Luhmann über Organisation & Protestbewegungen

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    Erste Auflage 1997 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1997

    AIle Rechte vorbehaltenDruck: Pustet, Regensburg

    Printed in GermanyDie Deutsche Bibliothek - CIP-Einhcitsaufnahme

    Luhmann, Niklas:Die Gesellschaft def Gesellschaft I Niklas Luhmann. -Frankfurt am Main: Suhrkamp.

    ISBN 3-518-58z47-X kart.ISBN 3-518-58240-2 Gewebe

    Bd.2 ('997)

    Zweiter TeilbandKapitei 4-5

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    ziale Abhangigkeiten durch selbsterzeugte Abhangigkeiten. Siemachen sich unabhangig von zufallig auftretenden Reziprozitaten in Bedarf und Hilfsbereitschaft und regulieren dadurch dieArbeit als regelmallig wiederholte Beschaftigung, die nur nochvon den Fluktuationen des Marktes ader sonstiger Finanzierun-_gen abhangig ist.Dieser Obergang zu in cler Form von Individuen rekrutierterArbeit setzt nicht nur Geldwirtschaft veraus, die die Annahmevon Geld attraktiv macht. Sie beruht aufierdem auf rechtlich ge::.isicherter Erzwingbarkeit von Vertragen mit cler anderen Seite,'dag es ohne Vertrag kaum noch Zugang zu Arbeitsmoglichkeiten und damit zu Lebensunterhalt gibt.418 AuBerdem tragtdas in der Form von Schulen und Universitaten organisierte Erziehungssystem dazu bei, daB fachliche Kompetenz ,'IOd'Lv"ju,ell'und ohne weitere Sozialmerkmale rekrutiert werden kanndaB entsprechende Ausbildungen nachentwickelt werden,man mit entsprechenden Arbeitsplatzen rechnen kann.419Die Funktionssysteme fur Wirtschaft, Recht und Erzie,hungstellen also wichtige Voraussetzungen fUr die EntstehungAusbreitung der Systemform Organisation bereit, ohne daBdazu fUhren wurde, daB es Organisationen nur in diesenmen gibt. Man sieht schon an diesem Beispiel, dan Org,mi.satiocnen soziale Interdependenzen ermoglichen, die mit oe,rf,m.o

    nun mehr und mehr aJs Benachteiligung der Frauen erfahren wird:Beispiel der von Frauen erwarteten Arbeit (Hausarbeit, Kind,,,erzii:hung, BereltSchaft fur Gasthchkeit) zeigen sich Restbestande derrekten gesellschaftlichen DetermlOatlon - und dIes urn so mehr, alsHauspersonal verschwindet und den Hausfrauen zugemutet .auch dessen Arbeitsleistung zu ubernehmen. Statt des iibh'ch"n j\cg;e,mit dem Personal haben Hausfrauen es jetzt mit Pannen derschen Gerate und mit Abwalzung eigener Arbeit auf den Markt zu

    418 Naeh Abschaffung der Sklaverei wird zum Beispiel die Arbeit aufZuckerplantagen Brasiliens zur Saisonarbeit ohne Vorsorge rurZwischenzeit.

    419 DaB man, statistisch gesehen, noeh mit deutlichen Zu

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    Aber dies kann, da die internen K o m m u n i k a t i o n s k a p a z i t i i t e ~ beschrankt sind, nur hoch selektiv erfolgen. Und auch dann,wenn tiber die Umwelt kommuniziert wird, is! die Mitgliedschaftsrolle, die Zugehorigkeit zum System, dasjenige Symbol;das die Kommunikation als interne Operation ausweist.Da Mitgliedschaften durch Entscheidungen begriindet werdenun d das weitere Verhalten der Mitglieder in Entscheidungssitua-::'tiorren von der Mitgliedschaft abhiingt, kann man Organisationen auch als autopoietische Systeme auf der operativen Basisder Kommunikation von Entscheidungen charakterisieren. Sieproduzieren Entscheidungen aus Entscheidungen und sind indies em Sinne op erativ geschlossene Systeme. In der Form derEntscheidung liegt zugleich ein Moment struktureller Unbe-stimmtheit. Un d da jede Entscheidung weitere Entscheidungenherausfordert, wird diese Unbestimmtheit mit jeder Entscheidung reproduziert. Ein Entscheidungssystem lebt, konnte marisagen, im Blick auf weitere Entscheidungen v on selbsterzeugtdUnbestimmtheit, und dieses Moment geht in dieSchliellung des Systems ein. Die P r o d u " J k ~ t : : i , o ~ ; n ~ : v ~ o : n : : ; ~ ~ . ~ : ; ; ~ ~ : ; gen aus Entscheidungen leistet eine laber sie reproduziert im Blick auf weitere Erlts

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    Selbstverstandlich bleiben Entscheidungen, wie alle Kommunikationen, auf Bewufhseinsleistungen angewiesen. Hier bewntdie klassische Theorie die rationalen Dberlegungen des Entscheiders. Deren Beitrag ist jedoch unklar geblieben, weil dievermeintliche Rationalitat im Verhaltnis zu den Alternativen,tiber die zu entscheiden ist, etwas Drittes ist, namlich nithtselbst eine Alternative. Man kann sich ja nicht fUr Flugzeug oderEisenbahn oder Auto - oder Rationalitat entscheiden. Rationalitat ist durch die Alternativitat als Option gerade ausgeschlossen ist. Also ein Paradox! Das la:fh uns vermuten, daB die Rationalitatsunterstellung der Entfaltung dieser Paradoxie dient: ihrerInvisibilisierung durch Mystifikation und ihrer,Auflosungdurch Angabe von Kriterien oder Regeln, die dann ihrerseits sozial validiert werden konnen.Diese Betrachtungsweise hat einen wichtigen Aspekt unbeachtetgelassen, daB niimlich das BewuBtsein vor aHem durch Wahrnehmungsleistungen am Entscheiden beteiligt ist. Es muBhoren, was gesagt, und lesen, was geschrieben wird. Diese institutionellen Vorgaben sind vor allem rur Verwaltungsarbeit relevant. Daneben gibt es jedoch zahlreiche andere Arbeitsformen,in denen das Wahrnehmen nichtsprachlicher Sachverhalte notwendig wird, urn einen etwaigen Entscheidungsbedarf heraus:"zufiltern. Man denke an die Auge/Hand-Koordination in derIndustriearbeit, vor allem aber an all das, was von field workers verlangt wird: von Polizisten und Lehrern, von Aufseherriund Kontrolleuren jeder Art. 423 Normalerweise wird, wenn imWahrnehmungsbereich mit Dberraschungen oder mit Unaufmerksarnkeit zu rechnen ist, von seiten der Organ isation Autonomie, das heiBt: lockere Dberwachung, konzediert, urn das

    king and Postdecision Surprise, Administrative Science Quart erly 29(1984), S. 410-413. Vgl. auch Joel Brockner et aI., Escalation of C o m ~ mitment to an Ineffective Course of Action: The Effect of FeedbackHaving Negative Implications for Self-identity, Administrative ScienceQuarterly 31 (1986), S. 109-126; Niklas Luhmann, Soziologie desRisikos, Berlin 1991, S. 201 ff.

    423 Vgl. z. B. fur den Fall der Uberwachung von Gewasserverunreinigungen Keith Hawkins, Environment and Enforcement: Regulation andthe Social Definition of Pollution, Oxford 1984, insb. S. 57 ff.

    System abzupuffern gegen die Eigendynamik des W ~ h r n e h -rnens/Nichtwahrnehmens.424 In jedem Faile sind Organisationssysterne an diesem interface von Kornrnunikation und BewuBtsein weniger auf dessen Vernunft als auf dessen bewuBtverarbeitete Wahrnehrnungen angewiesen.Diese Zwischeniiberlegungen lassen die These unangetastet, daBeine Organisation aus nichts anderern besteht als aus derKornmunikation von Entscheidungen. Diese Operations basisermoglicht die SchlieBung eines besonderen autopoietischenSystems. Autopoiesis heiRt: Reproduktion aus eigenen Produkten. Alle Herkunft - von der Griindung der Organisation biszur Besetzung der Mitgliedschaftsrollen mit Personen - muBdaher in der Organisation rekursiv als eigene Entscheidung behandelt werden und nach den jeweils aktuellen Entscheidungserfordernissen neu interpretiert werden konnen. In den Sequenzen der eigenen Entscheidungen definiert die Organisation d i ~ Welt, mit der sie es zu tun hat. Sie ersetzt laufend Unsicherheiten durch selbsterzeugte Sicherheiten, an denen sie nach Moglichkeit festhalt, auch wenn Bedenken auftauchen. 425 Der jeweilsverrugbare Bewegungsspielraum wird durch das Schema Problem/Problemlosung abgegrenzt, wobei die Probleme zur Definition von Losungsmoglichkeiten dienen, aber auch umgekehrtdie getesteten Losungsmoglichkeiten dazu dienen konnen, dieProblemdefinitionen entsprechend zu adjustieren oder auchProbleme zu suchen, die die vorhandenen Routinen als Problemlosung erscheinen lassen.426 SchlieBlich findet der Primatder Autopoiesis auch darin Ausdruck, daB aIle Strukturen denOperationen nachgeordnet, also als Resultat von Entscheidungen begriffen werden. Die Organisation kennt Strukturen nur

    424 Das gilt, wie oft diskutiert, fur Polizisten im AuBendienst, fur Lehrer,fur Sozialarbeiter. Man sieht aber auch, daB dies nicht moglich ist,wenn es urn die Uberwachung hochriskanter Industrieanlagen geht;und spektakulare GroBunf1ille zeigen, daE das System an dieserAuBengrenze besonders empfindlich sein kann.Auf die Unsicherheitsabsorption, die durch das Sequenzieren vonEntscheidungen erreicht wird, kommen wir sogleich zuriick.Vgl. James G. March I Johan P. Olsen, Ambiguity and Choice inOrganizations, Bergen I976.

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    ais Entscheidungspramissen, uber die sie seIber entscrueden hat.Sie garantiert sich dies uber das formale Strukturprinzip der(Plan-)Stelle, das es ihr erlaubt, uber die Einrichtung soIcherStellen bei der Festlegung des Budgets zu entscheiden und inbezug auf diese Stellen dann Stelleninhaber, Aufgaben und organisatorische Zuordnungen durch Entscheidungen zu andern.Wahrend Interaktionssysteme ihre Umwelt nur uber eine Aktivierung von Anwesenden und nur tiber eine Internalisierung derDifferenz von anwesend/abwesend beriicksichtigen kennen,haben Organisationen zusatzlich die Meglichkeit, mit Systemenin ihrer Umwelt zu kommunizieren. Sie sind der einzige Typ sozialer Systeme, der diese Meglichkeit hat, und wenn man pieserreichen will, muB man organisieren.+27 Dies Nach-auBenKommunizieren setzt Autopoiesis au f der Basis von Entschei-dungen voraus. Denn die Kommunikation kann intern nur imrekursiven Netzwerk der eigenen Entscheidungstatigkeit, alsonur ais Entscheidung angefertigt werden; sie ware anderenfallsnicht ais eigene Kommunikation erkennbar. Die Kommunikation nach auBen widerspricht also nicht der operativen Geschlossenheit des System; im Gegenteil: sie setzt sie voraus. Daserklart auch ganz gut, daB Kommunikationen von Organisationen oft ins nahezu Nichtssagende geglattet sind oder anderenfalls fiir die Umwelt oft uberraschende Eigentumlichkeiten.ansich haben und schwer zu verstehen sind. Am liebsten kpmmunizieren Organisationen mit Organisationen, und sie behandelnPrivate dann oft so, ais ob sie Organisationen, oder anderenfalls:als ob sie Pflegefalle waren, die besonderer Hilfe und Belehrungbediirfen.DaB Organisationen nach auBen kommunizieren konnen, istvor allem durch ihre hierarchische Struktur gewahrleistet. VonHierarchie kann man in einem doppelten Sinne sprechen. Einerseits kennen sich im FaIle von Organisati onen Subsysteme nur427 Normalerweise findet man entsprechende Dberlegungen in der Litera

    tur iiber kollektive Handlungsfiihigkeit. Parsons spri cht von collectivities. Dann muB aber zusiitzlich gesichert sein, daB gemeinsamesHandeln (Sagen, Lasten Bewegen usw.) rucht schon als kollektivesHandeln gilt. Genau dies kann man aber nur dadurch erreichen, daBman auf Kommunikation im N amen des Kollektivs abstellt.

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    innerhalb von Subsystemen bilden - und nicht einfach aufGrund der internen Umwelt in freiem Wildwuchs.428 Anders aisdas Gesellschaftssystem bevorzugt und realisiert die Organisation eine Kastchen-in-Kastchen-Hierarchie. Zugleich damitwerden Weisungsketten gebildet - Hierarchien in einem ganzanderen Sinne. Die Ketten garantieren eine formale Entscheidbarkeit von Konflikten, wahrend die Kastchen-in-Kastchen-Differenzierung garantiert, daB auf diese Weise das gesamte Systemerreichbar bleibt. Wie man heute weiB, fuhrt diese Strukturnicht unbedingt zur Konzentration von Macht an der Spitze,und moderne Theorien def" Fuhrung in Organisationen beschreiben, wie man sich verhalten muB, urn trotzde m etwas auszurichten. Aber ungeachtet dieses Problems der Machtverteilung reicht die Hierarchie aus, urn Kommunikationsfahigkeitnach auBen zu garantieren - nicht zuletzt deshalb, weil das interne Machtspiel fur AuBenstehende schwer zuganglich ist undsie sich an das halten mussen, was offiziell gesagt ist.Offensichtlich geht es hier um hochmoderne Sachverhalte, dieman in traditionalen Gesellschaften vergeblich suchen wird. 1mhistorischen Riickblick sieht man auch hier (ahnlich wie im FalleGesellschaft/lnteraktion), daB in alteren Gesellschaftsformationen zwischen den Systemtypen nicht deutlich unterschiedenwird. Die Gesellschaft selbst wird als Mitgliederverband aufgefaBt, als sozialer K6rper, dem einige Menschen angeh6ren undandere nicht. Dann muB aber auf die Beweglichkeit der Konditionierung von Mitgliedschaften verzichtet werden. In segmentaren Gesellschaften findet man hohe Mobilitat zwischenden Siedlungen und Stammen und auch Vertreibungen, zumBeispiel aus AniaB von Straftaten. Die Selbstregulierung der428 Wenn sich soIche ungeplanten Systeme bilden, spricht man von in

    formaler Organisation. Typisch dafiir ist dann aber eine untypischeStrukturierung: keine feste Mitgliedschaft, unsichere Identifizierbarkeit, Motivation zu ibweichendem Verhalten - immerhin Motivation!etc. Neuerdings findet man auBerdem auch Organisationen, die verschiedene Organisationen auf unteren Ebenen verbinden und nichtmehr eindeutig hierarchisch zugeordnet werden konnen. Ein Bedarffiir solche Firmenverbunde ergibt sich vor aHem aus dem just intime-Prinzip der Zulieferung, mit dem Lagerhaltung eingespart undProduktion beschleunigt wird.

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    dafur geltenden Bedingnngen bleibt jedoch gering. Groilraumigere Gesellschaften konnen Mobilitatsprobleme besser internverkraften. Immer aber geht es urn Inklusion oder Exklusion de-sganzen Menschen, und darin liegt eine einschneidende Beschrankung cler Regelungskapazitat. Erst die moderne Gesellschaft kann darauf verzichten.Auch das, was an Organi sationen in tradit ionalen Gesellschaftengebildet wird, halt sich an das Muster cler Korporation:m Dasgilt zum Beispiel fiir militarische Einheiten oder fUr Tempel un dKloster. Mitgliedschaft heiflt auch hier: Vollinklusion - hier unddann nirgendwo anders, auch nicht in anderen Haushalten. Eskann strenge Regeln geben, zum Beispiel fur Klosterdisziplin,aber sie werden nicht nur als Entscheidungspramissen aufgefalkUn d erst reeht ist Autoritat nicht in Entscheidungen fundiert.Offiziere, Bischofe, Abte und Abtissinen entstammen demAdel.Uber eine soIche Alternative von Haushalt oder Korporationgeht man jedoch bereits im Mittelalter hinaus. Die hoch entwickelte Rechtskultur ermoglicht handlungsfahige Zusammenschlusse von Haushalten, die voraussetzen, dafi die Lebensfuhrung okonomisch durch die Haushalte gesichert wird. Dasgilt vor aHem fur die Zunfte und Gilden, aber auch fUr die korporative Verfafitheit der Stande. Eben wegen dieser okonorrii..-,schen Selbstversorgung der Mitglieder liegen die Motive der O r ~ ganisationsbildung im Bereich der Politik und vor aHem imPrivilegienwesen. Organisationen sind nicht dadurch attraktiv,'dag man dort seinen Lebensunterhalt verdienen konn,te; siebrauchen also auch nicht uber Geldzahlungen urn Mitglieder zukonkurrieren.Die mod erne Gesellschaft verzichtet darauf, selbst Orga nisation(Korporation) zu sein. Sie ist das geschlossene und dadurch of.:..fene System aller Kommunikationen. Und im gleichen Zugerichtet sie in sich selbst autopoietische Systeme ein, deren Ope-ration im sich selbst reproduzierenden Entscheiden besteht, also429 An der evolutionaren Errungenschafr einer Differenz ierung von Fami

    lien und Korporationen hatte bekanntlich Durkheim das Paradigmader Differenzierung abgehandelt in der Einleitung zur 2. Aufl. von De'la division du travail social.

    Organisationeri in einem Sinne, der sowohl von Interaktion alsauch von GeseHschaft zu umerscheiden ist. Organisationenkonnen riesige Mengen von Interaktionen aufeinander abstimmen. Sie schaffen das Wunder, Interaktionen, obwohl sie stetsund zwangslaufig gleichzeitig geschehen, trotzdem in ihre n Vergangenheiten und Zukunften zu synchronisieren. Eben das geschieht durch jene Technik des Entscheidens uber Entscheidungspramissen auf der Grundlage einer Akzeptanzbereitschaftin einer zone of indiffe'rence430, die durch die Mitgliedschaftsichergestellt ist. Nur: Organisation kostet Geld. Und sie erfordert vollige Unabhangigkeit der Mitglieder vom Bindungsinstrumem der ahen Welt, von den eigenen anderen Rollen. WosoIche Bindungen fortbestehen, erscheinen sie jetzt als Korrup-tion.43!Autopoietische Organisationssysteme konn en Autoritatsverluste kompensieren, die unvermeidlich werden, wenn die Gesellschaft von Stratifikation zu funktionaler Differenzierung ubergeht, wenn Buchdruck und Alphabetisierung der Bevolkerungfortschreiten und wenn die alre okonomische Ordnung derHaushalte in maderne, intim gebundene Kleinfamilien umgewandelr wird. Organisationen bilden dann eigene Verfahren derUnsicherheitsabsorption aus.432 1m Prozessieren von Information werden an jeder Stelle Informationen verdichtet undSchlusse gezogen, die an den folgenden Stellen nicht mehr n achgepriift werden - teils weil dafur die Zeit und die Zustandigkeitfehlt, teils weil es schwerfiillt, gute Fragen zu formulieren, undvor aHem: weil man dazu nicht verpflichtet ist. Unsicherheitsabsorption heigt auch: Dbernahme der Verantwortung fur denAusschlu von Moglichkeiten; aber sie bedeutet nach den O rga-430 Siehe Chest er 1. Barnard, The Functions of the Executive (1938), Cam

    bridge Mass. 1987, S. 167ff.431 Damit ist nicht ausgeschlossen, daB Korruption ganz normal vor

    kommt und als Zugang zu Organisationen unentbehrlich zu seinscheint. In diesem Sinne lcbcn auch Patron/Klient-Verhaltnisse fort.J edenfalls ist Korr uption in diesem Sinne zu unterscheiden von durchGeld vermittelter Korruption, die juristisch (oft ohne Folgen) verboten werden kann.

    432 Siehe James G. March I Herbert A. Simon, Organizations, New York1958, S. 165 f.

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    nisationsgepflogenheiten nicht ohne weiteres: Verantwortlichkeit fiir Fehler.Dieser Modus der Umsetzu ng von Entscheidungen in Entscheidungen ist die Autopoiesis des Systems. Er transformiert weltbedingte Unsicherheiten in systeminterne Sicherheiten - nichtnur, aber auch in der Form von Akten. Gerade deshalb konnenOrganisationen sich an Risiken, auf die sie sich eingelassenhaben, und an Konflikte mit immer denselben Gegnern, anKonkurrenz usw. gewohnen. 433 Sie finden in der so weit erfolgreichen Unsicherheitsabsorption eine Bestatigung, die schwerzu ersetzen ist. So lagt sich die den Organisationen als Burokratien oft zugeschriebene Tragheit erklaren. Gerade weil unteraller Sicherheit von Entscheidungspramissen Unsicherheit begraben liegt, darf man daran nicht riitteln. Gerade wei! es sichurn eine selbstgefertigte Konstruktion handelt, bleibt man dabei.Das schlieBt Irritierbarkeit keineswegs aus; aber sie mug an Ereignissen festgemacht werden, die sich in der Systemkommunikation als neu und unvorhergesehen darstellen lassen.Fur diesen Prozeg cler Unsicherheitsabsorption sind externeAutoritatsquellen entbehrlich. Die Organisation kann sich ausihnen losen. In gewissem Umfange greifen die Rekrutierungsprozesse uber Personalselektion auf gesellschaftlich vorgegebene Unterschiede zuriick - etwa auf die Eigentumsverha!rnissefur Wirtschaftsbetriebe, auf politische Kontakte, auf das tiberAusbildung garantierte Niveau fachlicher Kompetenz. Aberdamit zwingt die Gesellschaft die Organisationen nicht unter'das Regime vorgegebener (etwa: standischer) Autoritat. Sonderndie Organisationen benut zen den Mechanismus der-Personalr:e...;krutierung zur Ressourcenbeschaffung; und interne Autoritatmag sich dann auch unabhangig von der Ordnung der Zustiindigkeiten und der Weisungsbefugnisse daraus ergeben, dag tiberPersonen ein exzeptioneller und differentieller Zugang zu Um-weltressourcen erschlossen werden kann. Ein Handelsvertretermit guten Kontakten zur Kundschaft kann firmenintern S o ~ -derbedingungen fUr Kunden durchsetzen. Eine glanzende, im433 Dazu am Beispiel politischer Parteien Niklas Luhmann, Die Unbe

    liehtheit politischer Parteien, Die politische Meinung 37, Heft'(1992), S. 177-186.

    Publikum beliebte Schauspielerin kann auf die Regie Einfluilnehmen.Die klassischen Beschreibungen Max Webers treffen solcheSachverhalte nicht genau genug und vor aHem nicht realistischgenug. Jeder, der in Organisationen gearbeitet hat, kennt dashohe Ma an Personalisierung der Beobachtungen, insbesondere im Zusammenhang mit Arbeitsbewertungen und Karriereno Ferner macht die interaktionstypische Einbeziehung eigener anderer Rollen sich gegen die Regeln auch hier bemerkbar.

    mug sein Kind morgens erst zum Kindergarten bringen,bevor man zum Dienst kommen kann, und findet daftir Ver-Wichtiger ist eine die andere Seite betreffende Erfah

    daB gerade eine gut funkt ionierende, in die ,modis chenRichtUllg"n von Rationalisierung und Demokratisierung vollOrganisation eigentiimliche Irrationalitaten er-

    7.'"V'V Die Autopoiesis entwickelt bei zunehmender Kompledes Entscheiclens iiber Entscheidungen iiber Entscheiduniiber Entscheidungen dazu passende Strukturen und eine

    Tendenz, zu entscheiden, nicht zu entscheiden.die Behandlung ihrer eigenen Defekte kann sie nur die gleiMittel wiederanwenden, die sie verursacht hatten, namlich'ElltscheidlurLgen. 435 Augerdem verkiimmert unt er diesen Bedin

    die strukturelle Kopplung an individuelle Motivation.noch und immer wieder entschieden werden mug,es an Motivation, sich fiir die AusfUhrung von Entschei

    gegen interne un d externe Widerstande stark zu machen.Vgl. hierzu anhand schwedischer Erfahrungen Nils Brunsson, TheIrrational Organization: Irrationality as a Basis for OrganizationalAction and Change, Chichester 1985.Siehe als ein eindrucksvolles Beispiel die Bilanz der Entbiirokr atisierung im Zweiten Bericht zur Rechts- und Verwaltungsvereinfachung,herausgegehen Yom Bundesministerium des Inneren, Bonn, Juni 1986.

    unnotige Regulierungen zu vermeiden, soIl jedes Regelungsvorhadanach 10 Prliffragen mit his zu I I (insgesamt 48) Unterfragen un

    'terworfen werden, die jede flir sich wieder unzureichend bestimmteKomplexitat in den EntscheidungsprozeB einflihren. Zur Vereinfachung wird daher zunachst einmal jede Entscheidung mit 48 oder,wenn man mit Interdependenzen rechnen muB, mit 2 43 multipliziert!Hier kann dann nur noch die Praxis fUr Vereinfachung sorgen.

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    Fur diese Aufgabe sonde rt jede Orga nisation Politik- ab, diesich aber oft nicht durchsetzen kann.436 So wird verstandlich,daB die moderne Reflexion eine Doppelbegrifflichkeit benutzt,urn diesen Sachverhalt zu erfassen. Sie spricht von Organis ation,wenn sie die Notwendigkeiten und die positiven Seiten des Phanom ens bezeichnen will, un d von Burokratie, wenn es urn dienegativen Seiten geht. Ihr fehlt dann freilich ein Ausdruck furdie Einheit organisierter Sozialsysteme, und entsprechend fehltihr eine fur Zwecke der Gesellschaftstheorie zureichende Theorie der Organisation.So wie Interaktionen brauchen auch Organisationen nicht mitBezug auf die Einheit des Gesellschaftssystems eingerichtet sein.Sie konnen ohne gesellschaftlichen Systemzwang fr'ei entstehen, und es gibt zahllose Organisationen (man nennt sie of tirrefuhrend freiwillige Vereinigungen oder Assoziationen),die sich keinem der gesellschaftlichen Funktionssysteme zu ordnen. AIle Organisationen profitieren jedoch von der Komplexitat des Gesellschaftssystems, wie sie im heutigen Umfange erstdurch funktionale Differenzierung moglich geworden ist. Insofern kann man, mit nur wenig Dbertreibung, sagen, daB es erstunter dem Regime funktionaler DifferenzierungTypus autopoietischer Systeme kommt, den wir als OfJ;allisliertes ;Sozialsystem bezeichnen. Erst j etzt gibt es dafur g e n i i g e ! ~ d reiche Nischen. Erst jetzt gibt es dafur genug zu en,;scillerderi.Erst jetzt lohnt es sich, die Umwelt als so komplex an;ms:et>oen;"dag dem intern nicht mehr durch Fakten, Zeichen, Repra,,:nta- itionen entsprochen werden kann, sondern nur noch durchscheidungen.Unbestreitbar bilden sich jedoch, wenn nicht die meisten,doch die wichtigsten und groBten Organisati onen innerhalb

    436 Uber Mikropolitik und entsprechende 5piele gibt es i', z.,i,,:hebvie! Literatur. Siehe etwa Tom Burns, Micropolitics: M,:chanism; of'!,stitutional Change, Administrative Science Quarterly 65.257-281; Michel Crozier/Erhard Friedberg, L'acteur et IeParis 1977; Willi Kupper I Gunther Ortmann (Hrsg.), MilkropolitikRationalitat, Macht und 5piele in Organisationen,Gunther Ortmann, Formen der Produktion: Organisation undsividit, Oplade n 1995.

    Funktionssysteme und ubernehmen damit deren Funktionsprimate. In diesem Sinne kann man Wirtschaftsorganisationen,Staatsorganisationen und sonstige politische Organisationen,Schulsysteme, Wissenschaftsorganisationen, Organi sationen derGesetzgebung und der Rechtsprechung unterscheiden. Ganzoffensichtlich unterscheidet sich die Art, wie organisatorischeMoglichkeiten realisiert werden, von Funktionssystem zuFunktionssystem. Darauf konnen wir an dieser Stelle jedochnicht eingehen. Wir mussen uns darauf beschranken, die BezieIlungen zwischen Funktionssystemen und ihren Organisatiozu klaren, und dies un ter der Pramisse, daB in beiden Fallenautopoietische Systeme vorliegen, obwohl zugleich unbestrittenist, daB sich soIche Organisationen in den Funktionssystemenzum Vollzug ihrer Operationen und zur Implementation ihresFumk,;ionsprimats bilden.Ausgangspunkt fur das weitere liegt in der Einsicht, daB

    einziges Funktionssystem seine eigene Einheit als Organisa-'tion kann. Oder anders gesagt: keine Organisation imeines Funktionssystems kann aIle Operationen desFlmktion",ysiterrrs an sich ziehen und als eigene durchfiihren.gibt es immer auch auBerhalb von Schulen undHocllschu.len. Medizinische Behandlung findet nicht nur in

    statt. Die Riesenorganisation im politischenSv"',m. die man Staat nennt, bewi rkt gerade, daB es staatsbete'gene politische Aktivitaten gibt, die nicht als staatliche Entkh.eiclunlgen fungieren. Und selbstverstandlich werden die Or -

    ,anisationen des Rechtssystems, vor aHem die Gerichte, nurin Anspruch genommen, wenn augerhalb der Organisastattfindende Kommunikation uber Recht und Unrechtratsam erscheinen lagt.auch die Organisationen innerhalb von Funktionssystemuss en als operativ geschlossene, auf der Basis ihres Ent

    ,chl,id,ms eigenstandige Sozialsysteme angesehen werden. Siejberm:hnlen den Funktionsprimat (oft aHerdings mit Konzesan andere Funktionen, zum Beispiel mi t Wirtschaftlich-:eit:siitlerleglm,:en in der Verwendung budgetierter Mittel). Siebinaren Code des jeweiligen Funktions. Nur unter diesen beiden Bedingungen konnen sie ihreOperationen dem betreffenden Funktionssystem zu-

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    ordnen und zum Beispiel als Gerichte, als Banken, als Schulenerkennbar sein. Ihre Eigenwelt gewinnen und organisieren siedagegen durch eine weitere Unterscheidung, namlich die vonProgrammen und Entscheidungen. Programme sind Erwartungen, die fur mehr als nur eine Entscheidung gelten. Sie zwingenzugleich das Verhalten in die Form der Entscheidung, das Pro-gramm anzuwenden oder dies nicht zu tun. 437 Alles programmierte Verhalten ist Entscheidungsverhalten, und dies auehdann, wenn das Program m selbst Produk t eines (seinerseits programmierten) Entscheidungsverhaltens ist. Der Zusammenhangvon Programm und Entscheidung kann also rekursiv gesehlossen, kann zirkular organisiert sein. In diesem Sinne sind aIleOrganisationen strukturdeterminierte Systeme, und dies ohneImport von Strukturen aus ihrer (funktionssysteminternen bzw.gesellschaftssysteminternen) Umwelt.Das alles gilt aueh und erst reeht bei sehr vage formulierten Programmen, etwa: O ptimiere das Betriebsergebnis, bringe Interessen zum Ausgleieh. Es gilt auch, wenn nur Zwecke und keinesonstigen Konditionen als Programme fungieren. D amit entstehen Probleme der Interpretation oder der Faktorisierung desProgramms438 , die aber in der Organisation gelDSt werden kDnnen und gelDst werden mussen. Denn wo sonst?Anders als die herrschende, politikorientierte Auffissung essehen wiirde, dienen die Organisationen der Funktiorissystemenieht der Aus fuhrung oder Implementation von Entsche'ldungen, die in den Zentralen getroffen werden. Ausfuhrbare Entseheidungen kDnnen nur in den Organisationen selbst getroffen 'werden, und die Zentralen sind Teil des N etzwerkes -clernisationen. Urn die Funktion von Organisationen im A n ~ h " ' F einer funktional differenzierten Gesellschaft erkennen zunen, mug man sich daran erinnern, clag Organisationen diezigen Sozialsysteme sind, die mi t Systemen ihrer Umw elt

    437 Zum Zusammenhang von Erwartung und E n n ' t ~ : s ~ c h ~ : e ~ ; ; d : u ~ n ~ t g : n ~ ~ ~ ~ ~ : ; ; ~ : ~ : Niklas Luhmann, Soziologische Aspekte des IDie Betriebswirtschaft 44 (I984), S. 591-63.

