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wt Werkstattstechnik online Jahrgang 100 (2010) H. 3 Alle Rechte vorbehalten. Copyright Springer-VDI-Verlag GmbH & Co. KG, Düsseldorf 146 Logistik, Automatisierung, Software Das Internet der Dinge in der Intralogistik Wandlungsfähige Materialflusssysteme in der Praxis W. Günthner, M. ten Hompel, R. Chisu, A. Nettsträter, M. Roidl In Zukunft soll es in Materialflusssystemen, ebenso wie im Internet, keine Zentrale mehr geben. Behälter und Pakete werden eigenständig und kennen ihr Ziel selbst. „Intelligente“ Förderstrecken und Fahr- zeuge helfen einem Paket, sein Ziel schnellstmöglich zu erreichen. Dieser Fachartikel beschreibt die Bausteine des „Internet der Dinge“ und deren dezentrale Betriebsstrategien. Zum Abschluss wird die Architektur und Software eines industrietauglichen Demonstrators beschrieben. Like the internet, facility logistics systems of the future will require no central control computer. With the help of intelligent conveyors and automated vehicles, bins, trays, and packets autonomously find the way to their destination. This article describes the building blocks of the Internet of Things and their decentralized control strategies. Further, we present the architecture and software of a demonstrator suiting industrial needs. 1 Die Intralogistik der Zukunft Die Logistik von morgen ist „schwerer vorherzusagen als das Wetter“ – so sorgen Internet und E-Commerce alleine in Deutschland für über 100 Millionen zusätzliche Pakete pro Jahr. Jedes dieser Pakete wird individuell und „on Demand“ bestellt, kommissioniert, gepackt, transportiert, verteilt und geliefert. Zur gleichen Zeit nimmt die Anzahl der Artikel durch immer individuellere Gestaltung exponentiell zu. Die Dynamik logistischer Prozesse hat heute ein so hohes Maß erreicht, dass mit konventionellen Organisationsformen keine effi- ziente Gestaltung mehr zu leisten ist. Darüber hinaus ist die Realisierungszeit heutiger Logistik- systeme im Verhältnis zur Nutzungsdauer sehr lang. So haben Geschäftsmodelle und -strategien in Industrie und Handel derzeit einen typischen Lebenszeitzyklus von zwei bis drei Jahren. Die Modellierung adäquater (logistischer) Geschäfts- prozesse beansprucht jedoch eine Realisierungszeit von nicht selten sechs bis zehn Monaten. Muss zusätzlich eine neue, leistungsfähige IT (Informationstechnologie)-Lösung zur Er- bringung der gewünschten logistischen Leistungen imple- mentiert werden, so verlängert sich die Realisierungszeit auf typisch zwölf bis 24 Monate. Die folgende Nutzungszeit (ty- pisch drei bis fünf Jahre) ist für strategische Investitionen der beauftragenden Unternehmen ebenfalls zu kurz. Gefordert sind daher grundlegend neue Architekturen, die wesentlich kürzere Realisierungszeiten möglich machen. In Zukunft soll es im Materialflusssystem – ebenso wie im Internet – keine Zentrale mehr geben (Bild 1). Behälter und Pakete werden „eigenständig“ und kennen ihr Ziel selbst. Intelligente Förderstrecken und Fahrzeuge helfen einem Pa- ket, sein Ziel schnellstmöglich zu erreichen. Diese Geräte, aber auch die Pakete, reagieren auf ihre Umgebung und ver- halten sich intelligent. So können sie sogar dann noch weiter arbeiten, wenn Teile des Systems ausfallen. Die Grundidee ist The Internet of Things in facility logistics – Changeable material flow systems in practice Prof. Dr. Willibald Günthner, Dipl.-Inf. Razvan Chisu Lehrstuhl für Fördertechnik Materialfluss Logistik (fml) Technische Universität München Boltzmannstr. 15, D-85748 Garching bei München Tel. +49 (0)89 / 289-159 21, Fax +49 (0)89 / 289-159 22 E-Mail: [email protected] (W. Günthner) oder [email protected] (R. Chisu) Internet: www.fml.mw.tum.de Prof. Dr. Michael ten Hompel, Dipl.-Inform. Andreas Nettsträter Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML Joseph-von-Fraunhofer-Str. 2–4, D-44227 Dortmund Tel. +49 (0)231 / 9743-600 E-Mail: [email protected] (M. ten Hompel) oder [email protected] (A. Nettsträter) Internet: www.iml.fraunhofer.de Dipl.-Inform. Moritz Roidl Lehrstuhl für Förder- und Lagerwesen Technische Universität Dortmund Emil-Figge-Str. 73, D-44221 Dortmund Tel. +49 (0)231 / 755 3092 E-Mail: [email protected] Internet: www.flw.mb.tu-dortmund.de Info Das Verbundprojekt „Internet der Dinge“ wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) innerhalb des Rahmenkonzepts „Forschung für die Produktion von morgen“ gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren. Titelthema – Aufsatz

