LK Musik 12/II Klausur Nr · 2018. 10. 5. · Humboldt-Gymnasium Düsseldorf Hubert Wißkirchen 1...

5
Humboldt-Gymnasium Düsseldorf Hubert Wißkirchen 1 LK Musik 12/II Klausur Nr. 1 6. 2. 1998 Thema: Analyse und Interpretation: Die Pedrilloarie aus Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ Aufgabe: Untersuche das Stück hinsichtlich der Rolle, die die Musik bei der Darstellung des inneren Konflikts spielt. 1. Untersuche zunächst die Takte 1 38 auf abbildende und affektive Figuren sowie auf die Verwendung von Topoi. Welche Schlüsselbegriffe des Textes haben Mozart zu den musikalischen Figuren veranlaßt? 2. Wie spiegelt sich in der Musik der psychische Konflikt Pedrillos? Welche musikalische Figuren könnten sich auf die szenische Darstellung (Mimik/Gebärdensprache des Sängers) beziehen? 3. Fertige unter Verwendung der im Notentext eingetragenen Buchstaben eine Formschema des Stückes an. Was sagt der formale Aufbau über die innere Entwicklung Pedrillos aus? 4. Wie deutest Du den Schluß (T. 97ff.), vor allem das Nachspiel? Interessant könnte es sein, die Tonleiterfigur, die hier eine große Rolle spielt, im Stück zu verfolgen. Wo tritt sie in anderer Form - im Stück auf und was bedeutet sie? 5. Charakterisiere zusammenfassend die Rolle der Musik? Was fügt sie dem gesprochenen Text bzw. der schauspielerischen Darstellung hinzu, was diese von sich aus so nicht leisten? Arbeitsmaterial: - Notentext - Toncassette (Harnoncourtaufnahme von 1985, Wilfried Gamlich Tenor) - Figurentabelle (Auszug aus der im Unterricht benutzten Tabelle) Arbeitszeit: 4 Unterrichtsstunden Zur Situation: Pedrillo, der Diener Belmontes, ist zusammen mit Konstanze, der Geliebten seines Herrn, und deren Zofe Blonde in der Gewalt des Bassa Selim. Belmonte hat nach langem Suchen ihren Aufenthaltsort entdeckt und sich unter falschem Namen Zugang zum Palast verschafft. Mit Pedrillo hat er alles für den Fluchtversuch um Mitternacht abgesprochen. Nun wird es ernst. Besondere Angst hat Pedrillo vor seiner ersten Aufgabe: er soll den mißtrauischen Haremswächter Osmin auszuschalten - Darauf bezieht sich das „Frisch zum Kampfe!“ -, und zwar mit Hilfe eines Rausches. Das Problem ist nur, daß Osmin als Moslem gar keinen Wein trinken darf und außerdem ungewöhnlich schlecht auf Pedrillo zu sprechen ist, weil der hinter Blonde her ist, die Osmin als Sklavin zugesprochen worden war. Das ist die Situation kurz vor dem Eintreffen des seine Runde machenden Osmin. Pedrillo (allein) - gesprochen Ah, daß es schon vorbei wäre! daß wir schon auf offener See wären, unsre Mädels im Arm und das verwünschte Land im Rücken hätten! Doch sei's gewagt, entweder jetzt oder niemals! Wer zagt, verliert! Nr. 13 - Arie Frisch zum Kampfe, frisch zum Streite! Nur ein feiger Tropf verzagt. Sollt ich zittern, sollt ich zagen, nicht mein Leben mutig wagen? Nein, ach nein, es sei gewagt! Nur ein feiger Tropf verzagt.

Transcript of LK Musik 12/II Klausur Nr · 2018. 10. 5. · Humboldt-Gymnasium Düsseldorf Hubert Wißkirchen 1...

Page 1: LK Musik 12/II Klausur Nr · 2018. 10. 5. · Humboldt-Gymnasium Düsseldorf Hubert Wißkirchen 1 LK Musik 12/II Klausur Nr. 1 6. 2. 1998 Thema: Analyse und Interpretation: Die Pedrilloarie

Humboldt-Gymnasium Düsseldorf Hubert Wißkirchen

1

LK Musik 12/II Klausur Nr. 1 6. 2. 1998

Thema: Analyse und Interpretation: Die Pedrilloarie aus Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“

Aufgabe: Untersuche das Stück hinsichtlich der Rolle, die die Musik bei der Darstellung des inneren Konflikts

spielt.