    438 Ein gutes Beispiel: Herbert A. Simon, Birth of an Organization:Economic Cooperation Administration, PublicReview I3 (1953), S. 227-236.

    munizieren konnen. Die Funktionssysteme selbst konnen dasnieht. Weder die Wissenschaft, noeh die Wirtsehaft, aber auehnieht die Politik und auch nicht die Familie kann als Einheitnach augen in Kommunikation treten. Urn Funktionssystememit externer Kommunikationsfahigkeit auszustatten (die alsKommunikation natiirlich immer Vollzug der Autopoiesis v6nGesellschaft ist), miissen in den Funktionssystemen Organisationen gebildet werden - sei es mit angemagten Spreeherrollen,so wie die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbande angebliehfur die Wirtsehaft sprechen439 j sei es mit den GroBzentrenkomplex verschachtelter Organisationseinheiten, den Regierungen, den internationalen Korporationen, der Militarruhrung.davon hat, Freilich unter theoretisch nicht weiter' reflektier

    Perspektiven, die neuere Forsehung uber Neokorporatiseingefangen. Auch die komplizierte Theorie gesellschaft-Steuerung, an Helmut Willke arbeitet, setztder gesellschaftlichen Teilsysteme

    Beispiel Selbstbindungsfahigkeit durch KommunikationIntersystembeziehungen) voraus.44Q Die wachsende Bedeuvon Organisationen in Funktionssystemen geht aber einmit, ja wird ausgelost durch die Unmogliehkeit, die Funkti

    selbst zu organisieren. Man sieht damit auch, wieOrganisationen auf einen laufend neu entstehenden Syn'cllro,ni,;atiorlSl:,ed.arf hin gebildet sind, und genau clamit auf die

    Wer wirklich wissen will, was die Wirtschaft meint, ist denn auchbesser beraten, wenn er die B6rsenberichte liest; denn immer wennKommunikation 9rganisiert ist, kann auch getauscht und gelogen werden.Vgl. jetzt Helmut Willke, Systemtheorie entwickelter Gesellschaften:Dynamik und Riskanz moderner gesellschafrlicher Selbstorganisation,Weinheim 1989, insb. S. 44 ff., 103 ff., II Iff.; ders., Ironie des Staates:Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, Frank-furt I992; ders., Systemtheorie III: Steuerungstheorie: Grundziigeeiner Theorie der Steuerung komplexer Sozialsysteme, Stuttgart I995Demgegeniiber mach t eine scharfe U nterscheidung zwisc hen primarengesellschaftlichen Subsystemen und (deren) Organisationen auf dasProblem aufmerksam, daB Organisationen, wenn iiberhaupt, nur sichselbst, aber nicht die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaftusw. durch Kommunikation festlegen k6nnen.

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    Kunstlichkeit einer Dif ferenzierung des -Gesellschaftssystemsnach Funkti onen reagieren.Funktionssysteme behandeln Inklusion, also Zugang fur alle, alsden Normalfall. Fur Organisationen gilt das Gegenteil: sieschliefien aIle aus mit Ausnahme d er hochselektiv ausgewahltenMitglieder. Dieser Unterschied ist als solcher funktionswichtig.Denn nur mit Hilfe der intern gebildeten Organisationen konnen Funktionssysteme ihre eigene Offenheit fur aIle regulierenund Personen unterschiedlich behandeln, obwohl alle gleichenZugang haben. Die Differenz der Systembildungsweisen ermoglicht es also, beides zugleich zu praktizieren: . nklusion undExklusion. Und sie ermoglicht es auch, diese Differenz selbst beihoher Systemkomplexitat durchzuhalten und gerade ~ i t Hilfeder Komplexitat den Widerspruch Inklusion/Exklusion aufzulosen. Der Gleichheitsgrundsatz wird von Juristen nicht alsVerbot von Ungleichheit, sondern als Willkurverbot ausgelegt.Das verweist auf Organisation als Instrument der regulativenSpezifikation. Oder anders formuliert: Der Gleichheitssatz istkein Konditionalprogramm441, sondern ein limitatives Prinzip.Er kann als Voraussetzung vorausgesetzt werden, wenn es umeine konsistente Praxis des Unterscheidens geht.Dieser Unterschied in der Behandlung des Inklusions-/Exklusionsproblems beginnt sich auszuwirken. Einerseits ~ i r d derZugang zu organisierter Arbeit (und nicht mehr: die Ausberitung in organisierter Arbeit) zum Problem. Andererseits bilClensich in vielen Funktionssystemen, vor allem aber im politischenSystem, Ressentiments gegen das, was dem Einzelnen als Resul":tat organisierter Entscheidungsprozesse zugemutet wirCl. Wenngegenwartig wieder vermehr t von civil society, citizenship, .gergesellschaft gesprochen wi rd442 , wird damit weder die aristotelische Tradition fortgesetzt noch ein politisches l:Cr.gage.nemgegen wirtschaftliche Interessen ausgespielt, sondern der441 Siehe hierzu Adalbert Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemei

    nen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, Berlin 1971, S. 50.442 Vgl. nur John Keane (Hrsg.), Democracy and Civil Society, London1988; ders. (Hrsg.), Civil Society and the State: New European Perspectives, Lond on I 988; Jean Cohen / Andr ew Arato, Civil Society andPolitical Theory, Cambridge Mass. 1992.

    richtet sich auf breiter Flache gegen Organisation. Es geht urnBeteiligung an Offentlichkeit ohne Mitgliedschaft in Organisatjonen. Das Problem liegt auch nicht Hinger in der besonderenHerrschaftsform der Burokratie, sondern eher in den unbefriedigenden Ergebnissen organisierter Unsicherheitsabsorption, die in erheblichem Umfange das beschranken, was inFunktionssystemen moglich ist.Ein weiterer, vielleicht noch wichtigerer Gesichtspunkt ist: dafiOrganisationen der Interdependenzunterbrechung in Funktionssystemen dienen. Dber die Notwendigkeit einer solchenInterdependenzunt erbrechung hatte die Theorie von Staat undGesellschaft hinweggetauscht, die gleichsam nur ~ i n e n einzigenFall von Nichtubereinstimmung konzedierte, dann aber inbezug auf den Staat auf einheitliche Politik und in bezug auf dieWirtschaft auf Gleichgewicht Wert legte. Die Wirklichkeit funktioniert jedoch seit langem anders, und vermutlich aus gutenGrunden. Die politischen Programme werden von politis chenParteien, also von Organisationen, aufgestellt mit dem SystemirrIOeTal:iv. sich zu unterscheiden (was angesichts der SachlogikProblemen nicht immer leichtfiillt); und die Entscheidung

    Aktualisierung von Politik obliegt einer anderen Organisadem Staat, der unter anderem auch die politischen WahlenOhne diese Differenzierung auf organisatorischerund ohne das dadurch ermoglichte kontinuierliche Beobvon Beobachtungen ware keine Demokratie moglich.

    Ahmlich,os gilt fur das Wirtschaftssystem. Auc h hier ermoglichtVorstellung eines vollstandigen Konkurrenzgleichgewichtsmathematische _Formulierungen in der ReflexionstheorieSystems, entspricht aber, wie man ebenfalls seit langem, nicht der Realitat. Vielmehr organisieren sich auch inIn der Wirtschaftstheorie hing das wachsende Verstandnis fur die Bedeutung von Organisationen mit der Kritik der theoretischen Pramissedes Marktes mit flerfekter Konkurr enz eng zusammen. Siehe nur Herbert A. Simon, Models of Man - Social and Rational: Mathematical Essays on Rational Human Behavior in a Social Setting, New York 1957Eine andere Entwicklung lief tiber die spezifisch okonomische Versionvon Input /Output- Analyse . Siehe aus der Feder des Erfinders: WassilyW. Leontief, Die Methode der Input-Output-Analyse, Allgemeinesstatistisches Archiv 36 (1952), S. 153-166.

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    der Wirtschaft wirtschaftseigene Interdependenzunterbrechungen, die verhindern, daB jeder Preis von allen anderen Preisehabhangt, und es eben dadurch ermoglichen, wirtschaftliehe Rationalitat zwar nieht im Zustand des Gesamtsystems, wohl aberauf der Ebene unternehmensspezifischer Bilanzen zu erreichen.Und auch hier ermoglicht und er zwingt diese Form der Int erdependenzunterbrechung die Ersetzung der unerreiehbaren Einheitsrationalitat dureh ein laufendes Beobaehten von Beobachtern. Organisationen lassen sich zwar nieht im Hinblick auf ihreEntscheidungsprozesse, wohl aber an Hand ihrer Preise beobachten.An die Stelle einer hierarehischen Konzeption des Ver,paltnissesvon Funktionssystem und Organisationen tritt mithin eine ArtNetzwerk-Konzept.444 Die Organisationen entfalten eine Eigen-'dynamik, die im Funktionssystem mit Verfahren der Beobachtung zweiter Ordn ung aufgefangen wird, und dies unter der Be-'dingung laufender Reaktualisierung - etwa in der Form desMarktes, iiber die offentliche Meinung, in laufend neu erscheinenden wissenschaftliehen Publikationen oder Reehtstexten.Statistische Oberwachungen bleiben moglieh, sofern es besondere Organisationen gibt, die Daten auswerten. Aber im Wirtschaftssystem zum Beispiel zeigt sich deutlieh, daB die disSystem b e s t i m m ~ . n d e n Entscheidungen bei der Firmenpopulation liegen und Ubersiehtsinstanzen wie Borsen oder Zentralbanken mit ihren eigenen Rekursivitaten wiederum nur - alsOrganisationen das Geschehen beeinfluBen. Keine Organisationreprasentiert das System im System, und jede ist nur Ju r sichselbst verantwortlich. Die sich dabei einstellenden Riickkopp:..lungen lassen sieh nieht in der Form von Gleiehgewiehtsmodel:..len begreifen. Sie neigen zu plotzlichen Effektaggregationen, diewiederum von auBen auf die Organi sationen einwirken u nd die'dann eintretenden Ersehiitterungen aueh in andere Funktions-systeme iibertragen konnen.GewiB, es ist nicht ganz einfaeh, sieh an d ~ e s e uniiblieherieperspektive zu gewohnen. Ob es sich Iohnt, entscheidet444 Hierzu anregend Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne R"ch,tstf,eocie,.

    Selbstreferenz - Selbstorganisation - Prozeduralisierung, Berlininsb. S. 176ff.

    am Ertrag. Jedenfalls verdeutlicht eine so entsehieden auf operative Gesehlossenheit und Autopoiesis abstellende Theorie, wiesehr das Entst ehen von Organisationen einerseits nur in Gesellschaften moglieh ist, dann aber auf eigenstandige Weise zur gesellschaftlichen Differenzierung beitragt, und dies in einem doppelten Sinne: zur Differenzierung des Gesellsehaftssystems undseiner Funktionssysteme gegen die Autopoiesis der Organisahonen und, mit Hilfe dieser Autopoiesis, zur Differenzierungder Funktionssysteme gegeneinander und gegen ihre jeweiligeUmwelt. Auf diese Weise kann eine augenfallige strukturelleDiskrepanz verdeutlieht werden, daB namlich die moderne Gesellschaft mehr als jede ihrer Vorgangerinnen auf Organisationangewiesen ist (ja erstmals uberhaupt einen eigenen Begriffdafur geschaffen hatHS); daB sie aber andererseits weniger als

    Gesellsehaft zuvor in ihrer Einheit oder in ihren Teilsystemen als Organisation begriffen werden kann.

    xv. Protestbewegungenbisher entwickelte Systemtypologie (Gesellschaft, Inter akOrganisation) reicht nicht aus, urn ein wei teres Phanomen

    erfassen. Wir miissen deshalb (ohne Riicksicht auf Theo,ri"asth,,,ii

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    aus Gott und seine Schopfung zu beobachten, galt in der altenWelt als Fall des Engels Satan. Der Beobachter muB sich ja, da erdas Beobachtete und anderes sieht, fur besser halten und damitGott verfehlen.446 In der heutigen Welt ist dies Saehe der Pro-testbewegungen. Aber sie fallen nieht, sie steigen auf. Sie verfehlen nicht das Wesen Gottes (Theologen sehlieBen sieh sogar an),so da:G auch das Merkmal der Sunde, die Gottesferne, ni eht zutrifft. Sympathisanten sagen ihnen sogar nach, sie erho hten dieProduktionsgeschwindigkeit guter Grunde.447 Aber die Beobaehtungstechnik des Teufels, das Ziehen einer Grenze in einerEinheit gegen diese Einheit, w ird copiert; und auch die Folgewirkung t ritt ein: das unreflektierte S i c h - f i i r - b e s s e r - h ~ J t e n . Entsprechend wird mit Schuldzuweisungen gearbeitet. Das Schieksal der Gesellschaft liegt nicht im unergriindlichen RatschluBGottes. Das Schicksal der Gesellschaft - das sind die anderen.DaB die Protestbewegungen nicht fallen, sondern aufsteigen,mag mit der Umstel lung der Gesellschaft auf funktionale Differenzierung zusammenhangen. Das fuhrt uns zu einer weiterenParadoxie. 1m Anschlu:G an Parsons kOhnen wir von einem Zusammenhang von starkerer Differenzierung und stiirkerer Generalisierung der symbolischen Grundlagen, insbesondere derWerte, ausgehen, mit denen die Gesellschaft ihre Einheit zuformulieren versucht.448 Was aber geschieht, wenn die ~ e n e r a l i sierten Werte in d er differenzierten Gesellschaft gar nieht me hruntergebracht werden konnen? Wenn sie zwar formuliert ~ n d 446 So Marquese Malvezzi aus AnlaB einer Diskussion tiber die Staatsra

    son. Siehe Virgilio Malvezzi, Ritratto del Privato politico, in: Opere delMarchese Malvezzi, Mediolanum 1635, gesondert paginiert, hierS. 123. Fur ein Sakularisat dieser Theoriefigur siehe Hegels Ausfuhrungen uber "Das Gesetz des Herzens, und der Wahnsinn desEigendunkels in der Phanomenologie des Geistes, zit. nach der Ausgabe von Johannes Hoffmeister, Leipzig I937, S. 266 ff.

    447 So Klaus Eder, Die Institutionalisierung sozii ler Bewegungen: Zur Beschleunigung von Wandlungsprozessen in fortgeschrittenen Industrie:'"gesellschaften, in: Hans-Peter Muller / Michael Schmid (Hrsg.), Sozialer Wandel: Modellbildung und theoretischc Ansatze, Frankfurt 1995,S. 267-290 (284).

    448 Vgl. Talcott Parsons, The System of Modern Societies, Erlg["w.oo,j

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    zeichnen sie ihre Gegner, die Auslander, und die Proteste dienenfast nur noch der Selbstverwirklichung im Modus von U nterschichtenverhalten. 451GroBe Teile der Offentlichkeit charakterisieren das Phanomenvor dem Hintergrund der Unterscheidung von rationalen undirrationalen (emotionalen) Motiven. Wir halten eine soIche Kontroverse fur unergiebig.451 Sie gibt nur das herrschende Urteiluber Inklusion und Exklusion (eventuell: Selbstexk1usion) wieder. Sie reformuliert nur die Perspektiven der Teilnehmer undSympathisanten auf der einen und ihrer Gegner auf der anderenSeite. Statt dessen gehen wir von der Beobachtung aus, dag Protestbewegungen weder ais Organisationssysteme n o c h ~ a I s Interaktionssysteme angemessen zu begreifen sind.Organisationen sind sie schon deshalb nicht, weil sie nicht Entscheidungen organisieren, sondern Motive, commitments, Bindungen. Sie suchen gerade das ins System zu bringen, was eineOrganisation voraussetzen und zumeist bezahlen muK die Mitgliedschaftsmotivation. So wie Organisationen Politik, sosondern Protestbewegungen Organisation nur ab, urn Restprobleme zu I6sen. Ohne Organisation einer Vertretung derBewegung k6nnte diese nur agieren, nur dasein, nicht aber nachaugen kommunizieren. Wenn es straff gefiihrte Organisationengibt (zum Beispiel Greenpeace), setzen diese eine lateIlte, aberunterstutzungswirksame Protestbereitschaft voraus, die zumBeispiel auf Boykottaufrufe reagieren wiirde (solange dies nichtunbequem wird). Die Rekrutierung ihrer Anhanger konnenProtestbewegungen nicht ais generalisierte Unterwerfung unterBedingungen der Mitgliedschaft und nicht als deren R ~ s p e z i H -451 Man hn n deshalb fragen, und dariiber wir d seit einiger Zeit diskutiert,

    ob es sich uberhaupt urn eine soziale Bewegung handelt oder nur urnEruptionen des Selbstverwirklichungsmilieus. Vertreter der altenncuen sozialen Bewegungen tendieren dazu, den Neuen die Aufnahmein diesen Begriff zu bestreiten. Ab er dabei spielen intellektuelleDber-heblichkeit und politisch-moralische Selbstpraferenzen eine allzudeutliche Rolle.452 Als Kritik und als Auflosung dieser Kontroverse in sozialen Konstruktivismus vgl. auch Mary Do uglas / Aaron Wildavsky, Risk andCulture: An Essay on Selection of Technological and EnvironmentalDangers, Berkeley 1982.

    kation durch Entscheidungen erreichen . Sie haben, anders' aisOrganisationen, eine unendlichen Personalbedarf. Wollte manProtestbewegungen als Organisationen (oder ais Organisationen im Prozeg des Entstehens) auffassen, kame man auf lauterdefiziente MerkmaIe: heterarchisch, nicht hierarchisch, polyzentrisch, netzwerkf6rmig und vo r aHem: ohne Kontrolle uber denProzeg ihrer eigenen Veranderung.Aber auch Interaktionssysteme sind es nicht. GewiK Interaktion ist hier wie uberall unentbehrlich. Sie dient aber vor allemdazu, die Einheit und Groge der Bewegung zu demonstrieren.Deshalb das Interesse an, und die Focussierung der Aktivitatauf, Demonstrationen (wobei die Assoziation von Demon-stration und Demokratie ein hilfreicher linguistischer Zufall ist).Interaktion beweist Engagement; kommt!, lautet die Parole.Aber der Sinn des Zusammenseins liegt (wie in anderer Weiseauch in Organisationen) augerhalb des Zusammenseins. Er setztsich fur die Teilnehmer aus h6chst individuellen Problemen derSinnsuche und Selbstverwirklichung zusammen, die ' sichdurch soziale Focussierung nur auf stets prekare Weise bundelnund ausbeuten Iassen.453Die sozialistische Bewegung des 19. Jahrhunderts hatte mitHinweis auf Kiasseniage und Fabrikorganisation eine relativeinheitliche, daher auch einheitlich ansprechbare Motiviage voraussetzen konnen. Oder zumindest hatte sie ihre Welt so konstruien. Sie war deshalb auch organisations-, ja sogar theoriefahig gewesen. Das ist fUr die heutigen neuen sozialenBewegungen anders. Sie haben es mit starker individualisiertenIndividuen zu tun, und wie man gesagt hat: mit Individuen, diedie Zumutungen ihrer Lebenslage ais paradox empfinden454 und

    Kai-Uwe Hellmann, Systemtheorie und soziale Bewegungen: Einesystematisch-kritische Analyse, Diss. Berlin (Freie Universitat) 1995,sieht hier eine latente Funktion der neuen sozialen Bewegtingen imUnterschied zur manifesten Funktion ihrer Ziele (aber darf mandann, wie soziologenublich, vermuten, daB die latente Funktion dieeigentliche Fu nktion ist?).So Helmuth Berking, Die neuen Protestbewegungen als zivilisatorische Instanz im ModernisierungsprozeB?, in: Hans Peter Dreitzel/Hors t Stenger (Hrsg.), Ungewollte Selbstzerstorung: Reflexionen tiber

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    deshalb Externalisierungen, Sinngebungen, Unterscheidungen zur Entfaltung der Paradoxie ben6tigen. Sie vertreten denAnsprueh (den jeder auf seine Weise auslegen kann), in den Aussichten auf selbstbestimmte Lebensfuhrung nicht oder nur auseinsichtigen Grunden beeintrachtigt zu werden. Sie argumentieren als Betroffene fur Betroffene. Vor aHem Jugendlicheund Akademiker scheinen in dieser Weise selbstbezuglich paradoxieempfindlich zu sein. Das heigt aber auch, dag die neuensozialen Bewegungen, die darauf ansprechen, ihre Teilnahmemotive in einem notorisch instabilen Publikum finden. IhrRekrutierungspotential beruht auf einer weitgehenden Abschwachung der Bedeutung von Zugehorigkeiten, iTvielleiehtauch auf einer tief ins Privatleben eingreifenden Filigranarbeitdes Rechtsstaates, die es unnotig macht, sich um Angewiesensein auf andere zu kiimmern.455 Auch hangen sie damit starker,und zwar gerade in ihrer Ausdifferenzierung, von sozialstrukturellen Bedingungen ab, zum Beispiel von einem Restvertrauen indie Adresse Staat, der helfen konnte, wenn er nur wollte, undvon der sozialen Normalitat scharfer Meinungsunterschiedezwischen den Generationen (auch und gerade: in Familien).456Um so mehr mug der Gesichtspunkt abstrahiert werden, dersich eignet, solche Bewegungen zu katalysieren, zu f o c u s s i e r e n ~ mit Identitat zu versorgen - und ihre immer auch psy.hischenFunktionen zu invisibilisieren.Die Einheit des Systems einer Protestbewegung ergibt sich""ausihrer Form, eben dem Protest.457 Mit der Form des Protestes

    den Umgang mit katastrophalen Entwicklungen, Frankfurt 1990,S. 47-6r (57) -

    455 Diese H ypothesen miissen natiirlich regional modifiziert werden.gelten zurn Beispiel nicht in Siiditalien, wo diese ZugehorigkeitenAbhangigkeiten geradezu lebenswichtig geblieben sind und dieduelle Beweglichkeit durch internalisierte, fast maffiose Pressiionen:eingeschrankt ist.

    456 Eine Ausarbeitung dieser Variablen konnt'e, zum Beispiel mernernVergleich DeutschlandlItalien, erklaren, da Pro""tI,,,v,,,,,nc"enunterschiedlichen Regionen unterschiedlich giinstigen Niihrbo,ienden.

    457 Vgl. Klaus P. Japp, Die Form des Protestes in den neuen sozialenwegungen, in: Dirk Baecker (Hrsg.), Probleme cler Form, Fr,nlkfuirr1993, S. 230--251.