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Logistik, Automatisierung, Software

Das Internet der Dinge in der Intralogistik Wandlungsfähige Materialflusssysteme in der Praxis W. Günthner, M. ten Hompel, R. Chisu, A. Nettsträter, M. Roidl

In Zukunft soll es in Materialflusssystemen, ebenso wie im Internet, keine Zentrale mehr geben. Behälter und Pakete werden eigenständig und kennen ihr Ziel selbst. „Intelligente“ Förderstrecken und Fahr-zeuge helfen einem Paket, sein Ziel schnellstmöglich zu erreichen. Dieser Fachartikel beschreibt die Bausteine des „Internet der Dinge“ und deren dezentrale Betriebsstrategien. Zum Abschluss wird die Architektur und Software eines industrietauglichen Demonstrators beschrieben.

Like the internet, facility logistics systems of the future will require no central control computer. With the help of intelligent conveyors and automated vehicles, bins, trays, and packets autonomously find the way to their destination. This article describes the building blocks of the Internet of Things and their decentralized control strategies. Further, we present the architecture and software of a demonstrator suiting industrial needs.

1 Die Intralogistik der Zukunft

Die Logistik von morgen ist „schwerer vorherzusagen als das Wetter“ – so sorgen Internet und E-Commerce alleine in Deutschland für über 100 Millionen zusätzliche Pakete pro Jahr. Jedes dieser Pakete wird individuell und „on Demand“ bestellt, kommissioniert, gepackt, transportiert, verteilt und geliefert. Zur gleichen Zeit nimmt die Anzahl der Artikel durch immer individuellere Gestaltung exponentiell zu. Die Dynamik logistischer Prozesse hat heute ein so hohes Maß erreicht, dass mit konventionellen Organisationsformen keine effi-ziente Gestaltung mehr zu leisten ist.

Darüber hinaus ist die Realisierungszeit heutiger Logistik-systeme im Verhältnis zur Nutzungsdauer sehr lang. So haben Geschäftsmodelle und -strategien in Industrie und Handel derzeit einen typischen Lebenszeitzyklus von zwei bis drei Jahren. Die Modellierung adäquater (logistischer) Geschäfts-prozesse beansprucht jedoch eine Realisierungszeit von nicht selten sechs bis zehn Monaten. Muss zusätzlich eine neue, leistungsfähige IT (Informationstechnologie)-Lösung zur Er-bringung der gewünschten logistischen Leistungen imple -mentiert werden, so verlängert sich die Realisierungszeit auf typisch zwölf bis 24 Monate. Die folgende Nutzungszeit (ty-pisch drei bis fünf Jahre) ist für strategische Investitionen der beauftragenden Unternehmen ebenfalls zu kurz. Gefordert sind daher grundlegend neue Architekturen, die wesentlich kürzere Realisierungszeiten möglich machen.

In Zukunft soll es im Materialflusssystem – ebenso wie im Internet – keine Zentrale mehr geben (Bild 1). Behälter und Pakete werden „eigenständig“ und kennen ihr Ziel selbst. Intelligente Förderstrecken und Fahrzeuge helfen einem Pa-ket, sein Ziel schnellstmöglich zu erreichen. Diese Geräte, aber auch die Pakete, reagieren auf ihre Umgebung und ver-halten sich intelligent. So können sie sogar dann noch weiter arbeiten, wenn Teile des Systems ausfallen. Die Grundidee ist