1. Untersuche zunächst die Takte 1 – 38 auf abbildende und affektive Figuren sowie auf die

Verwendung von Topoi. Welche Schlüsselbegriffe des Textes haben Mozart zu den

musikalischen Figuren veranlaßt?

2. Wie spiegelt sich in der Musik der psychische Konflikt Pedrillos? Welche musikalische Figuren

könnten sich auf die szenische Darstellung (Mimik/Gebärdensprache des Sängers) beziehen?

3. Fertige unter Verwendung der im Notentext eingetragenen Buchstaben eine Formschema des

Stückes an. Was sagt der formale Aufbau über die innere Entwicklung Pedrillos aus?

4. Wie deutest Du den Schluß (T. 97ff.), vor allem das Nachspiel? Interessant könnte es sein, die

Tonleiterfigur, die hier eine große Rolle spielt, im Stück zu verfolgen. Wo tritt sie – in anderer

Form - im Stück auf und was bedeutet sie?

5. Charakterisiere zusammenfassend die Rolle der Musik? Was fügt sie dem gesprochenen Text

bzw. der schauspielerischen Darstellung hinzu, was diese von sich aus so nicht leisten?

Arbeitsmaterial: - Notentext

- Toncassette (Harnoncourtaufnahme von 1985, Wilfried Gamlich Tenor)

- Figurentabelle (Auszug aus der im Unterricht benutzten Tabelle)

Arbeitszeit: 4 Unterrichtsstunden

Zur Situation:

Pedrillo, der Diener Belmontes, ist zusammen mit Konstanze, der Geliebten seines Herrn, und deren Zofe Blonde in der

Gewalt des Bassa Selim. Belmonte hat nach langem Suchen ihren Aufenthaltsort entdeckt und sich unter falschem

Namen Zugang zum Palast verschafft. Mit Pedrillo hat er alles für den Fluchtversuch um Mitternacht abgesprochen. Nun

wird es ernst. Besondere Angst hat Pedrillo vor seiner ersten Aufgabe: er soll den mißtrauischen Haremswächter Osmin

auszuschalten - Darauf bezieht sich das

„Frisch zum Kampfe!“ -, und zwar mit

Hilfe eines Rausches. Das Problem ist nur,

daß Osmin als Moslem gar keinen Wein

trinken darf und außerdem ungewöhnlich

schlecht auf Pedrillo zu sprechen ist, weil

der hinter Blonde her ist, die Osmin als

Sklavin zugesprochen worden war. Das ist

die Situation kurz vor dem Eintreffen des

seine Runde machenden Osmin.

Pedrillo (allein) - gesprochen –

Ah, daß es schon vorbei wäre! daß wir

schon auf offener See wären, unsre

Mädels im Arm und das verwünschte

Land im Rücken hätten! Doch sei's

gewagt, entweder jetzt oder niemals!

Wer zagt, verliert!

Nr. 13 - Arie –

Frisch zum Kampfe,

frisch zum Streite!

Nur ein feiger Tropf verzagt.

Sollt ich zittern,

sollt ich zagen,

nicht mein Leben mutig wagen?

Nein, ach nein, es sei gewagt!

Nur ein feiger Tropf verzagt.

Page 2: LK Musik 12/II Klausur Nr · 2018. 10. 5. · Humboldt-Gymnasium Düsseldorf Hubert Wißkirchen 1 LK Musik 12/II Klausur Nr. 1 6. 2. 1998 Thema: Analyse und Interpretation: Die Pedrilloarie

Humboldt-Gymnasium Düsseldorf Hubert Wißkirchen

2

Page 3: LK Musik 12/II Klausur Nr · 2018. 10. 5. · Humboldt-Gymnasium Düsseldorf Hubert Wißkirchen 1 LK Musik 12/II Klausur Nr. 1 6. 2. 1998 Thema: Analyse und Interpretation: Die Pedrilloarie