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    wird sichtbar gemacht, daf! die Teilnehrner zwar politischenEinfluf! suchen, aber nicht au f norma/en Wegen. Dies Nichtbenutzen der normalen Einflugkanale solI zugleich zeigen, dag essich um ein dringliches und sehr tiefgreifendes, allgemeines Anliegen handelt, das nicht auf die ubliche Weise prozessiert werden kann. Die Protestkommunikation erfolgt zwar in der Gesellschaft, sonst ware sie keine Kommunikation, aber so, als obes von aufien ware. Sie halt sich selbst fur die (gute) Gesellschaft458 , was aber nicht dazu fuhrt, dag sie gegen sich seIberprotestieren wiirde. Sie augert sich aus Verantwortung fur dieGesellschaft, aber gegen sie. Das gilt gewif! nicht fur aIle konkreten Ziele dieser Bewegungen; aber dureh die Form des Protestes und die Bereitschaft, starkere Mittel einzusetzen, wennProtest nicht gehort wird, unterscheiden diese Bewegungen

    von Bemuhungen urn Reformen. Ihre Energie und auch dieFahigkeit, Themen zu wechseln, sofern sie nur als Protest kommuniziert werden k6nnen, erklaren sieh, wenn man dem Rechflung tragt, dag hier ein Oszil1ieren zwischen lnnen und Augen-eine Form gefunden hat.~ A m f ~ e r d e m kommt auf diese Weise eine spezifische Form gesell',,:haftli.cher Differenzierung zum Ausdruck, namlich die Diffe~ " : h , . i e ' n " w von Zentrum und Peripherie. Die Peripherie prote

    - aber nicht gegen sich selbst . Das Zentrum soIl sie horendem Protest Rechnung tragen. Da es aber in der modernen,-"esellsc:na:rr kein gesarntgesellschaftliches Zentrurn mehr gibt,

    man Protestbewegungen nur in Funktionssystemen, die:Zentr'en ausbilden; vor aHem im politischen System und,s c h ~ r a ( : h , , , ausgepriigt, in zentralistisch organisierten Religionen

    Religionssystems. Gabe es diese Zentrum/Peripherie-Diffenicht, verlore auch der Protest als Form seinen Sinn, denndann keine soziale (sondern nUf noch eine sachliche oder,elltliche: Grenze zwischen Desiderat und Erfullung.der Form des Protestes fallt eine deutliche Entscheidungein kognitives und fur ein reaktives Vorgehen.459 Man ver-Oder mit Klaus Eder a.a.O. S. 286 fur das Zentrum cler Gesellschaftjenseits der Funktionssysteme.Siehe zu dieser Unterscheidung'Jacques Ferber, La kc:

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    wendet anerkannte, resonanzfahige scripts (etwa: Erhaltungdes Friedens), spitz t sie aber auf bestimmte Problemlosungen zu(hier: gegen Rustung), die nicht mehr ohne weiteres konsensfahig sind. Man begnugt sich mit einer stark schematisiertenDarstellung des Problems, oft verbunden mit einer Aufmachungals Skandal, und stellt die eigene Initiative als Reaktion aufunertragliche Zustande dar. Und auch von den Adressaten wirdReaktion verlangt - und nicht weiteres Bemuhen urn Erkenntnis. Den n wahrend Bemuhungen urn mehr Informatio n und gutabgesicherte Zukunftsplanung sich verzetteln und in eine Zukunft ohne Ende ausweichen wiirden, verspricht reaktives Vorgehen schnell erreichbare Wirkungen. (DaB dies keipeSpezialitat der Protestbewegungen ist, zeigt ein Blick auf diePlanungen in der Wirtschaft, von den der monetaren Politik derZentralbanken bis zu den Produktions- und Organisationsplanungen der Firmen. Auch hier scheint Zeitdruck einen Uber-'gang von eher kognitiven zu eher reaktiven Strategien zu er-'zwingen.)In der Form des Protestes wird mitkommuniziert, dag es Interessierte und Betroffene gibt, von denen man Unterstutzung erwarten kann. Wie oft gesagt, dienen Protestbewegungen daherauch der Mobilisierung von Ressourcen und der Fixierungneuer Bindungen. Erst wenn eine soIche Mobilisierung..auf Zielehin zustandekommt460, kann man von einem sich selhst r e p r o ~ duzierenden autopoietischen System sprechen.461 In erheblichern Umfange kommt es daher auch zu Protestaktionender Organisation Greenpeace), die nicht zur Bildun.g sozialei::-Bewegungen fUhren, aber ein Protestkli ma reproduzieren.Die Form Protest leistet fUr Protestbewegungen das,Funktionssysteme durch ihren Code erreichen. AuchForm hat zwei Seiten: die Protestierenden auf der einen

    460 Otthein Rammstedt, Sekte und,_ soziale"Bewegung: So:,iolog,ischeAnalyse der Taufer in Munster (1534/35), Kaln 1966, S. 48 ff.anderem historischen Zusammenhang von TeleologisierungKrise gesprochen.46 I Dies betont vor aHem HeinrichW. Ahlemeyer, Soziale BewegungenKommunikationssystem: Einheit, Umweltverhaltnis undeines sozialen Phanomens, Opladen 1995

    und das, wogegen protestiert wird (einschliefllich die, gegen dieprotestiert wird), auf der anderen. Und darin steckt schon dasmit dieser Form nicht zu uberwindende Problem: Die Protestbewegung ist nur ihre eigene Hal fte - und auf der anderen Seitebefinden sich die, die anscheinend ungeriihrt oder allenfallsleicht irritiert das tun, was sie sowieso wollen. Der Protestnegiert, schon strukturell, die Gesamtverantwortung. Er mugandere voraussetzen, die das, was verlangt wird, ausfUhren. Aberwieso wissen die anderen, dag sie sich auf der anderen Seite derProtestform befinden? Wie konnen sie dazu gebracht werden,diese Situationsdefinition zu akzeptieren, statt ihren eigenenKonstruktionen zu folgen? Offenbar nur durch drastische Mittel, durch alarmierende Kommunikation, auch durch den massenhaften Einsatz von Korpern, die sich selbst als Protest demonstrieren462, vor aHem aber durch ein heimliches Bunclnis derProtestbewegungen mit den Massenmedien. Es fehlt. anders g e ~ sagt, die Reflexion-in-sich, die fur die Codes der Funktionssysteme typisch ist; und das wird zusammenhangen mit demunstillbaren Motivationsbedarf der Protestbewegungen, derweder auf der einen noch auf der anderen Seite ihrer Leitunterscheidung Protest ein re-entry cler Unterscheidung ins Unterschiedene vertragen konnte.Es fehlt auch eine Beriicksichtigung der Selbstbeschreibungenderjenigen, gegen die man protestiert. Man versucht nicht: zuverstehen. Ansichten auf der anderen Seite werden allenfalls alstaktische Momente des eigenen Vorgehens in Rechnung gestellt.Und deshalb ist die Versuchung stark, auf fremden pferden m oralisch zu voltigieren.463 Man kann von Protestbewegungen alsokeine Reflexion zweiter Stufe, keine Reflexion der Reflexion derFcml

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    Die Form des Protestes unterscheidet sich damit von der Formder politis chen Oppo siti on in einer verfassungsmafiig geordneten Demokratie. Die O pposit ion ist von vornherein Teil des po-litischen Systems. Das zeigt sich daran, dag sie bereit sein mug,die Regierung zu ubernehmen bzw. an ihr mitzuwirken. Dashat einen disziplinierenden Effekt. Man mag die Kritik derRegierung zwar rhetorisch und wahltaktisch uberziehen, aberletztlich muB man darauf gefaBt sein, die eigenen Ansichten alsRegierung vertreten und ausfuhren zu kennen. Die Protestierenden berufen sich auf ethische Grundsatze; und wenn maneine Ethik hat, ist es eine zweitrangige Frage, ob man in derMehrheit oder in der Minderheit ist. Der Protest brapcht in alldiesen Hinsichten keine Rucksicht zu nehmen. Er geriert sichso, als ob er die Gesellschaft gegen ihr politisches System zu vertreten hatte. Insofern ist es nicht faisch, den Entstehungsgrundfur Protest bewegungen neueren Stils in der Ausdifferenzierungund der relativen Resonanzlosigkeit des politischen Systems zusehen. Die Verfassung dient der Beschrankung des politischenSystems auf sich selbst.464 Fur die Protestbewegungen liegt darineine Provokation zur Provokation.Protest ist kein Selbstzweck - auch nicht fUr Protestbewegungen. Sie brauchen ein Thema, fur das sie sich einsetzen. Da diesin der Form des Protestes zu geschehen hat, fuhre n si.e auf dieRenitenz der Gesellschaft zurUck. Das, was sie zu Protestbewegungen macht, rechnen sie also den auBeren Umstanden zu.-Daserlaubt eine gewisse Unschuld des Operierens um der Sachewillen. Immerhin dient Ihnen die Gestik der G e s e l l s ~ h a f t s k r i -tik und die Form des Protestes dazu, hinter anderen ThemenGleichgesinnte zu erkennen und entsprechende Sympathien zubilden. Die neuen sozialen Bewegungen sind als Bewegung nurin unspezifischem Protestmilieu und nur in bezug auf gesamtgesellschaftlich relevante Themen einheits- und aktionsfahig.465Dabei kann das, was die C h a r a k t e ~ i s t i k der Form des Protestes

    464 Hierzu Niklas Luhmann, Politische Verfassungcn im Kontext desGesellschaftssystems, Der Staat 12 (1973), S. 1-22, I65-182.465 So Wilfried von Bredow/Rudolf H. Brocke, Krise und Protest: Ur-

    spriinge und Elemente der F riedensbewegung in Westeuropa, Opladen1987, S. 61.

    'ai.t:sm:ach:t, fur die Einzelbewegung durcb ibr Thema verdeckt,latent bleiben und in ihre AuBenbeziehungen verlagert wer-Themen, die AnlaB Zum Entstehen von Protestbewegungen

    sind heterogen und bleiben auch dann heterogen, wennsie zu GroBgruppen zusammenfaBt wie: Umwelt, Krieg,der Frauen, regionale Eigenarten, dritte Welt, DberfremDie Themen entsprechen der Form des Protestes wie Pro-

    gramme einem Code. Sie verdeutlichen, weshalb man sich alsProtestierender auf der einen Seite der Form findet. Sie dienender Selbstplacierung in der Form. Es mull sich deshalb urn zwiespaltige Themen handeln; urn Themen, an denen mit hinreichender Drasti k deutlich gemacht werden kann, was anders seinsollte und warum. AuBerdem muB es sich urn individuell aneignungs,[.btig'" Wissen handeln, und damit ist analytische Tiefenscharfe ausgeschlossen. Von Prot estbewegungen ist nicht zu erwarten, daB sie begreifen, weshalb etwas so ist, wie es ist; undalocllnicht. daB sie sich klarmachen kennen, was die Folgen seinw(:raen. wenn die Gesellschaft dem Pr otest nachgibt.Zur Themenerzeugung eignen sich spezifische Formen, undzwei von Ihnen haben, weil sehr allgemein; besondere Prominenz erreicht. Die eine ist die Sonde der internen Gleichheit, die,wenn in die Gesellschaft eingefiihrt, Ungleichheiten sichtbarmacht. Die andere ist die Sonde des externen Gleichgewichts,

    wenn eingefiihrt, die gesamte Gesellschaft als im okologi-schen Ungleichgewicht erweist. Beides sind utopische Formen,Ungleichheit und Ungleichgewichtigkeit ist gerade das,ein System auszeichnet. Beide Formen garantieren also ein

    Prinzip unerschopfliches Reservoir der Erfindung von The, men (so wie es in der Wissenschaft immer Theorien und Methoin der Wirtschaft immer Bilanzen und Budgets, in der"n,c"."_ immer konservative und progressive policies gibt).Problem und die innovative Begabung von Protestbewe

    "gl1ll1;en liegen in der Spezifikaiion ihres Themas; das ist: in clerSF,ezifi;,atilon dessen, wogegen protestiert wird. Aber jede Themati,jiel'unlg hat sich vo r dem Hintergrund der Gesellschaft zupr'Of,ilie,re,o, der im Protest das Gegenteil ihrer Strukturmerkzugemutet wird: Gleichheit im Inneren und Gleichgewicht

    den AuBenbeziehungen. Insofern beschreibt der Protes t letzt-

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    lich immer die Gesellschaft, die das, wogegen protestiert wird,offen bar erzeugt , deckt, billigt und notig hat.Funktionssysteme haben in betrachtlichem Umfange Protestthemen aufnehmen und resorbieren konnen. Das gilt fur die kapitalistische Wirtschaft, fur die Massenmedien, aber auch fUr dassich an der offentlichen Meinung orientierende politische System. Das hat auf die Protestbewegungen zuruckgewirkt - teilsals Verlust attraktiver Themen, teils als Verhartung eines innerenKerns, der dann urn so mehr auf dem Nichtdurchsetzbaren bestehen muB, aber damit an Gefolgschaft verliert. Protestbewegungen leben von der Spannung von Thema und Protest - undgehen an ihr zu Grunde. Erfolg und Erfolglosigkeit ind gleichermaBen fata1. 466 Die erfolgreiche Umsetzung des Themas erfolgt auBerhalb der Bewegung und kann ihr bestenfalls alshistorisches Verdienst zugerechnet werden. Erfolglosigkeitentmutigt die Teilnehmer. Vielleicht ist dieses Dilemma einGrund dafur, daB neue soziale Bewegungen untereinander Kontakte suchen und miteinander sympathisieren, sofern nur dieMindestbedingung einer AIternativvorstellung, eines Protestesund cler Nichtide ntitat mit den herrschenden Kreisen gegebenist. Aber auf diese Weise wird allenfalls erreicht, daB sich eineKuItur des Protestierens bildet mit cler Moglichkeit, im mer neueThemen aufzugreifen. .-Wir hatten schon angedeutet: die Form des Protestes ist nichtdie Form def Sunde; und es lohnt sich genauer zu fragen: ~ e s -halb nicht. Offensichtlich hat die Rhetorik des Warnens, Mahnens und Forderns die Seite gewechseIt. Sie zielt nicht !llehr imInteresse der Ordnung gegen den Sunder, sondern begunstigtden Protest. Institutionelle Kriterienkontrollen entfallen odersind nur noch fur Organisati onen relevant. Die Armen predigendas Evangelium selber.467 Entsprechend liegt auch die Gefahr auf466 Siehe clazu Jens Siegert, Form uncl Erfo lg - Thesen zum Verhaltnis von

    Organisationsform, institutionellen Politikarenen uncl cler Motivationvon Bewegungsaktivisten. Forschungsjournal Neue soziale Bewegungen ' / ) -4 (1989), S. 6)-66.467 Diese Formulierung findet man beiJean Paul, Siebenkas, Drittes Kapitel, zit. nach Jean Paul, Werke Bd. 2, Miinchen 1959, S. 95> hier abernoch bezogen auf Bettlcrauftritte aus AniaB einer spczifischen Situation, einer Kirmes.

    der anderen Seite, und mit ihr all-das, was zum Wiedergewinneneiner Kontrolle uber die Symbolik von Bedrohung und Abwehrzu tun ist. 468 Die Ordnung der Sunde hatte von der Moglichkeitprofitiert, die Gesellschaft in der Gesellschaft verbindlich zu repriisentieren. Die Ordnung des Protests profitiert davon, daBdies nicht mehr moglich ist. Aber wahren d in der alten OrdnungaIle Sunder waren (allerdings einige weniger als andere), mussendie Protestbewegungen Anhanger rekrutieren und Gegner zubeeindrucken versuchen. 1m Vergleich zu Sundern haben sie esleichter, aber auch schwerer, und der Grund fUr diese Differenzliegt im Wechsel der Form gesellschaftlicher Differenzierung.Dies gibt uns auch einen Schlussel rur das Verstandnis der Unterscheidung von Vordergrundthema 'und gesellschaftlichemHintergrund. Protestbewegungen beobachten die moderne Gesellschaft anhand ihr er Folgen. Die sozialistische, auf Folgen derIndustrialisierung bezogene Bewegung war nur ein erster Fall.Solange sie der einzige Fall war, konnte sie sich auch eineGesellschaftstheorie leisten, die ihrem Pro test entspr ach und ihnsogar miterklarte. Noch heute interessiert man sich deshalb rurKarl Marx. Seitdem zahllose andere Folgen der Strukturen dermodernen Gesellschaft sichtbar geworden sind, laBt diese Vereinfachung sich nicht mehr halten - und zwar weder als Monopol fur Proteste noch als Theorie. Die Gesellschaft wird zumHintergrundthema der Themen, zum Medium immer neuer Anlasse fUr Pro este. Eine darur geeignete Gesellschaftstheor iemuBte jetzt die Gesellschaft als funktional differenziertes System mit zahllosen (und dann im einzelnen nicht mehr attraktiven) Protestgriinden beschreiben. Sie ist schlimmer (und naturlich auch besser), als je eine Protestbewegung es sich vorstellen

    468 Man lese, urn sich diesen Seitenwechsel der Gefahr zu verdeuclichen,nochmals Mary Douglas, Purity and Danger: An Analysis of Conceptsof Pollution and Taboo, New York 1966; Siehe' auch dies., Risk as aForensic Resource, Daedalus 119/4 (1990), S. 1-16 (4 ff.). Als darananschlieBende Fallstudie zu sozialen Bewegungen aus Anla vonArbeitsplatzrisiken vgl. Janet B. Bronstein, The Political Symbolismof Occupational Health and Risks, in: Branden B. Johnson/VincentT. Covello (Hrsg.), The Social and Cultural Construction of Risk:Essays on Risk Selection and Perception, Dordrecht 1987, S. 199-226.

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    kann. Der Protest lebt von der Selektion eines Themas. Wollte erdie Selektivitat seines Themas und damit sieh selbst als Selektorreflektieren, miite er die Paradoxie des Protestes in der Einheitgegen die Einheit erkennen und damit an den Bedingungen dereigenen Moglichkeit zweifeln.469Dies wird deutlich, wenn man Protestbewegungen als autopoietische Systeme eigener Ar t versteht470 und den Protest als ihr katalysierendes Moment. Der ein Thema herausgreifende Protestist ihre Erfindung, ihre Konstruktion. Gerade dail die Gesellschaft das Thema bisher nicht oder nicht richtig beachtet hatte,ist die Bedingung dafur, dail die Bewegung in Gang kommt. DieGesellschaft zeigt sich iiberrascht bis verstandnislps. In ihrenOrganisationen ist das Thema unbekannt. Erst die Autopoiesisder sozialen Bewegung konstruiert das Thema, findet die dazugehorige Vorgesehichte, urn nieht als Erfinder des Problems auftreten zu miissen, und schafft darnit eine Kontroverse, die furdie andere Seite im Routinegeschaft ihres Alltags zunachst garkeine Kontroverse ist. Es geniigen unscheinbare Anfange, dieerst im Riickblick zu Anfangen auserkoren werden, und die

    469 Auch der Teufel hatte, wenn man auf die Spitzenleistungen theologischer Reflexion (vor aHem im Islam) zUrUckblickt, dieses Problem.Aber er konnte im Siindenkosmos der Tradition eine- einzigartigePosition fiir sich selbst finden. Er hatte als einziger die Siinde-begangen, die man nicht bereuen kann: die Siinde der Beobachtung Gottes.Vgl. dazu Peter J. Awn, Satan's Tragedy and Redemption: Iblis in SufiPsychology, Leiclen 1983. Auf elegante und in cler Theoriestrukturiiberzeugende Weise lost schlieBlich der absolute Geist der Metaphysik Hegels dieses Problem. Er unterscheidet sich in sich (nicht: gegensich). Nur hat sich dafiir keine soziale Realisation finden lassen, so daBder Geist am Ende nichts anderes ist als die Form, die rur dieses Problem empfindlich macht. Er symbolisiert ein Innen ohne AuBen, eineGesellschaft ohne Um welt.

    470 Auch Ahlemeyer beschreibt soziale Bewegungen als autopoietischeSysteme eigenen Typs, aber nicht bezogen auf die Kommunikation vo nProtesten, sonde rn auf die Mobilisierung als elementare, sich selbst auseigenen Resultaten reproduzierende autopoietische Operation. SieheHeinrich W. Ahlemeyer a.a.O. (1995). Vgl. auch ders., Was ist eine soziale Bewegung? Zur Distinktion und Einheit eines sozialen Phanomens, Zeitschrift fUr Soziologie 18 (1989), S. 175-191.

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    Kontroverse ist und bleibt die Kontroverse der Protestbewegung.Gegen Komplexitat kann man nicht protestieren. Urn protestieren zu kennen, mu man deshalb die Verhaltnisse plattschlagen.Dazu dienen die Schemata und vor allem die Skripts 471 , die sichin der offentliehen Meinung mit Hilfe der Massenmedien durehsetzen lassen. Vor allem kurzgegriffene Kausalattributionen, dieden Blick auf bestimmte Wirkungen lenken, haben eine Alarmierfunktion und machen auf bedrohte Werte und Interessenaufmerksam. Schematisierungen haben aber den Effekt, auf P r o ~ bleme hinzuweisen, die mit weiteren Schematisrnen behandeltwerden. Sie erzeugen distilled ideologies.472 Selbst, wenn mandie Welt unter nur einem Gesichtspunkt betrachtet, entsteht mi tder Zeit Kornplexitat. Dann bietet es sich an, sich vom An'fangsthema zu losen; und dies urn so mehr, als auch die Multiplikation von Effekten tiber qie Massenmedien standig neueThemen erfordert. In diesem Stadium festigt sich ein Bedarf fUreine Ideologie, die die Konsistenz in der I ~ k o n s i s t e n z von Pro-testthemen ausarbeitet.Das ist bisher nieht gelungen, und offenbar ist der dafur bereitstehende Platz inzwischen anders besetzt, namlich durch dieSymbolik des Alternativen. Sie ist nicht erfunden worden, siehat sich eingestellt, kann aber als eine der iiberzeugendsten undwirkungsvollsten Formformeln dieses Jahrhunderts angesehenwerden. Die Funktionssysteme, die ja selbst ihre eigenen Alternativen konstruieren, halten sich sichtlich zuriick.473 Auf der anderen Seite ermoglicht es die Identifikation mit Alternativitat,Gleichgesinnte mit anderen thematischen Obsessionen zu erkehnen und ein N etzwerk wechselseitiger Unterstiit zung zu bilden. Sie gestattet Themenwechsel unte r Wahrung der Form desProtestes. Man ist und bleibt alternativ. Viele sind auf diese

    Zu den Begriffen, S. 110 f.So formulieren Gerald R. Salancik/Joseph F. Porac, Distilled I d e o l o ~ gies: Values Derived from Causal Reasonings in Complex Environments, in: Henry P. Sims, Jr.!Dennis A. Gioia et aI., The ThinkingOrganization: Dynamics of Organizational Social Cognition, SanFrancisco 1986, S. 75-101.Siehe dazu Wolfgang van den Daele, Der Traum von der alternativenWissenschaft, Zeitschrift fiir Soziologie 16 (1987), S. 403-418.

