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László Tengelyi Welt und Unendlichkeit VERLAG KARL ALBER A

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László Tengelyi

Welt und Unendlichkeit

VERLAG KARL ALBER A

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In der analytischen Philosophie drückt sich gelegentlich ein Erneue-rungswunsch der Metaphysik aus. Nur dass dabei der von Kant zumersten Mal gesehene Problemcharakter der Metaphysik allzu wenig be-achtet wird! Das BuchWelt und Unendlichkeit wendet sich gerade demProblem derMetaphysik zu, indem es der Frage nachgeht, ob nicht etwadie phänomenologische Tradition mit ihrem Rückgang auf die lebens-weltliche Erfahrung eher in der Lage sei, hier Richtung zu weisen.

Husserls Idee einer phänomenologischen Metaphysik wurde aufdiese Frage hin bisher noch nicht geprüft. Zum nicht-traditionellen Cha-rakter dieserMetaphysik gehört, dass sie nicht nach ersten Gründen undUrsachen des Seienden als Seienden forscht. Vielmehr stützt sie sich vonvornherein auf gewisse Urtatsachen. Allerdings unterscheiden sich dieUrtatsachen, die Husserl herausstellt, von den gewöhnlichen Tatsachen;denn es kommt ihnen eine gewisse Notwendigkeit zu.

Der Titel »Welt und Unendlichkeit« deutet zugleich einen grund-sätzlichen Unterschied zwischen Totalität und Unendlichkeit an. ImBuch wird dieser Unterschied mit Georg Cantors Gegenüberstellungvon Transfinitem und Absolutunendlichem verbunden. Es wird dieThese vertreten, dass die von Cantor gesuchte Metaphysik des Trans-finiten nur als eine Phänomenologie von Ding und Welt realisierbar ist.

Allerdings klingt die Rede von einer »phänomenologischen Meta-physik« in einem Zeitalter, das nicht müde wird, eine »Überwindungder Metaphysik« und sogar ein »nachmetaphysisches Denken« zu for-dern, unzeitgemäß und deshalb herausfordernd. Freilich wird auch imvorliegenden Buch davon ausgegangen, dass Metaphysik als Ontotheo-logie nicht mehr möglich sei. Es soll aber gezeigt werden, dass die Phä-nomenologie einen neuen Typ der Metaphysik ermöglicht, der sich mitkeiner Ontotheologie verbindet.

Der Autor:

László Tengelyi ist Professor am Philosophischen Seminar der Bergi-schen Universität Wuppertal und Vorsitzender des dortigen Institutsfür phänomenologische Forschung. Buchveröffentlichungen: Der Zwit-terbegriff Lebensgeschichte (München 1998), L’expérience retrouvée(Paris 2006), Erfahrung und Ausdruck. Phänomenologie im Umbruchbei Husserl und seinen Nachfolgern (Dordrecht 2007),Neue Phänome-nologie in Frankreich (Ko-Autor: Hans-Dieter Gondek; Frankfurt a.M.2011); L’expérience de la singularité (Paris 2014).

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László Tengelyi

Welt undUnendlichkeitZum ProblemphänomenologischerMetaphysik

Verlag Karl Alber Freiburg /München

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Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

Satz: SatzWeise, FöhrenHerstellung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)Printed on acid-free paperPrinted in Germany

ISBN 978-3-495-48661-0

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Erster Teil: Metaphysik und Ontotheologie

Grundtypen der Metaphysik in der französischen Philosophie-geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte . . . . . . . . . . . 25

I. Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung derMetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291. Der Doppelbegriff der Metaphysik . . . . . . . . . . . 292. Entstehung »traditioneller« Metaphysik . . . . . . . . 343. Metaphysik als Ontotheologie . . . . . . . . . . . . . 37

II. Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur . 461. Die Doppelbestimmung der Metaphysik bei Aristoteles . 472. Der aporetisch-diaporematische Charakter der

aristotelischen Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . 513. Der lange Weg zur Ontotheologie . . . . . . . . . . . 55

a. Die fokale Bedeutungseinheit des Seienden beiAristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

b. Die Erfindung einer Analogie des Seins . . . . . . . 624. Der henologische Sonderweg . . . . . . . . . . . . . 72

a. Die Sonderstellung des Einen in der Ideenlehre . . . 73b. Theorien über die henologische Alternative zur

Seinsmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77III. Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische

Grundstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841. Die kathoulou-protologische Grundstruktur bei Thomas

von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

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2. Entstehung der katholou-tinologischen Grundstruktur . 89a. Univozität des Seins und scientia transcendens . . . 93b. Allgemeine und spezielle Metaphysik . . . . . . . . 94c. Die katholou-tinologische Grundstruktur . . . . . . 97

3. »Historisierung« der Ontotheologie . . . . . . . . . . 101a. Einwände gegen Heideggers Wesensbestimmung der

Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101b. »Historisierung« der Ontotheologie in einer

geschichtlichen Philosophie . . . . . . . . . . . . . 104c. Die Grundtendenz zur Tinologie bei Duns Scotus

und Suárez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108IV. Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen

Satz vom Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1151. Descartes’ epistemische Protologie und das Auftauchen

des Terminus »Ontologie« . . . . . . . . . . . . . . . 1162. Verdopplung der ontotheologischen Verfassung der

Metaphysik bei Descartes . . . . . . . . . . . . . . . 1173. Das Verhältnis der beiden Ontotheologien zueinander

bei Descartes und seinen Nachfolgern . . . . . . . . . 1214. Kausalkette und Begründungszusammenhang bei

Spinoza und Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122a. Unterschiede zwischen Descartes und Spinoza . . . 122b. Leibniz und der Vorrang des Grundes gegenüber der

Ursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125V. Kants Kritik spekulativer Metaphysik . . . . . . . . . . . 130

1. Kants Kritik des transzendentalen Ideals . . . . . . . . 1302. Das Zweideutige an Kants transzendentalem Ansatz . . 1353. Kritik der Ontotheologie im Übergang von Kant zum

Deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 141VI. Der Grund und das Grundlose bei Hegel . . . . . . . . . 146VII. Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie . 154

a. Das unvordenkliche Sein und der Anfang desDenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

b. Freiheit gegen das Sein . . . . . . . . . . . . . . . 164

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Inhalt

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Zweiter Teil: Phänomenologie und Metaphysik

Metaphysik zufälliger Faktizität bei Husserl, Heidegger und in derfranzösischen Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

I. Husserls Metaphysik der Urtatsachen . . . . . . . . . . . 1801. Metaphysik zufälliger Faktizität . . . . . . . . . . . . 180

a. Faktizitätsbedingtheit eidetischer Zusammenhänge . 182b. Vier Gruppen von Urtatsachen . . . . . . . . . . . 184c. Die Suche nach ersten Ursachen als ›spekulatives

Abenteuer‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187d. Die Notwendigkeit eines Faktums . . . . . . . . . . 188

2. Erweiterung des Bereichs zufälliger Faktizität . . . . . 1913. Kategorien des Erfahrungsgeschehens . . . . . . . . . 194

a. Weltwirklichkeit als Erfahrungskategorie . . . . . . 195b. Kategorien als Einstimmigkeitstendenzen der

Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197c. Hinweis auf die Kausalitätskategorie . . . . . . . . 198

4. Der methodologische Transzendentalismus derPhänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200a. Zwei Argumente für den transzendentalen

Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202b. Der Aufbau des Beweises des transzendentalen

Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205c. Methodologischer Transzendentalismus und

transzendentaler Idealismus . . . . . . . . . . . . 2095. Die Erfahrung in der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . 213

a. Die lebensweltliche Erfahrung als Ort spontanerSinnbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

b. Die Weltbezogenheit lebensweltlicher Erfahrung . . 219c. Die Kategorien lebensweltlicher Erfahrung . . . . . 221

II. Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik 2281. Die Idee von Metontologie . . . . . . . . . . . . . . . 2292. Philosophie und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . 2363. Philosophie und Weltanschauung . . . . . . . . . . . 2394. Wandlungen in der Wahrheitsauffassung . . . . . . . 243

a. Wahrheit und Miteinandersein . . . . . . . . . . . 246b. Wahrheit und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . 253

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5. Anthropologie der Weltbildung und Metaphysik desDaseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

III. Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischenPhänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2641. Zu Merleau-Pontys Auseinandersetzung mit Sartres

phänomenologischer Metaphysik . . . . . . . . . . . 265a. Sartre und die Metaphysik der Urtatsachen . . . . . 265b. Merleau-Ponty und die Idee einer Dialektik ohne

Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2702. Das Unendliche als Überschuss in der Erfahrung von

Welt bei Levinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2793. Das phänomenologische Feld als Apeiron bei Richir . . 2864. Phänomenologie als eine andere Erste Philosophie

bei Marion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Dritter Teil: Phänomenologische Metaphysik

Die Welt und ihr Unendliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit . . . . . . . . . . . . . 303

I. Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont . . 3061. Das Ding und sein Erfahrungshorizont . . . . . . . . . 3092. Das Ding als Idee im Kant’schen Sinne . . . . . . . . . 3133. Zwei Deutungen des phänomenologischen Transzenden-

talismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3184. Einstimmigkeitstendenzen der Erfahrung . . . . . . . 321

II. Erfahrungskategorien von Ding und Welt . . . . . . . . . 3271. Raum und Zeit als Ausdrücke von Einstimmigkeits-

tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3312. Die Kausalität als Ausdruck von Einstimmigkeits-

tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337a. Der Satz vom Grund und seine Kritiker . . . . . . . 337b. Der Kausalitätszusammenhang und die Idee

notwendiger Verknüpfung . . . . . . . . . . . . . 344c. Der Grundsatz der Kausalität als transzendentales

Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

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Inhalt

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3. Handlungsteleologie und Handlungsfreiheit . . . . . . 366a. Absichtliches Handeln und unbeabsichtigte

Handlungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367b. Handlungsfreiheit als partielle Kausalität . . . . . . 369c. Kausalzusammenhang und Handlungsteleologie . . 373d. Handlungsfreiheit als Freiheit des Für und Wider . . 375e. Die Handlungsfreiheit als Mitursache und als Grund

des Grundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3824. Die Wirklichkeit der Welt als Gesamtausdruck aller

Einstimmigkeitstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . 3935. Einzelne Realitätsstufen in der Gesamtwirklichkeit der

Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398III. Agonale Weltentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

1. Metontologischer Transzendentalismus . . . . . . . . 4122. Naturalistischer Autarkismus . . . . . . . . . . . . . 4203. Ein Beweisgrund für die transzendentale Option –

mit agonalem Respekt angeführt . . . . . . . . . . . . 425

B. Das Unendliche der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

I. Transfinite Zahl und transzendentaler Schein . . . . . . . 4391. Metaphysik und Mathematik in der Theorie des

Transfiniten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4392. Das Grundgesetz »dialektischer Begriffserzeugung« im

Transfiniten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4503. »Arithmetik des transzendentalen Scheins« . . . . . . 463

II. Das Transfinite und das Absolutunendliche in CantorsBemerkungen über seine Vorgänger . . . . . . . . . . . . 4661. Das Transfinite als eine Mischung von Grenze und

Unbegrenztem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4672. Das Absolutunendliche als das ›absolute Maximum‹ . . 4743. Wege zum Zwischenreich des Transfiniten . . . . . . . 483

III. Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums . . . 4891. Die aristotelische Deutung von Zenons Aporien über die

Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4902. Die aristotelische Auffassung vom Kontinuum . . . . . 4943. Zwei Betrachtungsweisen des Kontinuums . . . . . . . 498

IV. Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen . 5071. Kritik an der Äquivalenztheorie der Zahl . . . . . . . . 508

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2. Das Abstraktionsfundament des Begriffs der Zahl . . . 5133. Die Zahl als Gegenstand kategorialer Anschauung . . . 5224. Das Unendliche als Erfahrungskategorie . . . . . . . . 5345. Die Bedeutung von Husserls Frage nach der Unendlich-

keit als »Offenheit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544

Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie . . . . . . . . . . . . . 549

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557

Nachwort und Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591

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»ληπτέον δὲ καὶ ἄπειρον αὐτὸν […].ὅταν γὰρ ἂν αὐτὸν νοήσῃς οἷον ἢ νοῦν ἢ θεόν, πλέον ἐστί […]«.

»Man muss ihn [sc. den Uranfang] auch als unendlich auffassen […].Denn wenn Du ihn dir als Geist oder Gott denkst, ist er mehr […].«

(Plotinus, Enn. [Opera, Henry–Schwyzer], VI 9, 6, 10–14;dt. von Ch. Tornau).

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Einleitung

Mit Aristoteles wurde die Metaphysik für mehr als zwei Jahrtausendezur Grunddisziplin der Philosophie. Sie machte zwar erhebliche Wand-lungen durch und wurde zumindest zweimal – bei Duns Scotus und beiDescartes – sogar auf völlig neue Grundlagen versetzt, aber sie be-stimmte bis ins 18. Jahrhundert hinein das philosophische Denken. ImZeitalter der Aufklärung wandten sich manche Denker – besonders inFrankreich und in England – von ihr ab oder betrachteten sie, wieHume, mit begründeten Zweifeln. Aber erst mit Kant wurde sie einanhaltend beunruhigendes Problem.

Es handelt sich um ein Problem, das mittlerweile verschiedene Ge-stalten annahm, aber bis heute nicht gelöst oder bewältigt wurde. VonFichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer bis Bergson und Whiteheadgab es eine ganze Reihe von Denkern, die es zu lösen oder zu bewältigensuchten, aber immer wieder attestiert man ihren groß angelegten Ver-suchen ein Gepräge von metaphysics-fiction.

Nietzsche trat einer Metaphysik, die sich nach ihm allzu sehr amChristentum orientierte, ausdrücklich als Gottloser und Antimetaphy-siker entgegen.1 Seitdem gilt jede Metaphysik, die sich als Sachwalterinvon Ideen wie Unsterblichkeit, (intelligibler) Freiheit und Gott versteht– selbst wenn sie, wie etwa Kants Metaphysik der Sittlichkeit, in diesenIdeen nichts als Gegenstände bloßer »Postulate« sieht –, als »traditio-nell«. Diese – in unseren Tagen durchaus verbreitete – Bezeichnungspricht dafür, dass die Zeit, in der wir leben, als »(nach)nietzscheanisch«zu kennzeichnen ist.

Antimetaphysische Tendenzen wurden in den beiden vorherr-

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1 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral [Nietzsche’s Werke, Großoktav-Aus-gabe, Bd. VII], Leipzig: Kröner 1910, S. 470 (= Kritische Studienausgabe, hg. von Gior-gio Colli und Mazzino Montinari, 15 Bände, Berlin, New York und München: Walter deGruyter und Deutscher Taschenbuchverlag 1988, Bd. V, S. 401).

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schenden Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts, der – weit verstande-nen – analytischen Philosophie und der – ebenso weit verstandenen –

phänomenologischen Tradition, gleichermaßen deutlich, wenn sie auchkeineswegs gleichen Sinnes waren. Dass ein Ausdruck wie ›Überwin-dung der Metaphysik‹ den großen Gegnern Carnap und Heidegger glei-chermaßen geläufig war, ist ein Umstand, der zum Aufhorchen anhält.

In der analytischen Philosophie haben aber gerade die letzten Jahr-zehnte neue Bestrebungen mit sich gebracht, die den älteren Tendenzenzuwiderlaufen. Von einer Überwindung der Metaphysik durch logischeAnalyse der Sprache wie bei Carnap oder durch einen Rückgriff aufalltägliche Sprachspiele wie bei Wittgenstein (aber auch bei Ryle oderAustin) ist kaum mehr die Rede. Vielmehr wird in der analytischenPhilosophie neuerdings eher eine Erneuerung der Metaphysik ange-strebt. Ein Werk mit dem Titel Metaphysics ist heute keine Seltenheitin der englischsprachigenWelt. Es hat sich in dieser Hinsicht eine Wen-de in der analytischen Philosophie vollzogen. Von Denkern wie Kripke,Putnam und Dummett vorbereitet, wurde sie von David Lewis und vonRoderick Chisholm auf je verschiedeneWeise herbeigeführt. Eine ganzeReihe zeitgenössischer philosophers, zu denen Michael Loux, E. Jona-than Lowe, Ernest Sosa, Jaegwon Kim und viele andere gehören, hat siedann zu einem gewissen Abschluss gebracht.

Nur dass dabei der von Kant zum ersten Mal gesehene Problem-charakter der Metaphysik allzu wenig beachtet wird! Es besteht gewisskein Mangel an frischen Einsichten in die altehrwürdigen Probleme vonIdentität, möglicher Welt, Substantialität, Kausalität, Raum, Zeit, Be-wegung und Ähnlichem, aber der Versuch zur Gesamterneuerung desAlthergebrachten erweist sich dabei als richtungslos.

Ich wende mich dem Problem der Metaphysik mit der Frage zu, obnicht etwa die phänomenologische Tradition mit ihrem Rückgang aufdie lebensweltliche Erfahrung eher in der Lage sei, hier Richtung zuweisen, als die analytische Philosophie. Husserls Idee einer phänome-nologischen Metaphysik wurde auf diese Frage hin bisher noch nichtgeprüft, obgleich sie sich von vornherein als eine Alternative zur tradi-tionellen Metaphysik angeboten hatte. Sie soll in den Mittelpunkt dernachfolgenden Untersuchungen gestellt werden.

Zum nicht-traditionellen Charakter dieser Metaphysik gehört,dass sie nicht nach ersten Gründen und Ursachen des Seienden als Sei-enden forscht. Vielmehr stützt sie sich von vornherein auf gewisseUrtatsachen. Nach Husserls Einsicht kann die phänomenologische Me-

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taphysik – im Gegensatz zur transzendentalen Phänomenologie – kei-neswegs als eine apriorische Wissenschaft aufgefasst werden. Im Ge-genteil, sie wird als eine Wissenschaft des Faktischen bestimmt. Aller-dings unterscheiden sich die Urtatsachen, die Husserl herausstellt, vonden gewöhnlichen Tatsachen. Denn es kommt ihnen eine gewisse Not-wendigkeit zu. Die ganze Idee einer phänomenologischen Metaphysiksteht oder fällt mit dem Gedanken, dass es eine Notwendigkeit desFaktischen geben kann. Zunächst entnimmt Husserl dem Cogito die»Notwendigkeit eines Faktums«. Dann überträgt er aber diese Einsichtauch auf andere Urtatsachen. Allerdings schließt die ›Notwendigkeiteines Faktums‹ einen ›Kern des Urzufälligen‹ keineswegs aus. Aus derAnalyse der Urtatsachen erwächst vielmehr eine Metaphysik »zufäl-liger Faktizität«, die als solche in einem (nach)nietzscheanischen Zeit-alter wohl eine besondere Beachtung verdient.

Der Gedankengang des vorliegenden Buches gliedert sich in dreiTeile. Unter dem Titel »Metaphysik und Ontotheologie« erfüllt der ers-te Teil die Funktion einer historischen Einleitung. Der nicht-traditionel-le Charakter einer phänomenologischen Metaphysik der Urtatsachenwird erst vor dem Hintergrund der traditionellen Metaphysik sichtbar.Zu einer begrifflichen Bestimmung der traditionellen Metaphysikbietet sich – zumindest vom Gesichtspunkt der phänomenologischenBewegung aus – vor allem Heideggers Entwurf einer »onto-theo-logi-schen Verfassung der Metaphysik« an. Die Philosophiegeschichts-schreibung der letzten Jahrzehnte hat jedoch – besonders in Frankreich– deutlich gezeigt, dass dieser Entwurf sich nur dann fruchtbar auf dashistorische Material anwenden lässt, wenn er als der virtuelle Brenn-punkt einer typologischen Vielfalt aufgefasst wird. Die Grundtypen, diein dieser Forschungsrichtung herausgestellt wurden, ergeben jedoch inihrem Zusammenhang ein durchaus plastisches Bild von der traditio-nellen Metaphysik, das sich besser dazu eignet, durch eine Kontrast-wirkung die Idee einer phänomenologischen Metaphysik zu beleuch-ten, als eine Wesensbestimmung, die auf einer idealisierenden Kon-struktion beruht.

Der zweite Teil setzt unter dem Titel »Phänomenologie und Meta-physik« die historischen Untersuchungen fort. Hier wird die Idee einerMetaphysik der Urtatsachen in ihrem Gegensatz zur traditionellenMetaphysik dargestellt. Allerdings hat Husserl diese Idee niemals sys-tematisch entwickelt. Er beschränkte sich darauf, sie in veröffentlichtenWerken programmatisch zu entwerfen und in unveröffentlichten For-

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schungstexten fragmentarisch auszuarbeiten. Schon dieser Umstand er-klärt, warum Husserls Idee einer Metaphysik der Urtatsachen bishernur selten aufgegriffen wurde. Gleichwohl zeichnen sich in der phäno-menologischen Tradition gewisse Weiterführungsmöglichkeiten der ur-sprünglichen Idee ab. Zunächst bietet Heidegger – imWesentlichen un-abhängig von Husserl – gleichsam eine Parallele zu dieser Idee, indemer am Ende der 1920er Jahre seine Fundamentalontologie durch eine»Metontologie« zu ergänzen sucht. Sartre eignet sie sich in den 1940erJahren wiederum an. Aber er verdunkelt die Bedeutung dieser Tatsachedurch Eigeninitiativen, die selbst die Kritik des Weggefährten Merleau-Ponty herausfordern. Die Neue Phänomenologie in Frankreich gibtdann – von Levinas bis Richir und Marion – immer wieder Raum fürAnsätze, die nicht allein eine gewisse Affinität zu Husserls Idee einerMetaphysik der Urtatsachen aufweisen, sondern auch dazu geeignetsind, sie ihres scheinbar subjektivistischen Anstrichs zu entledigen. Inseinem neuesten Buch greift Renaud Barbaras die Idee einer phänome-nologischen Metaphysik der Urtatsachen ausdrücklich auf und führt sieauf eine originelle Weise weiter.2

Der dritte Teil enthält schließlich – unter dem Titel »Phänomeno-logische Metaphysik: Die Welt und ihr Unendliches« – systematischangelegte Erörterungen. Er gliedert sich in zwei Abteilungen:

A. Unter dem Titel »Dingerfahrung und Weltwirklichkeit« werdenUntersuchungen zusammengefasst, die zeigen sollen, warum einephänomenologische Metaphysik der Urtatsachen nicht so sehr dasSein als vielmehr die Welt zum Gesamtgegenstand hat. Die Weltwird dabei in ihrer Einzigkeit und in ihrer Vorgängigkeit gegen-über der Dingerfahrung zum Thema. So gesehen erweist sie sichals eine Urtatsache, der deshalb die Notwendigkeit eines Faktumszukommt, weil sie trotz der zufälligen Faktizität, die sie kennzeich-net, in ihrer Gegebenheit durch keine Erfahrung erschüttertwerden kann. Die Wirklichkeit der Welt bestimmt sich als ein Ge-samtausdruck verschiedener Einstimmigkeitstendenzen. In dervorliegenden Abhandlung wird die These vertreten, dass den ein-zelnen Erfahrungskategorien derartige Einstimmigkeitstendenzenzugrunde liegen. Ein Nachweis dieser These wird neben Raum undZeit vor allem im Falle der Kausalitätskategorie erbracht. Trotz aller

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2 Renaud Barbaras, Dynamique de la manifestation, Paris: Vrin 2013, S. 283–290.

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berechtigten Kritik am »Satz vom Grund« wird diese Kategorie inden Mittelpunkt der Untersuchungen gestellt, weil sie die Struk-turtypik der Erscheinungswelt entscheidend prägt. Von der Kausa-lität führt ein Weg zur Frage nach der Handlungsteleologie. Auchdas Problem der Handlungsfreiheit wird im gegenwärtigen Buchausführlich, aber ohne unmittelbare Bezugnahme auf das Selbstund die Person behandelt.3 Die Weltanalyse läuft letztlich auf dieFeststellung hinaus, dass sich das Ding notwendig als Träger ago-naler Weltentwürfe bestimmt. Die phänomenologische Metaphy-sik wird dabei als ein transzendental angelegter Weltentwurf ver-standen, der einem heute weit verbreiteten naturalistischen Autar-kismus entgegentritt.

B. Die zweite Abteilung hat »Das Unendliche der Welt« zum Titel.Die gewählte Überschrift begründet sich durch das Anliegen, vomUnendlichen jede Idee einer metaphysischen Hinterwelt fernzu-halten. Es soll in dieser Abteilung gezeigt werden, wie eine phäno-menologische Metaphysik mit einer wissenschaftlichen Theorieumgehen kann. Als Beispiel wird dazu die anfängliche Mengen-lehre nicht allein deshalb gewählt, weil sie – zusammen mit dersymbolischen Logik – seit dem Beginn des letzten Jahrhundertseine starke Grundstömung innerhalb der Philosophie in Gangbrachte, sondern auch deshalb, weil Husserl in einem besondersengen Verhältnis zu Georg Cantor, dem Begründer der Mengen-lehre, stand. Es wird einerseits Cantors philosophiehistorischenUntersuchungen über den Gedanken des Aktual-Unendlichennachgegangen; andererseits wird mit Husserl die Frage erwogen,wieweit die lebensweltliche Erfahrung in ihrer phänomenologi-schen Deutung eine Grundlage zum Gedanken des Unendlichenbietet. Die Darstellung der Beziehung zwischen Husserl und Can-tor verschreibt sich der These, dass die phänomenologische Ding-und Weltanalyse an die Stelle der von Cantor geforderten Meta-physik des Transfiniten treten kann.

Die Abteilungen A und B des dritten Teils sind auch dadurch miteinan-der verbunden, dass in ihnen – im Anschluss an den letzten Paragra-

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Einleitung

3 Das letztere Thema wird hier ausgeklammert, da es in der französischsprachigen Auf-sammlung L’expérience de la singularité (Paris: Hermann 2014) ausführlicher erörtertwird.

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phen des Zweiten Buches von Husserls Ideen zu einer Phänomenologieund phänomenologischen Philosophie – ein Argument für den trans-zendental angelegten Weltentwurf der Phänomenologie entwickeltwird, und zwar so, dass dieses Argument am Ende der ersten Abteilungangeführt, dann aber auf Grund der nachfolgenden Untersuchungenam Ende der zweiten Abteilung nochmals ergänzt und vervollständigtwird.

Zu Titel und Untertitel des vorliegenden Buches gehören einigeerläuternde Bemerkungen. Im Anschluss an eineWuppertaler Traditionwird die Phänomenologie auf den folgenden Seiten im Ganzen als einePhänomenologie der Welt verstanden. Einige Leitsätze, die von KlausHeld, dem Begründer dieser Wuppertaler Tradition, stammen, eignensich gut dazu, einen einfachen Vorbegriff der Phänomenologie im Sinnedieses Verständnisses zu vermitteln. Grundlegend sind drei Gedanken,die auch für die nachstehenden Erörterungen maßgebend bleiben. Ers-tens: »Die Sache der Philosophie ist identisch mit der des natürlichenLebens: die Welt.«4 Dazu gehört aber zweitens die Einsicht, dass derMensch in der natürlichen Einstellung »für das eigene Weltverhältnisblind« ist.5 Daraus kann bereits ein erster Schluss gezogen werden:»[…] im natürlichen Leben bleibt die Welt unthematisch, und erst inder phänomenologischen Transzendentalphilosophie wird sie eigenszum Thema.«6 Dieses Thema ist drittens gerade die Sache der Phäno-menologie: »Gemäß Husserls Interpretation der Phänomenologie alsTranszendentalphilosophie müßte die phänomenologische Urmaximeeigentlich im Singular stehen: ›Zur Sache selbst‹, nämlich zur Welt.«7

Allerdings gehört bei Held eine weitere Überzeugung eng mit diesendrei Leitsätzen zusammen: Mit der Heraufkunft der neuzeitlichen Wis-senschaft gerät die Welt unter die »Vorherrschaft des Unendlichkeits-gedankens«, wobei sie als der »Horizont der Horizonte«, als »Univer-salhorizont« letztlich einer objektivistischen oder naturalistischenVergegenständlichungstendenz zum Opfer fällt; dieser Tendenz trittzwar bereits Husserl deutlich entgegen, aber seine »Lehre von der Kon-

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4 Klaus Held, »Husserls phänomenologische Gegenwartsdiagnose im Vergleich mit Hei-degger«, in: Gerhard Funke (Hg.), Husserl-Symposion Mainz 27.6./4.7.1988, Mainz:Akademie derWissenschaften und der Literatur;Wiesbaden und Stuttgart: Franz Steiner1989, S. 33–50, hier: S. 35.5 Ebd.6 Ebd., S. 40.7 Ebd., S. 35.

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stitution des Universalhorizonts« ist »auf dessen Unendlichkeit fixiert[…] und damit selbst noch dem Geist des Objektivismus verhaftet«, sodass es Heidegger vorbehalten bleibt, einen Rückweg zur »Endlichkeitder Welt« zu finden.8 Von diesem vierten Grundsatz wird im Folgendenabgewichen. Ohne einen objektivistischen oder naturalistischen Stand-punkt einzunehmen, sind die nachstehenden Untersuchungen um dendreifachen Nachweis bemüht, dass erstens Husserls Unendlichkeits-gedanke keineswegs zur Vergegenständlichung des UniversalhorizontsWelt führt – oder auch nur beiträgt –, dass er zweitens ebendeshalbdurchaus einen Anspruch darauf erheben kann, als integraler Bestand-teil einer Phänomenologie der Welt betrachtet zu werden und dass erdrittens sogar eine sachlich begründete Auseinandersetzung mit derneuzeitlichen Wissenschaft des Unendlichen ermöglicht.

Auf eine positive Anknüpfung an Heidegger wird damit nicht ver-zichtet. Von ihm wird der im Folgenden oft verwendete Terminus»Weltentwurf« übernommen. Es handelt sich ohne Zweifel um einWort, das subjektivistische oder existentialphilosophische Assoziatio-nen wecken kann. Solche Bedeutungsnuancen sind jedoch weiterhinnicht mitgemeint. Deshalb ist es nicht unnötig, daran zu erinnern, dassHeidegger diesen Terminus in einer Periode seines Denkens geprägthat, in der er, anders als in Sein und Zeit, die Welt nicht mehr bloß alsein »Existential« des Daseins verstand, sondern sie zum Gegenstandeiner neu anvisierten Disziplin, »Metontologie« genannt, machte. Wasdamit gemeint ist, wird im zweiten Kapitel des zweiten Teils näher erör-tert, und die Analyse der Weltentwürfe wird im dritten Teil weiterge-führt. Im Voraus nur zwei Hinweise: Erstens soll der betonte Entwurfs-charakter der Weltentwürfe von vornherein klarstellen, dass einWeltentwurf jeweils ein endlicher Versuch ist, das unendliche Ganzeder Welt zu erfassen. Zweitens soll er aber auch darauf aufmerksammachen, dass die Philosophie als Weltentwurf keine rein theoretischeBetrachtung ist, sondern jeweils auch dem praktischen Antrieb folgt, ineine Geschichte einzugreifen, die immer bereits durch Konflikte zwi-schen voneinander abweichenden oder sogar einander widerstreitendenWeltentwürfen charakterisiert ist.

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8 Klaus Held, »Die Endlichkeit der Welt. Phänomenologie im Übergang von Husserl zuHeidegger«, in: Beate Niemeyer und Dirk Schütze (Hg.), Philosophie der Endlichkeit.Festschrift für Erich Christian Schröder zum 65. Geburtstag, Würzburg: Königshau-sen & Neumann 1992, S. 130–145, hier: S. 145.

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Der TitelWelt und Unendlichkeit deutet darüber hinaus auch nocheinen grundsätzlichen Unterschied zwischen demGanzen und demUn-endlichen an. Es soll damit an eine grundlegende Unterscheidung vonLevinas angeknüpft werden, die in der Gestalt einer »Antinomie vonTotalität und Unendlichkeit« merkwürdigerweise beinahe gleichzeitigauch bei Adorno9 auftaucht. Es ist bemerkenswert, dass im Anschlussan Levinas (wenn auch nicht ohne Kritik an ihm) und im Ausgang vonseiner responsiven Phänomenologie neuerdings auch Bernhard Wal-denfels eine positive Anknüpfungsmöglichkeit an die Idee des Unend-lichen gefunden hat.10

Die Rede von einer »phänomenologischen Metaphysik« klingt ineinem Zeitalter, das nicht müde wird, eine »Überwindung derMetaphy-sik« und sogar ein »nachmetaphysisches Denken« zu fordern, unzeit-gemäß und deshalb herausfordernd. Freilich wird auch im vorliegendenBuch davon ausgegangen, dass Metaphysik als Ontotheologie, wie manes in einem bestimmten Idiom zu sagen pflegt, »nicht mehr möglich«sei. Es soll aber gezeigt werden, dass die Phänomenologie einen neuenTyp der Metaphysik ermöglicht, der sich mit keiner Ontotheologie ver-bindet. Man darf nicht vergessen, dass die Aufgabe einer »Überwin-dung der Metaphysik« bei Heidegger nach einer Periode eigens ange-strebter Metaphysik vor allem aus der Hoffnung auf einen »anderenAnfang« erwuchs. Ob sie sich von dieser Hoffnung überhaupt trennenlässt, steht dahin. Jürgen Habermas gründete seine neuerdings wiedererhobene Forderung nach einem »nachmetaphysischen Denken«11 ur-sprünglich einerseits auf einen »Paradigmenwechsel vom Bewusstseinzur sprachlichen Verständigung«,12 andererseits aber auch auf seineÜberzeugung, wir seien philosophisch »immer noch Zeitgenossen derJunghegelianer«.13 Nun ist die sprachlicheWende der Philosophie heutefür das Denken in keiner ihrer mannigfaltigen Gestalten mehr bestim-

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9 Theodor Wiesengrund Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main: SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft 1994, S. 37.10 Bernhard Waldenfels, »Aporien des Unendlichen«, in: Brachtendorf, Johannes, Möl-lenbeck, Thomas, Nickel, Gregor und Schaede, Stephan (Hg.), Unendlichkeit. Interdis-ziplinäre Perspektiven, Tübingen: Mohr Siebeck 2008, S. 3–22, hier besonders S. 18f.11 Siehe Jürgen Habermas,Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Ber-lin: Suhrkamp 2012.12 Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt am Main: Suhrkamp21992 (11988), S. 278.13 Ebd., S. 277.

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mend; selbst die analytische Philosophie hat von ihr weitgehend Ab-stand genommen. Dagegen dürfte eine tragfähige Bewusstseinsphiloso-phie wieder ein Desiderat der Zeit sein. Was aber die These unsererphilosophischen Zeitgenossenschaft mit Hegel, Marx und den Jung-hegelianern betrifft, so sei nur an Adorno erinnert, der sich ebenfallsals Zeitgenosse der Junghegelianer verstand (so schwer er sich manch-mal mit diesem Selbstverständnis auch tat14), darüber aber doch nichtdie Tatsache aus den Augen verlor, dass die »Träger philosophischerModerne« Denker sind, die nicht in der Nachfolge von Hegel stehenund erheblich später als die Junghegelianer auf die Bühne treten: näm-lich Bergson und Husserl15 – denen man in der Neuen Welt allenfallsnoch William James (nicht so sehr als Pragmatisten überhaupt, sondernmehr noch als den Verfasser der Essays in Radical Empiricism) zurSeite stellen könnte. Diese Ansicht über die Träger philosophischer Mo-derne ist für das gegenwärtige Buch grundlegend: Es versucht, sich vorallem in die Traditionslinie einzuschreiben, die von Husserl ausgeht undmittlerweile auch in Bergsons Heimat auf markante Weise weitergezo-gen wird. All diese Bemerkungen laufen aber eigentlich auf eine einzigeEinsicht hinaus: Streben wir keinen radikalen Bruch mit der Vergan-genheit an, der die Philosophie im bisherigen Sinne des Wortes auf-heben oder auch vollenden und verwirklichen sollte, so verzichten wirauf nichts anderes als auf uneingelöste Versprechen, die ihr wahres Ge-sicht in den Kataklysmen des vergangenen – aber leider noch immernicht ganz hinter uns gelassenen – Jahrhunderts gezeigt haben.16

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14 Vgl. dazu TheodorWiesengrund Adorno,Ontologie und Dialektik (1960/61), hg. vonRolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 22008 (12002), S. 332 f. und Adorno,Negative Dialektik, S. 146f.15 TheodorWiesengrund Adorno, Vorlesungen über Negative Dialektik [NachgelasseneSchriften, Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 16], hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt amMain: Suhrkamp 2003, S. 229; vgl. Adorno, Negative Dialektik, S. 20. Siehe dazu aus-führlicher vom Vf. »Negative Dialektik als geistige Erfahrung? Zu Adornos Auseinan-dersetzung mit Phänomenologie und Ontologie«, in: Phänomenologische Forschungen(2012), S. 47–65.16 Mit vollem Recht sagt Vincent Descombes Folgendes: »Que signifie en effet ce renvoide la métaphysique à un passé révolu? Il signifie que le philosophe s’accorde à lui-mêmeune dispense de répondre à certaines questions. Il est dispensé de métaphysique, commele lycéen souffrant est dispensé de gymnastique.« (Vincent Descombes, »Latences demétaphysique«, in: Un siècle de philosophie 1900–2000, Paris: Gallimard/Centre Pom-pidou 2000, S. 11–52, hier: S. 13).