Humboldt-Gymnasium Düsseldorf Hubert Wißkirchen

3

Lösungsskizze/Bewertungsbogen LK Musik 12/II, 1. Klausur, 6. 3. 1998

V: forte + Fanfarendreiklang: heldische Geste („Kampf“) unsisono: kraftvoll Anabasis über 2 Oktaven (Allegro con spirito): sich aufraffen, vorwärtsstürmen Tiratafiguren: sozusagen mit ‚fuchtelndem Degen‘, mit entschlossenen Gestikulationen Fanfarentopos T. 5/6 (punkt. Rhythmus, Geschmetter/Akkordrepetition, Tr. + Paukenwirbel): ‚Macht“, ‚Kraft‘, „frisch“, „Kampf“

- -

A V (2 x T. 3-4), durch Wiederholung wirkt Vorwärtsstürmen gebremst, in der Sgst.: Anabasis bei „Kampfe“ bzw. „Streite“ umgebogen; Pause in der Sgst.: ‚Stocken‘, ‚Verstummen‘; p – f: Hemmung – Hervorbrechen Generalpause (GP) in T. 11: Innehalten, plötzliche Bedenken, Angst, ‚Das Wort bleibt im Munde stecken‘ absteigende Tonleiter im Baß (schon in T. 4): ‚Umkehrung‘ der vorwärtsstürmenden Anabasis: insgeheim möchte er ‚davonlaufen‘

- - - -

B p, tiefere Lage (am Anfang) = „Verzagtheit“ (Kontrast zu V+A), „Feigheit“ viele Tonwiederholungen + Staccatoakkorde: „verzagt“, „feige“

-

C Tremolo (Achteltriolenrepetition): „zittern“, „zagen“ Katabasis im Baß: dto. (sozusagen ‚den Kopf hängen lassen‘, ‚sich verkriechen‘) kurze, wiederholte Phrasen der Sgst. mit Pausen dazwischen, Sprechduktus (interrogatio): angstvoll, unruhig, hektisch Sgst. am e‘‘ ‚festhängend‘: Unentschossenheit, Ausweglosigkeit GP s.o.

- -

D Triolentremolo (s.o.) + Tirata + Pause: ‚ängstliches Sich-umgucken‘. ‚Zusammenzucken‘ GP s.o.

E

Tremolo-Bordun im Baß: ‚krampfhaftes Sichzusammenreißen‘ Streichertremolo: „Zittern“ (verkrampfte Anstrengung? geheime Angst?) anfangs Fanfarendreiklang (‚sich aufraffen‘, s.o.), aber verkrampft (Dissonanz in T. 30), nur unter Überwindung von gegenstrebigen Kräften (chromatischer Abwärtsgang a (28) – gis (30) – g (32) – fis (34), unsicher (Wechsel extremer Auf- und Abbewegungen); dann aber ‚Durchbruch‘: Anabasis (Tonleiter) T. 35 als Umkehrung der Fluchtfigur (Tonleiter abwärts) von T. 3 u.a. extensio (‚Festhalten‘) auf dem bisher höchsten Ton (a‘‘ in T. 36-38) + Fanfaren aus T. 5-6 Durchbruch aber nur scheinbar: A-Dur = dominantischer Halbschluß, GP

- -

Rolle der Musik

Die Kontraste in der Musik (V, A versus BCD) spiegeln das Hin- und Hergerissensein zwischen Mut und Feigheit. Die Generalpausen signalisieren Inkonsequenz und Ratlosigkeit (dauerndes Abbrechen, Stocken). Die Verquickung beider Pole - in V und A noch versteckt – vor allem in E verdeutlicht seine innere Zerrissenheit.

Form

(gespielter) MUT G.P. VERZAGTHEIT Einleitung (Elemente von A u. a.) A "Frisch zum Kampfe" |||| B (T. 12-17) "feiger Tropf" C (17-24) "Sollt ich zittern?" D (25-27) 'Zusammenzucken' |||| E (T. 28-8) "Es sei gewagt!"

|||| B .