The Internet of Things in facility logistics –

Changeable material flow systems in practice

Prof. Dr. Willibald Günthner, Dipl.-Inf. Razvan Chisu Lehrstuhl für Fördertechnik Materialfluss Logistik (fml) Technische Universität München Boltzmannstr. 15, D-85748 Garching bei München Tel. +49 (0)89 / 289-159 21, Fax +49 (0)89 / 289-159 22 E-Mail: [email protected] (W. Günthner) oder [email protected] (R. Chisu) Internet: www.fml.mw.tum.de

Prof. Dr. Michael ten Hompel, Dipl.-Inform. Andreas Nettsträter Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML Joseph-von-Fraunhofer-Str. 2–4, D-44227 Dortmund Tel. +49 (0)231 / 9743-600 E-Mail: [email protected] (M. ten Hompel) oder [email protected] (A. Nettsträter) Internet: www.iml.fraunhofer.de

Dipl.-Inform. Moritz Roidl Lehrstuhl für Förder- und Lagerwesen Technische Universität Dortmund Emil-Figge-Str. 73, D-44221 Dortmund Tel. +49 (0)231 / 755 3092 E-Mail: [email protected] Internet: www.flw.mb.tu-dortmund.de

Info Das Verbundprojekt „Internet der Dinge“ wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) innerhalb des Rahmenkonzepts „Forschung für die Produktion von morgen“ gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren.

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einfach: Päckchen, Paletten und Behälter werden durch einen Chip gekennzeichnet, der neben Produkt- auch Transport-informationen speichert. Wie Datenströme im Internet finden Sendungen ihren Weg zum Ziel selbst. Mit anderen Worten: Selbst ist das Paket! [1].

Nach dreijähriger Entwicklungsarbeit hat das Konsortium des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsprojekts „Internet der Dinge – Wandelbare Echtzeit-Logistiksysteme auf Basis intelligenter Agenten für den produktionsnahen Bereich“ diese Logistik -architektur erfolgreich entwickelt.

2 Bausteine

Das Internet der Dinge wird – ähnlich einem Computer-netzwerk – aus standardisierten Komponenten beziehungs-weise Entitäten mit jeweils klar definierten Aufgaben und Schnittstellen aufgebaut [2, 3]. Analog zu den Datenpaketen und Netzwerkroutern in einem Computernetz gibt es im Inter-net der Dinge Transporteinheiten und Fördertechnikmodule. Transporteinheiten kennen wie eine E-Mail ihr Ziel und even-tuell weitere Parameter, die in der Intralogistik von Bedeu-

tung sind. Diese Daten werden einem Behälter oder einer Palette beispielsweise über einen RFID (Radio Frequency Identification)-Chip und/oder über einen eigenen Software-Agenten zugewiesen. (Fördertechnik-) Module werden in die Lage versetzt, eigene Entscheidungen zu treffen und koope-rativ Transporte zu steuern, ohne einen zentralen Material-flussrechner zu benötigen. Als dritte Komponente des Inter -net der Dinge können Software-Dienste zum Einsatz kommen: Diese erfüllen zumeist beigeordnete Aufgaben, zum Beispiel die Visualisierung des Systems (Bild 2).

2.1 Mechatronische Module

Die Austauschbarkeit einzelner Komponenten und damit die Wandelbarkeit und Erweiterbarkeit eines Systems hängt in hohem Maße von den definierten Schnittstellen ab. Für die Module des Internet der Dinge empfiehlt sich daher eine mecha tronische Gestaltung: Dabei werden die Schnittstellen auf allen Ebenen eines Fördertechnikmoduls an gleicher Stelle gezogen, sodass ein Modul eine mechatronische Einheit aus Steuerungslogik, Steuerungshardware, Mechanik und Ener-gieversorgung bildet [4]. Durch diese Kapselung können die

Bild 1. Das „Internet der Dinge“ – eine komplett dezentrale Materialflusssteuerung

Bild 2. Die drei Bausteintypen des Internet der Dinge

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jeweiligen Schichten zum einen perfekt aufeinander ab -gestimmt und anschließend in großer Stückzahl und damit zu günstigen Preisen hergestellt werden. Zum anderen lassen sich aufgrund dieser integrativen, mechatronischen Vor-gehensweise auch bei der Realisierung und Wartung von Modulen Vorteile und Einsparungen erzielen: Durch die enge Verzahnung der einzelnen Bereiche können Fehler oder Inkompatibilitäten früher aufgedeckt und behoben werden.

Auch die Steuerungssoftware eines Moduls erfordert be-sondere Aufmerksamkeit, da durch die Abschaffung der klassi -schen Steuerungshierarchie zwei sehr unterschiedliche Pro-grammier- beziehungsweise Ausführungsumgebungen auf-einandertreffen: Ein selbststeuerndes, autonomes Modul übernimmt sowohl dispositiv-strategische Aufgaben, die in herkömmlichen Systemen von einem Materialflussrechner abgearbeitet werden, als auch die Ansteuerung mechanischer und elektrischer Sensoren und Aktoren, was die Aufgaben heutiger speicherprogrammierbarer Steuerungen (SPS) sind (Bild 1).

Die Steuerungssoftware eines Moduls wird daher als Zwei-Schicht-Architektur ausgeführt [5]. Jedes Modul verfügt so-wohl über einen Softwareagenten, der mit anderen Entitäten kommuniziert, Materialflussstrategien umsetzt und Wege berechnet, als auch über eine Maschinensteuerung, die Sen-soren und Aktoren in Echtzeit ansteuert [6, 7]. Dabei wird der Agent in einem PC-basierten Umfeld mit klassischem Be-triebssystem (Windows, Linux) ausgeführt und in höheren, objektorientierten Programmiersprachen (C++, C#, Java) realisiert. Die Maschinensteuerungslogik wird innerhalb einer (Soft-)SPS ausgeführt und beispielsweise als IEC-61131-3- Programm implementiert. Sinnvoll ist es, zwischen diesen beiden Schichten eine weitere Abstraktionsebene einzu -führen, die wie eine Art Middleware agiert: Sie bietet eine Schnittstelle für die Kommunikation zwischen den beiden Ebenen und versteckt dabei den genauen Aufbau des Agenten beziehungsweise der Maschinensteuerung. Dies ermöglicht die leichte Austauschbarkeit der – oftmals hardware -spezifischen – Maschinensteuerung, bei gleichbleibendem Software-Agenten.

2.2 Dezentrale Betriebsstrategien

Der Einsatz eines Baukastens aus Standardkomponenten bietet zwar viele technische und auch wirtschaftliche Vorteile [8], wirft aber gleichzeitig Fragen auf, ob und wie ein geord-netes, zielorientiertes Verhalten des Gesamtsystems erreicht werden kann. Denn dabei müssen nicht nur einzelne Trans-portaufträge abgearbeitet, sondern logistische Abläufe zu -einander in Beziehung gesetzt und zahlreiche Fördertechnik-module koordiniert werden. Dabei kann zwischen zwei über-geordneten Aufgabenbereichen unterschieden werden [9]: – Die „Geschäftslogik“ bildet die Anforderungen und Pro-

zesse des Betreibers einer Anlage ab, besagt also, was das System zu tun hat.

– „Materialflussstrategien“ sind notwendig, um Aufträge zu-zuweisen, Wege zu berechnen und Ressourcen zuzuteilen. Sie bestimmen, wie sich die einzelnen Entitäten im System verhalten müssen, um einen korrekten, blockadefreien und möglichst leistungsfähigen Betrieb zu garantieren.

Da es im Internet der Dinge keine Instanz gibt, die diese Belange von zentraler Stelle aus steuert, wird diese Aufgabe von autonomen Entitäten wahrgenommen. Als Grundlage für

die Entwicklung von Kooperations- und Konkurrenzmustern werden zwei elementare Mechanismen verteilter Software- Architekturen herangezogen. Zum einen muss eine Entität in der Lage sein, Systemteilnehmer zu finden beziehungsweise zu identifizieren, die eine gewünschte Funktion erbringen, zum Beispiel also den Transport einer Palette von A nach B. Diese „Service Discovery“ kann entweder mit dem Einsatz von Verzeichnisdiensten (ähnlich den „Gelben Seiten“) oder über einen „Broadcast“, also durch das direkte Kontaktieren aller Systemteilnehmer abgewickelt werden [10]. Wurden ein oder mehrere Entitäten gefunden, die als Dienstleister infrage kommen, muss der günstigste davon ausgewählt werden. Dafür ist die Durchführung einer Auktion notwendig, bei der sich das Gebot aus einer von jedem Dienstleister berechneten Kostenfunktion ergibt.

Das „UML-Sequenzdiagramm“ in Bild 3 zeigt, wie eine Transporteinheit einen Schritt ihres Workflows beziehungs-weise der Geschäftslogik abarbeitet: Der Agent der Transport-einheit sucht, beispielsweise über einen Verzeichnisdienst, nach Modulen, welche die von der Geschäftslogik vorge -schriebene Funktion (zum Beispiel „Kommissioniere Artikel A“) erbringen können. Wurden ein oder mehrere Module gefunden, werden diese direkt kontaktiert und ein Angebot angefordert. Aus allen erhaltenen Angeboten – die sich aus einer internen Kostenfunktion der Module ergeben, die even-tuell auch die Kosten für den Transport berücksichtigt – sucht die Transporteinheit die günstigste Alternative aus und lässt sich anschließend zu diesem neuen Ziel transportieren. Hat sie das Zielmodul erreicht und wurde der Artikel kommis-sioniert, wiederholt sich der Vorgang, bis alle Schritte im Workflow abgearbeitet sind.

3 Beispiel aus der Praxis

Im Rahmen des Projekts wurden mehrere Demonstrations-anlagen entwickelt. Im Folgenden wird ein industrieller De-monstrator beschrieben, der vollständig modular aufgebaut ist und den leichten Auf- und Umbau ohne lange Ausfallzeiten erlaubt. Eine Besonderheit sind die speziellen Fördertechnik-module, die einen bidirektionalen Transport gestatten und so die Anzahl der möglichen Transportwege vergrößern.

3.1 Aufbau der Demonstrationsanlage

Die Materialflussanlage (Bild 4) besteht aus 43 einzelnen Fördertechnikmodulen, die sich über ihre Funktion in gerade Förderer, Kurven, Übersetzer, Arbeitsstationen und eine Waage gruppieren. Module einer Funktionsgruppe sind bau-gleich und erlauben den einfachen Austausch eines Moduls gegen ein funktionsgleiches. Durch die standardisierte Länge, Breite und Höhe der einzelnen Module lassen sich diese auch gegen Module mit anderen Funktionen austauschen. So ist es denkbar, dass ein gerader Förderer gegen einen Umsetzer aus-getauscht und die Anlage so um einen weiteren Kreislauf ver-größert wird. Jedes Modul hat eine feste Anzahl an Antrieben und Sensorik. Gerade Förderer und Kurven bestehen aus zwei Lichtschranken und einem Antrieb. Ein Übersetzer hat zusätz-lich ein RFID-Gerät zur Identifikation und einen weiteren Antrieb zur Realisierung des Übersetzers. Insgesamt finden sich in der Anlage über 40 Antriebe in Form von Rollen -motoren, die eine Einzelplatzansteuerung und bidirektionale Förderung erlauben, und mehr als 120 Sensoren. Bei den

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Sensoren handelt es sich um Lichtschranken, RFID-Geräte und die Waage.

Aufgrund der flexiblen Gestaltung ist die Demonstrations-anlage für verschiedene Einsatzbereiche denkbar. Ein bei-spielhafter Einsatz der Demonstrationsanlage als Kommis-sioniersystem kann folgendermaßen aussehen: Über den Platz A werden leere Transportbehälter in die Materialfluss-anlage eingeschleust und dort durch das RFID-Gerät am nächsten Umsetzer identifiziert. Um das Leergewicht des Behälters zu ermitteln, erhält der Transportbehälter einen Fahrauftrag zur Waage W. Anschließend wird der Transport -behälter zwischengepuffert oder bei fehlerhafter Messung

über den Platz B aus dem System gefördert. Aufgrund der Ein-zelplatzsteuerung können beliebige Module zusammen mit benachbarten Modulen dynamische Staubereiche bilden. Für die weitere Beschreibung wird ein solcher für die fünf Module zwischen den Arbeitsstationen E bis F angenommen. Sobald sich genügend Leerbehälter im System befinden, können die eigentlichen Kommissionieraufträge erzeugt und die Kommis-sionierer an den Arbeitsstationen C bis F mit Leerbehältern versorgt werden. Der Kommissionierauftrag besteht aus einer Liste mit Arbeitsstationen, die angefahren werden, und der Art und Anzahl an Ware, die an den jeweiligen Plätzen in den Behälter kommissioniert werden soll. Nach der Kommissionie-

Bild 4. Layout des Demonstrators

Bild 3. Abarbeiten eines Workflowschrittes durch eine Transporteinheit

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rung wird der gefüllte Transportbehälter zur Waage W beför-dert und gewogen. Das zu erwartende Gewicht ergibt sich aus dem Einzelgewicht und der Anzahl der Kommissionierartikel. Alle behälterspezifischen Gewichte – wie Leergewicht, ak-tuelles Gewicht und Zielgewicht – werden vom Behälter -agenten verwaltet. Befindet sich das Gewicht innerhalb eines Toleranzbereichs, war die Kommissionierung erfolgreich und der Transportbehälter wird zum Platz A befördert und aus dem System entnommen. Ansonsten wird der Kommissionier-vorgang als fehlerhaft markiert und der Transportbehälter zum Platz B befördert. Hier findet eine Nachkontrolle statt und der Behälter wird wieder zur Waage befördert und erneut gewogen.

3.2 Herausforderungen

Die eingesetzten Rollenmotoren gestatten eine bidirektio-nale Förderung der Transportbehälter. Dies führt neben der reinen Vorwärts- und Rückwärtsfahrt dazu, dass im Vergleich zu der unidirektionalen Förderung für diese Anlage bis zu achtmal mehr Wege zwischen zwei Punkten existieren. Aktu-elle Wegesuchverfahren für Materialflussanlagen arbeiten auf Basis von gerichteten Graphen und müssen für diese Anlage wesentlich verändert und erweitert werden. Der Vorteil dieser großen Anzahl an möglichen Wegen ist, dass im Fall von Staus, Ausfällen oder Umbauarbeiten ausreichend Alternativ-wege zur Verfügung stehen und der weitere Betrieb der Anlage garantiert werden kann. Das dynamische Ausweichver-halten muss ebenfalls in die klassischen Wegesuchverfahren integriert werden. Dabei ist zu beachten, dass eine dyna-mische Wegesuche die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung von sogenannten Deadlock-Situationen deutlich erhöht. Ein Deadlock tritt zum Beispiel dann auf, wenn sich mehrere Behälter auf einem Wegstück entgegenkommen und keine Ausweichmöglichkeit – außer einer Umkehr – zur Verfügung steht. Diese Situation ist in aktuellen Stetigförderanlagen aufgrund der unidirektionalen Förderung (Einbahnstraßen) nicht zu finden. Auf der anderen Seite kann es durch die Besonderheit der bidirektionalen Elemente auch niemals zu einem finalen Deadlock kommen. Dazu werden Verfahren aus anderen Fachbereichen, beispielsweise den Fahrerlosen Transportsystemen (FTS), übernommen und angepasst.

3.3 Architektur

Bild 5 zeigt die Software-Architektur zur Umsetzung des beschriebenen modularen Materialflusssystems. Diese besteht aus drei Ebenen: dem Multiagentensystem, der Abstraktionsschicht und der echtzeitfähigen Steuerungs-schicht. Über die echtzeitfähige Steuerungsschicht werden alle feldnahen Operationen durchgeführt (beispielsweise die Ansteuerung der bidirektionalen Antriebe und der RFID-Geräte) sowie die Weiterleitung der Lichtschrankensignale an die Abstraktionsschicht. Die Abstraktionsschicht dient als Verbindung zwischen dem Multiagentensystem und der echt-zeitfähigen Steuerungsschicht. Hier werden Lichtschranken-signale zu abstrakten Ereignissen übersetzt und einfache Steuerungsaufgaben erledigt. Zur Energieeinsparung werden die Antriebe eines Fördermoduls ausgeschaltet sobald beide Lichtschranken frei geworden sind, das heißt sich kein Paket mehr auf dem Modul befindet. Das Multiagentensystem über-nimmt die strategische Steuerung und enthält die eigentliche Logik für die Materialflusssteuerung. Hier werden Behälter und Fördertechnikmodule verwaltet, Fahr- und Kommis-sionieraufträge entgegengenommen und ausgeführt. Die Wegesuche und Auswahl der unterschiedlichen Routen, die Verwaltung der dynamischen Staustrecken sowie die Er-kennung und Auflösung von Deadlock-Situationen ist ebenfalls die Aufgaben des Multiagentensystems. Weitere Details zum Aufbau der Architektur im Allgemeinen und der Abstraktions schicht im Speziellen finden sich in [11].

Die beschriebene Architektur ist für den Einsatz auf ver-teilter Hardware ausgelegt, das heißt, jedes Fördermodul wird mit einem eigenen Embedded-PC ausgestattet. Alternativ lässt sich jedoch auch ein zentraler Rechner verwenden. Die Umsetzung in der Demonstrationsanlage stellt einen Zwi-schenweg dar: Für jeden der drei Förderkreise wird ein Embedded- PC eingesetzt. Die zugehörigen Fördertechnik-agenten eines Kreises laufen auf dem entsprechend zum Kreis gehörenden Embedded-PC. Die Behälteragenten befinden sich immer auf dem Embedded-PC des Kreises, auf dem der Behälter befördert wird. Wechselt das Paket den Förderkreis, so migriert der Behälteragent auf den entsprechenden Embedded- PC und setzt dort seine Aufgabe fort. Software-Agenten, die eine übergeordnete Funktion wahrnehmen, bei-

Bild 5. Architektur der Demonstrationsanlage

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spielsweise Auftragsverwaltungsagenten, können auf einem beliebigen Embedded-PC laufen und auch während des Betriebs die Ausführungsumgebung wechseln. Die konkrete Entscheidung, auf welchem Embedded-PC diese Agenten laufen, kann zum Beispiel von der Auslastung der Geräte abhängig gemacht werden.

3.4 Software-Architektur

Mehrere aufeinander folgende Module lassen sich dyna-misch als Staustrecke nutzen. Dabei erkennen die Agenten selbstständig diese Situation und bieten Behältern, respek -tive deren Agenten, einen Service an, sich auf diesen Modu-len einzulagern. Im Beispielkreis befinden sich solche Orte zwischen den Arbeitsstationen E und F. Es können zusätzlich unterschiedliche Strategien zur Einlagerung oder Pufferung implementiert werden. Beispielsweise wird in dieser Um -setzung immer zum Mittelpunkt einer Staustrecke hin ein -gelagert. In größeren Anlagen führt dies zu dem Vorteil, dass zu beiden Seiten gleich schnell Behälter bereitgestellt werden können. Eine weitere Strategie wäre ein Platzieren der Be -hälter in die Nähe eines Ein-/Ausgangs, je häufiger von dort Behälter angefordert werden.

Ein großer Vorteil der Anlage ist das dynamische Be-rechnen von Routen in Echtzeit unter Berücksichtigung der lokalen Gegebenheiten. Dazu werden zwei beim Modul-agenten hinterlegte Listen berücksichtigt, die zum einen den langfristigen Verlauf der ihn besuchenden Behälter speichert und zum zweiten die Behälter, die unmittelbar auf ihre Beför-derung warten. Zusammen mit der Information, in welche Richtung die Behälter gefördert werden, wird eine Gewich-tung vorgenommen, mit deren Hilfe alle zuvor berechneten möglichen Routen bewertet werden. Ein Behälter erhält somit die zum Zeitpunkt seiner Routinganfrage optimale Strecke zugewiesen. Jeder Teilkreis der Anlage stellt einen eigenen Routing-Agenten bereit. Dadurch ist die Berechnung effizient aufgeteilt und die einzelnen Agenten können sich auf ihren Bereich fokussieren und beispielsweise besondere Verhaltens-weisen zum Routing ausprägen. Dies trägt dazu bei, Dead-locks im Vorfeld zu verhindern oder die Wahrscheinlichkeit für ihr Auftreten zumindest zu reduzieren. Kommt es im Verlauf dennoch zu einem Begegnen zweier Behälter, die jeweils in die entgegengesetzte Richtung weiterfahren wollen, wird dies von den beteiligten Modulen erkannt. Sie richten sich dann an einen weiteren Agenten, der speziell Kollisionen behandelt und den beteiligten Behälteragenten Ausweichmöglichkeit offeriert oder Änderungen der Routen vornehmen lässt.

4 Fazit

Die Globalisierung und das diversifizierte Konsum- und auch Freizeitverhalten unserer Gesellschaft führen zu einer steigenden Komplexität der Wertschöpfungsnetze; eine unüberschaubare Vielfalt an Gütern wird kundenspezifisch angepasst, teilweise an mehreren Standorten gefertigt und weltweit vermarktet. Dies stellt vor allem an die Logistik – als verbindendes Element unserer zunehmend enger vernetzten Welt – besonders hohe Anforderungen. Systeme müssen dynamisch und flexibel, gleichzeitig aber robust und kosten-effizient sein. Das Internet der Dinge ist eine völlig neue Steuerungsarchitektur, die diese Anforderungen an wandel-bare Intralogistiksysteme erfüllt und so das Potential hat, die

Gestalt der Logistik von morgen entscheidend zu beein-flussen. Wer sich umfassender mit dieser Thematik be-schäftigen möchte, dem sei das Buch „Internet der Dinge in der Intralogistik“ empfohlen, das die Forschungsergebnisse noch detaillierter beschreibt [12]. ?

Literatur

[1] Bullinger, H. J.; ten Hompel, M.: Internet der Dinge. Berlin: Springer-Verlag 2008

[2] Libert, S.; Chisu, R.; Keutner, K.: Eine Ontologie für das Internet der Dinge. In: Günthner, W.; ten Hompel, M. (Hrsg.): Internet der Dinge in der Intralogistik. Berlin: Springer-Verlag 2010

[3] Günthner, W. A.; Chisu, R.; Kuzmany, F.: Internet der Dinge – Intelligent verteilt. F+H Fördern und Heben (2008) H. Juli/August, S. 422–425

[4] Wilke, M.: Wandelbare automatisierte Materialflusssysteme für dynamische Produktionsstrukturen. Dissertation, TU München, 2006

[5] Günthner, W. A.; Chisu, R.; Kuzmany, F.: Internet der Dinge – Steuern ohne Hierarchie. F+H Fördern und Heben (2008) H. September, S. 494–497

[6] Libert, S.; Nettsträter, A.; ten Hompel, M.: Methods for Analysis of the Time Aspect in the Behavior of Agent-Based Material Flow Controls. In: Proceedings of the 21st European Modeling and Simulation Symposium. Puerto de la Cruz. Tenerife. Spain, 2009, S. 65–70

[7] Libert, S.; Nettsträter, A.; ten Hompel, M.: Werkzeuggestützte Methode zur Untersuchung des Zeitverhaltens agentenbasierter Materialflusssteuerungen. 5. Fachkolloquium der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Technische Logistik e.V., Ilmenau, 2009

[8] Günthner, W. A.; Chisu, R.; Kuzmany, F.: Internet der Dinge – Zukunftstechnologie mit Kostenvorteil. F+H Fördern und Heben (2008) H. Oktober, S. 556–558

[9] Chisu, R.; Kuzmany, F.; Günthner, W. A.: Dezentrale Koor-dination und Kooperation im Internet der Dinge. In: Tagungsband zum 5. Fachkolloquium der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Technische Logistik (WGTL), Oktober 2009, Ilmenau, S. 37–57

[10] Feldhorst, S.; Libert, S.; ten Hompel, M.: Integration of a Legacy Automation System into a SOA for Devices. In: Proceedings of the 14th IEEE International Conference on Emerging Technologies and Factory Automation (ETFA’09), Palma de Mallorca, Spain, 2009, S. 8

[11] Libert, S.; Nettsträter, A.: Einheitliche Steuerungsschnittstelle für modulbasierte Fördertechnik. In: Software in der Logistik – Klimaschutz im Fokus. München: Huss-Verlag 2009

[12] Günthner, W.; ten Hompel, M. (Hrsg.): Internet der Dinge in der Intralogistik. Berlin: Springer-Verlag 2010

Ansprechpartner für weitere Informationen Thomas Rosenbusch Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Projektträger Karlsruhe Produktion und Fertigungstechnologien (PTKA-PFT) Hermann-von-Helmholtz-Platz 1 D-76344 Eggenstein-Leopoldshafen Tel. +49 (0)7247 / 82 52 73 Fax +49 (0)7247 / 82 54 56 E-Mail: [email protected] Internet: www.produktionsforschung.de