Luiz Ruffato na Bayerischer Rundfunk 19 jan 2013

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Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min.) Fax: 089/5900-3862 [email protected] www.bayern2.de Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2013 KULTURKRITIK UND SENDUNG: Samstag, 19. Januar 2013 LITERATUR 14.05 15.00 Uhr, Bayern 2 22.05 23.00 Uhr WH Diwan Büchermagazin Redaktion und Moderation: Knut Cordsen Bruno Preisendörfer, Der waghalsige Reisende. Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben. Galiani Rezensent: Bernd Noack Wilhelm Genazino, Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands. Hanser Rezensentin: Cornelia Zetzsche Bastei Lübbe Academy Knut Cordsen im Gespräch mit Ann-Kathrin Schwarz und Mario Giordano über "Deutschlands erste verlagseigene Autorenschule" Luiz Ruffato, Es waren viele Pferde. Assoziation A Rezensent: Peter B. Schumann Helmut Krausser, Nicht ganz schlechte Menschen. Dumont Rezensent: Jochen Rack Hans Fallada, Der Bettler, der Glück bringt. Osterwold Audio Hörbuch-Tipp von Monika von Aufschnaiter Diwan-Rätsel

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Comentário sobre a edição alemã de "Eles eram muitos cavalos" [Es waren viele Pferde] de Luiz Ruffato, no programa Diwan, da Bayerischer Rundfunk.

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Page 1: Luiz Ruffato na Bayerischer Rundfunk 19 jan 2013

Bayern 2-Hörerservice

Bayerischer Rundfunk, 80300 München

Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min.)

Fax: 089/5900-3862

[email protected]

www.bayern2.de

Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und

darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.

Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in

Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich!

© Bayerischer Rundfunk 2013

KULTURKRITIK UND SENDUNG: Samstag, 19. Januar 2013

LITERATUR 14.05 – 15.00 Uhr, Bayern 2

22.05 – 23.00 Uhr WH

Diwan Büchermagazin Redaktion und Moderation: Knut Cordsen Bruno Preisendörfer, Der waghalsige Reisende. Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben. Galiani Rezensent: Bernd Noack Wilhelm Genazino, Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands. Hanser Rezensentin: Cornelia Zetzsche Bastei Lübbe Academy Knut Cordsen im Gespräch mit Ann-Kathrin Schwarz und Mario Giordano über "Deutschlands erste verlagseigene Autorenschule" Luiz Ruffato, Es waren viele Pferde. Assoziation A Rezensent: Peter B. Schumann Helmut Krausser, Nicht ganz schlechte Menschen. Dumont Rezensent: Jochen Rack Hans Fallada, Der Bettler, der Glück bringt. Osterwold Audio Hörbuch-Tipp von Monika von Aufschnaiter Diwan-Rätsel

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BEITRAG: Peter B. Schumann ANLAGE 3

Autor: In Brasilien gilt dieses Buch als einer der besten Romane des letzten Jahrzehnts.

Das ist nicht erstaunlich, denn es ist ein Solitär in der an ungewöhnlichen Werken

nicht gerade reichen brasilianischen Gegenwartsliteratur. Sein Autor Luiz Ruffato

verzichtet darin auf jegliche Geschichte, bietet auch kein Personal, an dem er sich

abarbeitet, keinen Spannungsbogen, keinerlei Identifikation für den Leser und

auch kein Thema, auf das dieser sich gerne einlässt. Immerhin hält er an zwei

klassischen Idealen fest: der Einheit des Ortes und der Zeit. Denn es gibt einen

gemeinsamen Schauplatz: São Paulo, diesen Moloch von 19 Millionen

Einwohnern, die größte Stadt im größten Land Lateinamerikas, wo der Reichtum

generiert wird und die Armut hoffnungslos wuchert. Und es gibt einen einzigen

Tag, der offensichtlich für alles gilt, was Luiz Ruffato dann auf 160 Seiten

ausbreitet: der 9. Mai 2000, ein Dienstag.

Alles Übrige bleibt Fragment, wird in 69 Teilstücken angerichtet, die vereinzelten

Wetterberichte, Rezepte, Zeitangaben, Psalme und Kontaktanzeigen

mitgerechnet. Die eigentliche Welt, in die der Leser blicken soll, ist zersplittert wie

die Gesellschaft, von der das Buch handelt: die untere Mittelschicht, die

Arbeiterklasse und auch die Arbeitslosen, die Randexistenzen und die

Ausgestoßenen – ein Universum, um das sich brasilianische Autoren nur selten

und meist mit literarischen Mitteln kümmern, die Luiz Ruffato für völlig

unangemessen hält.

Ruffato: Die wenigen Versuche, die unternommen wurden, um die Unterschicht und die

Armut in Brasilien zu beschreiben, waren naturalistischer Natur. Aber man wird

dem Kosmos der Industriearbeiter so nicht gerecht. Ich empfinde es als einen

Widerspruch, ihn mit den Mitteln des traditionellen bürgerlichen Romans

darzustellen, ein Paradox. Also habe ich den bürgerlichen Roman implodieren

lassen, um eine andere Form zu schaffen.

Autor: Luiz Ruffato stammt aus der Welt, die ihn in seinem gesamten Werk beschäftigt,

vor allem auch in seinem späteren fünf-bändigen Zyklus Provisorisches Inferno. Er

wurde 1961 in Cataguases, in der tiefsten Provinz und in ärmlichen Verhältnissen

geboren. Sein Vater war Popcorn-Verkäufer, seine Mutter Wäscherin. Die einzige

Perspektive, die sich ihm zunächst bot, war die eines Facharbeiters, eines

Mechanikers. Es gelang ihm jedoch, Publizistik zu studieren und dann als

Journalist zu arbeiten. Er lernte die Literatur kennen, eine ganz andere Art zu

denken. Doch es sollte noch mehr als zwei Jahrzehnte dauern, bis er das Buch

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mit dem seltsamen Titel Es waren viele Pferde veröffentlichte, das jetzt endlich auf

Deutsch erschienen ist – dank des kleinen Verlags Assoziation A.

Ruffato: In dem Epitaph am Anfang des Bandes heißt es: „Es waren viele Pferde / doch niemand kennt mehr ihren Namen / ihre Fellfarbe, woher sie kamen.“ Diese Zeilen aus einem Gedicht über einen der ersten Aufstände der Brasilianer gegen die

Portugiesen schildern die Pferde der Kämpfenden als eine Menge, die nicht

wusste, worum es eigentlich ging. Und so ähnlich geht es den Personen in

meinem Buch. Andererseits ist es ein Bild für den sinnlosen Wettkampf im

Kapitalismus, den einige gewinnen, während andere auf der Strecke bleiben.

Autor: Desolat ist die Gesellschaft, die Luiz Ruffato in seiner großartigen Collage

unterschiedlichster Versatzstücke der Wirklichkeit vorführt. Sie artikuliert sich

durch viele Einzelstimmen, die ihre Schwierigkeiten, ihre Konflikte, ihre Hoffnungs-

losigkeit und vor allem auch ihre Schwäche ausdrücken. Diese Arbeiterklasse hat

längst ihren Kampfgeist, für den sie einst berühmt war, begraben. Dafür ist einer

der Ihren, Lula da Silva, Staatspräsident geworden: ein Arbeiter-Präsident, der

den Kapitalismus verteidigt und die Armut verringert hat – wie Luiz Ruffato vor

kurzem öffentlich bekundete.

Er hat sein erstes großes Werk allerdings bereits 2001 geschrieben, als von

solchen Widersprüchen noch nichts zu spüren war. Das Bild der Gesellschaft von

São Paulo, das er entwirft, kann deprimierender nicht sein. „Lauter arme Schweine“ – so heißt es gleich zu Beginn – werden hier abgebildet, und auf der

letzten Seite erstirbt auch der letzte Funke Solidarität aus Angst vor der latenten

Gewalt. Selbst die Gruppe der 68er, die damals gegen die Diktatur revoltierte und

der Luiz Ruffato am Schluss sein längstes Kapitel widmet, besteht aus lauter

Gescheiterten.

Nur wenige brasilianische Autoren haben sich bisher so kritisch mit den sozialen

Verhältnissen in São Paulo auseinandergesetzt. Vorbild ist der düstere

Stadtroman Null von Ignacio de Loyola Brandão aus dem Jahr 1974. Doch damals

verheerten die Militärs Brasilien mit Folter und Mord. Heute, in der Demokratie, hat

sich zwar die Landschaft aufgehellt, aber die gesellschaftlichen Chancen sind für

viele genauso gering wie früher. Das zeigt Luiz Ruffato eindringlich in diesem

Band, den Michael Kegler hervorragend übersetzt hat.