C D

|||| E‘

|||| B A/E "Frisch zum Kampfe"

|||| B (instrumental) ||||

B (A1) "Frisch zum Kampfe" Coda

Page 4: LK Musik 12/II Klausur Nr · 2018. 10. 5. · Humboldt-Gymnasium Düsseldorf Hubert Wißkirchen 1 LK Musik 12/II Klausur Nr. 1 6. 2. 1998 Thema: Analyse und Interpretation: Die Pedrilloarie

Humboldt-Gymnasium Düsseldorf Hubert Wißkirchen

4

Das Formschema zeigt, daß das unsichere Hin- und Herschwanken sich in immer neuen Wiederholungsschleifen und immer wiederkehrenden Generalpausen fortsetzt. In der 3. Schleife scheint zunächst der endgültige Durchbruch zu gelingen: Auf B (T. 66ff.) folgt sofort – die ‚Zitterteile‘ BCD entfallen - eine Verbindung von A und E (T. 73ff.), die – nach extremem Hochton h‘‘ und ‚fürchterlich quälender‘ Dissonanzfigur (verm. Septakkord in T. 79) zum ‚echten Schluß findet: - straffes, heldisches Unisono - ‚riesenhafte“ Abwärts-Dreiklangsfanfare auf dem Tonikaakkord D - kadenzierende Fanfarenklänge - Aber wieder folgt nach der GP eine weitere Wiederholungsschleife mit noch extremerem Kontrast: B erscheint zunächst rein instrumental: - ‚es verschlägt ihm die Sprache‘, seine Angst scheint noch gesteigert -, dann folgt die gesungene Wiederholung. Gegenüber der ausgedehnten ‚Feigheits‘-Teil B ist der Schluß sehr kurz angebunden. Der Umschlag in die ‚Kampf‘-Figur (T. 97) erfolgt abrupt – die GP entfällt. Die schnell wiederholten, kurz abgerissenen Dreiklangsfiguren wirken wie Karikaturen der „Sollt-ich-zittern“-Melodie (T. 18-19). Es hat den Anschein, daß er mit dieser abrupten Hektik vor weiteren Bedenken (Wiederholungsschleifen) davonlaufen will. Das verdeutlicht das Nachspiel in den Tiratafiguren (Sechzehnteltonleitern abwärts), die Varianten der früherer Katabasisfiguren - Fluchtfigur in T. 3 u.a., Baßgang in C - sind

- - - - - - -

Rolle der Musik

Aufgrund der Analogcodierung und der häufigen Wiederholbarkeit von Figuren und Formteilen macht die Musik die Stimmungsschwankungen, -modifikationen und –umbrüche intensiver erlebbar. Die Musik macht die inneren Vorgänge sehr deutlich, indem sie Abstraktes (Mut, Feigheit) durch abbildende Figuren (Anabasis, Katabasis, Tirata) sozusagen nach außen kehrt, ‚sichtbar‘ macht. Diese bildlichen Figuren sind teilweise metaphorisch zu verstehen, teilweise aber auch Unterstreichung der Bühnengestik des Sängers (Zusammenzucken, wild fuchtelnd, vor Angst in sich zusammensinken u.ä.) Durch die Modifizierbarkeit musikalischer Zeichen können Entwicklungen/Zusammenhänge besser und nuancenreicher verdeutlicht werden (vgl. unterschiedliche Katabasis- oder Anabasisfiguren) Durch die Möglichkeit der Kombinierbarkeit von Zeichen kann die Musik die Gefühlsverstrickungen viel differenzierter darstellen, als der Text, der mit genau definierten Begriffen immer nur Eines sagen kann. Das geschieht z. B. in der Kombination von Anabasis (Oberstimme) und Katabasis (Unterstimme). Die Musik fügt auch Eigenes hinzu: Das wird besonders deutlich am Schluß (s.o.), wo erst die Musik die Vertracktheit der inneren Vorgänge bloßlegt. Dem Text selbst kann man nicht entnehmen, daß die schlußendliche Entscheidung in Wirklichkeit ein Davonlaufen vor der eigenen Courage (eine Flucht nach vorne) ist.

Darstellung

6

Punkte

50

Prozente

100

Page 5: LK Musik 12/II Klausur Nr · 2018. 10. 5. · Humboldt-Gymnasium Düsseldorf Hubert Wißkirchen 1 LK Musik 12/II Klausur Nr. 1 6. 2. 1998 Thema: Analyse und Interpretation: Die Pedrilloarie

Humboldt-Gymnasium Düsseldorf Hubert Wißkirchen

5

Aus der unterrichtlichen Nachbesprechung: