept carefullysealed from the rest of the world, a process which in turn pro-foundly affects how buildings housing them are constructed andhow personnel work around them” (p. 32). However, the au-thors see in this enterprise a latent contradiction, which is alsostated empirically, because despite the high attention to thereplicability of results, based on the presupposition of general-isable knowledge, there are many cases in which variability andunpredictability jeopardise the data and render epistemological-ly precarious the concept of the animal model. The authors

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show very well the link between this epistemological problemand the fact that the animal model is a “moral category”, crucial“in terms of justifying an experimental system or program of re-search” and “pivotal in scientists’ identities” (p. 53). The animalmodel is namely described by the authors as a moral constructused by scientists in order to evaluate their actions in terms of acost-benefit calculation. The last chapter (III) of the first part isdedicated to the analysis of the representation of lab animals:Whereas antivivisectionist organisations explicitly refer to ani-mals, sometimes in individual terms, people who use or pro-duce these animals strongly tend to render them invisible inwritten papers (research protocols and advertisements), lettingthem disappear as “natural animals” and perceiving them sim-ply as sources of data.

The second part of the book analyses the self-perception of re-searchers and technicians who use lab animals. The scientist’seducation and career is described as a lengthy process of encul-turation, based not only on acquiring practical skills and knowl-edge, but also on beliefs and ethics. Very interesting is the factthat the authors, on the basis of their empirical data, note a cleardivision of emotional labour in the lab. The role of technicians(caretakers) is profoundly ambivalent: on the one hand they per-ceive themselves as buffers between the animals and the de-mands of scientists (p. 99), who invest in the care of animals(loving animals also started them in the job). On the other hand,technicians have to learn “the language of sacrifice” in the nameof science (as one said in an interview), and this makes thempaint a good picture of their labs as well-run places where suf-fering is minimized. In contrast, scientists see animals as bearersof scientific data and “furry test tubes”, establishing a distance tothem (also because many of them do not have very close contactwith the animals). Scientists perceive the animals’ identity morein terms of solving biomedical problems and are less likely totalk about bonding with animals. For both, however, “Laborato-ry staff must learn to accept being at once part of mainstreamculture, with its complex and multilayered beliefs and represen-tations of animals in nature (which also shapes identities), and atthe same time being part of the scientific culture, in which ani-mals are transformed into objects” (p. 11).

In the third part of the book the authors analyze the dialoguebetween scientists and the public. The majority of scientists areconcerned with the pervasive hostility of some parts of the pub-lic and they perceive the outside world as fraught with socialrisks. They tend to divide the public into two broad categories:the politically active and very dismissive antivivisectionistgroups, and the critical general public. Scientists aim explicitlyto occupy the middle ground of the debate, describing animaladvocates as defending the extreme (abolitionist) position, astheir arguments are based on two main strategies: they empha-size the need for public spokespeople, avoid direct questionsand speak in euphemisms (p. 157). Their goal is to persuade thewider public by “using an overtly moral component: whether itis right or ethically defensible to use animals in pursuit of sci-entific knowledge or medical benefit” (p. 164).

Beyond the constructed perception of the public by scientists,it is difficult to determine what the public thinks of animal ex-perimentation, since there are many methods of investigation,

which present advantages and disadvantages and that are alsocontext and period sensitive. The core point in determining thepublic’s perception of animal experimentation is, in the authors’opinion, represented by calculating risks and benefits. Interest-ing is the fact that the authors explicitly observe that the accep-tance or refusal of this way of ethical thinking is of fundamen-tal importance. As previously mentioned, since scientists usethe concept of the animal model as a moral tool, they tend tovalue only those in the public who are able to practice the think-ing of cost-benefit assessment and to denigrate those who canor do not. Furthermore, some ethicists see using this way ofsolving ethical problems as a sign of “bioethical maturity” andas a way of crossing cultural differences. However, interviewssuggest that the evaluation of pros and cons by the public doesnot usually follow a linear and rational line of thinking, butrather a circled one, as a quoted study on xenotransplantationhas shown. “There was certainly evidence of cost-benefit think-ing, often as a collective endeavour in which participants ‘cy-cled through’ the pros and the cons, articulating various dilem-mas about xenotransplantation” (p.180). This final idea seems avery important gain of this sociological inquiry into the worldof animal experimentation. Experimenting with animals is acomplex matter, not easily reducible to fixed and closed cate-gories, but rather conceivable as having a sort of fuzzy andchaotic development. Scientists use rational and “scientific” ar-guments and act in a fundamentally ethical way because they“must continue to demonstrate their ethical concerns for ani-mals” (p. 188) and justify their work. The majority of the pub-lic has differentiated and ambivalent attitudes, not always due toa lack of precise information. The abolitionist is very clear anduses both ethical and epistemological arguments. The groundremains open for further discussion.

Summing up, this book offers interesting and quite unusualinsights into the complex, socially accepted, but still very con-troversial practice of animal experimentation.

A final note on the title of the book: “Sacrifice” is a term veryoften used by scientists both in oral and written communicationand relies, in the authors’ opinions, on the ambivalent relation-ship of the scientists toward the act of killing animals. Theytend both to distance themselves from animals, regardingkilling as necessary to science, and to identify with them, be-cause (as Bakan has suggested) in order for sacrifice to work,the sacrificed must become part of the self of the sacrificer. Inany case, this broadly used word carries many connotations andhas a very irritating effect.

Arianna Ferrari

LiteraturAgamben, Giorgio (2006). Das Offene. Der Mensch und das

Tier. Edition Suhrkamp, 2. Auflage, Frankfurt am Main:Suhrkamp Verlag. 108 Seiten, ISBN 978-3-518-12441-2, € 7,00, Titel der italienischen Originalausgabe: L’aperto.L’uomo e l’animale. Bollati Boringhieri. Turin 2002.

Ahne, Winfried (2007). Tierversuche. Im Spannungsfeld vonPraxis und Bioethik. Mit einem Geleitwort von Wolfgang

Page 36: Literaturbericht 2006/2007 Mensch und Mitgeschöpf unter ... · ALTEX 24, 4/07 279 Literaturbericht 2006/2007 Mensch und Mitgeschöpf unter ethischen Aspekt Arbeitsgruppe Literaturbericht:

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Apel. Stuttgart: Schattauer Verlag. 112 Seiten, ISBN: 978-3-7945-2561-4, € 19,95

Balcombe, Jonathan (2006). Pleasurable Kingdom. Animalsand the Nature of Feeling Good von Palgrave Macmillan. 360Seiten, ISBN-10: 1403986010, € 26.89.

Balcombe, Jonathan (2007). Tierisch vergnügt. Ein Verhaltens-forscher entdeckt den Spaß im Tierreich. Kosmos Verlag. 274Seiten, ISBN: 9783440110065, € 19,95.

Birke, Linda; Arluke, Arnold; Michael, Mike (2007). The Sac-rifice. How Scientific Experiments Transform Animals andPeople. Purdue University Press, West Lafayette, Indiana. Series: New directions in the human-animal bond. 220 Seit-en, ISBN 978-1-55753-423-3, CDN$ 32,98.

Birnbacher, Dieter (2006). Bioethik zwischen Natur und Inter-esse. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 395 Seiten, ISBN3-518-29372-9, € 14,00.

Busch, Roger J. und Peter Kunzmann (2006). Leben mit undvon Tieren. Ethisches Bewertungsmodell zur Tierhaltung inder Landwirtschaft, München: Herbert Utz Verlag, 2. über-arbeitete Auflage. 94 Seiten, ISBN 3-8316-0558-0, € 14,80.

Fischer, Michael (2005). Tierstrafen und Tierprozesse – Zursozialen Konstruktion von Rechtssubjekten, Hamburger Studien zur Kriminologie und Kriminalpolitik. Münster: LIT Verlag. 152 Seiten, ISBN 3-8258-8858-1, € 14,90.

Gollob, Rolf, Tresch, Sarah und Voser, Marlies (2006). VonMenschen, Tieren und Politik. Ein aktueller Beitrag zum Tier-schutz und zum Ablauf politischer Prozesse in der Schweiz,Stäfa: Th. Gut Verlag/Scola Verlag. 144 Seiten, ISBN 978-3-908256-51-9, CHF 26,80 (keine Buchpreisbindung in derSchweiz).

Gräßer, Erich (Hrsg.) (2006). Albert Schweitzer: Ehrfurcht vorden Tieren. München: C.H. Beck, Beck’sche Reihe 1714, Paperback. 160 Seiten, ISBN-10: 3-406-54155-0, ISBN-13:978-3-406-54155-1, € 9,90.

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Karremann, Manfred (2006). Sie haben uns behandelt wieTiere. Wie wir jeden Tag mühelos Tiere schützen können.Hamburg: Höcker Verlag. 224 Seiten, ISBN 3-9804617-4-2,€ 14,90.

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