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    Weise vom marxistischen in den okologischen Protest umgesiedelt und sind heute als Dbersiedler nur noch an ihrem Akzentzu erkennen. Die biographische Identitat bleibt erhalten, sie lafhsich sogar starker individualisieren, da sie nicht mehr bestimmten Theoriekonzepten verpflichtet ist. Und vor aHem ist dieAlternative ein Angebot an die andere Seite. Der Protest Iebtvon der Grenze, die er als Beobachtungsweise zieht. Aber dieAlternative kann ihre Grenze kreuzen. Man ist, und ist nicht, alsAlternativer auch auf der anderen Seite. Man denkt im genauenSinne in der Gesellschaft fur die Gesellschaft gegen die Gesellschaft.Wenn Autopoiesis, dann auch strukturelle Kopplqng. Eine solche Beziehung hat sich vor aHem zwischen Protestbewegungenund Massenmedien ergeben und inzwischen zu einem deutlicherkennbaren structural drift gefUhrt.474 Die Beziehungen sindheute so eng, daB ihre kontinuierlichen Auswirkungen die Vor"'"stellungen tiber offentliche Meinung geandert haben; man .er-wartet nicht mehr eine Art Bewahrungsauslese des Guten undRichtigen, sondern die Endform der offentlichen Meinungscheint nunmehr die Darstellung von Konflikten zu sein - vonKonflikten mit standig nachgeschobenen neuen Themen. Demtragt auch die Planung der Pro este Rechung. Der Protest inszeniert Pseudo-Ereignisse (wie die Massenmedii:nforschungsagt475 ), das heiBt: Ereignisse, die ~ o n vornherein fUr BeJichterstattung produziert sind und gar nicht stattfinden wurden, wennes die Massenmedien nicht gabe. Protestbewegungen bedienensich der Massenmedien, urn Aufmerksamkeit zu g e ~ i n n e n , abernicht (wie neuere Forschungen zeigen) zur Rekrutierung vonAnhangern. Zirkulare Verhaltnisse spielen sich ein. Schon in derPlanung ihrer- eigenen Aktivitaten stellen die Bewegungen sich

    474 Siehe hierzu die Fallstudie tiber die (amerikanische) Neue Linke vonTodd Gitlin, The Whole World IS Watching: mass media.in the makingand unmaking of the new left, Berkeley Cal. 1980. Siehe auch RtidigerSchmitt-Beck, Uber die Bedeutung der Massenmedien fiir soziale Bewegungen, Kolner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie 42(1980), S. 642-662.

    475 Siebe z. B. Hans Mathias Kepplinger, Ereignismanagement: Wirklichkeit und Massenmedien, Zurich 1992, S. 48f.

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    auf die Berichtsbereitschaft der Massenmedien un d auf Televisibilitat ein. Diese komplizierte Beziehung zu den Massenmedien,fUr die selbst Tschernobyllangst eine kalte Kartoffel ist, erfordert auBerdem Unabhangigkeit vom Ausloseereignis, aber auchNachschub neuer Ereignisse im Kontext einer Generalisierungdes Protestes. Die Zeit der Protestbewegung ist nicht die Zeitder Massenmedien, aber sie lauft ebenfalls schnell. 1m MiBerfolgsfalle versickert die Bewegung bis zu einer giinstigerenStunde. lm Erfolgsfalle geht das symbolische Management vonGefahr und Abhilfe auf die Funktionssysteme und ihre Organisationen tiber. Ais Resultat der Bewegung- gibt es nun eigeneAmter in den Verwaltungen476, und als Flaggschiff in Ausnahmefallen sogar eine eigene griine oder alternative Partei. Esgibt eigene Experten, und es gibt zur Beruhigung der Offentlichkeit und als Regelvorgabe an Organisationen die Form vonGrenzwerten, deren Dberschreiten als gefahrlich, deren Un-terschreiten als ungefahrlich gilt.477 Organisationen sind als zahlungsfahige Verursacher identifiziert ~ n d die notwendigenKompromisse sind ausgehandelt. Aber es gibt als Foige einessolchen Arrangements ganz neue Arten von Risiken - etwa die,daB kleinere Firmen als Folge der Regnlierung aus dem Gesch.ftgedrangt werden, dag Tankstellen wegen neuer Sicherheitsvorschriften schlieBen mussen und daB groBe Firmen auf Alternativen ausweichen, deren Gefahrlichkeit man noch nicht entdeckthat. Fur eine Weile scheint das symbolische Managen der Gefahren und Benachteiligungen in die daftir zustandigen StellenzUrUckgekehrt zu sein. Aber es kann jederzeit neue Protestegeben.Die Ergebnisse haben, von den Einzelfallen her gesehen, kleinesFormat, und anders sind die Probleme auch nicht zu losen. Dassollte jedoch den Blick fur die Neuartigkeit des Gesam tph.no nicht triiben. Es handelt sich urn eine Art autopoietischer476 Vgl. fur ein schon reifes Stadium Richard P. Gale, Social Movements

    and the State: The Environmental Movement, Countermovement, andthe Transformation of Government Agencies, Sociological Perspec-tives 29 (1986), S. 202-24.

    477 Speziell hierzu Niklas Luhmann, Grenzwerte der okologischen Politik: Eine Form von Risikomanagement. Ms. 1990.

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    Systeme, die weder auf das Prinzip Anwesenheit (Interaktion)noch auf das Prinzip Mitgliedschaft (Organisation) zu bringenist. Auch die Form der internen Differenzierung von Protestbewegungen kann weder der Undifferenziertheit oder der einfachen Rollenasymmetrie von Interaktionssystemen foigen, denndazu ist die Bewegung zu groB; noch kann es sich urn eine Positionshierarchie handeln wie in Organisationen, denn dazu ist diePersonallage zu instabiL Vielmehr tendieren soziale Bewegungen intern zu einer Differenzierung nach Zentrum und Peripherie - so als ob sie ihre externe Situierung an der Peripherie einesgesellschaftlichen Zentrums in sich selbst hineincopierten. Esgibt typi sch einen starker engagierten Kern, eine ".Anhangerschaft, die fUr gelegentliche Aktionen zu aktivieren ist, und, sovermutet die Bewegung jedenfalls, einen weiteren Kreis vonSympathisanten, der es ihr ermoglicht, anzunehmen, daB sie allgemeine gesellschaftliche Interessen vertritt. Eine ZentrumlPeripherie-Differenzierung kann relativ voraussetzungslos entstehen, ist mit Personalfluktuation zwischen Sympathisanten,Anhangern und Kern kompatibel und erlaubt relativ unscharfeGrenzen, die sich erst im ProzeB der Selbstaktivierung der Bewegung klaren und sich in ihrer trajektfermigen Entwicklungandern kennen.Trotz dieser internen Lockerheit, die auf Fluktuatiollen eingestellt ist, auf Erfolge und MiBerfolge reagiert und sich im structural drift der Bewegung verandert, handelt es sich naturlic-h urngesellschaftliche Subsysteme - und nicht etwa urn eine Moglichkeit, auBerhalb der Gesellschaft zu kommunizieren. Wollte manauch fUr Protestbewegungen noch eine Funktion angeben,- sokonnte man sagen: es geht darum, die Negation der Gesellschaftin der Gesellschaft in Operationen umzusetzen. Es geht also urnein genaues Korrelat der Autonomie und operativen GeschIossenheit des Gesellschaftssystems, urn das, was man, als mannoch in Paradoxien f o r m u l i e r e n , ~ o n n t e , als Utopie bezeichnet hatte.Die moderne Gesellschaft hat anscheinend eine Form der Autopoiesis gefunden, urn sich seIber zu beobachten: in sich selbstgegen sich selbst. Widerstand gegen etwas - das ist ihre Art, Realitat zu konstruieren. Sie kann als operativ geschlossenes Systemihre Umwelt nicht kontaktieren, also Realitat auch nicht ais

    Widerstand der Umwelt erfahren, sondern nur als Widerstandvon Kommunikation gegen Kommunikation. Nichts sprichtdafur, daB die Protestbewegungen die Umwelt, seien es dieIndividuen, seien es die okologischen Bedingungen, besser kennen oder richtiger beurteilen ais andere Systeme der Gesellschaft. Genau diese Illusion dient jedoch den Protestbewegungen ais der blinde Fleck, der es ihnen ermeglicht, Widerstandvon Kommunikation gegen Kommunikation zu inszenieren unddamit die Gesellschaft mit Realitat zu versorgen, die sie andersnicht konstruieren kennte. Es kom mt nicht darauf an, wer rechthat; aber es kommt darauf an, in welchen Formen bei dieser Artvon Widerstand von Kommunikation gegen KommunikationRealitat in die Kommunikation eingefuhrt wird und in ihrweiterwirkt.Die Gesellschaft kann auf diese Weise mit Unwissen in bezugauf die Umwelt (wie immer: der Individuen und der ekologischen Bedingungen) zurechtkommen. Erganzt durch die zahllosen Realitatskonstruktionen der Funktionssysteme, zum Beispiel der Wissenschaft oder der Wirtschaft, kann sie uber einstandiges Oszillieren zwischen Fremdreferenz (Umweltbezug)und Selbstreferenz (Kommunikationsbezug) ihre eigenen Operationen fortsetzen. Sie reagiert in dieser hochtemporalisierten,raschen Form auf ihre eigene Intransparenz, auf die Risikenihres Redundanzverzichts, auf die hochgetriebene Entscheidungsabhangigkeit aller Vorgange bei Fehlen jeder gesamtgesellschaftlichen Autoritat fur das Bestimmen des Richtigen. Und siereagiert damit vor allem natiirlich auf die vielen negativen Begleiterscheinungen ihrer eigenen Realisation. Die Funktionssysteme und ihre Organisationen beginnen, sich irritiert (aberwie sonst?) darauf einzustellen. Sie suchen Verstandigungen,urn Konflikten eine voriibergehend halt bare Form zu geben.Was auf diese Weise nicht zu gelingen scheint, ist jedoch dieAnfertigung angemessener Texte, also angemessener Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft. Aber damit sind wirbeim Thema des nachsten Kapitels.

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